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VERSUCHE UND BEOBACHTUNGEN ÜBER DIE ENTSTEHUNG VON ARTEN IM PFLANZENREICH VON HUGO DE VRIES, PROFESSOR DER BOTANIK IN AMSTERDAM. ERSTER BAND. DIE ENTSTEHUNG DER ARTEN DURCH MUTATION. MIT ZAHLREICHEN ABBILDUNGEN UND ACHT FARBIGEN TAFELN. 2 “ er m . | \ 4 f EN ea Wo [ 8 ) (= DEC 28 1933 IN N t; > a Tr: ISSES x LEIPZIG, VERLAG VON VEIT & COMP. 1901 Vorwort zum ersten Bande. Die Lehre von der Entstehung der Arten ist bis jetzt eine ver- gleichende Wissenschaft gewesen. Man glaubt allgemein, dass dieser wichtige Vorgang sich der directen Beobachtung und mindestens der experimentellen Behandlung entziehe. Diese Ueberzeugung hat ihren Grund in den herrschenden Vor- stellungen über den Artbegriff und in der Meinung, dass die Arten von Pflanzen und Thieren ganz allmählich aus einander hervorgegangen seien. Man denkt sich diese Umwandlungen so langsam, dass ein Menschenleben nicht genügen würde, um die Bildung einer neuen Form zu sehen. Aufgabe des vorliegenden Werkes ist es, dem gegenüber zu zeigen, dass Arten stossweise entstehen, und dass die einzelnen Stösse Vorgänge sind, welche sich ebenso gut beobachten lassen, wie jeder andere physiologische Process. Die durch je einen solchen Stoss entstandenen Formen unterscheiden sich von einander ebenso scharf und in ebenso zahlreichen Punkten, wie die meisten soge- nannten kleinen Arten, und wie viele nahe verwandte Arten der besten Systematiker, selbst von Linxt£. Es eröffnet sich somit die Möglichkeit, durch die directe Be- obachtung, sowie durch Culturen und Versuche die Gesetze kennen zu lernen, welche die Entstehung neuer Arten beherrschen. Die Ergebnisse solcher Studien können dann mit den Folgerungen ver- glichen werden, welche bis jetzt hierüber aus systematischen, biolo- gischen und namentlich aus palaeontologischen Befunden abgeleitet worden sind. Es ergiebt sich dabei zwischen diesen Deductionen und den neuen Erfahrungen eine sehr befriedigende Uebereinstimmung. IV Vorwort. Diese Stösse oder Mutationen, von denen die Sprungvariationen die bekanntesten Beispiele sind, bilden eine besondere Abtheilung in der Lehre von der Variabilität. Sie geschehen ohne Uebergänge, und sind selten, während die gewöhnlichen Variationen continuirlich und stets vorhanden sind. Die ganze Lehre von der Variabilität zerfällt somit in zwei Haupt- abtheilungen, deren eine die stets vorhandene individuelle oder fluc- tuirende Variabilität, deren andere aber die Mutabilität behandelt. Die Erscheinungen der ersteren werden von den bekannten Wahr- scheinlichkeitsgesetzen beherrscht und sind wesentlich durch die Er- nährungsverhältnisse bedingt; auf ihnen beruht die Bildung der ver- edelten Rassen, namentlich in der Landwirthschaft. Durch Mutation entstehen nicht nur Arten, sondern auch Varie- täten; sie spielen im Gartenbau, wie längst bekannt, eine hervor- ragende Rolle. Ein eingehendes, vergleichendes und experimentelles Studium der Gartenvarietäten ist daher unerlässlich, um eine möglichst vielseitige Uebersicht über die verschiedenen Entstehungsweisen neuer Arten zu erlangen. Die angedeuteten Ueberlegungen gelten offenbar in derselben Weise für die Thiere wie für die Pflanzen. Als Botaniker habe ich aber meine Studien auf die letzteren beschränkt. Doch hoffe ich zuversichtlich, dass meine Ergebnisse später auch auf das Thierreich Anwendung finden werden. Auch bezüglich der Anwendung bio- logischer Forschungsresultate auf die Behandlung socialer Probleme ist die richtige Unterscheidung von Variabilität und Mutabilität von Bedeutung. Denn zu diesen hochwichtigen Fragen steht die Lehre von der Entstehung der Arten nur in sehr entfernter Beziehung, während das Studium der fluctuirenden Variabilität unmittelbar ihre empirischen Grundlagen berührt. Der Gegensatz zwischen den beiden namhaft gemachten Haupt- abtheilungen, der Variabilität im engeren Sinne und der Mutabilität, leuchtet sofort ein, wenn man annimmt, dass die Eigenschaften der Organismen aus bestimmten, von einander scharf unterschiedenen Einheiten aufgebaut sind. Das Auftreten einer neuen Einheit be- deutet eine Mutation; die neue Einheit selbst ist aber in ihren Vorwort. V Aeusserungen nach denselben Gesetzen variabel, wie die übrigen bereits vorher vorhandenen Elemente der Art. Weit bequemer als auf dem Gebiete der Abstammungslehre lässt sich mit diesen Einheiten auf dem der Bastarde arbeiten. Denn hier führt dieses Prinzip die anscheinend so überaus complicirten Erscheinungen der Bastardirung auf die einfachsten Fälle der Kreuzung nächstverwandter Formen zurück. Aus der Combination solcher elementarer Vorgänge ist dann umgekehrt die Erklärung der gewöhnlichen Bastarde abzuleiten, und lässt sich sogar nicht selten ihr Verhalten in bestimmten Fällen vorhersagen. Aufgabe des zweiten Bandes ist daher die Anwendung der Mutationstheorie auf die Bastardlehre und die Behandlung der Frage, welche Rückschlüsse diese Anwendung auf die Entstehung der Arten gestattet. Die Kenntniss der Gesetze des Mutirens wird voraussichtlich später einmal dazu führen, künstlich und willkürlich Mutationen hervorzurufen und so ganz neue Eigenschaften an Pflanzen und Thieren entstehen zu lassen. Und wie man durch das Selections- verfahren veredelte, ertragsreichere und schönere Zuchtrassen heran- bilden kann, so wird man vielleicht auch dereinst im Stande sein, durch die Beherrschung der Mutationen dauernd bessere Arten von Culturpflanzen und von Thieren hervorzubringen. Amsterdam, im August 1901. Hugo de Vries. Enhaällt. Die Entstehung der Arten durch Mutation. Einleitung I. II. Ju0E Erster Abschnitt. Die Grundlagen der heutigen Selectionstheorie. Eine Revision der Thatsachen. Selection und Mutation Mutabilität und Variabilität $ 1. Die Transmutationslehre vor Den IN. S 2. Darwin’s Selectionslehre . S 3. Warrace's Selectionslehre S 4. Die verschiedenen Formen der Vorab Na ; Polymorphie 33. Individuelle oder fluctuirende Vraeglit tät 35. Spontane Abänderungen 38. S 5. Die Elemente der Art > e Das Variiren der elementaren Beherelenelk 45. S 6. Die Mutationshypothese . Geschichtliches 46. BATEson 47. Sean 18. Bone 50. Seleetion führt nicht zur Entstehung von Artmerkmalen S 7. Die Zuchtwahl in der Landwirthschaft und im Gartenbau Mais 52. Folgen zufälliger Kreuzungen 56. Neuheiten 57. S 8. Zuchtwahl behufs vegetativer Vermehrung . Regression 60. S 9. Ueber die Dauer des Selectionsverfahrens S 10. Das Acclimatisiren ; Amerikanischer Mais in Baden 68. erlaen s6: en 0. $S 11. Die Zuckerrüben . S 12. Die Getreidearten Zuchtrasse und Elite 19. $ 13. Die Grenzen des durch die Selection Erreichbaren Lineare Variation 83. Regression 84. Unbeständigkeit der Zuchtrassen 85. Anpassung 85. $ 14. Das Verhalten der veredelten Rassen beim Aufhören der Se- leetion BE RER ER RE EN ER AL uret ne Nachbau 88. Samenwechsel 89. Zwischengenerationen 90. Seite 1-1 S1D nn © n [er] VI Inhalt. Einige Streitfragen aus der Selectionslehre $ 15. Erworbene Eigenschaften und een $ 16. Ueber die Vereines erworbener Eigenschaften Papaver somniferum polycephalum 98. Zuchtwahl il Er- nährung 100. $ 17. Ueber partielle Variabilität und Selection bei vegetativer Ver- mehrung . BL RER Me 5 Alain 102. Zuckerrohr 104. $ 18. Variabilität und Anpassung . : $ 19. Die Variabilität des Menschen umagl ae osiellen en S 20. Einige Aufgaben für die weitere Forschung . Corelaive Variabilität 113. Lebensmedien 113. I aenessien 114. Retourselection 115. Die Entstehung der Arten durch Mutation . S 21. Arten, Unterarten und Varietäten . Varietäten 118. Elementare Arten 120. S 22. Die Arten in der Natur $ 23. Die Arten in der Cultur ee Eee a oo Alter der Sorten 124. Getreide 125. Aepfel 126. Alter der Gartenvarietäten 128. $S 24. Arten und Artmerkmale $ 25. Die Mutationen in der Cultur Geschichtliche Angaben über die TBindskkinrae von Sten 133. Sterile Formen 137. Samenbeständigkeit 138. S 26. Die Hypothese der allseitigen Mutabilität.. S$S 27. Die Hypothese der periodischen Mutabilität . Die Migrationstheorie 146. $ 28. Der Vorgang des Mutirens innerhalb der Mutationsperioden DeızoEur’s Gesetz 147. Schluss Zweiter Abschnitt. Die Entstehung von elementaren Arten in der Gattung Oenothera. Die Culturfamilien . S 1. Oenothera Tamarckiäne: eine ubirende Pdanse (Tafel I) S 2. Die Lamarckiana-Familie Stammbaum 157. $ 3. Die Mutationen in der Lamarckiana-Familie ; ; Oen. gigas 158. O.albida 160. OÖ. rubrinervis 161. 0. lesen 163. ©. nanella 165. ©. lata 168. O. seintillans 170. S 4, Die Gesetze des Mutirens ? ; “ Plötzliches Entstehen 174. Conan: 175. Elementare "Auen 176. Richtungslosigkeit der Mutationen 179. s 5. Ein Nebenzweig der Lamarckiana-Familie Stammbaum 184. S 6. Die Laevifolia-Familie Ursprünglicher Fundort 187. Stammbaum 192. 151 151 154 158 174 182 186 Inhalt. TEXE Seite $ 7. Zwei Lata-Familien (Tafel IV) . . 196 OÖ. rubrinervis und O. oblonga aus 0. ei 199, 200. "Sn bäume 202, 204, S$S 8. Mutationen in anderen Familien. . . 204 Merkmale der Blätter 207— 209. Mutanton aus nen 911. Seo PD asgMutirenginsderz Naturp e-fu.r u Ee .300212 Anfang des Mutirens 217. IPs Das Auftreten? derZeinzelneneneuen Arten)... „0... 2.0218 AesDienbeidensältereneArtensa Ca van. a a Un REN N DTE 8 10. Oenothera laevifolia . . . BENENNEN EL ENETUINDTEE Buckeln auf den Blättern 219. SEE GO enotherapbrevistylisger Mn een 902 Bu Dresconstantenn jüngeren» Artena. u. u. En 225 SEl23,.OQenothera, sisasıeFatel Tage. m... 0 2225 S 13. Oenothera rubrinervis . . BER UN a er el abe 23 Einheiten der Merkmale 932. SEI4. 2. QenotheragoblonsaxgRaselöVD 3 0. een. 238 Mutationscoefficienten 239. S215. "Oenothera albida,@arel II und AV). 2 cn 2.2. 0.247 SE1632.0enotherarleptocarpasıın le in 25 $ 17. Oenothera semilata . . . no 7254 $ 18. Oenothera nanella (Oenothera rein anal) 255 Begriff der Varietät 255. Zwergformen 256. Atavis- mus 258. Constanz 264. Combinationstypen 266. @.2.Diernichtzeonstantensjüngereny Arten... 2... mn... ,.20:268 Sel920.0enotherausemtillanss(tBatel VE. 20. warm an 268 Existenzunfähige Typen 271. S9200.Oenotheragelliptiea. a nn er. 20 280 SEP21 0 enothera, sublinearisen ne nl aa. 1022285 Den Diezuntuchtbaren pArtenn se N 28T 8722. Oenothera latarı.. DE EA N VE Ne ZB Einheiten der Merkmale 287. SEO PATtaANtanS Oel een re 0298 Sterilität 298. O. spathulata 300. O. fatua 301. O. sub- ovata 303. III. Der systematische Werth der neuen Arten . . . U NR $ 24. Die Natur der Grenze zwischen verwandten Arten US 08 Transgressive Variabilität 305. S 25. ee Variabilität. . . es 08 der Blumenblätter 311, der Früchte 312. S 26. Oenothera Lamarckiana BERInee ABC 313 Samen 314. Arten von Onagra 314. ones von O. biennis 315. Diagnose 316. ©. grandiflora 316. S 27. Uebersicht der Merkmale der neuen Arten : . 2. ...2.... 819 Früchte 320. Analytische Tabellen 322—326. S 28. Vergleichung der Merkmale älterer und neuer Arten. . . . 832 x Inhalt. IV. Ueber die latente Fähigkeit zu mutiren $ 29. Gleichnamige Mutationen beruhen auf sönetraheitikehen! innerer Ursache . : : S 30. Die latente Erhliehkeit aelensn italien re Vemsihom Lamarckiana . ae to Ascidien 338. ae e 340. Syrerbanderans 342. Bunt- blätterigkeit 345. Polymerie 346. Weitere Anomalien 348. S 31. Die Hypothese der Prämutationsperiode Oenothera biennis 355. V. Schluss BR EN EN En oo a0 > Aufsuchen mutabler Pflanzen 357. Culturen 360. Zwischen- formen 362. Arten oder Varietäten 364. Weitere Muta- tionsperioden 366. Dritter Abschnitt. Ernährung und Zuchtwahl. I. Die gleichzeitige Beeinflussung einzelner Merkmale durch die Ernährung und die Zuchtwahl ö $S 1. Die Variabilität als ne scheans 5 Empfindliche Periode 373. Düngung der Mutterpflanze 373. Selection und Ernährung 373. S 2. Methode der Untersuchung . II. Die Fruchtlänge von Oenothera Lamarckiana . 5 So $S 3. Die Correlation zwischen der individuellen Kraft al der Fruchtlänge . $S 4. Das Zusammenwirken en Ersknung ini Zuchtwahl Langfrüchtige Zuchtrasse 389. Kurzfrüchtige 391. S 5. Verschiebung von Variationscurven durch die Ernährung III. Die Strahleneurven der Compositen und Umbelliferen . S 6. Aufhebung der Selecetionswirkung durch die Ernährung Anethum 399. S 7. Gleichgewicht zwischen Ernährung und Zuchtwall . Chrysanthemum 402. Coreopsis 404. Bidens 405. $ 8. Aufhebung des Einflusses der Ernährung durch die Auslese Coriandrum 407. Madia 409. S 9. Zusammenfassung Vierter Abschnitt. Die Entstehung von Gartenvarietäten. I. Die Bedeutung der Gartenvarietäten für die Selectionslchre . $ 1. Die Variabilität im Gartenbau OR BR ae Varianten und Anomalien 413. Zwischenrassen 415. S 2. Die Lehre von der einseitigen oe der Variabilität durch Auslese Zuchtwahl im eenban 119, Zunehmende Variabilität 419. 336 352 356 368 368 374 377 377 383 394 397 397 401 407 410 412 412 416 Inhalt. XT Seite II. Latente und semilatente Eigenschaften 422 S$S 3. Mittelrassen und Halbrassen 422 Constanz der Zwischenrassen 426. $ 4. Halbrassen und halbe Curven. 428 Aeusserer Formenkreis der Art429. 1aftattieee der Er inne 434. s 5. Trifolium pratense quinquefolium, eine Mittelrasse 435 Periodieität 442. Plus- und Minus-Seleetion 444. Ernäh- rung 447. III. Die verschiedenen Entstehungsweisen neuer Arten 449 S 6. Gartenvarietäten, systematische Varietäten und elementare aan 449 Entstehungsweisen von Arten 450. - Varianten und Varia- tionen 451. Colleetivarten 453. Unterarten und Abarten, oder elementare Arten und Varietäten 455. Nomenclatur456. S T. Progressive, retrogressive und degressive Artbildung 456 Verlust oder en 457. Subprogressive Artbildung 458. Taxinome Anomalien 459. Schema der Entstehungsweise neuer Arten 460. Mit und ohne Prämutation 461. IV. Das plötzliche Auftreten und die Constanz neuer Varietäten . 463 $ 8. Beispiele constanter Rassen 463 829, Sterile Varietäten . . .- SRETENOR : 471 S 10. Beispiele im Freien plötzlich der Rassen 5 476 $ 11. Plötzlich entstandene Gartenvarietäten 479 Dahlia variabilis fistulosa 480. V. Der Atavismus ö 5 482 $ 12. Atavismus durch an ad Kauıch Koosren. s 482 Regressisten und Progressisten 483. Te itsenen 484. $ 13. Vırmorin’s Meinung über die Entstehung he Blumen 489 Sectoriale Spaltung 490. $ 14. Antirrhinum majus striatum . 494 Stammbaum 503. $ 15. Hesperis matronalis . 506 Stammbaum 507. $ 16. Clarkia pulchella . 511 $ 17. Plantago lanceolata ramosa 514 Adventive Knospen 521. VI. Experimentelle Beobachtung der Entstehung von Varietäten . 523 $ 18. Die Entstehung von Chrysanthemum segetum plenum 523 13strahlige und 21strahlige Rasse 529. Stammbaum 537. $ 19. Gefüllte Blumen und Blüthenkörbchen . Re 547 Sectoriale Füllung 551. 8 20. Die Entstehung von Linaria vulgaris peloria . 2052 Stammbaum 559. Polyphyletische Entstehung 568. ver gleichung der Mutationen von Oenothera Lamarckiana mit denen von Linaria 564. 566 $ 21. Erbliche Pelorien . aa alt en isolirbare Rassen . Trifolium incarnatum maison VII. 822. 23. g 24. 8 25. Ernährung und Zuchtwahl semilatenter Eigenschaften . Gute Ernährung begünstigt die Anomalie Jugendformen 628. Einfluss der Lebenslage und der Düngung . 8 26. Bevorzugung der kleinen Samen durch die rameiks 579. Ranuneulus bulbosus semiplenus . Einfluss der Lebenslage 592. Die Buntblätterigkeit . Atavismus 605. Einfluss der Cultur 607. Knospen va aan 609. Gelbe und weisse Keimlinge 614. Facultative Ein- und Zweijährigkeit. Das Aufschiessen der Rüben 616. Trotzer 617. Winters 620. Lebenslage 622. Weissklee 634. Die Periodieität semilatenter Eigenschaften . Schema 631. Einfluss der Zweigordnung 642. Die Wahl der Samen bei der Selection Rübenknäuel 645. Getreide 646. Sandeultur 625. Seite 570 570 582 597 616 627 627 633 638 644 DIE ENTSTEHUNG DER ARTEN DURCH MUTATION. DE VRIES, Mutation. I. l Einleitung. Als Mutationstheorie bezeichne ich den Satz, dass die Eigen- schaften der Organismen aus scharf von einander unterschiedenen Einheiten aufgebaut sind. Diese Einheiten können zu Gruppen ver- bunden sein, und in verwandten Arten kehren dieselben Einheiten und Gruppen wieder. Uebergänge, wie sie uns die äusseren Formen der Pflanzen und Thiere so zahlreich darbieten, giebt es aber zwischen diesen Einheiten ebensowenig, wie zwischen den Molecülen der Chemie. Selbstverständlich gelten diese Sätze in derselben Weise für das Thierreich und für das Pflanzenreich. In diesem Buche werde ich mich aber auf das letztere beschränken, in der Ueberzeugung, dass man die Richtigkeit des Grundsatzes für das eine Reich anerkennen wird, sobald er für das andere bewiesen ist. Auf dem Gebiete der Abstammungslehre führt dieses Princip zu der Ueberzeugung, dass die Arten nicht fliessend, sondern stufenweise aus einander hervorgegangen sind. Jede neue zu den älteren hinzu- kommende Einheit bildet eine Stufe und trennt die neue Form, als selbständige Art, scharf und völlig von der Species, aus der sie hervor- gegangen ist. Die neue Art ist somit mit einem Male da; sie ent- steht aus der früheren ohne sichtbare Vorbereitung, ohne Uebergänge. Ausser der Lehre von der Entstehung der Arten beherrscht die Mutationstheorie nach meiner Ansicht auch das ganze Gebiet der Lehre von den Bastarden. Hier führt sie zu dem Princip, dass nicht die Arten, sondern die einfachen Artmerkmale, die sogenannten Ele- mente der Art, die Einheiten sind, um die es sich bei den Bastardi- rungen handelt. Dieses Princip führt zu einer ganz neuen Behand- lungsweise, bei der man von den einfachsten Erscheinungen allmählich zu den complicirteren hinaufsteigt, statt, wie es jetzt üblich ist, gerade die sehr verwickelten Fälle in den Vordergrund der Behandlung zu stellen. Aus diesen Gründen zerfällt das vorliegende Werk in zwei Haupt- theile, deren erster die Entstehung der Arten durch Mutation, und deren zweiter die Principien der Bastardlehre behandelt. t Einleitung. Auf dem ersteren Gebiete stellt sich die Mutationstheorie gegen- über der jetzt herrschenden Selectionstheorie. Letztere nimmt die gewöhnliche oder sogenannte individuelle Variabilität als den Aus- gangspunkt der Entstehung neuer Arten an. Nach der Mutations- theorie sind beide aber von einander durchaus unabhängig. Die gewöhnliche Variabilität kann, wie ich zu zeigen hoffe, auch bei der schärfsten anhaltenden Selection, nicht zu einem wirklichen Ueber- schreiten der Artgrenzen führen, viel weniger noch zu der Entstehung neuer constanter Merkmale. Jede Eigenschaft entsteht zwar aus einer vorher anwesenden, aber nicht aus deren normaler Variation, sondern durch eine, wenn auch geringe, doch plötzliche Umänderung. Vorläufig kann man diese noch am einfachsten mit einer chemischen Substitution vergleichen. Diese „artenbildende Variabilität“ soll hier wieder mit dem alten, vor Darwın allgemein gebräuchlichen Worte Mutabilität benannt werden. Die von ihr bedingten Veränderungen, die Mutationen, sind Vorgänge, über deren Natur wir noch sehr wenig wissen. Die bekanntesten Beispiele solcher Mutationen sind die sogenannten spon- tanen Abänderungen („single variations“), durch welche scharf unter- schiedene neue Varietäten entstehen. Man nennt sie auch wohl Sprung- variationen. Trotz ihrer relativen Häufigkeit werden sie aber fast stets erst dann bemerkt, wenn die neue Form fertig dasteht, und wenn es also bereits zu spät ist, den Vorgang ihrer Entstehung ex- perimentell zu verfolgen. In den Arten der Cultur, welche ja häufig Gemische sind, lassen diese neuen Formen sich aufsuchen; ebenso in der Natur. Willkür- lich hervorbringen lassen sie sich bis jetzt aber nicht. In ähnlicher Weise hat man sich, nach meiner Ansicht, die Ent- stehung aller einfachen Merkmale sämmtlicher Thiere und Pflanzen zu denken. Diesen beiden Grundformen der Variabilität entsprechen die Me- thoden der künstlichen Zuchtwahl durchaus. Die gewöhnliche Varia- bilität, welche auch individuelle, fluctuirende oder graduelle genannt wird, ist stets anwesend und wird von ganz bestimmten, jetzt zu einem grossen Theile bekannten Gesetzen beherrscht. Sie liefert dem Züchter das Material für seine veredelten Rassen. Daneben kennt er die spontanen Variationen, welche nicht der Züchtung, sondern höchstens der Reinigung von Beimischungen bedürfen, und welche fast stets von vornherein erblich constant sind. Die ganze Lehre von der Variabilität zerfällt demnach in zwei Haupttheile: Die Variabilität im engeren Sinne und die Mutabilität. Einleitung. 5 Erstere ist vorzugsweise Gegenstand statistischer Untersuchungen. Die bahnbrechenden Arbeiten von QUETELET und GALToN haben aut anthropologischem Gebiete diese Lehre zu einer eigenen Wissenschaft erhoben. An deren Aufbau betheiligen sich auf biologischem Gebiete LupwIG, WELDON, BATEsoN, DUNCKER, JOHANNSEN, Mac Leon und viele andere Forscher. Die fluctuirende Variabilität ist theils eine individuelle, im engeren Sinne des Wortes, theils eine partielle. Im ersteren Falle handelt es sich um die statistische Vergleichung verschiedener Individuen, im letzteren um die verschiedenen gleichnamigen Organe auf einem Indi- viduum, z. B. um die einzelnen Blätter eines Baumes. In beiden Fällen wird die Variabilität oder genauer die Grösse des Abänderungs- spielraumes von hervorragenden Forschern wohl mit Recht als ein Mittel zur Anpassung an die äusseren Lebensbedingungen betrachtet. Die einzelnen Organe variiren theils nach Maass und Gewicht, theils nach ihrer Anzahl. Im ersteren Falle spricht man mit BaAre- son von continuirlicher, im letzteren von discontinuirlicher Variation, doch sind diese Bezeichnungen von anderen Forschern gelegentlich in anderer Bedeutung gebraucht worden. Die Gesetze der Mutabilität sind ganz andere als jene der Varia- bilität, sie sind aber, soweit unsere jetzigen dürftigen Kenntnisse reichen, ebenso unabhängig von der morphologischen Natur des mu- tirenden Theiles. Man unterscheidet zunächst progressive und retro- gressive Mutationen. Die ersteren umfassen die Entstehung neuer Eigenschaften, die letzteren beziehen sich auf den Verlust bereits vorhandener. Auf progressiver Mutation beruht nach dieser Theorie offenbar die Entwickelung des Thier- und Pflanzenreichs in den Haupt- zügen des Stammbaumes; auf retrogressiver Mutation aber beruhen die zahllosen Abweichungen einzelner Arten von der Diagnose der systematischen Gruppe, zu der sie gehören. Aus diesen Erwägungen ergiebt sich nun die Aufgabe des ersten Bandes des vorliegenden Werkes. Sie ist eine zweifache. Erstens bedarf es einer kritischen Revision der Thatsachen, welche zur Be- gründung der Selectionslehre von Darwın, WALLACE und Anderen angeführt worden sind. Zweitens aber eines experimentellen Studiums über die Entstehung neuer Arten. Die Versuche zu letzterem Zwecke wurden im Herbst 1886 angefangen und sind jetzt, wenigstens in einer bestimmten Richtung, nahezu vollständig abgeschlossen. Ihre Beschreibung soll den Hauptinhalt des ersten Bandes bilden. Die kritische Revision der Thatsachen bildet den Gegenstand des ersten Abschnittes. {er} Einleitung. Meine Kritik beschränkt sich auf die Thatsachen der Zuchtwahl, und auf das ihr von der Variabilität dargebotene Material. Die künstliche Selection stellt sich dabei, wie bereits hervorgehoben, als ein doppelter Process heraus. Einerseits isolirt sie die vorhandenen constanten Art-Typen aus ihren Gemischen, und indem sie die vor- theilhaften auswählt, erhöht sie die Erträge. Andererseits verbessert sie die Rassen und liefert uns z. B. die nur vegetativ vermehrbaren herrlichen Früchte und die stets von ihrer Elite-Rasse abhängigen veredelten Gewächse der Grosscultur. Nie aber führt diese Selection, soweit die Erfahrung reicht, zur Entstehung neuer selbständiger Typen. In diesem ersten Abschnitt handelt es sich somit darum, den Unterschied der beiden Grundformen der Variabilität so klar wie mög- lich darzuthun. Aus der richtigen Erkenntniss dieses Unterschiedes wird sich die Bedeutungslosiskeit der individuellen Variabilität und die hohe Bedeutung der Mutabilität für die Entstehung der Arten ohne Weiteres ergeben. In Verbindung mit dieser Kritik habe ich durch eigene Ver- suche über die individuelle Variabilität vielfach die Grenzen der auf experimentellem Wege erreichbaren Veränderungen festzustellen ge- sucht. Es zeigte sich, dass diese stets viel geringer sind, als man gewöhnlich auf Grund der Selectionslehre anzunehmen geneigt ist. Für den experimentellen Theil habe ich eine Pflanze gewählt, an der sich der Vorgang der Mutation während einer langen Reihe von Jahren und in sehr ausführlicher Weise verfolgen liess. Es war dieses die Oenothera Lamarckiana, welche mir bereits 1886 eine Aus- sicht in dieser Richtung eröffnete. Der zweite Abschnitt wird zeigen, dass sie mich nicht getäuscht hat. Die ausführliche Beschreibung der sämmtlichen an ihr beobachteten Mutationen soll aber den Inhalt des dritten Abschnittes bilden. Erster Abschnitt. Die Grundlagen der heutigen Selectionstheorie. Eine Revision der Thatsachen. I. Selection und Mutation. Darwin hat in seiner Selectionstheorie zwei Principien über die Entstehung von Arten verbunden und je nach dem Uebergewichte des angeführten Beweismateriales oder nach dem Einfluss seiner Kri- tiker bald dem einen, bald dem anderen den grösseren Werth beigelest. Das eine war das Princip, um welches sich vor ihm der Streit über die Entstehung der Arten drehte. Es war die Annahme eines stufenweisen Fortschrittes in der Natur, bei der die neue Art plötzlich aus einer früheren hervorgehen würde. Man nannte einen solchen Vorgang Mutation. War die neue Form nur durch ein ein- ziges Merkmal von der vorhergehenden unterschieden, so war das Mutiren offenbar ein verhältnissmässig einfacher Vorgang. Und die Anhänger der kleineren Arten haben sich die Frage wohl immer in dieser einfachen Weise vorgelegt, auch wenn sie, wie namentlich die französische Schule der Mitte des 19. Jahrhunderts, die Möglichkeit solcher Mutationen bestritten, weil sie sie niemals beobachteten. Sie kannten die individuellen Variationen und haben sie mehrfach beschrieben; sie sahen aber zwischen ihnen und der eventuellen Ent- stehung neuer Arten keine Beziehung. Es ist mir unbegreiflich, wie das thatsächliche Vorkommen von Mutationen den damaligen Forschern entgangen sein kann. Denn sie fehlen weder in der Cultur, wo sie als single variations bekannt sind, noch in der freien Natur, wo, wie ich zu zeigen hoffe, sie den Er- wartungen der damaligen Transmutationisten, wie man sie nannte, auffallend genau entsprechen. 8 Selection und Mutation. Eine Schwäche der vor Darwın umstrittenen Meinungen lag in der Anwendung des Mutationsprineipes auf die Liwx&’schen Arten. Diese sind Sammelarten. Die Frage nach ihrer Entstehung ist offen- bar eine andere, als jene nach der Entstehung ihrer einzelnen Com- ponenten. Das zweite Princip in der Darwın’schen Selectionstheorie war der Satz, dass durch stetige Auslese die gewöhnliche individuelle Variation zur Entstehung neuer Arten führen könne. Dieser Gedanke war damals ganz neu und fand sehr viele Anhänger, unter denen WALLACE in seinem „Darwinism“ wohl als der hervorragendste gelten darf. Gleichzeitig ist WALLACE derjenige, welcher diese Form der Selectionstheorie am schärfsten als die einzig mögliche darzuthun versucht hat. Er verwirft durchweg die Entstehung der Arten durch Mutation; die single variations haben nach seiner Meinung keine Be- deutung für die Descendenzlehre. Experimentelle Untersuchungen über Variabilität und Mutabilität lagen damals nur in völlig ungenügender Anzahl vor. Man war auf die Erfahrungen der Züchter und auf allgemeine biologische Betrachtungen angewiesen. Aber die letzteren sind zwar hervorragende Argumente für die Descendenzlehre, entscheiden aber nur selten zwischen den beiden fraglichen Möglichkeiten der Entstehungsweise der Arten. Die Erfahrungen der Züchter bedürfen meiner Ansicht nach einer sehr sorgfältigen Kritik, wenn man sie zur Entscheidung wissenschaft- licher Probleme verwerthen will. Sie sind zu diesem Zwecke weder gemacht, noch bestimmt worden. Sie fordern an erster Stelle zu einer kritischen Revision der Thatsachen, auf denen die Selectionslehre angeblich beruht, auf. Eine solche Revision ist nicht nur stets gestattet, sondern gegenwärtig durchaus nothwendig. Seitdem Darwın sein riesenhaftes und über- wältigendes Thatsachenmaterial angehäuft hat, ist unsere Einsicht in die Bedeutung und Beweiskraft der einzelnen Thatsachen eine ganz andere geworden. Daneben sind neue Beobachtungen, namentlich über das Selectionsverfahren der Züchter, veröffentlicht worden, und diese stellen die Tragweite dieses Verfahrens in ein anderes Licht. Die Züchter arbeiten, mit wenigen Ausnahmen, nicht im Dienste der Wissenschaft; den meisten liegt jedes wissenschaftliche Interesse fern. Sie stellen die Bedingungen für ihre Versuche nicht so einfach wie möglich, in der Hoffnung, eine experimentelle Erklärung zu finden. Im Gegentheil ziehen sie die complicirteren Verhältnisse in der Regel vor, namentlich dort, wo es auf die Production neuer Varietäten an- kommt. Denn je mehr Factoren hier zusammengemischt werden, um Selection und Mutation. 9 so grösser ist die Aussicht, etwas Neues und Gutes aus dem Gemische hervorgehen zu sehen. Wissenschaftliche Versuche über Variabilität und Mutabilität sollen wo möglich rein sein von Bastardirungen. Dem Züchter aber sind die Kreuzungen meist wichtiger als die reinen Rassen und nur in ganz bestimmten Fällen hat er Veranlassung, Kreuzungen möglichst sorgfältig auszuschliessen. Mutationen sind ihm oft viel wichtiger als Variationen, doch behandelt er beide gewöhnlich nach derselben Methode, oft ohne sie zu unterscheiden. Dazu kommt, dass eine regelmässige Buchhaltung über die Cultur, wie solche für wissenschaftliche Zwecke durchaus unerlässlich ist, den Züchtern fern liegt. Sie würde viel zu viel Zeit und Arbeit kosten. Notizen werden von vielen Züchtern fast nur zum Zwecke der Ab- fassung ihrer Cataloge gemacht. Und stellt sich dann nach Jahren eine neue Form als etwas besonders Gutes heraus, so stellt man deren Geschichte, wie mir einer der hervorragendsten Züchter (L.) selbst versicherte, theils nach den Angaben der älteren Cataloge, theils nach dem Gedächtniss so zusammen, wie es den Anforderungen der Reclame am besten entspricht. „Es ist ja selbstverständlich,“ sagte er, „dass man sich nach 3—4 Jahren seiner einzelnen Befruchtungen und Selectionen nicht mehr erinnern kann.“ Im demselben Sinne haben mehrere andere hervorragende Züchter sich gegen mich geäussert. ! Sucht man zusammen, was man über das „Wie“ der Entstehung unserer so zahlreichen Culturpflanzen mit ausreichender Sicherheit weiss, so ist das auffallend wenig. Ueber weitaus die meisten weiss man gar nichts, als dass sie da sind; von anderen kennt man die Firma, welche sie in den Handel gebracht hat, und das Jahr der Einführung; wer sie aber gewonnen hat, wird meist verschwiegen, namentlich wenn es sich nicht um mit vollem Bewusstsein verfolgte Bastardirungsproducte handelt. Und wie die neuen Formen entstanden sind, diese Frage, auf welche für die Selectionstheorie alles ankommt, weiss man nur sehr selten zu beantworten. Alle Angaben stehen unter dem Einflusse der Reclame. Ganz ausgezeichnete, veredelte Rassen, welche seit Jahrzehnten thatsächlich constant sind, können oft nur unter der Angabe fortwährenden Fort- schrittes im Handel aufrecht erhalten werden. Solche Angaben sollten ! Rünker weist mit Nachdruck die vielen Bestrebungen zurück, welche „vielfach mit Unreellität und Schwindel verbunden waren, wie in zahlreichen Saatgutanpreisungen mit ungeheuerlich übertriebenen Abbildungen ete.“ Vergl. „Der wirthschaftliche Mehrwerth guter Qulturvarietäten.“ 1898. 8. 2. 10 Mutabilität und Variabektät. somit bei der Behandlung wissenschaftlicher Fragen nur mit grösster Vorsicht herangezogen werden. Es liegt mir durchaus fern, den Züchtern irgend welchen Vorwurf machen zu wollen. Dem freundschaftlichen Entgegenkommen vieler unter ihnen verdanke ich zu einem guten Theile meine Ansichten über die Theorie. Was ich beanstande, ist nur die Anwendung ihrer Ergebnisse auf Fragen, für welche sie weder bestimmt noch berechnet sind. Mit genialer Behandlung hat DArwın aus ihnen seine Descendenz- lehre abgeleitet, dabei aber zahlreiche Punkte unberührt oder doch unentschieden gelassen. Zur Entscheidung solcher aber werden, wie ich fürchte, die Angaben der Züchter nur selten ausreichen. Es ist ganz auffallend, dass die rein wissenschaftliche Forschung sich hier noch nicht an die Stelle der Erfahrungen der Praxis gestellt hat. Liegt hier doch ein weites Feld für die Bearbeitung offen, welches ohne Zweifel einmal reiche Früchte tragen wird. Es wird meine Aufgabe in diesem Abschnitte sein, die An- gaben der Praxis, soweit sie überhaupt eine Kritik zulassen, zu prüfen. Ihren hohen praktischen Werth verehre ich aufrichtig, um so mehr, als die Wissenschaft selbst uns hier meist im Stiche lässt. Ihre An- wendung auf die Theorie ist aber eine Sache für sich. Diese auf die gut bewiesenen Erfahrungen zu beschränken, kann nur im Interesse der Wissenschaft sein. Ich folgere also: Die Entstehung neuer, den wilden Arten gleichwerthiger Formen in der Cultur bildet eine der Hauptstützen für die Descendenzlehre. Zwischen Selectionstheorie und Mu- tationstheorie entscheidet aber nicht die Thatsache ihres Entstehens, sondern nur die Art und Weise, wie sie ent- standen sind, würde entscheiden können. Darüber aber lehren uns die Erfahrungen der Züchter nur sehr wenig. Was sie uns lehren, wollen wir namentlich im dritten Kapitel dieses Abschnittes zu ermitteln suchen. I. Mutabilität und Variabilität. $ 1. Die Transmutationslehre vor DARWIN. Bekanntlich hat Darwın in der Einleitung zu seiner Origin of Species eine historische Skizze gegeben, und die Verdienste seiner Vorgänger um die Transmutationslehre hervorgehoben. LAMARCK war Die Transmutationslehre vor DARrWIN. 1 der erste, dessen Ansichten über die Entstehung der Arten die Auf- merksamkeit auf sich lenkten. Mit ihm vertheidigte namentlich GEOFFROY SAINT-HILAIRE den gemeinschaftlichen Ursprung aller Arten. Ihre Ansicht war eine rein philosophische und stützte sich nament- lich auf die damaligen Principien der Naturwissenschaft, welche die Erklärung sämmtlicher Erscheinungen mit Ausschluss der übernatür- lichen Ursachen anstrebten.! Ihre Nachfolger aber betraten ein ganz anderes Gebiet. Sie ver- zichteten einstweilen auf die Erforschung der Blutsverwandtschaft Fig. 1. Papaver bracteatum monopetalum. A Isolirte Krone, B Ganze Blüthe.! sämmtlicher Organismen, und suchten den Verwandtschaftsursachen kleinerer Gruppen näher zu treten. Sie knüpften dabei wohl stets an den biblischen Begriff der Schöpfung an, und suchten zu ermitteln, welche Einheiten ursprünglich geschaffen seien. Einige Forscher be- trachteten dabei die Gattungen als geschaffen, andere die Arten von ! In den Culturen der Firma Vırmorı-Anprievx in Paris werden jährlich auf den Feldern mit Papaver bracteatum einzelne Pflanzen gefunden, deren Blumen- blätter mehr oder weniger vollständig verwachsen sind. Die Figur 1 ist nach Exemplaren gezeichnet, welche Hr. H. L. pe Vırmorın die Freundlichkeit hatte, mir zuzusenden. Die Pflanze ist nicht im Handel. Wie hier die Sympectalie als Varietät auftritt, kann man sich denken, dass das Auftreten der ersten Vorfahren der ganzen systematischen Abtheilung der Sympetalen in alter geologischer Zeit vor sich gegangen ist. 11% Mutabelität und Variabilität. Lisn& und eine dritte Gruppe die sogenannten kleinen Arten, welche man wohl besser elementare Arten nennt. Es sind somit unter den Vorgängern und Zeitgenossen DARWIN’S vier verschiedene Richtungen zu unterscheiden, welche sich je nach ihren Principien in anderer Weise gegenüber Darwın’s Descendenz- lehre verhielten: 1. Die philosophische Naturbetrachtung von LAMARCK und GEOF- FROY ST.-HILAIRE. 2. Die übrigen Transmutationisten, welche die Gattungen als geschaffen, die Arten und Unterarten als aus diesen abgeleitet betrachteten. 3. Die Anhänger der Liwx&’schen Arten, welche die Schöpfung für diese in Anspruch nahmen. 4. Die sogenannte JorDAn’sche Schule, welche die elementaren, im Versuch immutablen Formen für einzeln geschaffen erklärte. Betrachten wir zunächst die Ansichten der Transmutationisten. Vor Lıns& hat man allgemein die Gattungen als die systematischen Einheiten gekannt und die Arten als deren Unterabtheilungen be- trachtet. Zahlreiche Gattungen haben Volksnamen; diese Gruppen wurden vom Volke erkannt, während die Arten nur in selteneren Fällen unterschieden wurden. TOURNEFORT gab den ihm bekannten Gattungen ihre systematischen Namen; die Arten aber unterschied er mit Merkmalen, nicht mit besonderen Namen. Für ihn waren somit die Gattungen das Wesentliche, die Arten das Abgeleitete. Die Ansicht, dass die Gattungen ursprünglich geschaffen und dass die Arten im Laufe der Zeiten durch Transmutation aus ihnen hervor- gegangen seien, hat zahlreiche Anhänger gehabt. Zu ihnen zählt Burron, wenigstens in seinen älteren Werken, dann Bory DE SAINT-VINCENT, (GMELIN, BuRrDAcH, PoIkET, Fries und Andere.! Dieser Ansicht hatte sich Anfangs auch Liwn& angeschlossen.” Er glaubte an eine einmalige Schöpfung aller Formen im Paradies; er vermuthete aber, dass diese Formen unseren jetzigen Gattungen entsprächen, während sich die Arten aus ihnen theilweise direct, theilweise durch Kreuzungen gebildet hätten. ® Es ist dies deshalb wichtig, weil es zeigt, dass der jetzige Art- begriff vor-Lisy& kaum vorhanden war, und dass jedenfalls nicht die ! Gopron, De l’Espece. p. S—10. ” „Genus omme est naturale, in primordio tale ereatum.“ Syst. Nat. Veg. 14. Philos. Bot. Nr. 159. p. 104. ° C. Linxt, Oratio de Telluris habitabilis incremento. Upsala 1743, Leyden 1744. — Idem Amoenitates academicae. 17149. T. 1. p. 71 (de Pelorüs). Die Transmutationslehre vor DArwın. 13 Arten als die eigentlichen Einheiten des Systems betrachtet wurden. Es geht solches auch aus der Bedeutung der damaligen Bezeichnung Nomen specificum hervor. TOURNEFORT und seine Zeitgenossen schrieben hinter dem Gattungsnamen jedesmal eine kleine Diagnose, um die einzelnen Arten von einander zu unterscheiden. So lange man in jeder Gattung nur wenige Arten kannte, reichte ein Merkmal aus. Als aber die Zahl der Arten zunahm, brauchte man mehrere Merk- male, bis schliesslich manche Arten nur durch eine mehrere Zeilen umfassende Bezeichnung anzudeuten waren. Eine solche Umschreibung nennen wir jetzt Diagnose; damals hiess sie Nomen specificum, und musste jedesmal ausgeschrieben werden, wenn man von einer be- stimmten Art zu reden hatte. An die Stelle dieser langwierigen nomina specifica! stellte Lmxt seine binäre Nomenclatur, und um dieser die nöthige Autorität zu geben, erhob er die Arten zu den Einheiten des Systems. Er stellte den Satz auf: Species tot numeramus, quod diversae formae in principio sunt creatae? und schuf damit thatsächlich selbst den Artbegriff in seiner jetzigen Form. Und wie man bis dahin angenommen hatte, dass die Arten auf natürlichem Wege aus den Gattungen hervorgegangen wären, so behauptete Lınnt, dass die kleineren Typen aus den Arten entstanden seien.” Um aber seinen Arten ihre übernatürliche Würde möglichst zu sichern, verbot Linn& seinen Schülern das Studium jener kleineren Typen: Varietates levissimas non curat botanicus lautete die Vorschrift.* Lınxt’s Arten waren Sammelarten und keine wirklichen Ein- heiten. Es scheint sicher, dass Lisx& selbst sich darüber völlig klar war, seinen Nachfolgern ist diese wichtige Thatsache aber allmählich unklar geworden. In verhältnissmässig seltenen Fällen unterschied er selbst Varietäten unter seinen Arten, und bekanntlich sind diese dann häufig von seinen Nachfolgern zu Arten „erhoben“ worden. Be- kannte Beispiele liefern Primula veris L. mit den drei Varietäten vulgaris (acaulis) (Fig. 2), elatior und offieinalis,° welche jetzt allgemein, 1 Philosophia Botanica. Nr. 257. p. 207. lihrd.2 Nr 1527.7.93.103: ® „Varietates sunt plantae eiusdem speciei, mutatae a caussa quacunque occasionali.“ Ibid. Nr. 306. p. 243; No. 158. p. 104. * Ibid. Nr. 310. ° Die Primula acaulis unterscheidet sich von den beiden anderen Unter- arten durch Blüthen, welche einzeln auf ihren Stielen in den Axen der Blätter stehen und nicht zu Schirmen vereinigt sind. Diese Art kommt in den Nieder- landen an gewissen Stellen in grossen Mengen in wildwachsendem Zustande vor und bringt dort von Zeit zu Zeit einzelne Blüthenschirme hervor, von denen einer 14 Mutabilität und Variabilität. nach Jacqumn’s Vorgang, und ohne irgend welchen principiellen Grund, als Arten behandelt werden. So zerfiel Zychnis dioica L. in L. diurna und 2. vespertina, Platanthera bifolia L. in P. bifolia und P. chlorantha u.s.Ww. Zahlreiche Beispiele dieser Abspal- tungen sind Jedem bekannt. Umgekehrt hat man auch Arten von Linx& zu Varie- täten „erniedrigt“, so rechnet z. B. der Index Kewensis, welcher die Primula- Arten von Jacqauın anerkennt, das Da- tura Tatula L. als Varietät zu D. Stra- monium L.? Livxe’s Arten umfassten somit seine Varietäten und diejenigen Varietates mi- nores, deren Studium er seinen Schü- lern verbot. Dass aber alle diese kleine- ren Typen aus den Arten entstanden seien, wurde von ihm nicht bewiesen; es sollte einfach aus der Definition des Artbegriffes hervorgehen. Und so lange die Liss&’schen Arten den Systematikern noch genügende Arbeit boten, lag keine Ursache vor, weder seinen Satz zu bezweifeln, noch gegen sein Verbot zu handeln. Als aber die „Arten“ namentlich der europäischen Flora allmählich bis zur Erschöpfung studirt und be- schrieben waren, stellte sich das Bedürfniss ein, das Augenmerk auf die bis dahin vernachlässigten Varietates minores zu richten. Es ergab sich bald, dass diese viel zahlreicher waren, als Linn& auch nur vermuthete; dass sie aber unter sich durch ebenso zahl- reiche und ebenso scharfe Merkmale unterschieden sind, als die Arten von Liss&. Für diese neuen Formen haben dann ihre Untersucher Fig. 2. Ein Blüthenschirm von Primula acanlis.! in Fig. 2 abgebildet worden ist. Solche Fälle sind als Atavismus, als Rückschlag zu den gemeinschaftlichen Vorfahren derjenigen Primeln zu betrachten, welche auch jetzt noch Blüthenschirme besitzen. Dieser Atavismus wird aber auch von den besten Systematikern nicht als ein Grund. betrachtet, um die P. acaulis wiederum als Varietät, und die Grossart P. veris wieder als Art in den be- schreibenden Werken anzuführen. Es ist dieser Umstand für die Beurtheilung des systematischen Werthes des Atavismus im Allgemeinen von sehr hoher Be- deutung. 1 Siehe Note 5 vorige Seite. ® Es ist sehr auffallend, dass in dem Index Kewensis, der ja auf Kosten Darwın’s nach dessen Tode herausgegeben wurde, die Varietäten und die als Varietäten betrachteten Arten durch gar kein Zeichen von den Synonymen unter- schieden werden. - Die Transmutationslehre vor DArwın. 15 die „Würde“ von Arten in Anspruch genommen, sie zu Arten „er- hoben“ an die Stelle der Arten Lınnt’s. Ja es behaupteten einzelne Verfasser sogar, durch solche Unterscheidungen neue Arten „ge- schaffen“ zu haben. Das bekannteste Beispiel bildet Draba verna, das von JORDAN sehr ausführlich und nach ihm zu wiederholten Malen und von ver- schiedenen Forschern studirt wurde. Unter den letzteren nenne ich DE Bary, dessen Resul- tate, mit denen JORDAN’S völlig übereinstimmend, nach seinem Tode von F. Rosen in der Bota- nischen Zeitung 1889 veröffentlicht wurden. Die europäische Flora um- fasst etwa 200 Arten von Draba, welche zusammen die alte Art Verna aus- machen und welche, so- weit cultivirt, sich als constantund voneinander unabhängiggezeigthaben. Wie gross, bezw. wie klein ihre Unterschiede sind, zeigt für eine Reihe der wichtigsten Formen die Big. 3. Ueber die Frage, ob diese kleineren, wohl umschriebenen Typen Arten zu nennen seien 2 : 3 Fig. 3. Unterarten von Draba verna. oder nicht, ist ein sehr ı..». violacea, 2., 3. und 4. D. scabra, 5. D. subnitens, heftiger Streit entbrannt 6. D. majuscula, 7. D. obeonica, 8. D. glaueina, d . 9. D. elongata, 10. D. graminea. an dem sich namentlich (Nach F. Rossn, Bot. Zeitg. 1889. Taf. VIIL) JORDAN und GoDron be- theiligten. Jorpan und die Anhänger der kleineren Arten stützten sich dabei auf Culturversuche; sie haben dadurch die Wissenschaft mit einer ganz bedeutenden Anzahl höchst wichtiger experimenteller Thatsachen bereichert. Die Verwerthung des von ihnen beigebrachten Materiales wird einen wesentlichen Bestandtheil des Inhaltes unseres vierten Kapitels bilden. 16 Mutabilität und Variabilität. Die Bezeichnung einer Form als Art, oder richtiger der ver- meintliche Nachweis, dass eine Form eine Art sei, führte damals zur Berechtigung der Annahme, dass die betreffende Form als solche geschaffen sei. Die Zuverlässigkeit dieses Grundsatzes wurde von beiden Parteien, und na- mentlich von GODRON und JoRDAN anerkannt. Aber gegenwärtig, wo der ge- meinschaftliche Ursprung aller Arten fastnicht mehr bezweifelt wird, ist es sehr schwer, sich eine richtige Vorstellung von diesem Streite zumachen. Die Entstehungeiner Form aus einer anderen galt damals als Muta- tion. GODRON und JorR- DAN behaupteten jeder, dass die von ihm selbst vertretenen Arten im- mutabel seien. Nament- lich der letztere Forscher hat durch seine Cultur- versuche diesen Satz zu beweisen gesucht. Er kannte die Variabilität (die jetzige individuelle Variabilität) ganz gut, be- obachtete und erwähnte sie regelmässig’! Auch Fig. 4. Unterarten von Viola tricolor. 1. V. agrestis, kannte er die localen 2% segetalis mit ähnlichem Habitus wie V. agrestis, Rassen, ? deren Unter- 3. V. gracilescens, 4. V. pallescens, 5. V. nemausensis. : 0 (Nach A. JORDAN, Observ. s. plusieurs plantes rares schiede verschwinden, SO- ou eritiques. Il. 1846. Taf. I u. IL.) bald man sie durch einige Jahre neben einander und auf gleichem Boden cultivirt; er wusste sogar, dass es dazu in der Regel nur einiger weniger Generationen bedarf. Ferner kannte er die Folgen zufälliger Kreuzungen durch A. Jorvan, De lorigine des arbres fruitiers. 1853. p- 9. l’gc#p3 10: Die Transmutationslehre vor DARWIN. a7 Insecten oder durch den Wind, und machte die Gattungen (Cirsium u. s. w.) namhaft, in denen solches zu befürchten ist. Aber Variabilität und Mutabilität waren für ihn durchaus ver- schiedene Sachen; die erstere sah er stets, die letztere nie." Und deshalb hielt er die Arten für immutabel.? Auch Gopron unterscheidet ganz bestimmt zwischen geringen und zufälligen, rein „individuellen“ Abweichungen, welche bald ver- schwinden, wenn die Umstände aufhören, die sie hervorbrachten, und Artmerkmalen. Die ersteren sind durch zahlreiche Zwischen- stufen verbunden, die letzteren nicht.® Als Darwm’s Werk über den Ursprung der Arten zum ersten Male erschien,* wüthete der Streit über den Artbegriff und die Mu- tabilität namentlich in Frankreich heftig. Aber es handelte sich nur um die Frage, ob die grösseren oder die kleineren Arten je einzeln geschaffen, oder ob sie aus einem gemeinschaftlichen Ursprunge hervor- gegangen seien. Einen solchen Ursprungs-Typus dachte man sich aber nie grösser als eine Gattung.” Die damalige Transformations- theorie oder Transmutationstheorie war also etwas ganz anderes als die jetzige Descendenzlehre. Dennoch sagt Darwın selbst, dass er 1858 auf Anregung von LyELL und HookEr sich entschloss, ein Buch über die „Transmutation“ der Arten zu schreiben, welches Buch im nächsten Jahre unter dem Titel Origin of species veröffentlicht wurde. ® Es ist sehr auffallend, dass die Bezeichnungen Mutation, Muta- bilität, Immutabilität, Mutiren u. s. w. durch die Selectionstheorie so gänzlich ausser Gebrauch gerathen sind. Darwin richtete sein ganzes Bestreben mit vollem Bewusstsein gegen das Dogma von der Im- mutabilität der Arten. Seine Origin of species fängt geradezu mit dem Satze an, dass bis vor Kurzem die grosse Mehrzahl der Forscher ! Sehr bekannt ist neben der gewöhnlichen Viola tricolor, die V. arvensis (Murray), welche von vielen Autoren zu der nämlichen Art gerechnet wird, Vergl. z. B. Koch, Synopsis Florae germanicae et helvetieae. Die V. arvensis selbst aber besteht wiederum aus einer Reihe constanter Formen, von denen unsere Fig. 4 einige der wichtigeren darstellt. ® Jornan, De l’Origine des arbres fruitiers. 1853. In diesem Werke und in anderen Aufsätzen benutzt JorpAan stets die Wörter mmutalion und immutabilte, wo es sich um die fragliche Veränderung einer Art in eine andere handelt. Vergl. 8. 7, 9, 11, 13, 34 u.s. w. Ebenso Gopron, de l’Espece. Z.B. 1. p. 422. ®? Gopron, De "Espece. I. p. 175. * 24. Nov. 1859. ° Vergl. WarracE, Darwinism. p. 3—6. ® Life and Letters. 1. p. 85. DE VRIES, Mutation. I. 2 18 Mutabilität und Variabilität. the year 1837 or 1838, convinced that species were mutable produc- tions“,? sagt er in seiner Autobiographie, und in dem citirten Auf- satze in der Origin discutirt er ausführlich die Frage, ob in der Palaeontologie die Immutabilität der Arten von den hervorragendsten Forschern angenommen werde oder nicht.® Die herrschende Ansicht war somit, dass Variabilität und Muta- bilität zwei getrennte Vorgänge seien. Die Variabilität kannte man sehr gut, sowohl bei cultivirten als auch bei wildwachsenden Arten, am besten bei den damals üblichen, durch Reihen von Jahren fort- gesetzten Culturen wildwachsender Arten. Man fand sie aber be- schränkt, abhängig von den Einflüssen der Umgebung, und als Mittel zur Anpassung an diese Umgebung nützlich. Die Mutabilität kannte man nicht aus der Erfahrung. In den wissenschaftlichen Culturen entstand keine Art aus einer anderen, und die Entstehung neuer Formen im Gartenbau und in der landwirthschaftlichen Praxis bot, trotz eingehenden kritischen Studiums, keine hinreichend genau be- kannten Beispiele.* Die damaligen Anhänger der Transmutationstheorie behaupteten die systematische Verwandtschaft der einzelnen Formen (Arten, Varie- täten u. s. w.) innerhalb der Gattungen durch gemeinschaftliche Ab- stammung erklären zu können. Aber die Gegner dieser Theorie be- haupteten, soweit sie Anhänger der Lınx&’schen Arten waren, eigentlich genau dasselbe, nur hielten sie diese Arten für erschaffen und nicht die Gattungen. Zu ihnen gehörte bekanntlich in erster Linie GODRON, der die Rassen, Varietäten und selbst die Jorpan’schen Arten als auf natürlichem Wege aus den Lınn&#’schen Arten entstanden ansieht und ein sehr umfangreiches Material an Thatsachen und Betrachtungen zusammenbrinst, um diese Ansicht zu beweisen. Diesen beiden Gruppen, den Transmutationisten, wie man sie nannte, und den Vertheidigern des Linxt’schen Artbegriffes stand die dritte Schule gegenüber. Sie fusste ausschliesslich auf dem biblischen Satze der Schöpfung und auf dem Experiment. Jede Form, welche sich im Experiment als immutabel zeigte, war nach ihr eine selbständige, also für sich erschaffene Form. Und das Experiment war für sie die Cultur im Garten durch eine Reihe von Generationen. ı Origin of Species, 6. Ed. 1898. Historical Sketch. p. XII. 2afvfezandaBetiensn 1.9293. ® Origin. p. XVII. 4 Jorpan, De l’Origine des arbres fruitiers. 1853, und Gopron, De l’espece et des races. Die Transmutationslehre vor Darwın. 19 Die systematische Gruppirung solcher reeller Formen zu grösseren „Arten“ wies sie ab als künstlich oder als ‚willkürlich. Die Gat- tungen und grösseren Gruppen erkannte sie als nothwendige, aber selbstverständlich künstliche Eintheilungen an. So waren der Streit über den Artbegriff und derjenige über die Mutabilität der Arten stets innig verwebt. ‚Je nachdem man in diesem Streite der einen oder der anderen Partei angehörte, war man für die neue Lehre Darwın’s mehr oder weniger vorbereitet. Die wenig zahlreichen Transmutationisten und die sehr zahlreichen Linneaner gaben von vornherein die Entstehung von Rassen, Varietäten und Jorpan’schen Arten aus anderen Formen zu, und zwar trotz des völligen Mangels an experimentellen Beweisen. An sie wandte sich Darwin, dessen Beweisführung ja in der Hauptsache dahin geht, zu zeigen, dass die Annahme einer gemeinschaftlichen Abstammung der Gattungen und Familien genau ebenso berechtigt ist, als die da- malige Ansicht von dem gemeinschaftlichen Ursprunge der zu einer Art gerechneten Formen. Die Anhänger der Jorpan’schen Schule, welche die elementaren Arten als erschaffen betrachteten, waren für Darwın’s Lehre am wenigsten vorbereitet. Sie waren aber wenig zahlreich, und die sehr unbequeme Handhabung ihres artenreichen Systems (Draba verna allein ist ja in über 200 „Arten“ zerfallen) stand der Verbreitung ihrer Ansichten allzu sehr im Wege. Aber durch Darwın sind sie nicht, oder sehr unvollkommen überzeugt worden, sie nehmen zumeist noch den alten Standpunkt ein. Unter ihnen nenne ich hier nur MICHAELE GANDOGER, dessen Flora Puropae wohl das umfangreichste und übersichtlichste Werk dieser Forschungsrichtung ist. Der Streit vor Darwın hat somit zu zwei sehr wesentlichen Re- sultaten geführt: Diese sind: 1. Der experimentelle Nachweis der Existenz zahl- reicher, constanter, von einander unabhängiger Typen innerhalb der Lınw&’schen Arten. 2. Die sehr allgemeine Ueberzeugung, dass solche constante Typen auf natürlichem Wege, durch Mutation, aus den grösse- ren Gruppen oder Arten hervorgegangen seien.! ! Die Bezeichnungen Immutabilität u. s. w. sind auch später nicht ganz verloren gegangen. Vergl. z. B. J. Costantın, Accomodation des plantes aux climats froid et chaud, Bull. Seientif. publi& par ALrrep Garn. T. 31. p. 490. 1897 und Bareson, Materials for the sludy of variation. 1894. p. 2. 20 Mutabilität und Variabilität. $S 2. Darwın’s Selectionslehre. Die Descendenzlehre ist die wissenschaftliche Erklärung der syste- matischen Verwandtschaft. Diesen Satz zur allgemeinen Anerkennung gebracht zu haben, ist Darwın’s unsterbliches Verdienst. Er hat dadurch die ganze biologische, systematische, embryologische und palaeontologische Wissenschaft umgeformt, ihr unermessliche Quellen neuer Forschung eröffnend, überall Fundgruben anweisend, wo neue Thatsachen fast nur zu greifen waren. Und diese neuen Entdeckungen haben stets die Theorie bestätigt, zahllose Beweisgründe für sie beigebracht, und sie so zu einem stattlichen und unerschütterlichen (sebäude erhoben. Die einzelnen Sätze und Hypothesen, welche Darwın damals als Stützen seiner Lehre verwandt hat, sollten deshalb jetzt nur noch als solche, und nur im Rahmen der Geschichte seiner Theorie be- trachtet werden. Sie haben ihren Zweck erreicht und sind somit völlig gerechtfertigt. Ob sie Unbewiesenes und zum Theil Unrichtiges enthalten, hat dabei nicht geschadet. Aber sie enthalten ausserdem ein ganz bedeutendes Material von Thatsachen, welches auch jetzt noch dazu benutzt werden kann, im Einzelnen auf der von DARwıIn geschaffenen Grundlage weiter zu bauen. Namentlich gilt dieses von der Selectionstheorie. Denn es handelt sich jetzt nicht mehr darum, sie als Stütze für die Descendenzlehre zu verwerthen; glücklicher Weise bedarf diese heute einer solchen Stütze nicht mehr. Vielmehr handelt es sich jetzt darum, zu versuchen, die Entstehung der Arten in den Bereich experimenteller Forschung zu bringen. Als vergleichende Wissenschaft ist die Descendenzlehre völlig durch die seit DaArwın errungenen Ergebnisse gesichert, als experimentelle Wissenschaft hat sie aber nur ganz unbedeutende Fortschritte gemacht. ! Die Ursache dieses letzteren Verhaltens liegt meiner Ansicht nach nur zum Theil in den Schwierigkeiten der Untersuchung selbst, zum grössten Theile aber in der Unklarheit der Theorie. Auf syste- matischem Gebiete liessen sich die Entdeckungen so zu sagen vorher- sagen, in physiologischer Richtung aber keineswegs. Ueber die physiologische Seite der Selectionstheorie ist DARWIN sich nie völlig klar geworden. Stets hat er in seiner Meinung ge- schwankt, das eine Mal der einen, das andere Mal der anderen Rich- tung den Vorzug gebend, nie völlig für die eine oder die andere sich entscheidend. In seinen älteren Werken hat er vorwiegend die spon- ! Vergl. auch Bareson, Materials for the study of Variation. p. T und p. 11. Darwıns Selectionslehre. 21 tanen Abänderungen (single variations) als jene betrachtet, welche der natürlichen Auslese das Material darboten, während er in späteren Werken, auf Grund der Ausführungen seiner Kritiker, auch den indi- viduellen Variationen einen grösseren Antheil an der Entstehung neuer Arten einräumte. Aber scharf hat er diese beiden Vorgänge nie getrennt. Auch war eine solche Unterscheidung nicht im Interesse seines Hauptzweckes. Sie hätte ihn auf viele schwierige Punkte geführt, deren Lösung für die Descendenzlehre nicht erforderlich war, und welche die Aufmerksamkeit nur zu sehr von dem grossen Ziele würden abgeleitet haben. Dass die Rassen, Varietäten und Unterarten von wildwachsenden sowie von cultivirten Pflanzen durch gewisse Modificationen aus den „Arten“ entstanden seien, wurde damals, wie wir im vorigen Paragraph gesehen haben, hinreichend allgemein anerkannt. Für die cultivirten Gewächse hat Darwın die historischen Angaben über diese Umbil- dungen so vollständig wie möglich gesammelt.! Sie lehren uns die Geschichte der Culturgewächse, oft auch die Herkunft und den Zeit- punkt der ersten Cultur der Varietäten, entscheiden aber nicht, woher diese kommen, oder wie sie entstanden sind.? „Varieties are incipient species“ und „Species have descended, like varieties, from o’her species,‘ das sind die beiden bekannten Sätze, welche Darwın stets und überall betont, und um deren Nachweis es sich in erster Linie handelt.” Mit anderen Worten: Die Ent- stehung der Varietäten aus den Arten wird zugegeben, aber genau so entstehen Arten aus anderen Arten. Um diesen Satz zu be- weisen, ist offenbar die Kenntniss der Art und Weise, wie die Varie- täten selbst entstanden seien, nicht durchaus unerlässlich. Es ist nur darzuthun, dass das Verhältniss der Arten zu den Gattungen dasselbe ist, wie jenes der Varietäten zu den Arten. Darwın betont zu wiederholten Malen, dass man nie vergessen darf, dass under the term of varialions mere individual differences are included“.* Seine Variabilität ist also stets als ein doppelter Vor- gang aufzufassen. Sie besteht aus ‚individual differences“ und „single variations“.° Die ersteren gehören zu denjenigen Erscheinungen, ! Man vergl. von späteren Arbeiten namentlich Auru. pe Canporıe, Sur Vorigine des plantes eultivces. ® Vergl. auch Barzson, Materials. p. 17. ® Origin of species. 6. Ed. p. 2, 4, 86 u. s. w. * Origin, ibid. p. 64, 80 u. s. w. ® Life and Letters. Ill. p. 108. Zu den single variations werden Fälle 22 Mutabilität und Variabihtät. welche wir jetzt individuelle Variabilität nennen, und welche von dem Gesetze QUETELET's beherrscht werden. Die letzteren sind zufällige, spontane Abänderungen, unseren Mutationen entsprechend (Fig. 5). DARwın nennt diese beiden Ty- pen fast überall in seinen Ausfüh- rungen über die Selection, trennt sie aber nie, und zweifelt stets, wel- cher von beiden die grösste Be- deutung für die Entstehung der Arten beizulegen sei. Dieser Sach- lage gegenüber scheint es mir fast wie Unrecht, in einer kritischen Betrachtung von Darwin’s Mei- Fig. 5. 1. Datura Tatula, mit blauen Blüthenkronen und röth- NUN den Unter- lich angelaufenem Laube. 2. Frucht von D. Stramonium mit schied dieser bei- Dornen, unreif. 3. Frucht von D. (Stramonium) inermis, ohne Dornen, reif, geöffnet und vertrocknet. den Typen völlig scharf hervorzu- heben. Wenn ich solches dennoch thue, so geschieht es mit der ausdrücklichen Absicht, um zu zeigen, dass Darwın die beiden Vor- gänge zwar kannte, aber sie noch nicht, in Bezug auf ihre Bedeutung für seine Theorie, vollständig zu trennen wagte. Wie überall, war Darwın auch hier so vorsichtig wie nur möglich. Scharf formulirt heisst unsere Frage also: Wählt die natürliche Auslese behufs Bildung neuer Arten die extremen Varianten der ge- wöhnlichen individuellen Variation, oder wählt sie zufällige Mutationen ? Die gewöhnliche Variabilität ist immer da. Extreme Varianten wie die Blüthenfarbe von Datura Tatula (eine zu der weissblühenden D. Stramo- nium gerechnete Form) und der Mangel der Bewaffnung der Früchte von Datura inermis gerechnet. Vergl. Fig. 5. Darwıns Selectionslehre. 23 liefert sie bei hinreichender Individuenzahl stets in genügender Menge. Auch wählt der Kampf um’s Dasein nicht die einzelnen ganz Vor- züglichen, sondern die Gruppe der Besten, da er einfach die am wenigsten geeigneten vorzugsweise ausrodet. Material für die Auslese fehlt also sozusagen nie: in keinem Jahre, für keine Art und für keine Eigenschaft. Aber die individuelle Variabilität ist, soweit die Erfahrung reicht, keine unbegrenzte; ihre Grenzen sind zwar keine scharfen, aber dennoch vom QUFTELET’schen Gesetze fest bestimmte. Ob die Selection diese Grenzen je wesentlich wird überschreiten können, wissen wir nicht. Die „single variations“ sind zufällige Erscheinungen, von deren Gesetzen man bis jetzt noch keine Erfahrung hat. Dass sie vorkommen, weiss man, auch dass sie selten, aber nicht allzu selten sind. Wie sie stattfinden, weiss man nicht oder kaum, man nimmt allgemein an, dass sie sprungweise geschehen! und nennt sie daher auch Sprung- variationen. Sie verändern plötzlich eine Art in eine neue Form oder bilden aus der einen Varietät eine andere, völlig verschiedene. Sie umfassen oft nur Ein Merkmal und sind dann meist als durch Verlust oder Latenz eines bereits vorhandenen Charakters zu betrachten, z. B. weisse Blumen, Mangel von Dornen (Datura inermis, Fig. 5), Haaren, Ausläufern (z. B. Fragaria alpina, Fig. 6 und 7 S. 24 u. 25),? Samen, Verzweigung u. s. w.; sie gehören dann ofienbar der retro- gressiven Mutabilität an und haben für die Erklärung der Hauptlinien des Stammbaumes keine Bedeutung. Abgesehen von dieser ganz be- stimmten Gruppe von Modificationen durch Verlust scheinen die single variations alle Merkmale umfassen zu können, in jeder Richtung aufzutreten und vermuthlich unbegrenzt zu sein, Zusammenfassend sind die individual differences stets anwesend, in jeder Richtung und in jedem Merkmal, aber begrenzt und be- kannten Gesetzen folgend. Die single variations sind zufällige, nur von Zeit zu Zeit auftretende, sprungweise die Formen verändernde Erscheinungen. Man kann sie nicht hervorrufen, sondern muss sie abwarten.” Es giebt also ! Wohl die meisten als Belege angeführten Beobachtungen gehören aber in das Gebiet der Bastardirungen, wie ich im zweiten Bande zu zeigen be- absichtige. ® Die Gaıtvon-Erdbeeren (Fig. 7), welche sich nur durch den Mangel der Ausläufer und der dementsprechend reichlicheren Verzweigung der Rosetten von den gewöhnlichen Monatserdbeeren (Fragaria alpina, Fig. 6) unterscheiden, werden gerade wegen dieses Mangels sehr oft vorzugsweise cultivirt. Vergl. VIrLmorın-Anprieux, Les plantes potageres. 1883. p. 221—222. Origin ]..c. p; 62. 24 Mutabilität und Variabilität. 1. eine Selection extremer Varianten; 2. eine Selection der Mutationen. Und Darwın’s Frage war stets, welche von diesen beiden hat den grössten Antheil an der Entstehung der Arten gehabt?! Die Züchter wählen beides, je nach der sich bietenden Gelegen- heit. DAarwın betont wiederholt, dass ıhre Methode auf der Aceumu- lation von successive slight variations beruht.” Aber ob diese gering- fügigen Abweichungen Variationen oder Mutationen sind, darüber spricht er sich nicht aus. Die natürliche Auslese wählt nun, genau wie die künstliche, solche slight variations,? aber welche von beiden Formen, wird auch hier nicht entschieden. Dazu kommt, dass die natürliche Auslese nach Darwın nicht der einzige Factor ist, denn am Schluss der Einleitung zu seiner Origin sagt er: I am convinced, that Natural Selection has been the most important, but not the exclusive means of modification.* Fig. 6. Fragaria alpina, Monats-Erdbeere (Fraisier des quatre saisons).? In fast allen Werken über Darwın’s Theorie findet man wieder- holt, wie Darwın durch das Lesen von MALTHUs’ Essay on Population zu seiner Selectionstheorie gelangt ist.e Genau bekannt mit dem Kampf um’s Dasein und der alljährlichen Vernichtung zahlloser Indi- viduen, fand er darin die lange Zeit gesuchte Lösung. Er schloss: ! Die Selection extremer Varianten in der Natur bildet die sogenannten localen, vom Standorte bedingten Rassen, spielt bei der Acclimatisirung eine wichtige Rölle und scheint überhaupt in vielen Fällen der Anpassung an ge- änderte Lebensbedingungen zu dienen. Vergl. III. S 4. 2 Origin 1. ce. p. 3, 63, 64 u. S. w. > Ibid. * Vergl. auch Origin p. 72. 5’Siehe Note: p. 23. 6 Vergl. Life and Letters. I. p. 83, 84. Darwıns Selectionslehre. 25 Wie die Auslese unter den Menschen waltet, so waltet sie auch unter den Thieren und den Pflanzen, und in dieser Weise könnten vielleicht die Arten entstanden sein. Dieser letztere Schluss ist aber einfach ein genialer Gedanke, der nicht im geringsten aus MAaurHus’ Essay sich ergiebt. Dieser Gedanke ist zu einer der wesentlichsten Stützen der Descendenzlehre geworden, ich möchte fast sagen zum Hebel mittelst dessen sie eingeführt wurde. Aber es war das Genie des grossen Denkers, nicht die Güte des Geräthes, welches im Grunde den glücklichen Erfolg bewirkte. Nach unseren jetzigen Auffassungen! ist mit dieser Entstehungs- weise der Hypothese der natür- lichen Auslese Darwın’s eigene Meinung gar oft im Widerspruch. Die natürliche Auslese wirkt auf chance variations.” Unless such occur natural selection can do nothing.” Aus solchen Aeusse- rungen ist es klar, dass DArwIn den single variations ein sehr grosses und oft ein überwiegendes, vielleicht sogar ausschliessliches Gewicht beilegte. Denn die indi- viduelle Variabilität bietet der natürlichen Auslese stets das erforderliche Material, es mag Fig. 7. Fragaria alpina, Monats-Erdbeere das eine Mal etwas mehr. das ne Ranken (Fraisier des quatre saisons 2 2 sans coulants, Fraisier de GAILLON). andere Mal etwas weniger stark vom Typus abweichen, aber es ist überall und in allen Richtungen vorhanden. Diese Thatsache war damals ganz gut bekannt, und auch Darwın war sich darüber völlig klar. Allerdings kannte man die später von QUETELET entdeckten Gesetze nicht und war die Einsicht also keine so gründliche als jetzt; an dem allgemeinen Vorkommen der Variabilität zweifelte man aber nicht. Die chance variations waren somit nicht die überall zu beobach- tenden extremen Varianten der gewöhnlichen Variabilität; sie waren zufällige Erscheinungen. Die natürliche Auslese lauert stets auf diese, !ı Es war 1838, als Darwın Marruus’ Buch las, und QUETELET's Anihropo- me£trie erschien erst 1870. ® Life and Letters. Il. p. 57 u. s. w. ® Origin. p. 64 u. S. w. 26 Mutabilität und Variabilität. and wherever opportunity offers.! Solche zufällige Abweichungen, solche Mutationen, dachte sich Darwın somit als von Zeit zu Zeit auftretend, und dabei im Grossen und Ganzen bestimmten, uns völlig unbekannten Gesetzen folgend. Diesen Gesetzen zufolge konnte es nicht fehlen, dass in grösseren Zeiträumen wenigstens einzelne günstige Abänderungen erreicht würden. Daher der Fortschritt im Laufe der Jahrhunderte, den die meisten lebenden Organismen aufzuweisen haben. Die lange Zeit giebt bessere Aussicht auf das Eintreten günstiger Abweichungen,? auch wenn diese nur nach langen Zeitintervallen kommen sollten.” Sie führen inter- mittent results herbei.* Auch vermuthete Darwın bereits eine gewisse Periodicität. „Nascent species are more plastic,‘ d. h. bilden zahlreichere Sprung- variationen aus, und haben dadurch bessere Aussicht, sich in weitere Arten zu spalten. Darwın citirt NAUDIN und HERBERT als die Autoren dieses Satzes, den sie aus ihren vergleichenden Studien über die Formen innerhalb bestimmter Gruppen von Pflanzen abgeleitet haben.’ SCHAAFHAUSEN® betonte die ungleiche Geschwindigkeit des Fort- schrittes in den verschiedenen Zweigen des Stammbaumes, in einigen Linien seien die Veränderungen sehr rasche gewesen, während in anderen in langen geologischen Zeiten fast nur Stillstand die Regel war. Somit muss, um eine neue wirkliche Art zu bilden, eine Varietät von Zeit zu Zeit, vielleicht jedesmal mit langen Zwischenräumen, Ver- änderungen in derselben Richtung hervorbringen. So geht es vor- wärts step by step.’ Betrachten wir jetzt Darwın’s Ansichten über die Wirkung äusserer Einflüsse. Auch hierüber ist seine Meinung keine unabänder- liche. Bisweilen meint er, dass sie sehr geringe Bedeutung für die Entstehung der Arten haben, bisweilen schreibt er ihnen dennoch grösseren Einfluss zu. Und da er die Beziehung der individuellen . Variatioop zu den Wirkungen der monde ambiant sehr gut kannte, so geht auch hieraus hervor, dass es sich wesentlich um single variations handelte. In einem Briefe an HookEr, 1856, schreibt er: „my con- Original. c.p.09,,.06: 2lbid. ep 32086: SThid. p:85, 92. zelbid. sep. s>. 5 Ibid. Zistorical Skesch. p. XIX. INK 19 ARE Zlibid.21p2266. Darwıns Selectionslehre. 27 clusion is, that external conditions do extremely little, except in causing mere variabelity.“ „How much they do is the point of all others on which I feel myself very weak.“! Sehr bekannt ist die wichtige Rolle, welche bei Darwın die changed conditions of life spielen. Namentlich der Transport einer Pflanze aus einem Klima in das andere und die ersten Jahre der neu in Cultur gebrachten Arten.” Arten mit grosser geographischer Verbreitung bieten daher auch mehr Aussicht auf die Entstehung neuer Formen. In späteren Jahren hat Darwın seine Meinung über diesen Punkt wiederum verändert, nachdem er Horrmann’s bekannte Untersuchungen gelesen hatte: No doubt I originally attributed too little weight to the direct action of conditions. Perhaps hundreds of generations of exposure are necessary. lt is a most perplexing subject (1881).? Den grössten Einfluss auf Darwın hat in Bezug auf diese Frage eine Kritik gemacht, welche 1869 von FLEEMING JENKIN in der North British Review veröftentlicht wurde.* Dieser versuchte durch Berech- nungen darzuthun, dass die Aussicht der single variations, sich im Kampf um’s Dasein aufrecht zu erhalten und schliesslich den Sieg davon zu tragen, im besten Falle nur eine ganz unbedeutende sei. Darwın hat sich dadurch überzeugen lassen und sagt sogar: I always thought individual differences more important, but I was blind, and thought that single varialions might be preserved much oftener than I now see vs possible. Auf Veranlassung dieser Kritik hat er dann in den späteren Ausgaben der Origin manche Veränderungen in diesem Sinne vor- genommen. Zum Schlusse weise ich noch auf die Folgerung, welche DArwın aus seiner Pangenesis in Bezug auf die beiden Grundformen der Variabilität abgeleitet hat.’ Es giebt zwei durchaus verschiedene Gruppen von Ursachen. Erstens die verhältnissmässige Zahl der Ein- heiten, ihr Fehlen, ihr Vorherrschen, ihre gegenseitigen Lagen und das Activwerden der seit langer Zeit inactiven. Solche Veränderungen finden statt, ohne dass die Einheiten selbst dabei modificirt würden. Such changes will amply account for much fluetuating variability, das heisst also für diejenige Variabilität, welche wir jetzt individuelle, graduelle oder fluctuirende nennen. ! Life and Letters. U. p. 3. ? Origin. p. 64 u. s. w. ® Life and Letters. III. p. 345. * Origin. p. 11. Life and Letters. III. p. 108. 5 Animals and plants under domestication. 2. Ed. 1875. II. p. 390. 28 Mutabilität und Variabilität. Die zweite Gruppe von Ursachen umfasst die directe Wirkung der veränderten äusseren Umstände auf die Organisation, in welchem Falle Darwın annimmt, dass die Einheiten selbst modifieirt werden. Wenn die neuen Einheiten sich dann hinreichend vermehrt haben, um den früheren ebenbürtig zur Seite zu stehen, werden sie zur Aus- bildung neuer Structuren Veranlassung geben. Diese Citate führen mich zu der Ueberzeugung, dass DARwIN sich die grossen Züge des Stammbaumes als durch Modification seiner gemmules entstanden dachte, und dass er die fluctuirende Variabilität als eine Erscheinung ganz anderer Art ansah.! Zusammenfassend sehen wir, dass DARWIN stets individual differences und single variations unterschied, und dass er den letzteren wenigstens eine ganz bedeutende Rolle bei der Entstehung der Arten zuschrieb. Nur unter dem Einflusse seiner Kritiker hat er diese Meinung ge- legentlich aufgegeben und den überall vorhandenen individuellen Variationen den wesentlichsten Platz eingeräumt. $ 3. WauLace's Selectionslehre. In seinem Buche über Darwinism hat ALFRED RUSSEL WALLACH in prachtvoller und überzeugender Darstellung ein überaus reiches Material von Beweisen für die Descendenzlehre zusammengestellt. ? Neben Darwın haben wenige Autoren einen so bedeutenden Antheil am Siege dieser Theorie gehabt, wie er. „Darwinism“ besteht vorwiegend aus zwei Theilen. In den ersten Abschnitten handelt Warvack über Variabilität. und Selection, in den letzteren beschreibt er die wundervollen Anpassungen von Thieren und Pflanzen an ihre Umgebung, und sucht er diese auf Grund der Theorie zu erklären, mit dem Zwecke, die Uebereinstimmung der Forderungen der Theorie mit den Thatsachen so ausführlich wie möglich darzuthun. Dieser letzte Theil ist unzweifelhaft der an- ziehendste des ganzen Werkes. Hier habe ich aber nur die Selections- theorie zu besprechen. WALLACE's Selectionstheorie unterscheidet sich von derjenigen Darwın’s in einem wichtigen Punkte. WartAcE betrachtet nur die stets vorhandenen individuellen Variationen als das Material, aus welchem die natürliche Auslese die Arten bildet. Es ist ihm eine ! Vergl. auch meine Intracellulare Pangenesis. p. T3—T74, 210 u. Ss. w. ®” A.R. Warrace, Darwinism, an esposition of the theory of natural selection with some of its applications. London 1889. 2. Ed. Warrace’s Selectionslehre. 29 Hauptaufgabe, zu zeigen, that animals and plants do perpetually vary in the manner and to the amount requisite.! Single variations betrachtet er als ganz ohne Bedeutung; sie haben sich an der Entstehung der Arten nicht, oder doch in keinem wichtigen Falle betheiligt.? Unser Autor glaubt damit im Wesentlichen mit DARwIN einver- standen zu sein und dessen Selectionslehre nur schärfer und reiner wiedergegeben zu haben. Die vielen Zweifel, welche, wie wir im vorigen Abschnitt sahen, überall von Darwin vorsichtig hervorgehoben und discutirt wurden, fallen hier weg. Die Theorie ist eine sehr einheitliche, klare und überraschend einfache geworden. Sie trägt den systematischen und biologischen Thatsachen genau ebensogut Rechnung wie Darwıy’s schwankende Ansicht, ist aber viel bequemer und anziehender als diese. Diese sehr scharfe Fassung macht es dem Kritiker leicht, den schwachen Punkt aufzudecken. Fast legt der Verfasser selbst den Finger darauf. Am Schlusse des ersten Abschnittes giebt er eine Uebersicht über sein ganzes Thatsachenmaterial und über die Me- thode seiner Beweisführung, und dieser Uebersicht hat man nur genau zu folgen, um zu finden, wo der logische Gedankengang unter- brochen ist.? Es sei mir gestattet, diesen Gedankengang möglichst kurz zu wiederholen. Warracr’s Theorie der natürlichen Auslese beruht auf zwei Hauptreihen von Thatsachen. Die erste ist die rasche Vermehrung und das dadurch bedingte frühzeitige Absterben zahlloser Individuen. Die zweite ist die Variabilität und der survival of the fittest. Gegen diesen Theil seiner Beweisführung habe ich nichts einzuwenden. Dann aber haben wir einen anderen wichtigen Punkt zu betrachten, fährt er fort. Es ist dieser das Princip der Vererbung der Abweichungen und der Verbesserung der Rassen durch die Auslese der Züchter. In vielen Fällen seien dadurch die cultivirten Formen so verschieden geworden von ihren wilden Vorfahren, dass sie kaum als deren Nach- kommen zu erkennen seien. Aber das Wort Rassen hat bekanntlich eine doppelte Bedeutung. Es bedeutet sowohl die durch Selection veredelten Rassen unserer Züchter, als auch die vorhandenen, con- stanten Unterarten unbekannter Abstammung.* Ohne Zweifel weichen 1 Darwinism. 2. Ed. p. 13. 2 „My whole work tends foreibly to illustrale the overwhelming importance of Natural Selection.“ Waızace l. c. p. VII-VI. ® Darwinism. p. 12, 13. * Man denke z. B. nur an die Menschenrassen. 30 Mutabilität und Variabilität. viele eultivirte Formen in dem fraglichen Maasse von den Arten ab, zu denen sie von den Systematikern gerechnet werden. Aber diese Formen sind Unterarten und ihre gemeinschaftliche Abstammung von einer einzigen Art ist genau ebenso gut eine Hypothese als der gemein- schaftliche Ursprung der Arten einer Gattung. Die cultivirten Unter- arten sind in den bekannten Fällen meist älter als die Cultur, was WAaLLAcE z. B. selbst für die Rassen der Hunde hervorhebt;t wie sie entstanden sind, weiss man gar nicht, auch nicht für die vielleicht in der Cultur entstandenen. Auf diesem schwachen Grunde baut nun WALLACE weiter fort (p. 12): „It is therefore proved that if any particular kind of variation üs preserved and bred from, the variation itself goes on increasing in amount io an enormous extent; and the bearing of this on the question of the origin of species is most important.“ Dieser Satz wird aber gar nicht bewiesen; im Gegentheil, seine Richtigkeit wird nur behufs der Beweisführung angenommen, so- wohl von DAarwın und WALLACE, als von ihren sämmtlichen An- hängern. WALLACE überspringt diesen Punkt in seinem Buche; er widmet ihnı weder eine eingehende Kritik, noch einen besonderen Abschnitt. Auch bei der Behandlung der einzelnen Beispiele wird dieser Satz ohne weitere Prüfung als gültig angenommen. Am klarsten sieht man dieses bei der Besprechung der Aepfel:® Es sei bekannt, dass alle unsere Apfelsorten vom wilden Pyrus Malus abstammen und dass aus diesem über tausend verschiedene Sorten hervorgebracht sind. Es macht dies den Eindruck, als ob die Cultur diese zahllosen Formen erzeugt hätte. Thatsächlich aber ist der Apfel im wilden Zustande eine polymorphe, an Unterarten sehr reiche Species, und sind die gut unterschiedenen Typen, welche jetzt cultivirt werden, bereits unter den wilden Formen vorhanden. Nur sind jedesmal die Holz- äpfel in grosse, saftige und schmackhafte Früchte durch die Cultur umgewandelt worden. Dass die individuelle Variation durch Selection stets weiter gehe und to an enormous extent heranwachse, ist eine völlig unbewiesene Voraussetzung. Dieses ist der schwache Punkt der Wautack'schen Selectionstheorie. Ich gestehe, dass mit dieser Voraussetzung die Adaptationserschei- nungen leicht und einfach zu erklären wären, und dass dieses ein Warraczk’s Selectionslehre. 3l sehr kräftiges Argument für sie bildet. Und so lange es sich nur um jene Erklärung handelt, hätte es vielleicht keinen Zweck, sich gegen die Hypothese auszusprechen. Aber sie ist in sich unrichtig. Zuchtwahl führt zwar zu prak- tisch enormen Ergebnissen, das ist aber etwas ganz anderes, als bio- logisch enorme Veränderungen. Wenn man den Ertrag seiner Aecker um die Hälfte vermehren kann, so braucht das vom Gesichtspunkte der Entstehung der Arten noch gar keine Bedeutung zu haben. Im dritten Kapitel werde ich dieses an der Hand der Thatsachen zu beweisen suchen. Ich habe WarvAcr’s sedankengang hier nicht weiter zu verfolgen. Ist seine Voraussetzung einmal angenommen, so ergiebt sich alles Uebrige von selbst. Auf S. 13 fasst er noch einmal seine Aufgabe zusammen. Es gilt dort zu beweisen, dass Variationen aller Art durch Selection ver- grössert und angehäuft werden können, sowohl im cultivirten als im wilden Zustande. Ich gebe völlig zu, dass Wautack diesen Beweis in meisterhafter und überzeugender Weise beigebracht hat. Daneben gilt es aber auch zu beweisen, dass jene Vergrösserung und Anhäu- fung stattfindet to the amount requisite für die Entstehung neuer Arten und Unterarten, und diesen Beweis hat WALLACE weder versucht noch erbracht. An Stelle dieses Beweises bringt er in seinem Buche überall nur Beispiele über die Zusammensetzung von cultivirten und wilden Arten aus sogenannten elementaren oder Unterarten,! aber wie diese entstanden sind, das lehrt er uns nicht. Ebenso wenig gelingt es ihm, zu beweisen, dass durch Selection entstandene Rassen nachher auch ohne weitere Zuchtwahl constant bleiben könnten. Zusammenfassend sehen wir, dass WALLACE in seiner Selections- theorie ausschliesslich von der individuellen oder gewöhnlichen Varia- bilität ausgeht und den Antheil der single variations verwirft. Dass er zeigt, dass die so vereinfachte Hypothese den systematischen und biologischen Thatsachen in vorzüglicher Weise Rechnung trägt, dass er aber den Beweis schuldig bleibt, dass thatsächlich aus indivi- duellen Verschiedenheiten durch Auslese Artmerkmale entstehen könnten. ! Vergl. z. B. p. 17—1S, 85—86 u. s. w. 32 Mutabilität und Variabilität. $ 4. Die verschiedenen Formen der Variabilität. Nichts ist variabler als die Bedeutung des Wortes Variabilität. Manche Verfasser benutzen dieses Wort in einem so viel umfassenden Sinne, dass man gar nicht versteht, was sie meinen (Fig. 8). Es Fig. Ss. Hedera Helix var. arborea.! ist deshalb wichtig, die verschiedenen hierher gerechneten Erschei- nungen möglichst scharf von einander zu unterscheiden. Denn sie stehen zu unserer Aufgabe in ganz verschiedenen Beziehungen. ! Das bekannteste Beispiel bildet Hedera Helix arborea, welche von vielen Pflanzenhändlern als var. arborea angeführt wird. Es ist gar keine Varietät, sondern es sind einfach die aufstrebenden, nicht kriechenden Blüthenäste, welche von dem gewöhnlichen Epheu abgeschnitten, für sich gesteckt und als Bäumchen gezogen wurden. Im April 1888 habe ich selbst solche Stecklinge gemacht und von diesen den schönsten bis heute cultivirt. Er bildet jetzt ein reich verzweigtes Bäumchen von etwas über einem Meter Höhe (Fig. 8). Wie die Figur bei a, 5 und ce zeigt, entstehen von Zeit zu Zeit einzelne kriechende Aeste. Von einem älteren ähnlichen, aber über zwei Meter hohen Epheubäumchen säete ich 1893 die Beeren und erhielt über tausend Keimlinge. Diese wachsen noch jetzt in unserem Garten und haben bis dahin ausschliesslich kriechende Stämme und Aeste getrieben. Selbstverständlich vererbt sich die Arborea - Form nicht. Aehnliche Erscheinungen kommen bei manchen anderen Gattungen, z. B. bei den kriechenden Fieus-Arten Südeuropa’s vor; sie sind aber noch viel zu wenig untersucht worden. Die verschiedenen Formen der Variabilität. 33 Gewöhnlich bringt man in den Rahmen der Variabilität die folgenden Gruppen von Erscheinungen: 1. Die systematische Polymorphie und ihre vermuthlichen Ursachen; 2. die durch Bastardirung erzeugte Polymorphie; 3. die den QUETELET'schen Gesetzen folgende Verschiedenheit der Individuen und Organe; 4. die sogenannten spontanen Abänderungen. Für die Mutationstheorie bildet die Erklärung der systematischen Vielgestaltigkeit die eigentliche Aufgabe, und die spontanen Abände- rungen sind für sie die Thatsachen, auf welche sie diese Erklärung aufzubauen sucht. Die Richtigkeit dieser Erklärung soll alsdann auf dem Gebiete der Bastarde experimentell geprüft und womöglich be- wiesen werden. Die individuelle Variabilität aber kommt dabei nur nebensächlich in Betracht. Behandeln wir deshalb diese Gruppen zunächst einzeln für sich. 1. Die systematische Polymorphie und ihre vermuth- lichen Ursachen. Die Linxt’schen Arten sind Collectivarten. Sie umfassen je eine kleinere, oft auch eine grössere Reihe von Formen, welche von einander ebenso scharf und vollständig unterschieden sind, als die besten Arten. Gewöhnlich nennt man diese kleineren Formen Varietäten und Unterarten; Varietäten, wenn sie durch ein einziges auffallendes Merkmal bezeichnet werden können, Unterarten aber meist, wenn sie sich in der Gesammtheit ihrer Eigenschaften, im so- genannten Habitus unterscheiden. Doch herrscht hierüber eine grosse Verschiedenheit der Meinungen. Andere Forscher betrachten alle diese besonderen Formen als elementare Arten, und geben ihnen dementsprechend binäre Namen, indem sie die Linnt’schen Arten auflösen. So sind bekanntlich Draba verna! in etwa 200, Viola tricolor? und viele andere alte „Arten“ in kleinere Gruppen von wohl unter- schiedenen und meist localen elementaren Arten „aufgelöst“ worden. Im Versuch und in der Cultur sind diese Typen constant, sie gehen weder in einander über, noch bringen sie die ideale Mutterform der Art hervor. Ebenso constant sind weitaus die meisten Varietäten. Ob man ihnen binäre oder ternäre Namen geben will, ist zunächst gleichgültig. Man nimmt vor wie nach Darwin an, dass sie gemein- schaftliche Abstammung haben, hat darüber aber nur in äusserst seltenen Fällen historische Nachrichten. Wann und wie Datura Stra- monium inermis, Robinia Pseud- Acacia inermis, Lychnis diurna glaberrima, 1 Vergl. Fig. 3 auf S. 15. ? Vergl. Fig. 4 auf 8. 16. DE VRIES, Mutation. I. 3 34 Mutabelität und Variabilität. ferner die ganze Reihe von unbehaarten, unbewafineten, weissblüthigen, geschlitztblättrigen Formen u. s. w. entstanden sind, weiss man nicht. See Mm. & 9 70 77 72 73 [La 75 1 TEN 2 23 208) 167 706 33 7% 7 Fig. 9. Cuvette mit Bohnen.! Fig. 10. Curve der Bohnen.? Sie sind da und stehen gleichberechtigt mit den besten Arten. Es giebt nur wenige Ausnahmen, z. B.: Chelidonium laciniatum MiıLL. (Fig. 37 in V. 8 25), Fragaria alpina Gaillon (Fig. 7 S. 25) u. s. w., deren Ursprung man kennt. ! Cuvette mit Bohnen, zur Demonstration der Variabilität in deren Länge. Das Glas ist mittelst Glasstreifen in neun gleiche Abtheilungen getheilt. Die Bohnen (rothgefleckte Samen von Phaseolus vulgaris) sind in der Anzahl von 450 einer käuflichen Probe entnommen und einzeln gemessen. Ihre Länge betrug 8—16 mm, und zwar in folgender Vertheilung: Cuvettenabtheilung Nr. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 mm 8 9 Ua ale le 21 Anzahl 1 2 23 . 108771627 1062233 7 1 Die Bohnen wurden derart in die einzelnen Abtheilungen der Cuvette gebracht, dass in jedes Fach nur Bohnen gleicher Länge (in ganzen Millimetern gemessen) kamen, und zwar in der angegebenen Anordnung. Die Bohnen zeigen demzufolge ohne Weiteres die Gruppirung nach dem Quverzrrr'schen Gesetze. Für eine genauere Demonstration wäre allerdings eine Correetion erforderlich, da die grösseren Bohnen ihre Fächer selbstverständlich etwas zu hoch ausfüllen. ? Curve der rothgefleckten Bohnen. Nach der in Fig. 9 dargestellten Be- obachtung ist die Curve in Fig. 10 construirt. Sie entspricht der theoretischen Die verschiedenen Formen der Variabilität. 3 In der gärtnerischen Praxis steht es nicht viel besser. Man kennt zahllose Varietäten, aber nur in seltenen Fällen liegen historische Angaben über deren Entstehen vor. Dieser Abschnitt der Variabilitätslehre ist also ein rein ver- gleichender, ihre Gesetze sind morphologische, nur sehr selten dem historischen oder gar dem experimentellen Studium zugänglich. 2. Die durch Bastardirung erzeugte Polymorphie beruht auf veränderten Combinationen der erblichen Eigenschaften der ge- kreuzten Formen. Es sind dabei im Wesentlichen zwei Gruppen von ' Erscheinungen zu unterscheiden: die wissenschaftlichen Versuche und die gärtnerischen und landwirthschaftlichen Kreuzungen. Der Forscher wählt möglichst wenig „variable“ Arten, der Landwirth und der Gärtner kreuzt vorzugsweise Formen, von denen wenigstens die eine sehr „variabel“ ist. Denn diese Variabilität kann vom Bastarde ererbt werden und erhöht dann die gewünschte Aussicht auf neue Formen. Neue elementare Eigenschaften entstehen in Kreuzungsversuchen nur durch diese Variabilität, nicht durch den Einfluss der Kreuzungen selbst, wie mir z. B. auch der berühmte Caladienzüchter ALFRED BLEU in Bezug auf seine Culturen versicherte. 3. Die Variabilität im engeren Sinne oder die indivi- duelle Variabilität umfasst die Ungleichheiten der Individuen und der Organe, welche von den Gesetzen QUETELET’s beherrscht werden.! Diese Gesetze, welche Darwın nicht kannte, und welche WALLACH nur in unvollständiger Weise behandelte, sind seitdem Gegenstand zahlreicher und sehr sorgfältiger Untersuchungen geworden. Es zeigt sich dabei immer mehr, dass diese Variationen ganz anderer Natur sind, als wie die übrigen unter dem Namen der Variabilität zusammen- gefassten Erscheinungen. Sie haben das Typische, dass sie stets vor- handen sind, in jedem Jahre und in jeder nicht zu kleinen Gruppe von Individuen beobachtet werden. Sie gruppiren sich stets um eine mittlere Grösse und die Abweichungen von diesem Werthe sind um so Form (a + 5)", wie der Augenschein lehrt, hinreichend genau. Die Länge der Ördinaten ist der (corrigirten) Höhe der Bohnengruppen in jedem Fache propor- tional und nahezu gleich. Die Anzahl der in den Fächern der Cuvette be- findlichen Bohnen befindet sich am Fusse der entsprechenden Ordinaten. Aus jedem Fache ist eine Bohne als Muster abgebildet, um den Grad der fluetuiren- den Variabilität in der Länge zu demonstriren. Die Bohnen zeigen sich ausser- dem sehr variabel in der Form und in der Färbung. 1 Vergl. Figg. 9—13, ferner auch die Fig. 22 (Curve von 40000 Rüben) im dritten Kapitel S 11. bei der auch die tbeoretische Curve gezeichnet worden ist. QOx Oo 36 Mutabiltät und Variabiltät. zahlreicher, je kleiner, um so seltener, je grösser sie sind. Sie lassen sich nach Maass und Zahl verfolgen und die Ergebnisse der Be- Fig. 11. Die "Ogive-Form der Curve der individuellen Variabilität, dargestellt an den Blättern von Prunus Lauro-Cerasus.! obachtungen lassen sich in mathematischen Formen und Formeln behandeln. GALTON, WELDON, BATESON, LUDWIG, DUNCKER und viele andere Forscher haben dieses : For- schungsgebiet zu einer besonde- ren Wissenschaft erhoben. Leider aber mangelt es an einer all- gemein anerkannten Bezeichnung. Man hat diese Variabilität fluc- tuirende, graduelle, conti- nuirliche, reversible, be- \ >... grenzte, statistische und in- a ee rtzchalle ann. Leine Fig. 12. Zuckergehalt der Zuckerrüben in Bezeichnung scheint auf zoo- Naarden.? : ; N oe janrar 1896, logischem und anthropologischem — —— Am 25. Januar 1396. Gebiete die am weitesten ver- emp, Januar 1898, breitete zu sein, während der ! Die individuelle Variabilität lässt sich in einfacher Weise demonstriren, wenn man Blätter eines Baumes neben einander aufklebt. Man ordnet sie nach der Grösse, stellt sie parallel in gleichen Entfernungen und auf gradliniger Basis auf und verbindet ihre Gipfel durch eine gebrochene Linie. In der Figur ist diese Linie “der Deutlichkeit halber etwas in die Höhe geschoben. Die Linie (Ogive nach Gatrton, der sie vorzugsweise anwendet) steigt anfangs rasch, im mittleren Theile nur wenig und am Ende wieder rasch aufwärts, dem QUETELET’- schen Gesetze folgend. Die Punkte 9, M, © theilen sie in vier gleiche Theile (9 = Quartil). ? Die drei Curven stellen den Zuckergehalt der Rüben einer Miethe nach drei successiven Probeentnahmen am 24., 25. und 28. Januar 1896 und bei genau Die verschiedenen Formen der Variabilität. au Name fluctuirend oder fliessend, welcher schon von DArwın mehrfach gebraucht wurde, wohl der beste sein dürfte.! Auf botanischem Ge- biete unterscheidet man dagegen zwischen individueller und par- tieller Variabilität, mit ersterer die Unterschiede zwischen den ein- zelnen Individuen, mit letzterer die ebenso häufigen Unterschiede zwischen den Organen eines Individuums andeutend. Mehrfach hat sich das Bedürfniss herausgestellt, Unterschied zwi- schen räumlicher und zeitlicher Variabilität zu machen,? d.h. zwischen der Verschiedenheit in einer Gruppe gleichzeitig vorliegender Exemplare, und den Differenzen, welche zwischen Eltern und ihren Kindern und weiteren Nachkommen obwalten. PLoErtz hat vorgeschlagen, die gleich- zeitigen Individuen Convarianten, die auf einander folgenden aber Devarianten zu nennen,? wie denn überhaupt die stark vom Mittel abweichenden Exemplare Varianten genannt werden. Die individuelle Variabilität findet nach Maass und Gewicht oder nach Zahlen statt; die Blüthenzählungen Lupwıe’s folgen den QUETELET’schen Gesetzen ebenso genau, wie die anthropologischen Messungen des grossen Meisters selbst. Die Variationen nach Maass und Gewicht pflegt man quantitative zu nennen, für die nach Zahlen schlägt Barteson den Namen discontinuirliche oder meri- stische vor.* Darwın hat wiederholt betont, dass diese Form der Variabilität perpetually occurs. Man könnte sie somit auch perpetuirliche oder derselben Bestimmungsmethode dar. Die einzelnen Proben umfassen 6848, 6781 und 6191, zusammen also nahezu 20000 Polarisationen je einer Rübe. Der Zuckergehalt wechselte von etwa 12°/, bis 19°/,. Die Zahlen verdanke ich dem freundlichen Entgegenkommen der Herren Kuns & Co., den Besitzern der Naardener Fabrik. — Trotz der ganz bedeutenden Anzahl der benutzten Zahlenwerthe decken sich die Curven nicht völlig. Die dritte Curve, um drei Tage später genommen, zeigt ihren Gipfel etwas nach rechts verschoben. Die Differenzen der beiden anderen sind offenbar unvermeidlichen Zufälligkeiten zuzuschreiben. — Bei Ver- gleichungen von empirischen Curven mit theoretischen darf man offenbar nie eine grössere Uebereinstimmung erwarten, als zwischen den Curven aus zwei gleichen Probeentnahmen. Für theoretische Betrachtungen sollte also womöglich nicht eine, sondern sollten zwei oder mehrere Curven derselben Erscheinung ver- glichen werden. ! Vergl. Korımann im Correspondenz-Blatt d. d. Gesellsch. f. Anthropologie. Bd731. Nr. Jan. 1900. ®2 W. Waacen, Die Formen des Ammonites subradialus in BENEckE’s @eo- gnostisch-Paläontologischen Beiträgen. 1876. Bd. Il. 8. 186. ® ALrrep Proetz, Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen. Par1895. 8.81 * Materials for the Study of Variation. 38 Mutabilität und Variabilität. unausgesetzte nennen, und scheint mir dieser Gedanke am besten durch das Wort continuirlich ausgedrückt zu werden.! Die individuelle Variabilität ist, bei Aussaat, in sich zurück- kehrend, die Formen ihrer Varianten sind zusammenhängende, cohärente, nichtintermittirende. Sie ist centrisch, da ihre Formen stets um einen Mittelpunkt von grösster Dichte gruppirt sind. Endlich ist sie, was wohl am wichtigsten, linear, da die Ab- weichungen stets nur in zwei Richtungen, nach mehr oder nach weniger stattfinden. Letz- teres hat zu den Bezeichnungen Plus-Variationen undMinus- Variationen Veranlassung ge- geben. Auf dem Gebiete der in- dividuellen Variabilität führt V die Selection zu der Entstehung Fig. 13. Darstellung der Variabilität n der Rassen. Dabei ist aber, Fächerform.? wie wir bereits gesehen haben,? dieses letztere Wort in einem anderen Sinne gebräuchlich, als ın der Anthropologie. Die principielle Differenz dieser sogenannten ! In diesem Sinne habe ich die Bezeichnungen eontinuirlich und dis- eontinuirlich in meinem Aufsatze „Ueber halbe Garrton-Curven als Zeichen discontinuirlicher Variation“ angewandt (Berichte d. d. bot. Ges. 1894. Bd. XII. Heft 7). Bareson benutzt das Wort in etwas anderem Sinne, da er nur die quantitativen Variationen eontinuirlich, die meristischen aber discontinuir- lich nennt (Materials for the Study of Variation. 1894). ® Die Variabilität kann statt in Quererer'scher Curve (Fig. 10) oder GALToN’- scher Ogive (Fig. 11) auch in anderen Formen dargestellt werden. Handelt es sich darum, die auf einander folgenden Generationen mit einander zu verbinden, so em- pfiehlt sich die Fächerform, Fig. 13. Der Punkt, von dem die Strahlen ausgehen, entspricht dem Merkmal der Mutterpflanze. — Auf der oberen horizontalen Linie entspricht die Breite des Grundes jedes Dreieckes der Länge der Ordinaten in der gewöhnlichen Curve, wie sie darüber gezeichnet wurde. Diese Breite giebt also auf den ersten Blick die Häufigkeit der einzelnen Werthe an. Für die Figur sind Messungen der Länge der erwachsenen Früchte von Oenothera Lamarckiana aus dem Jahre 1891 benutzt (99 Früchte nach ganzen Millimetern gemessen). Die Längen waren in folgender Weise über die einzelnen Früchte vertheilt: mm: »217 22 23 24,25 26 2728529 307317 3277332332 Anzahl: 1 1 een dB, Die gebrochene Linie stellt das QuErELET'sche Gesetz (a + b)" vor. Siehe S. 29. 2/Mm22 21Mm 22 Die verschiedenen Formen der Variabihtät. 39 veredelten Rasse einerseits mit Varietäten, Unterarten, elementaren Arten, incipient species u. Ss. w. andererseits, soll den Gegenstand unseres dritten Kapitels bilden. 4. Die spontanen Abänderungen. Von jeher kannte man in der gärtnerischen Praxis die Erscheinung, dass Varietäten von Zeit zu Zeit unerwartet und unvermittelt auftreten. DArwın nennt solche plötzliche Uebergänge single variations, was durch spontane Abänderungen übersetzt worden ist. Die schönsten Beispiele sind die sogenannten Knospenvariationen. Die neue Form entsteht als Knospe oder Zweig an einem Individuum der alten Form und bleibt oft lange Zeit mit diesem verbunden. Die gegenseitige genetische Beziehung ist dann keinem Zweifel unter- worfen, und die Thatsache, dass der Uebergang ein unvermittelter ist, ist augenfällig. Aber auch auf diesem Gebiete herrscht viel Unsicher- heit, indem Knospenvariationen gar häufig von Bastarden hervorgebracht werden, und die Bastardnatur eines Individuums sich nicht immer ohne Weiteres verräth. Auch kommen Knospenvariationen vielfach an Varietäten mit unvollständig fixirten (gemischten) Eigenschaften vor, wie bei manchen Formen mit gestreiften Blumen (Antirrhinum, Delphinium, Aqwilegia, Dahlia (Fig. 14) u. s. w. 5. Ueber die Grösse der Mutationen. Häufig findet man die spontanen Abänderungen als Sprungvariationen oder als sprung- weise Variationen beschrieben. Diese Bezeichnung ist keine glückliche. Natura non facit saltus sagte bereits Lınwn&t. Was man anfangs für Sprünge ansieht, stellt sich bei eingehendem Studium als solche nicht heraus. Viel zweckmässiger ist es noch, die einzelnen Uebergänge als Stösse zu bezeichnen, und von stossweiser Variabilität zu spre- chen.! Die Stösse können ja ganz kleine Veränderungen herbei- führen, aber jeder Stoss bleibt eine Einheit. Gauton hat den Unterschied zwischen der stossweisen und der gewöhnlichen Variabilität durch ein sehr hübsches Bild zu veran- schaulichen gesucht. Man denke sich ein Polyeder, das auf ebener Fläche rollen kann.” Jedesmal, wenn es auf einer anderen Seite zu ruhen kommt, nimmt es eine neue Gleichgewichtslage ein. Kleine Erschütterungen können es zum Schwanken bringen, es oscillirt dann um die betreffende Gleichgewichtslage und kehrt in diese zurück. Ein etwas grösserer Stoss kann es aber so weit drehen, dass es auf eine neue Seite zu liegen kommt. Die Schwankungen um eine Gleich- 1 „Variation par secousses“ einiger französischer Forscher. ® F. Garton, Hereditary Genius. 1869. p. 369. 40 Mutabihtät und Variabilität. gewichtslage sind die Variationen, die Uebergänge aus der einen Gleichgewichtslage in die andere entsprechen den Mutationen. Den vom Polyeder beim Rollen zurückgelesten Weg kann man als den Stammbaum einer Art betrachten; jede Strecke dieses Weges, welche Fig. 14. Gestreifte Georginen (Dahlia variabilis striata nana), aus Samen erzogen. Die Hauptfigur mit gelbrothen Streifen auf blassröthlichem Grunde; in dem linken Blüthenköpfchen war die eine (dunkler schattirte) Hälfte völlig egal roth, die andere röthlichgelb und schwach roth gestreift. Die beiden Nebenfiguren von anderen Farbenvarietäten, rechts mit rothen Streifen auf weisslichem Grunde, links mit dunkel- violetten Streifen auf blassviolettem Grunde. Die erstere Pflanze brachte (1898) auch rein rothblühende Zweige hervor (Knospenvariation). einer Seite entspricht, bedeutet dann eine besondere elementare Art, jede Ueberschreitung eines Winkels also eine Mutation. Je zahlreicher man sich die Seiten eines solchen Polyeders denkt, desto kleiner sind natürlich die Mutationen. Aber über einen etwaigen Zusammenhang der Ursachen, welche die Schwankungen und die Um- lagerungen hervorrufen, darf man meiner Ansicht nach aus diesem Bilde nichts folgern. Die Elemente der Art. 41 gebürgert, dass die Mutationen jedesmal bedeutende Veränderungen sein müssen, namentlich, dass sie grösser sein sollten, als die Varia- tionen. Solches ist aber durchaus nicht der Fall, und anscheinend sind wenigstens zahlreiche Mutationen kleiner als die Unterschiede zwischen extremen Varianten. Dieses leuchtet sofort ein, wenn man z.B. Draba verna oder Typha angustifolia und latifolia betrachtet. Die einzelnen, von JORDAN, DE BARY, Rosen und anderen Forschern unter- schiedenen Arten von Draba verna, welche sich bei wiederholter Aus- saat als constant zeigten, weichen weniger von einander ab, als dieses Variationen in denselben Merkmalen (Form und Grösse der Blätter, der Blumenblätter, der Schoten u. s. w.) bei anderen Pflanzen gewöhn- lich thun, was am besten sichtbar ist, wenn man sie z. B. mit den partiellen Variationen der Blätter unserer Bäume, d.h. also mit den Differenzen der verschiedenen Blätter eines und desselben Baumes vergleicht. Und für Typha latifolia und angustifolia haben DAVENPoRT und BLANKINSHIP noch neuerlich in einer sehr wichtigen Arbeit ge- zeigt, dass die Ourven ihrer verschiedenen Merkmale über einander greifen. Ein schmales Blatt von latifoia kann schmäler sein als die breitesten Blätter von angustifolia u. s. w. Die Curven überschreiten die Grenzen zwischen den beiden Arten, sie sind transgressiv, die Arten bilden intergrading groups. ! Ueberhaupt bilden die Unterschiede zwischen den einzelnen Arten von Draba verna (Fig. 3) eines der besten Beispiele, um sich die Natur und die Grösse der Mutationen im Allgemeinen klar zu machen. $ 5. Die Elemente der Art. Seitdem Darwın’s Descendenzlehre allgemein als richtig anerkannt wird, liegt die Forderung nahe, die Entstehung von Arten zum Gegen- stand experimenteller Studien zu machen. Von den wenigen Gegnern der Lehre wird diese Forderung stets in den Vordergrund gestellt. Solange man die Entstehung nicht willkürlich hervorrufen oder doch wenigstens direct beobachten könne, behaupten sie, die Grundsätze der ganzen Theorie als eine unbewiesene Hypothese bezeichnen zu dürfen. Bei der Discussion dieses Einwurfes werden ganz gewöhnlich zwei durchaus verschiedene Sachen verwechselt. Die Entstehung der 1 C. B. Davenport und J. W. Brankınsuip, A Precise Oriterion of species. Seience. N. S. Vol. II. Nr. 177. p. 685. 1898. 42 Mutabelkität und Variabilität. Arten ist nicht dasselbe wie die Entstehung der Artmerkmale. Erstere ist ein historischer Vorgang, letztere ein physiologischer. Wie, wann und wo die jetzt lebenden Arten entstanden sind, ist nur auf geschicht- lichem Wege nachzuforschen, und nur in den ganz seltenen Fällen, wo von Zeitgenossen und Augenzeugen darüber Notizen gemacht worden sind, können wir darüber factisch etwas wissen. Die Frage, wie man sich die Bildung einer gegebenen Art zurecht legen kann, ist allerdings eine sehr anziehende; ihre Beantwortung aber gehört der vergleichenden Biologie an. Die Entstehung der Artmerkmale ist eine Aufgabe physiologischer Forschung von der allerhöchsten Bedeutung. Was Artmerkmale sind, wissen wir kaum. Wir wissen allerdings, dass die elementaren Arten, auch die am nächsten verwandten, sich nicht in einem einzigen Merk- mal von einander unterscheiden, sondern fast in allen ihren Organen und Eigenschaften.! Die Differenz zweier nächst verwandter Formen erfordert oft eine sehr lange und ausgedehnte Diagnose. Dennoch hat man diese ganze Diagnose als den Ausdruck eines einzigen Merkmales zu betrachten, als eine Einheit, welche als solche entstanden ist, als solche verloren werden kann, deren einzelne Factoren aber nicht von einander getrennt in die Erscheinung treten können. Theoretisch haben wir uns eine solche Gruppe von Eigenschaften gleichfalls als eine Einheit, als ein einziges Merkmal zu denken.? Sie bildet eine ein- zige Seite des Gauron’schen Polyeders (S. 39). Darwın nannte solche Charaktere: die Elemente der Art, und daher rührt für die durch je ein solches Element unterschiedenen Formen, der Name elemen- tare Arten. Wie nun diese Elemente der Art entstehen, soll offenbar früher oder später Aufgabe experimenteller Forschung werden. Gelingt es einmal, diese Aufgabe zu lösen, so haben wir nicht nur eine viel sicherere Stütze für die Descendenzlehre, sondern es eröffnet sich auch die Hoffnung, die fragliche Entdeckung zum Nutzen der Menschen anzuwenden. Neue Formen kann der Züchter nur durch Bastardirung hervorrufen, durch Selection kann er vorhandene Eigenschaften in ihren Leistungen und in ihrem Ertrage möglichst steigern, neue Eigen- schaften kann er bis jezt nicht entstehen lassen. ‚Jedermann kennt den Satz, dass es nicht gelinge, blaue Dahlien, hochgelbe Hyacinthen u. s. w. darzustellen. Um unsere grossblüthigen Canna weissblüthig ! Diese Thatsache bildet eine bis jetzt wenig berücksichtigte Stütze für die Lehre von den erbgleichen Zelltheilungen, wie sie von Herrwıc und Anderen, sowie auch in meiner /ntracellularen Pangenesis aufgestellt wurde (vergl.z.B. S.115). ® Intracellulare Pangenesis. S. 16. Die Elemente der Art. 45 zu machen, muss man die Entdeckung einer neuen, wilden, weiss- blüthigen Art abwarten, um diese mit den vorhandenen Formen zu kreuzen (Crozy), wie ja die Gladiolen winterhart und die Begonien grossblumig gemacht worden sind durch Uebertragung der fraglichen Eigenschaften aus anderen neu entdeckten Arten. Sobald es aber eine experimentelle Physiologie der Entstehung der Arten geben wird, wird man voraussichtlich manches, was jetzt unmöglich scheint, nach festen Regeln willkürlich und künstlich hervorbringen können. Doch kehren wir zu den Thatsachen zurück. Wenn wir auch hoffen dürfen, dass die Bildung neuer elementarer Arten einmal Gegenstand directer Forschung werden wird, so verhält es sich doch ganz anders in Bezug auf die Entstehung der Liwwi’schen Arten. Die Linxt'schen Arten sind bekanntlich Gruppen von elementaren Arten. Was zu einer elementaren Art gehört, lässt sich in jedem gegebenen Falle durch Culturversuche entscheiden; wie viele solcher Formen zu einer Linn&’schen Art verbunden werden sollen, ist Sache des sogenannten systematischen Tactes, genau so wie die Bestimmung des Umfanges der Gattungen und Familien. Nehmen wir das Bild des rollenden Polyeders und betrachten wir den zurückgelesten Weg. Jede Strecke, weiche von einer Seite gebildet wurde, stelle eine elementare Art vor, und von allen solchen Arten eines bestimmten Wesstückes denke man sich, dass noch Nach- kommen am Leben seien. Es fragt sich nun, wo in einer solchen Gruppe die Grenzen der „Arten“ zu wählen seien. Statt einer ausführlichen Discussion gebe ich hier die Antwort, welche einer der berühmtesten älteren Systematiker, Hookkr, in ganz bestimmten Fällen gegeben hat. Erstens in Bezug auf Oxalis corniculata. Die Formen dieser collectiven Art, welche in Neu-Seeland wachsen, sind von ÜUNNINGHAM als sieben wohl unterschiedene Arten aufgeführt; sie wachsen nicht zusammen und weisen keine Zwischenformen auf. Würde man allein diese kennen, so würde auch HoorEr sie als sieben gute Arten an- erkennen, sagt er. Aber in anderen Ländern findet man die frag- lichen Zwischenformen, welche diese sieben Typen genau mit einander verbinden und sogar eine noch grössere Gruppe umfassen. Und aus diesem Grunde vereinigt KookER sie alle in eine einzige Art.! Zweitens Lomaria procera, ein Farn aus Neu-Seeland, Australien. Südafrika und Südamerika. Würde man nur die Formen aus einem einzigen Vaterlande kennen, so würde eine Gruppe von Arten zu " J. D. Hoorer, Introduetory essay to the flora of New Zenland. 1853. p. 18. 44 Mwutabilität und Variabilität. unterscheiden sein. Alle zusammen bilden sie aber eine geschlossene Reihe, und sie werden deshalb zu einer grossen Art vereinigt. Diese aber umfasst jetzt anerkanntermaassen einen weit grösseren Formen- kreis, als alle übrigen Arten der Gattung Zomaria zusammen. Die Grenzen der collectiven Arten entstehen somit durch die Lücken im Stammbaum der elementaren Arten. Diese Lücken sind scheinbare, solange man seine Aufmerksamkeit auf ein einzelnes Gebiet richtet; wirkliche, wenn sie auch bei der Be- trachtung sämmtlicher Floren bestehen bleiben. Würde aber die Oxalis corniculata oder die Lo- maria procera in einem Lande durch irgend welche Ursachen aus- serodet werden, So würde offenbar die ; jetzige Art in mehrere : kleinere zu spalten sein. Oder mit anderen ‘) Worten: die Linnt- ” schen Arten entstehen s durch den Untergang 'S/ , einzelner elementarer N Arten aus der bis da- » 2 hin wununterbrochenen Reihe. Dieses Ent- 104 stehen ist also ein rein historischer Vorgang Fig. 15. Zea Mays tunicata (oder eryptosperma). Drei und kann nie Gegen- Kolben einer Aussaat aus Samen desselben Mutter- stand experimenteller kolbens. Die einzelnen Samen sind von den Bälgen F „ lan. umschlossen; im Kolben 4 aber im mittleren Theile OESCHUNSERY ıh i nur unvollständig und im oberen sind sie fast nackt. Daher haben die C ist die mittlere Form; B hat, namentlich im unteren „Arten“ für die Phy- Theile, sehr grosse Spelzen. X N or a eg ee De re GR siologie nur geringe Be- deutung, während das Studium der Merkmale voraussichtlich- ein- mal sich als die höchste Aufgabe experimenteller Forschung auf biologischem Gebiete herausbilden wird. ! Der berühmte Ausspruch Sprxcer’s: the survival of the fittest ist demnach unvollständig und sollte heissen: the survival of the fitlest species. Die Elemente der Art. 45 Das continuirliche Variiren der elementaren Artmerk- male. Der Unterschied zwischen Variiren und Mutiren zeigt sich in dieser Beziehung vielleicht noch am klarsten. Durch Mutiren ent- stehen neue Merkmale auf einmal. Solche Merkmale sind aber genau in derselben Weise varıabel, wie die von altersher bekannten Art- merkmale.! Es giebt von dieser Regel so zahllose Beispiele, dass es schwer hält, daraus eine Wahl zu treffen.” Zea Mays tunicata oder cryptosperma hat ihre Körner von den Bälgen umschlossen, variirt aber in der Länge dieser Bälge in hohem Grade; mitunter bedecken sie die Samen kaum, in anderen Kolben erreichen sie die 3—4 fache Länge oder noch mehr. Gar häufig sind sie im unteren Theile eines und desselben Kolbens viel länger alsim oberen und nimmt ihre Länge somit nach oben allmählich ab (Fig. 15). Bunte Blätter, gefüllte Blumen, As- cidien (Fig. 16), gespaltene Blätter u. s. w. zeigen bekannt- lich eine grosse Mannigfaltig- keit, und es würde nicht schwer sein, die Gültigkeit des QUETE- LET’schen Gesetzes für diese Fälle nachzuweisen. Denn für jeden giebt es einen mitt- leren, häufigsten Werth, um den sich die übrigen Werthe nach dem Wahrscheinlich- keitsgesetze gruppiren. In ähn- Sg Fig. 16. Blätter von Sazxifraga erassifolia in verschiedenen Graden der Becherbildung, in der Reihenfolge 1—5. Die Blätter denkt man sich oberseits zusammen gebogen und mit den Rändern von unten herauf verwachsen. Der Grad dieser Verwachsung zeigt sich sehr wechselnd. licher Weise variirt die Zer- schlitzung der Blätter von Chelidonium laciniatum, und sogar unbehaarte und unbewaffnete Varietäten sind öfters nicht vollständig so, sondern mehr oder weniger variabel (Biscutella laewigata glabra in der Jugend, Aesculus Hippocastanum inermis u. Ss. w.). Der fünfblättrige Klee (Tr- folium pratense quinquefolium) varıirt mit 3—7 Blattscheiben, dabei dem QUETELET’schen Gesetze nachgewiesenermaassen folgend.? Papaver somniferum polycephalum (Fig. 27 und 28, Kapitel IV $ 16) und Papaver bracteatum monopetalum (Fig.1 S.11) sind in ihrem speciellen Charakter ! Vergl. auch Intracellulare Pangenesis. p. 69—70. ? Ueber Beispiele aus dem Thierreiche siehe Barteson, Materials. p. 68. ® Over het omkeeren van halve Galton-Curven, Botanisch Jaarboek d. Gesellsch. Dodonaeo. X. Jahrg. 1898. p. 46. 46 Mutabihtät und Variabilität. im höchsten Grade variabel. Ebenso verhält es sich mit Syneotylen und Tricotylen u.s. w. Höchste Variabilität und völlige Immutabilität finden sich gar häufig vereint vor." Das Variiren ist somit ein Vor- gang ganz anderer Ordnung als das Mutiren. $ 6. Die Mutationshypothese. Obgleich es meine Absicht ist, am Schlusse dieses Werkes die Meinungen meiner Zeitgenossen über Selection und Mutation aus- führlich zu besprechen,” so möchte ich an dieser Stelle doch kurz hervorheben, dass gegen die Selectionslehre fast unaufhörlich und von den verschiedensten Seiten Einwände gemacht worden sind.° Mehr oder weniger bestimmt sprechen sich die betreffenden Autoren im Sinne der Mutationshypothese aus. E. D. Core hat wohl zuerst die Einwände gegen die Selections- lehre scharf formulirt. Die Selection erhält das Gute und rodet das Schlechte aus, wie aber entsteht das Gute? Offenbar reicht die ge- wöhnliche Variabilität dazu nicht aus, sondern es sind ganz besondere Ursachen anzunehmen, welche er als „Bathmism“ zusammenfasst. KARL SEMPER verwirft gleichfalls die Selectionshypothese, und schreibt dem directen Einflusse der Umgebung, dem sogenannten monde ambiant der französischen Schule, eine grosse Bedeutung für die Entstehung nützlicher Artcharaktere zu. Louis Dorno ist wohl der erste, welcher, auf dem Boden der Descendenzlehre stehend, den Satz ausgesprochen hat: LD’&volution est discontinue. Er stützt sich dabei auf eine lange Reihe von That- sachen, theils zoologischen, theils botanischen Inhalts, namentlich aber auf seine eigenen Untersuchungen auf paläontologischem (Gebiete. Er leitet ferner daraus ab: D’&volution est ürreversible et limitee.* Nach Warrack’s Selectionslehre ist der Fortschritt durch Zucht- wahl und natürliche Auslese offenbar unbeschränkt und ohne die Aufstellung weiterer Hülfshypothesen gleichfalls umkehrbar; er muss umkehren, sobald die Umstände umkehren, welche die Auslese be- dingen. Nach der Mutationslehre ist bis jetzt keine Ursache zu finden, 1 Alimentation et Selection, in Volume Jubilaire de la Societe de Biologie ‚de Paris. Dec. 1899. ? Für kritische Auseinandersetzungen ist namentlich auf O. Hrrrwıs’s Zeit- und Streitfragen der Biologie zu verweisen. ®? Vergl. auch Barzson, Materrals. p. 567. * Lovıs Dorzo, Les lois de l’Evolution. Bull. Soc. Belge de Geologie. T. VII. p. 164. Annee 1893. Die Mutationshypothese. AT welche eine Mutation reversibel machen würde, abgesehen von den sogenannten Verlustvariationen oder dem Latentwerden von Charakteren. Und jede Mutation bildet an und für sich eine begrenzte Einheit. Etwa ein Jahr später erschien BAarzson’s berühmtes Werk: Ma- terials for the study of variation, treated with especial regard to discontinmty in the origin of species. Der specielle Theil dieses Buches giebt eine ausführliche Zusammenstellung der Zahlvariationen oder sogenannten meristischen Variationen im Thierreich. Die Zahl der Wirbel, der Finger, der Tarsenglieder, der Strahlen u. s. w. ist überall Variationen und Mutationen ausgesetzt, welche hier als discontinuirliche Variationen zusammengefasst werden. ! Der allgemeine Theil liefert eine eingehende Kritik der jetzigen Descendenzlehre. Die Aufgabe der Descendenzlehre ist nicht nur, die verwandtschaftlichen Beziehungen der Organismen zu erklären. Dass sie dieses leistet, ist über allen Zweifel erhoben. Sıe hat aber auch die Differenzen zwischen den einzelnen Formen zu erklären. Und in dieser Beziehung hebt BArTEson mit grossem Recht hervor, dass die jetzt lebenden Arten scharf und völlig von einander getrennt sind, dass Uebergänge zwischen ihnen nicht oder doch nur sehr selten vorkommen. Die jetzt lebenden Arten bilden eine discontinuirliche Reihe; die Descendenzlehre hat also, neben der Verwandtschaft, vor Allem diese Discontinuität zu erklären.? Letztere bildet aber eine sehr grosse Schwierigkeit für die jetzt gültige Selectionstheorie. Denn nach dieser soll die Ahnenreihe eines jeden Organismus bis in die unteren Theile des Stammbaumes derart continuirlich gewesen sein, dass überall zwischen Eltern und Kindern nur sogenannte individuelle, der statistischen Variabilität angehörige Unterschiede bestanden. Woher aber rühren dann, frägt der Verfasser, die Lücken, welche jetzt die Arten so constant von ihren nächsten Verwandten trennen? Man antwortet häufig mit dem Hinweise auf die Existenz zahl- reicher Zwischenformen. Aber diese sind keine Uebergänge, sondern selbstständige Typen, elementare Arten oder Unterarten. BATESON weist ausdrücklich darauf hin, dass das Gesetz der elementaren Arten auch für das Thierreich gelte, dass man aber diese Formen bis jetzt noch viel zu wenig beachtet habe. Diese elementaren Arten aber sind es, welche scharf und völlig von einander geschieden sind, welche ! Vergl. namentlich p. 568 und 571. Ferner p. 15, 61 u.s.w. — Duncker's Einwand (Biol. Centralbl. 1899. S. 373) trifft also Bareson’s Anwendung der Bezeichnung descontinwirlich nicht. pa, KiuN sw. 48 Mutabilttät und Variabilität. weder im wilden Zustand, noch auch in der Öultur (falls keine Kreu- zung stattfindet) in einander übergehen. Diese scharfe Umgrenzung der elementaren Arten ist eine so allgemeine Erscheinung, dass sie wenigstens bestimmt auf eine dis- continuirliche Entstehung hinweist. Und Zweck des ganzen Buches ist es, das Material zu sammeln und zu ordnen, welches in eine solche Discontinuität einen Einblick zu eröffnen verspricht.! Einen sehr wichtigen Einwand gegen die Selectionstheorie erhebt Barteson in Bezug auf die Nützlichkeit der Artcharaktere.? Es ist von DAarwın und Anderen wiederholt betont, dass die Merkmale, welche verwandte Arten von einander trennen, nicht in der Regel bedeutende, entscheidende Vortheile im Kampf um’s Dasein sind, dagegen gar häufig sich als nutzlos und unbedeutend erweisen. Den- noch sind diese Unterschiede oft anscheinend sehr zusammengesetzte und constante Eigenschaften, aber „von problematischem Nutzen“. Die Warvack’sche Selectionslehre, welche die nützlichen Eigenschaften in so schöner und einfacher Weise erklärt, lässt uns hier im Stich. Dagegen trägt die Mutationstheorie der fraglichen Thatsache äusserst leicht Rechnung, denn nutzlose, aber unschädliche Mutationen müssen ja viel öfter stattfinden als nützliche, und haben neben diesen fast ebenso viele Aussicht, erhalten zu bleiben. Zusammenfassend sagt BAtEson am Schlusse seines Werkes: The evidence of variation suggests in brief, that the Discontinuity of Species results from the Discontinuity of Variation.? W. B. Scort hat sich in einer ausführlichen Kritik gegen manche Sätze des Barzson’schen Buches erhoben.* Er tadelt nament- lich den Ausspruch, dass die Arten discontinuirliche Reihen bilden. Er betont die schönen Entdeckungen der Paläontologen, welche die Stammbäume des Pferdes sowie vieler anderer Säugethiere, der Am- moniten und anderer Formen lückenlos oder fast lückenlos an’s Licht gebracht haben. Wo man den Stammbaum genau kennt, weist dieser keine Lücken auf; nur dort, wo unsere Kenntniss aus anderen Grün- den offenbar mangelhaft ist, scheint die Abstammungsreihe noch Lücken zu besitzen. Solche Reihen pflest man in der Paläontologie continuirliche zu nennen. In diesen Reihen geschah der Fortschritt ‘ Species are discontinuous; may not the Variation by which Species are produced, be discontinuous too? p. 18. Ebenso p. 69 und 568. pl ul Ze-7#p.7908. * W. B. Scott, On variations and mutations. Am. Journ. Sei. 8. Serie. Vol. 48. Nov. 1894. p. 355—374. Die Mutationshypothese. 49 by almost imperceptible gradations.! zu sein, was BATESoN steps, Schritte, nennt. Es sei gestattet, noch- mals an das oben angeführte Bild GALrow’s vom rollenden Polyeder zu erinnern; ob man diese Bewegung continuirlich oder discontinuir- lich nennen will, hängt offenbar ab von dem Standpunkte, den man einnimmt. Eine Reihe von Zahlen kann ja auch ununterbrochen sein. Mehr als in anderen Wissenschaften ist in der Paläontologie das Wort Mutation gebräuchlich, um die Unterschiede zwischen verwandten Arten anzudeuten. Die Mutation selbst, die Umwandlung der einen Art in die andere, ist selbstverständlich nicht Gegenstand paläonto- logischer Forschung; nur die Reihe der auf einander folgenden Formen kann man studiren. Aus diesen Reihen lässt sich dann aber über die Grösse der einzelnen Schritte, der Mutationen, manches ableiten. Namentlich stellen sie sich als ganz klein heraus, sie sind um so minu- tiöser, je inniger verbunden die Schichten erscheinen, denen die Stücke entstammen, sagte bereits Waagen.” Ob die Mutationen aber zahl- reicher oder vielleicht viel zahlreicher gewesen sind, als die Arten, deren Ueberreste man findet, kann man offenbar nicht wissen; zahl- lose Arten können entstanden sein, ohne je eine Spur zu hinterlassen, und ob darüber der Kampf um’s Dasein, die natürliche Auslese, oder ein Fortschritt nach bestimmter Richtung entschieden hat, ist gleich- falls nicht mehr zu ermitteln. Die phylogenetischen Veränderungen gehen geradlinig auf das endliche Ziel los, sehr wenig seitlich ab- weichend, fast nie in Ziekzacklinien fortschreitend.” Ob man dabei aber die natürliche Auslese als das Bestimmende annimmt, oder die Variation selbst in bestimmter Richtung stattfinden lässt, ist offenbar Sache persönlicher Auffassung. Die Constanz der durch Mutation entstandenen Formen wird gegenüber der nie fehlenden Variabilität auch durch die paläonto- logischen Studien bewiesen. Sowohl WAAGEN, als Scott und Andere stellen sich aus diesem Grunde der Selectionslehre WALtAcE’s ent- gegen. Sie betonen ausdrücklich, dass für die Abstammungslehre „auf die Mutationen ein weit grösseres Gewicht zu legen sei‘.* Jede „Mutation“ (elementare Art) entwickelt dabei stets denselben Varie- tätenkreis. Scott leitet ferner aus den paläontologischen Thatsachen eine Reihe von Folgerungen in Bezug auf den Vorgang der Mutation ab. 1 p- 360. 2 Waacen, Benecke’s Geogr. Pualäontol. Beiträge. II. S. 170. 2Scorz, ]. e. p. 370. 4], e. p. 372, 373. DE VRIES, Mutation. I. 4 50 Mutabihtät und Variabilität. Mehrere unter diesen finde ich durch ein kritisches Studium der Variabilitätslehre im weiteren Sinne, oder in meinen eigenen Experi- menten bestätigt. Ich werde darauf somit am Schlusse dieses Ab- schnittes und in dem ersten Kapitel des zweiten Abschnittes zurück zu kommen haben. Im vorigen Jahre hat auch KorscHissky sich ganz bestimmt gegen die jetzt gültige Selectionslehre ausgesprochen. Er nennt die Mutationen oder spontanen Variationen Heterogenesis, im Anschluss an die heterogene Zeugung KÖLLIKER’Ss. und an den Heterogenismus HARTMAnN’s.! Er stützt sich namentlich auf die Erfahrungen der gärtnerischen Praxis, und giebt eine inhaltreiche und sehr wichtige Uebersicht über eine Reihe von Fällen, in denen das erste Auftreten bestimmter Varietäten mehr oder weniger genau historisch bekannt ist, oder in denen das vereinzelte und nicht durch Zwischenformen vermittelte Vorkommen von neuen Formen auf ein plötzliches Ent- stehen schliessen lässt. Solche heterogene Veränderungen (Mutationen der älteren For- scher) können fortschreitende oder rückschreitende sein, d. h. die Organe können complicirter oder einfacher werden; beiderlei Ab- weichungen sollen gleich oft entstehen, doch können selbstverständlich die rückschreitenden oft einen viel bedeutenderen Grad erreichen als die fortschreitenden. Hervorgerufen werden die Mutationen, wie auch DarwIn annimmt, durch die Häufung der Wirkung günstiger Ent- wickelungsbedingungen und guter Nahrung im Verlaufe mehrerer Generationen. Neu gebildete Formen unterscheiden sich bisweilen so stark vom ursprünglichen Typus, dass sie jeder Systematiker für be- sondere Arten halten würde, wenn nicht ihre Entstehung bekannt wäre. KoRrscHInsky schliesst aus seiner Zusammenstellung der ein- schlägigen Thatsachen, dass bei Gartenpflanzen alle neuen Formen, oder richtiger, alle neuen Merkmale durch Heterogenese hervorgebracht werden. Gewinnung neuer Varietäten durch Zuchtwahl von indivi- duellen Variationen, oder durch Cumulation solcher, finde in der Gärtnerei nicht statt. Die Selection ist ein conservatives Element. Sie fixirt die schon früher entstandenen abweichenden Merkmale und verhindert fernere Veränderungen, doch ist sie nicht im Stande, neue Formen hervorzubringen. Die Grundprincipien der Selections- und der Mutationstheorie werden dann einander gegenüber gestellt und eingehend verglichen. 1 S. KorscHinsky, Heterogenesis und Evolution, Naturwiss. Wochenschrift. 1899. Bd. XIV. Nr. 24. Eine ausführlichere Abhandlung soll später in den Abhandlungen der Petersburger Akademie der Wissenschaften erscheinen. Die Mutationshypothese. 31 Dabei stellt sich heraus, dass das Problem von der Entstehung der Arten nach der Theorie der Selection individueller Variationen überall auf erhebliche Schwierigkeiten stösst, während die Annahme von Mu- tationen (heterogenetischen Variationen) in zahlreichen Fällen entweder eine befriedigende Erklärung giebt, oder doch in einfacher Weise sich mit den Thatsachen in Verbindung bringen lässt. Namentlich ist es der Mangel an Zwischenformen und die vielfach betonte Existenz von wenigstens anscheinend nutzlosen Eigenschaften, welche für die Mutationslehre sprechen. Nach Darwin ist die Aussicht auf eine fortschreitende Entwicke- lung der Pflanzen und Thiere um so grösser, je energischer der Kampf um’s Dasein ist. KoRsScHINsKY stellt dem gegenüber den Satz auf, dass nur fortdauernd sehr günstige Umstände zu Mutationen Veranlassung geben; die neu auftretenden Formen seien dabei häufig anfänglich schwach und würden zu Grunde gehen, wenn sie nicht die Gelegenheit fänden, um, ohne Gefahren ausgesetzt zu sein, im Laufe einiger Generationen ihre Lebenskraft und ihre Fruchtbarkeit auf das normale Maass zu bringen. Nach Darwın aber gehen die zahl- losen schwächeren spontanen Variationen einfach zu Grunde, während nur die selteneren stärkeren am Leben erhalten bleiben. Ich schliesse hiermit diese historische Uebersicht. Ich hofte später die Meinungen der neueren Autoren mehr vollständig zusammen zu stellen; es wird sich dabei ergeben, dass ganz allgemein die Selectionslehre als unbefriedigend betrachtet wird. So sagt z. B. Duncker, dass die individuelle Variabilität ein Zustand sei und kein Vorgang, sie liefere keinerlei Material für die natürliche Zuchtwahl.! Ebenso Lord SALISBURY in seiner Eröffnungsrede der Versammlung der British Association zu Oxford, 1894:? Die Selectionslehre ist keineswegs als bewiesen zu betrachten, denn von allen Seiten werden Einwürfe gegen die Erklärung der Evolution durch Häufung der ge- wöhnlichen (individuellen) Variationen gemacht. Und noch ganz kürzlich hat Rosa,? auf Grund von kritischen Stammbaumstudien, den Unter- schied zwischen Mutation oder phylogenetischen Variationen und den statistischen Variationen, welche er Darwın’sche nennt, hervorgehoben. ı Biolog. Centralblatt. 1899. 8. 373. ?2 Nature. 9. Aug. 1894. ® D. Rosa, La riduzione progressiva della variabilita e i suoi rapporti coll’estinzione et coll’origine delle specie. Torino. C. Crausen. 1899. p. 93. 52 Selection führt nicht zur Entstehung von Artmerkmalen. III. Seleetion führt nieht zur Entstehung von Artmerkmalen. $ 7. Die Zuchtwahl in der Landwirthschaft und im Gartenbau. Wissenschaftliche Versuche über künstliche Zuchtwahl giebt es im Gebiete der Botanik noch sehr wenige. Und so lange dieses der Fall ist, ist man auf die Erfahrungen der Züchter in dieser Frage angewiesen. Zu den besten Versuchen gehört Frırz MürLer’'s Züchtungs- versuch am Mais.! Er lenkte sein Augenmerk auf die Zahl der Reihen am Kolben (Fig. 17) und wählte die Kolben mit den zahl- Fig. 17. Zea Mays. Kolben mit S, 16 und 22 Reihen von Körnern, aus meinem Selectionsversuche von 1886—1394. reichsten Reihen zur Aussaat aus; am häufigsten sind die mit 10—12 Reihen; die übrigen gruppiren sich darum in bekannter Weise nach dem QUETELET'schen Gesetze. Unter mehreren Hunderten von Kolben fand sich ein einziger mit 18, keiner mit 20 Reihen. Durch Zucht- wahl während dreier Jahre verschob sich der Mittelwerth auf 16 Reihen, während einzelne Kolben mit 26 Reihen erreicht wurden. Ich habe diesen Versuch durch eine etwas längere Reihe von Jahren wiederholt, und das Ergebniss in der Form eines Stamm- 1 Kosmos. 1886. II. Bd. S. 22. Die Zuchtwahl in der Landwirthschaft und im Gartenbau. 53 aumes abgebildet und zwar unter Anwendung der Darstellung der Variabilität in Form eines Fächers, wie sie bei Fig. 13 8. 38 erklärt wurde. Die Fächer sind aber derart reducirt, dass statt der vielen Dreiecke von Fig. 13 nur die wichtigsten Linien gezeichnet sind. Die mittlere ausgezogene entspricht dem Mittel (dem Gipfel der Curve), die beiden unterbroche- nen Linien entsprechen den Quartilen (Qund Q,); ss) zwischen ihnen liest so- mit die mittlere Hälfte der Individuen. Die bei- den äusseren Linien jedes Fächers deuten die Kol- ben mit der grössten und ss der kleinsten beobachte- ten Reihenzahl an; ihre Divergenz hängt wesent- so lich von der Grösse der Ernte ab; diese betrug im Mittel etwa 200 Kol- ss ben pro Jahr. | Von den beiden von unten nach oben durch- :ss7 gehenden Linien stellt | die rechte den Stamm- baum der jeweiligen für ss die Aussaat gewählten Kolben dar. Es wurde somit in denaufeinander Fg- 18. Stammbaum eines Selectionsversuches mit Mais. folgenden Jahren Samen Die Zahlen oben und unten in der Figur deuten die ausgesät von Kolben mit Anzahl der Reihen pro Kolben an. Der Versuch fing 7 1887 an; die Linien für 1886 deuten die Eigen- 16 (1887), 20, 20, 24, schaften der Rasse an, von der ich ausgegangen bin. 22, 22, und. 22 -Reihen; die Kolben mit grösseren Zahlenreihen waren meist zu arm an Samen, um für die Fortsetzung des Versuches dienen zu können. Die linke von unten nach oben durchlaufende Linie vereinigt die Endpunkte der mittleren Strahlen, welche den Gipfeln der Curven der einzelnen Jahrgänge entsprechen. Sie zeigt uns somit den Fort- schritt der Ernte in Bezug auf das gewählte Merkmal in Folge der 8 70 12 714 16 18 20 22 24 26 28 | | - . Zt ee] 8 10 12 14 16 18 29 22 24% 26 25 54 Selection führt nicht zur Entstehung von Artmerkmalen. Selection. Diese Linie nähert sich im Laufe der Jahre derjenigen der Aussaatkolben immer mehr. Aber für ein genaues Studium ihres Verlaufes wäre selbstverständlich künstliche Selbstbefruchtung vorzu- nehmen, was beim Mais bekanntlich oft nicht zu einer vollen Ernte führt. Ich würde lieber eine andere Pflanze wählen, wenn nicht die Maiskolben sich so vorzüglich zur Demonstration eigneten. Die Erfahrungen der Züchter bildeten bekanntlich für Darwın die wichtigste Stütze seiner Selectionslehre. In seinen grossen Zügen verläuft der Process der natürlichen Auslese ähnlich wie die künst- liche Zuchtwahl. Sobald es sich aber darum handelt, diese Vorgänge in ihre einzelnen Factoren zu zerlegen, stösst man auf grosse Schwierig- keiten, wie ich bereits in der Einleitung bemerkt habe. Die erste Ursache dieses Umstandes ist namentlich darin zu suchen, dass die Züchter nur selten mit einzelnen Merkmalen arbeiten, sondern im Allgemeinen ihre Pflanzen in jeder Hinsicht zu verbessern haben. Auf eine Trennung oder auch nur auf eine getrennte Be- ‚obachtung der besonderen Eigenschaften kommt es dabei nicht an. Die zweite Ursache ist aber, dass die Züchter kein Interesse daran haben, die verschiedenen Methoden zur Veredelung ihrer Gewächse aus einander zu halten. Im Gegentheil ist es in den meisten Fällen viel zweckmässiger, die verschiedenen Methoden der Auswahl günstiger Mutationen, der allmählichen Verbesserung durch methodische Zucht- wahl, der freien und der künstlichen Kreuzung, der Düngung u. s. w. zusammen ihren Einfluss ausüben zu lassen. Es kommt ja nur auf das Ergebniss an. Die Art und Weise, wie dieses erhalten wird, ist Nebensache, darüber werden auch nur in seltenen Fällen Notizen gemacht. Für das wissenschaftliche Studium des Selectionsverfahrens ist in erster Linie wichtig, alle Fälle auszuschliessen, in denen Kreuzung vorliegt, oder wo die letztere nicht mit Sicherheit ausgeschlossen ist. Viele Gattungen und Arten verdanken ihren gegenwärtigen Formen- reichthum (also das, was die Züchter Variabilität nennen) fast nur den fortgesetzten Kreuzungen zwischen den ursprünglich eingeführten wilden Arten, sei es, dass verschiedene Liux&’sche Arten oder dass zahlreiche elementare Arten einer solchen anfänglich in Cultur genommen wur- den. Es sind dabei in der Hauptsache zwei Gruppen zu trennen. Erstens diejenigen Gattungen, bei denen es auf möglichst grossen Reichthum an Formen ankommt, und bei denen zu diesem Zwecke fast alle denkbaren Kreuzungen zwischen den vorhandenen Formen ausgeführt werden. Die tüchtigsten, durch Nutzen oder Schönheit ausgezeichneten kommen dann in den Handel und bilden ein für den Die Zuchtwahl in der Landwirthschaft und im Gartenbau. 55 Laien unübersichtliches Gemisch. Fuchsia, Dahlia, Chrysanthemum, Weizen und Kartoffeln bilden sehr bekannte Beispiele. Die Neubil- dungen der Züchter beruhen hier fast ausnahmslos auf zweckmässiger Combination der in den alten Typen bereits vorhandenen Eigen- schaften. Zweitens die Gattungen, welche im Laufe der Zeiten, seit dem Anfange ihrer Oultur, in einer bestimmten Richtung fortgeschritten sind, wie Begonia, Gladiolus, Caladium, Amaryllis, Canna und viele Andere. Die Verbesserung ist hier jedesmal das Resultat der Entdeckung neuer wilder Arten gewesen. Diese hat man mit der cultivirten Bastard- rasse gekreuzt und so ihre gewünschten Merkmale auf diese über- tragen. Die grossen Blumen, schön gebildeten Kronen, die bunten Oaladiumblätter, die winterharten Gladiolen u. s. w. wurden auf diese Weise erhalten. Die neuen Merkmale der Rasse sind als solche, wohl ausgebildet, aber in anderen Arten, in der Natur aufgefunden worden. Sie waren neu für die Cultur, sind aber nicht in dieser oder durch diese entstanden. Ich leugne selbstverständlich das Auftreten von Mutationen in der Cultur nicht, aber so viel ich aus den mündlichen Mittheilungen der hervorragendsten Züchter erfahren habe, sind dies relativ sehr seltene Erscheinungen. Es kann nicht genug betont werden, wie trügerisch der vielfach so hoch gelobte Fortschritt der Culturpflanzen ist, wenn man den Antheil der Kreuzung ausser Acht lässt, oder ihn als den Erfolg der Zuchtwahl darstellt. Und solches geschieht nur zu häufig. Bastar- dirung ist ein so viel sichereres und so viel bequemeres Mittel, Neues zu erhalten, als die Selection, dass Züchter ihrem eigenen Interesse fast stets entgegen arbeiten würden, wenn sie nicht wenigstens die Gelegenheit zu freier Kreuzung so weit wie möglich offen stellten. Nur wo es sich um die Fixirung erhaltener Rassen, oder um me- thodische, nach festen Principien durchzuführende Selection handelt, wird die Möglichkeit von Kreuzungen selbstverständlich ausgeschlossen. Nur solche Versuche haben also für die Selectionslehre wirklichen Werth. Unglücklicher Weise sind sie aber viel sel- tener angestellt oder wenigstens viel seltener beschrieben worden, als man wohl erwarten sollte. Weitaus die meisten sogenannten kurzen Angaben der Züchter, über anscheinend erhebliche Variabilität, sind dem Einwande aus- gesetzt, dass die betreffenden Samen auf von Insecten oder vom Wind befruchteten Exemplaren gesammelt wurden. Und liest man z. B. das von Darwın zusammengebrachte Thatsachenmaterial mit 56 Selection führt nicht zur Entstehung von Artmerkmalen. diesem Gedanken durch, so wird man finden, dass Vieles, was an- scheinend Variabilität oder sogar Mutabilität war, viel einfacher durch eine stattgehabte Kreuzung, oder durch das Sammeln der Samen auf Bastarden erklärt werden kann. Ueberhaupt erleidet die angebliche Variabilität der Pflanzen sowohl im wildwachsenden, als auch ım cultivirten Zustande eine ganz erhebliche Einschränkung, sobald man bei jeder einzelnen Angabe die Erfolge einer möglichen zufälligen Kreuzung mit berücksichtigt. ! Ich behaupte in Kurzem: Vieles, was bis jetzt zum Be- weise von einer die Grenzen der elementaren Arten über- schreitenden Variabilität (also Mutabilität) angeführt wurde, war die Folge unberücksichtigter, zufälliger Kreuzungen.? Es lohnt sich ferner, den Gegensatz zwischen der landwirth- schaftlichen und der gärtnerischen „Zuchtwahl“ hervorzuheben. Denn eine klare Einsicht in die hier obwaltenden Verhältnisse wird unser Verständniss für den Unterschied zwischen Variationen und Mutationen bedeutend schärfer machen. Von Handelsgärtnern werden jedes Jahr eine gewisse Anzahl sogenannter Neuheiten in den Handel gebracht, namentlich von Samen- pflanzen, welche ich hier speciell im Auge habe.? Es sind theils Bastarde, theils wirklich neue Varietäten und Unterarten, theils neu aus ihrer fremden Heimath eingeführte Arten. Die Varietäten und Unterarten sind plötzlich entstanden, und als solche in einem oder in einigen wenigen Exemplaren vorgefunden. Sie treten nur selten in den Handelsgärtnereien selbst auf, meist aber in den Gärten der Kunden, deren Gesammtareal ja so erheblich viel grösser ist, als dasjenige der die Samen liefernden Gärtnerei, und wo oft viel mehr Zeit und Aufmerksamkeit den Pflanzen gewidmet wird. Die Handels- särtner pflegen dann die Neuheiten zu hohen Preisen von den be- treffenden Personen zu kaufen. Eine solche Neuheit braucht in der Regel 4-5 Jahre, bis sie in den Handel gebracht wird. Sie wird in dieser Zeit, wie es heisst, durch Zuchtwahl constant gemacht. Richtiger wäre es zu sagen, dass sie von dem verunreinigenden Ein- flusse freier Kreuzung befreit wird. Denn die Zuchtwahl besteht ! Vergl. auch Horruann, Bot. Ztg. 1881. S. 381: „Die Samen von isolirt blühenden Exemplaren haben keine Neigung zur Bildung von Varianten gezeigt.‘ ? Ich beabsichtige diesen Gegenstand in einem späteren Abschnitte aus- führlich auf Grund eingehender Versuche zu behandeln. ® Zucht und Handel auf diesem Gebiete sind am eingehendsten beschrieben von C. Früwırry: Züchtungsbestrebungen in den Vereinigten Staaten, in Fünzıne’s Landwirthsch. Zeitung. 1887. Jahrg. 36. S. 16. Die Zuchtwahl in der Landwirthschaft und im Gartenbau. 57 darin, dass man, wenn es Blumenpflanzen gilt, zur Blüthezeit die sogenannten Atavisten ausrodet, um nur von den echten Exemplaren Samen zu gewinnen. Diese Atavisten aber sind nichts weiter als Bastarde, durch die freie Kreuzung des vorhergehenden Sommers ent- standen. Dieses Ausroden habe ich mehrere Male die Gelegenheit zu beobachten gehabt. Es geschah in voller Blüthe. Die Erben waren somit bis dahin auch von den „Atavisten“ befruchtet, die Saat konnte aus diesem Grunde im nächsten Jahre nicht rein sein. Die Zuchtwahl hat einfach den Zweck, diese Beimischung anderer Formen bis auf ein Minimum herabzudrücken; die Befruchtung ist von der ersten Generation ab den Insecten überlassen und also nie- mals rein gewesen. Ich habe nicht finden können, dass die Zucht- wahl in den gewöhnlichen Fällen irgend einen anderen Zweck hätte, als diese Reinigung der neuen Form von beigemischten Kreuzungs- producten. Die 4—5 Jahre braucht der Gärtner überhaupt, um sein Samen- quantum so weit zu vergrössern, dass es sich lohnt, die Neuheit in den Handel zu bringen. Der erwähnte Reinigungsprocess ist, dieser Rücksicht gegenüber, fast Nebensache. Sobald das erforderliche Quan- tum von Samen da ist, wird es verkauft. Absolute Reinheit wird dabei nicht garantirt. Ich habe mehrfach Samen von Neuheiten ge- kauft und durch umfangreiche Aussaaten auf ihre Reinheit geprüft. Sie enthalten fast stets Beimischungen. Wenn ich dann aber einige Exemplare der neuen Form unter Ausschluss des Insectenbesuches mit ihrem eigenen Pollen befruchtete, stellte sich in der nächsten (Generation die Reinheit als eine völlige heraus. ‚Jedermann weiss, dass man bei Blumensamen mit einer Reinheit von 97-—99 Proc. in der Regel sehr zufrieden sein darf; die übrigen 1—3 Proc. heissen Atavisten, sind aber fast stets Ueberreste der Folgen freier Kreuzung auf dem Felde. Den ganzen Gewinn einer gärtnerischen Neuheit liefert das erste Jahr ihrer Veröffentlichung.” Denn sobald sie in anderen Gärten Samen trägt, steht der Urheber in Bezug auf den Verkauf genau auf derselben Linie wie jeder andere Gärtner. Aus diesem Grunde werden die Neuheiten im Spätjahr mittelst besonderer Preislisten an möglichst viele Handelsgärtner verkauft; diese bringen sie in ihre Handelscataloge, und so findet man jährlich die meisten Neuheiten oft gleichzeitig von zahlreichen Firmen zum ersten Male in den Handel ! Den Ertrag einer solehen Neuheit hörte ich mehrfach auf 2—3000 Mark schätzen, 58 Selection führt nicht zur Entstehung von Artmerkmalen. gebracht. Ihr Preis ist ein entsprechend hoher, sinkt dann aber in wenigen Jahren auf die Norm herab, indem jetzt bald überall eine beliebige Menge von Samen producirt werden kann. Einmal entstanden, von Kreuzungsproducten gereinigt und in senügender Menge in den Handel gebracht, ist die gärtnerische Neuheit das Eigenthum eines Jeden. Für ihren Urheber hat sie später keinen weiteren Werth als jede andere gute Sorte. Sie hält sich überall constant, wenn sie nur von fremdem Blüthenstaub und beigemischtem Samen hinreichend rein gehalten wird. Ganz anders verhält es sich mit den landwirthschaftlichen Cultur- varietäten. Ich habe hier nur die wirklich veredelten Rassen im Auge.! Sie entstehen nicht durch Zufall, es bedarf keiner seltenen, plötzlichen Variation. Für sie liefert die gewöhnliche, stets vorhandene Variabilität das Material. Der Züchter sucht im Anfange auf seinen ÄAeckern die Pflanzen aus, welche ihm zu seinem Zwecke als die besten erscheinen, und sammelt deren Samen getrennt. Diese Pflanzen weichen für das Auge des Laien nur ganz wenig von den übrigen, schönen Exemplaren des Ackers ab. Von diesen Samen züchtet er im Kleinen, alljährlich von genau denselben Princeipien ausgehend, und in dieser Weise die Abweichungen von der ursprünglichen Form allmählich in der gewünschten Richtung vergrössernd. Er hat dabei ein oder zwei Merkmale hauptsächlich im Auge, berücksichtigt aber, wo möglich, auch alle anderen Eigenschaften. Es ist nicht die Sache eines Jeden, eine solche Cultur zu betreiben. Dazu gehört viel Talent im Aus- suchen, eine sehr gründliche Kenntniss der fraglichen Pflanzenart, Ausdauer und ein vieljähriges Festhalten an dem Vorbilde, das man sich einmal als Ziel seiner Rasse gesteckt hat. Und trotz dieser Eigenschaften gelingt auch den hervorragendsten Züchtern bei Weitem nicht jeder Versuch; die berühmtesten unter ihnen, d.h. die Urheber der am meisten verbreiteten Rassen, haben deren oft nur eine einzige oder doch nur einige wenige hervorgebracht. Allmählich steigert sich der Werth einer solchen Rasse. Zuerst als Saatgut für die eigene Saat, bald als Saatgut zum Verkauf. Dieser aber findet nicht in einem einzigen Jahre statt, sondern jährlich, solange die Zucht fortgesetzt wird. In Folge der Regression gehen die verbesserten Eigenschaften zurück, sobald behufs der Grosscultur die Aussaat ohne die betreffende scharfe Wahl stattfinden muss; denn die ausgewählten Exemplare liefern selbstverständlich an sich ! Ueber die älteren constanten Zuchtwahlproduete, z. B. denen PArrıck SHIRREFF’S, vergleiche man das folgende Kapitel. Die Zuchtwahl in der Landwirthschaft und im Gartenbau. 59 nicht Samen genug für die ganze Cultur. Der Nachbau hat somit geringeren Werth als das sogenannte Originalsaatgut. Und so bleibt dem Züchter sein ganz bedeutender Gewinn viele Jahre hindurch gesichert, bis vielleicht einmal seine Rasse von einer anderen, besseren, überflügelt wird. Wie der Züchter einer solchen Rasse um die Steigerung des Er- trages ganzer Länder Verdienste hat, denen gegenüber die Leistungen der gärtnerischen Neuheiten ganz zurücktreten, genau so verhält es sich mit seinem eigenen Gewinn. Mehrfach hörte ich Landwirthe aus diesem Grunde mit Stolz ihre eigenen Leistungen mit denen der Gärtner vergleichen. Ich erwähne zuletzt noch ein sehr klares Beispiel des fraglichen Unterschiedes. BESELER in Anderbeck hat durch ausgezeichnete und mühevolle Züchtung seinen Hafer derart verbessert, dass er ihn unter dem Namen Anderbecker Hafer als Saatgut in den Handel bringen konnte. Die Sorte war aber begrannt, eine Eigen- schaft, welche von vielen Seiten getadelt wurde und welche den Absatz beeinträchtigte. Aber den Anderbecker Hafer unbegrannt zu machen, war eine Kleinigkeit, vorausgesetzt, dass der Zufall einzelne unbegrannte Exemplare liefern würde. Solches war der Fall, und seitdem ist BESELER’s Hafer grannenlos.! Dieser sehr auffallende Unterschied zwischen der Praxis der landwirthschaftlichen und der gärtnerischen Züchtung hat nach meiner Meinung sehr wesentlich dazu beigetragen, der wissenschaftlichen Selectionslehre ihre jetzige Form zu geben. Was nur mit Aufwand von vielem Scharfsinn und vieler Ausdauer von einigen Wenigen geleistet werden kann, imponirt; aber was der Zufall einem Jeden in die Hände spielen kann, macht viel geringeren Eindruck. Daher mag es kommen, dass man für die Erklärung der Entstehung der Arten das erstere Verfahren in den Vordergrund gestellt und das zweite als nebensächlich oder unbedeutend ausser Acht gelassen hat. Aber den landwirthschaftlichen veredelten Rassen fehlt die Constanz echter Arten, während die Varietäten und Unterarten des Gärtners von echten Arten nur historisch und systematisch, nicht aber auf experimentellem Wege zu unterscheiden sind. Zusammenfassend kommt es bei der Verwerthung der Erfahrungen der Züchter für wissenschaftliche Betrachtungen darauf an, so viel wie möglich nur die einfachsten Processe zu benutzen. Auszuschliessen ist für die Selections- und Mutationslehre alles, was mittelst Kreuzungen ! v. Rünker, Getreidezüchtung. 1889. 8. 60, 75 und 94. 60 Selection führt nicht zur Entstehung von Artmerkmalen. erhalt trennen zwischen den durch fortgesetzte Zuchtwahl willkürlich er- haltenen veredelten Rassen, und den constanten Sorten, welche ihren Ursprung einer zufälligen plötzlichen Umgestaltung verdanken. Im Gartenbau entstehen die Varietäten durch Mutationen, und Varietäten sind elementare Arten. In der Landwirthschaft entstehen die hoch veredelten Rassen allmählich durch Selection, sie werden aber nie zu Arten. $ 8. Zuchtwahl behufs vegetativer Vermehrung. Anschliessend an den vorigen Paragraph ist hier die wissen- schaftliche Bedeutung der Zuchtwahl in jenen Fällen zu beleuchten, wo ihre Producte auf vegetativem Wege vermehrt werden können. Es haben diese Fälle für die Descendenzlehre eigentlich keine Bedeutung. Aber sie sind viel auffallender, als die Leistungen der Zuchtwahl bei Samenpflanzen, so dass sie gerne als Beispiele an- geführt werden. Wenn man durch umfangreiche Aussaat oder durch wiederholte Selection von irgend einer Art ein Exemplar mit sehr grossen Blumen oder Früchten, oder sonst mit irgend einer guten Eigenschaft in extremer Ausbildung erhalten hat, so giebt es zwei Mögtichkeiten. Erstens, es handle sich um eine Samenpflanze, d. h. um eine Art, welche nur durch Samen vermehrt werden kann, oder in der Praxis nur auf diesem Wege vermehrt zu werden ptlegt. Zweitens kann es sich um eine auf vegetativiem Wege der Ver- mehrung fähige Art handeln, sei es, dass dieses durch Zertheilung des Rhizoms, durch Stecklinge, durch Griffeln, durch Wurzelknospen oder auf irgend einem anderen Wege geschehe. Im ersteren Falle gehorchen die Samen ganz allgemein dem Gesetze der Regression, wie dieses bereits von VILMORIN erkannt und später von GALTON genauer studirt wurde, Nehmen wir einst- weilen Gaurton’s Zahl als allgemeingültig an, so weicht das Mittel der Aussaat vom Mittel der Art um einen Werth ab, der nur !/, von der Abweichung der Eltern beträgt. Für jeden Fortschritt der ganzen Familie würde es dann eines dreifach grösseren Fortschrittes der auserwählten Samenträger bedürfen. Um die Bedeutung dieser Regression klar zu machen, wähle ich eine Cultur von Madia elegans als Beispiel (Fig. 19). Die mittlere Anzahl der Zungenblüthen im Köpfchen ist 21, um diese Zahl schwanken die übrigen nach dem Gesetze QUETELET's. Aus meiner 61 Zuchtwahl behufs vegetativer Vermehrung. Aussaat von 1892, deren Zahl im Mittel 21 war und zwischen 16 und 25 wechselte, wählte ich 6 Exemplare mit je 16—19 Strahlen in der Endblüthe. Aus ihren Samen erhielt ich 1893 eine Gruppe mit 12—22, im Mittel 19 Strahlen. Ich wählte jetzt 13 strahlige Samenträger und hatte 1894 eine Generation mit 13—22, im Mittel 18 Strahlen. Die Regression betrug in diesem Versuche somit etwa !/,; d. h. die Kleinkinder wichen im Mittel nur um ein Drittel so stark vom Typus der Art ab, als ihre ausgewählten Eltern.! Bei vegetativer Vermehrung 354. erhalten sich aber die einmal erreichten Eigenschaften ganz oder doch nahezu unverändert. Die neuen Exemplare sind eigent- »« lich nur Theile des ursprüng- lichen, aus einem Samen hervor- gegangenen Individuums. Sie können zu Hunderten oder zu Tausenden in den Handel gebracht werden, bilden aber eigentlich en nur ene einziee Fig. 19. Madia elegans. Successive Gene- °” rationen bei Auslese von Exemplaren mit Pflanze. möglichst geringer Anzahl von Zungen- Die ganze ‘sogenannte a I Varietät stellt hier somit ein einziges Individuum vor. So bei Aepfeln und Birnen und zahl- reichen anderen Obstbäumen, ferner bei Hyacinthen, Tulpen und anderen Zwiebelgewächsen, bei Dahlien, Canna u. s. w. Unter den landwirthschaftlichen Pflanzen bei den Kartoffeln, unter den Gewächsen aus wärmeren Gegenden bei den Bananen, beim Zuckerrohr u. s. w. Wissenschaftlich darf man eine solche Varietät nicht mit der- jenigen einer Samenpflanze vergleichen. Sie ist vielmehr den einzelnen auserwählten Samenträgern analog, aus denen die Handelsrassen unter Regression hervorgehen. Nehmen wir nochmals Gauron’s Zahl als allgemeingültig an, so können wir sagen, dass die Leistungen der Zuchtwahl bei vegetativer Vermehrung im Allgemeinen dreimal so gross ausfallen sollten, als bei der Fortpflanzung durch Samen. Wenn man also die Blumenpracht unserer Zwiebelgewächse, die Grösse unserer Kartoffeln, die Herrlichkeit unseres Obstes als Bei- spiele hoher Variabilität und als bedeutende Leistungen des Selections- 1892 a BSR —aZ —— re VERTRITT EN 17182 1918 208,2700.2208 2370127 025 ! Vergl. auch den Stammbaum des Mais-Versuches auf S. 53. 62 Selection führt nicht zur Entstehung von Artmerkmalen. verfahrens anführt, so darf man nie vergessen, dass bei einer etwaigen Anwendung auf die Descendenzlehre diese Verbesserungen um etwa ?/), zu verkleinern sind, wenigstens beim jetzigen Stande unseres Wissens. Und dann bleibt, vom biologischen Standpunkte betrachtet, nicht sehr viel übrig. $ 9. Ueber die Dauer des Selectionsverfahrens. Die jetzige Selectionslehre gründet sich auf zwei völlig unbe- wiesene Sätze: 1) Der durch Selection vermittelte Fortschritt kann durch Tau- sende von Jahren anhalten. 2) Das Ergebniss der Selection kann von dieser unabhängig werden. Die Erfahrung der Züchter widerspricht beiden Sätzen, soweit sie überhaupt durch Thatsachen widerlegt werden können. Betrachten wir beide Sätze für sich. Der erste ist in zwei Theile zu zerlegen, je nachdem die angeblichen tausend Jahre der Zukunft oder der Vergangenheit angehören, d. h. je nachdem es sich darum handelt, eine vorhandene Form zu erklären, oder die mög- lichen Veränderungen einer Art vorherzusagen. Fangen wir mit der Vergangenheit an. These changes have been the result of some 1000 of years of domestication and selection sagt WALLACH. ! Und Darwın sagt unter dem Einflusse einer Aeusserung HoFrMAnN’s: „Perhaps hundreds of generations of exposure are necessary.“” Und an anderer Stelle: I cannot doubt that during millions of generations indivi- duals of a species will be born with some slight variation profitable to some part of its economy.” Ebenso ALPH. DE ÜANDOLLE, über Accli- matisirung sprechend: Il faut, parait-i, pour une modification permet- tant de supporter des degres plus intenses de froid, des periodes beaucoup plus longues que 4 ou 5000 ans, ow des changements de forme et de duree.* Ebenso von neueren Schriftstellern J. Costantın: Mais si pendant 50, 100, 1000 ans laction dw milieu se maintient toujours la m&me, les carac- teres hereditaires qui Evoluent lentement, se consolident, deviennent de plus en plus stables.? 1 Wauraice, Darwinism. 2. Ed. p. 89. 2 Life and Letters. III. p. 345. > Iipid> I1.5p. 124° * Origine des plantes cultivees. p. 371. 5 J. Costantın, Accomodation des plantes aux climats froid et chaud. Bull. Seientif. de Gıaen. T. 31. 1897. p. 489. Ueber die Dauer des Selectionsverfahrens. 63 Aehnliche Citate kann Jeder leicht in grösserer Zahl zusammen- finden. Aber wenn er sie genauer betrachtet, so wird er Folgendes sehen. Für Darwmım giebt der lange Zeitraum eine Aussicht auf das zufällige Entstehen einer nützlichen Abweichung. Für WALLACE dagegen wirken die Jahrhunderte durch die allmähliche Häufung stets vorhandener Variationen in derselben Richtung. Die übrigen Verfasser schliessen sich das eine Mal der einen, das andere Mal der anderen Auffassung an. Es sind dieses aber offenbar grundverschiedene Gedanken. Nach Darwıw’s Meinung, obgleich er diese vielleicht nie ganz scharf formu- lirt hat, sind es die zufälligen single variations, durch welche die stetige Ausbildung des Formenreichthums der Organismen zu Stande ge- kommen ist. Die natürliche Auslese häuft somit im Laufe der Zeiten solche kleine Sprünge, wenn sie nützlich sind, an und dieses bildet das wichtigste Element in der Production neuer Formen.! Nach Waruace’s Theorie liefert die stets vorhandene, durch Curven darstellbare Variabilität das Material für die artenbildende Selection; wenn diese kleinen Abweichungen stetig in demselben Sinne angehäuft werden, sollen sie allmählich die Grösse von Artmerkmalen erreichen. Wenn es sich, wie für viele Culturpflanzen, nachweisen lässt, dass sie nach 1000—2000 Jahren andere sind, als vorher, so ist es doch wohl fast nie möglich, auf historischem Wege zwischen diesen beiden Ansichten zu entscheiden. Ausnahmen bilden fast nur die Fälle, in denen ein plötzlicher Ursprung einer neuen Form von Zeit- genossen beobachtet und beschrieben wurde; diese Fälle sprechen aber für Darwın’s Ansicht. Für Waruacr’s Meinung liegen historische Beweise nicht vor. Und ist eine Entscheidung auf historischem Wege nicht möglich, um so weniger kann man sie auf dem Wege der Analogie erhoften, so lange nicht wenigstens einzelne gut beobachtete Fälle vorliegen, um darauf einen so hochwichtigen Analogieschluss zu bauen. Solches ist aber anerkanntermaassen nicht der Fall. Und wir gelangen dadurch von selbst zur Behandlung des zweiten Theiles unserer Frage: was man in der Zukunft von anhaltender Selection erwarten darf. Man nimmt an, dass die individuelle Variabilität eine unbe- schränkte sei, und dass namentlich bei stetiger Selection in einer Richtung das Variiren in dieser Richtung stets weiter schreite. Em- pirische Gründe für diese Annahme liegen aber nicht vor. Die Er- 1 Infe and Letters. II. p. 125. 64 Selection führt nicht zur Entstehung von Artmerkmalen. fahrungen der Züchter, und namentlich die Erfahrungen über das Acclimatisiren sprechen nur für sehr beschränkte, wenn auch land- wirthschaftlich höchst wichtige Umänderungen.* Das Einzige, was in dieser Sache wissenschaftlich festgestellt worden ist, ist die Re- gression: das ganz bedeutende Zurückbleiben des Mittels einer Rasse bei den extremen, jährlich als Samenträger ausgewählten Individuen. Durch verbesserte Methoden kann man das Selectionsverfahren allerdings wesentlich beschleunigen und das Ziel um einige Jahre früher erreichen. Man bekommt dadurch für die Praxis sehr be- deutende Resultate, die aber dennoch für die Descendenzlehre uns nicht viel weiter zu bringen im Stande sind. Ich habe bereits einige Male hervorgehoben, dass unsere Kennt- nisse über die Regression im Verhältniss zur hohen Bedeutung dieses Vorganges noch sehr dürftige sind, und dass Vieles noch zu erforschen übrig bleibt. Sollte es sich herausstellen, dass bei anhaltender Selec- tion der jährliche Rückschritt allmählich kleiner wird, so würde dieses für die Selectionstheorie sehr wichtig sein. Sollte sich aber das (egentheil herausstellen, so wäre diese Theorie damit wohl endgültig widerlegt. So lange aber eine Entscheidung nicht vorliegt, bleibt es Thatsache, dass jener Theorie der unbedingt erforderliche Boden fehlt. Die bisherigen Erfahrungen sprechen allgemein dafür, dass oft nach 2—3 Generationen, bisweilen erst nach 4— 5 oder einigen wenigen mehr, erreicht wird, was im Grossen und Ganzen erreicht werden kann. Selbstverständlich, wenn es sich um die Verbesserung eines einzelnen Merkmaies handelt. In der Praxis, wo es die Berücksichtigung mehrerer oder gar vieler Eigenschaften gilt, kann das Selections- verfahren viel länger dauern. Ebenso wenn allmählich verbesserte Me- thoden eine viel schärfere Auswahl aus viel grösseren Anzahlen von Individuen ermöglichen, wie in der Zuckerrübencultur, wobei es sich aber oft nur um Zehntelprocente handelt. In wissenschaftlichen Versuchen, mit einem einzigen Merkmal als Zweck, ist nach meiner Ansicht die Dauer des Selectionsverfahrens im Allgemeinen auf 2—4 Generationen zu stellen.” Weitere Fort- setzung hätte nur dann einen Sinn, wenn es sich um die oben discu- tirte Frage über die Regression handeln würde.? ! Vergl. die nächsten Paragraphen. ® Vergl. Frırz Mürrer’s Züchtungsversuch am Mais. Kosmos, 1. c. ® Eine bekannte praktische Schwierigkeit bildet der Umstand, dass man eine Pflanze, welche man zum ersten Male cultivirt, oft erst nach einigen Gene- rationen hinreichend genau auf ihre Anforderungen an Cultur, Düngung, künst- licher Befruchtung, Zuchtwahl u. s. w. kennen lernt. Ueber die Dauer des Selectionsverfahrens. 65 Es ist nach meiner Ueberzeugung ein ganz erheblicher Nachtheil der Selectionstheorie, dass sie die Dauer von Züchtungsversuchen übertrieben vorgestellt und dadurch ohne Zweifel viele Forscher vom Anstellen solcher Versuche abgehalten hat. Ich stelle daher aus der älteren Literatur einige solche Versuche hier kurz zusammen. Sehr bekannt ist ein Aufsatz von P.P. A. L£vkaveE DE VILMORIN über die Cultur wilder Mohrrüben (Daucus Carota).' Es gelang ihm innerhalb 3—5 Generationen, die wilde Form so weit zu verbessern, dass die Wurzeln ebenso fleischig und als Gemüse ebenso brauchbar waren, wie die gewöhnliche cultivirte. Ebenso hat CARRIKERE in fünf Jahren aus dem. wilden Radis mit kleinen, nicht essbaren Wurzeln eine als Gemüse verwerthbare Form, mit Rüben von 300 bis 600 g gewonnen.? Auch die Wurzeln der wilden Pastinake können durch die Cultur schnell vergrössert werden, wie BuckMAnnN fand.? Es wird somit in wenigen Jahren aus den wilden Formen genau dasjenige erreicht, was sich in der Oultur, bei fortgesetzter Zuchtwahl, auf die Dauer constant erhält.“ Im Anfang dieses Paragraphen haben wir als den zweiten Grund- satz der Selectionslehre die Annahme bezeichnet, dass das Ergebniss der Selection von dieser unabhängig werden könne. Denn die Artmerkmale sind augenblicklich überall von der Se- lection unabhängig. Ich meine selbstverständlich die mittleren Merk- male einer jeden elementaren Art, denn die Abweichungen vom Mittel sind ja eben das Selectionsmaterial. Man kennt von Draba verna über zweihundert Arten; diese sind samenbeständig und als solche von jeglicher Zuchtwahl unabhängig, auch wenn sie in demselben Garten neben einander cultivirt werden. Und so von sehr zahlreichen „Arten“. Es ist das besondere Verdienst BArEson’s, in seinem bahnbrechenden Buche: Materials for the study of variation, diese Lücke in der Selections- lehre allseitig kritisch beleuchtet zu haben. Als Hauptanforderung an diese Lehre hat er die Aufgabe gestellt, die nicht zu leugnende Discontinuität in den Reihen der Arten aus der ÜÖontinuität der ge- wöhnlichen Variation zu erklären. Eine solche Erklärung bleibt sie aber schuldig. Denn die künstliche Zuchtwahl führt nicht zur Ent- 1 IL. pe VıLMmorin, Notices sur Tamehoration des plantes par le semis. 1886. Vergl. p. 10—12. Ebenso CaArrısre, Gardeners Chronicle. 1865. p. 1154. ? J. Costanıın in Bull. Scientif. de G1ArD. 1897. p. 499. Vergl. auch Linprey, Theory of Hortieulture. p. 313. 3 Darwın, Das. Varüren der Pflanzen und Thiere. 1. S. 408. * Hört die Zuchtwahl auf, so können die Pflanzen in ebenso kurzer Zeit wieder in die wilde Form zurückkehren. DE VRIES, Mutation. I. 5 verhältnissmässig geringe Beständigkeit,“ sagt eine der bedeutendsten Autoritäten auf landwirthschaftlichem Gebiet, Prof. Kurt von RÜMkER.! Ohne fortgesetzte Zuchtwahl würde sie ihre guten Eigenschaften bald verlieren. Sie verhält sich in dieser Beziehung ganz anders als eine wirkliche Art oder als eine constante Varietät. | Ich brauche hierauf an dieser Stelle nicht weiter einzugehen, denn es wird in den nächsten Paragraphen meine Aufgabe sein, zu zeigen. was uns die Erfahrungen der Züchter über diese Frage lehren. Zum Schlusse möchte ich noch ein sehr schönes Beispiel etwas ausführlicher besprechen. Ich meine die wichtigen Beobachtungen R. von WETTsTEIN’s über den Saison-Dimorphismus als Ausgangs- punkt für die Bildung neuer Arten im Pflanzenreich.” Es handelt sich namentlich um die Gattungen Gentiana, Euphrasia und Alecioro- lophus (IRhinanthus). Auf den Alpenwiesen kommen von manchen Arten dieser Gattungen je zwei Formen (Varietäten, Unterarten oder elementare Arten) vor, von denen die eine früh, die andere aber spät blüht. Ausserdem unterscheiden sich die früh- und die spätblühende Form derselben Gruppe noch gewöhnlich durch eine Reihe weiterer Eigenschaften, vom Werthe der üblichen Merkmale elementarer Arten, von einander. Zwischen der Blüthezeit der frühen und der späten Arten liegt der Höhepunkt in der Entwickelung der mitteleuropäischen Wiesen und das plötzliche Ende derselben durch die erste allgemeine Heumahd. Die frühen Arten reifen ihren Samen vor diesem Zeitpunkt, die späten fangen ihr hauptsächliches Wachsthum erst nachher an. Die Ausführungen von WETTSTEIN’s dürften das Zusammengehören der betreffenden Arten zu Paaren über allen Zweifel erhoben und die Ursache ihrer Trennung durch die natürliche Auslese auf den Wiesen nachgewiesen haben. Ob aber die betreffenden Arten auf dem Wege langsamer Veränderung oder plötzlicher Umgestaltung entstanden sind, ist damit offenbar keineswegs bestimmt. Diese hoch- wichtigen Thatsachen entscheiden für den betreffenden Fall meiner Ansicht nach nicht nur nicht zwischen der Zulässigkeit der Mutations- hypothese und der Selectionstheorie, sondern sie lassen es gleichfalls unbestimmt, wenn letztere zutreffen sollte, ob die Umgestaltung in wenigen Generationen vollzogen oder erst im Laufe der Jahrhunderte erreicht worden ist. ! Der wirthschaftliche Mehrwerth guter Culturvarietäten. 1898. 8.136 des Separatabdruckes. 2 Berichte d. d. bot. Gesellseh. 1895. Bd. XIII. $. 303 und Botan. Oentral- blatt. 1900. Nr. 1. 8.15. Das Aecclimatisiren. 67 $ 10. Das Acclimatisiren. Es giebt wenige Abschnitte in der Selectionslehre, welche in so hohem Grade geeignet sind, uns eine Einsicht in die Leistungsfähig- keit dieses Processes zu geben, als das Acelimatisiren. Die Zucht- wahl, welche sonst so häufig mit der natürlichen Auslese auf dem Felde zu kämpfen hat, wirkt hier mit dieser in derselben Richtung. Dazu kommt eine sehr grosse Uebereinstimmung des Selectionspro- cesses in diesem Falle mit dem, was in der freien Natur, sei es bei den Migrationen der Organismen, sei es bei wesentlichen Veränderungen in ihrer klimatologischen oder biologischen Umgebung vermuthlich statt- finden wird. Was natürliche Auslese leisten kann, kann also hier am besten beurtheilt werden. Die Ernte fällt aber äusserst dürftig aus, so dürftig, dass die Vertheidiger der Selectionslehre es kaum wagen, sie in den Vorder- grund ihrer Beweisführung zu stellen. In der Praxis ist der Process der Acclimatisation ein vielfach ver- wickelter. In den meisten Fällen handelt es sich nur darum, zu unter- suchen, ob eine Art für das Wachsthum in einer neuen Gegend ge- eignet ist, oder nicht. Es kann dabei sein, dass der Unterschied zwischen der alten und der neuen Heimath ohne Weiteres ertragen wird, oder dass partielle Adaptationen vorkommen, wie wir solche z.B. durch Bonnter’s Versuche über die Natur der Alpenpflanzen kennen.! Es kann ferner vorkommen, dass in der alten Heimath die Art aus einer Gruppe von Unterarten besteht, von denen die eine oder die andere für das neue Klima taugt; es gilt dann nur, diese auszusuchen. Auf wissenschaftlichem Gebiete kann es sich endlich um die Erklärung der Verbreitung einer Art über Gegenden unter sehr ver- schiedenen Breitegraden handeln, wie z. B. beim Mais in Amerika, Je nach dem Klima hat diese Pflanze sehr verschiedene Unterarten, von denen die einen hoch, anspruchsvoll und mit grossen körnerreichen Aehren beladen, die anderen aber klein, in wenigen Wochen reifend, mit kleineren Kolben und Samen erscheinen (Fig. 20). Ob aber solche Unterarten durch allmähliche Selection oder durch Mutationen ent- standen sind, darüber lässt sich eine empirische Entscheidung nicht mehr treffen. Diesen sämmtlichen Fällen gegenüber steht der Process, der uns hier interessirt: die bewusste oder unbewusste Auswahl der das neue 1 Vergl. auch $ 17, 8. 102—103. neuen Rasse aus den stets vorhandenen individuellen Variationen. Ehe ich dazu übergehe, diesen Fall genauer zu besprechen, möchte ich hier ein Beispiel erwähnen, das uns, mehr als viele andere, zeigt, wie vorsichtig man in der Verwerthung praktischer Erfahrungen SpSUu D PER END SITTT TR d AL 88888 DUERz - FR E \ % ER y ag x % g diß 8 5 66 & % 088 TIrF veLITTe ‚BisdE 1685688 I u Se Be Fe, TRITT HT i Mm 6 rn) N) 286 TILL on RN REDE Br a 1. Bi SRoSBaD, Mai N Fig. 20. Maiskolben des Handels bei gleicher Verkleinerung (3). 1. Gelber Riesen-Pferdezahn (Giant yellow Dent field Corn). 2. Miniatur-Mais (Zea graeillima). 3. Weisser Reis-Mais (Pop-corn). für die Beantwortung wissenschaft- licher Fragen sein muss. Es han- delt sich um eine Cultur eines der hervorragendsten Landwirthe Deutschlands, J. METZGER, und um deren wissenschaftliche Verwer- thung durch Darwin selbst. Es be- trifft den sehr bekannten und oft citirten Fall der Umwandlung einer amerikanischen Mais-Varietät in gewöhnlichen badischen Mais, inner- halb etwa drei Jahren nach der Einfuhr in Deutschland. Darwin citirt METZGER’s „Ge- treidearten“ in anscheinend fast wörtlicher Uebersetzung; mir liegt MrErzeer’s Landwirthschaft- liche Pflanzenkunde vor, wo die Beobachtung im ersten Band S. 208 beschrieben ist.! DAarwın nennt diesen Fall the most remark- able instance known to me of the direct and prompt action of climate on a plant, und WALLACE betrachtet diese Umgestaltung als eine Folge von that „reversion to mediocrity“, which invariablıy occurs, and is more especially marked in the case of varieties which have been rapidly produced by artificral selection. wild or unimproved stock.“ Hören wir jetzt, was METZGER sagt. It may be considered as a partial reversion to the Es handelt sich um den weissen, breitkörnigen amerikanischen Mais (Tarascora Corn aus St. Louis): ! Darwin, Variations of Animals and plants under domestication. I. p. 340. METZGER, @etreidearten. S. 208. Werk?. 1841. L. $. 208. Vergl. auch Warrace, Darwinism. Landwirthschaftliche Pflanzenkunde (dasselbe 2. Aufl. p. 419. Das Acelimatisiren. 69 „Wir cultivirten diese Form! und erhielten in den ersten Jahren 12 Fuss hohe Stengel und nur wenige reif ausgebildete Samen, wovon die untersten am Kolben der Urform gleich, die oberen aber ohne Eindrücke erschienen und einige Annäherung zum europäischen Mays zeigten. „Von diesen erlangten Samen, die wir im nachstehenden Jahre aussteckten, erhielten wir Pflanzen mit 9—10 Fuss hohen Stängeln und eine frühere Samenreife. Die Samen waren bedeutend mehr ausgebildet als im vorigen Jahre, die ursprünglichen Eindrücke der äusseren Fläche? waren bereits verschwunden und die schöne weisse Farbe zeigte sich mehr dunkel und schmutzig. Einige Samen waren gelb und die jetzt rundliche Form derselben näherte sich ganz unserem Mays und verläugnete die Verwandtschaft mit der Stammform fast gänzlich. Im dritten Jahre der Cultur waren vollends alle Annähe- rungen zur amerikanischen Form verschwunden, und dieser sonst so sehr verschiedene amerikanische Mays war bereits in die Unterart 5 Spielart 5? übergegangen. Ferner erhielten wir amerikanische Original- samen, die ebenfalls zu dieser Form gehörten, die im dritten Jahre ebenfalls sich der Unterart 5, b näherten und nach sechsjähriger Cultur ganz dieselbe repräsentirten. Derselbe Mays wird jetzt in unserer Gegend häufig cultivirt und unterscheidet sich von unserer landesüblichen Maysart nur noch durch etwas kräftigere Bestockung.“ Ueber die Ursache dieser Umgestaltung finde ich bei METZGER nichts erwähnt, auch keine Vermuthung. Wer aber mit den Erschei- nungen der Bastardirung und des sogenannten Verlaufens der Getreide- arten bekannt ist, der sieht in dem Versuche METzZGErR’s gar kein Beispiel klimatologischer Veränderung einer Sorte. Die Culturen des Tarascora-Kornes standen zwischen anderen, und konnten offenbar zum Theil durch den Wind mit deren Blüthenstaub befruchtet werden. Ein Theil der Samen konnte somit Bastarde liefern, und aus diesen konnte in der dritten Generation der europäische Mais rein hervor- gehen.* Die Bastarde und ihre reinen europäischen Nachkommen mussten aber die fremde, dem Klima weniger angepasste Sorte gänzlich ver- drängen, und solches in viel kürzerer Zeit, als wie man zu vermuthen geneigt sein würde. Und da dieses Verdrängen einer Sorte durch eine andere in der Literatur auch sonst häufig mit einer vermutheten ! Der Beschreibung nach ein Pferdezahn-Mais. ®? Das Merkmal des Pferdezahn-Mais. 3 Weisser grosser europäischer Mais. Zea praecow L. 8. 213. * Genaueres hierüber im zweiten Bande. 70 Selection führt nicht zur Entstehung von Artmerkmalen. Umgestaltung oder der Bildung einer neuen Art verwechselt worden ist, lohnt es sich, ein paar Beispiele hier ausführlicher zu citiren. Ich entnehme diese aus dem vorzüglichen Werke Rımpau’s: RısLEeRr’s Weizenbau. Das erste Beispiel ist eine Beobachtung Rıster’s,! das zweite rührt aber von Rımpau selbst her. Rıster beschreibt eine Entartung des Galland-Weizens in. den ersten Jahren nach der Einfuhr auf seinem Gute zu Üaleves am (enfer See. Die Aehren dieser EN Sorte haben zur Zeit, wo sie \|\ı] sich zeigen, Grannen, aber sie verlieren dieselben beim Reifen. Das erste Jahr hatten fast alle Aehren, mit sehr we- nigen Ausnahmen, diesen Cha- rakter; das zweite Jahr war aber bereits die Hälfte unbe- srannt, und im dritten Jahre bildeten die grannenlosen die grosse Mehrzahl; sie wichen von der ursprünglichen Form auch durch den hornigen statt meh- ligen Bruch ihrer Körner ab, Um nun die Ursache dieser Entartung zu ermitteln, hat Rıster auf einem Felde ab- wechselnd Reihen von Galland- Weizen und grannenlosem Wei- zen gesäet; es zeigte sich, dass der erstere von der Winter- kälte mehr leidet als der letztere, und dass seine Reife um 8—14 Fig. 21. 4 Behaarter Landweizen, Rıvert's Tage später eintritt; diese beiden Grannenweizen oder Rauhweizen, nebst ge- 2 . wöhnlichem, grannenlosem Landweizen B. Unterschiede reichten aus, um den anfänglich geringen Bei- mischungen im ersteren Versuch innerhalb drei Jahre das Ueber- gewicht zu verschaffen. Rımpau’s Beobachtung gilt dem Rauhweizen (RıvErr’s Bearded, Fig. 21 A), von welcher Sorte oft behauptet wird, dass sie leicht 1! Der Weixzenbau von Eusc. RısLer, übersetzt vom Amtsrath W. Rımrau, Thaer-Bibliothek. P. PArzey. 1888. S. 73—74. Das Acelimatisiren. ek untermischt sind. Bei Reinzüchtung erhielt sich die Form in Rım- pau’s Versuchen in Sachsen aber rein, wie sie sich in Schottland über 100 Jahre constant erhalten hat. „Da er aber leichter als irgend ein anderer bei uns angebauter Weizen durch den Winter leidet und sich später als andere Sorten im Frühjahr entwickelt, so ist es sehr begreiflich, dass alle zufälligen Beimischungen, die ja im Grossbetriebe unvermeidlich sind — vor allem durch den Stallmist —, sich viel reichlicher vermehren und bald das Uebergewicht bekommen.“ Acclimatisationsversuche sind für wissenschaftliche Zwecke also nur dann brauchbar, wenn die Gefahr von Kreuzungen oder von Ent- artung durch zufällige Beimischung der Landessorten völlig aus- geschlossen ist. Die besten Beispiele sind von SCHÜBELER, theils nach seiner eigenen Erfahrung, zusammengestellt.” Sie beziehen sich vorwiegend auf die Acclimatisation von Mais und anderen Getreidearten an höhere Gebirgsgegenden oder mehr nördlich liegende Provinzen, mit anderen Worten auf die Verschiebung der arctischen und Höhegrenzen der Getreidecultur. Diese gelingt im Allgemeinen dadurch, dass man die Vegetationszeit verkürzt und dementsprechend auch mit einer etwas geringeren Ernte zufrieden ist. Für den Hühner-Mais gelang es z.B. innerhalb fünf Jahren die Dauer des Lebens von vier auf drei Monate zu verkürzen. Aehnlich mit Roggen und Weizen u.s.w. Da in den ersten Jahren der Cultur nur die zuerst blühenden Individuen ihre Samen reifen, so genügt offenbar eine unbewusste Zuchtwahl, um das Ziel zu erreichen. In derselben Weise hat man bekanntlich die Blüthe- zeit des Chrysanthemum indieum theils bis zum Juli verfrüht, theils bis in den Februar verspätet. Aehnliches gilt von zahlreichen anderen Blumensorten, von den verschiedenen Varietäten von Kürbissen u. s. w. Aber sehr viel weiter gehen die zuverlässigen Erfahrungen über Acclimatisation nicht;? und neue Artmerkmale sind dabei wohl sicher nie entstanden. ! In schlechten Jahren vermehrt sich bekanntlich die Avena fatua gewaltig unter dem Hafer; sie giebt keine Ernte. Gopron, De ÜEspece. 1. p. 163. 2 SchüBELER, Die Pflanzenwelt Norwegens. 1875. In., Die Qulturpflanzen Norwegens. 3 Eine Uebersicht giebt die vorzügliche Abhandlung J. Costanrin’s, Aecco- modation des plantes aux climats froid et chaud. Bull. Scientif. de GIArD. FOX 1897. p. 489, 72 Selection führt nicht zur Entstehung von Artmerkmalen. $ 11. Die Zuckerrüben. Weitaus das schönste Beispiel eines künstlichen Selections- verfahrens liefern die Zuckerrüben. Bei keiner anderen Culturpflanze hat die Technik der Zuchtwahl eine so hohe Ausbildung erhalten als hier; bei keiner wird die Methode so ausnahmslos und so ziel- bewusst betrieben. Zuckerrübensamen, welche ohne Selection ge- wonnen sind, werden wohl überhaupt nicht mehr verbaut. Der Beginn einer Auslese nach Zuckergehalt fand um das Jahr 1850 statt. Was innerhalb eines halben Jahrhunderts durch fort- währende Zuchtwahl nach einer und derselben Richtung und mittels sich stets verbessernder Methoden erreicht werden kann, kann also an diesem Beispiel beurtheilt werden. Gross sind die Fortschritte: der mittlere Gehalt der Betriebs- rüben, der anfänglich etwa 7—8°/, betrug, erreicht jetzt ganz all- gemein den doppelten Werth. Form, Grösse und Gewicht, Bau der Blattkrone, aber vor Allem der an holzigen Bestandtheilen arme ana- tomische Bau haben ebenso wichtige Veränderungen erfahren, und die Rübe immer für die Zwecke der Fabrik tauglicher gemacht. Dieses alles ist durch systematische Auslese der vorzüglichsten, von der gewöhnlichen individuellen Variation gelieferten Individuen erreicht. Spontane oder Sprungvariationen haben daran keinen An- theil gehabt. Ebenso wenig Kreuzungen. Der ganze Process liegt uns hier in reinster Form vor. Es ist hier nicht der Ort, weder das Genie Lovıs VILMORIN’s, des Begründers dieser Methode, noch die Leistungen seiner zahl- reichen, namentlich deutschen Nachfolger zu loben. Ebenso wenig habe ich die wundervolle Vollkommenheit des technischen Processes zu schildern, der es gestattet, innerhalb weniger Wochen von mehreren 100000 einzelnen Rüben die Polarisationszahlen zu ermitteln. ! Ganz im Gegentheil habe ich zu versuchen darzuthun, wie gering diese technisch so grossartigen Leistungen für die rein biologische Frage nach der Art und Weise der Entstehung der Arten sind. Für die Selectionstheorie würde es auf botanischem Gebiete kein besseres Beispiel geben können. Dennoch ist hier nichts erreicht, was der Entstehung einer neuen Art auch nur entfernt Ähnlich wäre, oder was auch nur in uns die Hoffnung erwecken dürfte, dass auf diesem ! Ich möchte meinen wissenschaftlichen Lesern namentlich das Studium der kurzen und klaren Broschüre Prof. Kurr von Rünker’s empfehlen: Die Zucker- rübenxüchtung der Gegenwart. (Blätter für Zuckerrübenbau. 1894. S. 1—48.) Die Zuekerrüben. U könnte. Selbstverständlich spreche ich nicht über die Entstehung der Zuckerrübe selbst. Woher sie kommt, wissen wir ebenso wenig, als woher die übrigen Rübensorten stammen. Die Römer hatten wahr- scheinlich nur zwei Sorten, welche sie als Gemüse genossen, und von denen man nicht einmal weiss, ob sie dieselben cultivirten oder in wildem Zustande aufsuchten. Im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts gab es sehr zahlreiche Sorten. Sind sie aus jenen älteren in der Cultur entstanden, oder als verschiedene Unterarten in der Natur vorgefunden ? Man weiss es nicht. Ueber ihre gemeinschaftliche Abstammung braucht kein Zweifel zu bestehen, ob sie aber vor der Cultur oder während der Cultur entstanden sind, bleibt unbekannt. Die Zuckerrübe, mit der VILMORIN vor einem halben Jahrhundert begann, ist einfach als gegeben zu betrachten; was seitdem daraus entstanden ist, ist das Resultat der künstlichen Selection. VırmorIN hatte bereits seit 1830—1840 seine Rüben nach der äusseren Form ausgewählt. Im Jahre 1851 untersuchte er gelegentlich den Zuckergehalt der einzelnen Rüben und fand, dass dieser von 7—14°/, wechselte, doch liess die damalige, umständliche Bestimmungs- methode die Ermittelung dieser Zahl für nur verhältnissmässig sehr wenige Exemplare zu. Er entschloss sich sofort, die Samen der besten Rüben getrennt auszusäen, suchte diese nach ihrem specifischen Gewicht in Salzlösungen aus, und erhielt bereits in der zweiten Gene- ration Rüben mit 21°/, Zucker.! Diese Zahlen (”—14—21°/,) sind für uns sehr wichtig. Aller- dings lassen sie sich nicht sehr genau mit den Ergebnissen der neueren Untersuchungen vergleichen, da die Methode, namentlich seit der allgemeinen Anwendung der Polarisation, in hohem Grade be- quemer und schärfer geworden ist. Es ist aber eher anzunehmen, dass VILMORIN zu wenig Zucker fand, als dass er zu grosse Zahlen erhalten habe. Erst im Jahre 1874 hat man angefangen, die Rüben zu polari- siren und nach dem Ergebnisse dieser Methode auszuwählen. Der normale Gehalt war damals 10—14°/,. In schlechten Jahren meist im Mittel 10°/,, in guten Jahren 12—14°/,.? Abweichungen bis 9,5°/, und 17,5°/, waren nicht selten.” Von 1878—1881 breitete sich das 1 L. L£fv£aue DE VıLmorın, Notices sur !’amelioration des plantes par le semis. 2. Ed. 1886. Vergl. namentlich S. 27. 2 LanGetHAar, Landwirthschaftliche Pflanzenkunde. III. 1874. S. 69. 3 Jahresbericht der Zuckerindustrie. Bd. 9. S. 39 ff. 74 Selection führt nicht zur Entstehung von Artmerkmalen. Polarisationsverfahren in Deutschland und Oesterreich allgemein aus; ich nenne nur die Namen von Dirrz in Quedlinburg, Rımpau, Heise und die Kleinwanzlebener Fabrik. Es fand ein stetiger, wenn auch langsamer Fortschritt statt. In den meisten Fabriken werden die Rüben nur vergleichsweise untersucht, indem nur für die besten die Polarisationszahl direct er- mittelt wird. In der Fabrik der Herren Kunn & Co. in Naarden (Holland) wird aber jährlich für etwas über 300 000 Rüben diese Zahl einzeln bestimmt. Durch die Güte der genannten Herren erhielt ich im Jahre 1896 die Zahlen von 40000 Rüben; sie lieferten mir eine sehr schöne Öurve, deren Gipfel auf 15,5°/, lag (Fig. 22). Nach diesen Zahlen findet die Selection statt, und zwar derart, dass stets eine genü- gende Menge von Rüben für den Samenbau erhalten wird. Das Ergebniss der Polarisation bestimmt also die Grenzen der \ (Gruppen. Ich theile einige \ Zahlen für 1892 mit. Rüben N mit weniger als 14°/, wurden N nicht für die Samengewinnung x ausgepflanzt. Diejenigen mit a De 14—16°/, bildeten die Samen- er 13 125 1 MS 15 185.16 185 17 125 H a träger für den Verkauf der Fig. 22. Zuckergehalt von 40.000 Rüben.' Samen, es waren deren etwa 20—30 auf je 100 polari- sirte Rüben. Diejenigen mit 16—18°/, waren die Samenträger für die eigene Rasse, die sogenannte Elite, aus deren Samen die Rüben gewonnen wurden, welche in der nächsten Generation polarisirt werden sollten. Höhere Zahlen als 18°/, lieferte das Jahr 1892 in der ge- nannten Fabrik nur vier (auf 180000 Polarisationen). Seitdem wurde | ! Die betreffenden Polarisationen sind vom 23. Januar bis zum 5. Februar 1896 ausgeführt, und ergaben die folgenden Zahlen: 0/, Zucker: 12 12,5 13 13,5 14 14,5 15 15,5 16 165 17 17,5 18 18,519 Indiv.: 340 635 1192 2205 3597 5561 7178 78329 6925 4458 2233 692 133 14 5 Die Individuen mit weniger als 12°/, sind in dieser Reihe nicht aufgenommen. — Die unterbrochene Linie stellt das Gesetz von QUETELET für (a + b)?° dar; die Abweichung auf der linken Seite ist vielleicht zum Theil einzelnen fehlerhaften Rüben zuzuschreiben. eh Die Zucekerrüben. 75 die jährliche Anzahl der Polarisationen, wie bereits bemerkt, auf etwa 300 000 gebracht, und ist die obere Grenze bis 21°/, herangestiegen; auch die übrigen angegebenen Grenzen konnten entsprechend erhöht werden. Die Betriebsrüben, welche aus dem Verkaufssamen im Grossen aufgehen, enthalten im Mittel etwa 13—14°/, Zucker. Ohne die hohe landwirthschaftliche Bedeutung dieser Ergebnisse irgendwie zu verkennen, leuchtet es doch ein, dass die beschriebene Verbesserung in Bezug auf die Theorie der Entstehung von Artmerkmalen nur einen ganz geringen Anhaltspunkt giebt. Ob nach einer Selection von fünfzig Jahren (also 25 Generationen) die obere Grenze des Variationsspielraumes wesentlich verschoben ist, ist kaum mit Sicher- heit zu entscheiden. Zufällig bildet bei Vırmorın (1853) und auf der Fabrik zu Naarden (1892—1898) dieselbe Zahl: (21 °/,) die obere Grenze, doch giebt es andere Rassen, unter anderen Bedingungen der Cultur, deren Grenze bis zu 26°/, angegeben wird. Der grössere Umfang der jetzigen Zuckerbestimmungen liefert aber an sich eine Aussicht auf höhere Maxima. Der mittlere Ertrag der Aecker hat ganz gewiss bedeutend zu- genommen, von 7—8°/, bis auf 14—16°/, und mehr. Diese Ver- besserung ist aber vom Fortdauern der Selection abhängig; sie wird nur durch diese auf einer solchen Höhe erhalten. Jeder Zucker- fabrikant weiss, dass die Selection unerlässliche Bedingung einer be- friedigenden Ernte ist. Allerdings werden zur Vermehrung des Samen- ertrages sogenannte Zwischengenerationen zwischen der Polarisation und dem Verkauf eingeschoben; von diesen darf man aber nur eine oder höchstens zwei haben, sonst würde der Nutzen des Polarisirens und Selectionirens völlig verloren gehen. Irgendwie unabhängig von der Züchtung ist die Verbesserung nicht; im Gegentheil ist eine weitere Vervollkommnung der Polarisationsmethode und überhaupt die grösst- mögliche Anstrengung von Seiten der Züchter durchaus erforderlich, um den gestellten Anforderungen genügen zu können. Langsam und stetig ist seit dem Anfange des Polarisations- verfahrens die Zuckerrübe verbessert worden. Nicht aber dadurch, dass die Selection ein Merkmal auf die Dauer zu bedeutend höherer Ausbildung bringen würde als in einigen wenigen Generationen. Wenigstens lässt sich diese Behauptung aus den Erfahrungen auf diesem Gebiete nicht beweisen. Ursache des Fortschrittes ist offenbar die stetige Verbesserung der Selectionsmethode gewesen. Erstens dadurch, dass die zu wählenden Rüben selbst polarisirt wurden mittels der bekannten Bohreylinder; — VILMORIN und seine ersten Nachfolger mussten noch jede zu untersuchende Rübe ganz der 76 Selection führt nicht zur Entstehung von Artmerkmalen. chemischen Bestimmung opfern, und wählten daneben, nach dem specifischen Gewicht, für die Cultur, Zweitens durch die Auswahl aus stets grösseren Gruppen, welche ja jetzt auf den besten Fabriken jährlich einige 100000 einzelne Rüben umfassen. Und in der grösseren Menge wird sich auch selbstverständlich eine grössere Anzahl aus- gezeichneter Individuen vorfinden. Die Rüben werden nicht nur nach dem Zuckergehalt, sondern auch nach äusseren Merkmalen selectirt. Solches geschieht auf dem Felde, bei der Ernte, also vor der Polarisation. Es wird dabei auf vielen Fabriken etwa °/,, verworfen, während nur etwa !/,, behalten wird. Die Züchter sind überzeugt, dass im Grossen und Ganzen jene °/, auch die in Bezug auf Zuckergehalt minderwerthigen In- dividuen umfassen, dass also durch diese Vorwahl auch auf den Zuckergehalt ein verbessernder Einfluss ausgeübt wird.! Bei dieser Vorwahl giebt man zuerst Acht auf die Blätter; ihre Form, Grösse, der Winkel, den sie mit der Vertikale bilden sowie ihre Beschaffenheit in Bezug auf Assimilation, Verdunstung und Ableitung des Regenwassers u. s. w. sind zu berücksichtigen. Die einzelnen Sorten von Zucker- rüben, in denen diese Wahl nach verschiedenen Principien stattfindet, sind an ihrer Krone auf dem Felde bereits zu erkennen, so nament- lich die VILmorIn’s. Sehr wichtig ist die Form der Wurzel, welche namentlich unverzweigt sein soll; je gleicher die Wurzeln unter sich sind, um so besser geschieht in der Fabrik ihre Reinigung. Höhe und Breite des Stengeltheiles oder des sogenannten Kopfes und zahl- reiche andere Punkte sind noch zu berücksichtigen. Namentlich auch die (srösse, resp. das Gewicht der ganzen Rübe. Einzelne Züchter geben nebenbei auf nebensächliche Merkmale Acht, wie z. B. auf die mehr oder weniger röthliche Farbe in der Jugend, in der Absicht, ihre Rasse auf den Aeckern leicht von anderen kenntlich zu machen. Trotz aller Anstrengung und Sorgfalt muss man auf allen diesen Punkten in jeder einzelnen Generation sehr genau aufmerksam sein. Keine Eigenschaft kann der Selection entbehren. Und die Nicht- beachtung der einzelnen Vorschriften würde bald einen Rückschritt der ganzen Rasse verursachen. „Jede Pflanzenrasse besitzt nur eine verhältnissmässig geringe Beständigkeit,“ und gerade darin unterscheidet sich die veredelte Rasse von einer Art. Dieser bereits oben citirte Ausspruch v. RüMkERr’s? ! v. RÜmker, Zuckerrübenzüchtung. 8. 5. ? v. Rünker, Der wırthschaftliche Mehrwerth. 1. ec. S. 136. Die Getreidearten. TE giebt der Bedeutung der landwirthschaftlichen Erfahrungen auf dem Gebiete der Selection für die Descendenztheorie wohl am klarsten und am schärfsten Ausdruck. $ 12. Die Getreidearten. Neben den Zuckerrüben bilden die Getreidearten den wichtigsten Gegenstand für das Studium der wissenschaftlichen Bedeutung der praktischen Erfahrungen auf dem Gebiete der Selection. Doch liegen hier die Verhältnisse schon viel weniger klar und einfach. Erstens hat die neuere Öultur mit einer sehr grossen Anzahl von Sorten angefangen, deren Ursprung man nicht kennt. ‚Jede grössere oder kleinere „Art“ umfasst mehr oder weniger zahlreiche solche Sorten. Zweitens ist es eine Hauptaufgabe der rationellen Cultur, diese Sorten so viel wie möglich mit einander zu kreuzen, und ihre verschiedenen Eigenschaften derart mit einander zu verbinden, als es für die Anforderungen jeder einzelnen Cultur am vortheilhaftesten ist. Von vielen solchen Bastarden kennt man die Herkunft nicht, oder es sind die bezüglichen Angaben unvollständig oder unsicher. Die Vorzüglichkeit und der grosse Formenreichthum unseres Getreides sind somit nur zu einem kleineren Theile als Folgen der Selection zu betrachten. Vox RÜMkER unterscheidet in seinem ausgezeichneten Werke: Anleitung zur Getreidezüchtung, zwischen empirischer und methodischer Zuchtwahl.! Die empirische Zuchtwahl ist das all- gemeine Verfahren, das jeder intelligente Landwirth ausüben sollte, und dem gewisse Gegenden, wie vor Allem die Probstei, ihren Ruhm und die fast gänzliche Verwerthung ihrer Getreideernte als Saatgut ver- danken. Die empirische Zuchtwahl wählt wenigstens das beste Stück der Aecker, um darauf die Saat für das nächste Jahr zu ernten. Oder die Ernte wird erdroschen, die grössten und schwersten Körner werden zur Saat aufbewahrt, indem sie durch Sieben, mit der Hand oder mit Centrifugen vom übrigen, minderwerthigen Theile getrennt werden. Drittens sortirt man nach den Aehren, indem man beim Mähen die schönsten und schwersten Aehren, welche vom festesten Halme ge- tragen werden, in solcher Menge bei Seite legt, dass sie gerade das erforderliche Saatgut für das nächste Jahr liefern können. 1 Dr. Kurr v. Rünker, Anleitung zur Getreidezüchtung auf wissenschaftlicher und praktischer Grundlage. Berlin 1889. Vergl. auch RısLer-Rınpau, Der Weixen- bau in der Thaer-Bibliothek. 188. 78 Selection führt nicht zur Entstehung von Artmerkmalen. Die empirische Zuchtwahl hat zuerst den Zweck, die Sorten rein zu halten, und die gar zu leicht eintretende Entartung durch Bei- mischung minderwerthiger Sorten (vergl. S. 70) zu verhindern. Bereits aus diesem Grunde sollte sie nie unterlassen werden. Dann aber hält sie die durch Zuchtwahl verbesserten Sorten auf ihrer Höhe; ohne sie würde die Sorte stets zurückgehen, und würde der Ankauf von neuem Originalsaatgut nur zu häufig nöthig sein. Endlich passt sie die Sorten an die localen Bedingungen der Cultur an; diese sind, in Rücksicht auf Boden, Klima, Düngung u. s. w. fast überall verschieden. In gewissen Gegenden (Probstei, Ostsee, Hanna, Tirol) wird die empirische Zuchtwahl im Grossen und fast von der ganzen Getreide bauenden Bevölkerung regelmässig betrieben, oft seit mehr als einem Jahrhundert. Sie verkaufen demzufolge ihre ganze Ernte zu hohen Preisen als Originalsaatgut. Um ihren Sorten aber den guten Ruf zu bewahren, muss die Selection ohne Aufhören fortgesetzt werden. Ob dadurch die Rassen jetzt noch fortschreiten, lässt sich sehr schwer beurtheilen, namentlich da von Zeit zu Zeit durch Verbesserung der verschiedenen Selectionsverfahren wirkliche Zunahmen der Erträge erreicht werden. Eine von der Selection unabhängige Rasse ist aber bis jetzt in dieser Weise nicht entstanden. Die methodische Zuchtwahl beruht auf einem ganz anderen Princip. Sie wird von einzelnen hervorragenden Züchtern ausgeübt und hat den Zweck, neue Rassen von hohem Culturwerth in den Handel zu bringen. Jede solche Rasse besteht aus zwei Theilen. Erstens der Stammbaum (Pedigree) oder die sogenannte Elite, und zweitens das Saatgut für den Verkauf und für den Betrieb. Der Stammbaum einer jeden solchen Rasse wird von ihrem Züchter auf seinem Gute gehalten, er umfasst jährlich nur wenige oder nur wenige Hunderte von Individuen, welche aus den auserlesenen besten Samen der vorigen Generation hervorgegangen sind, und aus deren Samen wiederum nur das allerbeste zur Aussaat und zur Fort- setzung des Stammes gewählt wird. Die Handelsrasse ist nicht im eigentlichen Sinne des Wortes eine Rasse, denn ihre einzelnen Gene- rationen gehen nicht aus einander hervor. Es sind jedesmal Seiten- zweige des Hauptstammes, dessen Ernte nach Ausschuss der Elitesamen (und andererseits nach Verwerfung etwaiger minderwerthiger Körner) auf besorideren Aeckern während meist 2—3 Generationen vermehrt wird, um dann das Saatgut für den Handel zu bilden. In jedem folgenden Jahre baut der Grossbetrieb somit einen neuen Zweig des kleinen Hauptstammes an; die Verbesserungen in diesem kommen also stets erst nach 2—3 Jahren in der Grosscultur zur Verwerthung. Die Getreidearten. 19 Es geht hieraus in einfacher Weise hervor, dass die Rasse nie von der Zuchtwahl unabhängig wird, wie eine wirkliche Art oder Unterart. Auch beim Getreide giebt es ganz vorzügliche Unterarten, welche nicht durch Selection entstanden sind, wie z. B. die älteren Sorten PATRICK SHERRIFF’'s; diese sind von der Zuchtwahl unabhängig, und oft so vortrefflich, dass sie von dieser auch nicht zu verbessern sind, wie z. B. der Zalavera-Weizen. Es ist somit zwischen Arten oder Unterarten und Rassen stets scharf zu unterscheiden. In der Grosseultur gehen die Rassen zurück, um so mehr, je höher der Grad ihrer Veredelung war; die betreffenden Samen dürfen nur ausnahms- weise als Saatgut verwandt werden.! Es giebt in der methodischen Zuchtwahl zwei wesentlich verschiedene Richtungen. Ihre hervor- ie 7 Sehen der ragendsten Vertreter sind Haruer in Brighton Beziehung zwischen (England) und W. Rımrau in Schlanstedt (Sachsen), der Eliterasse und der jetzt in Langenstein. Ich will versuchen, so weit sogenannten Handels- rasse. Die ausgezoge- es der Raum gestattet, eine kurze Uebersicht über ne Linie (#—E) stellt ihre Methoden zu geben. HALLET? cultivirt seine Stammrasse unter mög- lichst guten Bedingungen, indem er überzeugt ist, dass Düngung, freier Stand und überhaupt günstige Lebensumstände die gewünschten Variationen hervor- rufen. Beim Anfang einer solchen Cultur sucht den Stammbaum der Eliterasse in den auf- einander folgenden Jahren vor, die punk- tirten Seitenzweige liefern direct, oder nach 1—-2 jähriger weiterer Vermehrung die Handelswaare. er auf dem besten Felde der betreffenden Sorte eine Aehre als die schönste aus, und säet deren einzelne Körner in guter Gartenerde möglichst früh und in grossen gegenseitigen Ent- fernungen aus. Er erhält dann schwere reichverzweigte Pflanzen, mit bis 100 Stengeln und bis 3000 Körnern pro Pflanze, und im Mittel etwa 100 Körnern pro Aehre. Dieser gewaltige Vorsprung dient ihm zur Verbesserung der Rasse, er geht aber selbstverständlich wieder verloren, wenn später die neue Rasse wieder auf dem Felde unter normalen Umständen cultivirt wird. In der Stammesrasse bleibt er. In dieser wird jährlich die beste Pflanze und auf dieser die beste Aehre mit vieler Sorgfalt ausgesucht; nur von dieser einen ! Ich komme hierauf in $ 14 dieses Abschnittes ausführlicher zurück. ®2 Freoerıc F. Harıer, On Pedigree-Wheat as a means of increasing crop. Journal of the Royal. Agricult. Soc. Febr. 1862. so Selection führt nicht zur Entstehung von Artmerkmalen. Aehre wird weiter cultivirt. Es finden dadurch regelmässige Fort- schritte im Ertrag statt und diese, behauptet HAuuEr, bleiben später der Grosscultur in ihrer Leistungsfähigkeit erhalten. _ a 99 9.9.9 Fig. 24. Genealogischer Weizen, HALLET’s Pedigree- Wnheat, von der breiten und von der schmalen Seite ge- sehen. Daneben bei « Kör- ner aus solchen Aehren und bei 5 von gewöhnlichem Weizen (vergl. Fig. 21 S. 70). Im Versuchsgarten lässt sich nun zwar die Verbesserung constatiren, nicht aber ent- scheiden, ob diese auch in der Grosscultur sich als solche ergeben wird. Dieses lehren die jährlich abgehenden Seitenzweige, in denen der Samen für den Verkauf, wie oben be- schrieben, vermehrt wird. Nicht alle Culturen gelingen (z. B. Original red wheat), aber nur über die gelungenen werden ausführliche Mit- theilungen gemacht. Den Fortschritt seiner Rassen lehrt am besten das praktische Ergebniss. Wissen- schaftlich brauchbare Zahlen werden nur sehr wenige mitgetheilt. Mehrere seiner Züchtungen haben namentlich in England weite Verbrei- tung gefunden, wie z. B. HALLErT’s Pedigree- Wheat, Victoria white und Goldendrop, drei sehr berühmte Weizensorten. Bekannt sind ferner die Chevalier-Gerste und die Hafersorten Pedigree white Canadian oats und Pedigree black Tartarıan oats. HALLET giebt an, dass die Zunahme in jeder Rasse allmählich abnimmt, bis nach mehreren Jahren die Sorte ganz constant wird. Es bedarf dann aber selbstverständlich der unausgesetzten jährlichen Selection im Ver- suchsgarten, um sie auf der erreichten Höhe zu erhalten. Rımpau’s Methode ist eine ganz andere. Er cultivirt seine Stammrasse unter Umstän- den, welche den normalen Lebensbedingungen auf den Aeckern möglichst ähnlich sind. Nur stehen die Pflanzen etwas weiter und werden sie in jeder Hinsicht mit mehr Sorgfalt ge- pflegt. Im Anfang des Versuchs sucht er auf den Aeckern eine Handvoll der besten Aehren aus, säet diese auf einem besonderen I Pedigree alone has increased my crops from 25—30°/,. HaALLEr 1868. Die Getreidearten. sl kleinen Felde und sucht auf diesem jänrlich wieder die besten Aehren als Saatgut für die nächste Elite-Generation aus. Rımpau und von RÜMKER empfehlen ganz besonders, die durch auffallende äussere Umstände bevorzug- ten Pflanzen nicht für die Selection zu wählen, also namentlich nicht die Aehren an den Rändern der Aecker oder auf Geilstellen.! Ihre Eigenschaften seien, wenn auch noch so vorzüglich, nicht erblich. Ob diese, der Meinung HALLET’s entgegengesetzte Ansicht auf Versuchen beruht, finde ich nicht mitgetheilt. Aber die Nachkommen der Aehren des Acker- randes und der Geilstellen würden für ihre vollkommene Ausbildung ähnliche Anforderungen an Raum und Boden stellen, und es kommt gerade darauf an, eine Rasse zu erzeugen, welche sol- chen ausnahmsweisen Bedingungen nicht angepasst ist. Denn die Veredelung der Rassen besteht ja im Allgemeinen ganz wesentlich in der Anpassung an besondere Lebensmedien; die grosse Bedeutung der hochveredelten Rassen liest gerade darin, dass sie die gegenwärtig so viel reiche- ren Düngungen besser auszunützen ver- stehen, als die alten Landessorten. Jede Rasse taugt nur für die speciellen Be- dingungen, denen sie angepasst wurde; die Frage, wie weit sie sich in der Grosscultur verbreiten wird, hängt na- En a | mentlich davon ab, über MINSEU a Gegenden sie diese Bedingungen zurück- 5 Körmer dieser Rasse; e gewöhn- finden wird. liche Roggenkörner bei gleicher Rımpau’s Methode bietet also eine grössere Aussicht, als diejenige HALuer’s, eine taugliche Rasse zu gewinnen. Dafür braucht sie aber auch eine längere Zeitdauer, um ihren Erfolg zu erreichen. Und auch bei ihr gelingt bei Weitem nicht jeder Versuch. So erwähnt Rımpau z.B. speciell, dass er sich N j R 4 1 y. RÜnker, Getreidezüchtung. 1889. S. 58. DE VRIES, Mutation. I. 6 S2 ‚Selection führt nicht zur Entstehung von Artmerkmalen. vergeblich bemüht habe, den braunen sächsischen Landweizen nach seiner Methode zu verbessern. ! Sehr berühmt ist Rımpau’s Schlanstedter Roggen (Fig. 25) geworden.” Dieser Versuch fing 1867 an. Als ich 1876 Herrn Rımpauv auf seinem Gute Schlanstedt besuchte und er mir die Stammescultur zeigte, lieferte diese ihm bereits das Saatgut für nahezu seine ganze Domäne. Und seit 1886 setzt sie ihn in die Lage, seine ganze Ernte als Saatgut zu verkaufen.” Seitdem fand die Rasse sowohl in Deutschland, als auch im Norden Frankreichs allgemeine Anerkennung und Verbreitung,* jetzt gehört sie anerkanntermaassen zu den allerbesten europäischen Getreidesorten.? Aehren und Körner sind etwa doppelt so gross, wie bei anderen Roggensorten; sie reifen etwas früher und liefern, was die Hauptsache ist, pro Hectar einen wesentlich grösseren Ertrag. Unaufhörliche Selection und gute Düngung sind aber auch hier die Bedingungen, um die Rasse auf der erreichten Höhe zu erhalten. „Düngergierigkeit“ ist nach RısLER-RımpAuU sogar ein Merkmal ver- edelter Rassen, im Gegensatz zu den constanten Varietäten. ® Es würde sich sehr lohnen, die Erfahrungen der Züchter aus- führlicher zu behandeln, und im Einzelnen zu zeigen, welche Anhalts- punkte sie bieten für die Lehre von der Entstehung der Arten. Ich muss aber hier darauf verzichten, obgleich sowohl die citirten Werke, als eine Reihe anderer Schriften manchen brauchbaren Versuch und manche gute Beobachtung enthalten. Vielleicht finde ich später Ge- legenheit, darauf zurück zu kommen. Auf die Versuche von HENRI DE VILMORIN, BESELER, HEINE, Mox&RY, DRECHSLER, DIPPE, VON PROSKOWETZ u. A. sei hier nur hin- gewiesen; sie führen alle zu der Ueberzeugung von dem tiefgreifenden Unterschiede zwischen Rassenverbesserung und der Bildung neuer Sorten oder Unterarten. Letztere werden aufgesucht und auf ihre Constanz geprüft, erstere werden von hochgebildeten, genialen Männern mit grosser Anstrengung und Ausdauer geschaffen. ! Rısrer’s Weizenbau. 8. 66, Anmerkung. ® v. RüngEr, Getreidezüchtung. 8. 74. Weizenbau. S. 65—66. * ScurıBAux, Seigle de Schlanstedt, Almanach dw Qultivateur. 1892. p. 66. 5 Vergl. z. B. den Samen-Catalog von VILMorRIN-AnDRIEUx in Paris. 6 Weizenbau. S. 80. ” Die Grenzen des durch die Selection Erreichbaren. 83 $ 13. Die Grenzen des durch die Selection Erreichbaren. Die Selection führt nicht zur Entstehung von Artmerkmalen.! Sollte es mir gelungen sein zu zeigen, dass auf dem Gebiete der Pflanzenzüchtung dieser Satz den Thatsachen entspricht, so wäre damit ‘die wesentlichste Stütze für die Selectionstheorie erschüttert. Ich möchte deshalb die wichtigsten Punkte meiner Beweisführung hier in kurzen Sätzen zusammenfassen. 1. Die lineare Variation. Die statistische Untersuchungs- methode der Variabilität wird jetzt so allgemein betrieben, dass ihre Prineipien wohl ohne Weiteres als bekannt und anerkannt behandelt werden dürfen. Hauptprincip bei der Ermittelung der Curven ist aber, dass die Eigenschaften nur nach zwei Richtungen variiren, nach Plus und nach Minus. Die alte, vage Vorstellung einer allseitigen Variabilität der einzelnen Charaktere ist wie von selbst verschwunden. Sowohl die Eigenschaften, welche nach Maass und Gewicht bestimmt werden, als auch jene, welche den Inhalt der meristischen Varia- bilität ausmachen und welche nach der Anzahl gleichnamiger Theile gemessen werden, folgen diesem Grundgesetze. Das Bestehende kann verringert oder vergrössert werden, Neues entsteht aber dabei nicht. Die Differentiation der Organismen beruht aber im Grossen und Ganzen auf der Entwickelung neuer Eigenschaften; sie findet somit das erforderliche Material nicht in der linearen Variation der bereits vorhandenen Merkmale. 2. Die Dauer des Fortschrittes. Ganz unbegründet ist die Meinung, dass die lineare Variation in dem Sinne eine unbeschränkte sei, dass durch die Selection im Laufe der Jahrhunderte oder der Jahrtausende wichtigere Umgestaltungen zu Stande gebracht werden könnten, als im Laufe einiger weniger Jahre. Es handelt sich selbst- verständlich um die Verbesserung jedes einzelnen Merkmales für sich betrachtet. Dazu aber sind vielmehr unter günstigen Bedingungen 2—3, unter gewöhnlichen aber 3—5 Generationen völlig ausreichend. Weiter fortgesetzte Selection dient einfach, um die Rasse auf der ein- mal erreichten Höhe zu erhalten, falls nicht besondere Umstände ein- treten (vergl. Satz 6 und 7). 3. Die Grenze der Selection. Allerdings giebt es bei der Selection genau ebenso wenig eine scharfe Grenze, als bei der linearen ! Beim Menschen sind abnorme Merkmale fluctuirend, sie verschwinden wieder, es entsteht keine monströse Varietät. Vergl. KoLımann im Correspondenz- blatt d. deutsch. Ges. f. Anthropologie. 1900. Nr. 1. 8. 3. 84 Selection führt nicht zur Entstehung von Artmerkmalen. Variabilität selbst. Die Grenzen der letzteren kann man „erweitern“, indem man die Anzahl der untersuchten Individuen vergrössert; es braucht aber hundertfache Vergrösserung dieser Zahl, um eine irgend- wie erhebliche Verschiebung der Grenzen zu beobachten. Ebenso bei der Selection, welche ja wesentlich den Vortheil hat, die Zahl der zu untersuchenden Individuen durch Ausschluss der minderwerthigen zu verringern. Man findet bisweilen die Ansicht vertreten, dass durch die Se- lection in bestimmter Richtung die Variabilität in dieser Richtung zunehmen würde. Beobachtungen oder genauere Angaben darüber fehlen, aber durch den Ausschluss der minderwerthigen Exemplare entsteht leicht scheinbar eine solche Zunahme. In den genauer be- kannten Fällen findet aber stets das Gegentheil statt, der Fortschritt wird bald schwieriger, um allmählich aufzuhören. Die Meinung Darwmw’s, dass Pflanzen in den ersten Jahren, nachdem sie in Cultur genommen wurden, allmählich stärker varliren, beruht wohl theils auf dem zunehmenden Umfang der Cultur, theils auf dem Auffinden bis dahin übersehener oder latenter! Unterarten. 4. Die Regression. Auf jede Selection folgt eine Regression, um so grösser, je schärfer die erstere war. Mag die Selection auch noch so lange anhalten, dieser stetige Rückschritt lässt nicht nach. Anscheinend geht jedesmal mehr als die Hälfte des Fortschrittes ver- loren. Auch verschiebt sich dabei der Nullpunkt der Scala, d.h. der mittlere Werth der betreffenden Eigenschaft, so weit wir wissen, nicht; die Regression zielt immer wieder auf die ursprünglichen Artmerkmale. Doch komme ich hierauf im nächsten Paragraphen zurück. Im Allgemeinen kann man sagen, dass im besten Falle nicht viel mehr als eine Verdoppelung, oder andererseits als eine Halbirung des ursprünglichen Werthes erreicht wird. Meistens muss man mit viel geringeren Verbesserungen zufrieden sein.” Das auffallendste Bei- spiel der Variabilität, die Zunahme der Fleischigkeit von Früchten und Wurzeln, bildet nur eine scheinbare Ausnahme. ? 5. Unbeständigkeit der Rassen. Die Hauptdifferenz zwischen veredelten Rassen und Arten, auch den kleinsten elementaren Arten, ist die Unbeständigkeit der ersteren und die Beständigkeit der letzteren. Die durch Züchtung entstandene Rasse wird nur durch Züchtung ! Vergl. den betreffenden Abschnitt im zweiten Bande. ® Vergl. auch die entsprechenden Zahlen bei WaALrAcE, Darwinism. 8. 81. ® Die Holzäpfel sind mehr als halb so gross als unsere meisten Speiseäpfel. Die Grenzen des durch die Selection Prreichbaren. 85 aufrecht erhalten; es kostet dieselbe Mühe, sie zu erhalten, als sie auszubilden. Hört die Züchtung auf, so hören auch die Rassenmerk- male auf, und zwar innerhalb etwa derselben Zeitdauer, welche für die Entstehung der Rasse erforderlich war, also innerhalb einiger weniger (Generationen. .6. Stetige Verbesserung der Selectionsmethode. Die Praxis bedarf im Allgemeinen eines steten Fortschrittes, theils zur wirklichen Verbesserung der Waare, theils als Handelsreclame, um nicht von Anderen überflügelt zu werden. Sie erreicht dieses mit verschiedenen Mitteln, unter denen die Verbesserung der Selections- methode und die Züchtung nach so vielen Merkmalen wie nur mög- lich für uns die wichtigsten sind. Jede Verbesserung in der Methode gestattet eine schärfere Auslese; bleibt nachher diese Auslese dieselbe, so bleibt auch die Grenze des Erreichten constant. 7. Allseitige Verbesserung. Wissenschaftliche Versuche sollten sich womöglich auf je eine einzige Eigenschaft beschränken. Aber die Gesetze der Correlation erlauben nur selten, diese Vorschrift genau zu befolgen. Und gleichfalls zwingen die Versuchsbedingungen zu einer Art unwillkürlicher Selection, ähnlich der sogenannten natür- lichen Auslese auf den Aeckern, oder sie lesen gar selbst aus, indem sie die stärkeren zur Blüthe gelangen lassen und die schwächeren nicht. Der praktische Züchter aber richtet sein Augenmerk auf möglichst zahlreiche Eigenschaften. Und dadurch wird es wesentlich bedingt, dass seine Versuche so viel länger dauern. Denn bei demselben Um- fange der Oultur braucht man, um auf zwei Merkmale zu züchten, genau doppelt so viele Generationen, als für eine einzige Eigenschaft, wie eine einfache Berechnung zeigen kann. Auf je mehr Charaktere man achtet, um so langsamer wird man sich also der endlichen (Grenze nähern. 8. Anpassung an besondere Culturbedingungen. Jede ver- edelte Rasse ist an specielle Lebensmedien angepasst, an Boden, Klima und Düngung. Sie sind daher sowohl local, als auch anspruchsvoll. Viele englische Rassen ertragen das deutsche Klima nicht; die meisten amerikanischen Obstbaumsorten gedeihen in England nicht, u. s. w. Viele Rassen taugen nur für kleine Gegenden oder sogar für einzelne Wirthschaften. In Bezug auf Boden und Dünger haben sie ihre ganz bestimmten Ansprüche, und nur wenn diesen genügt wird, darf man auf die versprochenen Ernten rechnen. Sie verhalten sich genau wie die localen oder Standortsrassen unserer wilden Gewächse. 9. Natürliche Auslese auf dem Acker. Diese Erscheinung, von so grosser praktischer Bedeutung, wird bei der wissenschaftlichen S6 Selection‘ führt nicht zur Entstehung von Artmerkmalen. Verwerthung der Ergebnisse gar häufig viel zu wenig berücksichtigt. Kälte, Fröste, Feuchtigkeit, dichter Stand, zu spätes Reifen u. s. w. züchten auf dem Acker ebenso tüchtig, wie der beste Züchter. Bis- weilen wirken sie mit ihm in gleicher Richtung, meist aber in ent- segengesetztem Sinne. Bei der Acclimatisation wirken sie häufig mit, indem sie nur die das neue Klima ertragenden Individuen schonen, ebenso bei der Reinerhaltung gewöhnlicher Landesrassen. Bei der Cultur besserer Sorten und der empirischen Zuchtwahl dürfte die Arbeit des Züchters zumeist wohl einfach darin bestehen, die schädlichen Wirkungen der natürlichen Auslese aufzuheben. Halten Natur und Kunst einander das Gleichgewicht, so bleibt die Rasse in derselben Tüchtigkeit erhalten. Bei der methodischen Zuchtwahl der hochveredelten Rassen wirkt die Natur fast ausschliesslich dem Züchter entgegen, indem sie stets die kräftigeren, minderwerthigen Individuen bevorzugt. Die Aufgabe des Züchters ist also erstens, seine Rasse zu erhalten, und zweitens, sie zu verbessern. $ 14. Das Verhalten der veredelten Rassen beim Aufhören der Selection. Sobald die Selection aufhört, gehen die guten Eigenschaften einer veredelten Rasse wiederum verloren. Was durch angestrengte Arbeit von vielen Jahren erreicht worden ist, kann in wenigen Gene- rationen völlig verschwinden. Die hervorragendsten Züchter warnen davor, die Auslese in keiner einzigen Generation zu vernachlässigen. Ebenso muss das einmal gewählte Princip der Auslese durchaus fest- gehalten werden, sonst ist nichts zu erreichen. Zu einem völligen Rückschritt braucht es gar nicht einer langen Reihe von Jahren. Ebenso wenig kann auch die am längsten fort- gesetzte Zuchtwahl die Gefahr eines solchen Rückschrittes aufheben oder auch nur vermindern. Während der Züchter mit Aufwand von vieler Mühe, vieler Zeit und mit Aufopferung einer grossen Anzahl von Individuen eine gewisse Gruppe von Merkmalen berücksichtigt und verbessert, greift die Natur in alle Eigenschaften ein, und scheidet aus, was in irgend einer Hinsicht die individuelle Kraft herabsetzt. „Je höher und edler die Culturform gezogen ist, desto weniger darf eine Unterbrechung der künstlichen Zuchtwahl stattfinden,“ sagt v. RÜMKER am Schlusse seiner so lehrreichen Auseinandersetzungen über diese; sowohl praktisch als auch wissenschaftlich keineswegs leichte Frage.! Die fortgesetzte Zucht befestigt somit keineswegs ! v. Rümker, Anleitung zur Getreidezüchtung. 1889. 8. 81. Vergl. auch Lmprey, Theory of Horticulture. 1840. S. 314. Das Verhalten der veredelten Rassen beim Aufhören der Selection. 87 den ausgewählten Charakter, sondern indem sie die Rasse immer mehr vom ursprünglichen mittleren Typus entfernt, vergrössert sie stetig die Gefahr der Regression. Unaufhörlich bleibt die Veredelung von der Zucht abhängig, stets strebt die Natur danach, dem ursprüng- lichen mittleren Charakter wieder die Oberhand zu geben. Dieser bildet die Gleichgewichtslage, aus der die Kunst eine Pflanze auf gewisse Zeit, nicht aber für die Dauer, heraus- zubringen vermag. Ueber den Rückgang der Veredelung liegen einige wenige Versuche vor, von denen es sich lohnt, die folgenden anzuführen. Erbsen, mehrere Jahre auf warmem, trockenem Boden cultivirt, reifen ihre Samen regelmässig in kurzer Zeit, z. B. in vierzig Tagen; säet man diese in anderem Boden oder anderem Klima, so behalten sie die Eigen- schaft der Frühreife im ersten Jahre bei, werden in den nächsten Jahren aber wieder langlebiger." Durch eine Auslese weniger (Generationen hat BuckmAan bekanntlich die cultivirte Pastinake in die wilde Form zurück- geführt; innerhalb drei Generationen konnte Watson mit dem schottischen Kohl dasselbe erreichen. Darwın sagt dazu: Mit Hülfe einer geringen Zuchtwahl, die wenige Generationen hindurch auszuüben wäre, könnten die meisten unserer cultivirten Pflanzen wahrscheinlich zu einem wilden oder nahezu wilden Zustande zurückgeführt werden. SCHÜBELER’sS Versuche über die Verschie- bung der nördlichen Grenze der Getreidecultur in Norwegen habe ich bereits oben erwähnt. Fig. 26. Triticum turgidum Er fand, dass, wenn man die auf der Grenze compositum, verzweigter, gezüchteten, also kurzlebigen Formen nach “der En nn einigen Jahren wieder in ihre Heimath zurück- führt, sie auch dort früher reifen und schwerere Samen trügen, als die in der Heimath gebliebenen Formen der nämlichen Sorten. Aber nach einigen Generationen verschwindet dieser Unterschied. Obstbäume kehren bei Aussaat rasch zu dem ursprünglichen ! Darwın, Das Varvren. 11. S. 42. 38 Selection führt nicht zur Entstehung von Artmerkmalen. wilden Typus zurück, die Olive wird zum Oleaster, Aepfel und Birnen geben kleinere und weniger saftige Früchte, Kastanien werden ganz ungeniessbar.! Doch sind diese Verhältnisse bis jetzt noch viel zu wenig untersucht worden. Betraf die Veredelung nicht eine sogenannte Art, sondern eine Unterart, so kehrt die Form beim Aufhören der Selection nach dem mittleren Typus der Unterart zurück, und nicht oder nur scheinbar nach demjenigen der Grossart. Gefüllte Balsaminen und Ranunkeln werden weniger gefüllt, Tritieum compositum turgidum (Fig. 26) wird weniger verzweigt, die Hahnenkämme, Celosia eristata werden viel ärmer an Kämmen. Aber die Füllung, Verzweigung und Fasciation gehen nie völlig verloren, und sollten sie einzelnen Individuen anscheinend ganz mangeln, so kommen sie aus deren Samen doch stets wieder zurück. Ebenso verhält es sich nach meinen Versuchen beim Papaver somniferum poljycephalum und bei Trifolium pratense quinquefolium. Die stark veredelten Formen dieser Pflanzen verlieren beim Aufhören der Selection den hohen Grad der Veredelung sehr leicht, nicht aber das ganze Merkmal. Ich habe früher (S. 52 Fig. 17 und 18) über einen ausführlichen Versuch berichtet, den ich mit Mais angestellt habe. Durch Auswahl der Kolben mit den meisten Körnerreihen hatte ich von 1886—1891 aus der gewöhnlichen Form mit meist 12—14 Reihen, eine Rasse gezüchtet, welche im Mittel 20 Reihen hatte, eine Zahl, welche die ursprüngliche Form nur höchst selten erreicht. Von 1892—1896 erhielt ich die Rasse durch fortgesetzte Selection auf ungefähr der- selben Höhe. Von 1897—1899 wählte ich die Kolben mit der ge- ringsten Reihenzahl aus. 1897 hatte ich von einem sechzehnreihigen Kolben gesäet, das Mittel der erhaltenen Ernte lag aber noch auf 20. Im nächsten Jahre, 1898, lag das Mittel der Ernte auf 18, und 1899 auf 14—16 Reihen. In drei Jahren war also der ganze Einfluss der früheren Züchtung verschwunden. Nachbau. Auf diesem Rückschritte beim Aufhören der Selection beruht der bereits mehrfach erwähnte principielle Unterschied zwischen den hochveredelten landwirthschaftlichen Rassen und den sogenannten Varietäten oder Unterarten. Die rationelle Wirthschaft bezieht ihr Saatgut direct von der Quelle, wo es, sei es durch methodische Aus- lese, sei es durch empirische Zuchtwahl, oder auch nur durch die besonders günstigen Bedingungen von Klima und Boden, welche als eine Art natürlicher Auslese wirken, auf der grösstmöglichen Höhe ! De Canpouze, Origine des plantes cultirees. p. 372. Das Verhalten der veredelten Rassen beim Aufhören der Selection. 89 der Leistungsfähigkeit erhalten wird. Solche Originalsaat ist selbst- verständlich theuer. Man baut daher vielfach auch das in erster oder zweiter Generation von diesem gewonnene Saatgut sowohl beim Ge- treide, als namentlich auch beim Lein.! Länger aber halten die guten Eigenschaften nicht nach, und es liegt im Interesse eines hohen Ertrages, jedesmal wiederum neue Originalsaat zu beziehen. Originalsaat und Nachbau können im Ertragswerthe somit etwas ganz Verschiedenes sein.” Der Unterschied ist um so grösser, je ver- schiedener die Culturverhältnisse, und je länger der Nachbau von demselben Samen ausgeübt wird. Im ersten Jahre behält die Sorte ihre guten Eigenschaften bei; sobald aber die Lebensbedingungen andere werden, oder auf die Herrichtung des Saatgutes nicht dauernd dieselbe Aufmerksamkeit verwendet wird, wie am Orte ihrer Ent- stehung, lassen die Vorzüge nach. Samenwechsel ist in der landwirthschaftlichen und gärtnerischen Praxis sehr üblich. Ueber seine Bedeutung scheint aber noch viel Unsicherheit zu herrschen; auch scheint er in verschiedenen Fällen verschiedenen Zwecken zu dienen. In den am besten bekannten Fällen schliesst sich diese Hand- lung aber genau den oben aus einander gesetzten Principien des Originalsaatgutes und des Nachbaues an. Seine Samen wechselt der kleine Landwirth und der Gärtner einfach dadurch, dass er nicht weiter von der eigenen Ernte säet, sondern neuen Samen kauft. Das heisst also, dass er vom Nachbau zum Originalsaatgut zurückkehrt. Diese Gewohnheit ist eine sehr alte. So sagte z. B. Muntin@ bereits 1671? vom Blumenkohl und vom Savoy-Kohl, dass das eigene Saatgut nichts tauge, sondern dass man Samen aus Italien beziehen müsse. JORDAN hat vielfach Gemüsesamen gesäet zu dem Zwecke, sie entarten zu lassen und regelmässig eine baldige Rückkehr zu wilden Typen beobachtet.* LiınpuLeY betont in seiner bereits citirten Theory of Horticulture, dass die besten Samenhändler den Samen für ihre frühen Sorten von einjährigen Pflanzen von wärmeren und mehr trockenen Gegenden beziehen. RisLer sagt hierüber:° „Wenn ein Landwirth den Anbau von Weizenvarietäten versucht, welche anderwärts gut gediehen, aber für ihn und seine Gegend neu sind, so thut er gerade das Gegentheil ! LanGETHAL, Landwirthschaftliche Pflanzenkunde. ® v. RÜümker, Der wirthschaftliche Mehrwerth. 1. ce. S. 136. ®? ApraHam Muntins, Waare Oeffeninge der Planten. p. 319. * Arbres fruitiers. 1853. p. 57. 5 Weixzenbau. 8. 79. 90 Selection führt nicht zur Entstehung von Artmerkmalen. von der Zuchtwahl.“ Die Varietäten sind dem Boden und dem Klima ihres Ursprungsortes angepasst. Indem man sie: zur rechten Zeit einführt, kann man unmittelbar von aller Arbeit Nutzen ziehen, durch welche dieselben vervollkommnet wurden, und so sehr schnell zu vor- züglichen Resultaten gelangen; aber auf die Dauer werden sie nur gedeihen, wenn sie ungefähr dieselben Bedingungen vorfinden. J.H.van MansHoLT, einer der ausgezeichnetsten Niederländischen Züchter, hat im Jahre 1894 eine Uebersicht über den Samenwechsel in seinem Vaterlande gegeben. Es giebt gewisse Gegenden, in denen bestimmte Getreidesorten ihre vorzüglichen Eigenschaften unausgesetzt behalten; von diesen beziehen die anderen, weniger glücklichen Gegenden ihr Saatgut. So behält z. B. der Zeeländer Weizen nur in Zeeland seine schöne weisse Farbe, in Groningen und Friesland geht diese Eigenschaft jedesmal nach wenigen Generationen verloren. Leinsamen wird von Riga bezogen und nur ausnahmsweise kann davon während drei oder vier Jahren nachgebaut werden, denn bald tritt Degeneration ein, namentlich nimmt der Widerstand gegen Krank- heiten ab. Eine lange Reihe weiterer Beispiele führt zu der Folge- rung, dass ganz allgemein in den nicht besonders bevorzugten Gegenden der wiederholte Bezug neuen Saatgutes aus besseren Landes- theilen unerlässlich ist. Zwischengenerationen sind namentlich beim Rübenbau üblich. Zwischen der Ernte der Samen der polarisirten Rüben und dem Verkauf der Samen wird eine, oder werden bisweilen zwei (senerationen eingeschoben. Der Zweck ist, die Samen so stark zu vermehren, dass die hohen Kosten des Polarisationsverfahrens und der Auslese den Preis des Saatgutes nicht übermässig erhöhen. Denn je strenger die Auslese gehandhabt wird, desto kleiner ist naturgemäss die Zahl der Eliterüben, desto kleiner ist dementsprechend das von diesen erzeugte Samenquantum. Dieses Quantum muss somit erst vermehrt werden, und zwar muss dieses in möglichst kurzer Zeit geschehen, damit nicht zu viele Generationen zwischen den Eliten und ihrem Nachbau zu Fabrikzwecken liegen, weil sonst die Degenera- tion zu gross würde. Um dieser Degeneration möglichst vorzubeugen, bedient man sich eines eigenthümlichen Mittels. Die Samenträger werden nicht in den üblichen Entfernungen cultivirt, sondern so dicht neben einander, dass ihre Rüben etwa nur fingerdick werden. Sie treiben dann nur wenig verzweigte Stengel, und bilden nur die besten Samen aus, denn die Samen der schwächeren, an normalen Samen- rüben so überaus zahlreichen Nebenzweige sind bekanntlich minder- werthig. Es findet durch diese Cultur eine sehr starke Samenauslese Erworbene Eigenschaften und Ernährungsmodificationen. gl könnte, und es scheint, dass diese Auslese die Nachtheile der De- generation durch das Wegfallen der Zuchtwahl nach dem Zucker- gehalte, ganz oder doch nahezu ganz aufhebt. Zwischengenerationen sind selbstverständlich sehr häufig unerläss- lich, namentlich auch beim Getreide. Je kleiner der Umfang der Stamm- rasse, und je grösser der Saatgutverkauf ist, um so stärker muss die Saat vermehrt werden. Mehr als 2—3 Zwischengenerationen scheint aber keine Cultur zu ertragen. Auch müssen diese mit ganz be- sonderer Sorgfalt gepflegt werden, sonst würden sie ihren Rassenwerth dennoch verlieren. Schluss. Ueberall in der Landwirthschaft beruht die Cultur auf dem Satze von der Unbeständigkeit der Rassen. Ueberall ist Originalsaat dem Nachbau überlegen, wenn auch nicht im ersten Jahre, so doch regelmässig im zweiten oder dritten. Keine, auch noch so lange Dauer der Veredelung ist im Stande, diesen Nachtheil aufzuheben. IV. Einige Streitfragen aus der Seleetionslehre. $ 15. Erworbene Eigenschaften und Ernährungsmodificationen. Es ist nicht meine Absicht, die vielumstrittene Frage nach der Erblichkeit erworbener Eigenschaften hier gründlich zu erörtern. Ich wünsche nur zu zeigen, wie eine genaue Unterscheidung zwischen Selectionstheorie und Mutationslehre hier in hohem Grade zu einer Vereinfachung, vielleicht sogar einmal zu einer befriedigenden Lösung der Probleme wird führen können. Es handelt sich ja im Wesentlichen um einen Wortstreit. Je nachdem man seine Definition für erworbene Eigenschaften wählt, betrachtet man sie als erblich oder nicht. Versuchen wir es deshalb, auf Grund der im vorigen Kapitel erreichten, auf den Thatsachen gegründeten Einsicht in das Wesen der Selection und der veredelten Rassen, zu einer möglichst klaren Fragestellung auf diesem Gebiete zu gelangen. Die Mutationen fallen offenbar ausserhalb des Begriffes der er- worbenen Eigenschaften. Darüber scheint mir ein Zweifel überhaupt unmöglich. Sie treten plötzlich, unvermittelt und ohne Beziehung zu der Lebenslage auf; sie sind Keimvariationen im reinsten Sinne des Wortes. 92 Einige Streitfragen aus der Selectionslehre. Da nun nach der Mutationshypothese die Arten durch solche Mutationen entstanden sind, stellen bei dieser Ansicht die Artmerk- male selbstverständlich nie erworbene Eigenschaften dar. Die ganze vergleichende Biologie und Descendenzlehre fallen somit auch ausser- halb des Gebietes der erworbenen Eigenschaften. Die Lehre von diesen Eigenschaften liegt also auf dem Gebiete der Variabilität im engeren Sinne, der individuellen, fluctuirenden oder statistischen Variabilität, oder wie man sie nennen will. Sie liegt innerhalb der Grenzen der Arten, auch wenn man diese Grenzen so enge zieht, dass sie nur die reinen, elementaren Arten von einander trennen. Aber auch innerhalb dieser Grenzen giebt es Erblichkeit.! Die Familiencharaktere, die veredelten Rassen der Züchter und die wenigen vorliegenden wissenschaftlichen Selectionsversuche beweisen dieses ganz offenbar. Ob die Variationen durch äussere oder innere Ursachen bedingt sind? „Zu guter Letzt liegen die Ursachen natürlich in äusseren Ein- wirkungen,“ sagt PLortz.”? Für das statistische Studium ist es aller- dings bequemer, zunächst auf die Beziehung zu den Lebensmedien zu verzichten und anzunehmen, dass die Variationen nicht mit Ab- änderungen der äusseren Lebensbedingungen in zeitlichen oder causalen Zusammenhang zu bringen sind.” Eine solche Annahme ist aber offenbar nur eine vorläufige, zur besseren Beherrschung der zu studiren- den Erscheinungen eingeführte. Ueberhaupt spricht sehr Vieles dafür, dass die individuellen Variationen durch äussere Einflüsse bedingt sind. Und wenn dem so sein sollte, so würden sich die Begriffe dieser Variationen und der erworbenen Eigenschaften in den wesentlichsten Punkten decken. Denn erworben nennt man fast allgemein die Eigenschaften, welche der directen Einwirkung der Umgebung auf den fraglichen Organismus zugeschrieben werden.* ! Von Verwundungen oder Verstümmelungen sol! hier nicht die Rede sein. Sie vererben sich perhaps exelusively when followed by disease, wie Darwın sagte (Var. II. 57), also durch Ansteckung. ? Arrrep Prortz, Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen. 1895. 8. 32. Vergl. auch S. 23. Ebenso Intracellulare Pangenesis. 8. 29. ®> G. Duncker, Die Methode der Variationsstatistik. Roux’s Archiv f. Entwick. mvech= d..019. Bd.2VII.2T272p.2115.148393) * Andere Fassungen der Definition, namentlich diejenige, welche den Begriff der Keimbahnen enthalten, führen leicht zu Missverständnissen. Vergl. Intra- cellulare Pangenesis S. 206 und Kruidkundig Jaarboek. Bd. I. 1889. p. 152. Erworbene Eigenschaften und Ernährungsmodificationen. 93 Den erworbenen Eigenschaften, wie man sie namentlich in der Zoologie und Anthropologie nennt, stehen auf botanischem Gebiete die sogenannten Ernährungsmodificationen zur Seite. Versuchen wir, beide Gruppen von Erscheinungen mit einander zu vergleichen. Man findet in der Literatur häufig, dass ein Unterschied gemacht wird zwischen sogenannten Ernährungsmodificationen und individuellen Variationen. Die ersteren sollen nicht erblich sein und somit auch kein Material für die Selection bilden können. Die letzteren rühren aus unbekannten Ursachen her, sollen erblich und durch Selection fixirbar sein. Die Erscheinung der Ernährungsmodificationen ist sowohl in der Landwirthschaft als im Gartenbau eine sehr bekannte. Die Ränder der Aecker und die Geilstellen (zu stark gedüngte Stellen) tragen zu üppige Pflanzen. Andererseits pflegt das im Hochsommer keimende Unkraut kleine Pflänzchen hervorzubringen, welche es nach wenigen Blättern zur Ausbildung einzelner Blüthen und Samen bringen. Auch die Culturpflanzen bilden mitunter an trockenen oder nahrungsarmen Stellen oder bei verspäteter Keimung solche Kümmerlinge. Neben reichverzweigtem Datura, neben meterhohem Amarantus, neben nor- malem Buchweizen oder vielblüthigem Mohn sieht man häufig einzelne Exemplare, welche oft nur 1 Decimeter hoch, unverzweigt oder fast unverzweigt, kleinblüthig und wenigblüthig sind, welche aber dennoch einzelne Samen zu reifen im Stande sind. Sucht man nach den Gründen für die namhaft gemachte Unter- scheidung zwischen Ernährungsmodificationen und individuellen Varia- tionen, so findet man solche nur selten angegeben. Und wo es der Fall ist, hat es allen Anschein, dass gewisse Unsicherheiten über die Bedeutung des Wortes „Erblichkeit“ Schuld tragen. Die Ernährungs- modificationen sind erhebliche Abweichungen und gehen also bei der Aussaat, in Folge des Regressionsgesetzes, sehr stark zurück; sie ähneln aber den spontanen oder Sprungvariationen, von denen man wenigstens einen sehr hohen Grad von Erblichkeit zu erwarten pflegt. Daher mag die Auffassung rühren, dass sie nicht erblich seien. Die gewöhnlichen Variationen haben selbstverständlich auch Ur- sachen, und diese liegen in letzter Instanz natürlich auch in äusseren Einflüssen. Also in der Ernährung, wenn man mit dem alten Sprach- gebrauch dieses Wort in seinem weitesten Sinne auffasst. Nach meinen bisherigen Erfahrungen scheint mir der fragliche Unterschied nicht berechtigt zu sein. Bedeutende Aenderungen in der Ernährung geben erhebliche Umgestaltungen mit starker Re- 94 Einige Streitfragen aus der Selectionslehre. sression. Und da die Abhängigkeit von der Ernährung bestehen bleibt, wird eine veränderte Düngung in der nächsten Generation den Erfolg selbstverständlich beeinträchtigen. Die Ernährung im weitesten Sinne, die Lebenslage, wie man sie nennen kann, beherrscht nach meiner Ansicht das ganze Gebiet der individuellen Variabilität.! Jede Eigenschaft varıırt nur nach Plus oder nach Minus. In der einen Richtung wirken günstige, in der anderen ungünstige Lebenseinflüsse. Und auf die Frage, welche Einflüsse besonders günstige sind, kommt es gar nicht an, wie be- reits der Engländer KsıeHr betont hat. „Ueberfluss von Nährstoffen ist der mächtigste Factor der Variabilität, die Art der Nährstoffe kommt dabei nicht in Betracht,“ sagte er. Vielleicht gelingt es der späteren Forschung, die einzelnen Factoren des Lebensmediums in ihrer Wirkung getrennt zu studiren, vorläufig müssen wir damit zu- frieden sein, ihre Gesammtwirkung zu beobachten. Zwischen diesen Ernährungsmodificationen und den individuellen Variationen im engsten Sinne eine Grenze zu ziehen, ist einfach un- möglich. Es giebt alle Uebergänge, in denen der Einfluss der äusseren Umstände von ganz auffallend, wie er bei den ersteren Erscheinungen ist, allmählich zurückzutreten scheint. Aber es handelt sich nur um einen trügerischen Schein; je genauer man die Sache untersucht, um so mehr findet man überall eine Beziehung der Variabilität zu der wechselnden Einwirkung der Lebensmedien. In der gärtnerischen Praxis ist es wohl bekannt, dass üppige und möglichst abgewechselte Bedingungen zur Häufung und Ver- mehrung der individuellen Unterschiede führen, während einfache und einförmige Umstände diese nach und nach verschwinden lassen und also die Gleichförmigkeit aller Exemplare befördern. ? Ebenso bekannt ist es, dass die Kümmerlinge den Merkmalen der Varietät, zu der sie gehören, keineswegs untreu werden, dass sie aber in Bezug auf manche Erscheinungen der fluctuirenden Varia- bilität sich gar häufig als Minusvarianten darthun. Genauere Untersuchungen werden ohne Zweifel ganz allgemein einen Parallelismus zwischen echten, individuellen Variationen und Ernährungsmodificationen auffinden lassen. Sehr lehrreiche Experi- mente sind in dieser Richtung namentlich von MAc Leon gemacht worden. Er verglich die Zahl der Randblüthen der gewöhnlichen Kornblume (Oentaurea Cyanus) auf üppigen und auf kümmerlichen 1 D’Unrite dans la Variation. Revue de U’ Universitö de Bruxelles. III. 1898. 2 Intracellulare Pangenesis. S. 30. Ueber die een? ernonDeneN Digenschaften. 95 Exemplaren und fand eine fast genaue veren er e mi die Pflanze, um so reicher ist ihre Blüthe (Endkörbchen des Haupt- stengels) an Randblüthen. Die Ueppigkeit der Pflanze ist aber direct von der Ernährung abhängig und somit dürfen wir solches auch für die Zahl der Randblüthen folgern. Genau dasselbe gilt für die Scheibenblüthen, und dasselbe Gesetz bestätigt sich bei der Ver- gleichung kräftiger und schwächerer Zweige auf einer und derselben Pflanze. ! Wir folgern also, dass, sobald die Mutationen völlig ausgeschieden sind, die erworbenen Eigenschaften, sowie die Ernährungsmodificationen sich als individuelle Variationen ergeben. Der einzige Unterschied ist, dass sie in weit auffälligerer Weise von äusseren Ursachen ab- hängis sind. $ 16. Ueber die Vererbung erworbener Eigenschaften. HERBERT SPENCER ist der geniale Vertheidiger der Lehre von der Erblichkeit erworbener Eigenschaften.” Er gründet sich auf die ganz allgemeine Beobachtung, dass die Verschiedenheiten der Orga- nismen innerhalb jeder Art von den Lebensmedien bedingt werden und dass diese Verschiedenheiten erblich sind. Im vorigen Paragraphen haben wir gesehen, wie die erworbenen Eigenschaften sich als individuelle Abweichungen von den mittleren Eigenschaften des betreffenden Typus ergeben. Die Frage nach ihrer Erblichkeit ist also von diesem Gesichtspunkte zu beurtheilen. Die Erblichkeit auf dem Gebiete der individuellen Variabilität kennzeichnet sich derjenigen auf dem Gebiete der Mutabilität gegen- über durch zwei Erscheinungen: die Regression und die Steigerung durch Selection. Die Mutationen sind erblich und gewöhnlich sofort nach ihrem Auftreten constant. Rückschläge zu der früheren Form fehlen dabei allerdings nicht; sie sind aber meist sehr selten und finden als Sprünge statt, ohne Vermittelung. Man nennt das Atavismus. Die Variationen oder Abweichungen vom Mittel des Typus sind in ganz anderer Weise erblich. Die Kinder weichen im Durchschnitt bedeutend weniger vom Typus ab als die Eltern; dagegen pflegen 1 J. Mac Leon, Over de veranderlykheid van het aantal randbloemen by de Korenbloem. Handelingen Vlaamsch Natuurk. Congres. 1899. ” Vergl. namentlich dessen verschiedene Aufsätze in The contemporary Review. 96 ange ‚ Sireiifr ER aus der Selechionslehre. enzeine stärker 'abzuweichen, Da aeg deren Nachkommensaiit kann man die Abweichung vergrössern. Bei der Frage nach der Erblichkeit erworbener Eigenschaften handelt es sich also nicht um eine absolute Constanz, sondern um eine nach GALToN’s Regel meist etwa ?/, betragende Reduction. Auf der anderen Seite bildet die Steigerung der Abweichung durch Selection ein Mittel, die Erblichkeit zu beweisen. Die Frage, ob solche Variationen erblich sind, fällt somit zu- sammen mit derjenigen, ob sie durch Selection verstärkt werden können. So weit mir bekannt, liegen noch keine Versuche vor, in denen die Unmöglichkeit der Steigerung irgend welcher individuellen Variationen nachgewiesen wurde. Die sogenannten anerzeugten Higenschaften, welche man den er- worbenen gegenüber zu stellen pflegt und welche manche Verfasser ihnen gegenüber als erblich betrachten, sind offenbar einfach Ab- weichungen vom Durchschnitt, welche die Vorfahren zwar besassen, welche sie aber selbst unter dem Einfluss äusserer Bedingungen er- worben haben. Es würde zu weit führen, hier diesen Gedanken aus- zuarbeiten, aber zur Klärung der Frage dürften auf diesem Wege wichtige Stützen zu erreichen sein. 7 Fasst man die individuellen Variationen als allgemein durch die Lebenslage oder durch die Ernährung im weitesten Sinne bedingt auf, so gelangt man zu dem Satze, dass die Selection die Wahl der am besten ernährten ist.! Offenbar kann die Ernährung ihre volle Wirkung nicht in einer einzigen Generation erreichen. Die Samen reifen auf der Mutterpflanze; im reifenden Samen durchläuft das junge Individuum einen sehr wichtigen, namentlich sehr empfindlichen Abschnitt seiner Entwickelung. In dieser Zeit ist es offenbar von dem Ernährungszustande der Mutter abhängig. Nur wenn die Mutter selbst eine kräftige, aus kräftigem Samen hervorgegangene Pflanze ist, kann sie ihre Samen zu vollster Entwickelung bringen. Es braucht somit einige Generationen, um den Einfluss der Lebensmedien zur vollsten Geltung kommen zu lassen. Und in so weit Variationen durch die Ernährung bedingt sind, in so weit können sie durch die Selection der am besten ernährten Individuen im Laufe einiger Gene- rationen verstärkt oder accumulirt werden.? ! Es ist nicht als unmöglich zu betrachten, dass sogar Uebung einer da- durch bedingten besseren, localen Ernährung einen Theil ihrer Erfolge verdanke. ® L’Unite dans la Variation. p. 21—22. (Revue del Universite de Bruxelles. Tome III. 1898. Avril.) Ueber die Vererbung erworbener Eigenschaften. 97 Die Auseinandersetzungen dieses Paragraphen sollten dazu bei- tragen, eine Klärung der Frage nach der Erblichkeit erworbener Eigenschaften auf Grund der kritischen Sichtung der Selectionstheorie herbeizuführen. Sie eröffnen ausserdem, nach meiner Ansicht, den Weg, durch experimentelle Untersuchungen der Sache näher zu treten. Es handelt sich dabei zunächst um den Nachweis, dass Variationen, welche von den Lebensmedien direct und in hohem Grade abhängig sind, durch Selection in der gewöhnlichen Weise verstärkt resp. ge- schwächt werden können. Zum Schlusse soll dieses, in Ermangelung ausführlichen Beweis- materiales, durch ein Beispiel erläutert werden. Ich wähle dazu die Polycephalie von Papaver somniferum.! Es giebt eine Varietät oder Unterart dieser vielgestaltigen (sogenannt sehr variablen, aber in allen ihren Formen sehr constanten) Art, welche sich durch die Umwandlung der inneren Staubgefässe in Carpelle aus- zeichnet. Sie wird unter den Namen P. s. monstruosum oder P. s. poly- cephalum in sehr vielen Gärten cultivirt (Fig. 27). Sie ist nach meinen Erfahrungen völlig constant und höchst variabel (Fig. 28). Die Anzahl ihrer überflüssigen Carpelle kann bis zu 150 und mehr heransteigen, und sich bis auf ganz einzelne, sehr kleine Rudimente vermindern, voll- ständig fehlt die Eigenschaft aber, soweit meine Erfahrung reicht, nie. Die Variabilität des fraglichen Merkmales ist in hohem Grade von den Lebensmedien abhängig. Aus den Samen ven Früchten mit schöner Carpellenkrone kann man willkürlich gute oder schlechte Erben erzeugen. Je günstiger die Umstände sind, um so zahlreicher werden die Neben-Öarpelle. Selbstverständlich kann man auf einem Beete die Umstände nicht für jede Pflanze gleich. gut machen, denn bereits zur Zeit der Keimung finden Unterschiede in Beleuchtung, Feuchtigkeit, Dünger u. s. w. statt, deren Einfluss in der Regel sich später nicht ausgleicht, sondern die Unterschiede immer grösser werden lässt. Es handelt sich also bei vergleichenden Versuchen um die Mittelwerthe ganzer Beete. Es zeigt sich dann, dass gute Erde, starke Düngung, sonnige Lage, gleichmässige Feuchtigkeit und vor Allem ein weiter Stand die Anzahl der Carpelle pro Pflanze ver- grössern, während sandiger Boden, Beschattung, Kälte, Trockenheit und dichter Stand diese Anzahl herabsetzen, und zwar in sehr er- heblichem Maasse; die kräftigsten Individuen haben eine volle Krone, die Kümmerlinge fast keine Spur der Monstrosität. Sucht man nun auf den Beeten die besten Erben für Zucht- 1 Alimentalion et selection. Volume jubilaire de la Soeiete de Biologie. Paris 27. Dee. 1899. p. 17. Ref. im Biolog Centralblatti. Bd. XX. No. 6. 1900. DE VRIES, Mutation. I. 7 98 Einige Streitfragen aus der Selectionslehre. wahlversuche aus, so beobachtet man, dass die individuelle Kraft der Pflanze und die Zahl ihrer überflüssigen Carpelle stets ungefähr parallel gehen. Die Dicke des Stengels, die Höhe der Pflanze, namentlich aber die Grösse und das Gewicht der Frucht geben ein Maass für die individuelle Kraft ab. Ordnet man die einzelnen Pflanzen eines Beetes nach diesen letzteren Merkmalen, so bilden sie eine fast regelmässig ansteigende Reihe in Bezug auf die Monstrosität. Es geht daraus hervor, dass eine Selection nach der Ausbildung der carpellären Krone von dem Ernährungszustande der Pflanze gar nicht unabhängig ist. Im Gegentheil, eine solche Selection wählt einfach die am besten ernährten Individuen aus. (Genau so, wenn man nach der anderen Seite, jener der Minus- Variationen, arbeite. Nur Kümmerlinge haben keine überzähligen Carpelle und nur 1—2 Rudimente; ihre Kapseln sind oft so klein, dass sie keinen guten Samen bringen. Sucht man etwas kräftigere Samen aus, so findet man auch etwas grössere Spuren der Monstrosi- tät. Die retrogressive Zuchtwahl oder die Se- lection nach Minus wählt also nothwendi- => “ ger Weise die schwäch- Fig. 27. Papaver somniferum polycephalum s. monstruosum, sten Individuen. mit vollem Kranze von Neben-Carpellen. Dennoch hatıdıe Von oben und von der Seite. Zuchtwahl in beiden Fällen die Wirkung, welche dieser Process auch sonst zu haben pflest. Aus den (nach Selbstbefruchtung geernteten) Samen der carpellen- reichen Früchte geht eine Nachkommenschaft mit zahlreicheren um- gewandelten Staubfäden hervor, aus den nach Minus selectirten eine sehr wenig monströse Rasse. Wiederholung der Selection während einiger Generationen erhöht in üblicher Weise den Erfolg. Es ist dabei selbstverständlich vorausgesetzt, dass die Lebensbedingungen mittlere sind, und dass die Versuche in möglichst grossem Maassstabe- ausgeführt werden, mehrere Quadratmeter pro Versuch umfassend. Die äusseren Lebensbedingungen wirken also in demselben Sinne auf die Monstrosität ausserhalb der Kapsel und auf die jungen Samen innerhalb derselben. In den fraglichen Versuchen fängt ihre Wirkung erst mit der Keimung der Muttersamen, aus: denen die Versuchs- pflanzen hervorgehen, an. Die übliche Bezeichnungsweise nennt den Grad der Ausbildung der Monstrosität in solchen Fällen eine er- 2) gleichsinnige und zu gleicher Zeit von denselben äusseren Ursachen bewirkte Verbesserung der Rassentüchtigkeit der im Versuch ge- ernteten Samen nicht gleichfalls erworben zu nennen. Der Parallelismus zwischen individueller Kraft und Ausbildung der Monstrosität ist kein absoluter. Im Gegentheil, es giebt ein sehr einfaches Mittel, ihn völlig aufzuheben und sehr kräftige Pflanzen fast ohne Neben-Carpelle heranwachsen zu lassen. Dieses Mittel er- giebt sich aus einer genaueren Be- stimmung der sogenannten empfind- lichen Periode der Monstrosität. Untersucht man ganz junge Blüthen- knospen unter dem Mikroskop zu verschiedenen Zeiten, so findet man, dass etwa in der sechsten Woche nach Anfang der Keimung die Staub- gefässe und Neben-Carpelle als kleine Wülste am Vegetationspunkte sichtbar werden. Offenbar ist dann ihre relative Zahl entschieden: Versuche, diese nachher noch durch veränderte Behandlung zu ändern, sind ohne Erfolg geblieben. Wäh- rend der ersten Wochen des Lebens findet somit die Entscheidung statt; durch störende Eingriffe zu dieser Zeit muss es also gelingen, die Ausbildung der Monstrosität zu unterdrücken oder doch wesentlich herabzusetzen. Ich erreiche dieses einfach durch Verpflanzen der jungen Keimlinge und führe dieses in der üblichen Zeit, also etwa beim zweiten oder dritten Blatte Fig. 28. Papaver somniferum polycephalum, mit geringer Carpellomanie. 1 mit rudi- mentären Neben-Carpellen; 2—4 mit 1, 2 oder wenigen Kranzfrüchtchen ; 5, 6, 7 verschiedene Grade der Verwachsung der Nebenfrüchte, in 7 zu einem gespaltenen Kranze um die (weggelassene) centrale Kapsel berum, von oben gesehen. 8 Nar- ben der centralen Frucht, von oben ge- sehen. oberhalb der Cotylen, aus. Wenn ich dann alle sonstigen Verhältnisse so günstig wie möglich mache, so erhalte ich wahre Prachtpflanzen, aber mit nur ganz wenigen, in Carpelle umgewandelten Staubfäden. Durch diesen Kunstgriff gelingt es also, die beiden sonst par- allelen, erworbenen Eigenschaften zu trennen. Die Erwerbung der sichtbaren Monstrosität wird gestört, die Samen aber erreichen ihre volle Ausbildung und Güte. 7* 100 Einige Streitfragen aus der Selectionslehre. an mit Anden An Ben ee Merkmalen führten mich zu der Ueberzeugung, dass hier ein allgemeines und sehr wichtiges Princip vorliest. Ich meine die gleichsinnige Wirkung der Lebensmedien auf die sichtbaren Eigenschaften eines Organismus und auf seine Keimzellen. Oder, um das Wort „Ernährung“ in seinem alten, weiten Sinne zu benutzen, und abgesehen von Ausnahmefällen: Die Zuchtwahl ist die Wahl der am besten ernährten Individuen.- Dieser Satz soll nur ee Princip angeben. In speciellen Fällen erleidet seine Anwendung Abänderungen. So in erster Linie bei der Selection in der Richtung der Minus-Variationen. Sodann, wenn ganz besondere Bedingungen vorliegen, wie z. B. bei der land- wirthschaftlichen Züchtung, wo die erforderliche Anpassung an die nie überreicheu Düngungsverhältnisse! eine wichtige Beschränkung auferlegt u. s. w. Zusammenfassend ergiebt sich aus diesem Paragraphen, dass die richtige Unterscheidung zwischen Selections- und Mutationstheorie eine Aussicht auf eine einstmalige Lösung des Problems von der Erblichkeit erworbener Eigenschaften eröffnet. Auf Grund dieser Auffassung sind die Artmerkmale von diesem Gebiete auszuschliessen; sie entstehen plötzlich durch Mutation und werden nicht erworben. Die individuellen Abweichungen von den mittleren Artmerkmalen sind als erworbene Eigenschaften zu betrachten; sie hängen, so weit die geringe Erfahrung bis jetzt reicht, in ihrer Grösse von den Lebens- medien ab; diese aber können ihren Einfluss durch einige Generationen hindurch häufen. Zahlreiche und umfangreiche Versuche über die Bedeutung der „Ernährung“ im weitesten Sinne für die Selection dürften hier das beste Mittel sein, das Ziel zu erreichen. $ 17. Ueber partielle Variabilität und Selection bei vegetativer Vermehrung. Die partielle Variabilität, d. h. die Verschiedenheit der gleich- namigen Organe desselben Individuums, spielt im Pflanzenreich eine sehr viel wichtigere Rolle als im Thierreich. Sie ist ebenso ver-. breitet, wıe die Verschiedenheit zwischen den Individuen, und fällt in der Regel weit stärker auf als diese. Sie folgt genau denselben statistischen Gesetzen. Das Curven- ! Vergl. hierüber das vorige Kapitel, namentlich $ 12. gesetz von QUETELET beherrscht die Grösse der Blätter, der Blüthen und der Früchte, die Zahl der Blätter am Triebe, der Blüthentheile, der Strahlen in den Inflorescenzen der Umbelliferen und Compositen auch dann, wenn man seine Messungen und Zählungen auf die Theile einer einzigen Pflanze beschränkt. Die Gesetze der Regression bei partieller Variabilität hat namentlich VERSCHAFFELT studirt; sie er- gaben sich als dieselben, wie die bekannten Gesetze GALToN’s für die individuelle Variabilität.! Schliesslich lassen sich auch die Regeln der Selection auf diese Erscheinungen anwenden.? Diese grosse Uebereinstimmung zwischen individuellen und par- tiellen Verschiedenheiten dürfte wohl geeignet sein, den Gegensatz zwischen Variabilität und Mutabilität in ein schärferes Licht zu stellen. Aus diesem Grunde möchte ich hier zum Schlusse einige Bei- spiele partieller Variabilität kurz berühren. Zu den besten Arbeiten auf biologischem Gebiete gehören die klassischen Untersuchungen Srtaur’s über den Einfluss des sonnigen oder schattigen Standortes auf die Ausbildung der Laubblätter.® Die Sonnenblätter sind im Allgemeinen kleiner, dicker, ärmer an Luft- räumen und reicher an Ohlorophyll, haben stärkere Nerven u. s. w.; sie sind, mit einem Worte, der Verwerthung des starken Sonnenlichtes angepasst. Die Schattenblätter sind breiter und dünner, mit vieler Luft und schwacher Oberhaut, ganz dazu eingerichtet, die geringeren Lichtmengen möglichst vollständig auszunutzen. Lactuca, Iris, Fagus sind die bekannten Beispiele, je mehr eine Art Sonnenpflanze ist, wie Pinus, oder Schattenpflanze, wie Ohelidonium, um so geringer ist ihr Vermögen der Anpassung in dieser Beziehung. Womöglich noch wichtiger wie Stauu’s Untersuchungen sind die neueren Studien Gaston Bonxıer’s über die Anpassung der Pflanzen an arktische und alpine Klimate.* Die ersteren bilden den Gegen- stand einer vergleichenden, die letzteren aber einer experimentellen Behandlung. Es handelt sich stets um partielle Variabilität: von jeder zu untersuchenden Art wurde ein einziges Individuum in zwei ! Ep. VERSCHAFFELT, GaLton’s „Regression to medioerity“ by ongeslachtelyke Voortplanting. Livre jubilaire dedie & Cuartes van BamBERE. Bruxelles 1899. ?° Vergl. den Schluss dieses Paragraphen. ® Jenaische Zeitschr. f. Naturw. XVI. N. F.IX. 1.2. 1883. * ©. Bonsıer, Recherches experimentales sur ladaptation des plantes au climat alpin. Ann.Se. nat. T. Serie T. 20. Les plantes arctiques comparees aux m£mes especes des Alpes et des Pyrences. Revue generale de Botanique. Tome 6; Influence de la lumiöre eleetrique continue sur la forme et la structure des plantes. Dil. 7. 1896. 102 N rat aus der Selectionslehre. Theile getrennt: der, eine Theil ak auf den Alpen. oder auf den Pyrenäen, der Andere in der Ebene weiter eultivirt. In kurzer Frist nahm dann die eine Hälfte den bekannten Zwergbau der Alpen- pflanzen an, während die andere den Habitus der Gewächse des flachen Landes zeigte. Auf den Alpen sind die Blätter kleiner, dicker, fester und dichter in ıhrem Bau, ärmer an Luft und reicher an Chlorophyll, dunkelgrün; sie zerlegen in derselben Zeit viel mehr Fig. 29. Helianthemum vulgare nach G. BoNNIER (l. c. Tafel 20). Die Pflanze ist in zwei Hälften getrennt, deren eine (a) in der Ebene, die andere (2) aber auf den Alpen weiter eultivirt wurde. Beide Hälften sind in der Figur in demselben Maass- stabe verkleinert. Kohlensäure als die entsprechenden, in der Ebene gewachsenen Theile. Sie sind dem herrlichen Lichte und dem kurzen Sommer der Alpen genau angepasst: in wenigen Monaten haben sie das Nährmaterial für das ganze Jahr herzustellen. Die unterirdischen Stengel sind auf den Alpen kräftig und reich verzweigt, die in die Luft ragenden Theile aber kurz, aus wenigen, kürzeren Internodien gebildet, die Blüthen gross u.s. w. In allen diesen Beziehungen benehmen sich die Ver- suchshälften wie die wilden Alpenpflanzen. Klima ist zwar kalt, die Luft aber feucht, wodurch namentlich der anatomische Bau der Blätter ein anderer wird. Auch hier handelt es sich um partielle Variabilität. Anschliessend an die Untersuchungen Bonnıer’s habe ich eine, einer Crassulacee ähnliche Composite, die Othonna crassifolia, unter- sucht.! Sie ist eine südafrikanische Pflanze mit fast cylindrischen, Fig. 30. Fig. 31. Othonna carnosa. Ja in feuchter und Ib in trockener Erde cultivirt; die erstere langblätterig und ohne Rosettenbildung, sehr kräftig; die zweite überall Rosetten von kurzen, starken, dichter gebauten Blättern bildend.? Othonna crassifolia. IIa in feuchter und Ib in trockener Erde eultivirt, /Ic eine Blüthe. Ib und /I/b von über dem Rande des Topfes herabhängenden Zweigen. an den Enden zugespitzten, fleischigen Blättern. Ihre Entwickelung ist in hohem Grade von der Feuchtigkeit der Luft und des Bodens abhängig. Im feuchten Zustande dunkelgrün, mit langen Blättern, reich verzweigt und sehr üppig wachsend; im trockenen Zustande sehr hlassgrün, mit kurzen, bisweilen fast kugeligen Blättern und ge- ringer Verästelung. Aber sie zeigt auch in ihren Blüthen dieselbe Abhängigkeit, und zwar an einem Merkmale, das auch sonst sehr vielfach Gegenstand variationsstatistischer Untersuchungen ist und 1 Kruidk. Jaarboek Dodonaea Bd. XII. 1900. Taf. I. 2 Die Othonna carnosa sieht der O. erassifolia sehr ähnlich, nur hat sie bedeutend längere Blätter und etwas grössere Blumen. Gegenüber Feuchtigkeit u. s. w. verhält sie sich wie diese. 104 Einige Streitfragen aus der Selectionslehre. wohl von Jedem als diesem Gebiete zugehörig anerkannt wird. Ich meine die Zahl der Zungenblüthen. Diese wechselt nach dem be- kannten Curvengesetze; der Gipfel liegt für die reichlich begossenen, dunkelgrünen Exemplare auf 13, für die trocken gehaltenen Theile desselben Individuums aber auf 12. Aus den genannten Beispielen ergeben sich die Ernährungsmodi- ficationen als Anpassungserscheinungen; in dem letzteren gehen sie mit einem Falle sogenannter normaler Variabilität genau parallel und sind offenbar durch dieselben Ursachen bedingt. Es spricht dies ohne Weiteres für ihre Zusammengehörigkeit. Eine fernere sehr wichtige, aber viel zu wenig berücksichtigte Thatsache ist die Accumulation mittelst vegetativer Selection. DARWIN citirt davon bereits ein Beispiel:! Der bekannte englische Pflanzenzüchter SALTER verbesserte bunte Pflanzen durch Auswahl der als Stecklinge zu benutzenden Zweige. Findet man an einer Pflanze einzelne Blätter mit geringer Andeutung der Variegation, so muss man deren Achselknospen zur Entwickelung bringen. Ihre Blätter bieten die Aussicht auf einen stärkeren Grad von Buntheit, und durch Wiederholung dieses Processes gelang es ihm, mehrere schön bunte Varietäten in den Handel zu bringen. Dasselbe Princip wurde neuerdings mit bestem Erfolg von J. Koßus bei der Cultur des Zuckerrohres auf Java angewandt.” Die Selection auf sexuellem Wege stösst hier auf grosse Schwierigkeiten, nament- lich durch die Sterilität der besten Sorte: des Cheribonrohres. KoBus suchte nun unter den Exemplaren einer guten Sorte die zucker- reichsten aus, um nur diese als Stecklinge (bibit) zu verwenden. Die Exemplare einer Sorte sind aber selbst durch vegetative Vermehrung erhalten, jede Varietät ist hier, wie wir oben (S. 61) aus einander gesetzt haben, ein einziges Individuum. Die Stecklinge der zucker- reichsten Exemplare geben aber selbst wieder zuckerreiche Stengel. In dieser Weise lassen sich erstens minderwerthige Stöcke sehr voll- ständig ausschliessen und zweitens die besten stets als Zuchtmaterial benutzen; die Erträge werden hierdurch viel rascher und in viel ein- facherer Weise erhöht, als durch das gewöhnliche Zuchtverfahren. Zusammenfassend glaube ich gezeigt zu haben, dass zwischen partieller und individueller Variabilität ein sehr vollkommener Par- allelismus besteht; dass beide, so weit untersucht, durch dieselben Ur- sachen bedingt werden. Die Ursachen sind äussere; sie liegen in ! Variations of animals and plants. I. p. 443, 444. ? Archief voor Java-Suikerindustrie. 1898 Nr. 16, 1899 Nr. 15—16, 105 Variabilität und Anpassung. Beleuchtung, Feuchtigkeit und anderen Factoren, welche man von Alters her als „Ernährung“ zusammenfasst; ihre Wirkung lässt sich in beiden Fällen durch Selection im Laufe einiger (Samen- oder Knospen-) Generationen häufen. $ 18. Variabilität und Anpassung. Es ist mehrfach hervorgehoben worden, dass durch die Varia- 'bilität Gruppen von Individuen den wechselnden äusseren Einflüss-n besser angepasst sind, als es Gruppen von völlig gleichen Individuen sein würden. Die Variabilität als solche ist selbstverständlich nicht als eine Anpassungserscheinung aufzufassen. Aber die Thatsache, dass die Amplitude des Varlirens, die sogenannte Variationsweite oder der Abänderungsspielraum, wie Ammon ihn mit einem glücklichen Namen bezeichnet hat,! bei verschiedenen Organen und Eigenschaften und ebenso bei verschiedenen Arten von Pflanzen und Thieren eine sehr wechselnde ist, muss offenbar in jedem einzelnen Falle auf speciellen Ursachen beruhen. Jede einfache, dem QUETELET’schen Gesetze folgende Variations- curve ist bekanntlich durch zwei Grössen bestimmt: die Grösse des mittleren Werthes und die Variationsweite. Als solche bezeichnet man den Betrag der Abweichung beiderseits von der mittleren Grösse, welcher von der einen Hälfte der Individuen nicht, wohl aber von der anderen überschritten wird. Mittelwerth (M) und Variations- weite (0) sind von einander durchaus unabhängige Grössen. Beide gehören zu den Artcharakteren, zum mindesten überall dort, wo sie von der Norm abweichen. Und dass Artcharaktere jedenfalls gar häufig adaptive Eigenschaften sind, braucht hier nicht betont zu werden. Ich möchte von diesem Gesichtspunkte aus hier zwei wichtige Er- scheinungen betrachten. Erstens die oft grosse Variabilität vegetativer Organe und die häufig ebenso auffallende Gleichförmigkeit ın den Organen des generativen Lebens, dann aber die Ungleichheit der Samen einer und derselben Pflanze. Die Organe des vegetativen Lebens sind im Allgemeinen in viel höherem Grade variabel als diejenigen, welche die sexuellen Vor- gänge vermitteln. Alle Eigenschaften der Blüthen sind weniger ! Otto Ammon, Der Abünderungsspielraum. Naturwissensch. Wochenschrift. 1896. Nr. 12—14. 106 Einige Streitfragen aus der Selectionslehre. variabel; um so weniger, je genauer sie dent Insectenbesuche ange- passt sind. Blumenblätter und Staubfäden sind in ihrer Anzahl äusserst constant, so lange ihrer nur wenige da sind, sobald ihre Anzahl aber so gross wird, dass einige mehr oder weniger auf die Form der Blüthen keinen merklichen Einfluss haben, sieht man sie varliren. Am wenigsten variabel ist bekanntlich die Symmetrie der Blüthen. Je genauer eine Blüthe dem Besuche einzelner Gattungen oder Arten von Insecten angepasst ist, um so schädlicher würde für sie jede Abweichung vom normalen Bau sein; um so geringer und seltener kommen auch thatsächlich solche Abweichungen vor. Umgekehrt ist es im vegetativren Leben vom höchsten Gewicht, jede gegebene Menge von Licht, Feuchtigkeit, anorganischen Nähr- stoffen, Raum u. s. w. ausnützen zu können, also unter günstigen Um- ständen sich üppig, unter dürftigen sich kümmerlich entwickeln zu können. | Es giebt eine ganze Reihe von Pflanzen, welche sich in dieser Beziehung durch eine auffällige Plastieität auszeichnen. Es wird häufig angenommen, dass die Culturbedingungen auf einer kleinen Stelle, z. B. auf einem Beete, von selbst sehr gleich- förmige sind, oder doch leicht so gemacht werden können. Meine Erfahrung in mehr als zehnjährigen Oulturversuchen hat mich die sehr grossen Schwierigkeiten, welche hier obwalten, kennen gelehrt. Und wenn im Versuche die Ungleichheiten nicht zu überwinden sind, so wird offenbar in der Natur ihr Einfluss ein ganz hervorragender sein können. Und so wird eine Aussaat aus gleichem Samen in der freien Natur eine viel geringere Aussicht auf eine kräftige Generation geben, als eine Saat sehr ungleicher Samen. Denn die Keimungs- und Wachsthumsbedingungen sind an einem und demselben Standorte sehr verschieden, theils wegen der Differenzen in Feuchtigkeit und Frucht- barkeit (Grad der Erschöpfung) des Bodens, theils wegen der thieri- schen Feinde, theils wegen der anderen Pflanzen, zwischen denen die Entwickelung stattfindet. Je zahlreicher die Samen und je grösser ihre individuellen Verschiedenheiten sind, um so grösser ist die Aussicht, dass an vielen Stellen gerade für diese geeignete Exemplare sich entwickeln werden. Vergleichen wir dazu in einem bestimmten Falle die Variabilität, wie sie thatsächlich in der Natur stattfindet, mit derjenigen, welche bei künstlicher Aussaat der Samen einer einzigen Mutterpflanze er- halten wird. Ich wähle als Beispiel die gelben Kornrosen (Chrysanthe- mum segetum) unserer Aecker, und von ihnen die Variabilität in der Variabilität und Anpassung. 107 Anzahl der Strahlen der Köpfchen. Die mittlere Anzahl der Strahlen pro Köpfchen pflegt 13 zu sein; um diesen Werth schwanken die einzelnen Individuen meist zwischen etwa 6 und 21 Strahlen. Herr Dr. H.W. Heısstvs hatte die Freundlichkeit, eine Beobachtung für mich auf den Aeckern der niederländischen Provinz Nord-Brabant zu machen; sie umfasst Zählungen an 325 Blüthen. Andererseits habe ich 1894 Samen von dreizehnstrahligen Pflanzen ausgesäet, und von der so erhaltenen Cultur die Zungenblüthen der Endköpfchen der Hauptaxe für jede einzelne Pflanze gezählt. Es waren 338 Pflanzen. Beide Zahlenreihen sind, um sie besser vergleichbar zu machen, in Procente umgerechnet; es ergab sich: Anzahld.Strahlen: 6 7 8 910 11 12 13 ' 14 15 16 17 18.19 20:21 Im Freien: 0,3 0,3 6,8 4,3 3,1 7,1 9,9 34,2 14,2 8,0 3,7 5,2 0,9 0,9 0,9 0 Nach Auslese: 0 0 0 0,3 0,9 2,3 9,3 65,8 14,8 2,3 1,5 1,2 0,9 0,3 0,6 0,3 In 'Fig. 32 sind die beiden Curven nach diesen Zahlen construirt. Man sieht sofort, dass die punktirte Linie (Curve der Cultur von 1894) einen viel höheren Gipfel hat und viel steiler ist als die andere; sie hat eine viel geringere Amplitude. Mit anderen Worten, die Abweichungen vom Mittel sind im Freien bedeutend erheblicher, als unter den Kindern einer einzigen Pflanze, auch wenn diese selbst genau den mittleren - +7 Typus trug. we Es ist klar, dass eine der Curve A entsprechende Generation leichter die ihr zusagenden Bedingungen finden wird, als eine weniger variable, wie sie durch B dar- gestellt ist. Die Aussaat der Samen vari- Ba er Zu r r r Temmsalı AV Tr 15 1 678 I WARS WISE IT 18 1920 2 Fig. 32. Curven mit grosser und kleiner Amplitude. 4,— Curve der Variabilität der An- zahl der Strahlenblüthen von Chrysanthemum segetum im Freien. B,-- dieselbe Curve irender Samenträger bietet also einen we- sentlichen Vortheil. Dazu kommt nun noch die Bedeutung der Kreuzung. Der Befruchtungsprocess besteht in seinem Wesen nicht in der Ver- für eine 1894 „emachte Aus- saat von Samen einer 13strah- ligen Pflanze. Die Zahlen am Fusse der Ordinaten entspre- chen der Anzahl der Zungen- blüthen pro Köpfchen. einigung der beiden Geschlechter, sondern in der Vermischung der erblichen Eigenschaften zweier Individuen verschiedener Herkunft, 1 Ueber Ourvenselection bei Ohrysanthemum segetum, Berichte d. d. bot. Ges. 1899. XVII. S. 87—89. gerechnet worden. Die dort gegebenen Zahlen sind hier in Procente um- 108 Einige Streitfragen aus der Seleetionslehre. oder doch von solchen, welche verschiedenen äusseren Bedingungen ausgesetzt gewesen sind. Eine Verschiedenheit in den erblichen Eigen- schaften ist offenbar Bedingung für die Erreichung des vollen Nutzens der Befruchtung.! Darwmm’s bekannter Satz: nature abhorrs perpetual selffertilisation, drückt nach meiner Ueberzeugung die Sachlage nicht ganz genau aus. Es bedarf nicht einzelner von Zeit zu Zeit vorkommender Kreuzungen; es ist im Gegentheil erforderlich, dass stets wenigstens ein gewisser Procentsatz von Individuen gekreuzt sei. Denn dadurch wird die Variabilität erhöht;? es handelt sich ja nicht darum, diese so gross ‚wie möglich zu machen, sondern sie einfach auf der von den äusseren "Umständen geforderten Höhe zu erhalten.® Der Grad individueller Abweichung ist bereits im Samen bestimmt. Die Samen aber sind nicht nur verschieden je nach den Eigenschaften hrer Eltern, sondern auch auf derselben Pflanze je nach dem Orte ihrer Entstehung und je nach ihrem Gewicht. Die Bedeutung dieser Factoren für die Variabilität ist vielfach untersucht worden; es liegen zahlreiche Angaben in der Literatur vor, doch bedürfen sie gar sehr einer einheitlichen und eingehenden Behandlung. Die Beziehungen zwischen der Variationsweite der verschiedenen Eigenschaften und dem Grad der Anpassung an wechselnde Lebens- bedingungen sind noch in vielen Hinsichten ungenügend studirt und unklar. Auch hier dürfte aber das weitere Studium bald zu einer schärferen Trennung zwischen Variabilität und Mutabilität auffordern. $ 19. Die Variabilität des Menschen und die socialen Fragen. Es ist in den letzten Jahrzehnten üblich geworden, die Ergebnisse der Descendenzlehre auf die Lösung der grossen Probleme der socialen Verhältnisse anzuwenden. Auf dem Wege, den der grosse englische Philosoph HERBERT SPENCER eröffnet hat, sind Viele gefolgt, und eine umfangreiche Literatur ist entstanden. In dieser sind leicht zwei Richtungen als maassgebend nachzuweisen. Vertreter der einen ist Orrto Ammon; seine Methode ist die Anwendung der Ergebnisse statistischer Forschungen. Weit zahlreicher aber sind die Anhänger der anderen Richtung, welche die Errungenschaften der Biologie, ! Intracellulare Pangenesis. S. 29. ® A. Gıarn in Comptes rendus des scances de la Soc. de Biologie. 4. Nov. 1899. p- 2, und Lisnier in der Festschrift zu Ehren GIARD’s. Nov. 1899. ® Vergl. namentlich Amwmos, Der Abänderungsspielraum. 1. c. 8. 53. * Vergl. vov Rünker, Der wirthschaftliche Mehrwerth. 1. c. S. 140—141. _ Die Variabilität des Menschen und die socialen Fragen. 109 namentlich aus dem Thierreich, für die Lösung der socialen Probleme zu verwenden suchen. Die Methode Ammon’s scheint mir durchaus berechtigt und sehr fruchtbar; die zoologischen und die sonst auf der Biologie fussenden Schriften scheinen mir aber in manchen Hinsichten einer Klärung zu bedürfen. ! Hier dürfte eine genaue und consequent durchgeführte Unter- scheidung zwischen Variabilität im gewöhnlichen Sinne, und Mutabilität das Mittel sein, manche Irrthümer zu vermeiden. Denn die Variabilität des Menschen ist eine fluctuirende, während die Arten durch Mutation entstehen. Beide Erscheinungen sind prin- cipiell verschieden.” Eine Uebertragung der Vorgänge, welche bei der Entstehung von Arten thatsächlich oder vermuthlich stattgefunden haben, erscheint somit als durchaus unberechtigt. Der Mensch ist ein Dauertypus, wie weitaus die meisten Arten von Pflanzen und Thieren, wenigstens gegenwärtig, gleichfalls perma- nent sind. Die Gesetze der Dauertypen dürfen also auf menschliche Verhältnisse angewandt werden, wenn auch vielleicht oft nur ver- suchsweise, nicht aber die Gesetze der Umwandlungen, durch welche die einzelnen Dauertypen aus einander entstanden sind. Die Dauer- typen aber zeigen ganz allgemein einen gewissen Grad fluctuirender Variabilität; ebenso ist es beim Menschen. Und so ist es die Lehre von der Variabilität im gewöhnlichen Sinne und nicht die Theorie über die Eintstehung der Arten, welche auf die socialen Fragen Anwendung finden kann. Den geistigen Anlagen am nächsten liegen selbstverständlich die körperlichen Eigenschaften des Menschen selbst. Diese aber folgen anerkanntermaassen denselben Gesetzen, wie die Variabilität im ganzen Thier- und Pflanzenreiche. Den Unterschied zwischen der Persistenz der Rassenmerkmale und den fluctuirenden Eigenschaften innerhalb der einzelnen Rassen beim Menschen — einen Unterschied, den namentlich VIrcHOow so oft betont hat — hat in der letzten Zeit wohl KoLLmann am schärfsten hervorgehoben.” Günstige und ungünstige Lebenslage, Migration in ! Für eine übersichtliche Darstellung und für die Literatur auf biologisch- socialem Gebiete lese man O. Herrwıc’s Festrede: Die Lehre vom Organismus und ihre Beziehung zur Socialwissenschaft. 1899. ® L’Unite dans la Variation. 1. c. p. 17. ® Korımann, Die angebliche Entstehung neuer Rassentypen im Correspondenz- blatt der d. Gesellsch. für Anthropologie. Bd. 31. Nr. 1. Jan. 1900. 8.1. Die Literatur ist S. 5 zusammengestellt. 110 Binige reale gen aus der Selechionsiehre. ein anderes Klima u. Ss. w. können die Aluetuirenden en des Menschen in wesentlicher Weise verändern. Aber nicht auf die Dauer; sobald die Wirkung aufhört, verschwindet auch der Erfolg. Aber die morphologischen Eigenschaften der Rasse erfahren dadurch nicht die allergeringsten Abänderungen. Es entstehen keine neuen Varie- täten. Seit dem Anfange des Diluviums hat der Mensch keine neuen Rassen oder Typen ausgebildet. Er ist jetzt, kurz gesagt, immutabel, wenn auch sehr variabel. Um eine Einsicht in die Ursachen und die Bedeutung der indi- viduellen Unterschiede beim Menschen zu erlangen, muss man also offenbar zunächst dieselben individuellen Unterschiede bei einzelnen ausgewählten Arten von Pflanzen und Thieren studiren. Hier liegt ein weites und fruchtbares Feld für Analogieschlüsse offen, ein Feld, das aber leider an Thatsachen und Versuchen noch ziemlich arm ist. Ä Unter den anthropologischen Schriftstellern ist, wie gesagt, nament- lich Ammon hier der Führer. Ohne zwischen Selections- und Mutations- theorie zu entscheiden, weist er die Anwendung der Artentstehung auf sociale Fragen klar und scharf ab. Und da die meisten socialen Schriftsteller gerade in diesem Punkte abweichen, so lohnt es sich, die betreffende Stelle wörtlich anzuführen.! Ammon fasst die übliche Selectionslehre in fünf Sätze zusammen, deren vier ersten die Vererbung, die Variabilität, den Kampf um’s Dasein und die natürliche Auslese? behandeln. Der fünfte Satz behandelt die Descendenztheorie. Er lautet: „Die in Folge der Variabilität auftretenden, für die Erhaltung der In- dividuen vortheilhaften Formen und Eigenschaften werden durch die natürliche Auslese weiter verbreitet, die ungünstigen werden ausge- merzt. Durch die von Geschlecht zu Geschlecht erfolgende Steige- rung des Betrages vortheilhafter Abweichungen vom ursprünglichen Typus können neue Varietäten und Arten entstehen.“ Und daran schliesst er: „Der fünfte Satz ist vielfach angefochten worden, indem man in Zweifel zog, dass die Abweichungen von einem bestimmten Typus sich in Folge der natürlichen Auslese bis zur Ent- stehung einer neuen Art steigern können. Wir brauchen glücklicher Weise auf den Austrag dieses Streites nicht zu warten. Ich habe den Satz 5 nur angeführt, um eine vollständige Uebersicht über die ! Orro Aumon, Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen EBENEN: 2. Aufl. 1896. 8. 9—10. ® Diesen sehr glücklichen Ausdruck Amuon’s sollte man stets statt „natür- liche Zuchtwahl‘ anwenden. u Die Variabilität des Menschen und die socialen Fragen. 111 Darwın’sche Theorie zu geben: für unsere gegenwärtige social- anthropologische Untersuchung ist Ziffer 5 bedeutungslos.“ Es ist hier nicht der Ort, auf diese Frage näher einzugehen. Schon mehrfach ist von berufenen Männern auf die Gefahr hinge- wiesen, die durch die Anwendung der Descendenztheorie auf den Socialismus entstanden ist. Und noch jüngst hat Kart, PEARson eine scharfe Kritik über Bensamın Kınp’s Buch der Social-Evolution, das in England von vielen Seiten als den besten Werken ebenbürtig empfohlen wird, geliefert. Wer über die hier drohenden Gefahren sogenannter „wissenschaftlicher“ Uebertreibung noch nicht im Klaren ist, möge diese Kritik aufmerksam lesen.! So lange die directe Erforschung der socialen Eigenschaften des Menschen noch unüberwindliche Schwierigkeiten bietet, wird es un- abweislich sein, nach Analogien zu suchen. Zu solchen Analogie- schlüssen soll das Material aber von der Variabilität im engeren Sinne geliefert werden, die Entstehung der Arten sollte davon völlig ausgeschlossen sein.” Das Studium der Variabilität, sowohl der Pflanzen und Thiere, als auch der körperlichen Eigenschaften des Menschen, hat bei dieser Anwendung ein weit höheres Ziel, als ohne sie je erreicht werden könnte. | Und diese Forderung einer Beschränkung der fraglichen Analogien auf die eigentliche Variabilität ist bei dem gegenwärtigen Stande der Forschung sehr glücklich zu nennen. Die Variabilität ist jetzt der Forschung fast auf allen Punkten zugänglich, die Mutabilität bei Weitem noch nicht. Manche Variabilitätsgesetze sind von (QUETELET, GALToN und ihren Nachfolgern gründlich erkannt worden; sie lassen sich entweder direct auf die Geisteseigenschaften übertragen oder er- leichtern doch die Erforschung dieser in wesentlichem Maasse. Namentlich für den Botaniker liegt hier ein weites und frucht- bares Feld offen.” Bei Selectionsversuchen hängt die Genauigkeit in erster Linie von der Anzahl der Individuen in jeder Generation ab, und Pflanzen lassen sich leicht zu Hunderten von Exemplaren unter ganz natürlichen Umständen cultiviren. Viel schwieriger geht solches bei Thieren, nicht oder fast gar nicht beim Menschen. Hier, wie auf so vielen anderen Gebieten, sollte der Botaniker dem Zoologen und dem Anthropologen stets vorangehen. ! Karı Prarson, Darwinism and Socialism, The forthnightly Review. 1898. ® Vergl. auch H. J. Havorart, Darwinism and Race-progress, und ferner über die Möglichkeit, die Seleetion durch bessere Ernährung zu ersetzen: Z’Unite dans la Variation. p. 21. ® L’Unite dans la Variation. 1. e. p. 14—15. 112 Einige Streitfragen aus der Selectionslehre. Die Statistik der Variabilität ist in den letzten Jahren, nament- lich durch die Arbeiten Lupwıc’s auf botanischem Gebiete, BATEsoN’s und Werpvon’s in der Zoologie, und KARL PEARsoN’s und DUNCKER’S in mathematischer Richtung zu einem schönen wissenschaftlichen Ge- bäude geworden. An dessen Aufbau bethätigten sich auf botanischem Gebiete ausser LupwIG vorwiegend VERSCHAFFELT, BURKILL, HAACKE, DAvENnPpoRT und BLANKINSHIpPP, Mac Leon und viele Andere.! Fassen wir unsere Auseinandersetzungen dieses Paragraphen kurz zusammen. Die geistigen und socialen Eigenschaften des Menschen gehören in das Gebiet der fluctuirenden Variabilität. Die hier gelten- den allgemeinen Gesetze können somit auf sie eine fruchtbare Anwen- dung finden. Und auf solche Anwendungen wird man so lange und in so weit wesentlich angewiesen sein, als eine directe Erforschung nach den Methoden der Variabilitätsstatistik und nach der Selectionsmethode sich noch nicht durchführen lässt. Die Biologie kann hier der Social- wissenschaft eine sichere Grundlage bieten. Und hoffentlich ist die Zeit nicht mehr fern, in der in dieser Weise ein fruchtbares Zusammen- wirken dieser beiden anscheinend so nahe verwandten und doch vor- läufig einander noch so fern stehenden Wissenschaften eintreten wird. Die Lehre von der Entstehung der Arten hat dabei aber ausser Betracht zu bleiben. $ 20. Einige Aufgaben für die weitere Forschung. Zu wiederholten Malen habe ich mich gezwungen gesehen, nicht nur auf die hervorragenden Leistungen meiner Vorgänger, sondern auch auf die vielen noch offenen Lücken in unseren Kenntnissen hinzuweisen. Die Variabilität im engeren Sinne stellt ein Gebiet menschlichen Wissens dar, das in den letzten Jahren in rascher Ausbildung be- griffen ist. Allgemein wird aus nahe liegenden Gründen dabei die statistische Richtung bevorzugt, doch brechen sich auch die ver- gleichenden und die experimentellen Methoden allmählich ihre Bahn. Ich erlaube mir, an dieser Stelle auf eine Reihe von Fragen hinzuweisen, deren Beantwortung mir für eine definitive Klärung der Begriffe über Variabilität und Mutabilität durchaus wünschenswerth. zu sein scheint. 1. Das QuETELET’sche Gesetz bedarf immer weiterer Beispiele; die Zahl dieser kann nie gross genug werden. ! Literaturübersicht bei G. Duncker, Die Methode der Variationsstatistik; Roux’ Archiv f. Entwickelungsmech. T. VIII. 1899. S. 167; und ÖsTERHOoUT, Problems of Heredity in Contributions Bot. Semin. Univ. California. 1898. Einige Aufgaben für die weitere Forschung. 113 2. Die betreffenden Curven sollten an denselben Exemplaren oder an demselben Standorte einige Jahre hinter einander ermittelt werden. Die Constanz ihres Mittels (Gipfels) und ihrer Amplitude (GALToN’s Q und ©) ist festzustellen. Aenderungen dieser Grössen, sowie Ab- weichungen von der Symmetrie sind auf ihre Ursachen zurückzuführen. 3. Die mehrgipfeligen Curven sind aufzusuchen und zu analysiren. Sie können auf die Existenz von Gemischen hinweisen, indem scharf getrennte elementare Arten durch einander wachsen, oder es können antagonistische Merkmale in derselben Art vorkommen (z. B. ein- und zweijährige Individuen von Daucus, Beta u. s. w.). Sie können ferner durch Krankheiten bedingt sein. Sie können endlich vielleicht „dop- pelte Curven“ sein, in denen die einzelnen Gipfel als die Ordinaten einer Curve höherer Ordnung zu betrachten sind, diese Gipfel somit nicht auf Mutabilität hindeuten. 4. Die correlative Variabilität gehört zu den wichtigsten Auf- gaben.! Es bestehen beim Menschen offenbar Correlationen zwischen körperlichen und geistigen Anlagen. Es bestehen zwei Gruppen von Correlationen. In die eine gehören jene Erscheinungen, in denen zwei Eigenschaften in derselben Weise, wenn auch nicht in demselben Grade von äusseren Einflüssen abhängen. Zu der anderen gehören die Fälle, wo die Variation eines Merkmales ursächlich Variationen anderer Merkmale bedingt.” So werden z. B. alle Eigenschaften, von denen das Vermögen der Kohlensäurezerlegung abhängt, verschiedene Wachsthumsvorgänge in gleichem Sinne zu varlıren veranlassen. Es ist wohl fast überflüssig, auf das Studium der Correlation nach Gaurtox’s Methode hinzuweisen.? 5. Die Beziehungen zwischen den Lebensmedien und der Variabili- tät sind zu erforschen. Giebt es von ersteren unabhängige Variationen oder giebt es solche nicht? Und falls ja, welches sind dann ihre Ursachen? Kommt den einzelnen Factoren des Lebensmediums eine besondere Wirkung zu oder nicht? Besteht zwischen ihrer Grösse und der Grösse der Variation ein bestimmtes Verhältniss? Variiren alle Eigenschaften bei besserer Ernährung nach Plus, bei schlechterer nach Minus?* ı J.H. Burkırı, Variations in the number of stamens and carpells. Joum. Linn. Soc. Bot. Vol. 31. 2 DUNcKER, Roux’ Archiv. Bd. VIII. 8. 163. ®? Garton, Natural Inheritance und Proceedings Toy. Soc. Bd. 40 u. 45, und Ev. VERSCHAFFELT, Correlatieve Variatie by planten. Botan. Jaarboek. VIII. p. 92. * Auch durch Griffeln und Oculiren kann die Variabilität beeinflusst werden. Vergl. L. Danıer, Compt. rend. 1894. T. CXVII. p. 992. DE VRIES, Mutation. I 8 114 Eunig 'ge SEIN aus der Seleotionsiehre. 6. ns menge Periode in der Bveuee der Eigenschaften ist zu bestimmen. Wenn die betreffenden Anlagen bereits unter dem Mikroskop sichtbar sind, wird es in der Regel zu spät sein, auf ihre Entwickelung einen hemmenden Einfluss auszuüben. Doch mag es Ausnahmen von dieser Regel geben. In der ganzen Entwickelungs- phase jeder Eigenschaft giebt es wahrscheinlich einen Zeitpunkt höchster Empfindlichkeit; letztere wird wohl allmählich erreicht werden, um auch allmählich wieder zu verschwinden. Der Verlauf dieser Periode wäre zu. bestimmen. 7. Sehr wichtig ist GALToN’s Regression. Man säe Samen von einer selbstbefruchteten Pflanze, von der man weiss, um wie viel sie in bestimmten Eigenschaften vom mittleren Werthe ihrer Vorfahren abweicht. Man ermittele die Curve für die betreffende Aussaat. Im Allgemeinen wird deren Mittelwerth weniger von der Norm abweichen, als die Eigenschaft der elterlichen Pflanze. Nach GALToN ist das Verhältniss dieser beiden Abweichungen zu einander ein constantes; die mittlere Abweichung der Kinder betrage gewöhnlich etwa /, von der der Eltern. Es fragt sich, ob diese beiden Sätze allgemein gültig sind; meine bisherigen Erfahrungen sprechen einstweilen dafür. 8. Bleibt diese Regression bei anhaltender Selection im Laufe mehrerer Generationen dieselbe? Mit anderen Worten, erreicht der mittlere Werth einer Rasse stets nur !/, von dem Werthe (= Ab- weichung vom Mittel) der jedesmal ausgewählten Samenträger? Bleibt somit die Rasse, trotz ihres Fortschrittes, immer in demselben Ver- hältnisse, und somit absolut immer weiter hinter ihren Samenträgern zurück? Es scheint dies der Fall zu sein, und es ist hier offenbar in Bezug auf die Entstehung der Arten auf Grund der Selections- theorie eine wichtige Entscheidung zu treffen. 9. Aus dem QuUETELET’schen Gesetze lässt sich berechnen, auf wie viele Individuen bei einer Variation, deren Curve man kennt, eine be- stimmte gewünschte Grösse der Abweichung zu erwarten ist. Es scheint diese Aussicht bei nicht allzu unerheblichen Differenzen sehr allgemein eine ganz kleine zu sein, bald Millionen von Individuen erfordernd. Es wäre sehr wünschenswerth, solche Berechnungen so zahlreich wie möglich anzustellen. ! 10. Die Selection ist ein Mittel, eine gewünschte Grösse irgend einer Abweichung vom Durchschnitt mittelst einer geringeren Anzahl ‚von Individuen zu erreichen. Ist dieses vielleicht ihre einzige Be- ! Vergl. Duncker, Biolog. Centralbl. 1898. S. 571. Für jedes folgende Tausend nimmt der Variationsumfang nur im Verhältniss von 1—1,049 zu. Arten, Unterarten und Varietäten. 115 deutung? Und vermindert sie die Zahl der Individuen nur in dem im Voraus zu berechnenden Grade? Ist dann die Regression unab- hängig von den Vorfahren des betreffenden Samenträgers, mit anderen Worten, ist es gleichgültig, ob dieser durch wiederholte Selection oder durch einmalige Aussaat in viel grösserem Maassstabe, erhalten worden ist? 11. Die Versuche sind stets zunächst auf ein einziges Merkmal zu richten, obgleich sehr häufig auch ein zweites und drittes mit gutem Erfolg nebenbei gemessen werden kann. Die Selectionen der Züchter berücksichtigen möglichst viele Merkmale; durch die Correla- tionen können dabei die Hauptmerkmale weiter verbessert werden, als dies sonst möglich wäre. Auch solche Versuche sind rein wissen- schaftlich auszuführen. 12. Beim Selectionsverfahren ist stets auf die individuelle Kraft der als Samenträger zu wählenden Individuen zu achten. Falls diese mit dem Grade der fraglichen Abweichung nicht parallel ist, sollte man einerseits die kräftigsten Individuen und andererseits diejenigen mit dem grössten Betrage der Abweichung als Samenträger wählen und die Nachkommenschaft beider vergleichen. 13. Retourselection sollte vielfach versucht werden. Ich meine die Wahl von Samenträgern mit den kleinsten Petalen, den kleinsten Früchten, der schwächsten Behaarung oder Bewaffnung, der blassesten Blüthenfarbe, der geringsten Anzahl von Staubfäden und Carpellen u.s.w. Nach der Selectionslehre muss eine solche Zuchtwahl leiten zu apetalen, fruchtlosen, unbehaarten, unbedornten, weissblüthigen, eingeschlechtlichen oder sterilen Pflanzen u. s.w. Nach der Mutations- lehre aber nicht, vorausgesetzt, dass Kreuzungen ausgeschlossen sind. 14. Im Allgemeinen und zusammenfassend handelt es sich um moglichst vollständige Variationsbeherrschung. Die statistischen und die ursächlichen Gesetze muss man so weit kennen, dass man die Versuchsresultate im Voraus berechnen kann. V. Die Entstehung der Arten durch Mutation. $ 21. Arten, Unterarten und Varietäten. Im zweiten Kapitel haben wir gesehen, dass die Arten nicht durch weitgehende individuelle oder fluctuirende Variabilität, mittelst Selection in bestimmten Richtungen, entstanden sein können. Es ist somit jetzt unsere Aufgabe, nachzuweisen, dass die vor- 8*F 116 Die Entstehung der Arten dwrch Mutation. handenen Beobachtungen in einfacher und ausreichender Weise durch die Annahme von sprungweisen Umwandlungen erklärt werden können. Wo solche Umwandlungen in der Cultur nachweislich stattfinden, nennt man sie spontane Abänderungen oder single variations; solche sind fast stets entweder völlig oder doch in hohem Grade erblich. Auf dem Gebiete der Descendenzlehre lautet der Grundsatz der Mutationstheorie somit: Die Arten sind in der Weise der so- senannten spontanen Abänderungen entstanden. Und in unserer „Revision der Thatsachen“ handelt es sich also darum, zu untersuchen, in wie weit die vorhandenen Kenntnisse diesen Ausspruch als berechtigt erscheinen lassen. Vor allen Dingen ist dabei entscheidend, sich darüber klar zu werden, was man unter dem Begriffe „Arten“ zu verstehen, oder vielmehr, welche Formen man als Einheiten des natürlichen Systems aufzufassen hat. Denn nur für die wirklich existirenden Einheiten kann es sich um einen experimentellen Beweis ihrer gemeinschaft- lichen Abstammung handeln; für die Gruppen von Einheiten wird die Descendenzlehre wohl stets eine vergleichende Wissenschaft bleiben. Früher galt der Linx&’sche Satz, dass die Arten einzeln ge- schaffen seien, und war es aus diesem Grunde eine höchst wichtige Frage, welche Formen man Arten zu nennen habe. Den Streit, der hierüber namentlich in der letzten Periode vor Darwın geführt wurde, habe ich oben in seinen Hauptzügen zu schildern gesucht.! Seitdem jene Bedeutung aufgegeben wurde, knüpfte sich der Art- begriff eigentlich nur noch an die binäre Nomenclatur. Wir sind daran gewöhnt, die Arten als die Einheiten unserer systematischen Betrachtungen zu behandeln, und sie mit doppelten Namen zu belegen. Dass diese Arten aber nicht wirklich in der Natur vorhandene Formen vergegenwärtigen, sondern Gruppen von solchen, wird dabei ganz gewöhnlich vergessen. Und zwar trotzdem die Thatsache von den besten Systematikern anerkannt und wiederholt betont wird.? Auch Linn& betrachtete seine Arten nicht als einfache, sondern als Gruppen,? und DE CANDoLLE nennt sie wiederholt collective. Die Gruppirung der Pflanzen zu Arten hat genau denselben Werth und denselben Zweck als ihre Gruppirung zu Gattungen, Fa- milien u. s. w. So lange die Kenntniss der wirklich existirenden Einzelformen noch eine so unvollständige ist, wie jetzt, braucht sowohl ! Vergl. Kapitel IL. S 1. S. 10—20. ° Arpn. De Canvorze, La Phytographie; und De l!’Origine des especes cultivees. 1883. p. 372. ® So als bekanntestes Beispiel die Art Homo sapiens. Arten, Unterarten und Varietäten. 117 die Systematik als auch die Pflanzengeographie, namentlich aber auch die Descendenzlehre, den jetzigen Begriff der sogenannten guten Arten, Grossarten, Stammarten, Lixw#’schen, collectiven oder Sammel- arten, und müssen sie die kleinen, localen, floristischen oder elemen- taren Arten als diesen untergeordnet behandeln.! Dennoch ist es klar, dass diese Auffassung gar häufig theils zu unvollständiger Forschung, theils zu Trugschlüssen führen muss. So sind z. B. bekanntlich die geographischen Gebiete der Arten denen der Gattungen ganz analog; dieser Satz erreicht aber seine volle Be- deutung erst, wenn man dabei vergisst, dass Arten ebenso wie Gat- tungen collective Begriffe sind. Die Vertheilung der elementaren Arten auf dem geographischen Gebiete der einzelnen Grossart bildet in geographischen Werken nur selten Gegenstand der Betrachtung, doch wäre gerade sie für die Erkenntniss der Entstehung und der Verbreitung der Organismen von grösster Bedeutung. Nach JOoRDAN hat jede Art, ebenso gut wie jede Gattung, ein geographisches Centrum, dort findet man ihre Elemente (Unterarten) am dichtesten zusammen, häufig, trotz bleibender Trennung, an denselben Standorten durch einander wachsend, während nach dem Umfange des Gebietes der Art die elementaren Arten seltener und spärlicher werden.? Am wichtigsten ist aber eine richtige Würdigung des Artbegriffes für die Descendenzlehre. Diese Lehre, welche auf morphologischem, embryologischem, systematischem, biologischem und vergleichend-ana- tomischem Gebiete als das belebende Princip aller Forschung und Wissenschaft zur vollen Anerkennung gelangt ist, hat auf die experi- mentelle Forschung nur geringen Einfluss gehabt. Anfangs eröffnete sie die Hoffnung, dass es der Wissenschaft einmal gelingen würde, nicht nur den gemeinschaftlichen Ursprung aller Arten zu erkennen, sondern auch die Entstehung der Arten selbst in das Gebiet der direeten Beobachtung und selbst des willkürlichen Eingreifens in die Vorgänge der Natur hereinzubringen. Von diesem Ziele ist man aber heute noch ebenso weit entfernt, wie zu Darwıny’s Zeit. Nicht einmal die Fragestellung ist eine völlig klare. Die Gegner der Descendenzlehre haben von Anfang an die Forderung gestellt, man solle die Entstehung von Arten wenigstens beobachten, eigentlich aber auch experimentell hervorrufen können. ! Ebenso in der Lehre von den parasitischen Pilzen, wo man Species von höherem Range unterscheidet, welche als Obergruppe eine gewisse Anzahl Arten von niedrigerem Range umfassen. Vergl. z. B. Kırsann in Prixasn., Jahrb. für wiss. Bot. Bd. 34. S. 395. ®2 A. Jorpan, De lexistence d’especes vegetales affines. 1873. p. 4—8. 118 Die Entstehung der Arten durch Mutation. Und diese Anforderung muss auch jetzt als eine völlig berechtigte anerkannt werden, wenn auch selbstverständlich nicht mehr als eine Bedingung für die Erkennung der Descendenzlehre selbst. Hier aber wirkt die herrschende Verwirrung über den Artbegriff wohl am meisten nachtheilig.. Was soll man der Beobachtung und dem Experiment zugänglich machen? Die Gegner antworten: „Die Entstehung der üblichen systematischen Lixxt’schen Arten.“ Aber diese sind künstliche Gruppen, deren Umfang ‚Jeder nach seinen per- sönlichen Einsichten abändern kann und thatsächlich auch nur zu häufig abändert. Die Entstehung einer Gross-Art ist ebenso wie die- jenige einer Gattung ein historischer Vorgang, der weder experimentell nachgeahmt, noch in seinem ganzen Verlaufe der directen Beobachtung zugänglich gemacht werden kann. Nur dadurch, dass irgend eine Form eine Reihe neuer hervor- bringt, während ihre nächsten Verwandten aussterben, kann sie den Rang einer systematischen Art erreichen. Die Entstehung einer solchen willkürlich begrenzten Gruppe zu beobachten wird selbstverständlich ebenso unmöglich bleiben, wie die Entstehung einer Gattung oder Familie. Es kann sich für die experimentelle Wissenschaft nur darum handeln, die Entstehung solcher Formen der Beobachtung und dem Experiment zugänglich zu machen, als wirklich im der Natur be- stehen. Nicht um die von uns gemachten Gruppen, sondern um die thatsächlich vorhandenen Gebilde handelt es sich, also um die Ent- stehung sogenannter elementarer Arten. Dass solche in Gärten und in der landwirthschaftlichen Cultur gar häufig entstehen, daran zweifelt wohl Niemand. Aber einerseits findet man sie erst, wenn sie fertig da sind, also wenn die Gelegen- heit, die Art und Weise ihrer Entstehung zu beobachten, bereits un- widerruflich vorbei ist. Und dann pflegt man sich diese Erscheinung dadurch bequem zu machen, dass man solche neuen Formen „Varie- täten“ nennt. | Was sind Varietäten? Sie sind bei wild wachsenden Pflanzen meist etwas ganz anderes als in der Cultur. Oder richtiger, es giebt verschiedene Definitionen, deren Grenzen nicht genau angegeben sind. Um die übernatürliche Würde der „Arten“ zu retten, heissen alle Formen, deren Entstehung man mehr oder weniger genau historisch kennt, wenn sie nicht etwa Kreuzungsproducte sind: „Varietäten“. Also die meisten elementaren Arten in der Cultur. Von Gärtnern wird überhaupt zwischen Varietäten und Sorten allgemein, zwischen diesen und Arten oder Bastarden gar häufig kein Unterschied gemacht. Arten, Unterarten und Varietäten. 119 Die Bezeichnung aller Formen, deren Ursprung man mehr oder weniger genau kennt, als Varietäten, ist eine solche, welche zu aller- hand Missbräuchen Veranlassung giebt. Man sollte sie aus diesem Grunde gänzlich aufgeben. Vor Darwın glaubten die besten Ver- fasser den gemeinschaftlichen Ursprung einer Gruppe von Arten ein- fach dadurch beweisen zu können, dass sie diese als Varietäten einer grösseren Art beschrieben. So hat z. B. Naupın nach Wantack’s Angabe von dreissig bis dahin unterschiedenen Arten von Melonen „nachgewiesen“, dass sie nur Varietäten seien. Und nach Darwın wird es selbstverständlich so lange unmöglich bleiben, die Entstehung einer „Art“ direct zu beweisen, so lange dieser Beweis selbst die Form zu einer Varietät „erniedrigt“. Es handelt sich hier fast nur um ein Wortspiel. Bei den besseren Autoren beruht der Begriff Varietät auf dem Satze, dass auf einem einzigen Merkmale keine „Art“ gebildet werden sollte. Ein sehr schönes Beispiel liefert der bereits erwähnte Fall von Datura Stramonium und D. Tatula. Beide sind Arten von Lmx& selbst, werden aber von neueren Autoren zu einer einzigen Art zusammengezogen, weil die Tatula sich nur durch den Besitz des blauen Farbstoffes, in Blüthe, Stengeln, Blattstielen u. s. w. von ersterer unterscheidet. ? Diese Umschreibung des Varietätsbegriftes ist offenbar eine wissen- schaftlich brauchbare. Sie ist solches um so mehr, als sehr häufig das unterscheidende Merkmal auf Verlust bezw. Latenz einer Eigen- schaft beruht: Mangel der Petalen, der Haare, der Dornen, der Blüthen- farbe u. s. w. Denn solche Fälle bilden anerkanntermaassen die besten Beispiele von dem, was man eine Varietät zu nennen habe. Nur vergesse man nicht, dass die Zugehörigkeit solcher Formen zu ihren Arten meist nur auf der vergleichenden Untersuchung und nicht oder nur selten auf einem wirklichen Beweise beruht. Solche Varietäten sind überhaupt ebenso selbstständig, bei der Cultur ebenso constant, wie die besten Arten. Will man sie Varie- täten nennen, so sind Varietäten weiter nichts als eine besondere Form von Arten. Varieties are only small species, sagt DARWIN.? 1 Warraice, Darwinism. p. 87. ® Wobei fälschlich Stramonium für die Art und Tatula für die Varietät angesehen zu werden pflegt. Denn nach allen Analogien ist die blaue die ältere und die weisse die jüngere Form. Siehe auch Fig. 5 auf 8. 22. ® Life and Letters. Il. p. 105. Weniger zutreffend ist Darwm’s mehr bekannter Ausspruch, dass Varietäten beginnende Arten seien. Ueber das Alter der meisten Varietäten weiss man gar nichts. 120 Die Entstehung der Arten durch Mutation. Die elementaren Arten JoRDAN’s unterscheiden sich von ihren Verwandten nicht in einem Merkmale, sondern in nahezu allen ihren Eigenschaften. Es ist dies ein sehr wichtiger Punkt. Diese Formen als Varietäten aufzufassen, liegt gar kein Grund vor. Will man sie als Unterabtheilungen der alten Arten behandeln, so sind sie als Unterarten zu bezeichnen. Ich nenne sie am liebsten elementare Arten. Darwin spricht wiederholt von den Elementen der Art, den specific elements, wenn er die einzelnen Eigenschaften meint.! Es besteht wenig Aussicht, dass in Bezug auf alle diese Fragen je Einigkeit zwischen den verschiedenen Autoren erreicht werden wird.. Theoretisch ist meiner Ansicht nach den wirklich existirenden elementaren Arten mit vollem Rechte die noch stets so hoch ange- schlagene Würde der „Art“ zuzuerkennen. Praktisch ist es aller- dings bequemer, die künstlich gebildeten Gruppen solcher, d.h. also die collectiven Arten, kurzweg Arten zu nennen. Ueberall, wo es sich darum handelt, dem Ursprung der einzelnen Arten experimentell nachzuforschen, sind die elementaren Formen die Arten. Die anderen sind Gruppen oder historische Gebilde, welche sich bereits aus diesem Grunde dem Experiment entziehen. Zusammenfassend sehen wir, dass die Linx&’schen Arten collectiv und künstlich, die Jorpan’schen Arten aber einfach und nachweisbar sind. Jede collective Art besteht aus einer grösseren oder kleineren Gruppe von Unterarten oder elementaren Arten; in der Bestimmung der Grenzen jener Gruppen lässt sich der Systematiker wesentlich von den Lücken leiten, welche durch Absterben mehr oder weniger zahlreicher Unterarten entstanden sind. In Bezug auf die Nomenclatur wäre es vielleicht erwünscht, die binäre durch eine ternäre zu ersetzen; die Lisnt’schen Artnamen so viel wie möglich zu behalten und diesen als Dritten im Bunde den Namen der elementaren Form hinzu zu setzen.” Der Begrift Varietät wäre gänzlich auf die Culturformen zu beschränken. 1 2. B. Variations II. p. 23. Diese „elements“ entsprechen nach der Pan- genesis je einem materiellen Träger (Pangene). ” Ebenso WAAGEn in BENEcRE’s Geognostisch-palüontologischen Beiträgen. 1876. Bd. II. S. 187. — Ein Beispiel: Die Bedeutung von Draba verna lepto- phylla kann jeder leicht errathen, während Zropkila leptophylla nur für die Ein- geweihten einen Sinn hat. ® Ebenso sind die Unterarten nicht stets als neben der Art, oder aus dieser entstanden zu beschreiben; denn jede Art besteht nur aus einer Gruppe von Unter- arten. Eine forma genuwina anzunehmen, wie jetzt üblich, dafür spricht nur die Bequemlichkeit. Die Arten in der Natur. $ 22. Die Arten in der Natur. Die Arten der Systematik sind Sammelarten; sie bestehen aus einer grösseren oder kleineren Reihe von Unterarten, welche bei der Cultur sich beständig zeigen. Je grösser das geographische Gebiet einer Art ist, um so grösser ist die Zahl der Unterarten; im Centrum des Gebietes sind sie angehäuft, nach der Peripherie treten sie mehr vereinzelt auf. In localen Floren hat somit jede Grossart in der Regel nur eine oder sehr wenige elementare Arten,! aber diese Arten entsprechen sich in den Floren benachbarter Gegenden nicht genau.” Je grösser das (rebiet, um so zahlreicher werden die Formen. Aus Frankreich allein hat .JOoRDAN von Draba verna? etwas über 50 Arten in seinem Garten zusammengebracht,* aus den übrigen Ländern Europas, namentlich aus England, Italien und Oesterreich, noch etwa 150 andere, so dass er 1873 etwas über 200 Formen in Cultur hatte. ° Dieser Formenreichthum oder diese Polymorphie der sogenannten guten Arten ist eine allgemeine Erscheinung.° Darwin hat wieder- holt auf sie aufmerksam gemacht und aus einander gesetzt, wie gerade durch sie die am weitesten verbreiteten Arten die meiste Aussicht haben, wiederum neue Arten hervorzubringen, und so allmählich sich in Gattungen zu verwandeln.” Bei seltenen Arten sei diese Aussicht eine viel kleinere. So reich an Unterarten wie Draba verna sind nur sehr wenige Arten. Vielleicht kommt Viola tricolor ihr am nächsten,® von der sogar die bekannte Unterart Viola arvensis selbst noch eine Collectivart ist.” Man kann für Deutschland oder Frankreich die Anzahl der Unter- ı Von Draba verna wächst in der Umgegend von Amsterdam und den be- nachbarten Städten, so viel ich bis jetzt ermitteln konnte, nur eine elementare Art, welehe nach ihren Merkmalen mit Jorpan’s D. leptophylla übereinstimmt. * So fand sich früher z.B. in der Umgegend von Haarlem die Senecio Jacobaea allgemein, aber stets ohne Zungenblüthen, während sie in den benachbarten Dünen unweit Leiden nur mit solchen Blüthen gefunden wurde. 2 Verel. Big. 3 auf 8.15. * De lorigine des arbres frwitiers. 1858. ® Des especes vegetales affines. p. 13. 1873. ® Sie wird vielfach als „Variabilität“ bezeichnet; damit lässt sich aber die Thatsache der gegenwärtigen gegenseitigen Unabhängigkeit und Beständigkeit der die Art zusammensetzenden elementaren Typen nicht wegleugnen. ” WALLAcE, Darwimism. p. SO und 98. ® A. JorDan, Observations sur plusieurs plantes nowvelles. 1846—1849. T. II. p.7. ° Vergl. Fig. 4 auf S. 16. 122 Die Entstehung der Arten durch Mutation. arten pro Oberart im Mittel auf nicht viel mehr als 2—3, für ganz Europa im Mittel vielleicht auf etwa 10 stellen. Bei Berücksichtigung und Beschreibung aller dieser Formen würde eine Flora von Europa also den zehnfachen Umfang erreichen, was allerdings sehr unbequem wäre. Aber wie es vorzügliche Werke giebt, welche nur die Gat- tungen, oder nur diese und ihre wichtigeren Arten behandeln, so würden die meisten Floren auch nur die Arten und ihre wichtigsten Unterarten zu beschreiben haben. Eingehenderen Werken würde dann die Zusammenstellung aller wirklich bestehenden Einzelformen überlassen bleiben. ! Wo es sich um die Entstehung der einen Art aus der anderen im Ein- zelnen handelt, bedarf die Descendenz- lehre dieses Materiales ganz unbedingt. Wo es sich um das Studium der Ver- wandtschaft grösserer Gruppen handelt, ist es ihr allerdings ein widerwärtiger Ballast, dessen Existenz man nur zu oft zu verschweigen sucht. Es ist aber gar nicht einzusehen, weshalb diese beiden Richtungen nicht neben einan- der sollten bestehen können. Nur die Fig. 33. Potentilla Tormentilla, mit schmalen, breiten und mittleren ; 3lumenblättern, drei constante, wild übernatürliche Würde des Linnk’schen vegan, he vergegenwär- Aptbegriffes scheint hier noch immer N den Stein des Anstosses zu bilden. Die elementaren Arten unterscheiden sich in der Natur nur selten durch ein einziges oder durch einige wenige Merkmale? (Fig. 33), meist aber in allen ihren Organen und Charakteren. Eine vollstän- dige Diagnose erfordert oft eine ganze Druckseite. Die ganze Tracht ist eine andere; von Weitem sind die Formen für das geübte Auge von einander zu unterscheiden.” Namentlich in den Culturen, wenn ! Vergl. z.B. die Flora Europae von M. GAnDoGErR, welche die elementaren Arten in allen wichtigeren Grossarten anführt, ihre Merkmale aber nur in kurzen diehotomischen Tabellen angiebt (27 Bände). ® Von Potentilla Tormentilla wächst auf der Haide unweit Amsterdam eine Form mit schmalen, eine mit breiten und eine mit mittleren Petalen; sie zeigten sich mir bei einem Aussaatsversuche als beständig. ® Oder sie sind äusserlich gar nicht oder fast gar nicht unterschieden, und weichen von einander nur in wichtigen physiologischen Eigenschaften ab, wie in der Wahl der Nährpflanzen bei den Rostarten, wie die umfangreichen und hochwichtigen Untersuchungen Erıcksson’s uns lehren. N Die Arten in der Natur. 123 Gruppen von zahlreichen Individuen der einzelnen Typen neben einander stehen. Oft sind die Merkmale derart, dass sie auch am getrockneten Material leicht kenntlich sind; oft aber verschwinden sie beim Pressen ganz oder zum Theil. Die Beständigkeit der localen Arten, und damit ihre Selbst- ständigkeit, lässt sich nur durch Culturversuche nachweisen.! Solche sind von Koca und Frıes und vielen anderen hervorragenden Syste- matikern zahlreich angestellt worden, namentlich aber von .JJORDAN und dessen Schülern. Vielfach sind diese Versuche controlirt worden, und stets mit demselben Erfolg. THurer und Borxer cultivirten 14 Jorpan’sche Arten von Draba verna, A—6 Arten von Papaver dubium u. s. w. während etwa 7 Jahren und überzeugten sich von ihrer Be- ständigkeit.? | Auch die hohe Autorität pe Bary’s stützt diesen wichtigen Satz. In einer sehr bekannten, nach seinem Tode von F. Rosen fort- gesetzten und veröffentlichten Untersuchung erklärt er sich von der Samenbeständigkeit und der völligen systematischen Trennung der zahlreichen Arten von Draba verna völlig überzeugt.? Diese ausge- zeichnete Abhandlung hat zwar volle Anerkennung gefunden, nicht aber auf die Fachgenossen die offenbar von pe Bary gehoffte Wirkung gehabt, die Forschung mehr allgemein auf dieses Gebiet hinzuleiten. Auf zoologischem Gebiete verhält sich die Sachlage genau so. Jeder Zoologe weiss, sagt Bareson,* dass von sehr vielen Arten die Individuen, welche in verschiedenen Gegenden leben, einander ungleich sind, und dass man mittelst dieser Verschiedenheiten die Arten in locale Formen zerspalten kann. Die Unterschiede können äusserst geringe, oft nur dem Eingeweihten sichtbare, und dennoch beständige sein. Aber diese Thatsachen werden bei Weitem noch nicht so ge- würdigt, als sie es verdienen. ! Analogieschlüsse sollte man auf diesem Gebiete möglichst vermeiden, vergl. die Flora Europae von GANDOGER. ® J. Costantın, Accomodation des plantes, Bull. seientif. publie par Gıarn. BROT. pP: 507. ® F. Rosen, Systematische und biologische Beobachtungen über Erophela verna. Bot. Zeitung 1889. Nr. 35. * W. Bareson, On progress in the study of variation. Science progress. Vol. I und I. 1897—98. Vol. II p. 1. 5 Ebenso G. Duncker, Rovux’ Archiv. Bd. VII. 1899. 8. 164. 124 Die Entstehung der Arten durch Mutation. $ 23. Die Arten in der Oultur. Genau so, wie die wild wachsenden Arten aus einer grösseren oder kleineren Anzahl von beständigen und unabhängigen Unterarten bestehen, wird es sich vermuthlich mit jenen Arten verhalten haben, welche der Mensch in Cultur genommen hat. Prrisivs kannte von vielen Gewächsen bereits verschiedene Sorten, z. B. 43 Sorten von Birnen, 29 von Aepfeln, 10 von Pflaumen, 8 von Kirschen u. s. w. Die Römer kannten wenigstens zwei Sorten von Rüben (Beta) und im Gebiete des Mittelmeeres wachsen deren mehrere im wilden Zustande. Etwa im Jahre 1600 beschreibt OLIvIiER DE SERRES in seinem Theätre d’agriculture die damals bekannten Culturpflanzen. Von Birnen nennt er 61 und von Aepfeln 51 Sorten. Ebenso die Haupttypen unserer jetzigen Runkelrüben u. s. w. Woher alle diese Formen stammen, weiss man nicht. Es ist möglich, dass sie in der Öultur entstanden sind; es ist sogar möglich, dass sie durch die Cultur entstanden sind. Es ist aber ebenso gut möglich, dass sie vor der Cultur schon da waren, zusammen oder in verschiedenen Gegenden wild wachsend, und dass sie alle, oder doch die meisten, als solche in die ÖOultur übergegangen sind. Denn es liegt gar kein Grund vor, anzunehmen, dass von den Gewächsen des landwirthschaftlichen Gross- betriebes jedes nur einmal vom Menschen in der freien Natur vor- gefunden und in Cultur gebracht worden sei. So lange es galt, die Descendenzlehre zu begründen, lohnte es sich, die Wahrscheinlichkeiten auf diesem Gebiete auszuarbeiten. Jetzt scheint es mir, dass es hinreicht, den Mangel an historischen Angaben als Thatsache anzuerkennen. Es ist ein sehr beliebtes Thema, die Frage zu discutiren, ob der Weizen von einigen wenigen oder von mehreren wilden Formen ab- stammt. Denn davon hängt es bekanntlich ab, ob man annehmen darf, dass der Weizen in der Cultur stark oder nur wenig „varlirt“ hat. Aber es liest die Annahme viel näher, dass der Weizen stets, ähnlich wie die wilde Draba verna, aus sehr zahlreichen Unterarten zusammengesetzt gewesen ist.! Und da der Weizen bei ungeöffneten Blüthen sich selbst zu befruchten pflegt, so liegt es auf der Hand, dass zahlreiche Sorten auf demselben Acker sich neben einander im Laufe der Jahre behaupten können, vorausgesetzt, dass sie be- ständig sind. ! Von allen Culturpflanzen haben die Getreidearten am wenigsten variirt, sagt DE CANDoLLE in l’Origine des especes cultivees. Die Arten in der Oultur. 125 Die Geschichte hat uns in dieser Beziehung eine sehr wichtige Thatsache berichtet. Sie gilt den Culturen des Obersten Le ÜoUTEUR auf der Insel Jersey im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts.! Ihn besuchte der Professor La GascA, der ihm zeigte, dass sein Weizen- feld keineswegs eine einheitliche Cultur war, sondern dass wenigstens 23 wohl unterschiedene Sortentypen durch einander wuchsen. Die Vermuthung lag nahe, dass die eine Sorte einen grösseren Antheil an der Ernte haben würde, als die andere. LE ÜoUTEUR erntete daher die Körner der einzelnen typischen Pflanzen getrennt, und trieb während einiger Jahre vergleichenden Anbau der rein gezüchteten Sorten, um unter ihnen die werthvollsten herauszufinden. Die Nach- kommenschaft dieser Sorten zeigte sich dabei rein und beständig; sein ursprüngliches Feld war einfach eine Mischung von diesen Sorten gewesen. Die besten der so gereinigten Sorten hat LE CouTEUR mit grossem Vortheil weiter gebaut und in den Handel gebracht; noch jetzt sind unter ihnen verschiedene sehr bekannte, z. B. Bellevue de Talavera. Der Weizen war also damals eine Mischung verschiedener Sorten; der Versuch LE ÜourEur’s scheint überhaupt der erste gewesen zu sein, reine Sorten darzustellen.” Auch jetzt sind die sogenannten Landessorten noch Mischungen; ohne künstliche Auslese erhält sich die Mischung, nicht aber die reine Form.’ In demselben Sinne wie LE CouTEur arbeitete später PATRICK SHIRREFF in Schottland mit verschiedenen Getreidearten. Er suchte auf den eigenen Aeckern und denen seiner Freunde einzelne auf- fallende und anscheinend bessere Exemplare aus, säete deren Samen getrennt und prüfte die Nachkommenschaft. In der Regel zeigte sich diese als beständig, oft als ertragsreich. So fand er 1819 die Ur- pflanze seiner Mungo swells wheat, 19824 seinen Hopetown oats (Hafer), 1832 seinen Hopetown wheat und später seinen Shirreffs oats.* Sie waren ganz beständig und konnten nach einer starken Vermehrung durch zwei oder mehrere Generationen ohne Weiteres in den Handel gebracht werden. Es würde hier viel zu weit führen, die Erfahrungen L£ CouTEur’s I v. Rümker, @etreidesüchtung. 8. 67. ®? An Veredelung dachte damals noch Niemand; dieser Gedanke ist erst etwa ein halbes Jahrhundert später entstanden. ® Vergl. 8. 70. * v. Rünker, ]l.c. S. 90. Vergl. ferner den Reisebericht von Dr. R. Hesse. Landw. Jahrb. VI. 1877. 8. 853 ff. und Suirrerr’s I/mprovement of Cereals. London 1873. 126 Die Entstehung der Arten durch Mutation. und PATRICK SHIRREFF’s ausführlich zu schildern. Sie lehren uns sanz allgemein, dass Weizen, Hafer und Gerste! damals Gemische völlig beständiger Unterarten waren, genau so, wie wir es für die wild wachsenden Pflanzen gesehen haben. Ueber die Herkunft dieser Unterarten liegen aber in dem einen Falle ebenso wenig Nachrichten vor, als in dem anderen. Zu den vielfach discutirten Erfahrungen der Praxis gehört die Frage nach dem Ursprunge der Obstbäume, namentlich der jetzigen, veredelten Sorten von Aepfeln und Birnen. Ueber den gemeinschaft- lichen Ursprung der fraglichen Formen braucht kein Zweifel zu be- stehen. Es fragt sich nur, ob dieser Ursprung aus der Descendenz- lehre gefolgert wird, oder ob er historisch nachweisbar ist. Letzteres ist aber für die lange Reihe der Haupttypen nicht der Fall; eigent- lich ist die Herkunft nur für einige der neueren Sorten mit Sicherheit bekannt. Die wichtigsten diesbezüglichen Angaben rühren vom belgischen Züchter van Mons her, der in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts viele der jetzt am meisten bekannten Sorten in den Handel gebracht hat.? van Mons sagt ausdrücklich, dass er selbst keine neuen Formen hervorgebracht hat, „La nature seule erde“.® Alle von ihm cultivirten und in den Handel gebrachten Sorten hat er als solche auch im wild wachsenden Zustande,* und zwar fast ausnahmslos in den Ardennen vorgefunden. Die wilden Sträucher sind dornig, ihre Früchte klein, derb, holzig. Durch Aussaat im Garten und unter einem anderen Klima’ verlieren sie aber regelmässig die Dornen und die derbe Be- schaffenheit der Früchte; diese werden grösser, fleischiger und saftiger. Aber die Unterschiede in Form, Farbe und Geschmack und die sonstigen werthvollen Eigenschaften entstehen nicht in dieser Cultur oder durch sie; ! Der Roggen verhält sich wegen der Bestäubung durch den Wind anders. ® Die diesbezügliche Literatur scheint wenig bekannt und schwer zugänglich zu sein; auch mir gelang es nicht, die Arbeiten von PortzeAu und ÜHANDEZE zu sehen. Folgende Uebersicht enthält das Wichtigste. van Mons, Arbres fruitiers ou Pomonomie beige. 2 Bde. 1835. Excerpte findet man in JorDan, Arbres fruitiers. p. 38 und 94. Porreau, Theorie de van Moxs on notice historique sur les moyens qu’emplote van Moxs pour obtenir d’excellents fruits de semis. Ann. Soc. d’agric. Paris 1834. T. 15. G. OHanDszeE, La Theorie de van MoNs concernant la production de nowvelles varietes fruitieres. Belgique horticole 1877. p. 354. Bot. Jahrb. V. p. 761. Gopron, De !’Espece. II. p. 101. 3? Pomonomie. 1. p. 445. * 1. c. p. 406, 444. 5]. ec. p. 410. Die Arten in der Cultur. 1 sie sind in den wild wachsenden Formen bereits vorhanden. Seine neuen Sorten sind einfach bereits bekannte und cultivirte Formen,! welche er durch Zuchtwahl während zwei oder drei Generationen? in Bezug auf Grösse und Saftigkeit wesentlich verbessert hat, ohne aber dabei an ihren Varietätsmerkmalen auch nur das Geringste ab- zuändern.” van Moxs war von der Selbstständigkeit und Beständigkeit dieser Sorten völlig überzeugt; auch bezeichnet er sie nicht als Varie- täten, sondern als Unterarten. Um eine neue Sorte in den Handel zu bringen, soll man also nicht die Samen der besten schon cultivirten Sorten aussäen; viel zweckmässiger, sagt van Mons, ist eine kleine schlechte Frucht, aber von bis dahin unbekanntem Typus. Anscheinend sind die meisten, von Anderen gewonnenen Sorten in ähnlicher Weise entstanden. So stammt die vorzügliche St. Germain- Birne von einem vereinzelten, zufällig im Fort de St. Germain bei Paris gefundenen Baume; ebenso sind die Bexy de Chaumontel, die Bergamotte Sylvanche und die Vergouleuse zufällig gefundene Sorten. Ein sehr auffallendes Beispiel zur Illustration obiger Sätze theilte BAıLeyY* neuerdings mit: Herr PrTEr M. GIDEoN säete grosse Mengen von Apfelsamen und unter diesen erhielt er eine Pflanze, welche ihn reich machte, und deren Früchte er als Wealthy Apple in den Handel brachte. Es ist diese Sorte jetzt, wie ich hörte, in Minnesota eine der am meisten verbreiteten und beliebtesten Apfelsorten. Wie. er diese vorzügliche Sorte erhielt, erzählt Mr. GIDEoN in folgender Weise. Während neun Jahren säete er so viel Apfelsamen, dass er jährlich etwa tausend Bäumchen erhielt. Alles dieses führte aber zu keinem Erfolg. Dann kaufte er zufällig in Maine ein kleines Körbchen mit Aepfeln einer fremden Sorte; er fand in ihnen ungefähr 50 Samen, welche er säete und aus denen er seinen Wealthy-apple erhielt. Die Aussaat im Grossen hatte also keinen Erfolg; die Aussaat im Kleinen, aber von einer neuen Form, erfüllte seinen Wunsch. Mit diesen Erfahrungen stimmt auch Folgendes überein. Wenn man Aepfel und Birnen verwildern lässt, so kehren sie nach einigen Generationen bekanntlich zum Typus der Holzäpfel und Holzbirnen zurück. Aber jede Sorte behält dabei ihre Sortenmerkmale und keineswegs werden sie alle zu einer und derselben wilden Form. Woher stammen die vielen wilden Sorten von Aepfeln und Birnen? Z2e.217.1-2208. ? ]. c. p. 462 und II. p. 208. le I.2p> 419. * L. H. Baırey, Plant-breeding. New York 1896. p. 108. 128 Die Entstehung der Arten durch Mutation. Man weiss es nicht. Einige behaupten, sie seien in der Cultur ent- standen und verwildert; dieses würde aber kaum die Gewinnung so zahlreicher neuer Sorten erklären. Wie das Getreide und die Obstbäume verhalten sich die meisten eultivirten Pflanzen; fast jede Art besteht aus mehr oder weniger zahlreichen Unterarten, deren Ursprung man nicht kennt. Flachs und Rothklee zeigen solche Unterarten sehr deutlich, ebenso der Mohn. Von Chrysanthemum indieum sind die Haupttypen _ als solche aus Japan in Europa eingeführt; die neueren Sorten sind Fig. 34. Sedum erispum. Nach MUNTING 1671.! fast alle durch Kreuzung solcher erhalten. Zahlreiche Beispiele liessen sich leicht zusammenstellen. ! Aprauam Munting, Woare Oeffeninge der Planten. 1671. 8. 357. Der Sedum erispum Muxtise’s ist wohl derselbe wie der Sedum eristatwm SCHRAD. (= Sedum reflexum eristatum), die Monstrosität somit älter als zwei Jahr- hunderte. Seit Munting’s Zeiten sind Faseiationen in dieser Art häufig beobachtet und erwähnt worden. Vergl. Pexzıs, Teratologie. I. S. 467. Sie ist in hohem Grade erblich; ich erhielt aus Samen ein Beet von über 1D m mit sehr zahlreichen, mehr oder weniger verbreiteten Aesten, von denen ich einige photographirt und in Fig.35 abgebildet habe. Atavistische (normaleylindrische) Aeste zeigt sowohl die obige Abbildung Munxring’s, als auch meine Cultur (Fig. 35 af). Die Arten in der Oultur. 129 Sehr viele sogenannte Varietäten, selbst viele Monstrositäten sind fast so alt, wie die Cultur der betreffenden Arten selbst, und werden in älteren Werken bereits beschrieben und abgebildet. Eine lange Liste zählte ApBraHam MuntinG im Jahre 1671 auf.! So z. B. Formen mit gefüllten Blumen von Vinca, Colchicum, Hepatica, Cardamine, Chei- ranthus Cheiri, Papaver, Viola, Caltha, Althaea u.s.w.; mit weissen Blumen von Ononis, Syringa, Oentaurea, Digitalis, Fritillaria, Hepatica u.s.w., ferner weisse Erdbeeren, weisse Himbeeren und rothe Stachelbeeren, gefüllte Bellis und Matricaria. Ferner proliferirende Formen von Bellis, Oalen- dula, Helianthus und Scabiosa, die fasciirten Kaiserskronen, Plantago major rosea, Primula veris und Auricula mit doppelter Krone, fasciirte Sedum (Figg. 34 u. 35), Celosia ceristata, Amarantus cristatus u. s. W. Fig. 35. Sedum refleeum eristatum. Nach der Natur, 1900, mit verbreiterten und gewöhnlichen Aesten (at). Und von den wichtigsten Gartenpflanzen, wie Hyacinthen, Tulpen, Ranunkeln, kannte man damals schon Hunderte von Varietäten. Viele Formen, welche als neue in den Handel gebracht werden, sind in wissenschaftlicher Hinsicht ganz alte. Als Beispiel nenne ich die berühmten gefüllten Syringen, welche von Vıcror LEMOINE in Nancy in den achtziger Jahren in den Handel gebracht worden sind. Es sind zahlreiche neue, zum Theil sehr prachtvolle Sorten, welche jetzt sehr allgemeine Verbreitung in Gärten und Parkanlagen gefunden haben. Sie galten als neu gewonnen, und ich war neugierig zu er- fahren, durch welche Mittel die Füllung erhalten worden war. Ich 1! Waare Oeffeninge der Planten. Groningen 1671. DE VRIES, Mutation. I. Re) 130 Die Entstehung der Arten durch Mutation. ae eig im ale, 1892 Daen Nancy = legte Hein LEMOINE meine Frage vor. Als er mir seine ausgedehnten Fliederculturen gezeigt hatte, erzählte er mir über deren Ursprung Folgendes: „Im Jahre 1870 hatte ich zufällig in einem Garten in Luxemburg ein ge- fülltes Exemplar von Syringa vulgaris axurea plena gesehen; eine in Gärten seltene und wenig berücksichtigte Form. Als ich später auf den Gedanken gekommen war, Syringen zu züchten, kaufte ich einfach diese Pflanze, und kreuzte mit ihr fast sämmtliche Sorten des Handels.“ So erhielt er seine Neuheiten. Wie die Füllung selbst aber entstanden war, darüber wusste auch er nichts. Später fand ich, dass Muntıne bereits 1671 die gefüllte Form erwähnt hatte. Etwa ebenso viel weiss man über den Ursprung der Cactus-Dahlien, welche jetzt in so grosser Zahl und Blumenpracht alle übrigen Sorten zu verdrängen drohen. Sie stammen von einer einzigen Pflanze durch Kreuzung mit den älteren Varietäten ab. Als ich den Urheber des neuen Typus, Herrn van DEN Ber@ in Jutpbaas besuchte, theilte er mir darüber Folgendes mit. „Vor Jahren ersuchte ich einen Corre- spondenten in Mexico, mir.eine Kiste mit Zwiebeln, Wurzeln, Rhi- zomen u. s. w. von allerhand fremden Gewächsen zu senden, was er eben zusammenfinden könnte. Die Kiste kam in schlechtem Zustande in Holland an; fast alles war verdorben; nur eine Knolle trieb einen Stengel hervor. Diese Pflanze wurde die erste Cactus-Dahlia. Alle Mühe, in der Heimath des Absenders dieselbe Form zurückzufinden, war vergeblich.“ Die Pflanze war da, wie sie aber entstanden, weiss man nicht. So verhält es sich in den meisten Fällen und bei den hervor- ragendsten Typen. Der Züchter ist zufrieden, wenn er eine neue Form auftreten sieht; wie sie entstanden ist, weiss er aber meist nicht. Gar oft treten sie einzeln in grösseren Aussaaten auf; solche bieten selbstverständlich mehr Aussicht, dass die Samen verschiedenen Ursprunges sind, als kleinere Culturen. So erhielt D. B. WıER seinen cutleaved maple (Ahorn mit geschlitzten Blättern) in einer Cultur von etwa einer Million Sämlingen,! so erhielt bekanntlich DonkELAAR die ersten gefüllten Dahlien in einer Cultur von etwa 10000 Pflanzen u. s. w. Es würde zu weit führen, zahlreiche Beispiele zusammen zu stellen. Die älteren sind Kusel: in genügender Zahl in Darwın's Werken zu finden. Wir finden überall dasselbe Resultat, dass auch unter den Cultur- pflanzen die Arten Gemische sind, aus mehreren, oft aus zahlreichen. ı L. H. Baıtey, Plant-breeding. 1896. p. 109. Arten und Artmerkmale. ai im wild wachsenden Zustand aufgefundenen, selbstständigen Sorten oder Unterarten bestehend. Vielen Züchtern und vielen, namentlich älteren Botanikern ist dieser Satz wohl bekannt, daher das geflügelte, oft wiederholte Wort:! „Die erste Bedingung, um eine Neuheit hervor- zubringen, ist sie bereits zu besitzen!“ $ 24. Arten und Artmerkmale. Es ist hier der Ort, hervorzuheben, dass es sich eigentlich gar nicht um die Entstehung von Arten, sondern um die Ausbildung von Artmerkmalen handelt. Darauf kommt es an. Wie sind die verschiedenen Eigenschaften entstanden, auf denen die Differenzirung der Organismen beruht? Zu Arten werden Unterarten einfach dadurch, dass die Zwischen- formen aussterben. Durch Kreuzung können neue Arten entstehen, wenn die vorhandenen Eigenschaften zweier Formen in eine einzige vereinigt werden u. s. w. Artinerkmale entstehen aber in diesen Fällen nicht. Durch Verlust oder Latenz sind zahlreiche Arten, auch Gattungen und grössere Gruppen entstanden, ünd solches hat oft für die Systematik eine sehr hohe Bedeutung, wie z. B. bei der Entstehung der Monocotylen aus den Dicotylen (Derrıno). Aber Verlust und Latenz sind oftenbar specielle Fälle, welche die Hauptfrage nach dem Vorgange der allmählichen Differenzirung im Stammbaum nur neben- sächlich berühren. Für den Begriff der Art fordert der Eine zwei oder drei be- sondere Eigenschaften, der Andere deren mehrere. Darauf kommt es aber offenbar nicht an. Die Frage ist, wie die einzelnen Eigen- schaften entstanden sind, resp. entstehen können.” Mit anderen Worten: die Mutation, das Mutiren selbst soll Gegen- stand der Forschung werden. Und gelingt es uns einmal, die Gesetze des Mutirens aufzufinden, so wird nicht nur unsere Einsicht in die gegenseitige Verwandtschaft der jetzt lebenden Organismen eine viel tiefere werden, sondern wir dürfen auch hoffen, selbst einmal in das Getriebe der Artbildung eingreifen zu können. Ebenso gut wie der Züchter jetzt die Variabilität beherrscht, muss es einmal möglich werden, auch die Mutabilität zu beherrschen. Selbstverständlich nur in kleinen Schritten, einzelne Mutationen 1 Jorpan, Arbres fruitiers. p. 96. ®2 „Diese Factoren sind die Einheiten, welche die Wissenschaft von der Vererbung zu erforschen hat.“ Intracell. Pangenesis. 8. 9. Ueber deren Ver- bindung zu Gruppen vergl. ibid S. 21—22 und 33. 132 Die Entstehung der Arten durch Mutation. gärtnerische Praxis in hohem Maasse bevortheilen können. Vieles, was jetzt unerreichbar scheint, wird vielleicht in unsere Macht kommen, wenn wir nur erst die Gesetze kennen lernen, auf denen das Mutiren der Arten beruht. Offenbar wartet hier ein unabsehbares, wissenschaftlich wie prak- tisch hochwichtiges Feld auf fleissige Bearbeitung. Es ist das viel- versprechende Gebiet der Mutationsbeherrschung! $ 25. Die Mutationen in der Cultur. Im vorletzten Paragraph habe ich die Ansicht zu begründen ge- sucht, dass sehr viele elementare Arten der Öultur vor dieser ent- standen sind. Es folgt daraus aber keineswegs, dass solches mit allen der Fall sein müsse, wie es die Ansicht von JORDAN, KERNER und vielen anderen Forschern ist. R Im Gegentheil, in vielen Fällen liegen historische Angaben vor, welche es wenigstens höchst wahrscheinlich machen, dass auch in der Cultur ebenso gut Mutationen stattfinden, als solches in der Natur der Fall sein muss. Aber meistens hat man die neue Form erst bemerkt, als sie bereits fertig dastand; wie, wo und wann sie ent- standen ist, konnte man dann nicht mehr ermitteln, oder doch nur mit einem gewissen Grade von Wahrscheinlichkeit. Was man in Bezug auf die Selectionstheorie erwarten würde, dass die Form allmählich auftrete, und bereits während ihrer Ent- stehung bemerkt werde, scheint nicht vorgekommen zu sein. Aller- dings sind auch plötzlich aufgetretene Formen fluctuirend variabel, und sie bedürfen also der Selection, um ihre neue Eigenschaft in höchster Entwickelung zu entfalten. Das ist aber etwas ganz anderes, als dass die neue Eigenschaft selber allmählich entstanden wäre. Wichtige Beispiele in grosser Zahl liefert sowohl die landwirth- schaftliche als auch die gärtnerische Zuchtwahl. Bevor ich eine Aus- wahl aus diesen anführe, möchte ich aber noch einmal hervorheben, wie gründlich der Unterschied zwischen Rassen und Unterarten auch von praktischen Schriftstellern gewürdigt wird. Prof. Kurr von RüMKER, in seiner oft citirten Anleitung zur Getreidezüchtung, theilt seine Behandlung der methodischen Zuchtwahl in zwei Abschnitte ein. Der eine behandelt die Zuchtwahl zum Zwecke der Veredelung, der andere die zur Bildung neuer Formen.! Die erstere „hat die Auf- ı S. XIV, ferner S. 56 und 83. Die Mutationen in der Oultur. 133 gabe, bereits vorhandene Charaktere zu festigen, schärfer auszuprägen und ihre Vorzüge zu steigern“. Neue Formen aber entstehen, sobald die Veränderungen „nicht nur in der Richtung geradlinig fortschreitender Verbesserung, sondern in der Richtung abzweigender Neubildungen“ stattfinden. Solche finden sich mitunter in den Beständen der Felder als spontane Varia- tionen vor. „Ueber die Entstehung spontaner Variationen und die Ursachen ihrer Entstehung ist bis jetzt mit Sicherheit nichts bekannt,“ sie sind aber vererbbar. Nach diesen Auseinandersetzungen unseres Verfassers erscheint der übliche Ausdruck „Bildung neuer Formen“ als wenigstens über- trieben; sachlicher wäre es gewiss, nur vom Aufsuchen neuer Formen (und deren späteren Veredelung in der auch sonst gebräuchlichen Weise) zu sprechen. Die grannenlose Form des BeEseter’schen Anderbecker Hafers ist ein sehr bekanntes Beispiel einer solchen, auf dem Felde fertig vorgefundenen Sorte. Ich führe jetzt eine Reihe weiterer Beispiele an. Fast stets sind die neuen Sorten völlig samenbeständig gewesen, und zwar von Anfang an, wenn keine Kreuzungen zu befürchten waren. Bisweilen traten sie zuerst in schwachem Grade auf, wie z. B. viele gefüllte Blumen, welche bei ihrem ersten Auftreten nur halbgefüllt waren oder nur Andeutungen einer Füllung zeigten. In solchen Fällen mussten sie durch Selection verbessert werden. Viele Typen sind nur einmal, andere zu wiederholten Malen entstanden. Es ist ein sehr bekannter Satz: Jeder Züchter spürt ängstlich nach möglichen Neuheiten; hat er einmal eine solche gefunden, so hängt es weiter nur von inm ab, sie zu ihrer vollen Schönheit aus- zubilden. Aber den Anfang liefert stets der Zufall, und nicht, wie bei der Veredelung von Rassen, die Kunst des Züchters. Chelidonium laciniatum Mirzer, eine Unterart von Chelidonium majus, bildet eins der besten Beispiele, weil durch die eingehenden historischen Untersuchungen E. Rozr’s! über seinen Ursprung mehr bekannt ist, als über denjenigen fast aller anderen Pflanzen. Er be- richtet darüber Folgendes: Ungefähr im Jahre 1590 fand ein Heidelberger Apotheker, SPRENGER, in seinem Garten, wo er die Pflanzen für seine Apotheke, ! E. Roze, Le „COhelidonivum laeciniatum“ MILLER, Journal de Botanique. 1895. No. 16—18. 154 Die Entstehung der Arten durch Mutation. und unter diesen auch das Chel. majus cultivirte, eine neue Form von Öhelidonium, welche sich durch stark vertheilte Blätter und ge- schlitzte Blumenblätter von ©. majus unterschied. Er nannte sie Chelidonia major foliis et floribus incisis, und sandte Muster an JEAN BauHnın, GASPARD BAUHIN, CLusıus, PLATER und andere bekannte Botaniker seiner Zeit. Alle erklärten die Form als ihnen unbekannt und neu. Sie war bis dahin nie wild wachsend gefunden und ist auch seitdem in diesem Zustande nie beobachtet, obgleich sie von Zeit zu Zeit aus Gärten verwildert ist. Sie war aus Samen völlig constant, hat sich bis auf unsere Zeit unverändert erhalten und wird in botanischen Gärten jetzt all- gemein cultivirt. MILLER, RoZE und viele andere Forscher haben ihre Samenbeständigkeit durch langjährige Culturen geprüft und keinen „Atavismus®“ zu (©. majus beobachtet. Ich habe diesen Versuch mit demselben Erfolg wiederholt. Es ist somit anzunehmen, dass O. laciniatum um das Jahr 1590 entstanden ist. Leider sagt SPRENGER nicht, woher die betreffenden Samen stammten, ob sie von seiner eigenen Ernte von (©. majus herrührten oder Fig. 36. Chelidonium laciniatum. Links eine aber von woher er sie bezogen Blüthe. Darunter eine solche von C, majus. hatte Eirsterer ist vorsehen lich, da sonst die Stammform nicht unbekannt geblieben sein würde. Uebergänge zwischen den beiden fraglichen Arten kennt man jetzt ebenso wenig wie zu SpRENnGEr’s Zeiten; die jüngere Form ist somit vermuthlich plötzlich aus der älteren entstanden. W. T. TuıseLTOon Dyer beschreibt eine Reihe von spontanen Variationen für Oyelamen latifolium, welche Art deshalb wichtig ist, weil sie zu den sehr wenigen Gartenpflanzen gehört, mit denen Kreu- zungen bis jetzt nicht gelungen sind.! Die Vermuthung eines hybriden Ursprunges für ihre Unterarten ist somit völlig ausgeschlossen. Eine ı W. T. Tuısertox Dyer, The eultural evolution of Oyclamen latifolium. Proceed. Roy Soc., Vol. EXT. ‘No. 371. p. 155. Die Mutationen in der Culkur. 39 Form mit quer ausstehenden Blumenblättern, eine mit geschlitzten Petalen und eine mit an die haarigen Gebilde der Iris erinnernden Kämmen in den Blüthen werden beschrieben. Die erste Form ist zu wiederholten Malen entstanden; sie wurde anfangs weggeworfen als für die Cultur ungeeignet, neuerdings aber in den Handel gebracht. Auch die geschlitzten Blätter sind mehrfach entstanden, so z.B. 1827; sie wurden damals im Botanical Register abgebildet, doch gingen sie wieder verloren. Seit 1850 sind sie in verschiedenen Gärtnereien aufgetreten. Die Kämme entstanden 1890 in der Gärtnerei der Herren Hvcn Low & Co., plötzlich aber in sehr unausgebildeter Form; sie sind seitdem durch wiederholte Aus- saat und Selection bedeutend ver- bessert und nach einigen Jahren in den Handel gebracht. Sie traten in Frankreich gleichfalls auf, und zwar bereits 1885, wurden aber dort nicht weiter cultivirt; sie sind sowohl in der rothen als auch in der weissen Varietät vorhanden. Die Erdbeeren ohne Ausläufer gehören zu Fragaria alpina und sind unter dem Namen Gaillon-Erdbeeren bekannt.’ Man kennt sie mit rothen und mit weissen Früchten.” Die Ge- schichte ihrer Entstehung ist von P.P. A. pr VILMORIN im Bon Jardinier beschrieben.” Er fand sie in einem einzigen Individuum in einer Aussaat der gewöhnlichen Fragaria alpina. Die Samen dieses Exemplares brachten nur Pflanzen ohne Ausläufer hervor; die neue Sorte war von Anfang an völlig constant. Der Blumenkohl und der Kohlrabi sind aus vereinzelten Monstrosi- täten der Brassica oleracea gezüchtet.* Der Chou de Milan des Vertus ist gleichfalls spontan in einer anderen Sorte von Kohl entstanden, und bald eines der beliebtesten Gemüse auf dem Pariser Markte ge- Fig. 37. Ohelidonium majus. ZVersl-aRiet aufs. 25. ®2 VILMoRIN-AnDRIEUxX & Cıe., Les plantes potageres. p. 222. ® L. pe Vırmorin, L’amelioration des plantes par le semis. 2. Ed. p. 48. * A. P. ve CanpoLte, Transact. hortie. Soc. 5. p. 1, eitirt in HoFrNMEISTER, Allgemeine Morphologie. S. 565. 136° Die ER EUR der Arten durch Mutation. w 1 a annua een ist 1719 von MARCHANT als neue Form entdeckt worden; sie ist seitdem samenbeständig geblieben.” Ich verzichte auf die Anführung weiterer Beispiele. Einige Arten sind zwei oder mehrere Male an weit von einander entfernten Standorten aufgetreten, unter Umständen, welche die An- nahme eines gemeinschaftlichen Ursprunges wohl völlig ausschliessen. Ich eitire die Blutbuche, der Prof. J. Jäcsı eine eingehende historische Monographie gewidmet hat.? Man kennt von ihr drei Fundorte: Den Stammberg bei Buch am Irchel im Canton Zürich, einen Wald bei Sondershausen in Thüringen; einen Wald über Castellano bei Roveredo in Südtirol. Der erste Standort war schon im 17. Jahr- hundert bekannt; der zweite in der zweiten Hälfte des 18. Jahr- hunderts; der dritte erst im Anfang des 19. Jahrhunderts. Ebenso wurde Fra- garia monophylla (Fig. 38) von Linx& in Lappland aufge- funden, und sie ent- stand etwa 1800 in einer Gärtnerei un- weit Versailles, von wo aus sie in die botanischen Gärten Verbreitung fand. Ferner wurde Fagus sylvatica aspleniifolia in einem Walde in Lippe- Detmold und in der Nähe von Paris beobachtet.* Alnus glutinosa laciniata (Fig. 39) und Betula alba laciniata sind in Schweden und Lapp- land hier und da im wilden Zustande gefunden.?° In Gärtnereien ent- steht oft dieselbe Neuheit gleichzeitig an verschiedenen Orten, so z.B. Ageratum mezicanum nanum luteum etwa 1892 bei Paris und zu Erfurt. ® Es giebt im Handel eine Reihe von Varietäten der verschiedensten botanischen Arten, von denen es unwahrscheinlich ist, dass sie im wilden Zustande würden wachsen können. Sie sind zu wiederholten Malen als Fig. 33. Fragaria vesca monophylla. a zwei Blätter; d eine Ausläuferpflanze mit 1—2—-3-zähligen Blättern (Atavismus). ! Vırmorın, L’amelioration 1. ec. p. 19. Gooron, De l’espece. I. p. 160. ® J. Jäseı, Die Blutbuche zw Buch am Irchel. Zürich 1893. E. Faıvre, L’espece p. 44; die erstere Angabe nach Braun, Verjüngung. 5 Braun, 1.62 S. 3322 ° Nach mündlicher Mittheilung eines Erfurter Züchters, Herrn Otto Pvrz. w Die Mutationen in der Oultur. 187 Beispiele für die Wahrscheinlichkeit plötzlicher Entstehung in der Oul- tur, durch sogenannte spontane Variation (Mutation) angeführt worden. Ich erinnere an die Früchte, welche sich nicht öffnen können, wie Papaver somniferum inapertum und Linum usitatissimum (von letzterem öffnet nur Zinum crepitans seine Früchte behufs Samenausstreuung). Ferner an die grossen und schweren Körner des Getreides und einiger Hülsenpflanzen, namentlich aber an den Mais, deren Samen anschei- nend keine Mittel zur Verbreitung besitzen. Endlich an die sterilen Fig. 40. Kanunculus acris petalomana, eine durch unbeschränkte Petalen- bildung völlig sterile Form. Nach Fig. 39. @ Alnus glutinosa laciniata mit einer auf einer Wiese gefundenen Früchten: 5 Blatt von Alnus glutinosa. Pflanze.’ Varietäten: Corinthen, Bananen, mehrere Sorten von Aepfeln und Birnen, die Astrachan-Trauben, einige Erdbeeren, an die grüne Rose, das grüne Pelargonium xzonale und die grünen Dahlien (von denen ich zwei verschiedene Sorten, mit breiten und mit schmalen Körbchen, eultivirt habe), an die durch Petalomanie sterilen Ranunculus acris (Fig. 40), Caltha palustris und zahlreiche andere Fälle dieses Fül- lungstypus,! endlich an den sterilen Mais (Fig. 41), der in meinen eigenen Culturen in zahlreichen Exemplaren auftrat, aber sonst, so viel mir bekannt, nirgendwo beobachtet wurde.? I IS. GoEBEL, PrınGsHeim’s Jahrbücher für wissensch. Bot. Bd. XVII. p. 207. ” Over steriele Maisplanten, Botan. Jaarboek Dodonaea. Bd. I. 1889. Mit Taf. V. p. 141. Steriele Mais als erfelyk ras, ibid. Bd. II. 1890. p. 109. i | Fig. 41. Zea Mays sterilis. Drei unverzweigte Rispen. « ohne Bracteen; 5 und e mit geringer Bracteenbildung an der Spitze. 138 Die Entstehung der Arten durch Mutation. Weitaus die meisten plötzlich entstande- nen Formen, Varietäten oder Unterarten sind samenbeständig, und zwar völlig, d. h. dass sie aus allen ihren durch reine Befruchtung entstandenen Samen die neue Form wieder- holen. Es gehört die Samenbeständigkeit zum Typus der elementaren Art. Ausnahmen von dieser Regel liegen allerdings in der Literatur sehr zahlreich vor, so zahlreich, dass man an der Gültigkeit der Regel zweifeln möchte. Sie rühren aber in sehr vielen Fällen offenbar daher, dass auf etwaige Fremdbefruchtung durch Insecten oder durch den Wind keine ltücksicht genommen wurde. Sie lassen sich durch Kreuzung meist ganz einfach erklären. Der ganze sogenannte Atavismus im Pflanzen- reich bedarf sehr einer kritischen Sichtung, denn was wenigstens in Gärtnereien und ge- wöhnlichen Gärten für solchen ausgegeben wird, ist nach meinen Erfahrungen wohl zu- meist auf zufällige Kreuzungen zurückzu- führen. Ich werde aber auf diesen Punkt in einem späteren Abschnitt ausführlich zurückkommen und stelle deshalb hier nur einige, mehr oder weniger wichtige Fälle zusammen. Von vielen Varietäten ist die völlige Samenbeständigkeit wohl bekannt. So z. B. von Matricaria Chamomilla discoides und den gleichnamigen Formen von Bidens tripartita und sSenecio Jacobaea. Ferner von Datura Tatula inermis,' von Ranunculus arvensis iner- mis,t von Antirrkinum majus mit Pelorien,? von Nigella sativa apetala,? von lex Aquifolium mit gelben Beeren,* von Trauereichen und Trauerbirken,* vom rothblätterigen Berberis,* 1 Botan. Zeitung. 1873. S. 687. ®2 Masters, Vegetable Teratology. p. 227. 3? Horrmann, Dotan. Zeitung. 1881. 8.410; hier auch viele weitere Beispiele. * Darwın, Das Varüren. 1. p. 24, 26. Die Hypothese der allseitigen Mutabelität. 139 Pelorien von Corydalis solida,' Hordeum trifurcatum, Rubus fruticosus laeiniatus, zahllosen Gartenformen und Gemüsepflanzen (Zuckererbsen, dornloser Spinat u. Ss. w.). Von den entgegengesetzten Angaben, welche nach meiner Ansicht, wie bereits bemerkt, meist auf Kreuzung beruhen, hebe ich hier nur diejenigen über die Blutbuche hervor. Diese ist, je nach dem Stand- orte, angeblich in sehr wechselndem Grade erblich; die Erblichkeit schwankt von 20—75°/, und ist in einigen Fällen eine vollkommene. Da aber die betreffenden Bäume wohl meist zwischen gewöhnlichen Buchen wachsen und selbstverständlich keine künstliche Befruchtung vorliest, so sind die Samen wohl stets zu einem grösseren oder kleine- ren Theile von den umwachsenden Bäumen befruchtet. Nur wenn die Blutbuche hinreichend isolirt blüht, darf man also ihrer Nach- kommenschaft eine wirkliche Beweiskraft zuerkennen. Zum Schlusse sei hier auch des allgemein bekannten Umstandes gedacht, dass Mutationen auf einander folgen und eine Pflanze all- mählich in mehreren Merkmalen vom ursprünglichen Typus entfernen können, ähnlich wie es in der freien Natur vor sich gehen muss. Viele lange Namen von Gartenpflanzen deuten uns dieses an, wie z.B. Scabiosa atropurpurea nana purpurea, aus der ferner eine Forma carne« und eine Forma rosea entstanden sind; Calliopsis tinctoria pumila purpurea, Tagetes patula nana mit dunklen und derselbe Zwerg mit hellgelben Blüthen u. s. w. Die successiven Namen weisen die historische Ent- wickelung der betreffenden Formen nach. Zusammenfassend sehen wir, dass ein allmähliches Entsiehen elementarer Arten bis jetzt nicht bekannt ist, dass aber sehr zahl- reiche Fälle vorliegen, in denen neue „Arten“ plötzlich aufgetreten sind, oder wo ein solches Auftreten doch im höchsten Grade wahr- scheinlich ist. Fast nie ist eine neu auftretende Form sofort isolirt worden, meist wurde sie einfach der Insectenbefruchtung zwischen verwandten Arten überlassen. Soweit dieser Umstand es zu be- urtheilen gestattet, sind solche neue Arten aber sehr allgemein samen- beständig, ebenso constant wie die älteren, sogenannten guten Arten. $ 26. Die Hypothese der allseitigen Mutabilität. Der hohe Charakter der Darwın’schen Selectionslehre liegt an- erkannter Weise in der Erklärung der Zweckmässigkeit in der organi- schen Natur aus rein natürlichen Prineipien, und ohne Zuhülfenahme ! Goprox, Mem. Acad. Stanislas. 1868. p. 3. 140 Die ontstehumg der Arten durch Mutation. irgend eines laoakeien Gedankens. Diesem Charakter verdankt die Descendenzlehre ihre jetzige allgemeine Anerkennung. Ihrerseits ermöglicht jetzt die feste und unerschütterliche Ueberzeugung der Blutsverwandtschaft der lebenden Organismen ein genaues kritisches und experimentelles Studium der Art und Weise, wie die eine Form aus der anderen hervorgeht. Ja sie fordert dazu auf. Wie die Jetzt lebenden Arten entstanden sind, ist selbstverständlich eine historische, nur in seltenen Fällen der Forschung direct zugängliche Frage. Wie aber Arten überhaupt entstehen, wird in der Zukunft ebenso gut Gegenstand experimenteller Forschung werden, wie jeder andere physiologische Process. Das Darwiv’sche Princip fordert, ar die artenbildende Variabili- tät! — die Mutabilität — richtungslos sei. Abweichungen müssen in jedem Sinne auftreten, ohne Bevorzugung irgend welcher bestimmten Richtung, und namentlich ohne Bevorzugung der von der Theorie zu erklärenden fortschreitenden Richtung. Jede Hypothese, welche von diesem Princip abweicht, muss als teleologisch, mitunter sogar als unwissenschaftlich verworfen werden. Zwischen den allseitig auftretenden Mutationen wählt der Kampf um’s Dasein die zweckmässigen aus; nur auf diese Weise ist deren Ueberleben zu erklären. Die Selectionslehre von WALLACE und deren Anhänger lässt die Selection ausschliesslich zwischen den Individuen einer und derselben Art stattfinden. In der Mutationslehre wählt die natürliche Auslese zwischen den Arten. Die einen siegen, und vergrössern ihr Gebiet, die anderen werden vernichtet; die ersteren können wiederum neue Arten hervorbringen, die anderen verschwinden ohne Nachkommen- schaft. Der Grundgedanke dieser Theorie führt uns zu der Ueber- zeugung, dass in gewissem Sinne Arten durch die natürliche Auslese nicht entstehen, sondern vergehen. Sobald man in der Selectionslehre Darwınw’s unterscheidet zwischen der Wartvace’schen Form dieser Theorie und der Mutationstheorie, muss man selbstverständlich die Forderung der Richtungslosigkeit an diese beiden stellen. Die individuelle Variabilität, welche für WALLACE das Princip der Entstehung der Arten ist, genügt dieser Forderung offenbar; dazu kommt, dass die Variabilitätslehre ein reiches Material von Thatsachen bietet, welches wenigstens in dieser Beziehung für die Theorie eine unanfechtbare Grundlage bildet. Die Mutationstheorie leidet an dem Uebel, dass die Mutationen * Intracellulare Pangenesis. 8. 73, 210 u. s. w. Die Hypothese der allseiligen Mutabilität. 141 selbst nur in seltenen Fällen direct beobachtet und nur äusserst selten hinreichend genau studirt worden sind. Mutationen sind selbst- verständlich viel seltener, als die überall vorhandenen, nie fehlenden Variationen; sie bieten sich dem Studium nicht in der Weise dar, wie diese. Dennoch sind sie der Forschung zugänglich und sie sollten aus den verschiedensten Gründen ebenso eifrig untersucht werden, wie die Variationen. Es ist nach meiner Meinung einer der grössten Nachtheile der jetzigen Selectionslehre. dass sie die Aufmerksamkeit zu einseitig auf die Variations- und Selectionserscheinungen lenkt und die Mutationen zu sehr in den Hintergrund drängt. Ohne Zweifel ist das eine der wichtigsten Ursachen unserer mangelhaften Kenntniss der diesbezüg- lichen Thatsachen. Dieser Umstand erklärt es, weshalb es sich bei der jetzigen Sachlage kaum darum handeln kann, die Hypothese der allseitigen Mutabilität an der Hand der Thatsachen auf ihre Richtigkeit zu prüfen, sondern fast einfach darum zu ermitteln, in wie fern die von den verschiedenen Autoren aufgestellten speciellen Hypothesen mit dem Grundgedanken Darwıv’s im Einklang sind. Auch diese Aufgabe ist keine leichte. Es kommt offenbar darauf an, welchen Antheil an der Entstehung der grösseren oder collectiven Arten man der Mutabilität, und welchen man der natürlichen Auslese zwischen den entstandenen elementaren Arten zuschreibt. Viele Autoren nehmen z. B. eine directe Einwirkung veränderter äusserer Lebensbedingungen auf Pflanzen und Thiere in der Weise an, dass dadurch die Eigenschaften sich in einer der neuen Umgebung besser adaptirten Form ausbilden würden. Die Umgebung würde somit un- mittelbar eine zweckmässige Umänderung hervorrufen. Eine solche Annahme scheint aber nicht viel mehr als eine Um- schreibung der zu erklärenden Thatsache zu sein. Darwın nimmt in solchen Fällen allseitige Mutabilität mit Auslese der Passendsten an. Und diese Annahme scheint mir so lange die einfachste und wahrscheinlichste zu bleiben, bis es gelingt, über das Vorhandensein oder das Fehlen einer solchen Mutabilität experimentellen Aufschluss zu bekommen. Etwas eingehender ist hier die Ansicht von W. B. Scott zu erörtern, eines der bedeutendsten Vorfechter der Mutationslehre, der aber aus paläontologischen Gründen sich gegen die Hypothese der allseitigen Mutabilität erklärt. Denn es scheint mir, dass diese Hypo- these sich mit den paläontologischen Thatsachen, und namentlich mit der wundervollen Entdeckung der continuirlichen Entwickelungsreihen 142 Die Entstehung der Arten durch Mutation. ganz gut verträgt. Die untauglichen Arten können so zahlreich ent- standen sein, wie man sie sich nur irgendwie vorstellen will, ohne jemals auch nur eine Spur in den geologischen Schichten zu hinter- lassen zu brauchen. Die continuirlichen Serien deuten auf eine Aus- lese in constanter Richtung während langer Zeiträume, fordern aber zu ihrer Erklärung eine Mutabilität in constanter Richtung, nach meiner Ansicht, durchaus nicht. Eine eingehendere Betrachtung von Scorr’s Auseinandersetzungen wird uns zeigen, in wie fern die hier geäusserte Meinung ihre Be- rechtigung hat. Scott betont namentlich den Satz, dass gut bekannte paläontologische Reihen lückenlos sind, während die lückenhaften Reihen oftenbar diejenigen sind, welche nur unvollständig bekannt sind. Diese Unvollständigkeit rührt entweder von dem Fehlen einzelner geologischer Schichten aus bestimmten Perioden her, oder von dem Umstand, dass es bis jetzt noch nicht gelang, die fraglichen Schichten gründlich zu untersuchen. Wo aber die Schichtenreihe eine lücken- lose ist, und die Untersuchung eine eingehende, dort haben sich die Entwickelungsreihen gleichfalls als lückenlos herausgestellt. Es gilt solches zunächst von dem bekannten Stammbaume des Pferdes, dann von mehreren anderen Säugethierstämmen, von den Ammoniten u. s. w. Solche Reihen zeigen nun das Auffallende, dass sie so zu sagen geradlinig sind. Die Entwickelung geht direct auf das Ziel ab, ohne Schwankungen, namentlich ohne ein zielloses Hin- und Herschwanken in einer Zickzacklinie. Gabelungen des Stammbaumes kommen vor, aber selten.! Es fragt sich nun, wie eine solche anscheinend zielstrebige Ent- wickelung aus natürlichen Voraussetzungen zu erklären sei, und zwar auf Grund der allgemeinen, von Darwın entdeckten Principien der Descendenzlehre. Mit anderen Worten, es fragt sich, wie man sich die Mutabilität und die natürliche Auslese vorzustellen hat, um zu einer befriedigenden Erklärung zu gelangen. Zwei Erklärungsweisen stellen sich dann als möglich heraus. 1. Die Mutabilität ist eine allseitige; die natürliche Auslese aber fand in langen geologischen Perioden in einer und derselben Rich- tung statt. 2. Die Mutabilität ist eine einseitige; sie bestimmte die Richtung des Fortschrittes. ' Werpox nennt diesen Einwand gegen die Selectionslehre den bedeutendsten. Vergl. sein presidential Address: On the three prineipal objeetions which are urged against the theory of Natural Selection. 8. Sept. 1898. Brit. Ass. Advane. Science. Bristol 1899. p. 887. Die Hypothese der allseitigen Mutabilität. 143 Die erstere Auffassung ist offenbar diejenige Darwın’s, die letztere wird von ScoTT vertreten. Zunächst ist zu bemerken, dass man auf Grund paläontologischer Thatsachen wohl kaum zwischen Mutabilität und Auslese wird unter- scheiden können, und dass, wie ja auch Scort bemerkt, jede „Er- klärung“ nicht viel mehr als eine Voraussetzung sein kann. Es liegt kein Grund vor, anzunehmen, dass in jedem paläonto- logischen Stammbaume nicht zahlreiche Arten entstanden sein sollten, welche es nie zu einer hinreichenden Individuenzahl gebracht haben, um geologisch erhalten zu bleiben, und welche ohne Nachkommen- schaft und somit spurlos verschwunden sein müssen. Ueber die Zu- lässigkeit einer solchen Annahme können offenbar die paläontologischen Befunde nicht entscheiden. Vergleichen wir aber den Artenreichthum der geologischen Reihen mit dem Reichthum unserer jetzigen collec- tiven Arten an elementaren Typen. Es liegt auf der Hand, diesen letzteren Reichthum auch für frühere Perioden anzunehmen. Aber hinter dieser Annahme bleibt der geologische Befund weit zurück; von den meisten Formen ist also nicht die Spur erhalten geblieben. Wählen wir das bekannteste Beispiel, das durch die Experimente von JORDAN, THURET, DE BARY, Rosen u. A. über allen Zweifel erhoben ist. Ich meine die Zusammensetzung der gewöhnlichen Draba verna aus elementaren Arten. Im Süden Frankreichs sammelte JORDAN deren etwa 50; sie zeigten sich auch bei vieljähriger Cultur völlig constant. Jetzt ist die Zahl für das mittlere Europa auf etwa 200 herangestiegen. Aehnlich verhält es sich, wenn auch in geringerem Grade, wohl mit den meisten collectiven Arten. Niemand bezweifelt, dass die sämmtlichen elementaren Arten der Draba verna von einem gemeinsamen Urtypus abstammen; sie weichen aber in jeder denkbaren Richtung von einander ab. Sind sie durch Mutationen dieses Urtypus entstanden, so war diese ganz ofienbar allseitig und richtungslos. Sie bieten der natürlichen Auslese ein wohl für jede Theorie genügendes Material. Falls die Vorfahren des Pferdes eine ähnliche allseitige Mutabili- tät besessen haben würden, wie gross würde dann die Aussicht sein, dass davon Anzeichen in den geologischen Schichten zu finden wären? Es dürfte dieses schwer zu entscheiden sein. Und dazu kommt noch die folgende Ueberlegung. Der jetzige Reichthum einer Art an ele- mentaren Arten ist keineswegs das Maass für die Anzahl der Muta- tionen, welche in ihr seit ihrem ersten Entstehen stattgefunden haben. Weitaus die meisten Mutationen werden voraussichtlich ohne Erfolg bleiben, da die natürliche Auslese die betreffenden Individuen all zu 144 Die Entstehung der Arten durch Mutation. früh ausrodet. Andere Formen werden sich mehr oder weniger ver- mehren, um aber nach einigen Jahren wieder zu verschwinden. Nur wenige werden sich schliesslich an dem grossen Kampf um’s Dasein betheiligen. Vieles muss bald zu Grunde gehen. Es findet ja sogar zwischen den männlichen und den weiblichen Individuen einer und derselben Art ein sehr starker Wettkampf statt, der das normale Verhältniss beider ganz erheblich zu verändern im Stande ist. Meist sind die männlichen Individuen die schwächeren und an un- günstigen Stellen findet man daher ganz regelmässig die weiblichen im Verhältniss zu den männlichen zugenommen. Solches wurde z.B. von HOFFMANN an Spinacia, Rumex, Lychnis, von anderen Autoren an mehreren anderen Arten beobachtet. Bei Matthiola incana liefern die kräftigsten Samen die gefüllten Individuen, daher schwankt der Gehalt an solchen je nach den Culturbedingungen; bei Aussaat im Freien erreichen sie meist nur 50°/,, bei Topfeultur meist 60°/, und bis- weilen bis 70 °/,. Es scheint mir daher die Annahme nicht sehr gewagt, dass in geologischen Zeiten sehr viele neu entstandene Formen in ihrer Jugend untergegangen sein werden, ohne irgend eine Spur zu hinter- lassen. Soll die Hypothese einer einseitigen Mutabilität die Annahme einer in constanter Richtung wirkenden Auslese überflüssig machen, so muss man sich die Mutationen in hohem Grade beschränkt denken. Fast nur die paläontologisch gefundenen Arten dürfen entstanden sein; eigentlich nur die in der Hauptlinie des Stammbaumes liegenden. Alle Nebenzweige, welche ohne Nachkommenschaft ausgestorben sind, werden auf Auslese deuten, und zwar auf eine stets in der Richtung der Hauptlinie wirkende Wahl. Es will mir scheinen, als ob eine in’s Einzelne gehende Ausarbeitung der Scotr'schen Ansicht die Differenzen zwischen ihm und Darwın immer mehr würde verschwinden lassen. Die Frage, in wie weit sich die Annahme einer durch lange Zeiten: in bestimmter Richtung wirkenden Auslese würde begründen lassen, liegt ausserhalb des Rahmens dieses Buches; mir scheint aber 1. dass man sie bis jetzt nur scheinbar eliminirt hat, 2. dass diese Annahme wenigstens eine gleiche Berechtigung hat, wie jene einer in derselben Weise gerichteten Mutabilität. Ich komme somit zu dem Schlusse: dass die Mutationstheorie eine allseitige Mutabilität der Organismen fordert. Weder die paläontologischen, noch die systematischen Befunde sind mit dieser Ansicht unvereinbar. Und die Zusammensetzung der ge- Die an Iypotlese der allseitig Ze YUutaböiität, 145 w lichen Ss leeren An aus en von elemen- taren Arten, deren Merkmale in jeder Richtung von einander abweichen, deutet klar auf frühere allseitige Mutabili- tät hin. s 27. Die Hypothese der periodischen Mutabilität. Die Constanz der Arten ist Beobachtungsthatsache; ihre Ver- änderlichkeit eine Forderung der Theorie. Dieses ist der alte Ein- wurf gegen die Descendenzlehre. LAMARCK, DARWIN, WALLACH be- gegnen dieser Schwierigkeit durch die Annahme, dass die Constanz nur eine scheinbare sein sollte, und dass die Veränderungen so lang- same seien, dass man sie in den kurzen Zeiträumen der Beobach- tungen gar nicht sehen könne. Diese Annahme ist aber, wie ich bereits gezeigt habe, eine völlig willkürliche. Es haben ohne Zweifel viele Arten im Laufe der Jahr- hunderte wichtige Veränderungen erlitten, aber ob diese langsam und allmählich stattgefunden haben, oder stufenweise und in Sprüngen, weiss man gar nicht. Die gegentheilige Voraussetzung, dass Arten durch lange Perioden völlig unverändert bleiben können, aber unter bestimmten Bedingungen anfangen werden, neue Formen hervorzubringen, scheint mir wenigstens gleichberechtigt. Die Vorfahren unserer jetzigen Arten würden dann ımmutable und mutable Perioden durchlaufen haben; die Spaltung der grösseren Arten in elementare würde dann das Resultat der letzten oder einiger der letzten solcher Perioden sein.! Die Vorstellung einer periodischen Veränderlichkeit der Arten findet man in Darwın’s Werken zu wiederholten Malen ausgesprochen. „Ohanged conditions of life“ sind ja der Hauptfactor der Veränderlich- keit, und nur in den seltensten Fällen dürfte sich Darwın die Ver- änderung der Lebensbedingungen als eine andauernde gedacht haben. In demselben Sinne hat Darwın öfter auf die Thatsache hingewiesen, dass Pflanzen in den ersten Jahren, nachdem sie in Cultur genommen wurden, noch wenig variiren, aber nach 3—5 Jahren anfangen, neue Typen erscheinen zu lassen. Und dürfte die Erklärung dieser That- sache vielleicht auch eine andere sein, als die von DARwINn angenommene, ! Ebenso Korımann: „Dieser Bildungsprocess neuer Rassen — dauert bei keiner Species weder des Thier- noch des Pflanzenreiches beständig fort, sondern schliesst an einer bestimmten Grenze ab, sonst gäbe es ja nur Umwandlungen, stets neue Species und keine Dauerformen, wie sie die Systematik kennt.‘ Correspondenzblatt d. d. Ges. f. Anthropologie. Bd. XXXI. Nr.1. 8.3. Jan. 1900. DE VRIEs, Mutation. I. 10 146 Die Entstehung der Arten dwrch Mutation. so spricht doch die so häufige Hervorhebung der Beobachtung für Darwın’s Ansicht von Perioden grösserer oder geringerer Veränder- lichkeit.! Ueber das Wesen dieser Perioden vermuthet Darwın, dass die äusseren Einflüsse wahrscheinlich erst durch mehrere Generationen wirken müssen, ehe sich die Veränderlichkeit zeigen kann. Ist aber die Mutabilität eine periodische Erscheinung, so brauchen die einzelnen Mutationen nicht allmählich vor sich gegangen zu sein. Die Voraussetzung lässt offenbar die Annahme stufenweiser Verände- rungen zu. Und die Existenz langer Perioden von unveränderten Merkmalen ist doch wohl für zahllose Arten als völlig sicher zu be- trachten. Das häufige, wenn nicht ganz allgemeine Vorkommen der- selben elementaren Art an seit Jahrhunderten von einander isolirten Fundorten ist in dieser Hinsicht durchaus entscheidend. Morırz WaGneErs bekannte Migrationstheorie stammt aus demselben Grundgedanken.” So lange keine äusseren Ursachen der Mutabilität vorliegen, hat man auch keinen Grund, eine solche zu erwarten oder anzunehmen; so lange somit die äusseren, klimatischen, physikalischen und biologischen Lebensbedingungen dieselben bleiben, muss man annehmen, dass die Arten sich nicht verändern. Zieht aber die Ptlanze aus oder ändern sich in ihrer Gegend die Pflanzen und Thiere, mit denen sie im Kampf um’s Dasein stand, so scheinen die Bedingungen für das Auftreten von Mutationen gegeben. Beide Umstände können auf kürzere oder längere Zeit eine sehr rasche und bedeutende Vermehrung der Individuenzahl zur Folge haben, und es wäre möglich, dass diese eine der Ursachen eintretender Mutabilität wäre. Denn eine rasche Vermehrung setzt die Keimung von solchen Samen voraus, welche unter anderen Umständen entweder nicht keimen oder bald zu Grunde gehen würden, Samen von Seitenzweigen hoher Ordnung, von Inflorescenzgipfeln, von Blüthen aus accessorischen Knospen u. s. w. Ich deute diese Möglichkeiten nur an. Es sollte nach meiner Ansicht Aufgabe experimenteller Untersuchungen sein, Arten aufzu- suchen, welche sich gerade in einer Mutationsperiode befinden, und noch mehr die Bedingungen zu ermitteln, durch welche man künst- lich Arten in solche Perioden bringen könnte. Neben der so blühen- den morphologischen Descendenzlehre sollte doch auch eine experi- mentelle Descendenzlehre begründet werden! ' I do believe that natural selection will generally act very slowly, only at long intervals of time (Origin, 6. Ed. p. 85). 2 WaAsneErR, Das Migrationsgesetzs der Organismen. Der Vorgang des Mutirens innerhalb der Mutationsperioden. 147 $ 28. Der Vorgang des Mutirens innerhalb der Mutationsperioden. Beobachtungen hat man über die Mutationsperioden noch nicht gemacht. Dagegen nat man mehrfach versucht, von gewissen Voraus- setzungen ausgehend, zu berechnen, was man von dem Vorgang des Mutirens etwa erwarten dürfte. Es sind dabei zwei Sätze aufgestellt, welche geeignet scheinen, viele Schwierigkeiten der Mutationstheorie aufzuheben. Es sind dies die folgenden: 1. Die Annahme, dass die neue Form (Art) von der Mutterart nicht einmal, sondern während. der betreffenden Periode vielfach und zwar mit einer gewissen Regelmässigkeit hervorgebracht wird. 2. Die Möglichkeit, das Auftreten nutzloser oder gar schädlicher Artmerkmale zu erklären — ein nicht unbedeutender Vorzug vor der Selectionslehre. Zweck dieser Auseinandersetzungen war es zunächst, zu zeigen, dass neu entstandene Formen auch ohne Hülfe der natürlichen Aus- lese sich wenigstens so weit vermehren können, dass sie nachher den Kampf um’s Dasein mit genügender Aussicht auf guten Erfolg be- ginnen können. Aber der Umstand, dass man das thatsächliche Ver- halten beim Auftreten neuer Formen noch nicht hinreichend kannte, und dass man somit von rein willkürlichen Voraussetzungen ausgehen musste, hat für diese Betrachtungen bisher nur geringe Berücksichtigung finden lassen. Es sind namentlich GuLick und DELBOEUF, welche diese Ansichten vertreten haben. Guuick’s Satz lautet: An initial tendency due to accidental variation can increase and develop in succeeding generations, without reference to the advantage of the species. Angenommen wird dabei nicht eine extreme Variante der individuellen Variation, sondern eine Mutation. Und zwar das Auftreten einer solchen neuen Form, auf welche die natür- liche Auslese wenigstens anfangs keinen Einfluss hat.! J. DELBOEUF ist bestrebt, deutlich zu machen, dass das endliche Ueberwiegen der Anzahl der umgewandelten Individuen über diejenigen Wesen, welche den primitiven Typus bewahrt haben, eine nothwendige Consequenz der Fortdauer der Ursache ist, welche die erste Abweichung herbeigeführt hat, so schwach sie auch sein möge.? Eine scharfe Trennung zwischen Selections- und Mutationstheorie ! Vergl. Journ. Linn. Soe. Zool. Vol. XI. S. 496 und Vol.XX. (1888.) 8. 215. ? J. Deieoeur, Ein auf die Umwandlungstheorie anwendbares mathematisches Gesetz. Kosmos 1877—1878. 1. Jahrg. II. Bd. S. 105—127, namentlich S. 112, 10 148 Die Entstehung der Arten dwrch Mutation. lag zu Dersorur's Zeiten noch nicht vor, und so wendet er seine Ansicht durch einander auf beide an. Ich habe hier aber nur ihre Bedeutung für die letztere zu berücksichtigen. Auch will ich meine Auseinandersetzung noch weiter beschränken, indem ich nur solche Fälle betrachte, in denen die neue Form sofort samenbeständig ist, eine Voraussetzung, von der wir im $ 25 gesehen haben, dass sie wohl zumeist zutrifft. DELBOEUF geht von der Annahme aus, dass eine Mutation nicht einmal auftrete, sondern in der Reihe der Generationen jedesmal in einer gewissen, sei es auch noch so kleinen Anzahl von Individuen sich wiederhole, indem die Ursache der Mutation so lange fortdauere. Er stellt ferner den Fall, dass die neue Form sich unbeeinträchtigt fortpilanzen könne, dass sie vom Kampf um’s Dasein weder in ihrer Vermehrung beschränkt, noch bevortheilt werde. Unter diesen Voraus- setzungen muss die neue Form im Verhältniss zur Stammform stets an Individuenzahl zunehmen, und zwar um so rascher, in je grösserer Procentzahl sie in jeder Generation neu hervorgebracht wird. Es lässt sich für jede beliebige (im Laufe der Generationen mittlere) Procent- zahl berechnen, nach wie langer Zeit z. B. die neue Form in. gleicher Anzahl von Individuen zwischen der Stammform vorkommen werde, und wie sie später im Laufe der Zeit sie allmählich zu ersetzen be- strebt sein wird. In Zahlentabellen findet man die wichtigsten Fälle ausgearbeitet. Das Princip ist aber an sich klar: Auch ohne irgend welche Vorzüge im Kampf um’s Dasein wird eine neue Form sich behaupten, vorausgesetzt 1. dass sie hinreichend kräftig und fruchtbar sei, um sich zu vermehren, und 2. dass sie nicht bloss einmal, son- dern während einer längeren Periode wiederholt entstehe.! DELBoEUF’s Gesetz hat nur wenig Beachtung gefunden. Dennoch scheint es mir im Princip und auf dem Boden der Mutationstheorie richtig. Es erklärt in einfacher Weise die Existenz so zahlreicher Artmerkmale, welche völlig nutzlos sind, oder von deren Nutzen wir doch keine Ahnung haben, wie die Unterschiede der schon vielfach eitirten Arten von Draba verna. Nach der Selectionstheorie können eigentlich nur nützliche Eigen- schaften entstehen; nach der Mutationstheorie auch nutzlose und sogar ‘ In Bezug auf die Wahrscheinlichkeit dieser letzteren Voraussetzung ver- weise ich auf die Beispiele in S 25 S. 136—138, namentlich auf das dieser Voraus- setzung völlig entsprechende, von mir beobachtete wiederholte Auftreten des sterilen Mais. Schluss. 149 in geringem Grade schädliche. Und nach DeLBorUFr’s Gesetz können sich diese wenigstens in vielen Fällen während langer Perioden neben den nützlichen Umgestaltungen behaupten, denn die von ihm ge- machten Voraussetzungen finden in der Erfahrung ihre ausreichende Berechtigung. - VI. Schluss. 1. In der morphologischen und historischen Descendenzlehre han- delt es sich um die Entstehung der Linx&’schen oder collectiven Arten, der Gattungen, Familien und. grösseren Gruppen. In der experi- mentellen Descendenzlehre handelt es sich um die Entstehung der elementaren Arten, oder vielmehr um die Entstehung der Artmerkmale. 2. „Die wahre Klippe der Darwi’schen Theorie ist der Uebergang von der künstlichen Zuchtwahl zu der natürlichen Auslese“ (PauL JAnErT). Diese Klippe kann nur umgangen werden, wenn man die Veredelung der Rassen und die Entstehung neuer Formen als zwei durchaus ver- schiedene, nur scheinbar in einander übergehende Vorgänge anerkennt. Für Darwın standen diese neben einander, die eine schloss die andere keineswegs aus, wenn er sie auch in der Regel nicht scharf unterschieden hat. 3. „Keine zwei Individuen einer Aussaat sind einander völlig gleich.“ Dieser bekannte Satz ist auf das Gebiet der eigentlichen, fluctuirenden Variabilität zu beschränken, zur Descendenzlehre steht er, wenn man die Mutationstheorie annimmt, in keiner Beziehung. 4. „Die Arten sind durch natürliche Auslese im Kampf um’s Dasein entstanden.“ Auch dieser Ausspruch bedarf einer Klärung. Der Kampf um’s Dasein, d. h. der Wettbewerb um die Existenz, umfasst zwei durchaus verschiedene Punkte. Einmal findet der Streit zwischen den Individuen einer und derselben elementaren Art statt, dann aber auch zwischen den verschiedenen Arten als solchen. Der erstere Streit gehört in die Variabilitätslehre, der zweite in die Lehre der Mutationen. Im ersteren Falle überleben die Individuen, welche die gerade für sie günstigsten Lebensbedingungen finden, und deshalb im Allgemeinen die kräftigsten. Durch diesen Process entstehen die localen Rassen, durch ihn ist das Acclimatisiren ermöglicht. Hören die neuen Lebensbedingungen auf, so kehren die ihnen adaptirten Rassen zum ursprünglichen Typus zurück. Ganz anders ist die natürliche Auslese im Kampf um’s Dasein 150 Schluss. zwischen den neu entstandenen, elementaren Arten. Diese entstehen plötzlich, unvermittelt, und vermehren sich, wenn nichts im Wege steht, da sie meist völlig, oder doch in hohem Grade erblich sind. Wenn dann die Vermehrung zu einem Kampf um’s Dasein führt, wird die schwächere erliegen und ausgerodet werden. Je nachdem die ältere oder die jüngere Form zufällig besser für die gegebene Lebens- lage passt, wird die eine überleben oder die andere. Durch diesen Kampf um’s Dasein entstehen Arten ebenso wenig wie durch jenen zwischen den Varianten eines und desselben Typus, aber offenbar aus einem ganz anderen Grunde. Um mit einander in Wettstreit treten zu können, müssen die Arten erst da sein; der Streit ent- scheidet, welche von ihnen am Leben bleiben und welche vergehen. Diese „Artenauslese“ hat ohne Zweifel im Laufe der Entwickelung deren zahllose ausgerodet und nur verhältnissmässig wenige behalten. Kurz gesagt, behaupte ich somit auf Grund der Mutationstheorie, dass Arten durch den Kampf um’s Dasein und durch die natürliche Auslese nicht entstehen, sondern vergehen. 5. HERBERT SpENcER’s bekannter Ausspruch: „The survival of the fittest‘“ zerfällt somit in zwei Sätze: Das Ueberleben der geeignetsten Individuen innerhalb der constanten Arten oder bei der Bildung localer Rassen, und das Ueberleben der geeignetsten Arten („the survival of the fittest species“), als Grundlage für die Descendenz- lehre. Beide Sätze sind von einander unabhängig und gehören ver- schiedenen Gebieten an. 6. Nach der Mutationstheorie sind die Arten nicht durch allmäh- liche, während Jahrl:underte oder Jahrtausende fortgesetzte Selection entstanden, sondern stufenweise, durch plötzliche, wenn auch ganz kleine Umwandlungen. Im Gegensatz zu den Variationen, welche geradlinig fortschreitende Veränderungen sind, zweigen die als Muta- tion zu bezeichnenden Umgestaltungen in neuen Richtungen ab. Sie finden dabei, soweit die Erfahrung reicht, richtungslos, d. h. in den verschiedensten Richtungen statt. Sie treten nur von Zeit zu Zeit, und wahrscheinlich unter der Wirkung bestimmter Ursachen, perio- disch auf. Die Lehre von der Erblichkeit erworbener Eigenschaften ist ein Abschnitt aus der Variabilitätslehre im engeren Sinne. Zu der Lehre von der Entstehung der Arten steht sie in keiner Beziehung. Ebenso wenig findet die Descendenzlehre auf die Discussion socialer Fragen Anwendung. Zweiter Abschnitt. Die Entstehung von elementaren Arten in der Gattung Oenothera. I. Die Oulturfamilien. | $ 1. Oenothera Lamarckiana, eine mutirende Pflanze. (Tafel I.) So lange man die Bedingungen nicht kennt, unter denen neue Arten entstehen, wird es schwierig bleiben, geeignetes Material für eine derartige Untersuchung zu finden. Ich habe aus diesem Grunde im Jahre 1886 und in den nächstfolgenden Jahren im Freien in der Umgegend von Amsterdam vielfach nach Arten gesucht, welche durch Monstrositäten oder sonstige Abweichungen für meinen Zweck günstig schienen. Ich habe im Laufe der Jahre weit über hundert solcher Arten in Cultur genommen, doch hat im Wesentlichen nur Eine that- sächlich meinen Wünschen entsprochen. Ich vermuthe daher, dass die meisten Arten unserer Gegend sich in einer immutablen Periode befinden, und dass Pflanzen, welche gerade in einer mutablen Periode sind, uns verhältnissmässig selten begegnen. Die fragliche Pflanze ist Oenothera Lamarckiana, welche wohl, wie ihre nächsten Verwandten O. biennis und O. muricata, aus Amerika zu uns gekommen sein wird. Sie zeichnet sich vor diesen aus durch höheren Wuchs, durch weit grössere und schönere Blumen, welche sich in der Regel nicht selbst befruchten können, durch andere Blätter u. s. w.! Die Einführung aus Amerika wird aber wohl so zu ver- ! Ueber die Synonymie und die verwandtschaftlichen Beziehungen sowie für die eigehende Beschreibung des Fundortes vergl.: Sur l!introduetion de l! Oeno- thera Lamareckianı dans les Pays-Bas, in: Nederlandsch Kruidkundig Archief. T. VI. 4. 1895, sowie die späteren Paragraphen dieses Abschnittes. Die Culturfamilien. 152 stehen sein, dass sie bei uns in Gärten cultivirt wurde und von dort aus verwildert ist. Wenigstens war dies der Fall auf dem von mir beobachteten Fundort. Dieser lag in der Nähe von Hilversum und forderte durch ganz besondere Eigenthümlichkeiten zu einem genaueren Studium auf. Ich besuchte ihn in den Sommern der Jahre 1886-1888 fast wöchentlich, und seitdem in den meisten Jahren wenigstens ein- bis zweimal. Es war ein verlassenes Kartoffelfeld, auf welches sich die Pflanze von einer benachbarten Anlage aus verbreitete. Diese Verbreitung hatte un- gefähr im Jahre 1875 angefangen, in den zehn Jahren 1875— 1885 hatte die Pflanze sich in vielen Hunderten von Exemplaren über etwa die Hälfte des Feldes ausgedehnt; in den nächsten Jahren ver- mehrte sie sich in zu- nehmendem Maasse, bis schliesslich das Ter- rain für Waldeultur. verwerthet wurde. Jetzt ist die Pflanze dort sehr zurückgegangen. Fig. 42. Oenothera Lamarckiana. Eine Blüthe in fast Ei ieh Ih natürlicher Grösse. Eins der vier Blumenblätter ist I = eTaSch entfernt worden, um die 8 Staubgefässe und den Griffel Vermehrung im Laufe mit den Narben zu zeigen. von verhältnissmässig wenigen Jahren ist vielleicht eine der Bedingungen des Eintretens einer mutablen Periode. Wenigstens vermuthete ich solches damals. Die genauere Durchforschung des Feldes führte zu derselben Folgerung. Erstens variirte die Pflanze in fast allen ihren Organen und Eigenschaften fluctuirend in auffälliger Weise. Dann brachte sie zahlreiche Abweichungen hervor, unter denen ich hier nur die Fasciationen* und die Ascidien? hervorhebe. In ihrer Lebensdauer 1 Over de erfelykheid der fasciatien. Kruidkundig Jaarboek Dodonaea. 1894. S. 72. cf. S. 92—95. ® Over de erfelykheid van Synfisen. Ebendaselbst. 1895. 8. 129. cf. S. 165. einige wenige dreijährig, wie bei den Rüben. Entscheidend war aber die ein Jahr später gemachte Entdeckung von zwei wohl charakterisirten Formen, welche sich sofort als neue elemen- tare Arten zu erkennen gaben. Die eine war eine kurzgriffelige Form, die O. brevistylis, welche anfangs rein männlich zu sein schien, später aber dennoch in mehreren Individuen das Vermögen zeigte, kleine Kapseln mit einzelnen keimfähigen Samen hervorzubringen. Die andere war eine glattblätterige Form mit bedeutend schönerer Belaubung als die O. Lumarckiana, und dadurch auffallend, dass sie im Herbst schmälere Blumenblätter trägt, denen die herzförmige Ausbuchtung am oberen Rande fehlt. Diese Form habe ich unter dem Namen O. laevifolia in Cultur.! Sowohl die O. brewistylis, wie die O. laevifolia sind aus Samen völlig constant, wie ich in einem späteren Paragraphen ausführlich dar- thun werde. Sie unterscheiden sich von der O. Lamarckiana in zahl- reichen Merkmalen und bilden daher gute elementare Arten. Als ich sie zuerst entdeckte (1887), fanden sie sich nur in sehr wenigen Exemplaren vor. Und zwar jede Form an einer einzigen Stelle des Feldes. Die O. brewistylis in der unmittelbaren Nähe des Punktes, von dem aus die Verbreitung stattgefunden hatte, die O. laevifolia in einer kleinen Gruppe von 10—12 theils blühenden, theils nur Wurzel- blätter tragenden Exemplaren auf einem weiten, sonst noch nicht von der O0. Lamarckiana besetzten Theile des Feldes. Es machte den Eindruck, als ob diese Gruppe an Ort und Stelle aus den Samen einer einzigen Pflanze aufgegangen wäre. Seitdem haben sich beide Formen mehr oder weniger über das Feld verbreitet. Beide Formen fand ich in den Herbarien von Leiden, Paris und Kew nicht vertreten; auch sind sie, so viel ich sehen konnte, in der Literatur, ausser von diesem Standorte, nicht beschrieben worden. Ob sie an Ort und Stelle entstanden sind, lässt sich selbstverständlich nicht mehr nachweisen. Ich halte solches, bis auf Weiteres, für wahrschein- lich. Soviel ist gewiss, dass die Entdeckung dieser beiden Arten meine Hoffnung, aus demselben Stamme noch mehrere Arten entstehen zu sehen, erhöhte, und dass diese Hoflnung mich nicht getäuscht hat. Für die Cultur im Versuchsgarten zu Amsterdam habe ich im Herbst 1886 zwei Proben dem Standorte bei Hilversum entnommen. | ! Beide Formen sind beschrieben und theilweise abgebildet von Prof. Jurıus Pont: Ueber Variationsweite der Oenothera Lamarckiana, in: Oesterr. Botan. Zeit- schr. 1895. Nr.5 und 6. (Die O. laevifoka ist dort als O. oxypetala bezeichnet.) 154 Die Oulturfamilen. Erstens neun möglichst grosse, sehr schöne Rosetten mit fast fleischigen Wurzeln. Zweitens Samen einer fünffächerigen Frucht aus dem mitt- leren Theile des Feldes. Endlich sammelte ich im Herbst 1887 Samen der O. laevifolia. Ich erhielt dadurch drei Gruppen, welche ich in Uebereinstimmung mit der Nomenclatur der Zuckerrübenzüchter Familien nenne, und welche ich, von einander getrennt, bis auf den heutigen Tag weiter cultivirt habe. Aus diesen drei Familien und ihren zahlreichen Seitenzweigen stammt nahezu meine ganze Cultur, welche in den meisten ‚Jahren mehrere Tausende von Individuen umfasst hat, und in der in der letzten Zeit jährlich einige Hunderte von Pflanzen künstlich befruchtet wurden, um als Samenträger zu dienen. Ausserdem habe ich mir direct von dem Hilversumer Standorte die O. brevistylis verschafft, da diese in meinen Öulturen nicht auftrat. Auch habe ich bisweilen Samenproben für Controlversuche auf jenem Felde gesammelt. In jeder der drei genannten Familien sind in meinem Garten neue elementare Arten aufgetreten; im Wesentlichen dieselben in den drei Gruppen. Ich werde daher zunächst jede von ihnen gesondert behandeln, und zwar zuerst die aus den Rosetten hervorgegangene, welche ich die Lamarckiana-Familie nennen werde. Von dieser Familie sind die Hauptlinie (8 2) und ein Nebenzweig (8 5) der Uebersicht- lichkeit wegen getrennt darzustellen, doch bestätigen die mit letzterem erhaltenen Ergebnisse im Allgemeinen die aus der ersteren abgeleiteten Folgerungen. Aus Samen der O. laevifolia entstand die Laevifolia-Familie (8 6); aus den Samen der namhaft gemachten fünffächerigen Frucht eine Gruppe, welche als Lata-Familie bezeichnet werden soll ($ 7). $ 2. Die Lamarckiana-Familie. Die Urpflanzen dieser Familie wurden, wie bemerkt, im Herbst 1386 nach dem botanischen Garten in Amsterdam übergepflanzt. Sie blühten 1887 sehr üppig aus dem Hauptstamme und zahlreichen Seitenästen und Zweigen und trugen reichlich Samen. Sie standen auf einem isolirten Beete und bildeten die erste Generation. Aus diesen Samen hatte ich 1888—1889 eine zweite Generation, welche auf demselben isolirten Beete blühte. Es waren sechs sehr kräftige Samenträger. Die dritte Generation hatte ich 1890—1891; sie stand nicht isolirt, aber blühte in 1891 bevor die übrigen Culturen der Oenothera zu blühen anfıngen; einige Tage bevor dieses geschah, Die Lamarckiana- Familie. 159 wurden die Pflanzen aller noch blühenden Blüthen und Blüthen- knospen beraubt. Aus den Samen der ersten und zweiten Generation sind, ausser den normalen Pflanzen, drei neue, bis dahin unbekannte Formen hervorgegangen, die O. nanella und O.lata in mehreren, die O. rubrinervis in einem einzigen Exemplare. Meine Hoffnung war somit erfüllt. Aber die Schwierigkeiten der Cultur waren inzwischen so bedeutend geworden, dass ich sie dann einstweilen aufgegeben habe. Die Laevifolia-Familie wurde inzwischen fortgesetzt, und Versuche über Culturmethode, Düngung, künstliche Befruchtung u. s. w. in grossem Maassstabe ausgeführt. Das Resultat war, dass ich 1895 die Familie wieder aufnehmen konnte und zwar mit ganz auffallend besserem, kaum zu erwartendem Erfolge, wie ein Blick auf den Stammbaum (S. 157) sofort zeigt. Ich habe seitdem meine Pflanzen stark gedüngt, die abweichenden Individuen, sobald ich sie als solche erkennen konnte, isolirt und die kräftigsten Rosetten möglichst früh als Samenträger ausgewählt. Ich habe ferner meine Pflanzen so viel wie möglich als eine einjährige Form behandelt, und die Samenträger für die Hauptlinie stets unter solchen ausgewählt. Ich hatte daher von 1895—1899 jedes Jahr eine neue (Generation. Die Befruchtung geschah stets künstlich; die Blüthen geben mit ihrem eigenen Pollen reichlich Samen; sie wurden in Pergamin-Düten! vom Besuch der Insecten abgeschlossen. Die Production neuer Arten hat unter all diesen Maassregeln nicht merklich gelitten. Ich stelle jetzt zunächst die ganze Geschichte dieser Familie in der Form eines Stammbaumes zusammen (S. 157). Und zwar nur die Hauptlinie, und die unmittelbar von dieser hervorgebrachten mutirten Individuen. Ueber diese selbst sowie über ihre Nachkommenschaft werde ich im nächsten Paragraphen berichten. Man sieht im Stammbaum die acht aus einander hervorgegangenen (Generationen; die erste 1836— 1887 umfasst die neun Pflanzen, welche ich auf dem Hilversumer Felde sammelte; diese und die beiden fol- genden umfassen je zwei Jahre. Die 1891 geernteten Samen säete ich erst 1895; seitdem umfasst jede Generation nur Ein Jahr. Die mit O. Lam. überschriebene Spalte giebt für jedes Jahr, in einer runden Zahl, den ungefähren Umfang der Cultur, d. h. die Anzahl der in ihrer Jugend oder später auf die betreffenden Merkmale ge- 1 „On the use of transparent paper bags for artificial fertilisation“ in: Hybrid Conference Report; Journal Royal Horticult. Socvety. Vol. XXIV, April 1900. p. 266. 156 Die Oulturfamilien. prüften Individuen (also nicht etwa die Zahl der gesäeten Samen oder der vor der Auswahl ausgejäteten Keimpflanzen). Für jede Generation sind dann weiter die in ihr aufgefundenen mutirten Individuen angewiesen, soweit solche mit Sicherheit erkannt werden konnten. Vermuthlich sind diese Zahlen hier und dort zu klein ausgefallen, da der Raum bei Weitem nicht immer zuliess, alle Keim- pflanzen bis zum Eintreten der vollen Sicherheit über ihre Eigenschaften heranwachsen zu lassen. Die Angaben über die Mutationen habe ich auf die sieben wich- tigsten Formen beschränkt; es sind fast stets noch andere entstanden, welche aber entweder nicht geblüht, oder wegen partieller Sterilität keine Samen getragen haben, oder welche aus anderen Gründen erst in zweiter Linie Berücksichtigung verdienen. Als solche seien vorläufig O. sublinearis und O. subovata genannt, von welchen je zwei oder drei verwandte Formen sich noch nicht sicher unterscheiden lassen, weil sie keine Samen trugen. Von einer O. leptocarpa, einer O. elliptica, und einer O. semilata habe ich mit gutem Erfolg Aussaaten gemacht, jedoch nur in geringem Umfange (vergl. $ 16—20). Von einer O. spathulata hatte ich bis jetzt nur Rosetten, und dasselbe gilt von anderen Formen, welche mit Namen zu belegen sich nicht lohnen würde. Die obengenannten O. laevifolia und O. brevistylis, welche ich auf dem ursprünglichen Fundorte antraf, sind in meinen OCulturen nie aufgetreten. Aus den Zahlen des Stammbaumes ersieht man, dass meine Cultur in sieben Generationen etwa 50000 Individuen umfasste, und dass von diesen etwas über 800 mutirt sind. Also etwa 1,5 °/,, eine Zahl, welche aus manchen Gründen eher zu klein als zu gross aus- gefallen ist. Von jedem mutirten Individuum ist es gewiss, dass seine Vorfahren seit 1886 normale O. Lamarckiana waren. Ob dieses auch von den früheren Vorfahren gilt, ist selbstverständ- lich nicht mehr nachzuweisen, darf aber, nach den Befunden auf dem Hilversumer Felde, wegen der grossen Seltenheit der daselbst vor- gefundenen abweichenden Formen, mit Wahrscheinlichkeit angenom- men werden. Die Lamarckiana- Familie. 157 Oenothera Lamarckiana. I Die Lamarckiana-Familie. T: Stammbaum über die Entstehung neuer Arten aus der Hauptform. (Die Ziffern der Tabelle weisen die Anzahl der Individuen nach.) | Arten a Generation, | en rubri- OÖ. sein- iO. sigas albida ee era nanella lata tillans |8. Gener. | VIII 1899 | 5 1 0.1700. 21 1 (einj ährig), 7 r zu Be IE Gener. | VI) 1898 | 9 0 3000 ut (einjährig) a 6. Gener. | VI! 1897 | 11 29 31800 9 5 1 (einj ährig)| Fr | 5. Gener. | V| 1896 25 135 20 8000 49 142 6 (einjährig) a u | 4. Gener. | IV| 1895 1 15 176 Ss 14000 60 13 1 (einjährige) 2. omas oe zuee T r EE Br 3. Gener. | III) 1890 — 91 1 10000 3 3 \(zweijähr.), BT. | Sy TFEaEH 2. Gener. II 1888—89 | 15000 5 5 | wjelgs | —- — ‚(zweijähr.) 1. Gener. | | I 1886—87 y \ Hilver- ‚sum und | ı Amster- | | dam ‚(zweijähr.), Die Culturfamilien. $ 3. Die Mutationen in der Lamarckiana-Familie. Für die sieben im Stammbaume erwähnten neuen Arten sollen jetzt die Art und Weise ihres Auftretens sowie ihre wichtigsten Merk- male einzeln beschrieben werden. I. O. gigas." Eine kräftige, breitblätterige, grossblüthige und kurzfrüchtige Pflanze, anscheinend in jeder Beziehung besser aus- gerüstet als O. Lamarckiana. Sie macht den Eindruck, als ob sie auch im Freien den Kampf um’s Dasein wenigstens ebenso gut führen könnte, wie ihre bei uns einheimischen Verwandten. Die Blätter der Wurzelrosette sind bereits an den ganz jungen Pflänzchen leicht und sicher zu erkennen. Sie sind breit, mit breiter Basis an den langen Stiel verbunden, nicht allmählich in diesen über- gehend, wie bei O. Lamarckiana. Die späteren Blätter zeigen diesen Unterschied in geringerem Grade, jedoch immer deutlich genug. Uebrigens variirt die Blattform ganz bedeutend, viel stärker als bei irgend einer anderen Form der Untergattung Onagra; sehr schmal- blätterige und ausserordentlich breitblätterige Exemplare kommen schon in kleinen Gruppen von Individuen vor. Die Stengel sind dicker, etwa ebenso hoch wie die der 0. Za- marckiana, viel dichter beblättert, indem die Internodien kürzer und die Blätter abwärts mehr dem Stengel angedrückt sind. Die Inflorescenzen sind ausserordentlich kräftig, mit kurzen Inter- nodien, breiten Tragblättern und sehr grossen Blüthen, welche eine viel vollere und schönere Krone bilden als bei ©. Lamarckiana. Die Früchte sind kurz, dick, mehr oder weniger conisch; die Samen sehr gross. ! In Bezug auf die Nomenclatur sei hier vorläufig bemerkt, dass meine Pflanzen gleich bei ihrer Geburt mit einer stattlichen Reihe von synonymen Namen belegt werden müssen. Einige Autoren rechnen die ©. Lamarckiana als Varietät zu O. biennis. Andere trennen die Untergattung Onagra als Gattung ab. Es entstehen dadurch z. B. für O. gigas die folgenden gleichberechtigten Namen: Oenothera gigas. Oenothera Lamarckiana gigas. Oenothera biennis gigas. Oenothera biennis Lamarckiana gigas. Onagra gigas. Önagra Lamarekiana gigas. Onagra biennis gigas. Onagra biennis Lamarckiana gigas u. Ss. w. Dasselbe gilt von den übrigen anzuführenden neuen Formen. Dazu kommt noch, dass Oenothera von mehreren Autoren Onothera geschrieben wird. Die Mutationen in der Lamarckiana- Familie. 159 Die Ptlanzen sind in jedem Stadium ihrer Entwickelung, trotz ihrer bedeutenden Variabilität, leicht und sicher von allen Verwandten zu unterscheiden und fallen bereits in bedeutender Entfernung auf. ! Diese Art ist nur einmal in der fraglichen Familie entstanden, wie der Stammbaum auf S. 157 zeigt. In den anderen Familien zeigte sie sich ausserdem nur noch zwei Male. Das Auftreten fand in folgender Weise statt. Im Jahre 1895 hatte ich als 4. Generation der Lamarckiana-Familie eine Aussaat von etwa 14000 Exemplaren, aus denen die mutirten Individuen aus- gepflanzt und die meisten als Zamarckiana deutlich kenntlichen ausgerodet wurden, um dem Nachwuchse fortwährend hinreichenden Raum zu geben. Anfang August hatte ich nahezu 1000 dieser Pflanzen in Blüthe, viele aber waren Rosetten geblieben. Aus diesen letzteren suchte ich die 32 schönsten und kräftigsten aus und pflanzte sie auf einem besonderen Beete in der erforderlichen gegenseitigen Entfernung. Diese Pflanzen trieben im nächsten Jahre Stengel und blühten im Juli und August. Unter ihnen zeigte sich ein Exemplar, welches durch dickeren Stengel, mehr gedrängte Inflorescenz und bedeutend grössere Blüthen auffiel. Es wurde am 10. August aller blühenden und verblühten Blüthen beraubt, worauf die Inflorescenz in einer Pergamindüte eingeschlossen und fernerhin mit dem eigenen Blüthen- staub künstlich von mir befruchtet wurde. Die Pflanze liefert reich- lich Samen; die Früchte waren kurz und dick, die Samen gross. Diese Pflanze bildet den Ursprung der neuen Art O. gigas. Ihre Vorfahren waren, wenigstens in den drei letzten Generationen, ge- wöhnliche ©. Zamarckiana. Die neue Form entstand ohne irgend welche Vermittelung oder vorherige Andeutung; sie ist während der Blüthe so auffällig, dass sie wohl nicht übersehen werden könnte, wenn sie schon vorher dagewesen wäre. Ich bemerke dazu, dass die Zahl der Samenträger in jenen drei Generationen nur 9, 6 und 10 betrug, und dass sie fortwährend sorgfältig beobachtet wurden. Die selbstbefruchteten Samen der Urpflanze wurden nun 1897 getrennt ausgesät. Sie lieferten etwas über 450 Pflanzen, welche sofort durch ihre völlige Constanz auffielen. Sie bildeten zweifelsohne einen einheitlichen Typus, der schon gleich anfangs sich von O. ZLa- marckiana unterschied. Nur eine Pflanze wich ab; sie hatte zwar auch die Merkmale von O. gigas, dazu aber die Zwerggestalt der ‘ Für die ausführliche Beschreibung dieser und der übrigen Arten vergleiche ınan das nächste Kapitel. 160 Die Cullurfamilien. O. nanella, und charakterisirte sich auch weiterhin als eine Form zweiter Ordnung: O. gigas nanella. Keine einzige unter den 450 Pflanzen kehrte zum Typus ©. Lamarckiana zurück. Wegen Mangel an Platz habe ich nur ein Viertel dieser Aussaat den ganzen Sommer über weiter cultiviren können. Viele blieben Rosetten, andere trieben Stengel und blühten; alle waren reine O.gügas. Von einigen gewann ich, nach künstlicher Befruchtung in Pergamin- düten, Samen. Es geht aus diesem Versuche hervor, dass diese Art sogleich bei ihrem ersten Auftreten völlig constant war. Sie erhielt sich so in den drei folgenden Generationen 1898 —1900. Weitere Einzelheiten auf einen späteren Paragraphen verschiebend, können wir also schon jetzt folgenden Satz als völlig bewiesen be- trachten: Eine neue elementare Art kannıin einem einzelnen Indi- viduum völlig unvermittelt auftreten und von Anfang an ganz constant sein. Wie bereits bemerkt, ist diese Form später noch zwei Male in meinen ÜOulturen aufgetreten. II. ©. albida. Eine blassgrüne, schmalblätterige, etwas spröde, sehr schwächliche Form, welche viel kleiner bleibt als die O. La- marckiana, und blassere Blüthen und schwächliche Früchte mit nur wenigen Samen trägt. Sie tritt jährlich in den meisten Culturen in einer grösseren oder geringeren Anzahl von Individuen auf; und diese sind schon als junge Rosetten leicht kenntlich. Sie sind so schwächlich, dass ich sie wäh- rend der ersten Generationen für kränkliche Individuen hielt und nicht zählte; daher fehlen die Angaben über ihr Vorkommen in den Jahren 1888 und 1590 im Stammbaum auf S. 157. Trotz des häufigen Auftretens ist es mir erst 1896 gelungen, eine O. albida zum Blühen zu bringen. Ich hebe dieses auch deshalb hervor, weil dadurch jede Vermuthung einer möglichen Kreuzung als Ursache des wiederholten Auftretens wenigstens bis zur 6. Generation völlig ausgeschlossen ist. Es war 1896 auch nur eine einzige Pflanze, aus der Aussaat von 1595 stammend und somit zweijährig. Sie brachte ganz einzelne Blüthen hervor, welche fast keinen Pollen führten und keine Samen ansetzten, nachdem ich sie in einer Pergamindüte mit dem eigenen Blüthenstaub befruchtet hatte. Im Jahre 1897 gelang es mir, fünf zweijährige Pflanzen zur Blüthe zu bringen und unter künstlicher Bestäubung Samen zu ge- Die Mutationen in der Lamarckiana- Familie. 161 'winnen. Aus diesen Samen hatte ich dann 1898 eine zweite und 1899 eine dritte Generation, beide mit einjährigen Individuen. Beide Generationen waren völlig constant, ohne Rückschlag, bestanden aber, wegen der jedesmaligen geringen Ernte, nur aus wenigen Exemplaren (86 in 1898 und 36 in 1899). III. ©. rubrinervis. Eine schöne Art, mit meist rothen Blatt- nerven und breiten rothen Streifen auf den Kelchen und den Früchten. Solche fehlen allerdings der O. Zamarckiana bisweilen nicht, sind dort aber nicht so kräftig entwickelt, dass eine Verwechselung leicht statt- finden könnte. Blüthen etwas grösser und etwas dunkler gelb. Stengel, namentlich in den einjährigen Culturen constant etwas niedriger, meist roth angelaufen. Als ganz junge Rosetten ist die Art meist noch nicht zu erkennen, dieses fängt oft erst mit dem 10.—20. Blatte an, und wenn die Pflanzen zu dicht stehen, noch später. Erst nachdem die O. lata und O. nanella abgezählt sind, fängt die O. rubrinervis gewöhn- lich an sich zu zeigen. Schmale, lange Blätter mit rothen Nerven und sehr kräftiger Wuchs sind dann ihre auffallenden Merkmale. Eine ganz besondere Eigenschaft ist die Sprödigkeit, welche namentlich in einjährigen, viel weniger in zweijährigen Individuen ausgeprägt ist. Die Stengel und Blätter zerbrechen bei jedem etwas kräftigen Stoss. Schlägt man von oben auf die blühende Pflanze, so zerspringst der Stengel förmlich in mehrere Stücke mit glatten Bruchflächen. Die Ursache liest in der äusserst geringen und schwachen Entwickelung der Bastfasern, welche aber, wie die mikroskopische Untersuchung lehrt, nicht völlig fehlen. Reisst man eine Frucht ohne sehr grosse Vorsicht ab, so zerbricht man gewöhnlich den Stengel, ein Umstand, der mir öfter bei der Ernte sehr unbequem gewesen ist. In allen sonstigen Eigenschaften ist die O. rubrinervis eine sehr kräftige, der O. Lamarckiana wenigstens ebenbürtige Pflanze. Sie ist die einzige meiner neuen Arten, welche der Mutterart im Reichthum an Blüthenstaub und Samen nicht im geringsten nachsteht. Abgesehen von ihrer Sprödigkeit scheint sie für den Kampf um’s Dasein im Freien wohl berechnet. Versuche in dieser Richtung habe ich aber noch nicht angestellt. Die O. rubrinervis ist im Hauptstammbaum, wie S. 157 zeigt, in der 3., 4., 5. und 6. Generation aufgetreten. Im Ganzen in 32 Exem- plaren. Sie ist auch in den übrigen Familien von Zeit zu Zeit be- obachtet worden und trat namentlich bereits 1889 in der Laevifolia- Familie auf. Im Jahre 1897 entstanden in der Hauptlinie der La- marckiana-Familie nur drei, in Nebenzweigen dieser Familie aber noch 10, im Ganzen also 13 Exemplare O. rubrinervis. Sie hatten, DE VRIES, Mutation. I. 11 162 wenigstens in den fünf letzten n Indivi- duen unter ihren Vorfahren. Die O. rubrinervis treten jedesmal völlig unvermittelt auf, und was dabei am meisten auffällt, ist die völlige Constanz der Merkmale, trotzdem diese von keinem der Vorfahren getragen wurden. Habe ich einmal eine Pflanze an ihrer Rosette als rubrinervis erkannt, so weiss ich im Vor- aus, dass sie einen sehr sprö- den, etwas brüchigen Stengel und rothe Kelche und Früchte tragen wird. Diese Constanz der Merkmale ist allerdings bei allen neuen elementaren Arten vorhanden, und z. B. bei der ©. lata noch weit auftallen- der als hier. Erst in den Jahren 1896 und 1897 habe ich Versuche über dieSamenbeständigkeitder neu auftretenden rubrinervis- Exemplare angestellt. Im Jahre 1895 hatte ich die acht im Stammbaum verzeichneten In- dividuen in Pergamindüten mit ihrem eigenen Blüthenstaub befruchtet. Aus ihren Samen hatte ich 1896 eine ziemlich grosse Cultur; die Samen waren in Schüsseln ausgesäet und die jungen Pflänzchen sämmtlich auf den Beeten ausgepflanzt. Fig. 43. Oenothera rubrinervis. Gipfel der Sje wurden von Aucust bis Pflanze mit Blüthen, Knospen und unreifen . SE een October, mit Ausnahme einiger Samenträger, während der Blüthe ausgerodet, d. h. jede Pflanze, sobald an Stengel, Kelch, Blüthe und junger Frucht die rubrinervis-Merkmale. kenntlich waren. Am Schlusse blieben junge Stengel und Rosetten übrig, welche aber gleich- falls sich als rubrinervis-Exemplare erwiesen. Die Anzahl der blühen- den Exemplare betrug etwas über 1000. Es war ‘unter diesen eine Die Mutationen in der Lamarckiana- Familie. 163 Jahren übrig gebliebenen Samen herstammend, also als Unkraut zu betrachten. Sonst waren alle Pflanzen rubrinervis, nur mit der Aus- nahme, dass einige die Merkmale der O. leptocarpa, einer. damals neuen Art zeigten, sonst gab es unter ihnen keine Abwei- chungen. Die eine beigemischte Pflanze war mir selbstverständ- lich sehr unangenehm. Ich habe daher den Versuch theils fort- gesetzt, theils wiederholt. Zur Fortsetzung dienten die Samen von den gesparten Samenträgern von 1896. Aus ihren Samen hatte ich 1897 1114 Pflanzen, welche nun aus- nahmslos rubrinervis waren. Zur Wiederholung wählte ich selbstbefruchteten Samen von vier Pflanzen, welche 1896 aus der Lamarckiana-Familie ent- standen waren, welche also vier Generationen von Lamarckiana- Vorfahren aufweisen konnten. Aus diesen Samen hatte ich im Ganzen 1862 Pflanzen, welche ausnahmslos rubrinervis waren. Ich folgere also 1. dass die rubrinervis eine völlig constante elemen- tare Art ist; 2. dass jedes aus einer an- deren Familie als rubri- nervis auftretende Exem- plar sofort eine völlig constante Nachkömmenschaft geben kann. IV. ©. oblonga. Meist etwa am sechsten Blatte sind die jungen Ptlänzchen dieser Art mit Sicherheit zu erkennen, also etwas später als O. lata und O. nanella, und wesentlich früher als O. rubrinervis und O. seintillans. Die Blätter sind schmal, lang gestielt, ziemlich scharf ill Fig. 44. Oenothera oblonga. Oberer Theil einer Pflanze beim Anfang der Blüthe. Die Culturfamilien. 164 vom Stiele abgesetzt, mit breiten, blassen, auf der Unterseite oft röth- lichen Nerven. In Aussaaten sind die O. oblonga nur bei sehr weitem Stande früh und gleichzeitig zu erkennen, aber wenn man in den Versuchen von Zeit zu Zeit die unzweifelhaften oblonga- Exemplare auszieht, so zeigen sich die Merkmale bald in weiteren und weiteren Individuen, ohne dass diese dazu viel Raum brauchten. In den ausgepflanzten Rosetten erhält sich die angegebene typische Blattform. Einige Exemplare treiben Stengel, andere werden zwei- jährig. In beiden Fällen bleiben die Pflanzen niedrig, erreichen kaum 1 m Höhe und sind auffallend kleiner, als die in derselben Weise cultivirten Exemplare von ©. Lamarckiana. Die einjährigen verzweigen sich wenig, die Zweige bleiben meist kurz. Die Aehren sind dicht mit Blüthen und Knospen besetzt; die Blüthen kleiner als bei O. Lamarckiana, sehr arm an Blüthenstaub und nur ganz winzige Frücht- chen mit wenigen Samen ansetzend. Die zweijährigen verzweigen sich kräftiger und sind mit Pollen reichlich versehen; sie bilden zwar kurze, aber dicke Früchte, welche eine reiche Samenernte geben. Bei fortschreitender Blüthe erkennt man die oblonga- Exemplare schon von Weitem an den dichtgedrängten, aber kleinen unreifen Früchten. In den Jahren 1895 und 1896, als ich die vierte und fünfte Generation meiner Lamarckiana-Familie eultivirte, hatte ich auf 14000 resp. S000 Exemplare 176 und 135 Individuen der O. oblonga. Somit 1,3—1,7°/,. In der sechsten Generation erhielt sich diese Zahl (29 auf 1800 = 1,6 °/,); in den beiden letzten war sie viel geringer, weil die Zählungen zu früh abgebrochen werden mussten. Im Jahre 1896 gewann ich Samen nach künstlicher Selbst- befruchtung in Pergaminbeuteln, und zwar theils auf zweijährigen Individuen der vierten, theils auf einjährigen der fünften Generation. Die ersteren waren sieben zweijährige Pflanzen, deren Samen getrennt geerntet wurden; von jeder dieser Mutterpflanzen keimten 200—300 Samen; im Ganzen wurden 1683 Exemplare beurtheilt. Sie waren sämmtlich oblonga, mit Ausnahme eines Exemplares, welches die Merkmale der albida hatte. Lamarckiana-Exemplare gab es unter ihnen nicht. Von den einjährigen Pflanzen der fünften Generation lieferten 12 Exemplare Samen, der aber sehr spärlich ausfiel und schlecht keimte. Es keimten im Ganzen 64 Exemplare; von diesen entwickelte sich eins als O. rubrinervis, die übrigen als oblonga; Lamarckiana gab es auch unter diesen nicht. Ich habe auch noch einige weitere, in anderen Familien ent- Die Mutationen in der Lamarckiana- Familie, 165 standene oblonga- Exemplare u ihre Constanz a, ind zwar mit demselben Resultat. Die O. oblonga ist somit Dort bei ihrem ersten Auf- treten aus anderen Formen völlig constant, behält dabei aber das Vermögen, selbst neue Formen zu erzeugen. Fig. 45. Oenothera nanella. Ein unverzweigtes und ein reich verzweigtes Exemplar, wenige Tage vor dem Anfang der Blüthe. Die Pflanzen waren etwa 25 und 40 em hoch, während einjährige Pflanzen von O. Lamarckiana gewöhnlich erst bei etwa 1m Höhe zu blühen anfangen. V. O. nanella (O0. Lamarckiana nanella). Zwerg-Oenothera. Es ist selbstverständlich gleichgültig, ob man eine bestimmte Form als Varietät oder als Art beschreiben will. Es kommt nur darauf an, durch genaue Aussaatversuche die Constanz der betreffenden Form 166 Die Cullurfamilien. nachzuweisen; solche Versuche aber entscheiden nicht zwischen der Bezeichnung als Art oder Varietät. Zeigt sich die Form als constant und unterscheidet sie sich nur in einem Merkmal von einer anderen Form, so wird sie von den meisten Autoren als Varietät bezeichnet, und speciell ist solches der Fall mit den Zwergformen, welche man von einer ganzen Reihe von Arten kennt und welche meistens nur die halbe Höhe oder noch weniger der betreffenden Arten erreichen. Aus diesem Grunde darf die O. nanella als Varietät aufgefasst werden, mit dem ausdrücklichen Bemerken, dass sie, in experimenteller Hinsicht, genau ebenso gut eine elementare Art ist, wie die bisher beschriebenen. ! Die Zwerge sind in meinen Culturen wohl stets am leichtesten zu erkennen gewesen, höchstens mit Ausnahme der O. lata. Sie ent- standen fast regelmässig, alljährlich, und nahezu in allen nicht allzu beschränkten Culturen. Der Stammbaum der ©. Lamarckiana-Familie weist im Ganzen auf etwa 50000 Individuen 158 nanella auf; somit etwa 0,3°/,, und zwar ohne sehr erhebliche Schwankungen in den einzelnen Jahren. Die Zwerge sind während der ganzen Dauer ihrer Entwickelung leicht und sicher zu erkennen. Bei guter Beleuchtung und freiem Stande sind sie kenntlich, sobald das zweite Blatt sich zu zeigen beginnt; das erste Blatt ist dann breit, mit breitem, fast herzförmigem Grunde gegen den kurzen Stiel abgesetzt. Im Jahre 1897 habe ich sie nach diesem Merkmal gezählt; etwaige zweifelhafte Exemplare liess ich sich dann etwas weiter entwickeln. Auf die ersten breiten kurzgestielten Blätter folgen einige rauten- förmige, sehr langgestielte; die Pflänzchen sehen aus, als ob sie zu der O. Lamarckiana zurückkehrten. Solches ist aber nicht der Fall, denn bald folgen wieder sehr breite, ganz kurzgestielte, gedrängte Blätter, welche eine schöne, wohl charakterisirte Zwergrosette bilden. Um die Pflänzchen in diesem Stadium zu zählen, wie ich es z. B. 1596 that, werden sie, nach Ausbildung des zweiten Blattes in gut gedüngte Erde und in ausreichenden Entfernungen von einander aus- gepflanzt, und dann etwa 1!/, Monate nach der Aussaat beurtheilt. Die Rosetten treiben fast stets im ersten Jahre Stengel; nur durch späte oder gedrängte Aussaat erhielt ich zweijährige Individuen. Diese sind meist reich verzweigt, die einjährigen meist arm an Seiten- 1 Jorvan, De Forigine des arbres fruitiers. 1853, hat bereits aus einander gesetzt, dass Varietäten nur eine besondere Form elementarer Arten sind. zweigen (Fig. 45), Die Internodien sind zahlreich und sehr kurz, die breiten, kurzgestielten Blätter daher sehr gedrängt, die Blattstiele spröde. Die ersten Blüthen öffnen sich nicht selten, wenn die Pflanze kaum mehr als 10 cm Höhe erreicht hat; dann folgen die Blüthen regel- mässig oder auch mit Unterbrechungen auf einander. Sie sind fast so gross wie die der ©. Lamarckiana; die blühenden Pflanzen sind also sehr zierlich. Auch die Früchte sind nicht wesentlich kleiner wie die der Mutterart. | Um die ersten Blüthen vor Insectenbesuch zu schützen, über- stülpte ich die ganze Pflanze mit einer Glocke von Pergamin, deren unterer Rand aus Metall gebildet ist und fest in den Boden einge- drückt wird. Erst wenn die Aehren hinreichend lang geworden sind, kann man sie in der gewöhnlichen Weise in Pergaminbeuteln einbinden. In dieser Weise habe ich zum ersten Male in 1893 einige Zwerge mit eigenem Pollen befruchtet, nachdem ich sie durch die vorher- sehenden (Generationen bei Insectenbestäubung und unvollständiger Isolirung nahezu constant gefunden hatte. Ich erhielt im Ganzen 440 Keimpflanzen, welche sämmtlich O. nanella waren. Im Jahre 1895 befruchtete ich in der angegebenen Weise eine Reihe von Zwergen, welche in der vierten Generation meiner La- marckiana-Familie entstanden waren, und wenigstens drei Generationen von hohen Vorfahren hatten. Ich hatte in diesem Jahre auch Samen der zweiten Generation (1885—1889) ausgesät und habe auch in dieser Oultur Zwerge mit eigenem Pollen befruchtet. Es waren im Ganzen zwanzig Exemplare; sie trugen reichlich Samen und lieferten zusammen 2463 Keimpflanzen, welche ausnahmslos O. nanella waren. Jeder der zwanzig aus O. Lamarckiana ohne Vermitte- lung entstandenen Zwerge bildete somit eine völlig con- stante Nachkommenschaft. Die Pflänzchen wurden, wie bereits mitgetheilt, als kräftige Rosetten im Alter von 1!/, Monaten oder mehr, beurtheilt. Ich habe diesen Versuch im nächsten Jahre in grösserem Maass- stabe wiederholt, als ich gelernt hatte, die Pflänzchen ohne Verpflanzen zu beurtheilen. Ich benutzte Samen der nanella-Pflanzen, welche 1896 in der fünften Generation der Lamarckiana-Familie entstanden waren, und deren Vorfahren somit durch wenigstens vier Generationen rein dieser Art angehört hatten. Ich erhielt aus den Samen von 36 Pilanzen etwas über 18000 Keimpflanzen. Diese waren ohne Ausnahme nanella ; unter ihnen gab es aber drei, welche gleichzeitig die Merkmale der O. oblonga zeigten, also eine elementare Art zweiten Grades bildeten: OÖ. nanella oblonga. 168 Die Oulturfamilien. Auch wenn die »anella in anderen Familien auftrat, zeigten sich die Samen der ersten Generation sofort constant. Und ebenso con- stant waren die Culturen der folgenden Generationen. Combinationen mit anderen Merkmalen traten auch hier auf, jedoch sehr selten. Mehrfach hatte ich Pflanzen von O. lata nanella und von O. nanella elliptica, bisweilen bunte oder becherbildende O. nanella u. Ss. W. VI. O.lata. Diese Art ist rein weiblich; sie bildet niemals auch die geringste Spur von Blüthenstaub. Mit dem Pollen der ©. La- marckiana und deren übrigen Nachkömmlingen ist sie aber so gut wie völlig fruchtbar und liefert dann eine ziemlich stark wechselnde, um 15—20°/, schwankende Anzahl von lata-Exemplaren. Ob sie völlig constant sein würde, wenn sie ohne andere Hülfe Samen bilden könnte? Es liest bis jetzt in meinen Versuchen kein Grund vor, dies zu bezweifeln, aber: einstweilen lässt es sich nicht beweisen. Bei der Befruchtung mit ©. Lamarckiana und den von dieser abgeleiteten Arten verhält sich O. lata wie die constanten Arten und nicht wie ©. scintillans.* Dieses spricht meines Erachtens mit aus- reichender Wahrscheinlichkeit dafür, dass auch sie constant sei. Die Ursache ihrer Sterilität ist von Jurıus PoHtL untersucht worden.” Die Pollensäcke fühlen sich in der geöffneten Blüthe trocken an; sie sind scheinbar leer, führen aber einen spärlichen Pollen, der unter dem Mikroskop fast ausschliesslich aus tauben Körnern besteht, welche nicht nur protoplasma-arm, sondern verkrüppelt und verküm- mert sind. Die Entwickelung der Antheren ist anfangs normal, bis zur Tetradenbildung. Um diese Zeit verlängern sich die Tapeten- zellen; sie wachsen in die Höhlung hinein, statt zu verschleimen, und vermehren sich sogar durch Theilung. Stellenweise verdrängen sie die Pollenkörner und füllen das ganze Lumen aus. Erst viel später verschwinden sie, dann liegen die tauben Pollenkörner in ihrem Schleime. Ich habe mir viele Mühe gegeben, die spärlichen Pollenmassen auf die Narben zu bringen, um womöglich einzelne Samen zu erhalten. Diese Versuche sind aber stets ohne Erfolg geblieben. War der Insectenbesuch ausgeschlossen, so setzten die Pflanzen gar keinen Samen an. ı Vergl. Band II. ' ®? Jurıus Ponz, Ueber Vartationsweite der Oenothera Lamarckiana. Oesterr. bot. Zeitschrift. 1895. Nr. 5—6. ae Die Mutationen in der Lamarckiana- Familie. 169 Es ist diese reine Weiblichkeit auch deshalb wichtig, weil bei dem alljährlichen, sehr regelmässigen Auftreten der O. lata in der Lamarckiana-Familie sowie in anderen Familien jeder Zweifel an die B b 4A a eG (0) Fig. 46. Oenothera lata. Gipfel eines Stengels mit Blüthenknospen in den Achseln der sehr breiten Bracteen; «@, 5, ce einzelne Knospen in verschiedenen Graden der Ausbildung; A, B, € Knospen von Oenotkera Lamarckiana in den entsprechenden Entwickelungsphasen. Die Zata-Knospen zeigen sich stets bedeutend dieker als die von O. Lamarckiana. Reinheit des Stammbaumes durch die Unmöglichkeit zufälliger Kreu- zungen von vornherein ausgeschlossen ist. Die O. lata ist während ihres ganzen Lebens sehr leicht von allen verwandten Arten zu unterscheiden. Bereits das zweite oder dritte Blatt zeichnet sie aus: diese Blätter sind breit, mit breiter 170 Die Oulturfamilien. Basis und langgestielt. Namentlich aber ist die Spitze breit und rund, ein Merkmal der O. lata, welches während der ganzen weiteren Entwickelung mehr oder weniger scharf ausgebildet ist. Die Pflanzen bleiben stets niedrig, wenn auch die Rosetten der Wurzelblätter ganz gross und kräftig, bisweilen kräftiger wie die der O. Zamarckiana waren. Die Stengel sind schlaff, ihre Spitzen hängen seitlich über, auch in den stärksten Exemplaren. Sie sind dicht und breit be- blättert; die Blätter oben abgerundet, sehr buckelig. Die jungen Triebspitzen bilden gedrängste Rosetten, auch die der blühenden In- florescenzen. Alles ist bei diesen Pflanzen dick und breit, derart, dass sie im Versuchsgarten gewöhnlich die Dickköpfe genannt werden. Auffallend dick sind namentlich die Blüthenknospen kurz vor dem Aufblühen, wie auch die Zahlen Porr’s beweisen. Die Blumenblätter entfalten sich nicht vollständig, sondern bleiben mehr oder weniger runzelig. Die Narben sind ganz eigenthümlich geformt. Ihre Zahl wechselt wie bei der ©. Lamarckiana von der Norm 4 bis auf 8 und mehr, eine halbe GALToN-Curve bildend, wie solches eingehend von VERSCHAFFELT für O. Lamarckiana studirt wurde. Und wie es bei dieser oft vorkommt, dass zwei oder drei Narben seitlich an einander wachsen, so auch bei O.lata. Die ungleiche Entwickelung der Narben, welche bei der Mutter- art allerdings nicht fehlt, ist hier aber sehr stark ausgeprägt; dadurch entstehen, in Verbindung mit der genannten Verwachsung, eigenthüm- liche Missbildungen.! Diese beeinträchtigen die Befruchtung aber nicht. Die Früchte sind kurz und dick, und enthalten verhältnissmässig wenige, aber meist grosse Samen. Die O. lata trat in meinen Culturen nahezu regelmässig, aber in sehr schwankenden Zahlen auf. Und da sie auch an ganz jungen Pflänzchen und unter ungünstigen Bedingungen, z.B. bei zu dichtem Stande, leicht und sicher zu erkennen ist, sind diese Schwankungen wohl unabhängig von den meisten Fehlern, welche den Zahlenwechsel bei den anderen Arten beeinflussten. Bisweilen nur 0,1 °/, betragend oder anscheinend ganz fehlend, erreichte die Zahl der Zata-Exemplare in der fünften Lamarckiana- Generation etwa 1,8°/,, also ungefähr ebenso viel wie die für O. oblonga gefundene. VII O0. seintillans. Abgesehen von den erst später zu be- schreibenden. neuen elementaren Arten wie O. spathulata, O. subovata, O. leptocarpa u. Ss. w., und mit Ausnahme von O. gigas, welche bis jetzt nur dreimal auftrat, ist ©. scintillans bei Weitem die seltenste 1 Figuren bei Pont, 1. e. Taf. X. Fig. 27. Die Mutationen in der Lamarekiana-Familie. ll Form in meinen Culturen. In der ©. Lamarckiana-Familie entstand sie nur achtmal, in anderen Familien noch weit seltener. Sie ist bei künstlicher Befruchtung nicht constant, wie die übrigen Arten, und verhält sich in ganz eigenthümlicher Weise. Es kommen nämlich aus ihren Samen stets drei Formen in bedeutender procen- tischer Anzahl hervor: die O. seintillans, die ©. oblonga (Fig. 44 auf S. 163) und die O. Lamarckiana. Es ist dieses etwas ganz anderes als die Thatsache, dass die anderen elementaren Arten bisweilen, vielleicht einmal auf tau- send Individuen, nochmals mutiren. Dabei entstehen häufig elementare Arten zweiter Ordnung, d. h. solche, welche die Merkmale zweier Arten in sich vereinigen. Diese Erscheinung tritt auch bei O. scintillans auf; so beobachtete ich bisweilen O. scintillans nanella und O. scintillans elliptica. Dann aber stets nur ganz vereinzelt auf Tausenden von normalen O. scintillans. Was den Mangel an Constanz noch merkwürdiger macht, ist der Umstand, dass die Erbzahlen, d. h. die procentische Zu- sammensetzung der aus den Samen ent- standenen Öulturen, nicht etwa anfänglich niedere sind und sich durch Selection steigern lassen. Sie scheinen an feste Regeln gebun- den, und jedesmal, wo in irgend einer Fa- milie ein scintillans-Exemplar aus anderen Vorfahren auftritt, findet man, dass es den selben Regeln gehorcht, wie die scintillans- Exemplare anderer Abstammung. Ich kenne bis jetzt hauptsächlich zwei Gruppen von O. scintillans, eine mit etwa 35—40°/, Erben und eine mit etwa 70°), _ ws : 2 Fig. 47. Oenothera seintillans. oder mehr Erben. Beide Gruppen scheinen, Gipfel einer einjährigen Pflanze. bei wiederholter Aussaat, d. h. in den fol- genden Generationen, diese Zahlen ungefähr beizubehalten. Zum ersten Male beobachtete ich die O. scintillans im Jahre 1888 in einer Öultur aus Samen einer O. lata-Familie ($ 7). Die Pflanze war zweijährig: ihre Samen säete ich erst 1894 und befruchtete dann 172 Die Culturfamilien. einige in 1895, also zweijährig blühende seintillans-Individuen mit ihrem eigenen Pollen. Es waren 14 Pflanzen, welche aber nur eine geringe Ernte gaben. Aus ihren Samen hatte ich 1896 nahezu 400 junge Pflanzen, und zwar: 68 %/, ©. Lamarckiana, 15°), ©. seintillans, 15 °/, ©. oblonga, 20 Oslato, 1 Exemplar O. nanella. In einer anderen O. lata-Familie entstand 1898 ein Exemplar von O. seintillans, welches einjährig war und in Pergamin mit dem eigenen Pollen befruchtet wurde. SeineSamen gaben 148 junge Pflanzen, nämlich: 55 %/, 9. Lamarckiana, 37°), O. seintillans, T°/, 0. oblonga, 1°), 0. lata. In der O0. Lamarckiana-Familie habe ich im Ganzen drei unver- mittelt aufgetretene Exemplare auf ihre Erbziffer geprüft. Erstens eine Pflanze von 1895, welche zweijährig war und also erst 1896 blühte; sie hatte zahlreiche Nebenstengel, von denen fast sämmtliche Blüthen künstlich befruchtet wurden. Ihre Samen ergaben bei wieder- holten Probeentnahmen: 52—59°/, O. Lamarckiana, 34—836 °/, ©. seintillans, 3—10°/, 0. oblonga, O0 lata: Von zahlreichen Pflanzen von O. scintillans dieser Cultur gewann ich wiederum nach Selbstbefruchtung Samen; ihre Erbziffern schwank- ten selbstverständlich stärker, doch gaben sie im Wesentlichen die- selben Verhältnisse wieder. Von den sechs Pflanzen der fünften Generation der. O. Lamarckiana- Familie, welche der Stammbaum auf Seite 157 für das Jahr 1896 an- giebt, gelang es mir nur zwei zu überwintern und in 1897 zur Blüthe zu bringen. Sie wurden in Pergamindüten mit ihrem eigenen Pollen befruchtet. Die Samen der einen Pflanze gaben Zahlen, wie die bisher mitgetheilten: O. Lamarckiana, O. scintillans, 8%, ©. oblonga, O. lata, O. nanella. Die Mutationen in der Lamarckiana- Familie. 173 Die zweite Pflanze gab aber ein viel günstigeres Resultat, denn es kamen auf 200 Keimpflanzen: 8°/, ©. Lamarckiana, 69 %/, ©. seintilans, 21°/, O0. oblonga, 2°), O. lata, O. nanella u. A. Ich habe dann zahlreiche Exemplare von O. scintillans auf diesem Beete mit eigenem Pollen bestäubt. Es waren etwas über 25 Pflanzen. Für jede von ihnen säete ich den Samen getrennt und fand nun von 66—93 °/, seintillans, im Mittel 84 °/,. Eine Pflanze schien sogar, bei geringer Ernte, eine reine Nachkommenschaft zu haben. In den Jahren 13899—1900 habe ich nun die Cultur in derselben Weise fortgesetzt, um zu erfahren, ob etwa durch Auswahl die Art sich ebenso rein wird machen lassen, als die übrigen Arten bereits bei ihrem ersten Auftreten waren. Vielleicht tritt später in der Familie der O. Lamarckiana oder in den anderen einmal auch ein Individuum mit reiner Nachkommen- schaft auf. Es ist somit die O. seintillans viermal beim Auftreten aus einer anderen Familie auf ihre (anfängliche) Constanz geprüft. Dreimal war diese 34—39°/,, und erhielt sich dann in der zweiten Generation, soweit untersucht, auf derselben Höhe. Das vierte Mal war sie 69°/,, und stieg in der zweiten Generation auf im Mittel 84 °/,. Es weisen diese Zahlen meines Erachtens darauf hin, dass O. seintillans an sich wohl eine constante Art ist, die aber durch irgend welche Umstände, sofort bei ihrem ersten Auftreten, mehr oder weniger mit anderen, namentlich mit O. oblonga, vermischt zu werden pflegt.! Es erübrigt noch, eine kurze Beschreibung der Artmerkmale bei- zufügen. Die scintillans-Pflanzen werden in der Jugend meist erst sehr spät kenntlich. Gewöhnlich erst, wenn die Rosetten vielblätterig, die Blätter über 10 cm lang sind, können sie gezählt werden. Die Blätter sind klein, schmal, langgestielt, von glänzender Oberfläche (daher der Name), dunkelgrün und ganz oder doch fast ganz ohne Buckeln, mit weissen, oft breiten Nerven. Am Grunde aufstehend und an der Spitze abwärts gebogen. Die Stengel bleiben stets klein, sie sind schmal und kurzbeblättert, fangen früh an zu blühen und bilden dann lange Aehren. Die einjährigen Pflanzen sind meist schwach * Hierauf deutet vielleicht auch die auf der vorigen Seite mitgetheilte ab- weichende Zahl 15 °/, einer zweiten Generation hin, für welche die Erbzahl der ersten Generation leider unbekannt geblieben ist. 174 Die COulturfamilien. verästelt, die zweijährigen reicher. Die Blüthen sind klein, ebenso gross oder noch kleiner als die der O. biennis, aber mit über den Antheren hervorragenden Narben, wie die ©. Lamarckiana. Früchte klein, Samenernte auf den einjährigen Individuen meist sehr gering; viele Exemplare fangen erst zu spät im Sommer zu blühen an, um noch Samen zu tragen. Die dunkelgrüne Farbe und glänzende Oberfläche findet sich auf den Stengelblättern wieder und giebt der Pflanze ein ganz eigen- thümliches, weit von der ©. Lamarckiana verschiedenes Aussehen. S$S 4. Die Gesetze des Mutirens. Jetzt fasse ich die aus meinen Culturversuchen sich ergebenden Folgerungen für die beschriebenen elementaren Arten zusammen. Sie verhalten sich im Wesentlichen in derselben Weise. Solches war auch der Fall im Nebenzweige dieser Familie und in den beiden anderen Hauptfamilien, deren Beschreibung in den nächsten Para- graphen folgen wird, ebenso in verschiedenen Seitenzweigen und Neben- culturen. Ueberhaupt walten auf dem Gebiete der Mutabilität ebenso feste Gesetze als auf dem der Variabilität. Die folgenden Sätze gelten zunächst für die aus O. Lamarckiana entstandenen Formen; man wird aber leicht sehen, dass sehr viele vereinzelte, namentlich gärtnerische Beobachtungen in anderen Ge- schlechtern und Familien sich gut an sie anschliessen. I. Neue elementare Arten entstehen plötzlich, ohne Uebergänge. Einer der wesentlichsten Punkte in meinen Culturen ist der Umstand, dass die Vorfahren der neu auftretenden Formen genau und meist durch eine Reihe von Generationen bekannt sind, und dass man weiss, dass sie entweder als Gruppe isolirt (1887 — 1891) oder bei künstlicher Bestäubung in Pergamindüten blühten (1894 bis 1899). Diese Bedingung fehlt den gärtnerischen Angaben durchweg. Es ist also sicher, dass jede neue Form aus Samen einer ganz nor- malen ©. Lamarckiana-Pflanze entstand. Und stets zeigte sie die neue Form in allen ihren Einzelheiten ausgebildet; hatte man sie als Keim- pflanze erkannt, so liessen sich ihre späteren Eigenschaften stets in allen Merkmalen vorhersagen. Und die Erfahrung hat stets die Er- wartung erfüllt. In den Culturen selbst fand diese Eigenschaft regelmässig Ver- wendung, z. B. so oft es sich darum handelte, Individuen derselben Art auf denselben Beeten oder in denselben Reihen zu pflanzen. Es kommt selbstverständlich bisweilen vor, dass man bei der Die Geselxe des Mutirens. 175 Beurtheilung von einigen Hunderten von Individuen in Zweifel bleibt über einige wenige. Namentlich über solche, welche zwischen anderen standen und für ihre Entwickelung keinen genügenden Raum fanden. Soviel wie möglich habe ich dann solche Exemplare noch einige Zeit, oft den ganzen Sommer, weiter cultivirt. Meist zeigten sie dann bald einen reinen Typus, bisweilen waren es Combinationsformen, wie O. lata nanella, O. scintillans elliptica u. S. w., bisweilen neue, noch nicht beobachtete Typen. Als Zwischenformen stellten sie sich aber nicht heraus. Uebergänge zwischen den verschiedenen elementaren Arten gab es nicht. Allerdings habe ich bisweilen geglaubt, solche in ganz vereinzelten Exemplaren zu finden. So beobachtete ich einmal eine Pflanze, welche der O. lata in vielen Hinsichten glich, aber reichlich Pollen producirte. Ich befruchtete die Pflanze künstlich und hatte aus ihren Samen 270 Exemplare, welche den T'ypus der Mutter wiederholten und nur 1°/, echter O. lata enthielten, also nicht mehr, wie die O. La- marckiana-Familie selbst hervorbringen kann. Ich bezeichne diese Form als O. semilata (8 17). Aehnlieh verhielt es sich in anderen Fällen. Aus den Samen eines in neuer Form aufgetretenen Individuums geht diese Form stets mit genau denselben Eigenschaften hervor, und so erhält sie sich auch in den weiteren Generationen. II. Neue elementare Arten sind meist völlig constant, vom ersten Augenblicke ihrer Entstehung an. Die Samen, nach künstlicher Selbstbefruchtung auf einem Exemplar einer neuen Art gewonnen, welches unmittelbar aus einer anderen Art entstanden war, bringen die neue Art wieder hervor, und zwar sämmtlich ohne Rückschlag auf die Mutterform. Auch in den weiteren Generationen dieser neuen Arten konnte ein Rückschlag bis jetzt nicht festgestellt werden. Es gilt dieses sowohl für die nur dreimal aufgetretene O. gigas, als für die wiederholt und häufig auftretenden Formen O. albida, 0. oblonga, ©. rubrinervis und O. nanella. Für O. lata bleibt es unentschieden, weil diese Pflanzen aus- schliesslich weiblich sind. Für O. laevifolia und O. brevistylis, welche beide Arten auf dem ursprünglichen Standort neben der O. Lamarckiana gefunden waren, aus dieser in meinen Öulturen aber nicht wieder entstanden sind, gilt dasselbe. Bei Selbstbefruchtung sind auch diese völlig constant, ohne Rückschlag. Die O. brevistylis verhält sich so trotz ihrer kleinen, nur bisweilen einige vereinzelte Samen bildenden Früchte, welche sie anfangs für ganz steril halten liessen. 176 Die Culturfamilien. Dre Aaıne bildet O. scintillans. Sie bringt bei Selbstbefruch- tung aus ihren Samen nur etwa ein Drittel scintillans-Pflanzen, und solches auf drei verschiedenen, von einander unabhängig entstandenen Individuen. Ein viertes Exemplar brachte aber 69°/, Erben, und diese wiederum von 60—90°/, Erben, so dass es vielleicht gelingen wird, auch diese Art constant zu erhalten. Die Inconstanz der O. scintillans ist vermuthlich nur eine schein- bare Ausnahme, und vielleicht zu einem wesentlichen Theil von der Beimischung einer so erheblichen Zahl von O. oblonga bedingt.! Diese erreichte 7—10°/,, bisweilen selbst 21 °/, in den Aussaaten. Die Constanz der neuen Arten ist eine sehr wichtige Eigenschaft. Sie hat es der O. laevifolia und der O. brevistylis ermöglicht, sich seit ihrer ersten Entstehung auf dem wilden Standort neben der so un- verhältnissmässig viel zahlreicheren O. Lamarckiana zu behaupten. Und zwar rein, in allen ihren Eigenschaften, abgesehen natürlich von etwaigen Kreuzungen. Der Kampf um’s Dasein waltet auf jenem Felde sehr stark. Jede blühende Pilanze kann auf dem Hauptstamm und den Seitenzweigen leicht über 100 Früchte tragen; jede Frucht bildet etwa 200—300 Samen aus. Das ganze Feld umfasst höchstens einige. Tausend Exemplare, also nicht viel mehr als aus den Samen von einem oder zwei Individuen hervorgehen können. Alles Uebrige keimt nicht oder stirbt jung. Und dennoch haben die ©. laeıifolia und O. brevistylis während mehr als zwölf Jahren ihren Platz behalten. III. Die meisten neu auftretenden Typen entsprechen in ihren Eigenschaften genau den elementaren Arten, und nicht den eigentlichen Varietäten. Elementare Arten unterscheiden sich von ihren nächsten Ver- wandten mehr oder weniger in allen ihren Merkmalen. Es sind oft geringe Unterschiede, welche nur dem geübten Auge auffallen, und welche, wie ja die Systematiker so oft hervorheben, an getrockneten Exemplaren oft nicht mehr sicher zu erkennen sind. Letzteres fällt bei den von. mir beschriebenen Formen giücklicherweise weg; sie unterscheiden sich als Herbarexemplare von einander und von der O. Lamarckiana weit besser und sicherer, als z. B. diese von der O.biennis. Eine sehr sorgfältige, überall in’s Einzelne genende Beschreibung aller Organe, in jedem Entwickelungsstadium, führt erst zu einer ausreichenden Kenntniss; einmal genau studirt, sind die Pilanzen fast in jedem Alter leicht und sicher zu erkennen. ! Vergl. hierüber den zweiten Band dieses Werkes. Die Gesetze des Mutirens. E77 Varietäten unterscheiden sich von ihrer Mutterart durch eine einzige Eigenschaft, oder durch zwei oder doch nur wenige solcher, wenn auch Färbung, Behaarung u. s. w. sich auf den meisten Organen in gleicher Weise wiederholen. Uebhrigens ist, wie bekannt, die Unter- scheidung zwischen Varietäten und Arten eine völlig willkürliche; experimentell untersucht zeigen beide dieselbe Constanz und gegen- seitige Unabhängigkeit. Es ist sehr merkwürdig, dass die in meinen Versuchen aufge- tretenen Formen in dieser Beziehung durchweg Arten und nicht Varietäten sind. Ich habe stets gehofft, eine weissblühende Form oder irgend eine andere auffällige Varietät zu bekommen, aber ver- geblich. Nur die O. nanella kann, dem gärtnerischen Brauche ent- sprechend, als Varietät betrachtet werden. Dieselbe Varietät kehrt oft in einer grossen Reihe von Arten, Gattungen und Familien wieder, z. B. Var.: rosea, alba, laevis, inermis, laciniata, prolifera, bracteata, pendula. Ebenso die Monstrositäten: Var.: plena, fasciata, iorsa, adnata, fissa u.s.w. Dasselbe gilt von den Zwergen, der Var.: nana. Aber mit Ausnahme der O. nanella finde ich für meine neuen Arten solche Analoga in anderen Gattungen und Familien nicht. Auch aus diesem Grunde sind sie nicht als Varietäten zu bezeichnen. Man behauptet oft, dass Varietäten solche Formen sind, welche nachweislich aus anderen entstanden seien. Dieses ist aber unrichtig. Für einzelne gärtnerische Varietäten mag solches nachgewiesen sein, für weitaus die meisten und namentlich für die wilden Varietäten fehlt dieser Nachweis durchaus. Es handelt sich ja um eine historische Thatsache, und wenn der betreffende Vorgang, wie gewöhnlich, nicht von Menschenaugen gesehen wurde, so beruht der sogenannte Nach- weis meist einfach auf Deduction oder auf Analogie. Und wo es sich nicht um directe Beobachtungen handelt, ist die Abstammung von Varietäten in keiner einzigen Beziehung sicherer wie die der collectiven Arten, der Gattungen u. s. w. Ich bin völlig überzeugt, dass viele Leser meine neuen Arten, gerade weil ich ihre Entstehung beobachten konnte, Varie- täten nennen werden. Sie verfallen dann aber in einen Wortstreit, der für die Wissenschaft durchaus unwichtig ist. IV. Die elementaren Arten treten meist in einer be- deutenden Anzahl von Individuen gleichzeitig oder doch in derselben Periode auf. Aus paläontologischen Ergebnissen hat Scorr abgeleitet, dass die artenbildende Variabilität, welche auch er als Mutabilität bezeichnet, in grossen Gruppen von DE Vries, Mutation. I. 12 178 Die Qulturfamilien. Individuen auftreten müsse, und dass die Ursachen dieser Trans- formation vermuthlich durch längere Zeiten in derselben Richtung wirksam gewesen sein werden. Die Paläontologie erforscht die Descendenz der Arten in ihren grossen Zügen; die experimentelle Physiologie arbeitet mit den einzelnen Individuen und deren Nachkommenschaft, von der doch wohl nie auch nur der hunderttausendste Theil fossil erhalten bleiben wird. Es ist somit eine in’s Einzelne gehende Uebereinstimmung zwischen den Er- sebnissen dieser beiden Forschungsrichtungen wohl nicht zu erwarten. Um so mehr glaube ich eine solche Uebereinstimmung, wo sie sich finden lässt, hervorheben zu sollen. Von den in meinem Versuchsgarten entstandenen Arten sahen wir nur O.gigas einmal auftreten. Die übrigen erschienen jährlich oder fast jährlich, in wechselnder, aber oft erheblicher Menge. Es waren im Ganzen über S00 Individuen der sieben beschriebenen Arten, welche unabhängig von einander aus der Lamarckiana-Familie entstanden sind. Und da der ganze Umfang dieser zehnjährigen Cultur etwa 50 000 Pflanzen erreichte, so kann man die fragliche Zahl auf 1—2°, stellen. Mit anderen Worten: Die neuen elementaren Arten traten in einem Verhältnisse von 1—2°/,, bisweilen etwas mehr, oft aber auch weniger, aus ihrer Mutterart hervor. Und dieses Verhältniss erhielt sich, soweit die sich ım Laufe der Jahre abändernde Methode der Untersuchung es zu beurtheilen gestattet, wohl über die ganze Dauer meiner Versuche nahezu constant. Die angegebene Zahl — 1—2°/, — ist eher zu klein als’ zu gross. Denn nur in den Jahren 1895 und 1896 habe ich mich be- müht, sie so genau wie möglich zu bestimmen. In den anderen Jahren war die Anzahl der Individuen durch andere Rücksichten beschränkt, was namentlich das Verhältniss der erst später erkenntlichen Typen (wie O. oblonga, O. rubrinervis und O. scintillans) beeinträchtigen muss. Für die beiden genannten Jahre weist die Tabelle auf S. 157 22000 Individuen des O. Lamarckiana-Typus und 711 für die anderen Formen aus. Also etwas über 3°|,. Auf dem wilden Standorte standen die O. laevifolia und O. brevistylis in verhältnissmässig geringerer Zahl; dennoch erhielten sie sich im Laufe der Jahre. Für eine im Kampfe um’s Dasein siegreichere Form ı W.B. Scott, On Variations and mutations. Amerie. Journ. Sei. 3. Serie. Vol. 48. Nr. 287. Nov. 1894. Vergl. S. 373: Forces both external and internal similarly effeet large numbers of individuals. Die Gesetze des Mutirens. 179 dürfte ein alljährliches Entstehen in 1—3°/, der Individuen somit völlig ausreichen, um ihr ihren gebührenden Platz zu sichern.! V. Die neuen Eigenschaften zeigen zu derindividuellen Variabilität keine auffällige Beziehung. Die Oenothera La- marckiana varürt in nahezu allen ihren Eigenschaften bedeutend, wohl jedenfalls nicht weniger als andere Pflanzen. Die neuen Arten fallen aber ausserhalb des Rahmens dieser Variabilität; solches geht am einfachsten daraus hervor, dass sie nicht durch Uebergänge odeı Zwischenformen mit ihr verbunden sind. Durch wiederholte Selection in bestimmten Richtungen kann man selbstverständlich Rassen von O. Lamarckiana ebenso gut machen wie von anderen Arten. Solche habe ich auch bisweilen bewirkt, wie z. B. eine langfrüchtige und eine kurzfrüchtige Rasse. Es bleiben aber selectionsbedürftige, vom Typus nicht wesentlich oder doch nur in einem Punkte abweichende Rassen; sie zeigen auch nicht die ent- fernteste Aehnlichkeit mit elementaren Arten. Diese varııren selbst fluctuirend, oft sogar stärker als die Mutter- art. Sie zeigen sich in nahezu allen ihren Organen und Eigenschaften individuell varıabel, erreichen dabei die Mutterart aber nicht, bilden sogar keine anscheinenden Zwischenformen. VI. Die Mutationen bei der Bildung neuer elementarer Arten geschehen richtungslos. Die Abänderungen umfassen alle Organe und gehen überall in fast jeder Richtung. Die Pflanzen werden stärker (gigas) oder schwächer (albida), mit breiteren und schmäleren Blättern. Die Blumen werden grösser (gigas) und dunkler gelb (rubrinervis), oder kleiner (oblonga, seintillans) und blasser (albida). Die Früchte werden länger (rubrinervis) oder kürzer (gigas, albida, lata). Die Oberhaut wird unebener (albida) oder glätter (laevifolia),; die Buckeln auf den Blättern nehmen zu (lata) oder ab (scintillans). Die Production von Pollen nimmt zu (rubrinervis) oder ab (scintillans); die Samen werden grösser (gigas) oder kleiner (scintillans), reichlicher (rubrinervis) oder spärlicher (late). Die Pflanze wird weib- lich (lata) oder fast männlich (brevistylis); manche hier noch nicht beschriebenen Formen waren völlig steril, einige nahezu ohne Blüthen. O. gigas, O. seintillans, -O. oblonga neigen mehr zur Zweijähriskeit als O. Lamarckiana, O. lata bedeutend weniger und O. nanella bildet bei gewöhnlicher Cultur fast nie zweijährige Individuen. Es liesse sich diese Liste leicht noch viel weiter ausdehnen, doch möge sie augenblicklich genügen. ! Vergl. Densorur’s Gesetz in dem vorhergehenden Abschnitt $ 28. 12* 150 Die Culturfamilien. Von einem anderen Gesichtspunkte aus sind die neuen Formen theils vortheilhaft, theils gleichgültig, theils nachtheilig. Ohne Aussaatversuche im Freien lässt sich hierüber selbstverständlich nicht viel aussagen, und die bisherigen Beobachtungen auf dem wilden Fundorte bringen auch keine Entscheidung. Jedoch ist offenbar die weibliche O. Zata ım Nachtheil, und ist O. albida mit ihren sehr schmalen Blättern wenigstens in der Jugend viel zu schwach. ©. rubrinervis sieht ganz robust aus, aber ist durchaus spröde, leicht zerbrechlich. ©. oblonga trägt auf einjährigen Individuen fast keinen Samen, während O. nanella sehr klein -ist und spröde Blattstiele hat. Alle diese Formen scheinen mir der O. Lamarckiana gegenüber im Nachtheil zu sein. Dagegen scheint die O. laevifolia ihr wenigstens ebenbürtig, und die O. gigas ihr in mancher Hinsicht überlegen zu sein. Alle ihre Organe sind breiter, kräftiger, anscheinend ihren Functionen besser angepasst; der ganze Wuchs mehr gedrungen. Aussaatversuche im Freien mit dieser Art dürften wohl am ehesten ein günstiges Resultat erwarten lassen. Die bis jetzt nicht beschriebenen Formen (0. spathulata, subovata u. s. w.) sind meist durch ihre bedeutende Sterilität ungeeignet für den Kampf um’s Dasein. Die O. sublinearis ist durch die fast gras- artigen Blätter in ihrer Jugend viel zu schwach, u. s. w. Es ist zu wiederholten Malen und von Autoren verschiedener Richtung hervorgehoben, dass die artenbildende Variabilität völlig regellos sein muss. Die Annahme einer bestimmten Variirungs- tendenz, welche das Auftreten zweckmässiger Abänderungen bedingen oder doch nur begünstigen sollte, liegt ausserhalb des Rahmens unserer jetzigen Naturwissenschaft. Darin liegt ja der grosse Vorzug der Darwiın’schen Selectionslehre, dass sie die ganze Entwickelung des Thier- und Pflanzenreiches ohne die Hülfe aussernatürlicher Voraus- setzungen zu erklären strebt. Nach ihrer Vorstellung findet die arten- bildende Variabilität ohne Rücksicht auf die Befähigung der neuen Arten statt, sich im Leben zu behaupten. Sie liefert einfach dem Kampf um’s Dasein das Material für die natürliche Auslese. Und sei es, dass diese Auslese zwischen Individuen stattfindet, wie DARwın und WarLvAack es sich dachten, sei es, dass sie zwischen der Existenz ganzer Arten entscheidet, wie es die Mutationstheorie verlanst, ın beiden Fällen ist es zu guter letzt einfach die Existenzfähigkeit unter den gegebenen äusseren Umständen, welche über das Erhaltenbleiben einer neuen Form entscheidet. Man kann noch einen Schritt weiter gehen und folgern, .dass viel zahlreichere nutzlose und schädliche Abweichungen entstehen 181 Die Gesetze des Mutirens. müssen als nützliche. Es ergiebt sich dieser Schluss ohne weiteres aus den sehr complicirten Bedingungen, denen eine Pflanze genügen muss, um ihren sämmtlichen Nachbarn überlegen zu sein. Die Mutabilität der Oenothera Lamarckiana genügt nun allen diesen theoretischen Forderungen in sehr befriedigender Weise. Nahezu alle Organe und alle Eigenschaften mutiren, und fast in jeder denk- baren Richtung und Oombination. Viele Öombinationen werden selbst- verständlich das Leben des Keimes nicht einmal gestatten, und sind somit von der Beobachtung ausgeschlossen. Andere beeinträchtigen die Entwickelung der jungen Keimpflanzen, und ganze Reihen von Versuchen mit anscheinend mutirten Pflänzchen sind mir trotz aller Sorgfalt, wegen des zu frühen Todes, misslungen. Viele Combinationen setzen die Fertilität herab und beschränken dadurch nur zu oft die Beobachtung auf die einzelnen mutirten Individuen selbst. Sehr viele andere Oombinationen gehen vermuthlich in meinen Öulturen verloren, da sie erst zu spät sichtbar werden können, wenn wegen Mangel an Raum weitaus die grösste Zahl der Individuen bereits ausgejätet sind.! Solche Ueberlegungen und Beobachtungen erklären meines Erachtens die geringe Zahl neuer Arten, von denen es mir gelang, einige Gene- rationen zu cultiviren. Und es bleibt vorläufig fraglich, wie viele von diesen für den Kampf um’s Dasein geeignet sind. Ich folgere also: Die Mutationen sind richtungslos; ein Theil der neuen Typen geht ohne Nachkommenschaft zu Grunde. Zwischen den übrigen, den neu entstandenen und sofort völlig ausgebildeten Arten muss später die natür- liche Auslese entscheiden, wenn nicht die Oultur dazwischen tritt. VII. Die Mutabilität tritt periodisch auf. Diesen Satz leite ich vorläufig mit aller Reserve aus meinen Versuchen ab. Und zwar aus dem Umstande, dass von allen untersuchten Arten bis jetzt nur eine sich in dieser Weise mutabel gezeigt hat. Weitere Unter- suchungen sind aber zur Begründung dieses Satzes durchaus erforder- lich; solche habe ich aber erst vor kurzem angefangen. Die experimentelle Entscheidung über die Existenz mutabler und immutabler Perioden behalte ich mir somit ausdrücklich für später vor; vorläufig stelle ich den Satz nur auf, weil er im Einklange mit der Theorie die einfachste Erklärung giebt für die sehr auffällige Thatsache, dass ich Mutationen bis jetzt fast nur bei einer einzigen Art, dort aber zahlreich, vorfand. ! So sind z. B. O. brevistylis und O. leptocarpa erst kurze Zeit vor der Blüthe zu erkennen. 182 Die mitgetheilten Sätze gelten zunächst für den beobachteten Fall, die Mutabilität der Oenothera Lamarckiana. Da aber andere experi- mentelle Untersuchungen zur Zeit nicht veröffentlicht sind, muss es einstweilen gestattet sein, sie als die Norm für die Entstehung von Arten überhaupt zu betrachten. Die COulturfamilien. $ 5. Ein Nebenzweig der Lamarckiana-Familie. Neben dem bisher beschriebenen Stammbaume habe ich im Jahre 1895 noch eine weitere Cultur gemacht, welche als ein Zweig dieses Stammbaumes betrachtet werden kann. Zweck war dabei, die Aus- saat auf den grösstmöglichen Umfang auszudehnen und dadurch die Aussicht auf Mutanten möglichst zu erhöhen. Ich benutzte die 1859 geernteten Samen, von denen ein kleiner Theil bereits 1890 für die S. 157 dargestellte Cultur verwandt worden war. Die verfüg- bare Quantität war etwa 230 ccm und wurde gänzlich ausgesäet. Im November des Jahres 1888 hatte ich von den während des Sommers gesparten, besonders kräftigen Individuen die zwölf besten ausgesucht und auf einem entfernteren Beete bei sehr günstiger, sonniger und von sonstigen Oenothera-Culturen völlig isolirter Lage gepflanzt. Im Frühjahr 1889 beschränkte ich die Zahl auf sechs, welche zu sehr schönen, reich verzweigten Pflanzen heranwuchsen. Sie blühten theils auf dem Hauptstamm und dessen Zweigen, theils auf den zahlreichen, aus den Achseln der Rosettenblätter aufsteigen- den Aesten. Ueberflüssige Seitenzweige wurden aber im Juli weg- geschnitten. Sie lieferten pro Pflanze etwa 25—50 ccm Samen, welche getrennt geerntet wurden. Die Befruchtung war aber theilweise eine gegenseitige gewesen wegen der freien Bestäubung durch Insekten. Die Samen säete ich auf einer Fläche von etwa 12 qm möglichst breit und gleichmässig aus und zwar wiederum getrennt für die sechs Samenträger. Sobald die jungen Keimpflanzen deutliche Merkmale zeigten, wurden sie gezählt und entfernt. Diejenigen, welche den Typus der Eltern trugen, wurden einfach ausgerodet, mit Ausnahme einiger, welche die Keimung ihrer Nachbarn nicht beeinträchtigten und welche somit für die Blüthe bestimmt wurden. Die Mutanten wurden stets vorsichtig ausgehoben und einzeln in Töpfe mit guter, gedüngter Gartenerde übergepflanzt, um sie weiter zu controlliren. Dieses Sortiren dauerte von etwa Mitte Mai bis Mitte Juni. Die Lata- und Nanella-Pflänzchen waren bereits sehr früh kennt- lich, konnten daher grossentheils verpflanzt werden, bevor sie von den umstehenden Individuen beschattet und überwachsen wurden. Ein Nebenzweig der Lamarckiana- Familie. 185 Dasselbe galt von den Albida, welche aber stets sehr schwächlich waren. Erst viel später wurde Oblonga sichtbar und am spätesten Rubrinervis. Zu dieser Zeit stand das ganze Beet dicht von den Rosetten bedeckt, die stärkeren überwuchsen die schwächeren. Es sind dabei ohne Zweifel viele Mutanten, namentlich von Rubrinervis und den übrigen seltenen Sorten, zu Grunde gegangen, bevor ich sie erkannt hatte. Die schliesslich erhaltenen Zahlen sind somit eher zu klein als zu gross. Mitte Juni standen die Pflanzen so dicht, dass die Aussicht für etwaige spätere Mutanten, sich noch zu behaupten, zu klein wurde. Ich habe dann einfach so weit gedünnt, dass noch gerade so viele Pflanzen übrig blieben, als auf dem gegebenen Raume zur Blüthe gelangen konnten. Es blühten im August etwa 700 Exemplare. Unter diesen fielen später zwei Stengel auf, da sie viel länger waren, als alle übrigen, und also aus der Menge hervorragten. Sie ergaben sich als eine neue Form, welche in späteren Jahren auch in anderen Familien wiederkehrte und als O. lepiocarpa beschrieben werden soll. Sonst enthielten die Beete nur reine O. Lamarckiana;, ich habe sie während der ganzen Blüthezeit wiederholt und eingehend darauf geprüft. Im October erntete ich die Samen und achtete darauf, dass möglichst wenige auf den Boden fielen, denn dieser enthielt noch einen guten Theil von der ursprünglichen Aussaat, von der ich eine zweite Keimung im nächsten Frühjahre erwartete. Vorher hatte ich mich von diesem nachträglichen Keimen durch einen besonderen Versuch überzeugt. Im März 1887 hatte ich einige Tausend Samen ausgesäet; sie keimten während des ganzen Sommers und wurden jedes Mal nach einem Monat gezählt und ausgejätet. Bis Mitte April keimten 908, bis Mitte Mai 288 Samen. Vom 14. Mai bis zum 14. Juli nur 64, und von da ab bis zum 14. September 130 und bis Mitte October nur 6. Während des Winters stand die Keimung fast völlig still, obgleich die Schüsseln frostfrei und unter günstigen Bedingungen gehalten wurden. Es keimten bis Mitte März 1888 nur drei Samen. Dann aber, im zweiten Frühjahre also, trat plötzlich eine ganze Menge ans Licht. Es entfalteten innerhalb 14 Tagen 272 Pflänzchen ihre Blätter, und andere folgten, wiederum in allmäh- lich abnehmender Anzahl. Die letzten Samen bleiben zwei und mehr Jahre im Boden, bevor sie keimen. Es war daher im Frühjahre 1896 von den im Boden gebliebenen Samen eine kräftige Keimung zu erwarten. Ich zählte während dieser die Mutanten und verpflanzte sie wiederum einzeln in Töpfe; die 184 Die Oulturfamilien. normalen Individuen rodete ich möglichst früh und möglichst voll- ständig aus, ohne sie zu zählen. Ich fand im Ganzen 102 Mutanten, aber in ganz anderen Verhältnissen, als wie im Vorjahre. Namentlich waren die Albida und Lata jetzt sehr selten und die Rubrinervis ver- hältnissmässig zahlreich. Ich stelle jetzt das Ergebniss dieser Cultur in Form eines Stamm- baumes, ähnlich wie der Hauptstammbaum auf S. 157, zusammen und füge die zwei vorhergehenden, beiden gemeinschaftlichen Generationen hinzu. Venothera Lamarckiana. A. Die Lamarckiana-Familie. 1uR Stammbaum über die Entstehung neuer Arten aus einem Nebenzweig der Hauptecultur. (Die Ziffern weisen die Anzahl der Individuen nach.) Arten sein- tillans na- nella Generation N IE rubri- | O. ellipti- ca lepto- lata carpa ‚longa | nervis| Lam. 3. Gener. zweites Jahr: IIIB 1896 1 54 8 — 35 3 0 1 0 erstes Jahr: III A) 1895 255 69 1 10000 111 168 1 7 2 2. Gener. (zweijähr.) | IT | 1888-1889 6 1. Gener. (zweijähr.) I |1886-1887 9 Die ganze Anzahl betrug somit im Jahre1895 614 oder etwa 6°/,, von denen O. albida 2,5°/,, O. lata 1,7°/,, O. nanella 1,1°/,, O. oblonga 0,7°/, und die übrigen zusammen etwa 0,1°/, ausmachten. Für das Jahr 1896, welches 102 Mutanten lieferte, habe ich den Procentgehalt nicht bestimmt. Diese Zahlen stimmen in der Hauptsache mit den im Haupt- stammbaume (S. 157) gefundenen überein. In den Einzelheiten zeigen Ein Nebenzweig der Lamarckiana- Familie. 185 sie, wie zu erwarten, vielfach Abweichungen. Aber ähnliche Unter- schiede ergaben sich zwischen den für die sechs verschiedenen Mütter gefundenen Zahlen. Es lohnt sich nicht, diese hier alle anzuführen, nur bemerke ich, dass die häufigeren Mutanten in jeder der sechs Aussaaten gefunden wurden, aber in wechselnden Verhältnissen. Unter diesen sechs Saaten war eine, welche zu einer ganz un- erwarteten, sehr wichtigen Beobachtung Veranlassung gab. Sie war die umfangreichste; es waren 75 ccm auf 4 qm ausgestreut. Es war dies pro Quadratmeter genau ebenso viel, wie für die fünf übrigen Abtheilungen. Dieser Samen ging aber sehr schlecht auf. Es keimten in 1895 im Ganzen nur 350 Exemplare, also etwa 5 pro Cubikcentimeter, während sonst etwa 70 Samen pro Cubikcentimeter keimten.! Diese 350 Samen enthielten die folgenden, in der Spalte A angegebenen Mengen von Mutanten. Anzahl der Mutanten pro 4 qm. A B O. albida 64 95 O. oblonga I 30 O. rubrinervis 1 0 O. nanella 0 55 O. lata 61 54 Summa 135 234 Zum Vergleiche gebe ich in Spalte B die von den fünf übrigen Müttern producirten Mutanten an, berechnet für eine gleiche Boden- oberfläche bei der Aussaat (4 qm, also die Hälfte der auf voriger Seite angegebenen Zahlen, nach Abzug von A). Berechnet man für die fragliche Mutter den Procentgehalt an Mutanten unter den Keimlingen, so findet man etwa 40°/, statt 6°/, für die ganze Öultur (oder 5°/, für die fünf übrigen Mütter). Berechnet man aber denselben Werth pro Cubikcentimeter Samen, so findet man für die eine Pflanze 1,8, für die fünf anderen aber 3,2 Mutanten. Der absolute Gehalt an Mutanten ist also durch die schlechte Keimung fast auf die Hälfte reducirt, während der Gehalt an keimen- den Samen im Ganzen von 70 auf 5 pro Cubikcentimeter zurück- ging. Der procentische Werth stieg dadurch von etwa 5°/, auf 40°/,. Das schlechte Keimen war aller Wahrschemlichkeit nach eine Folge des fünfjährigen Aufbewahrens; warum es nur bei einer Saat- probe auftrat und nicht bei den fünf anderen, bleibt aber fraglich. ! Ein Cubikcentimeter enthält im Mittel etwa 500 Samen. 186 Die Culturfamilien. Beim Aufbewahren sterben die Samen allmählich ab, der eine früher, der andere später. Aus der beschriebenen Beobachtung ergiebt sich, dass die mutirten Samen im Allgemeinen weniger rasch absterben resp. länger keim- fähig bleiben, als die normalen Lamarckiana-Samen. Nur die Samen der Zwergform scheinen schwächer, als die der Art, vielleicht auch die der ©. elliptica. Sollte sich diese Erfahrung allgemein bestätigen, so würde man durch ein künstliches Beschleunigen des Absterbens der Samen, sei es im trockenen, sei es im feuchten Zustande, ein Mittel gewinnen können, um den Procentgehalt von Samenproben an Mutanten be- deutend zu erhöhen. Und es würde dadurch das Aufsuchen von Mutationen im Pflanzenreiche sehr wesentlich erleichtert werden. Ich kehre jetzt zu den ausgepflanzten Keimpflanzen zurück. Mehrere unter ihnen waren schwach und starben früher oder später: namentlich die am leichtesten kenntliche O. albida. Von anderen war die erhaltene Zahl zu gross, um sie alle zur Blüthe gelangen zu lassen. Die meisten aber cultivirte ich während des ganzen Sommers; theils blühten sie, theils blieben sie Rosetten. Samen ge- wann ich von O. albida (1897, aus der 1896 gekeimten Pflanze), von O. rubrinervis, von O. nanella und von O. seintillans. Die drei ersteren zeigten sich bei Selbstbefruchtung constant, die letztere nicht (vergl. S. 172). Genaueres darüber findet man im zweiten Kapitel bei den betreffenden Arten. $S 6. Die Laevifolia-Familie. Auf dem Standorte der Oenothera Lamarckiana bei Hilversum be- obachtete ich im Jahre 1857 eine Gruppe von Individuen, welche sich durch besondere Merkmale sofort als eine eigene Form er- gaben. Ich erntete daher ihre Samen und säete diese im nächsten Jahre in meinem Versuchsgarten aus. Es entstanden daraus, der freien Bestäubung auf dem Felde entsprechend, zwei Formen, deren eine die gewöhnliche O. Lamäarckiana war, deren andere aber mit der Mutterform übereinstimmte. Ich nenne diese Unterart wegen den glatten Blättern, welche keine oder fast keine Buckeln bilden: O. laevifolia. In den ersten Jahren habe ich beide Typen durch einander blühen lassen und hielt sie nur von den übrigen Öulturen getrennt. Im Jahre 1894 habe ich angefangen, die O. laevifolia in Pergamin- beuteln blühen zu lassen und sie mit ihrem eigenen Pollen befruchtet. Sie war seitdem rein, brachte keine O. Lamarckiana mehr hervor, aber es sind seitdem in ihr auch keine Mutationen mehr beobachtet worden- Die Laevifolia- Familie. 187 Wie und wann die O, laevifolia entstanden ist, weiss ich selbst- verständlich nicht. Sie war da, als ich den Fundort zum ersten Male besuchte. Aber sie stand dort an einer besonderen, isolirten Stelle in nur wenigen Exemplaren, derart, dass die Wahrscheinlichkeit einer semeinschaftlichen. Abstammung für diese sich sofort aufdrängte. Es lag auf der Hand, anzunehmen, dass sie erst vor kurzer Zeit an Ort und Stelle entstanden war. Aus diesem Grunde gebe ich jetzt eine ausführliche Beschreibung des ursprünglichen Fundortes. Ich werde später, bei den anderen Familien und den einzelnen neuen Arten, mehrfach mich darauf zu beziehen haben. Auf dem Gute Jagtlust des Herrn Dr. jur. J. Sıx zwischen Hilversum und ’S Graveland in der Niederländischen Provinz Nord- Holland, lag früher ein Kartoffeifeld, das auf der Südseite an einen vor langer Zeit gegrabenen Canal grenzte. Um das Jahr 1870 hat der Eigenthümer einen neuen Zweig dieses Oanals graben lassen, der, auf der Westseite des genannten Feldes sich abzweigend, den Zugang auf der Nordseite bald völlig abschloss. Das Feld war also nur noch von der Ostseite, wo keine Kunstwege liegen, zugänglich, und konnte somit nicht mehr vermiethet werden. Es lag seitdem brach, und ist in den erstfolgenden Jahren nur an einzelnen kleinen Stellen umgegraben worden behufs Anlage neuer Pfade und Ein- pflanzung der dazu erforderlichen Bäume.! Es bot somit den wild- wachsenden Pflanzen eine schöne Gelegenheit, sich in kurzer Zeit in bedeutender Weise zu vermehren. Die Oenothera hat diese Gelegen- heit etwas später ergriffen als die übrigen in der Gegend wildwachsen- den Arten, und sie erheblich langsamer, aber mit um so grösserem Erfolg, ausgebeutet. In der Nähe dieses Feldes lag, in einer Anlage, ein kleines Beet, das jährlich mit verschiedenen Arten von Ziergewächsen besäet wurde. Unter diesen war auch die Oenothera Lamarckiana, und von hier aus hat sie sich auf dem Feld verbreitet. Als ich den Standort zum ersten Male besuchte, war das kleine Beet längst verlassen, aber doch noch zu erkennen. In seiner unmittelbaren Nähe an der nordöstlichen Ecke des Feldes waren die Oenothera-Pflanzen am zahlreichsten, zu Hunderten ein dichtes Gebüsch von mannshohen, weit verzweigten Stämmen bildend. Das ganze Feld hatte eine Oberfläche. von etwa 5000 qm. Um den erwähnten Kern herum erstreckte sich eine breite Zone, ! Augenblicklich ist das frühere Feld nahezu gänzlich bewaldet. 188 Die Culturfamilien. wo stellenweise blühende Pflanzen und Wurzelrosetten durch einander wuchsen, während nach Westen die Zone nur vereinzelte Rosetten aufwies. Auf dem weitaus grössten Theil des Feldes aber sah man damals auf den ersten Blick noch keine Oenothera;, bei näherer Durch- forschung fand ich an zwei Stellen ein blühendes Exemplar und an fünf oder sechs anderen Stellen die Rosetten mit Wurzelblättern, welche also im Frühling desselben Jahres aus Samen entstanden sein mussten. Von der nordöstlichen Ecke aus kann man also schliessen, dass die fernere Ausdehnung etwa in den Jahren 1884—1886 angefangen hat. Bereits 1888 waren überall auf dem Felde vereinzelte Gruppen von jungen und von blühbaren, zweijährigen Individuen zerstreut. Von der nordöstlichen Ecke wurde in den Wintern 13886—1887 und 1857—1888 ein Theil, mehr als die Hälfte des Oenothera-Stand- ortes umfassend, tief umgegraben und mit Eichenwaldung bepflanzt. Der Boden war aber so reich an Samen, dass in den beiden, der Bodenbearbeitung folgenden Sommern dieser Abschnitt ganz dicht mit Oenothera bewachsen war, und zwar theils mit einjährig blühenden Pflanzen, theils mit Wurzelrosetten. Es ergab sich hieraus ein er- heblicher Grad der Variabilität in der Lebensdauer, zumal da in den Monaten August und September zwischen den Rosetten und den blühenden Stengeln Stämme in jeder Höhe, von den kaum treibenden Rosetten bis zu den blühenden, gefunden wurden. Im Jahre 1889 liess der Eigenthümer, als Vorbereitung zur späteren Bewaldung und Anlage des nichts eintragenden Feldes, darauf zwei gerade Wege im Kreuz, und einen halbkreisförmigen Weg auf der Ostseite zur Abrundung nach dieser von den Canälen nicht ab- gegrenzten Seite anlegen. Auf beiden Seiten dieser Wege wurde der Boden, der ein ziemlich reiner Sandboden ist, bis zu 1—1!/, m Tiefe umgearbeitet und mit Bäumchen bepflanzt. Zahllose Oenothera sind dabei zu Grunde gegangen, aber ihre Ausdehnung ist seitdem um so rascher fortgeschritten. Namentlich der umgegrabene Boden sagte ihnen zu; hier wuchsen sie bald überall und in Menge, und von hier aus dehnten sie sich in allen Richtungen über das übrige Feld aus, dessen östliche Hälfte sie bereits 1894 nahezu gänzlich bedeckten. Es ist fast selbstverständlich, dass die Pflanze von einem so reichen Standorte aus allmählich sich auch sonst in der Umgegend verbreitet hat. Schon 1888 fand ich sie auf einzelnen mehr oder weniger entfernten verlassenen Aeckern, und seitdem hat sie sich auch an anderen Stellen gezeigt. Aber immer nur in verhältnissmässig wenigen Exemplaren. Die Laevifolia-Familie. 189 Sobald ich den Standort auf dem verlassenen Kartoffelfelde kennen lernte (1886), wurde mir klar, dass hier eine ausgezeichnete Gelegen- heit vorlag, um mich über die Art und Weise des Varlirens einer Ptlanze bei rascher Vermehrung zu orientiren. Schon die grosse Mannigfaltigkeit der Blattformen, der Stengelhöhe, der Art der Ver- zweigung u. S. w. deutete auf eine ausserordentliche Variabilität hin, und als die Blüthezeit im Juli und August die grossen und leuchtenden gelben Blumen sich zahllos öffnen liess, gelangte ich bald zu der Ueberzeugung, dass fast jedes einzelne Merkmal in auffallender Weise variabel war. Eine ganze Reihe der gewöhnlichen Abweichungen im Blüthenbau, bis jetzt für unsere Art noch nicht beschrieben, war in den ersten Tagen zu finden, und liess sich bei weiteren Besuchen immer mehr vervollständigen. In den Jahren 1886, 1887 und 1888 wohnte ich den ganzen Sommer in einer Entfernung von wenigen Minuten von dem betreffen- den Felde, und hatte ich also wöchentlich, oft sogar täglich die Ge- legenheit, mich Stunden lang mit dieser einen Art zu beschäftigen. Seitdem besuchte ich den Standort fast jährlich, oft einige Male im Jahre, oder erhielt ich Nachrichten darüber von Anderen, wodurch es mir möglich war, den Fortschritt Schritt für Schritt zu verfolgen, und über die Erhaltung der bereits gefundenen Varietäten auf dem Felde und das Auftreten neuer fortwährend Aufschluss zu bekommen. Ein eingehenderes Studium war aber nur auf dem Wege der Cultur möglich. Mit gefälliger Zustimmung des Herrn Sıx entnahm ich dem Felde, wie bereits erwähnt (S. 153), einmal einige einjährige Wurzelrosetten und zu verschiedenen Zeiten Samen. Es hatte dieses einen doppelten Zweck. Erstens, in so weit man die sich später in einem Individuum zeigenden Abweichungen vom Typus als bereits im Samen vorhanden betrachten kann, lehrt die Aussaat von Fundort- samen im Garten, in sicherer und weniger Gefahren ausgesetzter Weise, welche neue Formen bereits auf dem Felde entstanden sind. Zweitens aber habe ich von den betreffenden Pflanzen im Garten wieder Samen genommen, und diesen wiederum ausgesäet, und bin so zu meinen „Familien“ gelangt, deren jede ihren Ursprung auf dem Hilversumer Felde hat, und welche in meinem Versuchsgarten und unter täglicher Controlle den auf dem Felde vor sich gehenden Process des Mutirens zu einem grossen Theile wiederholt haben. Hier liess sich selbstverständlich über die Vererbung weit grössere Sicherheit erhalten als im Freien. Solcher Familien besitze ich drei, wie bereits erwähnt. Die der Lamarckiana stammt von den Rosetten, die der Lata von Samen von 1886, und die hier zu besprechende Laevifolia- 190 Die Qulturfamilien. Familie von der kleinen Gruppe der auf dem Felde aufgefundenen Exemplare dieser Form (1887). Die Thatsachen der Vererbung, welche sie boten, ermöglichten eine klarere Einsicht in die Vorgänge, als wie die Beobachtungen auf dem ursprünglichen Standorte. Es ist hier der Ort, einiges über die Unvollständigkeit der Be- obachtungen im Freien und über die Schwierigkeiten der Qulturver- suche einzuschalten. Wäre jede Mutation eine günstige, lieferte sie Individuen, welche im Kampf mit ihren Gattungsgenossen, mit dem Un- kraut des Feldes, und in der Cultur mit der Ungunst von Witterung und Jahreszeit, wenigstens eben so viel Aussicht auf guten Erfolg hätten als die normalen Exemplare, so würde manche neue Form zur Be- obachtung gelangen, welche jetzt in früher Jugend zu Grunde geht. Aber die meisten neuen Arten sind viel schwächer als die Stammesart, z. B. durch schmälere Blätter, und wachsen also langsamer; manche ist theilweise oder in einem Geschlecht steril, und erhält sich also nicht oder doch nur durch Kreuzung, während andere aus unbekannten Grün- den verloren gehen. Namentlich ist hier die Variabilität in der Lebensdauer schäd- lich und in der Cultur äusserst gefährlich. ‚Völlig einjährige und normal zweijährige Individuen kann man leicht zu Blüthen und Samen bringen, wenn auch Fehler in dem Widerstande gegen das Erfrieren manche interessante Rosette in meinen Culturen haben verloren gehen lassen. Gar häufig sind aber Individuen, welche zwar einjährig werden, aber zu spät Stengel treiben, und dann oft nicht blühen, oder nach der Blüthe doch keinen Samen mehr reifen, bevor sie im Winter sterben. Von mehreren neuen Arten ist es mir erst nach vielen Jahren gelungen, einzelne Exemplare zur Blüthe und zur Fruchtreife gelangen zu lassen, wie z. B. bei ©. albida und O. elliptica. Ich kehre jetzt zu der ©. laevifolia zurück. Zum ersten Male fand ich sie im Jahre 1887, und zwar in zehn Exemplaren, welche namentlich an den eirunden, nicht herzförmigen Blumenblättern der Seitenzweige als neuer Typus erkannt wurden. Fünf dieser Pflanzen bildeten den Kern, sie standen in einer kleinen Gruppe von etwa hundert Individuen, weit von allen übrigen Oeno- theren entfernt, im nordwestlichen Theile des Feldes. An dieser Stelle hatte ich im vorigen Jahre zwar einjährige Rosetten, aber keine blühenden Pflanzen gesehen. Um diesen Kern herum standen fünf weitere Exemplare in grösseren und kleineren Entfernungen, meist ganz isolirt auf dem Felde, das hier noch sehr arm an Oeno- theren war. Die Laevifolia-Familie. 191 Im folgenden Jahre fand ich denselben Typus an der nämlichen Stelle, und wiederum nur an dieser zurück. Die O. laevifolia hat sich seitdem auf dem Felde erhalten, und zwar in derartiger Verbreitung, dass die erste, an gewissen Merkmalen leicht kenntliche Stelle stets deutlich den Kern der ganzen Gruppe bildete. Auf anderen Theilen des Feldes fand ich sie in späteren Jahren auch, aber selten und ganz isolirt. Die Zahl der Exemplare an jener Stelle aber hat allmählich, wenn auch langsam zugenommen, sie sind, wegen der freien Bestäubung, theils ©. Iaevifoha, theils O. Lamarckiana. Seit etwa 1894 ist der betreffende Theil des Feldes gänzlich von den Oenotheren überwuchert, und sind die Grenzen der früheren Gruppe verwischt worden. Die Art und Weise der Verbreitung um einen, während etwa acht Jahren an derselben Stelle befindlichen Kern herum, deutet ent- schieden auf Vererbung, trotz vielfacher Kreuzung mit normalen In- dividuen, hin. Ob die zehn Pflanzen des ersten Jahres (1887) eine semeinschaftliche Abstammung hatten, lässt sich natürlich nicht ent- scheiden, obgleich man es ohne Zweifel für sehr wahrscheinlich halten muss. Ich komme jetzt zu den Culturen in meinem Versuchsgarten. Für diese sammelte ich, wie erwähnt, die Samen einiger O. laewwfolia- Exemplare auf dem Hilversumer Fundort im Spätsommer 1887. Dieser Same lieferte in meinem Garten 1888 über zweihundert Pflanzen, von denen etwa 60 °/, einjährig waren; und zwar theils O. Za- marckiana, theils O. laevifolia. Von den kräftigsten Exemplaren dieser Aussaat, welche am frühesten blühten, entnahm ich die Samen für die Fortsetzung der Familie, und zwar getrennt für die beiden Typen. Mit dem Samen der ©. Lamarckiana-Pflanzen wurden 1889 drei Beete von je etwa 10 Quadratmeter besät, theils in der Hoffnung, neue Formen zu gewinnen, theils behufs eines später zu besprechen- den Versuches über die Bedingungen der Ein- oder Zweijährigkeit. Aehnlich wie die beiden umfangreichen Aussaaten in der La- marckiana-Familie zeigte sich auch diese Aussaat reich an Mutanten. Ich glaube dieses betonen zu sollen, weil die verhältnissmässige Selten- heit des Auftretens von Mutanten in dem anderen Zweige dieser Familie dadurch auf den geringeren Umfang der einzelnen Genera- tionen dieser Culturen zurückgeführt werden kann. Im Ganzen erhielt ich 41 Mutanten, deren Vorkommen in den einzelnen Jahren und Culturen ich jetzt zunächst in der Form eines Stammbaumes zusammenstelle. Dieser ist wiederum in derselben Weise gebildet als die beiden vorigen (vergl. S. 157 und 184). 192 Die Oulturpflanzen. Oenothera Lamarekiana. B. Die Laevifolia-Familie. Stammbaum über die Entstehung neuer Arten aus O. laevifolva. (Die Ziffern weisen die Anzahl der Individuen nach.) Ö. Maustsarnetgeen: O. La- Seo an aM: at ellip- na- | rubri- |spathu-| lepto- | I folia tica | nella nervis, lata | carpa |*kiana 9. Generation IX 1895 = 44 5 8. Generation VI 1894 2 36 VII 1594 1500 2 1 2 | mm nn mn 7. Generation vu 1893 — 1 2 _ 6. Generation VI 1892 = — 5. Generation | | V 1891 53 2 3 — DEV EEE 4. Generation IV 1890 25 En | 3. Generation | III 1889 8 3 2 12 2 2 400 zZ SS 2. Generation II 1888 2 er | mn mn 1. Generation | Hilversum I 1886 — 1887 I (zweijährig) | | NB. In den durch — angedeuteten Aussaaten wurde die Anzahl der In- dividuen nicht genau ermittelt. DE VRIES, Mutation 7. Tal. Oenothera Lamarckiana, eine mutirende Pflanze. Verlag von Veit & Comp. in Leipzig. DE VRIES, Mutation T. Taf. 2. Oenothera Gigas, entstanden 1895. Verlag von Veit & Comp. in Leipzig. DE VRIES, Mutation 7. Oenothera albida, eine jährlich auftretende Art. Verlag von Veit & Comp. in Leipzig. Taf. Die Laevifolia-Pamilie. 193 Betrachten wir jetzt das Auftreten der ren neuen Arten in dieser Familie etwas eingehender.” Wir fangen dabei mit der Aussaat von 1889 an. Diese enthielt neben etwa 400 Lamarckiana- Pflanzen zunächst zwei Rosetten von O. lata und ein einjähriges Exemplar derselben Art. Da ich diese aber bereits in Cultur hatte, wurden sie nicht weiter behalten. Ferner zwei Wurzelrosetten von O. elliptico und zwei andere von einer neuen Form, O. spathulata, welche zu überwintern mir nicht gelang. Zwerge waren in dieser Aussaat ziemlich zahlreich; zwei von ihnen bildeten Stengel, aber brachten es nicht zur Blüthe; zehn bildeten Wurzelrosetten und von diesen gelang es mir zwei zu überwintern. Sie bildeten den Anfang einer Nanella-Familie, von der ich fünf Generationen cultivirt habe, wie später beschrieben werden soll (vergl. $ 18). Einer der Zwerge von 1889 hatte zu gleicher Zeit die schmalen Blätter der O. elliptica, war aber sonst in allen Hinsichten Nanella. Er blieb eine Rosette und ging im Winter zu Grunde. Ausser den genannten Mutationen fanden ieh in der oben er- wähnten Cultur von 1389 zwei Exemplare einer damals neuen Form, der O. rubrinervis. Das eine war eine Wurzelrosette und konnte nicht überwintert werden, das andere trieb schon früh einen kräftigen Stengel, blühte und trug reichlich Samen, der am 8. October 1889 geerntet wurde. Dieser Samen wurde am 5. Mai 1890 auf einem kleinen Beete ausgesät. Bald nach der Keimung waren die rothnervigen Individuen deutlich zu erkennen, und wurden die übrigen entfernt. Im September hatte ich vierzig Rubrinervis-Exemplare, von denen neun zur Blüthe und Fruchtreife gelangten. Die übrigen waren theils einjährig, aber zu jung, theils nur Wurzelrosetten. Im nächsten Jahre (1891) diente dieser Samen theilweise zu einer Cultur auf ziemlich sterilem Sande, theilweise zur Controle auf gutem Boden. Nur die Exemplare des letzteren Beetes liess ich zur Blüthe kommen, und unter diesen wählte ich Anfang September die dreizehn besten Individuen, mit rothpunktirten Kelchen und rothem Anflug auf dem Stengel, als Samenträger aus. Seitdem erhielt sich diese neue Art, bei freier Bestäubung ohne oder doch fast ohne Kreuzung rothnervig. Später wurde sie zur Ausbildung einer tricotylen Rasse bestimmt, indem jährlich nur die so gestalteten Keimlinge, nach Zerstörung aller übrigen, ausgepflanzt ! In dem Stammbaum auf $. 192 sind für 1894 zwei O. nanella angegeben an Stelle von zwei O. rubrinervis. Die O. nanella fehlte in jenem Jahre. DE VRIES, Mutation. I. 13 194 Die Oulturfamilien. wurden. Auch erhielt sich die O. rubrinervis, bei geeigneter Cultur, fast völlig einjährig. Sie lieferte in den beiden ersten Jahren der tricotylen Zuchtwahl (1892 und 1893) auf 30—60 Individuen keine hier zu erwähnenden Mutanten, im Jahre 1894 traten unter den tricotylen aber zwei Laia-Individuen auf, welche beide einjährig waren und zur Blüthe gelangten, dann aber aus dem Beete entfernt wurden. Seit 1894 habe ich die Samenträger meiner verschiedenen neuen Arten in Pergaminbeuteln blühen lassen und mit ihrem eigenen Pollen künstlich befruchtet, um sie auf ihre Samenbeständigkeit zu prüfen. Es soll deshalb hier die Thatsache hervorgehoben werden, dass ihre Constanz schon vor dieser Zeit, wenngleich keine absolute, doch eine sehr bedeutende war. Es war dazu nur erforderlich, die einzelnen Arten auf getrennten Beeten, in der geringen Entfernung von wenigen Metern, blühen zu lassen. Der zweite Hauptzweig der Laevifolia-Familie entsprang, wie bereits bemerkt, aus den Samen der glattblätterigen Pflanzen von 1888.! Es waren dieses zwei kräftige einjährig blühende Exemplare. Ihre Samen säte ich im nächsten Jahre auf einem kleinen Beete aus. Dort blühten im Sommer acht völlig glattblättrige Individuen, deren Samen wiederum im Herbst geerntet wurden. Mutanten lieferte das Beet aber nicht. Im folgenden Jahre (1890) säte ich ein Beet von etwa 3 qm, entfernte im Sommer alle zweijährigen Individuen, ferner alle jüngeren Stengel und alle diejenigen, deren Blätter mehr oder weniger gebuckelt waren. Es blieben im September 25 glattblättrige Exemplare übrig, welche aber erst spät blühten und verhältnissmässig wenig Samen lieferten. Doch hatte ich von ihnen zusammen im Ganzen 25 ccm Samen, und konnte somit 1891 eine etwas umfangreichere Cultur an- stellen. Diese umfasste 14 qm und bot wiederum einige Mutanten. Es waren zwei Exemplare der Lata, ein einjähriges und eine Rosette, zwei schwache Rosetten der Elliptica und eine Elliptica, welche einen Stengel trieb, dann aber starb, da auch sie zu schwach war. In den folgenden Jahren habe ich diese Familie ohne Zucht- wahl auf ihr eigentliches Merkmal, die glatten Blätter, zu anderen Versuchen benutzt. Die Glattblättrigkeit erhielt sich in ihr, trotz der freien Befruchtung durch die Insecten, in den meisten Individuen, nur mit der gewöhnlichen ©. Lamarckiana vermischt. Die fraglichen Versuche wurden im Jahre 1894 abgeschlossen und seitdem habe ich ! Vergl. den Stammbaum auf S. 192. Die Loevifolia-Famihe. 195 mittelst künstlicher Befruchtung die Familie wiederum rein gezüchtet. Sie hat dann aber aufgehört zu mutiren. Die angedeuteten Versuche waren drei an der Zahl und sollen hier kurz erwähnt werden; zwei von ihnen werde ich später noch ausführlicher zu behandeln haben. Der erste Versuch hatte zum Zweck, eine tricotyle Rasse zu bilden. Es gelang dieses zwar, jedoch war sie in den beiden ersten Generationen nicht so reich an den betreffenden Individuen, wie die oben erwähnte, gleichzeitig unter- nommene, tricotyle Cultur der O. rubrinervis. Da es nur meine Ab- sicht war, eine von diesen beiden Rassen fortzusetzen, habe ich, nach der Keimung 1893 diesen Zweig der Familie aufgegeben. Die beiden anderen Versuche hatten zum Zweck, eine Rasse mit langen und eine mit kurzen Früchten zu bilden, um über die Art und Weise, wie sich diese Eigenschaft accumuliren liess, einige Er- fahrungen zu erlangen (vergl. Abschnitt III). Die langfrüchtige Rasse brachte in den Jahren 1392—1894 keine Mutanten hervor; die kurz- früchtige war daran, im Verhältniss zu der geringen Ausdehnung dieses Versuches (4—6 qm jährlich), ziemlich reich (vergl. S. 192). Sie lieferte 1893 eine hübsche Rosette der Elliptica und zwei Zwerge (ein- und zweijährig), und 1894 zwei einjährige Data, welche Mitte September noch nicht zur Blüthe gelangt waren, zwei Rubrinervis,! eine Rosette und einen schwachen, nicht blühenden Stengel, und eine Rosette von Elliptica, welche zu überwintern mir nicht gelang. Zum Schluss bemerke ich über den S. 192 gegebenen Stamm- baum dieser Familie, dass davon die erwähnten tricotylen und lang- früchtigen Rassen ausgeschlossen sind, während die kurzfrüchtige (1892—1894) als geradlinige Fortsetzung der eigentlichen Laevifolia aufgeführt worden ist. In dieser Familie haben somit im Ganzen 41 Mutationen statt- gefunden, 13 in der Hauptlinie, 21 aus Lamarckiana-Exemplaren und 7 aus Rubrinervis- Pflanzen. Die Nachtkerzen-Oultur von 18839 um- fasste einen ziemlich grossen Raum und brachte somit die Merkmale der jungen Pflanzen vollständiger zur Geltung als die übrigen; dieses mag wenigstens zum Theil ihren grösseren Gehalt an Mutanten er- klären. Der Ursprung dieser Familie war der 1887 unweit Hilversum gesammelte Samen. Seit 1894 führte ich für O. laevifoha künstliche Selbstbefruchtung ein, und seitdem hat sie nicht mehr mutirt. ! Vergl. den Stammbaum auf S. 192 und die Anmerkung auf S. 193. 132 196 Die Oulturfamilien. $ 7. Zwei Lata-Familien. Die Oenothera lata gehört zu denjenigen neuen Arten, welche in meinen Culturen am häufigsten aus der O. Lamarckiana entstanden sind. Sie ist auch die älteste, da sie bereits im ersten Jahre, 1887, aus den unweit Hilversum gesammelten Samen in meinem Versuchs- garten auftrat. Im nächsten Jahre entstand sie auch aus den Samen der zweijährigen Pflanzen, welche den Anfang meines Hauptversuches bildeten, wie im $ 1 auf S. 154 erwähnt wurde. Aus diesen beiden Mutationen habe ich zwei getrennte Familien abgeleitet, deren eine ich bis zum Jahre 1890 cultivirte, während die zweite, mit einigen Unterbrechungen, bis auf den heutigen Tag fort- gesetzt worden ist. Wie bereits hervorgehoben, ist die Oenotkera lata rein weiblich. Um Samen zu tragen, muss sie somit von anderen Arten befruchtet werden. Ich liess sie 1887 von den Nachtkerzen-Pflanzen befruchten, welche aus derselben Samenprobe entstanden waren. Durch diese Kreuzung lieferte sie im nächsten Jahre theils Zata-, theils Lamarckiana- Individuen, die ersteren meist im Verhältniss von etwa 15—20 °/,.! Bis 1894 liess ich diese beiden Formen zusammen wachsen, und überliess ich die Befruchtung den Insecten; seitdem habe ich die Lata-Blüthen in Pergaminbeuteln gegen Insectenbesuch geschützt und künstlich befruchtet. Ich benutzte dazu meist den Pollen der aus derselben Mutter hervorgegangenen O. Lamarckiana-Pflanzen, theils aber auch von O. Lamarckiana anderer Herkunft. Die umfangreichste und an Mutationen fruchtbarste Aussaat in diesen Familien habe ich im Jahre 1900 gemacht; ich werde daher mit dieser anfangen. Im August 1899 hatte ich 18 Exemplare der O. lata in Pergaminbeuteln künstlich befruchtet, und zwar sämmtlich mit Pollen von O. Lamarckiana-Pilanzen, welche theils aus Lata-Samen aufgewachsen, theils von reiner Abstammung waren. Ich säte den geernteten Samen, für jede Mutter getrennt, im Frühjahr 1900 in Schüsseln aus? und versetzte die jungen Keimpflanzen, sämmtlich und ohne Auswahl, in hölzerne Körbe mit gedüngter Erde. Es geschah dieses, sobald die ersten Blättchen sich völlig entfaltet hatten, und ! Ueber erbungleiche Kreuzungen. Ber. d. d. bot. Ges. Nov. 1900. Bd. XVII. S. 435. ; ?2 Die Erde in den Schüsseln war, wie stets in meinen Versuchen, vor der Aussaat bei 90—100° C. sterilisirt und dadurch von Unkrautsamen völlig befreit. Sie war nieht gedüngt. In solcher sterilisirten Erde wachsen meine Keimpflanzen vorzüglich. Zwei Lata- Familien. 197 zur Ausbildung kleiner kräftiger Rosetten blieben die Pflänzchen in den Holzkästen; hier wurden die Mutanten allmählich sichtbar. Wie eine solche Cultur dann aussieht, zeigt unsere Tafel IV und die Fig. 48. Die Tafel IV ist nach einer photographischen Aufnahme ge- zeichnet, welche ich am 18. Mai 1900 gemacht habe. Der Apparat war derart aufgestellt, dass die optische Achse vertikal stand; der Holzkasten mit den jungen Pflänzchen wurde einfach in der erforder- Fig. 48. Eine Mutation in der Zata-Familie (1900). Auftreten von O. albida, O. ob- longa, O. rubrinervis und O. subovata. Es stehen auf den drei Zeilen: Obere Zeile: Lam. Lam. lata. Lam. Rubrinervis Zu, Lata albida albida lata Lam. ah cn Lam. subovata albida oblonga Lam. lichen Entfernung unterhalb der Camera geschoben. Die Pflanzen brauchten somit in ihrem Wachsthum gar nicht gestört zu werden, sie wurden später ausgepflanzt und weiter cultivirt. Der ganze Versuch umfasste etwas über 2000 Keimlinge. Ich konnte daher für die Photographien die besten Stellen aussuchen, und wählte solche, welche dicht neben einander entweder einige Mutanten derselben Art (Taf. IV), oder auch verschiedene Mutanten darboten (Fig. 48). Es entsteht dadurch allerdings beim Betrachten der Ab- bildungen der Eindruck, als ob Mutationen viel zahlreicher wären, als sie wirklich zu sein pflegen. Sie betrugen in dieser Cultur für 198 Die Oulturfamilien. die verschiedenen neuen Arten zusammen 60 auf 2070 Keimpflanzen, also etwa 3°/,. Wollte ich diesen Zahlen bei der Photographie Rech- nung tragen, so könnte jede Abbildung höchstens eine Mutation zeigen. Aber die Mutanten sind sehr ungleichmässig zwischen anderen Keimlingen zerstreut, und ich wählte selbstverständlich die Gruppen, in denen sie angehäuft waren. Am häufigsten trat in diesem Versuch, wie auch sonst, die O. albida auf. Auf Tafel IV sieht man sie in drei Exemplaren und zwar als Nr. 3 in der oberen, als Nr. 2 in der dritten und als Nr. 1 (links) in der vierten Reihe. Denn die Pflänz- chen stehen in Reihen, wie sie beim Verpflanzen gesetzt wurden, um den Raum möglichst gleichmässig auszunutzen. Es ist zu bemerken, dass diese Cultur in ihrem Stammbaume sieben ihr vorangehende Zata-Generationen hatte, deren erste aus in meinem Garten cultivirten O. Lamarckiana hervorgegangen war. Die abgebildete Gruppe stammte selbstverständlich von einer einzigen Mutter, welche mit dem Pollen einer Pflanze von LAamArcr’s Nacht- kerze von gleicher Abstammung befruchtet worden war. Die Ab- stammung war eine so reine, als die Eingeschlechtlichkeit der Lat«a es überhaupt zulässt. Die Pflänzchen von O. albida fallen sehr leicht auf. Allerdings sind alle diese Erscheinungen an den lebenden Culturen weit leichter und schöner zu sehen als an Abbildungen, doch werden auch diese genügen, um den Eindruck einer Mutation wiederzugeben. Die Tafel zeigt ausser O. albida fünf Pflänzchen von O. lata und sechs von O. Lamarckiana. Die ersteren sind an der hellgrünen Farbe und an den gerundeten, die letzteren an den mehr oder weniger zugespitzten Blättern und dem dunkleren Grün leicht zu erkennen. Die drei O. albida sind viel kleiner, von blasserer Farbe und haben schmälere Blätter. Ausserdem zeigt die Tafel noch einen anderen Fall. Ich meine die rechte Pflanze auf der zweiten Reihe. Sie hat schmale Blätter und sah auch sonst den bekannten Typen meiner Cultur nicht ähnlich aus. Ob sie eine neue Form darstellte? Ich habe sie mit möglichster Sorgfalt weiter cultivirt; sie war aber zu schwach und ging zu Grunde, bevor sie weitere Merkmale entfaltet hatte. Auch die drei Albida- Exemplare brachten es nicht weiter als zu Wurzelrosetten. Eine andere Gruppe aus derselben Cultur ist in Fig. 48 nach einer Photographie naturgetreu dargestellt. Sie wurde am 25. Mai in der oben beschriebenen Weise aufgenommen und stammte aus Samen einer anderen Mutter derselben Cultur von 1899, welche gleich- falls mit Lamarckiana-Pollen verwandter Individuen befruchtet worden ve Lata- Familien. 1939 war. Es standen hier zufällig vier Mutationen so dicht neben einander. dass sie zusammen photographirt werden konnten; und zwar auf einem Raume von kaum 13 x 18 cm, wodurch ich sie auf eine Platte dieses Umfanges in na- türlicher Grösse auf- nehmen konnte. Die abgebildeten Mutationen waren O0. oblonga, ©. rubrinervis, O. subovata in je einem Exemplar, und O. albida ın drei Individuen. Ausserdem sieht man sechs O. Lamarckiana und drei O. lata. Die drei Albida- Pflänzchen sind sofort zu erkennen, es sind die Nr. 2 und 3 in der mittleren, und Nr. 3 in der unteren Reihe. O0. rubrinervis findet man rechts in der oberen Zeile, an den schmalen Blättern leicht kenntlich, O. sub- ovata und O. oblonga als Nr. 2 und 4 auf der unteren Linie. Diese beiden waren an dem Tage, wo sie photo- graphirt wurden, noch kaum mit Sicherheit zu unterscheiden, nament- lich die Subovata. Von den in Fig. 48 abgebildeten Pflanzen habe ich eine O. lata und die Mutanten weiter Fig. 49. Oenothera rubrinervis. Ein Individuum ohne gleichnamige Vorfahren. Es ist dieselbe Pflanze, wie in Fig. 43 in der rechten oberen Ecke, jetzt aber blühend. Abstammung aus sechs Generationen O. /ata, und vorher aus O. Lamarckiana. eultivirt, indem ich sie auf ein besonderes Beet auspflanzte. Die 0. lata und O. rubrinervis bildeten Stengel und blühten im August, die übrigen verhielten sich als zweijährige Pflanzen und blieben Rosetten. Als 200 Die Oulturfamilien. ; das Exemplar von O. rubrinervis blühte und die Merkmale dieser Art in voller Ausbildung zeigte, habe ich es aus der Erde genommen und photographirt (Fig. 49); es war ein recht schönes Beispiel für die Fig. 50. Oenothera oblonga. Ein durch Mu- tation entstandenes Exemplar, von derselben Abstammung, wie die in Fig. 49 abgebildete Pflanze. Regel, dass die neuen Arten nicht nur plötzlich und ohne Vermitte- lung, aber auch mit vollständiger Ausbildung aller ihrer Eigen- schaften aus der Mutterart her- vorgehen. Von O. albida gingen zwei Pflanzen im Laufe des Sommers zu Grunde, die dritte, sowie die O. oblonga entwickelten sich bis in den Herbst kräftig. Die O. subovata wurde durch Insecten- frass stark beschädigt, erhielt sich aber dennoch am Leben. Von O.oblonga hat eine andere durch Mutation in dieser selben Cultur entstandene Pflanze einen Stengel getrieben und im August geblüht. Ich habe sie in Fig. 50 abgebildet. Sie stammt aus dem Samen derselben Mutter wie die Cultur der Tafel IV, und fand sich in demselben Holzkasten dicht neben der photographirten Gruppe. Ausser den abgebildeten Mu- tanten enthielt die Aussaat von 1900 deren noch eine ganze Menge, theils von denselben Arten, theils von anderen. Diese letzte- ren waren drei O. nanella, eine O. elliptica und eine O. sublinearis. Das letztere Exemplar, welches einer in meinen ÜÖulturen sehr seltenen Art angehört, habe ich, wie die beiden oben erwähnten, im August während der Blüthe photo- graphirt und werde ich die Abbildung bei der betreffenden Beschrei- bung geben (vergl. Fig. 85). Zwei Lata-Familien. 201 In früheren Generationen war diese Familie sehr arm an Mu- tanten, und zwar aus dem einfachen Grunde, dass sie nur in geringem Umfang ceultivirt wurde. Es entstand in ihr einmal (1898) ein Exem- plar der bereits erwähnten O. scintillans und einmal eine ganz neue Form, O. semilata. Diese sieht der O. lata sehr ähnlich, ist aber viel kräftiger und bringt reichlich Blüthenstaub. Sie ist eine der seltensten meiner neuen Arten, da sie im Ganzen nur zweimal auftrat, Ich gebe auf S. 202 den Stammbaum dieser ganzen Familie. Ihr Anfang ist derselbe wie derjenige des S. 154 erwähnten Haupt- stammbaumes der Lamarckiana-Familie. Die Samen der dort erwähnten neun zweijährigen Individuen von 1886—1887 lieferten zehn Mu- tanten: fünf Zwerge und fünf O. lata und von den letzteren stammt die zu beschreibende Familie ab. In den meisten Jahren mutirte sie, wie erwähnt, nicht. Jetzt kommen wir zu der Besprechung der zweiten Lata-Familie. Diese entstand in meinem Garten im Jahre 1887 aus Samen, welche ich im vorigen Herbst auf dem Hilversumer Fundort aus einer fünf- fächerigen Frucht einer sonst normalen Pflanze von O. Lamarckiana genommen hatte. Aus diesen Samen keimten nur wenige Individuen und unter ihnen blühten nur fünf im ersten Jahre in meinem Garten; die übrigen wurden ausgerodet. Von jenen fünf waren zwei O. lata und drei O. Lamarckiana. Die Samen der beiden ersteren wurden getrennt geerntet und dienten im nächsten Frühling (1888) zur Fort- setzung der Öultur. Im Jahre 13887 blühten in meinem Versuchsgarten ausser den genannten fünf Individuen keine anderen Oenotheren. Die Lamarckiana- Familie blühte damals im eigentlichen botanischen Garten, durch eine Parkanlage von meinem Versuchsgarten getrennt, und etwa 150 Meter von diesem entfernt. Aus den Samen der beiden Lata-Stammpflanzen keimten im April und Mai 1888 614 Individuen, von denen 21°/, den Lata-Typus zeisten. Gegen Ende des Sommers stellte es sich heraus, dass etwa ein Drittel Rosetten geblieben waren, während zwei Drittel Stengel getrieben hatten. In dieser Beziehung verhielten sich die Lata und die Lamarckiana nahezu gleich. Von den einjährigen Lata, welche bis Mitte September von den anderen befruchtet sein konnten, sparte ich die 39 besten Individuen, während alles übrige, mit einer einzigen Ausnahme, ausgerodet wurde. Diese Ausnahme war ein Exemplar von O. scintillans, das erste, was überhaupt in meinen Culturen vorgekommen ist. Seine Mutter ist also eine der beiden Lata von 1887, sein Vater einer der drei Lamarckiana derselben Familie. Dieser Seintillans war zweijährig, 202 Die Culturfamilien. OVenothera Lamarckiana. C. Stammbaum der ersten Lata-Familie. (Die Ziffern weisen die Anzahlen der Keimpflanzen nach; das Zeichen — bedeutet, dass diese nicht gezählt worden sind.) | A ne en : | O. lata Generation . . B A e albida | nanella + |oblonga zubui a ellip a O.Lam. nervis linearis io, | OVA 8. Gener. VIII 1900 42 3 2000 1 3 1 1 3 7. Gener. VII 1899 _ 6. Gener. VI 1898 164 1 seintillans nn au 5. Gener. V 1897 — 4. Gener. IV 1895 12 lata 1 semilata yo ee 3. Gener. III| 1894 16 lata 2. Gener. (zweijähr.) | II 1888—8s9|| Lam. 5 lata 5 nanella San m m nn nn 1. Gener. | (zweijähr.) | I| 1886—87 Lam. Zwei Lata- Familien. 203 blühte und reifte seine Früchte 1889, und gab aus seinen Samen, welche theils 1890, theils 1894 ausgesäet wurden, wiederum dieselbe Form, wenn auch nicht ausschliesslich. Die Cultur von 1890 war zum Theil einjährig (10 Erben}, zum Theil zweijährig (26 Erben); die erstere blühte reichlich, aber zu spät, die anderen erfroren im Winter, wodurch ich von dieser Cultur keine Samen erhielt. Die Cultur von 1894 war gänzlich zweijährig (11 Erben) und trug im Jahre 1895 Samen. Kehren wir jetzt zu dem Hauptstamme unserer Familie zurück. Ich säte am 18. April 1889 die geernteten Samen aus und erhielt ein Beet von ungefähr drei Quadratmetern, welches mit etwa zweihundert Pflanzen ziemlich dicht besetzt war, als Ende Mai die Laia von den Lamarckiana leicht zu unterscheiden waren. Darauf wurden die letz- teren zum grossen Theile ausgezogen. Ende Juli blühten zwölf ein- jährige Lata, einige zu junge Lata-Stämme und Rosetten wurden aus- gerodet. Von den blühenden trugen elf Exemplare Samen: diese wurden zusammen geerntet. Ein Theil dieser Samen wurde im nächsten Jahre ausgesät, ein kleinerer Theil bis 1894 aufbewahrt, in welchem Jahre er auf 340 Keimlingen 52 Laia gab, welche aber nicht weiter cultivirt wurden. Die Aussaat des Jahres 1890, also der vierten Generation, fand am 5. Mai statt und umfasst wiederum ein Beet von etwa drei Quadrat- meter. Anfang Juli standen hier 79 Lats-Exemplare und viele Lamarckiana. Die ersteren waren theils einjährig, theils zweijährig. Das Blühen fing erst Mitte September an, nur sechs Lata trugen Samen, welcher spät reifte und erst im December geerntet werden konnte. Ausser den beiden elterlichen Typen lieferte die Aussaat von 1890 noch drei Mutanten, eine Ellipticao und zwei Spathulata, welche aber nicht blühten und nicht weiter cultivirt wurden. Ferner ist hier eine Lamarckiana aus der Aussaat von 1889 zu erwähnen, welche in einigen Blüthen die Zipfel der Kelchblätter blatt- artig verbreitert hatte und deren Samen deshalb ausgesät wurde. Diese Abweichung wiederholte sich nicht; dagegen waren unter den Nachkommen drei Zata und eine Hlliptica. Sie wurden nicht weiter eultivirt. Die drei folgenden Jahre (1891—1893) habe ich diese Lata- Familie wie auch die andere nicht cultivirt, eben wegen der Schwierig- keiten der Befruchtung. Im Jahre 1894 habe ich sie dann wieder aufgenommen und säte dazu den 1890er Samen aus. Er lieferte 20 Exemplare von O. Lamarckiana und 6 Lata, im Ganzen nur 26 Keim- 204 Die Qulturfamilien. linge. Die 6 Zata waren einjährig, blühten reichlich und dienten zu einem später zu erwähnenden Versuch über die Unfruchtbarkeit des Pollens. Fassen wir jetzt das Mitgetheilte übersichtlich zusammen, so er- halten wir den folgenden Stammbaum: Oenothera Lamarckiana. ID) Stammbaum der zweiten Lata-Familie. (Die Ziffern weisen die Anzahl der Keimpflanzen nach.) ATrst en: Generation = elliptica BRaRE lata spathulata elliptica 5. Generation V 1890 1 Lam. 3lata lata 2 1 eb 4. Generation | | IV 1889 Lam. lata a Ze |. 3. Generation | IT| 1888 | Lam. , lata 1 seintillans 2. Generation | II 1887 3 Lam. 2 lata | onen m nn? | | 1. Generation | Hilversum | I 1886 Lam. Es ist schliesslich noch die Frage zu besprechen, ob die Mu- tabilität in dieser Kamilie vorwiegend den Müttern oder den Vätern ‘zuzuschreiben sei. Ich vermuthe das letztere, da meine neuen Arten bei reiner Cultur und soweit sie constant waren, im Allgemeinen viel weniger mutirt haben, als die ©. Lamarckiana selbst. Dagegen scheinen Kreuzungen das Auftreten von Mutationen zu befördern. $ 8. Mutationen in anderen Familien. Ausser in den beschriebenen Familien sind Mutationen in meinen Culturen von O. Lamarckiana und deren Nachkommen noch vielfach aufgetreten. Man kann fast behaupten, dass jede umfangreiche Aus- Mutationen in anderen Familien. 205 saat sie bietet. Allerdings ist dabei erforderlich, dass die jungen Pflanzen hinreichenden Raum finden, um sich ohne Beeinträchtigung durch ihre Nachbarn entfalten zu können, und dass man die Beete stets genau durchmustert. Denn bevor sie anfängt, ihren Stengel zu treiben, bildet jede Pflanze eine Rosette von 20—30 cm Strahl, und es haben zur Blüthezeit nur wenige Exemplare auf einem Beete Platz (höchstens 20—40 pro Quadratmeter). Fast stets waren meine Mutanten, wenigstens in der Jugend, schwächer als die ursprüngliche Art, sie wurden also leicht von den übrigen verdrängt. Fig. 51. Eine Mutation in einer Keimschüssel. Die mittlere Pflanze ist eine O. lata ohne gleichnamige Vorfahren. Die übrigen Pflänzchen sind theils O0. Lamarckiana, theils O. nanella und aus einer Kreuzung dieser beiden Arten entstanden, Es lohnt sich daher, hier einiges über die Culturmethode und namentlich über das Aufsuchen der Mutationen sowie über die Merk- male der jungen Pflänzchen zu sagen. Ausführlicher werde ich diese Merkmale allerdings erst im nächsten Kapitel beschreiben können, doch scheint es mir zweckmässig, eine kurze vergleichende Uebersicht voranzuschicken. Früher säte ich im Garten aus. Es blieb dann aber, wie bereits erwähnt (S. 183), ein Theil der Samen im Boden, um in späteren Jahren zu keimen. Es konnte also jeder Theil des Gartens nur 206 Die Oulturfamilien. einmal für eine Aussaat benutzt werden. Ich habe daher später in Schüsseln ausgesät; die Erde wurde von ausserhalb bezogen und ausserdem sterilisirt, etwa vorhandene Oenothera-Samen wurden dabei, wie jährlich ausgeführte zahlreiche Controlversuche lehrten, völlig ge- tödtet. In diesen Schüsseln blieben die Pflänzchen, wenn es möglich war, sie ohne Verpflanzen zu sortiren und die einzelnen Sorten zu zählen; war dies nicht möglich, so wurden sie in Holzkästen von 30 x 50 cm und 10 cm Tiefe verpflanzt. Hier blieben sie, bis sie auf die Beete gelangten. Nur wenn es erforderlich war, die Pflänzchen möglichst sorgfältig zu behandeln und sie möglichst kräftig werden zu lassen, wurden sie nicht in die Kästen, sondern einzeln in Töpfe versetzt. Es ist stets zwischen solchen Aussaaten zu unterscheiden, welche zur Blüthe gelangen sollen, und solchen, welche ohnehin vor der Entwickelung des Stengels abgezählt und ausgerodet werden. Die ersteren werden fast stets aus den Schüsseln verpflanzt, bevor die Merkmale der neuen Arten kenntlich sind, die letzteren sehr häufig bis zum Ende in den Schüsseln gehalten. Einige Formen sind bereits bei der Ausbildung der ersten Blätter zu erkennen. So fast stets die O. lata, sehr oft, und namentlich bei nicht zu dichter Keimung, die O. nanella. Ebenso häufig O. albida. Viel später kommen 0. oblonga und O. rubrinervis, am spätesten O. seintillans. Die drei letzteren erkannte ich nur ausnahmsweise in den Schüsseln; sie werden beim Verpflanzen gewöhnlich. einfach für schwache Exemplare angesehen und mit solchen verwechselt. Die Schüsseln haben eine Erdoberfläche von 25 x 25 Quadrat- centimeter und werden mit !/,—?/, com Samen bestreut. So lange die Pflänzchen jung sind, haben sie dann ausgiebigen Raum. Wachsen sie aber so weit heran, dass man die Mutanten unter ihnen erkennen kann, so stehen sie meist so dicht, dass eine photographische Auf- nahme nicht mehr möglich ist. Solches gelingt fast nur bei geringerer Aussaatmenge oder ungenügender Keimung. Einen solchen Fall stellt die Fig. 51 dar. Es war eine Aussaat von durch Kreuzung gewonnenen Samen. O. Lamarckiana war mit O. nanella im August 1899 befruchtet; es keimten etwa 250 Samen, von denen etwa 30°/, Nanella waren. Man erkennt auf dem Bilde zwischen den lockeren Rosettehen der ursprünglichen Art hier und dort die durch ihre inneren sitzenden Blätter dichtere Form der Zwerge. Genau in der Mitte steht, ziemlich isolirt, eine O. lata, an den runden, nicht zugespitzten Blättern leicht kenntlich. Sie war von ihren Nachbarn allseitig bedeckt, doch habe ich beim Photographiren Mutationen in anderen Familien. 207 ihre Blätter über die anderen geschoben. Sonst wurde an der Gruppe nichts verändert. Die beiden gekreuzten Eltern waren von reiner Abstammung; die Lamarckiana aus dem Hauptstammbaum meiner Versuche (8. Cultur- Generation), die Nanella 1895 aus dieser entstanden und seitdem durch fünf Generationen rein erhalten. Die in Fig. 51 abgebildete Lata hat also, wenigstens während dieser Zeit (1886 — 1899), keine gleichnamigen Vorfahren gehabt. Nur in den Seitenzweigen der Stammbäume war dieselbe Form, und zwar fast alljährlich, aufgetreten. Die Merkmale der jungen Rosetten beim Sortiren gehen am deutlichsten aus den später zu gebenden Abbildungen der Ro- setten selbst hervor. Einstweilen bringe ich hier aus je einer sol- chen Rosette ein erwachsenes Blatt zusammen (Fig. 52 und 53), so gewählt, dass es die typische Blattform möglichst genau dar- stellt. Die Abbildungen sind in halber natürlicher Grösse gemacht worden, die Blätter Anfang Juni den noch in den Holzkästen be- findlichen Pflanzen entnommen. RN Die Culturen waren rein, da sie. 18,5%, Rrrschsene Blätter jungor Rossi durch Aussaat von Samen gleich- nanella, 9 O. gigas, r O. rubrinervis, 1 O. namiger Pflanzen gewonnen I un er lun waren; es hielt somit nicht schwer, daraus mittlere Formen zu wählen. Am leichtesten und sichersten zu erkennen sind O. nanella (Fig. 52») und O. lata (l). Die erstere hat sehr kurzgestielte, etwas wellige Blätter mit breitem Grunde; die Rosetten sind daher im Herzen dicht. Die zweite hat langgestielte, runde Blätter, namentlich . ist die Spitze abgerundet. Sie sind sehr bucklig und haben einen um- gebogenen Rand, der leicht zerreisst, wenn man versucht, das Blatt flach zu legen (daher der kleine Riss am Gipfel). Die Oenothera gigas unterscheidet sich durch viel kräftigere, etwas breitere Blätter von der O. Lamarckiana (Fig. 52 g und L). O.rubrinervis (Fig. 52 r) und O. scintillans (s) haben schmälere Blätter, die ersteren sind graugrün, die anderen dunkelgrün, beide haben keine oder fast gar keine Buckeln. 208 Die Oulturfamilien. O. albida (Fig. 53 a) und O. oblonga (0) sind in diesem Alter an der Blattform kaum, ja oft gar nicht zu erkennen. Die O. albida ist sehr wechselnd, je nachdem man die gewöhnlichen schwächlichen Formen, oder durch besondere Sorgen kräftig herangewachsene Pflänzchen hat. Die ersteren sind klein und schmal, blassgrün und oft fast weiss, die letzteren eigentlich nur durch die weissliche Farbe gekennzeichnet. O. oblonga hat Blätter mit sehr breiten Hauptnerven; diese Breite ist aber auf der Vorderseite weit auffallender, als auf der abgebildeten i Rückseite. Sie sind zugespitzt, jetzt noch breit, später aber sehr schmal. Zum Vergleich mit den Blättern der jungen Pflanzen findet man in Fig. 54 die erwachsenen Blätter der blühenden oder fast blühenden Exemplare, wie sie am Stengel, unterhalb der Blüthenregion gefunden wer- den. Es sind dieselben Arten mit Ausnahme v von O. Lamarckiana, O. lata und O. nanella.! Fig. 53. Erwachsene Blätter Die Blätter von O. gigas sind durch ihre junger Rosetten im Juni. en . . ea cc a 0. albida, 0.0. oblonga. grössere Breite gekennzeichnet; die übrigen abgebildeten sind jetzt sämmtlich schmäler, als die von O. Lamarckiana. In O. oblonga erkennt man die breiteren Mittelnerven; die O. rubrinervis ist etwas mehr zugespitzt als die beiden anderen; dazu ist sie meist buchtig und selten flach ausgebreitet. Doch unterscheiden sich diese drei Typen eigentlich nur durch Farbe und Consistenz in dem oben angegebenen Sinne. Die verschiedenen neuen Arten können aber (mit Ausnahme der O. leptocarpa, welche erst gegen die Blüthezeit kenntlich wird) fast in jedem Alter an ihren Blättern mit Sicherheit erkannt werden. Aus den Blättern lassen sich die späteren Merkmale, die Form der Blüthen- äste und der Blüthen selbst, bei O. lata der Mangel an Blüthenstaub, Grösse und Samenreichthum der Früchte stets vorhersagen, wenn man die betreffende Art einmal blühend und mit Samen beobachtet hat. Ich habe selbstverständlich fast jährlich die in der Jugend sortirten Pflanzen in grösserer oder geringerer Anzahl zur Blüthe ge- bracht; rein ausgepflanzte Culturen zeigen sich dann auch zu dieser Zeit rein. ! Die Blätter habe ich photographisch copirt, indem ich sie im lebenden, etwas welken Zustand auf Positivpapier ausbreitete und dieses unter Glas in einem gewöhnlichen Copirrahmen andrückte. Die erhaltenen Copien sind dann später photographisch auf die Hälfte verkleinert worden. Mutationen in anderen Familien. 209 Mittelst es Mom as Fe so TER wie möglich, in Aussaaten von Oenothera-Samen aus meinen Culturen die Mutanten aufgesucht. Wie bereits hervorgehoben, hängt.es sehr wesentlich vom Umfang der Aussaat ab, ob sie sich zeigen und wie viele. Ohne Zweifel wirken verschiedene andere Umstände darauf ein, theils bei der Keimung (vergl. S. 185), theils bei der Befruchtung, theils vor dieser. Fig. 54. Stengelblätter blühender Pflanzen von 9 Oenothera gigas, 7 O, rubrinervis, 0 ©. oblonga,-@ O. albida, s O. scintillans. Im Allgemeinen zeigten sich die neuen Arten viel weniger mu- tabel, als die ursprüngliche O. Lamarckiana, aus der sie hervorgegangen sind. Doch giebt es auch gerade sehr stark mutable Formen unter ihnen, wie z. B. O. scintillans. Bei Kreuzungen erhält sich die Mutabilität und wo aus Kreu- zungen die ursprüngliche Form, ©. Lamarckiana, hervorgeht, scheint sie solches mit ihrem vollen, ich möchte fast sagen normalen Muta- tionsvermögen zu thun. DE VRIEs, Mutation. I. 14 210 Bi e Oulturfam dien. Der Baspielelk mögen diese Sätze en nen, na die mehr vollständigen Beweise später bei der Beschreibung der einzelnen neuen Arten gegeben werden sollen. Reine Aussaaten von ©. leptocarpa, O. nanella und O. oblonga lieferten diese drei Typen rein, mit Ausnahme der folgenden Mutanten. Ich füge die Jahreszahl der Aussaat und die Anzahl der Keimlinge bei. Mutanten aus neuen Arten. Anzahl der Arten Jahr Keimpflanzen Mutanten O. leptocarpa 1896 500 2 nanella OÖ. nanella 1897 760 1 oblonga O. oblonga 1897 2150 2 albida 1 elliptica 1 rubrinervis Summa 3410 7 Mutanten. Zusammen also etwa 0-2°/,, während O. Lamarckiana deren meist 1—3°/, und oft mehr hat. O. seintillans dient als Beispiel einer sehr .mutablen neuen Art, indem sie sich meist nur in etwa einem Drittel ihrer Nachkommen wiederholt (vergl. S. 172); die beiden anderen Drittel sind theils O. oblonga, theils O. Lamarekiana, zu einem kleinen Theile aber auch verschiedene Mutanten, welche namentlich zu den beiden auch sonst häufigeren Formen O. lata und O. nanella gehören. Von diesen beiden fand ich in den einzelnen Culturen und Gene- rationen von ©. scintillans, indem stets die Samen von künstlich mit ihrem eigenen Pollen befruchteten typischen Individuen gewonnen waren, die folgenden Anzahlen: Mutanten aus O. scintillans. Anzahl der Jahr Keimpflanzen lata nanella 1896 268 8 1 1897 572 3 3 1897 447 4 0 1898 587 3 2 1899 148 2 i 0 1899 5850 21 23 Summa 7872 38 29 — 67 Somit etwa 1°/, oder ungefähr ebenso viel wie bei der O. Lamarckiana selbst. Mutationen in anderen Familien. 211 Ein ähnliches Resultat erhält man bei Kreuzungen. Bei diesen entstehen, da sie erbungleich sind, die beiden elterlichen Formen und falls keine von beiden die ©. Lamarckiana selbst ist, in der Regel auch diese! Ausserdem treten aber Mutanten auf. Ich führe die folgenden Beispiele an: Mutanten aus O. Lamarckiana X O. nanella. ehr Anzahl der Keimpflauzen albıda lata oblonga rubrinervis elliptica 1897 1341 1 U DO = —_ 1897 1051 = 5 12 2 — 1898 474 — 2 — = 1899 3815 = 3 1 En 1 1899 1606 = 5 = _ — Summa 8283 1 22 38 2 1 Zusammen 64 oder fast 1°/,. Mutanten von O. lata X O. nanella. Jahr en albida oblonga _rubrinervis 1895 63 — — 1 1897 837 6 uU — 1898 101 1 1 — 1898 146 — 3 — 1899 280 5 3 — 1900 159 3 — 1 Summa . 1586 15 14 2 Zusammen 31 oder etwa 2°/,. Mutanten aus Kreuzungen mit älteren Arten. Anzahl der Kreuzung Jahr KeimpHanzen Mutanten O0. Lam. x 0. biennis 1896 30 2 oblonga & a 1900 80 1 lata 1 nanella O. Lam. x O. suaveolens 1897 200 8 oblonga 1 elliptiea O. lata x O. biennis 1899 299 2 nanella 1 seintillans O. lata x O. suaveolens 1900 743 13 albida Summa 1352 29 Mutanten, Also etwas über 2°/,. ! Vergl. den zweiten Band und Ber. d. d. bot. Gesellschaft. Bd. XVII. 1900. Heft X. S. 435. 14* 212 Die Qulturfamilien. In allen diesen Kreuzungen ist also das Mutationsvermögen un- gefähr dasselbe wie bei ©. Lamarckiana. Schliesslich habe ich noch die Nachkommenschaft der Kreuzungen in der zweiten Generation untersucht. Wählt man die Samen von Exemplaren, welche ihrer Form nach einer der neuen Arten ange- hören, so erhält man Zahlen, welche den S. 210 aufgeführten ent- sprechen. Wählt man die Samen von selbstbefruchteten Lamarckiana- Exemplaren, so findet man dagegen ein Mutationsvermögen, wie es solche Pflanzen auch bei reiner Abstammung zeigen. Mutanten aus Lamarckiana- Exemplaren, welche selbst aus Kreuzungen hervorgegangen waren. Versuchsjahr 1898. N 3 Mutanten in 1898 Sana an en albida lata nanella oblonga O. Lam. x O. nanella 1063 1 — 5 2 O. lata x O. Lam. 427 — 3 _ 2 O. lata x O. nanella 1693 1 1 12 1 a 5 390 2 1 6 1 O. lata x O. brevistylis 1026 —_ 2 3 2 Summa 4599 2 eo. 26 8 Zusammen also 43 oder etwa 1°/, Mutanten. Fassen wir alles zusammen, so finden wir stets nur unsichere Ab- weichungen vom ursprünglichen Mutationsvermögen der O. Lamarckiana. Sie scheint dieses Vermögen durch alle Generationen und durch alle Kreuzungen hindurch einfach beizubehalten; wenigstens im Laufe meiner Versuche. Dagegen behaupten die aus ihr entstandenen neuen Arten, falls sie sonst constant sind, auch darin diese Constanz, dass ihre Fähigkeit zu mutiren merklich abgenommen hat. Aber nicht völlig, denn das Vermögen, dieselben neuen Formen hervorzubringen wie die Stammart, ist von dieser offenbar auf sie übergegangen. $ 9. Das Mutiren in der Natur. Die Culturen in meinem Versuchsgarten hatten nicht den Zweck, Mutationen hervorzurufen, sondern sollten einfach ein genaueres Studium der Vorgänge ermöglichen, als es in der freien Natur mög- lich war. Selbstverständlich betrachte ich das Hervorrufen von Mutationen als eine weit höhere Aufgabe, an deren Lösung ich gerne heran- Das Mutiren in der Natur. 213 getreten wäre. Aber schon in den ersten Jahren meiner Untersuchung ergab sich die Nothwendigkeit ausführlicher Vorarbeiten. Es schien unerlässlich, zunächst zu wissen, wie die neuen Arten in der Natur thatsächlich auftreten. Bis jetzt hatte man ja überhaupt diese Er- scheinung im Freien nicht beobachtet. Das Aufsuchen der Ur- sachen dieses Auftre- tens konnte erst in zweiter Linie in Aus- sicht gestellt werden. Dazu kam diedamalige sehr unvollständige Bekanntschaft mit den Folgen und Einflüssen etwaiger Kreuzungen, welche auf das experi- mentelle Eingreifen in die Erscheinungen des Mutirens sehr hem- mend einwirkte. Es war durchaus erforder- lich, wenigstens für die Oenotheren selbst, die Bastardirungsge- setze zu ermitteln. Aus diesen Grün- den habe ich das Stu- dium der Ursachen des Mutirens bis auf die Fertigstellung die- ser Vorarbeiten ver- Fig. 55. Oenothera Lamarckiana, eine ganze Pflanze, aus d st i & 'zelblätter Eehoben. em Hauptstamm und En ee der Wurzelblätter Um das Mutiren in der freien Natur zu studiren, giebt es zwei Wege. Erstens die directe Beobachtung, das Aufsuchen und Sammeln der Mutanten auf dem Fundorte der Stammesart. Zweitens das Einsammeln von Samen an Ort und Stelle, und deren Aussaat unter möglichst günstigen Keimungsbedingungen. 214 Die Culturfamilien. Es leuchtet sofort ein, wie unvollkommen die erstere, und wie bedeutend viel besser die letztere Methode ist. Denn offenbar ist die Mutation im Samen bereits entschieden; die Keimung bringt nur an’s Licht, was darin schon vorhanden war. Aber wie viele Samen gehen bei der Keimung in der freien Natur in den ersten Tagen oder doch in den ersten Wochen ihres Lebens zu Grunde! Nament-. lich von den schwächeren Samen; und unter ihnen wohl die grösste Zahl der Mutanten. Eine mittlere Pflanze von Oenothera Lamarckiana trägt im Freien oft weit über hundert Früchte, und in jeder Frucht etwa 100—200 Samen. Auch in den Jahren der raschesten Ver- mehrung gelangt somit nur ein sehr kleiner Theil zur völligen Aus- bildung. Wenn also die Pflanzen auch noch so zahlreiche mutirte Samen hervorbringen, so besteht dennoch stets die Möglichkeit, dass man davon am natürlichen Fundort entweder gar nichts bemerkt, oder nur von Zeit zu Zeit geringe Spuren entdeckt.! Aussaaten von im Freien gesammelten Samen sind das einfache und sichere Mittel, um zu entscheiden, ob irgend eine Art an einem bestimmten Fundort sich in einer mutablen Periode befindet oder nicht. Sie sollten zu diesem Zweck in möglichst grossem Maassstabe ausgeführt werden. Eine Reihe von Versuchen, welche ich in dieser Richtung anstellte, ergab bis jetzt noch kein positives Ergebniss. Ich folgere daraus, dass Mutationen in der Natur selten sind, bin aber überzeugt, dass sie bei weiterem Suchen dennoch mehrfach werden aufgefunden werden. | Für die Oenothera Lamarckiana habe ich beide Methoden durch eine Reihe von Jahren in Anwendung gebracht. Ich habe fast jähr- lich das Feld selbst besucht oder doch von anderen besuchen lassen. Mehrere der neuen Formen sind dabei beobachtet worden, meist als schwache Keimpflanzen oder junge Rosetten, nur äusserst selten in Blüthe. Ferner habe ich dort, namentlich im Anfang meiner Cultur (1836— 1888), Samen gesammelt und in meinem Versuchsgarten aus- gesäet. In den beiden ersten Jahren in kleinerem, 1888 aber in grösserem Maassstabe. Seitdem habe ich von Zeit zu Zeit diesen Versuch wiederholt, bis ich genügende Sicherheit über den Vor- gang hatte. Ich theile jetzt die einzelnen Funde auf dem Hilversumer Felde oder aus den dort gesammelten Samen mit. Oenothera lata. Aus Samen, welche ich im Herbst 1886 aus fünf- ı Sur introduction de l’ Oenothera Lamarckiana dans les Pays-Bas. Nedenl. Kruidk. Archief. Aug. 1895. Das Mutiren in der Natur. 215 fächerigen Früchten sonst normaler Pflanzen entnahm, erhielt ich 1887 drei Zata-Exemplare, welche alle einjährig waren. Zwei standen in meinem Garten und bildeten den Ausgangspunkt für die eine der im & 7 beschriebenen Laia-Familien (S. 204), das dritte keimte mit drei Cotylen und wurde nach einem Garten bei Hilversum versetzt, wo es blühte, aber keine keimfähigen Samen trug. Aus Samen, welche ich im Herbst 1838 von anscheinend nor- malen Exemplaren des Feldes sammelte, erhielt ich in meinem. Garten unter zahlreichen normalen Pflanzen sieben Exemplare von O. lata, von denen vier Stengel bildeten, eins eine Rosette blieb und die beiden anderen erst spät im Sommer keimten. In demselben Sommer (1889) fand ich auf dem Hilversumer Felde eine schöne blühende ZLata- Pflanze und einige andere Exemplare, welche sich gleichfalls als zu dieser neuen Art gehörig erkennen liessen. Im Jahre 1894 wurde die Lata auf dem Felde in zwei blühenden Pflanzen und einer Rosette wiedergefunden. O. elliptic.. Eine Rosette fand ich 1886, eine andere wurde 1894 gefunden. O. nanella erhielt ich 1889 aus den im vorigen Herbst auf dem Felde gesammelten Samen und zwar in drei Rosetten, welche leider im nächsten Winter zu Grunde gegangen sind. Eine von diesen war eine Lata-Nanella, sie vereinigte die Merkmale beider Formen in sich, wie solches auch später in meinen Culturen vorgekommen ist. Auch 1894 wurde ein Zwerg auf dem Hilversumer Felde gefunden. O. rubrinervis. In einem Exemplar als Rosette aus den oben mehrfach erwähnten 1888er Samen entstanden. O: spathulata. Diese Form wurde als Rosette auf dem Hilversumer Felde 1586 und 1894 gesammelt. Es kamen also fünf der neuen Arten bereits auf dem Hilversumer Felde und in dessen Samen vor. Sie traten sehr selten, aber doch meist mehrfach und in verschiedenen Jahren auf, ohne dass die späteren direct von den früheren abstammen konnten. Fassen wir das Mitgetheilte tabellarisch zusammen, so bekommen wir die folgende Uebersicht der Funde zu Hilversum. Pflanzen Aus Samen O. lata 1889, 1894 . lata 1837, 1889 O. nanella 1894 . nanella 1889 0. spathulata 1886, 1894 . lata-nanella 1389 O. elliptica 1886. . rubrinervis 1889. OOOO 216 Die IDEEN: Tabaız enthält gerade die auch in meinen Culkun am leichtesten kenntlichen und am häufigsten beobachteten Arten. Von den anderen habe ich bis zu 1894, dem letzten in der Tabelle ge- nannten Jahre, überhaupt nur O. seintillans, und diese nur einmal bei mir auftreten sehen. Der Ursprung dieser Typen ist also sicher dort und nicht in meinen Culturen zu suchen. Auch traten sie dort in derselben Weise auf wie im Versuchsgarten, unvermittelt, in den Samen normaler O. Lamarckiana-Pflanzen, und in verschiedenen Jahren. So unvollständig diese Beobachtungen auch sind, so genügen sie doch völlig, um die Identität der Vorgänge der Mutation im Freien und im Garten darzuthun. Die Culturen sind nur ein be- quemeres und sichereres Mittel, um zu erfahren, was in der Natur geschieht. Ob die O. seintillans und die später in meinem Garten zum ersten Male beobachteten Arten auch von Zeit zu Zeit in den Samen des Hil- versumer Feldes entstanden sind, weiss ich nicht. Ich betrachte es aber als sehr wahrscheinlich. Mehrere unter ihnen traten bei mir so selten auf, dass es kaum Aussicht auf Gelingen hätte, wenn ich ein. noch- maliges Auftreten durch sehr umfangreiche Aussaaten hervorrufen wollte. Und um so geringer wäre die Aussicht, sie aus im Freien eingesammelten Samen zu bekommen. Es liegt andererseits gar kein Grund vor, on. dass die erste Beobachtung einer neuen Form stets auch gerade mit dem ersten Sichtbarwerden zusammenfiel. Die O. elliptica und O. spathulata fand ich dort bereits im ersten Jahre meiner Besuche (1886); die O. lata im folgenden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese und andere Typen auch in früheren Jahren aufgetreten sein werden, sei es als Pllänzchen, sei es auch nur in den Samen. Jedenfalls ergiebt sich, dass das Mutiren unserer Nachtkerzen bereits im vollen Gange war, als meine Beobachtungen und Versuche anfıngen, dass diese somit nicht das wirkliche erste Entstehen der neuen Arten betreffen, sondern nur die Art und Weise, wie die im latenten Zustande vorhandenen Formen im Laufe der Jahre an’s Licht treten. Die allererste Entstehung wird sich aber wohl so lange der sicheren Beobachtung entziehen, bis es möglich sein wird, Mu- tationen willkürlich hervorzurufen. Und davon sind wir noch weit entfernt. Für die Meinung, dass die O. Lamarckiana sich im Jahre 1886 bereits in einer mutablen Periode befand, sprechen auch die beiden Das Mutiren in der Natur. 217 damals dort in voller Ausbildung gefundenen Unterarten. Ich meine die bereits mehrfach erwähnten O. laevifolia und O. brevistylis. Die letztere fand ich dort 1886 in zwei Exemplaren in Blüthe, die erstere in Rosetten, welche 1887 blühten und mir die Samen für die oben be- schriebene Laevifolia-Familie lieferten. Da diese beiden neuen Arten sonst nirgends beobachtet wurden, darf man annehmen, dass sie an Ort und Stelle entstanden sind. Dafür spricht auch der Um- stand, dass ich sie zum ersten Male nur in einigen wenigen Exem- plaren, und diese an einer ganz kleinen Stelle beisammenstehend fand, die O. laevifolia an der nordwestlichen, die O. brevistyis an der nord- östlichen Ecke des Feldes. Ob sie aber erst vor Kurzem oder bereits vor mehreren Jahren entstanden waren, lässt sich nicht mehr ent- scheiden. Dass sie sich behaupten konnten, während dies den übrigen neuen Arten niemals gelang, liegt wohl zu einem grossen Theile daran, dass sie beim Keimen und im Rosettenalter den gewöhnlichen Nacht- kerzen in keiner Beziehung nachstehen. Es ist schliesslich noch die Frage zu besprechen, ob man an- nehmen soll, dass die beobachtete Mutationsperiode auf dem Felde zu Hilversum angefangen hat, oder bereits vorher. Die rasche Ver- mehrung auf jenem Felde, seit der ersten Aussaat 1870, wäre nach den gewöhnlichen gärtnerischen Erfahrungen eine plausible Ursache des Mutirens. Innerhalb etwa 8 Generationen (1870—1886) hatten es die Pflanzen von einigen wenigen zu vielen Hunderten von Individuen gebracht, und dabei nicht nur die Samen des Haupt- stammes, sondern auch diejenigen der Zweige und Nebenzweige aus- gestreut. Vielleicht war aber die Mutationsperiode bereits viel älter, wenn auch nicht für sämmtliche neue Formen, doch wohl für die am häufigsten auftretenden (z. B. O. lata und O. nanella). Da ich jedoch den Anfang nicht beobachtet habe, so scheint es mir einstweilen gleichgültig, wann und wo dieser stattgefunden hat. Hauptsache ist, dass die Culturen im Garten uns verrathen, was in der freien Natur stattfindet, was sich dort aber der Beobachtung grossentheils entzieht. 218 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. II. Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. A. Die beiden älteren Arten. $ 10. Oenothera laevifolia. Wie bereits mehrfach hervorgehoben, wuchsen auf dem ursprüng- lichen Fundorte bei Hilversum zwischen den zahlreichen Pflanzen von Lamaror’s Nachtkerze zwei neue ER O. laevifolia und O. brevistylis. Diese Formen sind, so viel ich habe erfahren können, sonst nirgendwo beobachtet. Es ist somit klar, dass sie entweder an Ort und Stelle (also nach 1870) oder einige Zeit vor der Einfuhr der Stammes- art aus dieser entstanden sein müssen. So lange meine Beobach- tungen dauern, haben sie sich dort behauptet und auch regelmässig: geblüht, weshalb es unmöglich ist, zu entscheiden, ob sie sich einfach, bezw. unter Kreuzungen fortge- pflanzt haben, oder gelegentlich neu von der Lamarckiana hervor- gebracht worden sind. In meinen Culturen sind sie nie entstanden. Ich habe mir stets viele Mühe gegeben, sie auf- zusuchen, aber sie nie gefunden. Die O. brevistylis kann Einem nicht entgehen, für die Laevifolia habe. ich meine Beete genau durch- mustert. So suchte ich z. B. 1895 während der Blüthe über tausend Pflanzen von der O. Lamarckiana- Familie nach, ohne darunter auch nur eine Spur einer glattblätterigen Pflanze anzutreffen. Ebenso in späteren Jahren, als ich jährlich mehrere Tausend blühende Oenotheren in Cultur hatte. Zu wiederholten Malen habe ich die Oenothera laevifolia (Fig. 56) aus Hilversum nach Amsterdam übergebracht. Theils als Samen, theils indem ich Blüthenstaub auf castrirte Blumen meiner O. La- marckiana legte. Aus den im Freien frei befruchteten Samen Fig. 56. Oenother«. laevifolia, blühender Sprossgipfel. Oenothera laevifolia. 219 erhielt ich z. B. 1888 nur 2°/,, dagegen 1895 etwa 50 %/, O. laevifolia. Erstere Zahl ist offenbar durch die damalige Seltenheit der fraglichen Art bedingt, indem dadurch die Aussicht auf gegenseitige Befruchtung dieser Pflanzen zwischen den vielen anderen eine sehr geringe war. Die Merkmale unserer Art liegen theils in den Blättern, theils in den Blüthen. Die Blätter der Oenothera Lamarckiana sind unschön durch die vielen Buckeln, welche die Spreite zwischen den Nerven, und nament- lich im mittleren Theile den Hauptnerven entlang, trägt. Sie rühren offenbar von einem unrichtigen Verhältniss im Wachsthum von Spreite und Nerven her; die Spreite wächst zu stark in die Fläche, oder die Nerven wachsen zu wenig in die Länge. Meiner O. laevifolia mangeln diese Buckeln als Regel; die Blätter sind meist völlig glatt, dadurch schöner und gleichmässiger in ihrer grünen Farbe. Dazu sind sie etwas schmäler und meist etwas kleiner als m en m die der Stammesart, obgleich die Diffe- renz so gering ist, dass sie in den ah Bereich der individuellen Variationen = fällt. Es deutet dieses darauf hin, eg 3 dass das Fehlen der Buckeln durch m geringeres Wachsthum der Spreite zwi- Fig. 57. Querschnitte von Blättern in . ?2/; der natürl. Grösse, um die Buckeln 3 , schen den Nerven hervorgerufen wird. „; len, EL, Mil eitasy ihren von Ausser bei O. Lamarckiana kom- O0. lata, 2. ganzer Querschnitt durch ee O. lata, 3. ganzer Querschnitt durch men Buckeln auch bei einigen von A dieser abstammenden neuen Arten vor, m Nittölnerven. z. B. bei O. lata und O. albida. Ich habe daher in Fig. 57 Querschnitte dieser Blätter abgebildet, da deren buchtiger Lauf die Unebenheiten der Oberfläche am deutlichsten wiedergiebt.! Ganz ähnlich wie die letztere Art verhält sich die O. Lamarckiana, während die Blätter von O. lata viel stärker mit Buckeln bedeckt sind (Fig. 58). Die normalen Blätter von O. laevi- foiia würden im Querschnitt einfach eine gerade Linie mit hier und dort hervorspringenden Nerven bilden. ! Um die Figuren möglichst naturgetreu zu machen, habe ich die frischen Blätter ganz in eine dicke Schicht von Glycerin-Gelatine eingebettet und sie darin geschnitten, nachdem diese erstarrt war. Ich nahm Querschnitte von z.B. 1 em Dicke, legte auf deren Fläche ein Blättchen trockener Gelatine und zeichnete darauf die grüne Linie in ihrer normalen Dicke nach. Würde man Streifen aus dem Blatte oder gar dünnere Querschnitte isolirt behandeln, so würden offenbar sehr leicht einzelne Buckeln sich abflachen. 220 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. | Unvollkommene Ausbildung des Merkmales kommt bei der Laew- folia, auch nach vieljähriger Zuchtwahl, noch stets vielfach vor. Bis- weilen findet man an einer glattblätterigen Pflanze hier und dort ganz | Fig. 58. Wurzelblatt aus einer Ro- sette von Oenothera lata, von der Rückseite gesehen, um die sehr zahlreichen Unebenheiten (Buckeln) der Blattfläche zu zeigen. vereinzelte Buckeln auf den Blättern, oder die Blätter haben alle, oder fast alle, einige wenige Buckeln. Oder es nimmt am Stengel von oben nach unten die Glätte der Blätter allmählich ab. Es ist sogar bisweilen nicht möglich, ‚ eine scharfe Grenze zwischen der La- marckiana und den glattblätterigen Pflan- zen zu ziehen, oder den Procentsatz der letzteren genau zu ermitteln. Wenn man von seinen Pflanzen nicht nur den Hauptstamm wachsen lässt (wie ich es jetzt gewöhnlich in meiner Cultur der Raumersparniss wegen thue), sondern auch die Seitenstämme, welche aus den Achseln der Wurzelblätter ent- stehen, so beobachtet man häufig, dass diese das Laevifolia-Merkmal ausgepräg- ter besitzen, als der centrale Stengel; sie können dann wesentlich dazu bei- tragen, etwaigen Zweifel aufzuheben. Die vereinzelten Buckeln hat die O. laevifolia offenbar von der Stammes- art geerbt; sie sind als rudimentär ge- ‘wordene Eigenschaft oder als Atavismus aufzufassen." Dergleichen Ueberbleibsel scheinen, bei genauem Studium, in der Natur viel allgemeiner zu sein, als man gewöhnlich anzunehmen geneigt ist. Sie gehören in eine Gruppe mit DELPINo’s Subvariationen.? ! Aehnlich wie die gestielten Blätter der jungen Pflänzchen von O. nanella. Vergl. S 18 dieser Abtheilung und die Zusammenfassung am Schlusse des ganzen Abschnittes. ® Subvariationen nennt Derrıno die häufig am unteren Ende von Aesten vor- kommenden Abweichungen vom Typus der Art in Blattform, Blattstellung u. s. w. Sie sind meist atavistischer Natur. 1883. Vergl. Derrıno, Teoria generale della Fillotasst. Oenothera laevifolia. 221 Buckeln findet man auch bei vielen anderen Pflanzen. Sie sind vom biologischen Standpunkte als nützliche Einrichtungen zu be- trachten. „Je mehr die Form der Blattspreite dazu angethan ist, durch mulden- oder blasenförmige Vertiefungen das durch Thau oder Regen zugeführte Wasser auf der Blattspreite zu erhalten,“ sagt von RüMkER!, „um so länger kann die Pflanze dieses Wasser zu ihrem Nutzen aus- beuten.“ In wie fern die O. laevifolia im Freien durch den fraglichen Mangel den anderen Nachtkerzen nachsteht, ist schwer zu entscheiden; sicher ist nur, dass ich sie dort stets viel schwächer und kleiner fand, als die Stammesart. Im Versuchsgarten, wo Wassermangel fast nie eintritt, haben diese Eigenschaften keine Bedeutung. Ein ganz besonderes Merk- mal der O. laevifolia bilden die Blüthen an den schwächeren Trieben. Sie haben schmale Blu- menblätter, und zwar in allen Graden von. der breiten, umge- ‘kehrt-herzförmigen Figur der kräftigsten Blüthen, bis zu ovalen oder elliptischen Formen, wie sie in Fig. 59 bei e und d abge- bildet sind. Diese Eigenschaft ist sehr constant. Mittelst dieser habe Fig. 59. Oenothera laevifolia. Blüthen mit x f schmalen Blumenblättern: «@ von der Seite, ich die neue Form überhaupt » von oben gesehen, c, d einzelne Blüthen- zuerst aufgefunden; erst in der blätter, ausgebreitet. In « ist das vordere i . Blumenblatt entfernt worden. a, c, d von Cultur lernte ich nachher die 1894, b von 1899. glatten Blätter kennen. Schwache Pflanzen tragen solche Blüthen bereits am Hauptstengel, stärkere entweder nur oder doch anfangs nur an den Seitenzweigen. Im Hochsommer sind diese Blüthen noch selten, aber gegen den ‚Herbst, oft schon Anfang September, nimmt ihre Anzahl allmählich zu. Cultivirt man nur starke Pflanzen und diese ohne Seitenzweige, so kann ein Jahr vorübergehen, ohne dass die Erscheinung sich zeigt, sonst aber sah ich sie alljährlich. Diese Blüthen haben etwas besonders Anziehendes. Als nach- trägliche Bildungen sind sie kleiner und oft zarter als die normalen, grossen und starken Blumen; ihre Farbe ist häufig blasser, ihre Form 1 von Rünker, Zuekerrübenzüchtung. 1894. S. 6. 222 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. freier, da die Petalen einander oft nicht oder nur wenig berühren. Ich habe sie vielfach in meine Notizbücher eingeklebt oder auch photographirt. Ich finde sie vom Jahre 1887 an bis heute stets die- selben, in derselben Abwechselung der Formen, aber ohne Fort- schritt in irgend einer Richtung, wie denn meine neuen Arten über- haupt sich in ihren Eigenschaften vom ersten Auftritt an constant zeigen. Die Form der Petalen schwankt oft in derselben Blüthe (Fig. 59). Im Freien, auf dürrem Sandboden waren die Blumenblätter schmäler als in der Cultur auf gedüngter Erde. Dort waren sie meist doppelt so lang als breit, hier war das Verhältniss der Breite zur Länge meist wie 2:3. Die Ausbuchtung am oberen Ende der normalen Blumen- blätter fehlt ihnen; sie sind hier stumpf abgerundet. Ihre grösste Breite liegt in der Mitte. Zu den schmälsten Petalen, welche ich beobachtet habe, gehören solche, welche bei 3cm Länge nur 1 cm breit waren. Aber wie gesagt, zwischen diesen und den breiten, um- gekehrt-herzförmigen Petalen der kräftigsten Blumen findet man alle Uebergänge. Ovale Blumenblätter sind keineswegs auf die O. laevifolia be- schränkt. Sie sind z. B. normal für O. elliptica.a An sehr schwachen Trieben fand ich sie sogar bei O. biennis vereinzelt vor. In ihren übrigen Eigenschaften steht die O. laewifolia der O. Lamarckiana sehr nahe. Eigentlich weicht sie von dieser in keinem wichtigen Punkte ab. Sie ist ebenso gross, hat ebenso grosse Blumen und Früchte, denselben Habitus u.s. w. Allerdings ist ein Beet von O. laevifolia bereits in einiger Entfernung von einer Gruppe O. Lamarckiana zu unterscheiden, und zwar an Merkmalen, welche oft mehr, oft weniger ausgebildet sind, welche aber stets in derselben Richtung liegen. Die Farbe der Blüthen, namentlich der späteren, pflegt etwas blasser zu sein; die conischen Blüthenknospen etwas dünner, die Bracteen der Inflorescenz etwas schmäler, das Ganze feiner und zarter. Aus früher erwähnten Gründen (86) habe ich in den ersten Jahren die O. laevifoia sich mit der O. Lamarckiana frei kreuzen lassen. Seit 1894 habe ich sie, unter Ausschluss des Insecten- besuches mittelst Beuteln von Pergamin, mit ihrem eigenen Pollen befruchtet. Seitdem ist die Art völlig constant, und wähle ich jähr- lich die schönsten Exemplare mit den glattesten Blättern als Samen- träger aus. a Oenothera m: 223 $ 11. Oenothera brevistylis. Diese Form wurde von Juus Pons ausführlich untersucht und beschrieben.” Und da ich sie in meinen Culturen fast ausschliesslich zu Kreuzungsversuchen benutzt habe, verweise ich für eine eingehende Beschreibung und für die Abbildungen auf den zweiten Band. Hier "habe ich nur ihre äusseren Merkmale, den ersten Fund auf dem Felde und ihre Samenbeständigkeit zu erwähnen. In meinen eigenen Culturen ist diese, während der Blüthe leicht kenntliche Art, niemals aus einer en hervorgegangen. Im Rosettenalter und vor: der Blüthe ist sie nur ganz unsicher zu unterscheiden. Mehr abgerundete Blätter ändern das Bild ein wenig, und in den Bastardeulturen: ist oft bereits vor der Stengel- bildung zu sehen, ob viele oder nur wenige Brevistylis-Pflanzen zu er- warten sind. Erst wenn die Stengel sich zur Blüthenentfaltung an- ‚schicken, wird der Unterschied deutlich, und kann man anfangen, -die beiden Formen abzuzählen. Die junge Inflorescenz bildet am Gipfel des Stengels eine Rosette von abgerundeten Blättern .bei O. brevistylis, und von zugespitzten bei O. Lamarckiana. : Kurze Zeit darauf erscheinen die Blüthenknospen, kürzer, dicker und stumpfer als die zierlich conischen Knospen der Stammart. Dann öffnen sich die Blüthen, ebenso gross und ebenso schön, sogar noch etwas kräf- tiger als bei LamArcrk’s Nachtkerze. Auf den ersten Blick sieht es ‚aus, als ob sie weder Griffel noch Narben hätten; bei näherer Unter- suchung liegen diese im Schlunde der Blüthenröhre verborgen. Daher der Name O. brevistylis oder kurzgrifflige Nachtkerze. Die Länge des Griffels ist sehr variabel; oft liegen die Narben ganz innerhalb der Röhre, oft ragen sie daraus 1 cm weit hervor. Aber zwischen den längsten Griffeln der O. brevistylis und den kürzesten der O. Lamarckiana -bleibt stets ein grosser Unterschied vorhanden. Sind die. Blüthen verblüht, so vertrocknen sie bis zur Frucht, werden dann aber nicht abgeworfen, wie bei O, Lamarckiana, sondern ‚bleiben noch lange Zeit an der unreifen Frucht haften. Von Weitem sind die Pflanzen daran zu erkennen, mehr aber noch an dem Klein- bleiben ihrer Früchte. Diese sind im ausgewachsenen Zustande kaum grösser als die Fruchtknoten der blühenden Blumen; sie bleiben aus- wärts gebogen, dem Tragblatte angedrückt, und zwischen den breiten ‚Ohren an dessen Grunde fast verborgen. In einiger Entfernung sieht 1 Jusıus Porz, Ueber Variationsweite bei Oenothera DD uneu Va bot. Zeitschrift. Jahrgang 1895. Nr. 5 und 6.' Tafel X. 224 Das Auftreten der einzelnen neuen Arlen. es aus, als ob die Pflanze unbefruchtet geblieben wäre. Inzwischen trägt die Lamarckiana ihre grossen und schönen, aufgerichteten Früchte weit zur Schau (Taf. ]). Völlig verblühte Exemplare sind also fast noch leichter zu er- kennen als blühende, aber gewöhnlich blüht die Brevistylis bis noch später in den Herbst hinein .als die O. Lamarckiana. Die Narben sind abweichend gebaut, nicht dick und cylindrisch, sondern mehr blattartig verbreitert. Sie nehmen den reichlich von den Hummeln angeführten Pollen ganz gut auf, und gestatten die Entwickelung der Pollenschläuche, welche sich in normaler Weise verlängern, den Fruchtknoten zahlreich erreichen, aber nur wenige Samenknospen befruchten. Manche Exemplare setzen überhaupt keinen Samen an, andere nur sehr wenig. Der Fruchtknoten erstreckt sich etwas oberhalb der Einpflanzung der Blüthenröhre in den Griffel hinein.! Die O. brevistylis war die erste Unterart von Oenothera Lamarckiana, welche ich ‘beobachtete. Ich fand sie im ersten Jahre meiner Unter- suchungen, 1886, und zwar im August, als die Art, wie früher er- wähnt (S. 187), nur noch eine kleine Ecke in Nordosten des Feldes bedeckte. Es waren zwei Individuen, die eine im dichtesten Theile des Standortes, die andere mehrere Hundert Schritt davon entfernt. Beide waren kräftig entwickelt, an mehreren Stengeln blühend, und schienen mir zweijährig zu sein. Ich fand sie zuerst am 20. August, wo sie mir aus einiger Entfernung durch die fast völlig mangelnde Fruchtbildung auffielen. Mittelst dieses Merkmales war es leicht, sicher zu stellen, dass nur diese beiden Individuen kurzgrifflig blühten, denn alle übrigen waren fertil. Der Theil des Feldes, wo diese beiden kurzgrifiligen Exemplare standen, wurde 1889 ganz ausgerodet und ausgegraben, dagegen fand ich Ende Juli des genannten Jahres eine Gruppe von zwölf kurz- griffligen Individuen fast in der Mitte des Feldes, wo 1886 noch keine Oenothera gestanden hatte. An dieser Stelle hat sich die neue Art seitdem erhalten, und sie wurde nahezu jährlich beobachtet. Im Sommer 1894 sah ich dort sechs solche Pflanzen in Blüthe; im August 1898 waren sie ziemlich zahlreich, in den übrigen Jahren meist nur vereinzelt. Bis 1895 meinte ich, dass die O. brevistylis überhaupt keinen Samen geben könnte, und hielt ich sie somit für rein männlich. In diesem Jahre sammelte ich sehr zahlreiche Früchte und erhielt ! Vergl. die Abbildungen im zweiten Band. Oenothera gigas. 2 eine geringe Menge von Samen, welche mir aber leer zu sein schienen. Ich säte sie daher im nächsten Frühling nicht. Als ich dann im folgenden Herbst nochmals meine Cultur eifrig untersuchte, kam ich zu der Ueberzeugung, dass es sich dennoch lohnen würde, jene Samen auszusäen. Es keimten aus der ganzen Samenmenge von 200 Früchten etwas über 300 Samen. Also I—2 Samen pro Frucht. Diese Samen waren durch Hummeln, inmitten anderer Oulturen, befruchtet, also theilweise gekreuzt. Dennoch lieferten sie auf 83 blühenden Pflanzen 69, also 83 %/, O. brevistylis. In diesem Ergebniss fand ich ausreichende Veranlassung, eine künstliche Selbstbefruchtung in Pergaminbeuteln zu versuchen. Ich wählte dazu 1897 diejenigen Exemplare aus, deren Narben am meisten aus der Blüthenröhre hervorragten. Denn ich hatte mich überzeugt, dass diese im Allgemeinen auch die grössten Früchtchen liefern. Den geernteten Samen säte ich 1898 aus, und zwar getrennt für die fünf Samenträger. Die Pflanzen blühten vom August bis zum October fast sämmtlich; sie waren ohne Ausnahme kurzgrifflig. Es waren 175 Exemplare, theils blühend, theils mit Blüthenknospen, in denen ich die Grösse des Griffels beobachten konnte. Bei Selbstbefruchtung ist die Oenothera brevistylis somit völlig constant, trotz ihrer sehr geringen Fruchtbarkeit. B. Die constanten jüngeren Arten. $ 12. Oenothera gigas. Tafel I. Oenothera gigas ist in meinen Culturen die schönste, aber seltenste neue Art. Während die meisten neu auftretenden Formen schwächer sind als die Mutterart, ist sie in fast jeder Hinsicht kräftiger, grösser, schwerer gebaut. Allerdings mit geringen Unterschieden. Eine Ver- gleichung unserer beiden farbigen Tafeln I und II zeigt solches ohne Weiteres; beide sind Gipfel der Hauptstämme im September, zur Zeit, wo die unteren Früchte bereits völlig ausgewachsen sind. Eine Krone von Blumen und Knospen ziert dann die Gipfel der Pflanzen. Den Anfang der Blüthe zeigen die Figuren 60 und 61. Bei warmem Wetter öffnen sich die Blüthen der Oenotheren Abends, meist 2—3 pro Tag, selten mehr, bisweilen weniger, je nach dem Wetter. Sie werden von Hummeln und Noctuiden (Plusia Gamma, Agrotis segetum u. 8. w.) befruchtet und welken häufig bereits während der Nacht. Die ganze Pracht der Blüte, welche meine DE VRIES, Mutation. I. 15 226 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. Beete jeden Abend mit einem leuchtenden hellgelben Kleide über- zieht, ist dann am nächsten Morgen verschwunden. Nur bei kühlerem oder gar kaltem Wetter sind die Blumen am nächsten Tage noch geöffnet; selten aber so weit wie am Abend. Das Oeffnen der Blüthen ist von E. RozE beschrieben worden.! Wenn man an einem schönen Sommerabend, früh, wenn die Pflanzen Fig. 60. Oenothera gigas. Gipfel des Stammes beim ersten Anfang der Blüthe. Von der linken Blume @ ist ein Kronenblatt abgebrochen worden, b verwelkende Blume. fast nur Knospen und ver- „welkte Blüthen zeigen, mit künstlichen Befruchtungen oder Castrirungen längere Zeit zwischen den Pflanzen beschäftigt gewesen ist, und man blickt dann auf, so sieht man plötzlich alles überall in Blüthe. Eine halbe Stunde genügt, um den ganzen Garten in volle Pracht zu bringen. Während des Tages be- reitet sich der Vorgang vor. Die Knospen sind gelb ge- worden; ihre Antheren sind völlig geöffnet. Die Kelch- zipfel haften noch an einan- der, doch werden sie im Laufe des Tages längs einer Naht aufgerissen. Allmäh- lich schwellen die Kronen- blätter an, zersprengen den Kelch förmlich, werfen ıhn rückwärts und entfalten sich inihren äusseren Hälften. Es geschieht solches plötzlich, in wenigen Minuten oder Secunden. Dann stehen die Kronenblätter in einem Kreuz; ihre inneren Längs- hälften noch zusammengerollt. Doch auch diese entrollen sich bald und befreien die Antheren und den Griffel. ı E. Roze, L’&panouissement de la fleur de !’Oenothera suaveolens Desf. Bull. Soc. bot. France. T. XLII. S. Nov. 1895. p. 575. Oemother a giga8. 227 En allen diesen Punkten ala sich ı meine neuen Arten wie die Mutterart und wie die übrigen verwandten Formen, O. biennis u. 8. w. Ein Hauptmerkmal der Oenothera gigas liegt in der Breite der Petalen. Diese bedingt einerseits die mehr geschwollenen Blüthen- knospen, und andererseits die am Grunde mehr gerundete Form der geöffneten Blumen. Die Petalen sind in dieser Art, wie bei LAMARcK’S Nachtkerze, umgekehrt-herzförmig, in der Mitte des yaaaı Gipfels mehr oder weniger tief ausge- buchtet. Bei beiden Arten sind sie meist etwa 3cm hoch; dazu kommt aber bei O. Lamarckiana eine Breite von 5, bei O. gigas von etwa 6cm. In den übrigen Maassen und Verhältnissen der Blüthen fand ich keine nennenswerthen con- stanten Unterschiede. Die Grösse der Blumen nimmtbei beiden Arten gegen den Herbst allmählich ab, und ist auch sonst individuellen Verschiedenheiten unterworfen. Ebenso die Länge der Kelchröhre und der Kelchzipfel, die Höhe der Narben und der Antheren u.s.w. Im Allgemeinen ist die Gigas mehr gedrungen, und bilden die Blü- then bei gleicher Anzahl eine mehr geschlossene und deshalb schönere Krone um den Stammes- gipfel herum. Einen sehr erheblichen Unter- schied bilden die Früchte, sie sind bei O. gigas etwa halb so lang, A Va aber ebenso dick wie bei der Fig. 61. Oenothera Lamarckiana. Gipfel Q : des Stammes beim ersten Anfang der Blüthe Mutterart. Daher sind die Sa- a die unterste Blume, im Verwelken be- men weniger zahlreich; sie sind griffen, auf das Tragblatt herabgefallen. aber grösser und schwerer. Oenothera gigas ist fast in jeder Beziehung stärker als die an- deren Arten. Man sieht das zunächst an ihrem Stengel, von dem es sowohl auf den Tafeln I und II, als in den Figuren 60 und 61 so- fort auffällt. Bereits von unten herauf ist der Stamm kräftiger, daher 15* 228 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. auch mehr gerade aufwärts wachsend, die jungen emportreibenden Pflanzen scharf unterscheidend. Noch in der Blüthenregion ist der Durchmesser fast doppelt so gross als bei ©. Lamarckiana, bei dieser meist 5—6 mm, bei Gigas oft 10 mm erreichend. Der ganze Sten- gel ist viel dichter besetzt mit zahlrei- chen breiten, dem Stengel abwärtsmehr oder weniger ange- drückten Blättern. Die zahlreichen Blät- ter bedingen kürzere Internodien; im blü- henden Theile fand ich diese zwischen den nahezu ausgebil- deten Früchten oft nur 0-5 cm lang. Auch sind die Blät- ter breiter, die Brac- teen grösser, und daher die frucht- tragende Aehre we- niger nackt. An den kurzen, dicken, dicht zusam- mengedrungenen Früchten sowie den grösseren, mehr ge- rundeten Blumen habe ich überhaupt die Art erkannt, als sie sich im Jahre a 1896 zum ersten Fig. 62. Ausgewachsene Wurzelblätter im August, den Male in meinen Cul- Unterschied in der Breite zeigend. L Oenothera Lamarckiana. G O. gigas. turen zeigte. Obgleich die Gigas-Pflanzen sich auch vor der Blüthe, in jeglichem Alter, leicht von den übrigen unterscheiden lassen, so hält es doch schwer, eine genaue Beschreibung von ihren Blättern zu geben und zwar wegen Oenothera gigas. 229 der sehr starken individuellen Variabilität, welche bei ihr noch be- deutender ist, als bei der Mutterart. Es ist namentlich die grössere Fig. 63. Oenothera gigas. Junge Pflanze im Juni, einige Tage vor dem Verpflanzen (1/5). Breite, welche den Unterschied bildet; die Länge und die Form sind sonst dieselben. Auch sind die Blätter der Gigas eher mehr als weniger von Buckeln überdeckt (vergl. S. 210 und Fig. 62). Die Breite aber, welche gewöhnlich etwa 4—6 cm beträgt, kann in einzelnen Individuen auf 2 cm herabsinken, ohne dass sonst der Habitus der Gigas dadurch be- einträchtigt würde. Die Stengel- blätter pflegen auf kürzerem Stiel zu sitzen und stärker gezähnt zu sein, namentlich am Grunde, als bei 0. Lamarckiana. In ihren Achseln entwickeln sich die Zweige zahlreicher zu kleinen beblätterten Stielen, die Beblätte- rung des ganzen Stengels noch dichter machend, ähnlich wie bei der O. oblunga (Fig. 71.) Sehr auffallend ist der Unter- schied zwischen den jungen Ro- setten der Wurzelblätter im Juni, Fig. 64. Oenothera Lamarckiana. Junge Pflanze im Juni, einige Tage vor dem Verpflanzen (!/,). e die Keimblätter. 230 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. zur Zeit, wenn sie auf den Beeten ausgepflanzt zu werden pflegen. Die Cotylen sind dann noch anwesend und im Absterben begriffen, oder bereits abgefallen. Unsere Figg. 63 und 64 zeigen die Pflanzen in diesem Alter; bei fast gleicher Verkleinerung (!/,); die Gigas- Rosetten sind dicht, rund, in sich geschlossen, sehr stark; die La- marckiana sind lockerer, mit länger gestielten Blättern, welche den verfügbaren Raum auf dem Boden weniger gut ausnützen. Fig. 65. Keimpflanzen von Oenotkera Lamarckiana (L) und von O. gigas (G). Bei ce die Cotylen. Vergrössert, in der Mitte oben die natürliche Grösse. Die Oenothera gigas ist in meinen Culturen der O0. Lamarckiana nur einmal aufgetreten, und zwar im Jahre 1895 in einem einzigen Exemplar. Ich habe dieses im $ 3 (S. 158) beschrieben. Schon bei der ersten Keimung ihrer Samen zeigte sie sich als constant. Yy £ Fig. 66. Aeltere Keimpflanzen von Oenothera Lamarckiana (L) und O. gigas (@). c die Cotylen. Verkleinert auf ?/,. Die Keimlinge sind bereits beim ersten und zweiten Blatte leicht und deutlich von denen der Mutterart zu unterscheiden (Fig. 65). Ihre Blätter sind nicht nur breiter, sondern auch am Grunde mehr oder weniger deutlich herzförmig. Das letztere Merkmal verliert sich in den nachfolgenden Blättern allerdings allmählich, doch bleibt der breitere Grund noch längere Zeit ein bequemes Merkmal (Fig. 66). Oenothera rubrinervis. 2at Mittelst dieser Merkmale habe ich mich in der zweiten, dritten und vierten Generation (1897, 1899, 1900) von der Constanz der neuen Art überzeugt, indem ich stets nur eine verhältnissmässig kleine An- zahl (etwa 20—40) bis zur Blüthe und zur Fruchtreife heranzog. Ausser in den Hauptculturen ist die O. gigas noch zwei Mal aufgetreten, und zwar 1898 aus den Samen einer Pflanze von O. sub- linearis, welche selbst unmittelbar aus der Lamarckiana-Familie hervor- gegangen war, und 1899 aus einer Kreuzung von O. lata mit O. hirtella, einer nicht zu meinen mutirenden Familien gehörigen, in aus dem Handel bezogenen Samen zufällig gefundenen neuen Art. Es gelang mir, die ersten dieser beiden Gigas-Pflanzen zur Blüthe zu bringen, aber die Pflanze war einjährig und das Blühen begann erst Anfang October; zu spät, dass die Samen noch reifen könnten. Ich habe die Pflanze darauf sehr genau mit der gleichzeitig blühenden Cultur, welche ich aus Gigas-Samen erhalten hatte, verglichen; sie stimmte mit dieser in allen wesentlichen Punkten überein. Die aus O. lata mutirte Pflanze starb als Rosette, ohne einen Stengel zu treiben. $ 13. Oenothera rubrinervis. Im Gegensatz zu der äusserst seltenen Oenothera gigas gehört die O. rubrinervis zu den häufigeren meiner neuen Arten. Sie ist im Ganzen 66 Mal aus der O. Lamarckiana oder aus anderen Familien oder ÖOulturen durch Mutation entstanden. Unter den Vorfahren dieser 66 Mutanten war selbstverständlich von Anbeginn meiner Ver- suche an keine gleichnamige Pflanze gewesen, und wie die oben mit- getheilten Stammbäume zeigen, waren den einzelnen Mutationen meist mehrere controlirte Generationen vorangegangen. Diese 66 unvermittelt entstandenen Pflanzen gehörten einem ein- zigen Typus an. Sie wichen von einander nicht weiter ab, als die Individuen einer Cultur, welche aus den Samen von Einer unter ihnen hervorgegangen war. Die einzelnen, bereits S. 161 kurz aufgezählten und demnächst ausführlicher zu beschreibenden Merkmale waren an jeder dieser Pflanzen, soweit untersucht, genau dieselben. Einmal als junge Rosette erkannt, konnten die späteren Eigen- schaften vorhergesagt werden, wie in dem Beispiel der Mutation Fig. 48 S. 197, wo dieselbe Pflanze auch nachher im blühenden Zu- stand photographirt wurde (Fig. 49 S. 199). Sehr oft habe ich die Mutanten einzeln oder gruppenweise zusammen gepflanzt, nachdem ich sie erkannt hatte, um dann im Laufe des Sommers ihrer weiteren Entwickelung folgen zu können. 232 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. Es scheint mir sehr wichtig, dass die verschiedenen Eigenschaften, wie die rothe Färbung, die Sprödigkeit, die schmalen Blätter, das behaarte Aussehen u. s. w. niemals getrennt aufgetreten sind. Dass solches unter den 66 Einzelfällen dem Zufall zuzuschreiben sein sollte, ist offenbar unmöglich. Es ist völlig unzweifelhaft, dass irgend eine Verbindung zwischen ihnen besteht. Es ist dieser Schluss um so siche- rer, als auch bei Kreu- zungen die Rubrinervis- Charaktere bisher stets verbunden geblieben sind, wie wir im zweiten Bande sehen werden. Und genau dasselbe gilt, sowohl in Bezug auf die Mutationen als für die Kreuzun- gen, von den übrigen, in meinen Culturen aufgetretenen neuen Arten. Jede Art hat ihren Typus, welcher ihren ganzen Habitus ändert; dieser Typus greift so zu sagen in das ganze Getriebe \ ihres Wesens ein, PA nahezu keine Eigen- Fig. 67. Oenothera rubrinervis. Ganze blühende Pflanze, schaft = In er I 1900. Vierte Generation einer Rubrinervis-Familie, welche gan völlig unberührt 1895 aus Samen von O. Lamarckiana entstanden war, ]assend. und zwar in dem S. 184 dargestellten Stammbaume, also Di ER aus der zweiten Zamarckiana-Generation der Haupteultur. 1eses innıze Band zwischen den gleichzeitig und unvermittelt, aber auch ausnahmslos zusammen auf- tretenden Eigenschaften bedarf offenbar der Erklärung. Zwei Möglich- keiten bieten sich dar. Erstens wäre es denkbar, dass alle jene sichtbaren Eigenschaften nur Aeusserungen einer einzigen Umwandlung sind, dass nur eine einzige elementare Eigenschaft bei jeder Mutation neu auftritt. Andererseits aber könnte man annehmen, dass die Oenothera rubrinervis. 233 Elemente der Art bei den Mutationen gruppenweise sich verändern. Dass die Eigenschaften in den Pflanzen zu kleineren oder grösseren Gruppen derart verbunden sind, dass oft vorzugsweise ganze Gruppen statt der einzelnen Einheiten auf äussere Einwirkungen reagiren, oder bei Kreuzungen und Züchtungen fest mit einander im Zusammenhang bleiben, kann kaum einem Zweifel unterliegen, und ist namentlich aus theoretischen Gründen mehrfach hervorgehoben worden. ! Sollte es später gelingen, die Gruppe der Rubrinervis-Eigenschaften in ihre Einheiten zu zerlegen, so wäre natürlich deren zusammen- gesetzte Natur bewiesen. So lange dieses aber nicht der Fall ist, scheint es mir einfacher und mit den Thatsachen besser in Ueberein- stimmung zu sein, die andere Annahme zu wählen, und jene Merk- male sämmtlich als Aeusserungen einer einzigen elementaren Eigen- schaft aufzufassen. Wie es kommt, dass dieselbe Eigenschaft die Bastfasern dünn- wandig, die Blätter schmal und graugrün, die Nerven und Früchte röthlich macht, ist dann allerdings eine vorläufig nicht zu beantwor- tende Frage. Aber auch die chemischen Verbindungen haben mehrere Eigenschaften, deren Zusammenhang man noch bei Weitem nicht immer erklären kann, von denen man aber dennoch überzeugt ist, dass sie sich sämmtlich einmal aus der Constitution des Körpers werden ableiten lassen. Ohne hierauf eingehen zu wollen, möchte ich nur hervorheben, dass der sogenannte Habitus einer Art durch eine einzige Mutation entstehen kann. Oder richtiger, dass er durch eine solche derart verändert werden kann, dass die neue Art in jedem Alter und in jedem Organ sich von derjenigen unterscheidet, aus der sie ent- standen ist. Vergleichen wir die in 8 1—8 gegebenen Stammbäume und Mu- tationstabellen, so finden wir für O. rubrinervis die in der Tabelle I, S. 234 verzeichneten Fälle erwähnt. Es kommt hier im Mittel auf tausend Keimpflanzen etwa ein Exemplar von O. rubrinervis. Ausserdem entstand O. rubrinervis noch 12 Mal aus anderen Culturen, welche Seitenzweige der erwähnten Stammbäume waren ‚oder aus Kreuzungsversuchen stammten. Ich fasse diese in der in Tabelle II, S. 234 gegebenen Uebersicht zusammen. Wie man sieht, ist in diesen speciellen Culturen das Verhält- niss der O. rubrinervis zu der Gesammtzahl der Keimpflanzen weit günstiger, als in den Versuchen der ersten Tabelle. Es beträgt jetzt ! Intracellulare Pangenesis. S. 21, 33 u. s. w. 234 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. etwa 6 pro Tausend. Doch ist nicht zu vergessen, dass hier nur diejenigen Fälle angeführt sind, in denen die fragliche Art wirklich auftrat, und dass eine sichere Verhältnisszahl somit erst dann ge- wonnen werden würde, wenn die Versuche, in denen keine Rubrinervis entstand, mit aufgezählt würden. Die Anzahl würde dann etwa auf das erstere Maass von 0-1 Proc. zurückgehen, wenn nicht noch geringer ausfallen. ; Durch Mutation entstandene Individuen von Oenothera rubrinervis. IE Keimlinge Entstanden aus: Jahr Gesammt- Dee anzahl 0. Domorcina 2... Hase I 33 800 32 Nebenzweig derselben Familie . . . 1895, 1896 10 000 9 O:loevifoln m eg = 4 Ola Rh SORT BR ne 1900 2.000 3. OR0BlongaL N EN. 1897 45 1 OÖ. Lamarckiana x O. nanella . . . 1897 1 051 23 ONlotarxOnonella.: Se a 1895, 1900 - 222 2 O. Lamarckiana auf dem wilden Standort 1889 — 1 Zusammen 54 Ex. Durch Mutation entstandene Individuen von Oenothera rubrinervis. 10% Keimlinge Entstanden aus: Jahr Gesammt- - Pubrnees anzahl O0. Lamarckiana, zweijährige Cultur . 1897 164 2 O. lata, durch Mutation aus ©. La- marckiana entstanden, 1. Generation 1896 326 & O. lata x O. Lamarckiana . . . .. 1898, 1900 750 2 Oszlata, x Of brevisiygus a. 1896 266 1 O. nanella, x O. brevistyhs: . - - - 1895 270 1 O. seintillans x O. nanela . . . . 1898 95 1 O. Lamarckiana, entstanden aus O. Lam. x. O8 seimüillans WE 1900 80 1 Zusammen 1951 12 Ex. Oenothera rubrinervis. 235 Es ist bereits oben hervorgehoben, dass die O. rubrinervis schon als junge Pflänzchen zu erkennen sind. Schüssel oder Kästen mit reiner Saat fallen bereits ganz früh auf; die zwischen anderen Arten stehenden Mutanten aber werden erst später kenntlich (Fig. 48 auf S. 197). Die schmäleren Blätter mit ihren röthlichen Nerven und ihrer graufilzigen Oberfläche, die viel weniger stark ausgebildeten Buckeln und die Sprödigkeit, namentlich der Stiele, unterscheiden sie aber deutlich von der ©. Lamarckiana und den übrigen Formen (vergl. Fig. 68 mit den früher für O. Lamarckiana gegebenen Figg. 64—66). Fig. 68. Keimpflanzen von Oenothera rubrinervis in verschiedenen- Altersstadien: c die Cotylen, A mit den zwei ersten Blättern, Anfang Mai; bei A’ die natürliche Grösse derselben. B 14 Tage älter, Ü Rosetten gegen Ende Juni, kurz vor dem Verpflanzen, bei dichtem Stand. Vergl. Fig. 64 S. 229 und Figg. 65 und 66 S. 230. Auch in den Sammelfiguren 52 und 54 (S. 207 und 209) fällt die schmale Form sofort auf. Je älter die Pflänzchen werden, um so grösser wird der Unterschied, um so sicherer also die Diagnose. In den meisten Fällen habe ich die Mutanten nach einer etwas späteren Zeit ausgeschieden, als die Rosetten etwa die doppelte Anzahl der Blätter von der in Fig. 68 C dargestellten hatten. Die abgebildeten Pflanzen sind selbstverständlich keine Mutanten gewesen, sondern aus Samen von O rubrinervis hervorgegangen, und in ihren Culturen als möglichst typische ausgewählt. Im späteren Leben verliert sich die blassrothe Farbe der Nerven 236 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. mehr oder weniger, je nach der Cultur und namentlich je nach der Besonnung. Dagegen tritt der rothe Farbstoff in den Inflorescenzen, den Blumen und den unreifen Früchten wieder stärker hervor und trägt dann sehr wesentlich zur Charakteristik der Art bei. Die jungen Internodien der Traube zeigen sich roth angelaufen, namentlich sind die kleinen Hügel, auf denen die grösseren Haare stehen, in der Mehrzahl röthlich. Die Kelchzipfel sind röthlich gefleckt, die Blumen- blätter dunkeln beim Verwelken stärker nach als die der O. La- marckiana, darin an die beim Verwelken roth werdenden Blüthen an- derer Arten, wie O. stricta, O. missouriensis, und namentlich der weissen O. acaulis erinnernd. Die Früchte zieren sich mit vier breiten dunkelrothen Längsstreifen, einem auf der Mitte jeder Klappe. Aber auch hier wechselt die Rothfärbung nach der Lage und nach den Individuen, und wie es scheint, innerhalb ziemlich weiter Gren- zen; bisweilen hat man sogar Mühe, sie auf- zufinden. Rothfärbung tritt Fig. 69. Oenothera rubrinervis. A Querschnitt des Stengels, auch bei O. Lamarcki- m Mark, p inneres Phloöem, % Holz, 5 Bastbündel auf «Na auf, namentlich auf der Grenze zwischen dem äusseren Phlo&m und der Rinde. den unreifen Früchten. B Ein Theil eines solchen Bündels, stärker vergrössert. Ab : C Ein solcher Theil eines Bastbündels von O. Zamarckiana. Aber nur in unter- geordneter Weise, während bei der O. rubrinervis die rothen Streifen weit zierlicher und auffallender sind. | Im Bau der ganzen Pflanze zeigt die O. rubrinervis grössere Nei- gung, Seitenzweige aus dem Stengel zu bilden, und geringere, solche aus der Rosette hervorzutreiben (vergl. die Figg. 49 und 67 mit Fig. 55. Doch hat hierauf die Cultur einen sehr grossen Einfluss. Inflorescenz und Blüthen sind zwar bereits in einiger Entfernung von denen der gewöhnlichen Nachtkerzen zu unterscheiden, doch lässt eine eingehende Vergleichung fast. keine Merkmale finden, welche man beschreiben könnte. Unsere Tafel I könnte, abgesehen vom Mangel der rothen Farbe, ebenso gut eine O. rubrinervis vorstellen, wie eine O. Lamarckiana (vgl. Fig. 43 auf S. 162). Die weissgraue Farbe der Blätter, welche auch bei O. albida, dort aber in höherem Grade, gesehen wird, beruht nur scheinbar auf Oenothera rubrinervis. 237 stärkerer Behaarung. In Wirklichkeit ist es die gewölbte Oberfläche der nicht zu Haaren ausgewachsenen Zellen der Epidermis, welche diesen Lichteffect bewirkt. Diese Wölbung ist bei der O. Lamarckiana nur eine unbedeutende. In $ 3 dieses Abschnittes (S. 161) wurde bereits hervorgehoben, dass eine ganz besondere Eigenschaft der O. rubrinervis durch die Sprödigkeit ihrer Stengel gebildet wird. Diese, sowie die Blattstiele, sind sehr zerbrechlich, brechen bei Stössen leicht quer ab, in Folge der zu schwachen Ausbildung der Bastbündel. Nur zweijährige Pflan- zen oder sehr kräftige einjährige zerbrechen im Spätherbst wie die O. Lamarckiana unter Abreissung der Bastbündel. Auf dem Querschnitt! des unte- ren Theiles eines blühenden, fast 1 Meter hohen Stengels sieht man im August die Bastfasern in einem Kreise auf der Aussenseite des Holz- körpers und der Innenrinde. Es sind, wie die Fig. 69 A zeigt, zer- streute Bündelchen. Auf ihrer Innenseite liest das Leitbündel- gewebe oder Phloö&m. Vergleicht man einen Querschnitt mit einem solchen aus ©. Lamarckiana bei völlig gleichem Alter, so sieht man auf den ersten Blick keinen Unterschied. Hier wie dort sind Bastbündel vor- GR TER handen, und zwar in gleicher Menge a a und Stärke. Betrachtet man aber etwa !/, natürlicher Grösse, um den die einzelnen Bündel bei stärkerer Puchtigen Lauf des spröden Stengels zu Vergrösserung, so sind die der O, La- N marckiana etwas kräftiger, namentlich in der Richtung des Radius, und tangential weniger ausgedehnt. Hauptsache ist aber die Dicke ! Ueber die Anatomie des Stengels im Allgemeinen vergl. Francıs Rausay, On the Stem- Anatomy of certain Onagraceae. Minnesota botanical studies. Bull. Nr. 9. Nov. 1896. S. 674. 238 Das Zu eten en einzelnen neuen Arten. der Wände, Fialang, wie unsere ma 69 va B und C zeigt, bei der O. rubrinervis oft nur halb so stark ist, als wie bei der Mutterart. ‘Je nach der Stärke der Individuen, d.h. also je nach dichterem oder lockererem Stande, nach später oder früher Aussaat u. s. w. variiren die Stengel in diesem Merkmale sehr. Schwache Exemplare entbehren der Bastbündel allerdings nicht, doch sind sie wenigzellig und ihre Zellen radial zusammengedrückt und tangential ausgedehnt. Sie behalten diese Eigenschaften oft bis zur Zeit der Frucht- reife bei. Im Spätherbst wird auf der Innenseite des Bastbündellereiee eine dünne Korkschicht sichtbar, welche ohne Zweifel bereits lange vorher angelegt war und welche vielleicht zu den äusserlich sicht- baren Eigenschaften der Pflanze in ursächlicher Beziehung steht. Vermuthlich im Zusammenhang mit der beschriebenen geringeren Festigkeit steht die ganz eigenthümliche mangelhafte Streckung des Stengels, welche namentlich bei schwächeren Individuen und Culturen ein auffallendes Merkmal unserer Art bildet. Die Fig. 70 zeigt dieses für eine junge Pflanze aus einer Topfeultur im Anfang des Juli. Der Stengel ist nicht gerade, sondern hin und her gebogen; die Biegungs- stellen liegen in den Knoten, und die Insertion des Blattes findet sich auf der äusseren, convexen Seite. Diese Biegungen gleichen sich beim späteren Wachsthum nicht aus, sondern sind oft an den fruchttragenden Pflanzen noch sehr charakteristisch. Je stärker die Stengel sind, um so weniger ist dieses Merkmal ausgebildet, doch auch an ganz kräftigen, einjährigen, mit Früchten schwer beladenen Hauptstämmen fand ich es zurück. Ueber die Constanz der O. rubrinervis aus Samen habe ich oben in $3 (S. 162) und $5 (S. 193) Versuche mitgetheilt. Sie lehrten, dass bereits die durch Mutation entstandenen Individuen aus ihren Samen eine gleichförmige Nachkommenschaft geben, und dass diese Eigenschaft in den nächsten Generationen unverändert bleibt. Auch scheint die Mutabilität der O. rubrinervis eine sehr geringe geworden zu sein, und sich auf die Production von Lata und Leptocarpa, welche wir bereits S. 192 kennen lernten, zu beschränken. $ 14. Oenothera oblonga. Tafel VI. Noch weit häufiger als O. rubrinervis trat O. oblonga in meinen Culturen aus der O. Lamarckiana, sowie aus anderen Arten und aus Kreuzungen auf. Ich habe sie im Ganzen etwa 700 Mal aus einer Oenothera oblonga. 239 [4 anderen Form hervorgehen sehen, indem jedesmal der Stammbaum der Vorfahren und ihre reine Befruchtung gesichert waren. Der Ge- sammtumfang der betreffenden Aussaaten betrug dabei etwa 70000 Keimpflanzen. Man könnte somit fast von einem Mutationsco&fh- cienten sprechen, und diesen dann für unsere Art auf etwa 1°/,, für O. rubrinervis auf etwa 0-1 °/,, für O. gigas aber auf veran- 0-01 °/, schlagen. Woher rüh- ren diese Unter- schiede? Sie kön- nen wohl nicht der Unvollständigkeit der Beobachtung zugeschrieben werden. Die O. oblonga habe ich zumerstenMaleim Jahre 1895 unter meinen damaligen umfangreichen Aussaaten be- merkt;infrüheren Jahren wird sie ohne Zweifel auch wohl dagewesen, aber meiner Auf- merksamkeit ent- gangen sein. Ihre jungen Rosetten Fig. 71. Oenothera oblonga. Oberer und mittlerer Theil einer Pflanze im September, um den eigenthümlichen Verzweigungs- typus mit rosettenähnlichen Seitenzweiglein zu zeigen (vergl. dazu die Fig. 67 aufS. 232). Auf !/, der natürl. Grösse gebracht. Die Nebenfiguren bei derselben Verkleinerung: @ Blüthe; ein Kronenblatt ist abgebrochen und bei 5 isolirt dargestellt; c eine Blüthe ohne die Krone, die anfangs abwärts, im oberen Theile aber aufwärts gebogenen Staubfäden und den Griffel mit den 4 Narben zeigend; d ausgewachsene Früchte; e eins ihrer Tragblätter. sind ebenso leicht kenntlich, wie die der O. rubrinervis, in der Regel schon in einem etwas früheren Alter (beim 6. Blatt), aber ohne dass solches eine wesentliche Differenz bedingen könnte. 240 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. Die fraglichen Unterschiede erhielten sich in den verschiedenen Familien im Laufe der Jahre ziemlich constant. Selbstverständlich nicht genau, aber doch wohl stets derart, dass bei etwas grösseren Saaten die Oblonga-Mutanten wesentlich zahlreicher auftreten als die Rubrinervis. Die Beobachtungen erstrecken sich nur über sechs Jahre (1895 — 1900), einen vermuthlich kleinen Abschnitt der ganzen Mu- tationsperiode. Dennoch scheint mir die Folgerung gestattet, dass die einzelnen neuen Arten wenigstens eine gewisse Zeit lang in constanten und unter sich wesentlich verschiedenen Zahlenverhältnissen aus der Mutterart hervorgehen. Diese Betrachtung führt zu zwei, wie mir scheint, nicht un- wichtigen Folgerungen. Erstens der Wahrscheinlichkeit, dass die O. Lamarckiana andere Mutationen in noch geringerer Menge hervorzu- bringen im Stande ist, z. B. eine auf die Million. Und in diesem Fall hätten sie grosse Aussicht, in meinen Culturen nicht aufgetreten zu sein. Mit anderen Worten, könnte man den Umfang der Ver- suche noch 10, 100 oder mehr Male grösser machen, so würde man wohl noch weitere Mutationen erhalten, und unter diesen vielleicht bessere als die bisher aufgetretenen. Vielleicht wären dann auch wohl gelegentlich die O. laevifolia und die O. brevistylis noch einmal durch Mutation entstanden. Eine zweite Folgerung bezieht sich auf die ursächlichen Ver- hältnisse. Kann man vielleicht durch künstliches Eingreifen den „Mutationscoöfficienten“ verändern? Kann man die Verhältnisszahl für die selteneren Mutanten günstiger machen?! Und wenn man einmal die Methode dazu ausgearbeitet hat, kann man dann auch diejenigen Mutationen erhalten, welche bis jetzt vermuthlich zu selten sind, um sich zu zeigen? Es leuchtet ein, dass ein derartiges experimentelles Studium des Mutirens innerhalb der Mutationsperiode grosse Aussicht bietet, auch einmal den Anfang einer solchen Periode bewirken zu können. Oder mit anderen Worten, eine augenblicklich immutable Art mutabel zu machen. Doch kehren wir zu den Zahlen zurück, welche die Grundlage für diese Auseinandersetzungen bilden. Ich stelle zunächst die Werthe aus den Hauptfamilien zusammen und füge daran zwei Versuche mit Nebenzweigen dieser Gruppen. ! Vergl. die S. 185 in $ 5 mitgetheilte Beobachtung, bei der die Anzahl der Mutanten bei schlechter Keimung bis zu 40°/, heranstieg. Oenothera oblonga. 241 ‘Durch Mutation entstandene Individuen von Oenothera oblonga. T. Keimlinge Jahr ° Gesammtzahl Oblonga °/, Oblonga A. Aus O. Lamarckiana. Hauptifamjlie - .-.. ..-. .. 1895 14 000 176 1-3 Be. RT 1896 8.000 135 1 Nebenzweig... .". . .. 1995 10 000 69 0-7 Zweijährige Cultur . . . 1897 1 660 31 1.9 Summa 33 660 411 1-2 B. Aus ®. lata. mata-Bamiie : 2.2... 1900 2.000 7 0-3 Lata-Culturen . . . . . 1895—1898 2350 28 1-2 Summa 4 350 35 0-8 ©. Aus O. nanella. Onanellazr u. 2: 1897 760 1 0-1 Trotz der erheblichen Abweichung, durch die Lata-Familie 1900 verursacht, stimmen die Zahlen der Gruppen A und B im Allgemeinen mit einem ziemlich constanten Verhältniss von etwa 1°/, hinreichend überein, während die Zahl für O. nanella die Regel bestätigt, dass die neuen Arten weniger mutiren als die Lamarckiana selbst, oder die mit ihrem Pollen befruchtete Lata. In Kreuzungen erhält sich das Verhältniss im Allgemeinen auf derselben Höhe. Ich stelle die früher mitgetheilten mit einer Reihe später zu besprechenden Versuchen zusammen: Durch Mutation entstandene Individuen von Oenothera oblonga. 1l. Nach Kreuzungen. Entstanden aus: Jahr ar ne O. Lamarckiana x O. nanella . . 1897—1899 8283 38 O0. Lamarckiana x O0. brevistylis . 1898 293 4 O. lata x O. nanella... . . . _.. 1895—1900 1586 14 O. lata x O. brevistyis . . . . 1895—1899 498 6 Pmloia 2 Orlaerifolia.. ..... . 1895 127 4 O. rubrinervis x O. nanella . . . 1895 1 500 4 O. seintillans x O. nanella . . . 1898 95 3 OÖ. Lamarckiana. x O. biennis . . 1896 30 2 O0. Lamarckiana % O. suaveolens . 1897 200 8 Summa 12 612 830: DE VRIES, Mutation. I. 16 242 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. Bei diesen Zählungen habe ich, je nach Umständen und je nach den Jahren, die Keimpflanzen beim 6.—8. Blatte oder später beur- theilt. In vielen Fällen habe ich sie ausgepflanzt, um sie noch während des ganzen Sommers beobachten zu können. Fig. 72 stellt den Moment der Beurtheilung in ähnlicher Weise dar, wie dieses be- reits früher (Taf. IV und Fig. 48 auf S. 197) bei der Beschreibung der Lata-Familie geschehen ist. Es gilt hier aber eine Cultur der O. Lamarckiana, welche am 14. März 1900 ausgesät und am 14. April Fig. 72. Eine Mutation in einer Cultur von Oenothera Lamarckiana. Entstehung von O. albida und O. oblonga aus ihnen ungleichen Vorfahren. Nach einer Ende Mai 1900 gemachten Photographie. Auf der mittleren Querreihe in der Mitte die kleine Albida-Pflanze; auf der unteren Reihe in der Mitte die O. oblonga; die übrigen Keimlinge sind O. Lamarckiana. ?/, der natürl. Grösse. in Holzkästen ausgepflanzt wurde. Der Samen war 1895 auf drei in Pergaminbeuteln mit ihrem eigenen Pollen befruchteten Pflanzen ge- erntet. Die ganze Aussaat lieferte auf 183 Keimpflanzen vier Muta- tionen, zwei zu O. albida und zwei zu O. oblonga. Zufällig standen von beiden neuen Formen je ein Exemplar so dicht neben einander, dass sie zusammen photographirt werden konnten, und habe ich des- halb diese Stelle für die Fig. 72 ausgewählt. Die Pflanzen standen in den Kästen in Reihen; in der Mitte der Figur sieht man das durch seine Kleinheit sofort auffallende Pflänzchen von O. albida, Oenothera oblonga. 243 darunter die im Bilde kaum zu unterscheidende O. oblonga. Beim Auspflanzen auf dem Beete habe ich diese beiden Exemplare von den übrigen getrennt und auf ein besonderes Beet gepflanzt, um ihre weitere Entwickelung zu verfolgen. Sie wuchsen zu kräftigen Rosetten heran, welche die Merkmale der betreffenden Typen schön und deut- lich zeigten, sind aber im Herbst von Erdraupen zerfressen worden. So lange das 6. bis 8. Blatt noch nicht ausgewachsen ist, sind die Pflänzchen allerdings oft zu erkennen, aber schwer zu beschreiben. In Fig. 73 ist bei A ein ganz junger Keimling mit den beiden ersten Blättern, bei 5 eine Rosette im Alter von zwei Monaten dargestellt. Es sind dazu keine Mutanten gewählt, sondern Aussaaten von auf künstlich befruchteten Oblonga-Exemplaren gewonnenen Samen. Diese Culturen keimten völlig rein und zeigten eine grosse Einförmigkeit. Die beiden ersten Blätter oberhalb der Cotylen sind breit, mit breitem Grunde, sogar etwas breiter als die der ©, Lamarekiana im ent- sprechenden Alter (Fig. 65Z auf S. 230. Man sieht dieses in Fig. 73. Keimpflanzen von Oenotkera oblonga. A wenige Wochen alt, vergrössert (??/,). B zwei Monate alt, verkleinert (?/,). ec Cotylen. 1—6 Altersfolge der Blätter. Fig. 734 und B bei 1 und 2, und ebenso in Fig. 72. Darauf folgen aber bald schmälere Blätter, oft in langsamer, oft aber auch in rascher Abnahme der Blattbreite in den auf einander folgenden Num- mern. Die Fig. 73B ist in dieser Beziehung mehr typisch als die O. oblonga der Fig. 72, aber die übrigen in demselben Kasten be- findlichen Keimlinge verhielten sich im Allgemeinen in derselben Weise. Ich habe deren mehrere zu gleicher Zeit photographirt, aber es lohnt sich nicht, auch die anderen abzubilden. Beim Fortsetzen der Cultur wurden die Merkmale immer deut- licher, die Blätter länger und schmäler, die Nerven breiter, blasser und auffallender. Das Wachsthum im dritten Monat ist ein viel rascheres oder doch viel ausgiebigeres als in den beiden ersten; am Ende jenes Zeitraumes waren die Rosetten vielblätterig und kräftig, und fähig, mit dem Hervortreiben des Stengels anzufangen (Fig. 74). Thun sie das nicht, so wachsen sie während des Sommers zu be- 16* 244 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. deutenderer Grösse und viel höherer Blätterzahl heran, ohne dabei ihr Aussehen wesentlich zu ändern. Ein sehr typisches Blatt mit seiner Nervatur findet man in Fig. 54 auf S. 209 abgebildet. Treiben die Rosetten im Juni und Juli ihre Stengel, so bekommt man im ersten Sommer blühende Pflanzen. Diese sind äusserst ty- pisch, schmal und steif, und nicht oder fast gar nicht verzweigt. Auf einem Beete von etwa 200 blühenden Pflanzen fand ich fast, keine Unterschiede im Aussehen. Das höchste Exemplar hat bei 60cm Länge angefangen zu blühen, und blüht Ende September: in einer - Höhe von 1m. Es hat einen einzigen Seitenzweig, nur 10cm lang und mit nur zwei Blumen; übrigens trägt es in den Blatt- achseln kurze, rosettenartig be- blätterte Zweiglein am ganzen ‚mittleren Stengeltheil entlang. Es entsteht dadurch ein ganz charakteristisches Bild (Fig.71), das sich in sämmtlichen Exem- plaren der Cultur wiederholt, und auch in früheren Jahren ge- nau dasselbe war. Die erwähnte Cultur trug mit der genannten Ausnahme keine blühenden Seitenzweige. Fig. 74. Oenothera eine Rosette mit zu za u > Filnmms ee Wurzelblättern, Ende Juni. anfängt zu blühen (Fig. 44 auf S. 163), ist der blühende Spross- gipfel noch reich beblättert. Höher hinauf werden die Bracteen kürzer. Und da auch die Früchte kurz bleiben, entsteht wiederum ein sehr auffallendes Merkmal, welches man sofort erkennt, wenn man Tafel VI mit Tafel 1 vergleicht. Denn die Früchte erreichen im 'ausgewachsenen Zustande nur etwa ein Drittel der Länge von jenen der O. Lamarckiana. Dementsprechend sind die Samen schwach und spärlich entwickelt und ist die Ernte meist nur eine sehr dürftige, oft sogar völlig versagende. Viel besser verhalten sich in dieser Beziehung die zweijährigen Pflanzen, welche bei grösserer individueller Kraft zahlreiche gut aus- gebildete, wenn auch kleine Früchte mit ausreichendem Samenquan- tum hervorbringen. Diese Früchte sind zwar nicht länger, aber viel dicker wie diejenigen der einjährigen Exemplare, etwa so Sross wie die der O, lata. Oenothera oblonga. . 245 Bei kräftiger ‚Cultur treiben sowohl die einjährigen als auch die zweijährigen Exemplare aus den Achseln der Wurzelblätter einige oder mehrere Seitenstengel hervor, wie-solches früher für eine Mu- tante aus der ZLata-Familie abgebildet wurde (Fig. 50 auf S. 200). Aber auch dann bleiben die Stengel selbst fast unverzweigt, was namentlich bei einer Vergleichung mit O. rubrinervis (Fig. 49 auf S. 199) auffällt. Ueber die Blüthen und Blüthenknospen der O. oblonga ist wenig mitzutheilen (vgl. Taf. VI. Sie haben denselben Bau wie die der Mutterart; nur sind sie, dem schwächeren Wachsthum cz ganzen Pflanze entsprechend, era kleiner. Samen von O. oblonga habe ich zum ersten Male 1895 geerntet; da die Pflanzen aber zu spät blühten, hatte ich sie nicht künstlich befruchtet, und erhielt somit aus den Samen nur einen geringen Procentsatz von Oblonga-Pflanzen. Im Jahre 1896 erntete ich da- gegen, theils auf zweijährigen, theils auf einjährigen Pflanzen, Samen nach künstlicher Selbstbefruchtung. Die Pflanzen waren sämmtlich Mutanten, d. h. also ohne gleichförmige Vorfahren aus der Lamarckiana hervorgegangen, und zwar aus der Hauptlinie der Lamarckiana- Familie (Stammbaum S. 157). Die zweijährigen hatten somit drei Generationen ’reiner Lamarckiana vor sich; ‚die einjährigen aber deren vier. Es waren sieben Pflanzen in da: ersten und zwölf in der zweiten Gruppe. Diese Samen habe ich Mitte April 1897 ausgesät, und etwa Mitte Juni zeigte es sich, dass sie in den Keimschüsseln bei hinreichend weitem Stand ihre Merkmale deutlich ausgebildet hatten. Mit Aus- nahme der beiden ersten breiten Blätter (S. 242) waren die übrigen schmal, langgestielt und mit den charakteristischen breiten, weisslichen Hauptnerven versehen. Eine Vergleichung mit Culturen gleichen Alters von gewöhnlichen Nachtkerzen zeigte dann bald, dass in den Oblonga- Saaten überhaupt keine Lamarckiana-Pflänzchen vorhanden waren. Die Saaten waren völlig rein, mit alleiniger Ausnahme von einem in O. rubrinervis, von einem in O. elliptica und von zwei in O. albida um- gewandelten Keimlingen (8. 210). Ausserdem war an einer Pflanze ein Blatt in einen Becher umgebildet. Ich habe die Keimpflanzen für 17 von den 19 erwähnten Samenträgern gesondert gezählt und be- reits oben (S. 164) mitgetheilt, dass sie mit den genannten Ausnahmen alle ©. oblonga waren (1683 + 64 = 1747 Exemplare). In demselben Jahre habe ich noch von drei weiteren Mutanten, welche in anderen Culturen entstanden waren, nach künstlicher Selbst- befruchtung Samen gewonnen, um zu erfahren, ob sie auch bei 246 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. anderer Abstammung sofort, in der ersten Generation, samenbeständig sein würden. Es ist erforderlich, die Abstammung der drei fraglichen Pflanzen einzeln zu beschreiben. Die erste stammte aus der Laewfolia-Familie, deren Stamm- baum auf S. 192 dargestellt wurde, und zwar in der folgenden Weise: 1895 —1896 O. oblonga 1894 O. rubrinervis 1893 O. rubrinervis, 5. Gen. x O. nanella, 4. Gen. Gleichnamige Zwischengenerationen 1889 O. rubrinervis O. nanella el en 1888 : O. Lamarckiana 1886— 1887 O. laevifolia aus Hilversum. Die drei ersten Generationen dieses Stammbaumes, sowie die Rubrinervis von 1893 sind auf S. 192 erwähnt; die O. nanella war 1889 zweijährig und seitdem einjährig. Im Sommer 1893 befruchtete ich castrirte Blumen von O. rubrinervis mit Blüthenstaub von O. nanella und erhielt aus diesen Samen 1894 gewöhnliche Rubrinervis-Pflanzen, welche mit ihrem eigenen Pollen befruchtet wurden, und hauptsäch- lich wiederum Rubrinervis lieferten. Unter diesen waren aber vier O. oblonga (S. 241), von denen es gelang, eine als Rosette zu über- wintern. Sie blühte 1896 in einer Pergamindüte und lieferte aus ihren Samen 16 Keimlinge, welche sämmtlich O. oblonga waren; diese wurden einzeln in Töpfen weiter cultivirt. Die zweite Oblonga-Mutante stammte gleichfalls aus der Laewifolia- Familie, und zwar von einer selbstbefruchteten Lamarekiana- Pflanze aus der Hauptlinie in 1894, welche selbst also theils Laevifolia, theils Lamarckiana-Vorfahren, aber wenigstens bis 1886 zurück keine anderen gehabt hatte. Diese Oblonga gehörte also der neunten Generation der Familie an. Sie war zweijährig, wurde in Pergamin selbstbefruchtet und gab aus ihren Samen 297 Keimlinge. Unter diesen befand sich wiederum 'eine O. albida; alle übrigen waren aber reine O. oblonga. Die, dritte Pflanze gehörte einem Seitenzweig der Lamarckiana- Familie an. Im Stammbaum S. 157 sind für 1888 fünf ZLata-Pflanzen verzeichnet. Eine von ihnen, durch eine schöne Ascidie ausgezeichnet, blühte 1889; ihre Samen wurden aber erst 1894 ausgesät. Diese zweite Generation war einjährig, aus ihren Samen erhielt ich 1895 Oenothera albida. 247 128 Lamarckiana, 18 Lata, 3 Nanella und 10 Oblonga. Von letzteren blühte eine Pflanze, nachdem sie überwintert war, also 1896, in Perga- min. Von ihren Samen keimten 91, welche sämmtlich O. oblonga waren. Es geht aus diesen Versuchen hervor, dass die Samenbeständig- keit der O. oblonga, wenn sie als Mutante auftritt, von der Natur ihrer Vorfahren unabhängig ist. Diese dürfen Lamarckiana, Laevifolia, Rubrinervis, Nanella rein oder gemischt sein, stets ist die ©. oblonga bereits in der ersten Generation constant. Nur mit der Ausnahme, dass sie auch die Mutabilität ihrer Vorfahren geerbt hat, und wie diese im Stande ist, andere Typen (Albida, Rubrinervis) hervorzubringen. Im Ganzen sind somit in diesem Jahre 1747 +16-+297+91=2151 Keimpflanzen behufs dieser Versuche beurtheilt worden. Ich habe später, 1899 und 1900, von denselben Samen nochmals ausgesät, und zwar mit demselben Erfolg. Von der zweiten Generation habe ich bis jetzt noch keine Samen geerntet, obgleich die Pflanzen in den genannten drei Jahren reichlich blühten. ‘Sie waren aber ein- jährig und trugen somit nur unvollkommene Früchte. $ 15. Oenothera albida. Tafel III und IV. Eine schöne, aber schwächliche Art, welche namentlich als Keim- pflanze sehr zurückbleikt, aber gerade dadurch in den jungen Aus- saaten sehr leicht auffällt. Vergl. Fig. 48 auf S. 197 und Fig. 72 auf S. 242. Zwischen den viel stärkeren Keimpflanzen der Mutterart leiden die Schwächlinge sehr stark, und es gelingt nur selten, die Mutanten zu blühenden Pflanzen heranzuziehen. Erst im Jahre 1895 gelang es mir, wie bereits $ 3 S. 160 be- merkt wurde, eine Rosette zu überwintern; sie lieferte mir 1896 die ersten Blüthen der neuen Art, aber noch keine Samen. Früher hatte ich die Albida allerdings jährlich und meist in nicht unerheblicher Zahl beobachtet, aber sie für krankhafte Individuen gehalten und daher nicht weiter beachtet. Aus diesem Grunde beziehen sich die jetzt folgenden Zahlen ausschliesslich auf die Jahre 1895—1900. Die jungen Albida-Pflänzchen sind so schwach, dass sie nur mit der grössten Sorgfalt am Leben erhalten werden können. Auf dem wilden Fundort fand ich sie nie (S. 215), und wenn es ihnen etwa dort gelingen sollte zu keimen, würden sie sicher zu Grunde gehen, bevor sie einen Blüthenstengel bilden könnten. Denn genau so war es in der ersten Periode meiner Öulturen im Versuchsgarten bis 1896. Ich habe aus diesen Thatsachen bereits oben (S. 160) die Folgerung 248 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. a dass e es wa unmöglich ist, dass. meine e früheren - Mutanten jemals eine ähnliche Pflanze unter ihren Vorfahren gehabt haben, weder als Pollen lieferndes, noch als Samen tragendes Exemplar. Ist es einmal gelungen, Sa- men von O. albida zu erhalten, so sind die Schwierigkeiten der Kei- mung stets noch bedeutende, aber es gelingt doch, die Pflänzchen von Anfang an kräftiger werden zu lassen. Einzelne bleiben stets schwach, sehen genau aus wie Fig. 75. Oenothera albida. Junge ‚Keim- die jungen Mutanten, andere ne m en Ve en treiben breitere Blätter und wach- sen allmählich zu kleinen Ro- setten heran, welche anscheinend ebenso stark sind, wie z. B. die der O. oblonga im gleichen Alter (vergl. Fig. 75). Auch weichen sie von diesen (Fig. 73) in der Form zuerst ein wenig ab. Aber die Farbe ist stets weissgraulich, was auch die Veranlassung zu ihrem Namen gewesen ist. So- gar 1!/, Monate nach der Kei- mung sind die Blätter dieser beiden Arten noch von derselben Breite (Fig. 53 auf S. 208); nur sind die der O. albida etwas stumpfer an der Spitze als die anderen. Beim weiteren Wachs- thum nehmen die Blätter der Rosette gewöhnlich an Breite zu (Fig. 76), die am Stengel werden aber wieder schmäler (Fig. 54a auf S. 209). An den beschriebenen Merk- : malen gelingt es stets leicht, die Fig. 76. Oenothera albida. Junge Pflanze , = au Mona ’ Albida- Mutanten zu erkennen. Viele unter ihnen habe ich weiter eultivirt, namentlich 1895 and in den nächstfolgenden Jahren, in der Hoffnung, sie blühen und Samen tragen zu lassen. Ich hatte dadurch eine sehr ausreichende Gelegenheit, mich von der Bichtier 3 der anfänglich gestellten Diagnose zu überzeugen. BEN: Oenothera albida. 249 Gerade weil sie so frühe und so leicht kenntlich ist, eignet sich diese Form besonders zu vergleichenden Studien über die Häufigkeit ihres Auftretens aus der O. Lamarckiana und aus anderen Arten. Es ergab sich dabei, dass diese Häufigkeit, dieser Mutationscoöfficient, ein sehr wechselnder ist, und womöglich noch stärkeren Schwankungen unterliegt, als sie die drei oben beschriebenen Arten, unter sich ver- glichen, zeigen (0-01 °/, für O. gigas, O-1°/, für Rubrinervis und 1°), für Oblonga). Die beiden folgenden Tabellen weisen dieses aus. Ich stelle in ihnen wiederum die früheren Zahlen, aus $ 2—5, mit den aus anderen Culturen erhaltenen zusammen: Durch Mutation entstandene Individuen von Oenothera albida. I. Keimlinge Entstanden aus: Jahr Gesammt- Ol © in Albsda zahl O. Lamarekiana-Familie. . . . . 1895—1899 28 500 56. 7. -,.0-2 O. Lamarckiana, Pflanzen aus Kreu- £ zungen ee el 1898 4 599 2 0-05 Nebenzweig der Lamarckiana-Familie 1895 10 090 255 2-5 Eee ae 1900 2 000 42 2-1 en 2 RS 13896—1899 751 31 4-0 O. Lamarckiana, zweijählig . - . 1896 164 15 9.0 Der Gehalt an Albida-Mutanten wechselt somit zwischen 0-05°/, und 9°/,. Aehnlich, wenn auch mit geringeren Schwankungen, verhält es sich bei den Aussaaten, für welche die Samen durch Kreuzungen gewonnen waren: Durch Mutation entstandene Individuen von O. albida. 1. Nach Kreuzungen. Keimlinge Kreuzung: Jahr Gesammt- 0, albida °], Altida zahl O. Lamarckiana x O. nanella., . . : 1897 1341 1 0-1 Oalata x ©, nanella .:. - ... ..1895-1900 1586 15 1-0 O. lata x O. rubrinervis . ... 1900 1844 37 2.0 Dalai x O0. semtillans - . :» - . 1900 636 2 0-3 OÖ. seintillans x O. nanella. . . . 1898 95 3 3.0 O. lata x O. sumaveolens . : . . . 1900 743 13 2.0 250 Das Auftr 'eten der einzelnen neuen Arten. 2 in diesen beiden Versuchsreihen eelann Mutanten, deren Zahl im Ganzen 472 beträgt, stimmten stets in allen ihren Merk- malen, soweit diese untersucht werden konnten, überein. Blühende Pflanzen von O. albida (Tafel III) unterscheiden sich von allen übrigen Unterarten von O. Lamarckiana und von dieser selbst ebenso leicht und sicher wie die Keimpflanzen und die Rosetten der Wurzelblätter. Sie erreichen selbst im Spätherbst nur eine Höhe von höchstens einem Meter, dagegen pflegen sie im mittleren Theil des Stengels eine Gruppe blühender Zweige zu tragen, ähnlich wie O. rubrinervis. Ihre Blätter sind schmal (Fig. 54 A, S. 209), zugespitzt und sehr uneben, die Buckeln zahlreicher und stärker entwickelt als auf der Mutterart (Fig. 57, Querschnitt eines Blattes, S. 219). Die Blüthen sind, den schwächeren Pflanzen entsprechend, stets etwas kleiner als die der Lamarckiana, auch pflegen sie mehr aufrecht zu stehen und sich nicht so weit zu öffnen (vergl. Tafel III mit Tafel I); im Uebrigen zeigen sie genau denselben Bau, auch ragen die Narben deutlich über die Antheren hinaus. Die Farbe der Blüthen ist häufig etwas blasser gelb. Die Früchte bleiben etwas kleiner und dünner als die der ©. Lamarekiana, und bilden in der Regel nur spärliche Samen aus. Die grauliche Farbe, welche ebenso wie bei der O. rubrinervis nicht auf stärkere Behaarung, sondern auf die Wölbung der Aussen- wand der gewöhnlichen Oberhautzellen zurückzuführen ist, ist sehr stark individuell variabel, bisweilen sogar so wenig entwickelt, dass Zweifel über die Diagnose entstehen, welche aber stets durch fort- gesetzte Cultur aufgehoben werden können. | $ 16. Oenothera leptocarpa. Aus den vorhergehenden Beispielen ist ersichtlich, dass Mutationen bei Oenothera Lamarckiana in sehr wechselnden Verhältnissen auftreten, und dass ihre Anzahl zwar bisweilen auf einige Procente hinansteigt, oft aber nur eine pro Tausend oder noch weniger beträgt. Ferner haben wir gesehen, dass in derselben Mutationsperiode dieselben Mu- tationen sich regelmässig wiederholen. Es darf daraus abgeleitet werden, dass bei einem eingehenden Studium einer solchen Periode bald die gewöhnlichen Mutanten, welche die fragliche Art hervorzubringen im Stande ist, aufgefunden sein werden. Es gilt dann aber auch die selteneren zu suchen, und dazu werden selbstverständlich immer umfangreichere Aussaaten erforder- lich sein. Oenothera leptocarpa. 251 Sind nun die gesuchten selteneren Mutationen bereits als Keim- pflanzen oder doch als junge Rosetten kenntlich, so hat man nur viel auszusäen, die jedesmal sich zeigenden Abweichungen zu ver- pflanzen und die nicht mutirten Individuen auszuroden. Bei dieser Methode können viele Tausende von Exemplaren auf wenigen Quadrat- metern bis zum Momente der Beurtheilung wachsen. Aber wenn sich die Merkmale nicht in so früher Jugend zeigen, sind die Bedingungen viel ungünstiger. 40—50 Pflanzen ist meist das Höchste, was man pro Quadratmeter zur Blüthe bringen kann, oft viel weniger. Es bedarf dann sehr ausgedehnter Culturen, um eine geringe Aussicht auf neue Mutationen zu bekommen. Man ist deshalb sehr vom Zufall abhängig, wie beim ersten Auftreten der O. gigas. Ich schreibe es diesem Umstande zu, dass meine Mutationen nahezu sämmtlich als Keimpflanzen zu erkennen sind, während gerade die beiden auf dem wilden Standorte gefundenen neuen Arten sich in der Jugend nicht von der O. Lamarckiana unterscheiden. Die einzige Ausnahme bildet die Oenothera leptocarpa, wenigstens die einzige, welche aus dem reinen Stamme der O. Lamarekiana hervor- gegangen ist. Unter den Aussaaten gekreuzter Samen kamen solche Fälle, wenn auch selten, doch etwas häufiger vor, aber es hält oft schwer, hier die Mutationen von den regelmässigen Producten der Kreuzung zu unterscheiden. Die Besprechung solcher Fälle gehört also dem zweiten Bande an. Die O. leptocarpa unterscheidet sich von der ©. Lamarckiana, auch in reinen Saaten, weder als Keimpflanze, noch als Rosette, noch auch in der ersten Zeit der Entwickelung des Stengels. Bisweilen habe ich einzelne Exemplare in der Jugend als vermuthliche Mutanten auf ein besonderes Beet gepflanzt, und ergaben sie sich nachher als O. leptocarpa. Meist habe ich sie aber erst kurz vor oder zu Anfang der Blüthe bemerkt. Aus diesen Gründen lässt sich über die Häufigkeit ihres Auf- tretens wenig Sicheres sagen. Im Stammbaume des Nebenzweiges der Lamarckiana-Familie (S. 184) ist das Auftreten von zwei Exem- plaren dieser Art verzeichnet worden. Es war in einer Cultur von 10000 Keimlingen im Jahre 1895, von der etwa 1000 zur Blüthe gelangten. Es wäre die Häufigkeit somit auf 0-2°/, zu stellen. In früheren und in späteren Jahren habe ich sie ebenso vereinzelt er- scheinen sehen, ohne genauere Zahlen über das wirkliche Verhältniss anführen zu können. Ausser aus O. Lamarckiana entstand die O. leptocarpa auch aus 252 Das s Aufir eten der einzelnen neuen Arten. O. rubrinervis, ah: aber aus cn neuen Ren Und nachdem ich einmal darauf aufmerksam geworden war, habe ich sie hier ziem- lich häufig gefunden. Ein besonderes Merkmal der O. leptocarpa ist, dass sie erst sehr spät zu blühen anfängt. Hierdurch wird die Aus- sicht, sie zu finden, wesentlich vermindert. Denn sobald auf einem Beete das Blühen anfängt, pflegen die'Samenträger für die künstliche Selbstbefruchtung ausgewählt zu werden. Und um diesen mehr Raum zu geben, sei es für ihr Wachsthum, sei es behufs der grösseren Be- quemlichkeit bei den Operationen, werden oft von den umstehenden Exemplaren eine gewisse Anzahl entfernt. Dieses betrifft im Allge- meinen die schwächeren, ‚und mit ihnen werden die spätblühenden Leptocarpen sehr leicht verwechselt. Be -Die Rubrinervis-Culturen waren häufig zu ganz besonderen Zwecken angestellt, und umfassten‘ oft nicht viel mehr Pflanzen, als für eine sichere Wahl von Samenträgern erforderlich war.. So z. B. behufs im Voraus bestimmter Kreuzungen, oder in der bereits oben erwähnten Trieotylen-Cultur, in welch’ letzterer die Auswahl ja bereits bei der ersten Keimung stattfindet. Treten nun in solchen Aussaaten O. lepto- carpa auf, so scheinen ‚die Verhältnisszahlen sehr hohe, fast ohne Zweifel viel zu hohe zu sein. So fand ich z.B. 1895 zwischen 44 tricotylen Rubrinervis 5 Lepto- carpa (S. 192), 1897 unter 20: tricotylen Rothnerven eine der dünn- früchtigen Art angehörige. Im Jahre 1900 hatte ich 24 Lamarckiana- Pflanzen ausgesetzt, welche aus einer 1899 gemachten Kreuzung von O. rubrinervis x O. nanella hervorgegangen waren. Bei der: Blüthe zeigte es sich aber, dass nur etwa die Hälfte wirkliche Lamarckiana. ‚waren, und die übrigen O. leptocarpa. In demselben Jahre entstanden aus einer Kreuzung von O. rubrinervis x O. Lamarckiana auf 90 Pflanzen zwei Leptocarpa. Merkmale der O. leptocarpa sind vorwiegend das sehr späte Blühen und die langen dünnen Früchte. Das späte Blühen beruht nicht auf verzögertem Wachsthum, denn die Pflanzen sind ebenso kräftig und ebenso hoch wie die übrigen zur Zeit, wo diese zu blühen anfangen. Sie wachsen dann aber noch einige Wochen vegetativ weiter. Die untere Grenze ihrer Blüthenähre liegt somit bedeutend höher und es ragen um diese Zeit die Leptocarpa- Exemplare über alle übrigen desselben. Beetes derart hervor, dass man sie daran leicht auffindet. Dazu sind sie meist etwas schlaff, die blühenden Gipfel in weitem Bogen seitwärts hängend. Blüthen und Blüthenknospen weichen nicht wesentlich von O. Lamarckiana ab; die Blüthenknospen sind, kurz vor dem Oeffnen, noch mehr glänzend grün, weniger gelblich. Die Früchte Oenothera: leptocarpa. \ 253 und Bracteen bieten aber ein ganz anderes Bild. Die Bracteen sind breiter an ihrem Grunde, mehr. dreieckig,) mehr flach ausgebreitet, während die der O, Lamarckiana häufig längs‘'der Mittelrippe mehr oder weniger zusammengebogen und wellig'sind. Sie sind dem Stengel viel stärker angedrückt, umkleiden diesen fast mit einem geschlossenen Mantel, statt nach abwärts mehr oder weniger schief abzustehen. Sie sind endlich mit viel zahlreicheren, kleineren Buckeln dicht bedeckt, wodurch auch die grüne Farbe eine andere zu sein scheint. Die Früchte sind lang und: dünn und dadurch von O. Lamarckiana und O. rubrinervis auffallend verschieden. Wegen des späten Blühens werden sie nur selten und nur in geringer Zahl reif. Im Jahre 1896 habe ich auf zwei Beeten von O. leptocarpa Mitte November die Früchte gemessen, und zwar von jeder einzelnen Pflanze die Länge und Dicke der fünf unteren reifen, oder doch ausgewachsenen Kapseln. Darauf wurde die Dicke durch die Länge dividirt, und der Quotient als Maass der Dicke betrachtet. Die erhaltenen Zahlen geben ein deutliches Bild, die mittlere Dicke lag bei 15—17, während sie für O. Lamarckiana 22—24 beträgt. Die Kapseln der O. leptocarpa er- reichen somit im Mittel etwa ?/, von der für die Mutterart normalen Dicke. Ich fand die folgenden Zahlen: : Dicke 2 BEN in Anzahl der Individuen A B 12 0 1 13078 el, 3 14 5 3 15 6 8 16 11 2 17 15 3 18 13 5 19 3 1 20 5 1 21 2 0 22 2 ıl 23 1 0 24 0 0 Summa 64 28 Mittel 17 15 Die Cultur A stammt aus den Samen von einem der beiden S. 184 erwähnten Exemplare von 1895; die Gruppe B aus der künst- lichen Selbstbefruchtung eines anderen Exemplars aus einer parallelen Cultur desselben Jahres. 254 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. Es erübrigt nur noch hervorzuheben, dass in den beiden mit- getheilten ÖCulturen die O. leptocarpa sich als samenbeständig ergab. Man sieht solches aus den beiden Zahlenreihen deutlich, denn die gemessenen Individuen bilden eine deutliche Gruppe, wenn auch selbst- verständlich die Curve ihrer individuellen Variabilität die entsprechende Curve von O. Lamarckiana, deren Gipfel bei 22—24 D/L liegt, schneidet. Die Curven sind somit transgressive, wie in so zahlreichen Fällen bei nahe verwandten Arten.! Die dicksten Früchte der O. leptocarpa sind dicker als die dünnsten der ©. Lamarckiana, und wenn man nur ein einziges Merkmal in Betracht ziehen würde, würden die Artgrenzen somit über einander greifen. Die beiden genannten Culturen umfassten 300 Pflanzen für A, 150 für B und zeigten dabei auch in denjenigen Pflanzen, welche keine ausgewachsenen Früchte brachten, sämmtlich die oben be- schriebenen Merkmale der O.leptocarpa, mit Ausnahme zweier O. nanella. Einige Exemplare trugen den reinen Typus, andere näherten sich mehr oder weniger den Eigenschaften der Mutterart, ohne diese genau zu erreichen. Denn die individuelle Variabilität verhält sich auch in den übrigen Merkmalen ähnlich, wie es für die Früchte angegeben wurde. Trotz dieser transgressiven Variabilität wiesen die Culturen die Samenbeständigkeit der neuen Art, ohne wirklichen Atavismus, deut- lich nach. $ 17. Oenothera semilata. Diese Pflanze trat in meinen sämmtlichen Culturen nur dreimal auf. Und zwar jedesmal in einer Aussaat von Samen der O, lata. Einmal 1894, die beiden anderen Pflanzen in zwei von einander un- abhängigen Culturen von 1895. Sie sahen der O. lata sehr ähnlich, aber ihre Eigenschaften waren in jeder Beziehung weniger ausgeprägt. Daher der Name Semilata. Die Pflanze von 1894 wurde durch einen Sturm zerbrochen, eine von 1895 blühte reichlich, aber anfangs ohne Früchte anzusetzen. Erst im November, bei einer Stengelhöhe von 2 Metern, bildete sie einige gute Früchte, welche aber wegen des bald eintretenden Winters keine reifen Samen lieferten. Mit der dritten Pflanze war ich in dieser Beziehung glücklicher. Sie entstand aus der ersten Lat«-Familie im Jahre 1895, hatte also in den zwei vorhergehenden Generationen O. lata als Mutter und ! Vergl. hierüber $ 25 dieses Abschnittes. Oenothera semilata. 255 Grossmutter, und O. Lamarckiana als Vater und Grossvater. Vergl. den Stammbaum auf S. 202. Sie unterschied sich anfangs nur wenig von den echten Zata-Exemplaren derselben Cultur, doch waren die Blüthenknospen weniger dick, die Inflorescenz lockerer und länger, die Blätter schmäler und an der Spitze weniger gerundet. Bei der Blüthe zeigte sich aber, dass die Staubfäden anscheinend guten Blüthenstaub hervorbrachten, wenn auch nicht so viel als wie bei O. Lamarckiana. Ich habe dann die Pflanze in Pergamin gehüllt und sie mit ihrem eigenen Pollen befruchtet. Ausserdem habe ich mit ihrem Pollen zwei echte Lata-Exemplare bestäubt. Der Blüthenstaub zeigte sich dabei als völlig kräftig, denn ich erhielt in beiden Fällen eine hinreichend gute Ernte von Samen. Den selbstbefruchteten Samen der Semilata-Pflanze säte ich im Jahre 1897. Ich erhielt daraus eine Cultur von 276 blühenden und 82 nicht blühenden Exemplaren. Es befanden sich darunter drei Zwerge (O. nanella), drei blühende Zata-Pflanzen des echten Typus, und eine Rosette, welche sich von den übrigen deutlich unterschied und als eine echte Lata zu erkennen war. Die Nanella waren offenbar Mutanten, die Lata vielleicht solche, vielleicht Atavisten. Die übrigen Pflanzen zeigten deutlich die Merkmale der O. semilata, und berech- tigen somit zu der Auffassung dieser Form als einer constanten Art. Ich habe die Cultur aber nicht für wichtig genug gehalten, um sie fortzusetzen. Die oben erwähnte Kreuzung O. lata x O. semilata führte zu keinen besonderen Aufschlüssen; sie ergab auf 105 Keimlinge 39 Lata, 2 Nanella, 2 Oblonga und 1 Albida, während die übrigen Exemplare O. Lamarckiana waren. Es sind das genau ähnliche Verhältnisse, wie sie die O. lata auch bei der Kreuzung mit anderen, von ihr unab- hängigen neuen Arten geben kann." Für die auch sonst unwahr- scheinliche Vermuthung, dass die O. semilata vielleicht ein Bastard oder sonst eine Zwischenform von O. lata und O. Lamarckiana wäre, geben diese Zahlen somit keine Stütze. $ 18. Oenothera nanella (Oenothera Lamarckiana nanella). Bei der grossen Bedeutung, welche von vielen Seiten der Unterscheidung von Art und Varietät beigelegt wird, lohnt es sich, in dieser Beziehung den Gegensatz zwischen der Oenothera ! Vergl. den zweiten Band. 256 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. nanella‘ und den übrigen neuen Arten hier etwas genauer auszu- arbeiten. ? Die übrigen in meinem Versuchsgarten aufgetretenen neuen Arten finden keine Analoga, weder in anderen Arten derselben Gattung, noch sonst wo im Pflanzenreich. Jede für sich bildet einen neuen Typus, und ein solcher verdient in jeder Hinsicht als elementare Art betrachtet zu werden. Von diesen unterscheiden sich die Varietäten nach der allgemeinen Auffassung einerseits dadurch, dass sie abgeleitete Formen, andererseits aber, indem sie nicht samenbestän- dig sind, sondern von Zeit zu Zeit zum Typus der Art zurückkehren. Letztere Ueberzeugung ist nun seit langer Zeit nicht mehr mit der Er- fahrung im Einklang, denn sehr viele Varietäten sind ebenso samen- beständig wie die besten Arten. Als abgeleitete Formen kennzeichnen die Varietäten sich wesentlich da- durch, dass dieselbe Variation bei mehreren, oft bei sehr zahlreichen Arten und Gattungen wiederkehrt, _ Ihr Typus ist nicht neu, sondern wiederholt sich nur unter verschiede- nen Formen. Fig. 77. Oenotkera nanella. Ganze Pflanze Wenden wir dieses auf unsere mit piüthen md fast ausgewachsenen 7 ong-Oenotheraan. Zwergvarietäten Früchten, in '/; der natürlichen Grösse. 5 5 giebt es ebenso zahlreiche wie z.B. unbehaarte. Ich nenne als bekannte Beispiele Tagetes patula nana, Tagetes signata nana, Scabiosa atropurpurea nana, Papaver somniferum ! Oenothera nanella, oder die Zwerg-Nachtkerze, kurzweg der Zwerg genannt, ist eine erbliche, constante Form. Häufig benutzt man die Bezeichnung Zwerge auch für die kleinsten Exemplare bei der fluctuirenden Variabilität, welche offen- bar ganz anderer Natur sind. Vergl. über solche Zwerge: P. Gauca£ry, Recherches sur le nanisme vegetal, Ann. sc. nat. Bot. 8. Serie. T. IX. 1899. p. 61—156 und ferner: D. Cros, Du nunisme dans le regne vegetal. Acad. sciences Toulouse. Tome XT. 1889. ?2 Ausführlicheres im vierten Abschnitt dieses Bandes. Oenothera nanella. 257 nanum, Dianthus Caryophyllus nanus, Dianthus barbatus nanus, Chei- ranthus Cheiri nanus, Matthiola incana nana, Calliopsis bicolor nana, Quphea purpurea nana, Impatiens Balsamina nana u. Ss. w.! Es sind meist sehr beliebte Zierpflanzen. In systematischer Hinsicht sind unsere Zwerge somit ohne Zweifel Oenothera Lamarckiana nana, oder, da sie sehr klein sind, ©. Lam. nanella zu nennen. Aber in experimenteller Hinsicht verhalten sie sich genau wie die übrigen elementaren Arten, denn sie sind, wie bereits in $ 3 mitgetheilt wurde, völlig samenbeständig. Und da der Name O. nanella zu keiner Verwechslung Veranlassung geben kann, werde ich diesen in der Regel vorziehen.? Sieht man aber genauer zu, so zeigen sich bald noch andere Gründe für die Auffassung unserer Zwerge als elementare Arten. Denn keineswegs sind sie ein- fach ein Miniaturbild der O. Lamarckiona. Im Gegentheil unterscheiden sie sich von dieser, wie die übrigen neuen Arten, in nahezu allen Eigen- schaften. In keinem Alter kann man sie etwa mit schwa- chen Exemplaren der Mutter- art verwechseln. Oder, um es . = Fig. 78. Oenothera nanella. 4A Keimpflanze noch deutlicher auszudrücken, mit zwei Blättern; e die Cotylen. 2 Aeltere man findet bei einer Verglei- Keimpflanze, die langgestielten Vorblätter (») chung genauer aber auf die- oder die Fahnenblätter der atavistischen Periode I 2 „„ zeigend, welche auf jene ersten Blätter folgen. selbe Grösse reducirter Abbil- dungen die Zwerge stets durch ganz deutliche Merkmale ausgezeichnet. Am klarsten ist dieses im Rosettenalter. Bereits am ersten Blatte sind die Zwerge zu erkennen (Fig. 78 A). Dieses erste Blatt ist breiter und hat namentlich eine breitere Basis und einen viel kürzeren Stiel als bei O. Lamarckiana. Dasselbe gilt von dem zweiten Blatte. Es entsteht dadurch sofort ein gedrungener Bau des ganzen kleinen Pflänzchens, welcher, namentlich wenn die Keimlinge hinreichend weit auseinander stehen, um sich nicht oder fast nicht zu berühren, es ermöglicht, bereits in den Keimschüsseln die Nanella abzuzählen. Allerdings bleiben dabei oft einige zweifelhafte Individuen übrig, ! Vergl. ferner die Liste in CArkıbrE, Production et fixation des Varietes. 1865. p. 10. ? Ich erinnere dabei nochmals an Darwın’s Ausspruch: Varieties are only small species. DE VRIES, Mutation. I, 17 258 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. z. B. wenn sie in kleinen Gruppen zu dicht standen; diese lässt man sich dann aber weiter entwickeln. Auf das beschriebene Stadium folgt jetzt eine atavistische Periode. Die Zwergmerkmale verschwinden, es sieht aus, als ob die Pflänzchen sämmtlich hohe Lamarckiana werden wollten. Zwei, drei oder vier Blätter entwickeln sich mit schmaler Spreite auf langen Stielen (Fig. 78 B,vvv), und indem sie die beiden ersten viel kleineren Blätter in den Hintergrund drängen, bestimmen sie während einer kurzen Zeit den ganzen Habitus. Bald darauf zeigt sich aber, dass dieser Zustand ‘nur ein vorübergehender ist, und bildet sich im Herzen der fahnenartigen Blätter die gedrängte Rosette des echten Zwergtypus aus (Fig. 7SB und Fig. 79 4). Ich fasse diese Periode auf als eine atavistische, wie sie bei Keimpflanzen ja sehr allgemein verbreitet ist.! Jedermann kennt die Erscheinung, dass die Keimpflanzen der Phyllodien tragenden Arten von Acacia in der Jugend gefiederte und doppelt gefiederte Blätter bilden und dadurch auf die Abstammung der betrefienden Arten von doppeltfiederblätterigen Vorfahren schliessen lassen. Nicht anders ver- halten sich die Keimpflanzen von Ulex, Sarothamnus und die sonstigen Papilionaceen mit fehlender oder reducirter Belaubung.? Auffallend ist die decussirte Blattstellung der jungen Bäumchen von Kucalyptus Globulus, welche im späteren Alter (anscheinend) zerstreute, langgestielte Blätter tragen werden.” Sium latifolium und Berula angustifolia mit einfach gefiederten Blättern haben an jungen Pflanzen und jungen Rosetten die vielfach zusammengesetzten Spreiten der übrigen Um- belliferen, d. h. also zweifelsohne die ihrer Vorfahren. Zahlreiche ähnliche Beispiele* beweisen, dass Arten mit abweichenden Merkmalen in der ersten Jugend oft die Eigenschaften der grösseren Gruppen, zu denen sie gehören, zur Schau tragen. Es sind dieses offenbar die schönsten und sichersten Fälle von Atavismus. | Diesen reiht sich die Zwerg-Oenothera an. Nur dass hier die. Abstammung durch die directe Beobachtung bekannt ist, während sie sonst nur aus vergleichenden Studien abgeleitet wird. Aber es scheint mir wichtig hervorzuheben, dass die O. nanella sich in dieser Be- ziehung darstellt als eine gute Art, oder vielmehr umgekehrt, dass ! Vergl. hierüber namentlich die ausgezeichnete Zusammenstellung in GoE- BEL’S Organographie. I. 1898. S. 121—151. * J. REınk£, Untersuchungen über die Assimilationsorgane der Leguminosen. Jahrb. für wissensch. Botanik. Bd. XXX. Heft 1 und 4. 1896—1897. ® F. Derpino, Teoria generale della fillotassi. Genova 1883. p. 242. * Für die Coniferen vergl. L. Beissner, Handbuch der Nadelholzkunde. 1891. Oenothera nanella. 259 sich die besten systematischen Arten, in Bezug auf Jugend-Atavismus, nicht anders verhalten, als ganz junge, soeben erst aus ihren nächsten Vorfahren hervorgegangene elementare Formen. In dem „Fahnenalter‘“ entscheidet es sich in der Regel, ob die Pflanze ein- oder zweijährig werden wird. Ist ersteres der Fall, so fängt oft bereits jetzt die Stengelbildung an; die länglichen Blätter waren dazu die Vorbereitung, da dieselbe Blattform am unteren Theile des Stengels beibehalten bleibt, wie die linke Abbildung in der Fig. 45 auf S. 165 zeigt. Wird. die Rosette zweijährig und sind die Wachs- thumsbedingungen ihr günstig, hat sie namentlich den genügenden Raum zu ihrer Ausbildung, so kehrt sie wieder zur Entwickelung breiter und kurzgestielter Blätter zurück, und ist bis zum Winter stets auf dem ersten Blick und von Weitem als Zwergrosette zu er- kennen. Oft werden dabei die Blätter nicht länger als 7—8 cm, während die Wurzelblätter der Mutterart 30 cm und mehr erreichen. Zwischen den beiden angedeuteten Extremen liegt der in meinen Culturen häufigste Entwickelungsgang. In diesem folgt auf die Fahnen- blätter eine Rosettenperiode, welche oft bis in den Monat Juni dauert, die aber dennoch mit der Ausbildung eines Stammes im ersten Jahre abschliesst. In dieser Periode sind die Spreiten wiederum sehr breit und mit breitem Grunde dem kurzen Stiele angeheftet, oft fast gleich- seitig dreieckig, meist etwas länglich dreieckig. Haben die Pflänzchen genügenden Raum, d. h. berühren sie sich nicht, so drücken sie. die äusseren Blätter dicht an den Boden an; diesen folgen die übrigen in einer eng geschlossenen Gruppe. Die äusseren Blätter sind jetzt noch kurz gestielt (Fig. 79 A), die inneren aber nahezu ungestielt, mit ihrer breiten Basis fast die jüngeren umfassend. Ein ausgewachsenes Blatt aus einer solchen Rosette ist, mit dem ganzen Stiel, in Fig. 52 bei n auf S. 207 abgebildet worden. Stehen die Pflänzchen aber so dicht, dass sie keinen genügenden Raum finden, so wird ihre Tracht eine ganz andere, aber dafür nicht weniger deutlich ausgeprägte (Fig. 795). Die auf die Fahnenblätter (vv) folgenden stehen jetzt mehr oder weniger aufrecht, sind etwas schmäler und etwas länger gestielt, aber dem Stiele noch mit breitem Grunde eingepflanzt. Die Stiele pflegen dabei in eigenthümlicher Weise gedreht zu sein, was allerdings in der Abbildung nicht sehr auffällt, was aber die Pflänzchen oft am ersten kenntlich macht. Uebrigens weichen sie deutlich von den gleichalterigen Individuen von 0. Lamarckiana ab. Vergl. z. B. Fig. 64 auf S. 229. Die Beurtheilung der jungen Pflanzen habe ich je nach Um- ständen in einem der vier abgebildeten Stadien und Formen (Figg. 78 17% 260 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. und 79) vorgenommen. Je weiter die Saat, um so früher ist das Sortiren möglich. Aber auch bei weiter Saat fallen die Samen hier und dort zu dicht neben einander; es entstehen Gruppen von Keim- pflänzchen, welche noch lange undeutlich bleiben, nachdem die übrigen bereits gezählt und ausgerodet wurden. Es dauert daher oft 4—6 \Wochen, bis die letzten Individuen ihre Merkmale deutlich zeigen. Sehr oft habe ich die Pflänzchen auch ausgepflanzt, bevor ich sie zählen konnte; ich setzte sie dann in ausreichenden Entfernungen, um Rosetten, wie Fig. 79 A zu bilden, und zählte sie dann etwa einen Monat später in den Holzkästen. Galt es, eine Pflanze als Mutante in einer Cultur anderer Herkunft zu erkennen, so habe ich selbst- verständlich stets das Stadium Fig. 79 abgewartet, meist auch die Pflänzchen nachher ausgepflanzt, um ihre weitere Entwickelung zu verfolgen. Galt es umgekehrt, in Aussaaten von Samen der O.nanella Fig. 79. Oenothera nanella. Junge Rosetten im Mai und Juni, A bei freiem Stande, B in gedrängter Lage; vo vo die Fahnenblätter der atavistischen Periode. zu untersuchen, ob etwa noch Lamarckiana-Pflänzchen vorkamen, wie solches namentlich bei freier Befruchtung oder in Kreuzungsversuchen der Fall zu sein pflegt, so wurde das Sortiren meist in einem früheren Alter vorgenommen. Denn es leuchtet ein, dass man eine um so grössere Anzahl von Individuen beurtheilen kann, auf je jüngerem Stadium sich die Operation vornehmen lässt. Bei Aussaat auf den Beeten, statt in Schüsseln, wie ich sie ın den ersten Jahren auszuführen pflegte, ist selbstverständlich stets ent- weder die volle Ausbildung der Rosette oder die Entwickelung des Stengels abzuwarten. Mittelst dieser Merkmale habe ich die früher mitgetheilten Zahlen über das wiederholte Auftreten der O. nanella aus O. Lamarckiana und anderen neueren Arten erhalten. Ich stelle jetzt diese Ergeb- nisse mit den in einigen anderen Culturen erhaltenen wiederum zu- Oenothera nanella. 261 sammen, um dadurch eine Einsicht in die Häufigkeit der Nanella- Mutationen zu erlangen. Die Thatsache, dass sie jährlich auftreten, und in um so grösserer Menge, je umfangreicher die Saaten waren, geht aus den Stammbäumen in $ 2—7 ohne Weiteres hervor; darauf habe ich hier somit nicht mehr zurück zu kommen. Durch Mutation entstandene Individuen von O. nanella. Il. Aus Oenothera Lamarckian.a. Die Lamarckiana-Exemplare waren Keimlinge entstanden: Jahr Gesammtzahl Nanella °/, Nanella In der Lamarckiana-Familie . . . 1889—1899 50000 158 0-3 In dem Nebenzweig derselben . . 1895 10 000 111 1-1 Aus der Laewfolia-Familie . . . 1889 400 12 3-0 Aus verschied. Kreuzungen (S. 212) 1898 4599 26 0-6 Aus OÖ. seintillans. >» . .» . . . 18971898 1654 15 0-9 aezweijähriger Gultur . . ..... 1897 1 529 9 0-6 In buntblätteriger Cultur . . . . 1899 1 972 9 0-5 Summa 70154 340 0-5 Abgesehen von der Laevifolia- Familie, wo vielleicht besondere Umstände eingewirkt haben, ist das Verhältniss, in welchem Lamarckiana- Pflanzen Zwerge hervorbringen, ein ziemlich constantes, und ist es dabei namentlich gleichgültig, ob die Exemplare von reiner Abstam- mung oder aus Kreuzungen entstanden sind. Diese Folgerung findet eine weitere Stütze, wenn wir das Auf- treten der Nanella in den Aussaaten solcher Samen vergleichen, welche unmittelbar aus Kreuzungen hervorgegangen waren, d.h. also, welche sich in der ersten Generation nach der Kreuzung zeigten, während die Mutanten der vorigen Tabelle der zweiten Generation nach der Kreuzung angehörten, soweit es sich um Kreuzungen oder freie Be- stäubung (0. laevifolia) handelt. Durch Mutation entstandene Individuen von O. nanella. II. Aus Kreuzungen. DS zuz yahr Gesammtzahl a: ; °/, Nanella O0. Lam. x 0O. biennis 1900 80 1 1-0 O. lata x 0. bienmis 1899 299 2 0-7 O0. Lam. x 0. brevistylis 1898 293 5 1-7 O0. Lam. x 0. gigas 1899 100 2 2-0 0. Lam. x 0. seintillans 1899 112 1 1.0 O. laia x O. Lam. 1900 2000 3 0-2 cp n 1895 — 1900 2387 26 1-1 Oaldta: x: 0. brevistylis 1896—1899 425 6 1-4 Summa 5696 46 0:8 262 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. Vergleichen wir diese Zahlen mit den für die anderen neuen Arten bisher mitgetheilten, so finden wir eine grosse Uebereinstimmung mit den von O. oblonga (etwa 1°/,), und wir dürfen somit schliessen, dass die O, nanella zu den häufigeren Formen gehört. Von den später zu besprechenden Typen reiht sich diesen nur noch die O. lata an, und vielleicht ist ihnen die in sehr wechselnder Menge auftretende O. albida an die Seite zu stellen. Diesen gegenüber bilden die O. rubrinervis, O. gigas und O. seintillans die selteneren Mutationen, wäh- rend ©. semilata und die übrigen weniger wichtigen Typen eine dritte Gruppe sehr seltener Umwandlungen darstellen. Aus anderen neuen Arten entstand die O. nanella in ungefähr gleichen Verhältnissen; aus O. leptocarpa im Jahre 1896 zu 0-4°%),, aus O. scintillans in verschiedenen Versuchen von 1896—1899 auf 7872 Keimpflanzen in 29 Individuen, also gleichfalls zu 0-4 °/,. Die Nanella-Mutanten sind sofort bei ihrem ersten Auftreten völlig constant und samenbeständig. Etwa 400 solcher Exemplare ohne gleichförmige Vorfahren habe ich im Laufe der Jahre beobachtet; sie gehörten alle einem und demselben, in allen Merkmalen leicht zu erkennenden Typus an. Sie bilden offenbar zusammen eine Art, obgleich ihre sämmtlichen Eltern und Grosseltern dieser Art nicht angehörten. Ueber die Samenbeständigkeit habe ich bereits in 8 3 S. 167 die wichtigsten Thatsachen mitgetheilt. Es erübrigt aber noch, die dort kurz erwähnten Versuche weiter auszumalen. Ich habe über die Constanz der O. nanella vier Versuchsreihen gemacht. Den ersten Versuch fing ich 1889 an, mit den 12 auf S. 192 erwähnten Mutanten der Laevifolia-Familie. Da ich damals die Pergaminbeutel nicht kannte, habe ich meine Pflanzen, obgleich sie jedesmal auf einem möglichst isolirten Beete standen, nicht völlig gegen Insectenbesuch beschützen können. Somit war eine Entscheidung über völlige Constanz noch nicht möglich. Dennoch zeigte sich der Zwergtypus in hohem Grade erblich. Die ersten Samen gewann ich 1890, da die Pflanzen erst im zweiten Jahre ihre Blüthen öffneten. Ich erhielt daraus 20 Exemplare, von denen 18 Zwerge waren; sie blühten in demselben Sommer und trugen sämmtlich Samen. Mit diesem besäte ich 1892 ein Beet von etwa 4 Quadratmetern (6 cem Samen). ‚Diese ganze Cultur bestand fast ausnahmslos aus Zwergen. Von jetzt an blühten die Pflanzen regelmässig im ersten Sommer, und hatte ich somit 1893 die vierte und 1894 die fünfte Generation. Die dritte umfasste 400 Pflanzen und war wiederum so gut wie ganz rein; in ihr befruchtete ich einige Exemplare in Pergaminbeuteln mit ihrem eigenen Pollen. Demzufolge trat nun 1894 völlige Reinheit Oenothera nanella. 263 ein. In einer Cultur von 440 Pflanzen, von denen ein grosser Theil im August und September blühte, trugen jetzt alle den Zwergtypus. Ferner habe ich diese Cultur nicht fortgesetzt, da es mir wich- tiger schien, mit neuen Mutanten zu arbeiten, und somit die Constanz in der ersten Generation genau zu prüfen. Ich benutzte dazu die im Jahre 1895 in der res Bann Kanals und deren Nebenzweig neu auftretenden Nanella. Von den ersteren befruchtete ich zwölf, von den letzteren acht unter Ausschluss des Insectenbesuches mit ihrem eigenen Blüthenstaub. Ich sammelte ihre Samen getrennt, säte sie im nächsten Frühling ebenso aus, und verpflanzte die Keimlinge nach etwa einem Monat, und zwar sämmtlich, ohne Wahl und ohne Aus- nahme. Sie kamen dabei in Holzkästen mit gedüngter Erde und hatten hinreichenden Raum, um sich zu Rosetten, wie Fig. 79 A (S. 260), aus- zubilden. Einzelnen, welche etwas zu dicht standen und den Typus von Fig. 79 B zeigten, liess ich, nachdem sie von den umstehenden befreit waren, die Zeit, um ihre Blätter wie A auszubreiten. Die Zählungen fanden somit zu verschiedenen Zeiten, aber alle im Laufe des Juni statt. Die zwanzig Samenträger von 1895 stammten aus den Samen von neun verschiedenen Lamarckiana-Pflanzen, von denen fünf der dritten (S.157) und vier der zweiten Generation (S. 184) angehörten. Die zwanzig Mutanten selbst gehörten also dem vierten und dritten Geschlechte an. Ich bezeichne mit Lam. die Grossmütter, mit Nan. die Mütter oder Mu- tanten, mit X. die aus ihren Samen erhaltenen Keimpflanzen. Die Buch- staben A—E bedeuten somit die fünf Lamarekiana-Pflanzen der dritten, L—0O die vier der zweiten Generation; ihre Kinder sind die Nanella- Mutanten (Spalte Nan.), deren Samen ich aussäte. Diese Kinder sind in der betreffenden Spalte für jede Mutter besonders nummerirt. Oenothera nanella. Noch meneeheatt der Mutanten aus der dritten, dritten, j zweiten Lamarckiana-Generation. Lam. Nan. K. Lam. Nan. K. Lam. Nan. K. A Nr. 1 277 C Nr. 1.7 30 De Ned 55 A 00194 5 2 2 e A299 B ei 389 DER 51 80 . 30309 > eo Er es r 03 437599 2 RI alle, ein ; et: N lasg P Kenegd ON, 2130105 22321 Summa 950 Summa. 240 1 Summa 1273 264 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. Zusammen also 2463 Keimpflanzen, welche sämmtlich, ohne Aus- nahme, O. nanella waren. Es darf hieraus wohl gefolgert werden, dass auch die übrigen Nanella-Mutanten von 1895, falls ich ihre Samen gesammelt und aus- gesät hätte, sich als constant ergeben haben würden. Inzwischen war es mir bei diesen umfangreichen Aussaaten klar geworden, dass die Zwerge bereits in einem früheren Stadium, und zwar in den Keimschüsseln selbst, vor dem ersten Verpflanzen, ge- zählt und beurtheilt werden konnten. Und da gerade das Verpflanzen in solchen Versuchen die meiste Arbeit macht, und wegen der Gefahr von Verwechselungen keinem Gehülfen überlassen werden darf, so eröffnete sich die Aussicht, die Beurtheilung der Constanz in grösserem Maassstabe vorzunehmen. Ich benutzte hierzu zunächst die S. 184 erwähnten Nanella, welche im Jahre 1896 aus Samen aufgingen, welche während eines Jahres in der Erde verweilt hatten. Solche Pflanzen hatte ich auch aus der 8. 157 erwähnten Haupteultur, obgleich sie dort nicht aufgeführt wurden. Ich befruchtete 33 Exemplare in Pergamin mit dem eigenen Blüthenstaub. Es waren somit sämmtlich Mutanten aus Lamarckiana, und zwar theils mit drei, theils mit zwei Generationen von hohen Vorfahren. Ihre Samen erntete und säte ich getrennt; die Keim- pflanzen zählte ich im Fig. 78B abgebildeten Stadium. Etwaige zweifelhafte liess ich sich dann noch weiter entwickeln. Von 20 Samen- trägern hatte ich je über 300 Keimlinge, von allen im Mittel etwa 500, als Maximum 860 und nur in drei Fällen weniger als 100. Die ganze Summe der Keimlinge betrug 18 649, sie waren ohne Ausnahme Zwerge. Drei von ihnen waren gleichzeitig oblonga und eine gleichzeitig elliptica. Die 38 Samenträger dieses zweiten Versuches ergaben sich somit, wie die 20 der ersten Probe, als völlig constant. Es schien mir wichtig, nun auch eine Nanella anderer Herkunft auf ihre Constanz zu prüfen. Ich wählte dazu zwei Pflanzen aus einer Seintillans- Familie. Diese Familie entspringt dem Nebenzweig der Lamarckiana-Gruppe (S. 184) und zwar dem einzigen dort er- wähnten Individuum. Dieses war zweijährig und blühte somit in 1896. Von seinen selbstbefruchteten Samen säte ich einen Theil 1898 und befruchtete die Seintillans-Pflanzen wiederum mit ihrem eigenen Pollen. Aus diesen Samen erhielt ich neun Exemplare von Nanella, welche ich auspflanzte und mit sich selbst befruchtete. Aber nur zwei von ihnen lieferten Samen. Sie hatten somit zwei Generationen von Seintillans und vor diesen zwei Generationen von Lamarckiana als Vorfahren. Oenothera nanella. 265 Die Pflanzen waren sehr schwach gewesen; ihre Ernte war eine sehr dürftige. Es keimten nur 22 bezw. 42 Samen, zusammen also 64. Diese waren aber sämmtlich Nanella und bewiesen damit, dass die Zwerge, auch wenn sie aus einer anderen neuen Art entstehen, doch in der ersten Generation nicht nur dieselben sichtbaren Merkmale tragen, sondern auch ebenso gut samenbeständig sind, als diejenigen, welche unmittelbar aus der Lamarckiana hervorgehen. Um die’späteren Generationen auf ihre Constanz bei künstlicher Selbstbefruchtung zu prüfen, habe ich den zweiten oben genannten Versuch als Ausgangspunkt gewählt (S. 263). Aus den dort ge- nannten 2463 Exemplaren wurden einige als Samenträger ausgesucht und mit sich selbst befruchtet. Von vier unter ihnen wurden 1897 die Samen ausgesät; sie lieferten 94, 135, 154 und 164, zusammen also 547 Keimpflanzen, welche ohne Ausnahme Zwerge waren, als sie im Juli, als kräftige Rosetten, beurtheilt wurden. Von diesen Pflanzen liess ich etwa hundert zur Blüthe gelangen und befruchtete darunter wiederum einige mit ihrem eigenen Blüthenstaub. Aus ihren Samen hatte ich 1898 die vierte Nanella-Generation, welche wiederum völlig constant war und von der ich auch dieses Jahr etwa 100 Exemplare zur Blüthe gelangen lies. Auch die fünfte und sechste Generation (1899 und 1900) waren völlig constant; aus der grossen Zahl ihrer Keimlinge (etwa 400 in 1900) erzog ich 70 bezw. 30 Exemplare für Blüthe und Samenernte. Die dritte bis sechste Generation, welche zusammen über tausend Pflanzen umfassten, boten somit keinen einzigen Fall von Atavismus. Die neue Art ist also als völlig constant zu betrachten. Diese Constanz erleidet aber insoweit eine Ausnahme, als die Nanella das Vermögen, zu mutiren, von ihrer Mutterart geerbt hat. Sie bringt dann Individuen hervor, welche zwar Nanella sind, dazu aber noch die Merkmale irgend einer der übrigen abgeleiteten Arten tragen. Und umgekehrt kommt es von Zeit zu Zeit vor, dass aus anderen neuen Arten Zwerge auftreten, welche dann gleichfalls die Merkmale der beiden Typen mit einander verbinden. Man hat dann die An- fange von Arten zweiten Grades, welche den früher behandelten Culturvarietäten zweiter und dritter Ordnung entsprechen. ! Solche Combinationen treten theils in reinen Culturen, theils nach Kreuzungen auf. Ich habe bis jetzt die folgenden Fälle be- obachtet. ! Vergl. z. B. Scabiosa atropurpurea nana purpurea u. s. w. auf S. 139. 266° Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. A nen traten Zwerge auf, welche gleichzeitig die Cha- raktere der Lata, und zwar in voller Ausbildung trugen. Die ersten beobachtete ich 1892 in meiner Nanella, welche damals, wie oben be- schrieben, übrigens schon constant war. Es waren drei Exemplare, welche wie die anderen einjährig waren, in Mitten dieser blühten und mit ihrem Pollen befruchtet wurden. Sie trugen einige Früchte mit wenigen Samen. Sie erreichten eine Höhe von 25 cm und waren bereits vor der Blüthe als Nanella-lata zu erkennen. Ihre breiten, ab- gerundeten Blätter, die gedrungene Inflorescenz mit den breiten Brac- teen, ihre dicken, geschwollenen Blüthenknospen und gerunzelten Blumen waren ganz so, wie bei der echten Lata. Aus den nanella- befruchteten Samen gingen aber nur gewöhnliche Nanella-Pflanzen auf. Im Sommer 1896 hatte ich nochmals aus Samen künstlich mit sich selbst befruchteter Nanella eine Nanella-lata, welche genau mit denen von 1892 übereinstimmte. In den Jahren 1898 und 1899 trat dieselbe Combination aus Samen zum Vorschein, welche durch Kreuzungen erhalten worden waren, und zwar einerseits aus O. Lamarckiana X O. nanella, anderer- seits aus O. lata x O. nanella. In der erstgenannten Cultur gab es zwei solche Exemplare (1898) auf etwa 100 Zwergen, in der anderen (1899) nur eins auf 133 Nanella- und 79 Lata-Pflanzen. Die letztere Cultur war ausschliesslich zu dem Zwecke vorgenommen worden, um zu versuchen, durch Kreuzung der beiden fraglichen Formen die Com- bination hervorzurufen. Es gelang dies zwar, und auch mit der gleich- zeitigen vollen Ausbildung der Wlenlemeus beider Eltern, aber nur in diesem einzigen Exemplare. Ausser Nanella-lata habe ich noch die folgenden Combinationen beobachtet: Combinationstypen von Oenothera nanella. Aus Samen von: Combination: Jahr O. Lamarckiana x O. nanella O. nanella-oblonga 1898 O. lata x O. nanella O. nanella-albida 1899 3 > O. nanella-elliptica 1899 r O. nanella-seintillans 1899 O. nanella O. nanella-oblonga 1897 OÖ. seintillans O. seintillans-nanella 1899 O. gigas O. gigas-nanella 1897 O. Lamarckiana O. nanella-elliptica 1889 Es geht aus dieser Aufzählung hervor, dass die Zwergmerkmale sich mit denen der verschiedenen anderen neuen Arten verbinden Oenothera nanella. 267 können. Und andererseits verbinden sich diese unter einander, falls je, in noch viel geringerem Maasse. In dieser Hinsicht verhält sich die Nanella somit in abweichender Weise, und dieses hängt vermuth- lich damit zusammen, dass sie auch ihrer sonstigen Natur nach jenen anderen gegenübersteht. Fasst man, nach den im Anfang dieses Pas gegebenen Auseinandersetzungen, die Nanella als Varietät auf, so kann man sagen, dass diese Varietät ebenso gut von den neuen elementaren Arten meiner Cultur, als von der ©. Lamarckiana selbst vorkommen kann. Es ist‘ dabei zu bemerken, dass ausser O0. nanella-lata von den sechs erwähnten Dlerealbner Ronncnn nur eine durch Samen von Nanella-Eltern hervorgebracht wor- den ist. .Es erübrigt noch, Einiges über die Blüthen der Zwerge nachzu- tragen (Fig. 77 S. 256). Die Blüthen der Zwerge sind im Verhältniss zu den kleinen Pflan- zen auffallend gross, namentlich auf kräftigen zweijährigen Individuen. Auf diesen erreichen sie nahezu die- selbe Grösse wie bei den hohen O. Lamarckiana. Auf den einjährig blühenden Exemplaren (Fig. 77) sind sie meist etwas kleiner, der Schwäche a | des ganzen Pflänzchens entsprechend. Fig. 80. Oenothera manella. Blüthen- Die Petalen erreichen oft nur knospen am Gipfel des Stengels. Da- 1 0 neben die häufigsten Missbildungen sol- 211, x4 cm, gegen 3x5 cm bei der cher Knospen. Lamarckiana. Auf einjährigen Exemplaren sind die Blüthen vielfach unvoll- ständiger Ausbildung ausgesetzt. Aber meist nur eine oder wenige Blumen pro Pflanze. Bisweilen fehlt der Blüthenstaub oder er ist nur in spärlicher Menge entwickelt; ziemlich oft können die Narben sich nicht öffnen und bleiben somit zu einem vierseitig-conischen Ge- bilde zusammengefügt. Dieses Gebilde ist oft nur sehr klein und so schwach, dass es vor der Bestäubung sich schwärzt und vertrocknet. Oder der Griffel ist zu kurz, bisweilen kaum aus der Blüthenröhre hervorragend. Sehr auffallend ist der schiefe Stand der Blüthenknospen auf den Kelchröhren (Fig. 80). Die Kelchzipfel mitsammt der Krone sind dann an ihrem Grunde gebogen; im ersteren Fall derart, dass 268 Das Auftreten der einzelnen neuen Arlen. sie senkrecht auf der Röhre stehen. Das Oeffnen des Kelches ist dadurch erschwert und geht in abnormaler, oft mangelhafter Weise vor sich. Die Blumenblätter entfalten sich unvollständig und die Geschlechtstheile sind meist mehr oder weniger steril. Alle diese Abweichungen sieht man namentlich an den untersten Blüten der Traube, zumal wenn die Pflanze bereits bei einer Stengel- höhe von 10—15cm zu blühen anfängt. Aber auch bei der gewöhn- lichen Lamarckiana misslingen oft mehrere von den untersten Blüthen. Wächst die Nanella durch diese Periode hindurch und wird sie dabei auffallend kräftiger, so bildet sich nach einer kürzeren oder längeren blüthenlosen Zwischenstrecke in der Traube meist eine volle und schöne Krone grosser Blumen aus. Diese erhebt sich auf dem dürren, wenig beblätterten blüthenlosen Stengeltheil hoch über die untere Hälfte der Inflorescenz empor. Aber bei Weitem nicht alle Individuen werden hinreichend stark, um solches zu erreichen. Handelt es sich somit darum, die Zwerge in möglichst schöner Entwickelung und voller Blüthenpracht zu cultiviren, so empfiehlt es sich, sie stets durch späte Aussaat zu zweijährigen Exemplaren zu erziehen. C. Die nicht constanten jüngeren Arten. $ 19. Oenothera seintillans. (Tafel V.) Soviel man weiss, sind die Arten in der Natur constant. Und dasselbe gilt von den elementaren Arten und den meisten sogenannten Varietäten. Zwar meinten die älteren Systematiker, wie KocH, SPACH und viele Andere, gerade durch den Mangel an Samenbeständigkeit die Varietäten von den Arten unterscheiden zu können. Aber in ihren zahlreichen diesbezüglichen Versuchen haben sie nur selten die Blüthen gegen Insektenbesuch geschützt und somit Kreuzungen aus- geschlossen. Nimmt man diese Fürsorge, so sind wenigstens viele Varietäten ebenso samenbeständig wie die Arten. Die allgemeine Ueberzeugung von der Constanz der Arten hat dazu geführt, diese Eigenschaft als zum Wesen der Art gehörig zu betrachten. Und von diesem Standpunkte aus wäre es ein Wider- spruch, von nichtconstanten Arten zu reden. Ein solcher Widerspruch besteht aber nur für die Anhänger der herrschenden Selectionslehre. Die Mutationstheorie hebt auch diese Schwierigkeit auf. Mangel an Constanz ist offenbar eine der nach- theiligsten Eigenschaften, welche eine Art besitzen kann, und die Oenothera seintillans. 269 Selectionslehre, welche ja nur die Ausbildung nützlicher Eigenschaften erklären kann, muss selbstverständlich einen solchen Fall durchaus verwerfen. Nach der Mutationstheorie kann jede Art, wenn sie nur nicht so schwach ist, dass sie überhaupt nicht bestehen und sich fortpflanzen kann, wenigstens eine Zeit lang sich neben der Mutterart behaupten. Und die Oenothera brevistylis (II, $ 11), welche fast keine Samen bildet und sich dennoch seit 1387 auf dem wilden Fundort zwischen der O. Lamarckiana behauptet, beweist die Berechtigung dieser Auf- fassung. Ohne Zweifel wird sie später einmal, wenn der Kampf um’s Dasein sie zu sehr beengen wird, der Lamarckiana unterliegen oder im Kampf gegen andere Gewächse verschwinden, während diese siegt. Aber wenn die Lebensbedingungen solche bleiben, wie sie bis jetzt waren, ist wenigstens die Möglichkeit gegeben, dass die O. brevistylis sich fortwährend zwischen der Lamarckiana behauptet. Man kann sich aus dieser Schwierigkeit heraushelfen, wenn man sich entschliesst, nur solche Formen Arten zu nennen, welche den Kampf um’s Dasein in der Natur siegreich bestanden haben. Eine solche Beschränkung ist aber eine völlig willkürliche und nur dazu geeignet, die ohnehin schwierige Frage auf diesem Gebiete noch mehr zu verwickeln. Auf Grund der Mutationslehre ist es viel einfacher, die Möglich- keit zu erkennen, dass Arten entstehen, welche auf die Dauer nicht existenzfähig sind. Die Mutabilität ist ja eine allseitige (I, S 26, S. 139), sie wird von der grösseren oder geringeren Zweckmässigkeit ihrer Producte in keiner Weise beeinflusst. Sie bringt einfach deren viele hervor, es dem Kampf um’s Dasein überlassend, darunter zu wählen, was existenzfähig und tüchtig ist. Aber der Kampf um’s Dasein wählt in dem einen Falle das Eine, im anderen das Andere, je nach den gerade obwaltenden Lebensbedingungen,. Was zum Schlusse überlebt, ist nicht principiell, sondern nur quantitativ von den verschwindenden Formen verschieden. Die Mutationstheorie lässt somit die Möglichkeit einer Production auch solcher Typen zu, welche aus irgend einem Grunde früher oder später wieder zu Grunde gehen werden, ohne je einen wesentlichen Antheil an der Flora oder der Fauna eines Landes genommen zu haben. Die Ursachen dieses Verschwindens aber können hauptsäch- lich drei sein: 1) Sterilität oder doch ungenügende Fertilität, 2) indi- viduelle Schwäche, 3) unvollkommene Samenbeständigkeit. Und es liegt gar kein Grund vor, zu erwarten, dass mehr existenz- fähige als existenzunfähige Arten entstehen sollten. 270 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. In meinen Culturen sind, neben krättigen (O. gigas und O. rubri- nervis) und schwächeren Arten (O. oblonga und O. albida), auch eine Reihe solcher entstanden, welche entweder steril oder, bei völliger Fertilität, nicht samenbeständig waren. Wären nicht alle Arten auf Erden vorübergehend, so würde ich vorschlagen, sie vorübergehende zu nennen. ‚Jetzt nenne ich die eine Gruppe die inconstanten, die andere die infertilen Arten. Beide können im Freien auf die Dauer nicht bestehen. Unter den Arten, welche die gewöhnliche Durchforschung der Natur uns kennen lehrt, müssen sie also nothwendiger Weise fehlen. Nur wenn man eine Art in einer Mutationsperiode untersuchen kann, hat man Aussicht, solche Typen neben ihr anzutreffen. Ich behandle zunächst einige Typen inconstänter Arten und fange mit der am ausfürlichsten untersuchten unter ihnen an. Es ist dieses die Oenothera seintillans, welche auf Tafel V und in Fig. 47 auf S. 171 abgebildet wurde. In 8 3 dieses Abschnittes habe ich bereits mitgetheilt, dass, nach sorgfältiger künstlicher Befruchtung mit dem eigenen Blüthenstaub, unter Ausschluss jeglichen Insecten- besuches, aus ihren Samen drei verschiedene Formen hervorgehen.! Sie bilden theils wiederum O. seintillans, theils O. oblonga, theils O. Lamarckiana. Und zwar in ziemlich festen Verhältnissen, das eine Mal etwa 35—40°/,, das andere Mal etwa 70°/, Seintillans hervorbringend. Um die Folgen dieser Inconstanz berechnen zu können, ist zu- nächst die Frage zu beantworten, wie sich die folgenden Generationen verhalten werden. Ich werde darüber unten einige Versuche mit- theilen; sie lehren, dass die O. oblonga und O. Lamarckiana ebenso constant sind, als wenn sie aus dem Hauptstamme der Lamarekiana- Familie ohne Vermittelung von O. seintillans hervorgegangen wären. Die Seintillans-Exemplare verhalten sich dagegen bei Selbstbefruchtung wie ihre Mütter; sie spalten sich in ihren Samen in derselben Weise wie diese. a) Welche wird nun die Zusammensetzung der auf einander folgenden (senerationen sein? Wir setzen dabei voraus, dass sie sich selbst befruchten, aber dass keine Auswahl stattfindet, und stellen ferner behufs einer Berechnung in runden Zahlen die Anzahl der Seintillans- Pflanzen jedesmal auf etwa ein Drittel der ganzen Generation. Den Umfang der Generationen beschränken wir stets auf 1000 Pflanzen. Es werden dann offenbar enthalten’: ! Für die Erklärung dieser Erscheinung vergleiche man den zweiten Band. ° Die zte Generation muss dann (!/,)* Seintillans-Pflanzen enthalten. Oenothera sceintillans. 271 Seintillans Lamarckiana + Oblonga 1. Generation 333 667 2 R 111 222 + 667 = 889 3% „ 37 74 + 889 = 963 4. 5 12 25 + 963 = 988 5 * 4 8 + 988 = 996 6 S 1 .3 + 996 = 999 7 N 0 1000 Nach sieben Generationen würde die Seintillans auf einem Fund- orte von etwa 1000 Pflanzen somit ausgestorben sein, wenn keine Wahl stattgefunden hätte. Im vorliegenden Fall aber würde eine solche Wahl den Process wesentlich beschleunigen, da die Seintillans- Pflanzen so viel schwächer sind als die Lamarckiana. Es ist somit klar, dass die Eigenschaft, neben solchen Kindern, welche den Eltern gleichen, noch andere, aber constante Typen hervor- zubringen, eine Art früher oder später, aber unvermeidlich, zum Ver- schwinden bringen muss. Sind die constanten Nebentypen in jeder Generation in geringerer Anzahl vertreten, wie bei der O. scintillans mit etwa 70°/, Erben (S. 173), so wird es längere Zeit dauern, bis die Form verschwindet, aber verschwinden muss sie doch.’ Nur wenn sie ihren Nebenpro- ducten an individueller Kraft weit überlegen wäre, würde sie diese offenbar jedesmal unterdrücken können. Sie käme dann in dieselbe Lage, in der sich die ©. Lamarckiana augenblicklich selbst auf dem wilden Fundort den aus ihr entspringenden Arten gegenüber befindet. Das Mitgetheilte giebt eine einfache Erklärung von dem Mangel (oder der grossen Seltenheit?) nichtconstanter Arten in der Natur. Denn es ist gar nicht erforderlich anzunehmen, dass solche nicht ent- stehen könnten oder nicht vielleicht häufig entstünden. Es genüst der Nachweis, dass sie auf die Dauer sich nicht behaupten können. Sich selbst überlassen, sind sie nach wenigen Jahren auf 1°/, oder gar 1°/,, der Gesammtanzahl ihrer eigenen Nachkommenschaft redu- eirt, um bald darauf gänzlich zu erlöschen. Nur wenn sie fort- während oder doch von Zeit zu Zeit neu hervorgebracht werden, also in der Mutationsperiode ihrer Mutterart, werden sie sich behaupten können. Existenzunfähige Typen können somit nach der Muta- tionstheorie auftreten und wieder verschwinden, und die ! Die 12. Generation wird die Form auf etwa 1 °/, herabbringen, die xte im Allgemeinen auf (?/,0)*. 272 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. Erfahrung bestätigt auch hier die Theorie. Für die Selections- theorie aber dürften solche Fälle wohl unübersteigliche Schwierig- keiten bilden. Nach diesen Auseinandersetzungen komme ich jetzt zu der spe- ciellen Behandlung unseres ersten Beispiels, der O. seintillıns, und knüpfe zunächst an die Abbildungen Fig. 47 und Tafel V an. Diese stellen die blühenden Gipfel einjähriger Exemplare dar und fallen so- fort durch die langen, spitzen, knospentragenden Internodien oberhalb der blühenden Blüthen auf. Dieses Merkmal bestimmt den Habitus der Pflanzen vom Juli bis spät in den Herbst, während bei den Fig. 81. Oenothera seintillans. A Junge Pflanze mit 6 Blättern oberhalb der Cotylen. B Junge Rosette im Alter von zwei Monaten. meisten anderen Arten die Blüthenknospen nicht erheblich über die Krone leuchtender Blumen hervorragen. Auch sind die Bracteen in diesem Theile verhältnissmässig gross, der jüngste Stengeltheil somit stark beblättert. Die Blüthen sind wesentlich kleiner als bei der O. Lamarckiana,, was aber ohne Zweifel auf die allgemeine Schwäche der Pflanze zurückgeführt werden muss. Sonst ist der Bau der Blüthe derselbe wie bei der Mutterart; namentlich reichen die Narben über die Antheren hinaus und befruchten die Blumen sich somit nur aus- nahmsweise selbst. Der Blüthenstaub ist in seiner Entwickelung in hohem Grade von äusseren Einflüssen abhängig. Oft ist er sehr reichlich, oft sehr spärlich, bisweilen fehlt er völlig. Diese Variationen findet man auf derselben Pflanze; sie scheinen hauptsächlich von der Temperatur abzuhängen, indem bei warmer Witterung der Pollen Oenothera seintillans. 273 zurückgeht. Bei künstlicher Befruchtung in Pergaminbeuteln, an heissen Tagen in voller Sonne, habe ich durch die schlechte Aus- bildung des Pollens manche Frucht verloren, da die Blume nicht hin- reichenden Staub enthielt, um Samen anzusetzen. Die einjährigen Individuen sind nur wenig verzweigt und fangen bereits bei !/, Meter Höhe oder noch weniger zu blühen an. Ihre Seitenzweige tragen sie auf einer kleinen Strecke dicht unterhalb der blühenden Region, und auf ihnen bilden sich meist erst gegen Ende September oder noch später einzelne Blüthen aus. Die zweijährigen Exemplare sind meist stärker verzweigt, oft, wenn der Vegetations- punkt im Winter erfror, einen Kranz von Nebenstengeln bildend. Sie sind in jeder Hinsicht kräftiger und tragen namentlich grössere Früchte mit besseren. Samen. Glänzende, dunkel- grüne, glatte, schmale Blätter bilden das eigentliche Merkmal dieser Art. Die Wurzelroset- ten der jungen Pflanzen (Fig. 81 und 82) fallen sofort durch diese Eigen- schaften auf und sind leicht von den Indivi- duen anderer beige- mischter Arten zu tren- En (Fig. 2 aus N: Fig. 32. Oenothera seintillans. Eine Rosett Anfangs sind die Blätter , Wurzelblättern. Ende Juni. En noch nicht sehr schmal, dieses tritt eigentlich erst nach 2—3 Monaten deutlich ein, prägt sich dann aber im Sommer allmählich stärker aus, sowohl wenn die Pflanzen Rosetten bleiben, als auch wenn sie Stengel treiben. Der Mittel- nerv ist breit und ebenso wie der Blattstiel blassgrün, fast weisslich, ohne Spur von rother Farbe. Die Blätter der erwachsenen Rosetten sind langgestielt, etwa vier Mal so lang wie breit, oder noch schmäler. Buckel fehlen ihnen, ebenso der grünlichweisse Ueberzug der O. albida und der O.rubrinervis; sie sind meist völlig glatt und durch ihre dunkel- grüne Farbe gänzlich von der Lamarckiana verschieden. Ueberhaupt hat die Scintillans mit dieser, abgesehen von den Blüthen, fast keine Aehnlichkeit. DE VEIES, Mutation. I 18 274 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. Die Stengelblätter (Fig. 54 S. 209) stimmen mit den Wurzelblättern in den wesentlichen Punkten überein und bedürfen deshalb keiner be- sonderen Beschreibung. In Bezug auf das Auftreten durch Mutation gehört die O. scin- tillans, mit O. gigas und O. semilata, zu den seltensten Typen. Sie trat im Ganzen 14 Mal als Mutante auf. Obgleich die meisten dieser Fälle bereits oben erwähnt sind, lohnt es sich doch, sie hier zusammen- zustellen. Oenothera seintillans. Durch Mutation entstandene Individuen. Keimlinge Entstanden; Jahr Gesammtzahl O. seintillans an) ragend Aus? Ol later er el — 1 1 (2) 1895 14 000 1 0 In der Lamarckiana-Familie . 1896 8 000 6 2 (2) 1897 1 800 1 0 Im Nebenzweig dieser Familie . 1895 10 000 1 1 (2) Aus O. Lam., Nebencultur . . 1897 3 000 2 0 AUSAO MIETE ae BES IS 164 1 1() Aus O. lata x O. biennis. . . 1899 300 1 0 Wie die letzten Spalten der Tabelle angeben, gelang es mir nur von fünf dieser Mutanten, reife Früchte zu gewinnen, darunter trugen vier im zweiten (2) und nur eins im ersten Jahre Samen (1), Die übrigen gingen als Rosetten oder doch vor der Samenreife zu Grunde. Die aus diesen Samen erhaltenen Culturen sind nach ihrer procen- tualen Zusammensetzung auf 8. 172—173 aufgeführt und sollen jetzt ausführlicher beschrieben werden. Ich fange mit der ältesten an. Sie keimte in der S. 204 er- wähnten Lata-Familie im Jahre 1888, war zweijährig und blühte im Juli 1889 reichlich, wurde aber der freien Bestäubung inmitten der Lamarckiana-Pflanzen überlassen. Sie hatte alle Merkmale, welche später sowohl in ihren Nachkömmlingen als in den übrigen Mutanten beobachtet wurden. Ich säte ihre Samen theils im Jahre 1890, theils 1894 und erhielt in beiden Jahren einige einjährig blühende Sein- tillans-Pflanzen und einige, welche Rosetten blieben. Die Rosetten von 1894 blühten 1895; die Pflanzen wurden dann in Pergamin- beuteln mit ihrem eigenen Pollen befruchtet. Es waren 14 kräftige, nahezu unverzweigte Pflanzen, welche in ihren kleinen Früchten etwa 1—3ccm Samen pro Individuum lieferten. Die Samen wurden auf getrennte Beete ausgesät und die jungen Pflanzen Ende Juni gezählt. Oenothera seintillans. 275 Da die Samen breit ausgestreut waren und nicht reichlich aufkamen, standen die Pflänzchen weit, und hatten sie vollen Raum, ihre Merk- male schön auszubilden. Ich zählte!: Pro Samenträger Im Ganzen In, Keimpflanzen 16—52 399 — O. seintillans 2—9 62 15 O. Lamarckiana 7—36 268 68 O0. oblonga 1—11 60 15 O. lata - 0—2 $) 2 O. nanella 0—1 1 —_ Es geht aus diesem Versuche hervor, dass jeder der 14 Samen- träger bei Selbstbefruchtung aus seinen Samen die drei Hauptformen hervorbrachte. Sie thaten dieses, soweit die kleinen Zahlen es zu beurtheilen gestatteten, in nicht zu sehr von einander abweichenden Verhältnissen. Bei dieser Cultur war die Mutante oder Urpflanze von Insecten befruchtet,;, die nachher aufgetretenen Mutanten habe ich aber jedes Mal, sobald sie zu blühen anfingen, in Pergaminbeuteln einge- geschlossen und künstlich befruchtet. Es geschah solches zum ersten Male im Jahre 1896 mit der S. 184 erwähnten Scintillans-Pflanze im Nebenzweig der Lamarckiana-Familie. Sie bildete sechs Stengel aus den Achseln ihrer Wurzelblätter und trug reichlich Samen. Auch gelang es mir, von ihren übrigen Rosettenzweigen Stecklinge zu neh- men, diese zu überwintern und sie also im dritten Jahre zur Blüthe gelangen zu lassen. Die Samen von 1896 säte ich theils 1897, theils 1898 aus, und zwar im erstgenannten Jahre theils in Schüsseln, theils auf einem Beete im Garten. Diese drei Proben lieferten mir die folgenden Zahlen ?: 1897 1897 1898 in Schüsseln im Garten in Schüsseln Anzahl der Keimpflanzen 572 275 165 O. seintillans 3020n 34°), 30 8 O0. Lamarckiana DDR Daun, 60 „ O. oblonga 102, 1355, 32% O. lata ae: jest 1520 O. nanella 12:5; 0 Im Sommer 1897 habe ich in dieser Oultur fünf Lamarckiana- Exemplare mit ihrem eigenen Blüthenstaub künstlich befruchtet, 1 Vergl. S. 172, die erste Tabelle. ? Vergl. auf S. 172 die dritte Tabelle. 18 276 Das Aufireten q der "einzelnen neuen u Sie a je , 1213 ccm Sen. von damen ein | Theil im nächsten Jahre ausgesät wurde, und zwar nein im Garten, theils in Schüsseln. Es gingen im Garten 117, in den Schüsseln 1079 Pflanzen auf. Unter diesen war kein einziges Exemplar der Scintillans. Es waren fast nur Lamarckiana-Pflanzen, aber mit einer nicht unerheblichen Anzahl von Mutanten. Diese waren auf dem Beete: 4 O. rubrinervis, 3 O. lata, 1 O. nanella, 1 O. albida und dazu 2 O. oblonga. Im den Schüsseln nur O. nanella und zwar in sieben Exemplaren. Die aus O, seintillans hervorgehenden Lamarckiana-Pflanzen sind somit samenbeständig, haben aber die Mutabilität der ursprünglichen Lamarckiana, somit ihrer Grosseltern, zurückerlangt. Eine Spaltung in Lamarckiana, Seintillans und Oblonga bei der Fortpflanzung, wie sie für die Seintillans-Exemplare normal ist, fehlt aber den Lamarckiana-Individuen derselben Aussaaten. Von den aufgezählten Mutanten haben O. rubrinervis, O. lata und O. nanella in demselben Sommer geblüht. Es entstand jetzt die sehr wichtige Frage, wie sich die Sein- hillans- Exemplare selbst bei künstlicher Selbstbefruchtung verhalten würden. Ich habe zu diesem Zweck in der Cultur von 1898 etwas über 50 Pflanzen dieser Operation unterworfen und ihre Samen ge- trennt geerntet und ausgesät. Sämmtliche Keimpflanzen wurden in der Jugend ausgepflanzt, um ihnen hinreichenden Raum für die Ent- faltung der Rosetten zu geben, und anfänglich unter Glas gehalten. Das Zählen der Rosetten fand im Alter von 2—3 Monaten von Mitte Mai bis Mitte Juni statt (vergl. Fig. 82). Es wurden im Ganzen etwa 5850 Rosetten beurtheilt, welche von 42 Müttern abstammten (die Saaten, welche pro Mutter weniger als etwa 50 Keimpflanzen ent-' hielten, wurden zwar gezählt, aber von den Berechnungen ausge- schlossen). Es kamen also im Mittel etwa 140 Exemplare pro Mutter. Die Anzahl der Seintillans-Exemplare wechselte selbstverständlich in den Aussaaten sehr, namentlich auch wegen der geringen Anzahl der gezählten Exemplare. Ich habe für jede Mutter die procentische Anzahl bestimmt und bringe diese Werthe in Gruppen von 1—10°/,, 10—20°/, u.s.w. Ich fand: Anzahl der Mütter 7% 1 19, 1 21—30 %/, 9 31-40 „, 41—50 „ Si > Oenothera scintillans. DIN Im Mittel etwa 40°/,, also eine Zahl, welche mit der Erbziffer der Grossmutter (36°/,) hinreichend genau übereinstimmt. Die Oblonga-Exemplare betrugen in dieser Cultur 0—12 pro Mutter, im Ganzen 197. Also im Mittel etwa 5°/,. Die übrigen waren, mit Ausnahme von ungefähr 1°/, O. lata und O. nanella, sämmt- lich ©. Lamarckiana. Wir haben somit im Mittel: 2. Generation 1. Generation O. sceintillans 40°), 36 °/, O. Lamarckiana 56), 607, O. oblonga 3 30 O. lata und nanella 1%; 1, Die Uebereinstimmung zwischen den beiden auf einander folgenden Generationen ist somit so gross, als sie bei derartigen, vielen Fehlern ausgesetzten Versuchen überhaupt nur erwartet werden darf. . Es gab vier Mütter mit 52, 52, 54, 55°), Seintillens auf 111, 61, 161 und 95 Keimpflanzen. Die Verhältnisszahlen sind also wohl etwas zu hoch ausgefallen; sie würden bei umfangreicherer Ernte gewiss vom Mittel weniger abweichen. Aber sie weichen ohne Zweifel ab. Bilden sie einen Fortschritt? Würde man durch Selection die Procentanzahl der Erben erhöhen können? Mir scheint solches nicht der Fall zu sein, der ganze Fortschritt liegt wohl noch innerhalb der Grenzen der gewöhnlichen individuellen Variabilität. Im Hauptstamm der Lamarckiana-Familie keimten im Jahre 1896 sechs Pflanzen von O. scintillans (S. 157 und S. 274). Von diesen gelang es mir, zwei zu überwintern und 1897 zur Blüthe zu bringen. Die Befruchtung geschah wiederum unter Ausschluss des Insecten- besuches. Die Samenernte war nur eine geringe, !/, und 2 ccm um- fassend; die Aussaat fand im März 1898 statt und zwar für die beiden Mütter getrennt. Die eine Mutter gab 365 Keimlinge, unter denen die einzelnen Typen in denselben Verhältnissen vertreten waren, wie im vorigen Versuch.” Die andere gab nur etwa 200 Kinder, aber mit einer ganz anderen Zusammensetzung.” Es fanden sich jetzt 69°/, Seintillans, also doppelt so viel wie in den bisherigen Versuchen. Ebenso war die Anzahl der Oblonga etwa verdoppelt und auf 21°/, gekommen. Dem ! Vergl. die Zahlen in der unteren Tabelle auf S. 172. =S7.1178. 278 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. entsprechend war die Zahl der Lamarckiana-Exemplare sehr zurück- gegangen (8°/,), während die der Mutanten (O. lata, O. nanella u. S. W.) auf etwa 2°/, geblieben war. Es giebt somit bei der O. scintillans verschiedene Grade der Erh- kraft, wenn wir durch dieses Wort den procentischen Gehalt an Erben (d. h. an der Mutter in den Artmerkmalen gleichen Kindern) in den Aussaaten der Samen nach Selbstbefruchtung andeuten. Die Erbkraft kann entweder etwa 35—40°/, oder etwa 69°), sein; und die letztere Zahl ist etwa doppelt so gross, wie die erstere. Sie bleibt im ersten Falle in der zweiten Generation im Wesentlichen constant und im zweiten wird bei weiterer Cultur die Grenze ebenso wenig verwischt. Es ergiebt sich dieses aus der Fortsetzung des besprochenen Versuches (vergl. S. 173). Es wurden 1898 etwas über 30 Pflanzen mit sich selbst befruchtet; sie lieferten allerdings geringe Ernten. Von 26 unter ihnen keimte eine etwa genügende Anzahl, zusammen etwas über 2200 Exemplare, im Mittel etwa 90 Pflanzen pro Mutter. Ich bringe die für die einzelnen Mütter ermittelten Erbziffern wiederum in Gruppen: °/, Seintillans Anzahl der Mutterpflanzen Fer 69 T1-— 1A, 1080 81-85 „, 86—90 „, 92—93 „ Doom D Im Mittel war der Gehalt 84°/,, während die Erbziffer der Mütter, wie erwähnt, 69°/, betrug. Irgend eine Annäherung an die 35°/,ige Rasse gab es aber gar nicht. Die mittlere Zusammensetzung der ganzen Cultur für die 26 Mutterpflanzen von 1898 war: O. seintillans 84°, O. Lamarckiana 13 „, O. oblonga 2% O. lata 1.35; Der Gehalt an O. oblonga war also stark abgenommen, jener an O. La- marckiana eher zugenommen (vergl. 8. 173). In dieser Cultur habe ich im Sommer 1899. wiederum eine mög- lichst grosse Reihe von blühenden Pflanzen der künstlichen Selbst- Oenothera scintillans. 279 befruchtung unterworfen. Ich wählte diese unter der Nachkommen- schaft von zwei Müttern, welche darin 87°/, bezw. 90°), Seintillans aufwiesen, welche also zu den besten Erben der Rasse zu gehören schienen. Ich befruchtete nur Seintillans-Individuen. Die Ernte fiel aber sehr schlecht aus; die Aussaat gab nur für zehn Samenträger mehr als 60 Keimpflanzen, welche im Juni beurtheilt werden konnten. Diese gaben aber hohe Erbziffern: Mutter Anzahl der Keimpflanzen °/, Seintillans 1 146 86 2 122 91 3 113 16 4 112 92 5 98 89 6 96 87 7 ib 83 8 16) 80 Ö 74 81 10 68 74 Die ganze Aussaat aber gab aus den Samen von 29 Müttern: Anzahl der Keimlinge In °, O. seintillans 1126 19 O. Lamarckiana 93 6 O. oblonga 209 15 Summa 1428 — Diese Zahlen stimmen, trotz der Auswahl von zwei Samenmüttern mit 87 und 90°/, Seintillans, fast genau mit dem mittleren Werthe der Cultur in der vorigen Generation überein, abgesehen davon, dass die Verhältnisszahlen für die beiden Nebentypen hier umgewechselt er- scheinen. Es spricht dieses Ergebniss, wie das oben (S. 277) für die 35°/ ige Rasse mitgetheilte, dafür, dass die Abweichungen von der mittleren Erbziffer als Erscheinungen individueller Variabilität, und somit als von der Mutabilität unabhängig zu betrachten sind. Die fünfte Mutante von O. seintillans, von der ich Samen ge- winnen konnte, stammte aus der S$. 202 beschriebenen Laia- Familie im Jahre 1898 ab. Es war eine einzige Pflanze, welche aber im Gegensatz zu allen früheren sehr bald einen Stengel trieb und somit bereits im ersten Sommer blühte. Sie wurde unter Ausschluss des Insectenbesuches mit sich selbst befruchtet, trug wenig Samen und 280 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. lieferte 1899 148 sortirbare Keimpflanzen, von denen 37°/, Sein- tillans waren.! } Hier kam also, trotz ganz verschiedener Abstammung und trotz der Einjährigkeit, dieselbe Zahl wiederum zum Vorschein, als bei zwei der drei anderen, auf ihre Erbziffer geprüften Mutanten. Ich fasse jetzt die gefundenen Erbziffern zusammen. Es sind dies somit die Procentzahlen für die in der Aussaat der Samen je einer Mutter. gefundenen Seintillans-Pflanzen: Scintillans - Pflanzen Abstammung aus: Jahr der 2. Generation 3. Generation 4. Generation O Mutation 5 5 5 lo lo lo O. lata 1888 — 15 5 1598 37 O. Lamarckiana 1895 34—36 40 R 1896 39 R 1896 69 84 79 Man sieht jetzt deutlich, wie diese Zahlen sich in Gruppen ordnen. Diese Gruppen, 15°/,, 34—40°/,, 69—84°/,, verhalten sich zu ein- ander ungefähr wie 1:2:4. Es wäre offenbar sehr wichtig, für eine grössere Zahl von Seintillans-Mutanten diese Erbzahlen zu bestimmen; vielleicht würde sich dabei mehr Abwechselung zeigen, vielleicht auch würden sich die jetzigen Gruppen nur als scheinbare herausstellen. Vielleicht würde man auch wohl eine constante Rasse von O. scin- tillans bekommen. $ 20. Oenothera elliptica. Es kommen fast alljährlich unter meinen Saaten vereinzelte Exemplare mit ganz schmalen Blättern vor. Unter diesen giebt es drei Typen. Erstens solche, deren Blätter durch Missbildung zu schmal sind. Dann ist meist die eine Spreitenhälfte mehr reducirt als die andere, und das Blatt demzufolge mehr oder weniger ge- krümmt. Solche Pflanzen gehen früher oder später zu der normalen O. Lamarckiana zurück und verhalten sich nachher ganz wie diese. Die Schmalblätterigkeit ist hier vermuthlich eine pathologische Er- scheinung; die betreffenden Fälle sollen weiter nicht berücksichtigt werden. Die beiden anderen Typen sind constant, sie erhalten sich zeit- lebens. Der eine hat längliche Blätter, welche in der Mitte am breitesten sind und von dort aus sehr allmählich in die Spitze und ! Vergl. die zweite Tabelle auf S. 172. nn Oenothera_ elliptica. 281 in den Blattstiel übergehen. Ich nenne diese Form O. elliptiea. Die andere, viel seltenere, hat lineare, fast grasähnliche Blätter und soll im nächsten Paragraphen als O. sublinearis besprochen werden. Die jungen Pflanzen von O. elliptica fallen bereits früh auf (Fig. S3B, zu vergleichen mit Fig. 64—66 auf S. 229—230). Ihre Blätter sind langgestielt, sehr schmal; sie er- reichen bei einer Sprei- tenlänge von S—10 cm oft nur 0-5—0-7 cm Breite. Demzufolge assi- miliren sie selbstverständ- lich viel weniger Kohlen- säure wie die O. La- marckiana, bleiben schwach und werden von dieser leicht überwuchert. Aber auch wenn man sie früh verpflanzt und mög- lichst für sie sorgt, wach- sen sie nur ganz langsam heran. Die in Fig. 83 B abgebildete Pflanze wurde im Juli photographirt. Weitaus die meisten durch Mutation aufge- tretenen Exemplare die- ser Art blieben im ersten Sommer Rosetten; sie waren so schwach, dass es nur selten gelang, sie zu überwintern. Andere Fig. 83. Oenothera elliptica. 4A Beblätterter Zweig - einer älteren Pflanze (1895). 2 Eine Keimpflanze von trieben zwar Stengel, 1893. © Wurzelblatt einer erwachsenen Rosette (1890). brachten es aber nicht bis zur Blüthe. Im Ganzen habe ich nur auf zehn Exemplaren die Blumen beobachtet und von diesen wiederum nur auf fünf Pflanzen Samen erhalten. Die blühenden Pflanzen bleiben schwach; ihre Blätter behalten dieselbe länglich-schmale Form (Fig. 83 4). Sie sind meist niedrig, aber stark verästelt und sind einer Oenothera Lamarckiana so unähn- 282 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. lich, dass man sie gar nicht für verwandt halten würde. Die jungen Pflanzen sind aus diesem Grunde mehrfach der Gefahr ausgesetzt gewesen, für Unkraut gehalten und ausgerodet zu werden.! Die Blumen zeigen die Zugehörigkeit zu der O. Lamarckiana ohne Weiteres. Sie sind gross und schön, grösser als sich auf so schwachen Pflanzen, nach den Erfahrungen bei O oblonga, O. scintillans u. S. w. erwarten liesse. Sie haben denselben Bau wie bei der Mutterart, namentlich reicht die Narbe über den Antheren heraus und bedürfen sie somit der Hülfe der Insecten oder des Versuchsanstellers für die Befruchtung. Nur die Form der Blumenblätter ist eine andere, was sofort auffällt, wenn man die Fig. S4 mit Fig. 42 auf S. 152 ver- gleicht. Die Petalen von O Lamarckiana sind breiter als lang, am Gipfel ausgerandet, und somit mehr oder weniger umgekehrt herzförmig. Sie be- decken sich mit ihren Seitenrändern derart, dass sie eine geschlossene Krone bilden. Die Blumenblätter der O. elliptiea sind elliptisch, die grösste Breite liegt auf der Mitte oder nur wenig oberhalb dieser, an der Spitze sind sie gerundet. Sie sehen den Herbstblumen der O. laewi- folia sehr ähnlich (Fig. 59 auf S. 221), nur haben sie hier diese Form vom ersten Anfang des Blühens an. Und wie jene diese Eigenschaft vielleicht der Fig. 84. EN elliptica. Eine herabgesetzten Ernährung im Herbst geöffnete Blüthe, die an der Spitze verdanken, so ist hier vielleicht eine ur- serundeten Blumenblätter zeigend (1895). sächliche Beziehung zu den schmäleren Blättern vorauszusetzen. Einige Male war der Blüthenstaub leer, doch kommt solches bisweilen auch bei anderen Arten, wie bei O. scintillans und sogar bei O. gigas vor. Ueberhaupt besteht der Pollen bei vielen Oeno- theren, wie z.B. bei O. biennis L. und O. muricata L. zu einem beträcht- lichen Theile aus sterilen Körnern. Die Früchte waren schmal und arm an Samen. In den Stammbäumen der verschiedenen Familien (Abschn. II, ! Dieser Umständ erhöht die Arbeit in meinem Versuchsgarten sehr wesent- lich. Denn Unkraut darf nur von solchen Gehülfen ausgejätet werden, welche die einzelnen Pflänzchen der Art nach gut kennen und unbekannte Typen sparen. Solche können ja zu leicht mit den seltensten Mutanten verwechselt werden. Meist habe ich diese Arbeit deshalb selbst ausgeführt. Oenothera_ elliptien. 283 $ 1—7) ist das Auftreten von O. elliptica mehrfach erwähnt worden. - Ich fasse diese Fälle hier zunächst zusammen: Familie Jahr Anzahl der ©. elliptica O0. Lamarckiana, Nebenzweig 1895, 1896 8 O. laevifolia 1889, 1891, 1893, 1894 n O. lata 1900 1 u 1890 2 Im Hauptstamm der Lamarckiana-Familie (S. 157) habe ich die O. elliptica nicht mit aufgeführt; ihr Vorkommen in den einzelnen Jahren möge also hier nachgetragen werden: . Jahr Anzahl der ©. elliptica 2. Generation 1888 2 3. a 1890 2 5. x 1896 7 Auch in anderen Culturen trat die O. elliptica von Zeit zu Zeit unvermittelt auf. Ich stelle noch einige Beispiele zusammen: Oenothera elliptica. Durch Mutation entstandene Individuen. Anzahl der Keimpflanzen Aus Jahr Gesammtzahl O. ellöptiea OÖ. Lamarckiana (Nebeneulturen in (1889, 1891, der Laevifolia-Familie) ee 1894 8200 ® OÖ. Lamarckiana (aus O. seintillans) 1898 1080 2 0. oblonga 1896 1680 En OÖ. Lamarekiana x O. nanella 1899 3815 1 O. Lamarckiana x O. brevistylis 1898 290 1 O. Lamarekiana x O.suaveolens Dest. 1897 200 1 Summa 10265 12 Im Ganzen also etwa 1 pro Mille In ähnlichen Verhältnissen ist die O. elliptica auch noch in anderen Culturen aufgetreten. Zu- sammen sah ich von ihr etwas über 50 Mutanten. Blühende Pflanzen fand ich unter ihnen in den Jahren 1890 (1), 1891 (1), 1895 (3), 1896 (3), 1897 (1) und 1899 (1). Zusammen also zehn Exemplare. Samen erhielt ich von den drei Pflanzen von 1895, von einer von 1896 und jener von 1899, in allen diesen Fällen nach künstlicher Befruchtung mit dem eigenen Pollen, unter Ausschluss des Insectenbesuches mittelst Beuteln von Pergamin. 284 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. Die erste Pflanze von 1895 trug reichlich Samen, und es keimten einige Hunderte von Pflänzchen, welche sich zu kräftigen Rosetten heranbildeten, aber sämmtlich O0. Lamareckiana vom gewöhnlichen Typus waren. Viele Exemplare blühten im ersten Sommer, viele andere habe ich als Rosetten überwintert. Die zweite Mutante gab etwa 500 Nachkömmlinge, unter denen eine O. elliptica, welche bis Mitte August sich als eine schöne, viel- blätterige Rosette entwickelte, dann aber von einer Erdraupe getödtet wurde. Die übrigen Keimpflanzen waren normale O. Lamarckiana. Die dritte Pflanze von 1895 lieferte nur wenig Samen und nur 27 Keimlinge, unter denen sich der Elliptico-Typus nicht wiederholte. Die Mutante von 1896 war eine auffallend schöne Pflanze, mit sehr schmalen Blättern und schmalen elliptischen Petalen, einer ge- wöhnlichen Oenothera durchaus unähnlich. Ihre Früchte waren lang und dünn, und enthielten nur wenige keimfähige Samen. Es keimten 32 Samen; von ihnen waren 27 zu O. Lamarckiana zurückgekehrt, 5 aber waren O. elliptica. Also etwa 15°/,. Diese fünf Pflanzen bildeten Stengel, aber blühten erst im November; sie wiederholten genau den Typus der Mutter. Ihre Blätter erreichten nicht über 2—3 cm Breite, ihre Blumenblätter waren elliptisch und ohne die Ausbuchtung am Gipfel. Samen bildeten sie nicht aus. Die letzte Mutante, welche Samen trug, war eine Pflanze von 1899, welche aus Samen von O. seintillans aufging. Es war die Cultur von 5850 Rosetten (S. 276), welche als dritte Generation im Mittel 40%, Seintillans lieferte. Sie enthielt nur eine O. elliptica, welche ich früh auspflanzte, und welche zu einer sehr reich verzweigten und reichlich blühenden Pflanze von niederem Wuchs, mit sehr schmalen Blättern und verhältnissmässig grossen Blumen heranwuchs. Die Breite der Petalen war auf dieser Pflanze in hohem Grade variabel. Ihre dünnen Früchte gaben aber nur eine geringe Ernte. Es keimten etwa 100 Samen, welche sämmtlich zu normalen Rosetten von O. La- marckiana wurden. Zusammenfassend war die Erbziffer für O. elliptica in drei Fällen gleich Null, in einem Falle 1 pro 500 und im letzten Falle etwa 15°/,. Die drei ersten Pflanzen hatten zusammen nur wenige Hundert Kinder und es liest auf der Hand, anzunehmen, dass diese geringe Zahl, bei geringer Erbschaft, die Ursache war, weshalb keine Erben sichtbar wurden. Es wären somit die zwei letzten Mutanten (mit 0-2—15°/,) vorläufig als die Norm zu betrachten. Oenothera sublinearis. 285 $ 21. Oenothera sublinearis. Diese Form unterscheidet sich von der vorhergehenden nament- lich durch die grasartigen Blätter, welche sehr schmal und über den Fig. 85. Oenotkera sublinearis. Zwei einjährige Pflanzen, Ende August 1900. A ohne und B mit Blüthenknospen. Fig. 86. Oenothera sublinearis. Ein Wurzelblatt, 1895. grössten Theil ihrer Länge von gleicher Breite sind (Figg. 85 und 86). Die Wurzelblätter sind länger und merklich schmäler, die Stengel sind dicht beblättert statt locker, die Früchte sind kurz und nicht dünn, wie bei der O.’elliptica. Obgleich ich von dieser Art bis jetzt nur sehr wenige Exemplare hatte, so ist sie doch als ein eige- ner Typus gut charakterisirt und stimmen die Herbar-Exemplare und Photographien, welche ich von den ersten Individuen aufbewahre, gut mit den Mutanten des letzten Jahres überein. In den Blumen (Fig. 87) fand ich keinen Unterschied von der O. elliptica. Sie haben dieselbe Grösse, d. h. sind etwas kleiner als Fig. 87. Oenothera sublinearis. Blumenblätter mit einem Staubfaden, Juli 1896, von derselben zweijährigen Pflanze wie Fig. 86. 286 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. bei der O. Lamarckiana, aber gross in Bezug auf die schwachen Pflanzen. Ihre Kronenblätter sind nicht umgekehrt herzförmig, sondern am oberen Ende schmäler und abgerundet oder sogar etwas zugespitzt. Staubfäden und Narben sind aber gebaut wie bei der Mutterart. Von der O. sublinearis traten in verschiedenen Jahren in meinen Culturen Mutanten auf, welche aber als junge Rosetten zu Grunde gingen. Nur vier Pflanzen sind weiter gewachsen und nur eine von diesen gab keimfähigen Samen, aus dem sich die neue Form in etwa 10°/, der Kinder wiederholte. Sie schloss sich somit in dieser Hin- sicht an O. seintillans und O. elliptica an. Von den vier stengelbildenden Mutanten ist jetzt die Herkunft und die Entwickelung kurz zu beschreiben. Ich fange mit dem ein- zigen Samen tragenden Exemplare an. Diese Pflanze ging aus dem 1895 ausgesäten Samen der La- marckiana-Familie hervor, welche während eines Jahres im Boden verweilt hatte, wurde im Juni 1896 als besondere Form erkannt und einzeln ausgepflanzt. Sie war zweijährig, blühte 1897 auf zahlreichen kurzen Seitenzweigen, trug aber auf jedem Aste nur einzelne Blüthen. Die ganze Pflanze war klein und sehr gedrungen, die Blüthen ver- hältnissmässig sehr gross. Sie wurden in Pergaminbeuteln gegen den Besuch der Insecten geschützt und mit dem eigenen Blüthenstaub befruchtet. Die Ernte war aber eine sehr geringe. Es keimten über- haupt nur einunddreissig Pflanzen, welche mit möglichst grosser Sorg- falt verpflanzt und weiter cultivirt wurden. Die Zusammensetzung dieser Nachkommenschaft war eine so viel- förmige, wie ich sie in meinen sämmtlichen Culturen fast nie wieder gesehen habe. Sie bestand aus: 19 ©. Lamarckiana, 1 0. albida, 3 0. sublinearis, 3 0. subovata, 720% lata, 1 O0. gigas, 1 O. nanella, 2 0. oblonga. Die Lamarckiana habe ich im Juni als kräftige Rosetten von Wurzelblättern ausgerodet, als aller Zweifel über ihre Identität aufgehoben war. Die O. sublinearis und O. subovata blieben Ro- setten und gingen im Winter zu Grunde. Die übrigen Pflanzen haben sämmtlich geblüht, theils im August und September, theils (O. gigas) im November desselben Jahres. Ihre Identität mit den aus dem Samen früherer Mutanten desselben Namens gewonnenen Exemplaren wurde genau festgestellt, namentlich für die beiden sel- teneren Formen O, albida und O. gigas. Dieser auffallende Reichthum an Mutanten hängt wahrscheinlich Oenothera lata. 287 mit der sehr geringen Ernte zusammen, ähnlich wie in dem S. 185 beschriebenen Versuch. Doch bedarf dieser ohne Zweifel sehr wichtige Punkt noch sehr ausführlicher Untersuchung. Die zweite Pflanze gehörte gleichfalls der Lamarckiana- Familie an, keimte 1895 und blühte 1896. Eins ihrer Wurzelblätter vom ersten Jahre ist ın Fig. 86, zwei ihrer Blumenblätter von 1897 sind in Fig. 87 abgebildet. Sie war blassgrün und so schwach, dass es fast unmöglich schien, sie zu überwintern. Dennoch blühte sie pracht- voll mit zwei aus den Achseln von Wurzelblättern herrührenden Stengeln und grossen Blumen; im Ganzen etwa ein Dutzend. Sie erreichten eine Höhe von ungefähr einem halben Meter. Trotz vieler Mühe gelang es mir nur tauben Samen zu ernten. Die dritte Mutante entstand 1900 in der ersten Lat«- Familie und ist im Stammbaum auf S. 202 verzeichnet worden. Sie ist in Fig. 85 B abgebildet. Sie wurde im Juni ausgepflanzt, wuchs kräftig, blieb aber sehr niedrig und unverzweigt. Sie bildete wiederum grosse Blumen und kleine Früchte und wurde Ende August abgeschnitten, um photographirt zu werden. | Die vierte Mutante (Fig. 85 A) stammt aus einer Kreuzung von O. rubrinervis mit O. nanella, welche 1899 ausgeführt wurde. Sie trieb ebenfalls im ersten Jahre einen Stengel, welcher eine Länge von etwa einem halben Meter erreichte, unverzweigt blieb und nicht blühte. D. Die unfruchtbaren Arten. $ 22. Oenothera lata. Einer der schwierigsten Punkte der Mutationstheorie ist die Frage nach dem primären Vorgange der Mutationen, deren Folgen und Aeusserungen die verschiedenen Eigenschaften und Merkmale sind, durch welche sich die neue Form von der Mutterart unterscheidet. Ich habe bereits mehrfach betont, wie es auch von den hervorragend- sten Forschern öfter hervorgehoben wurde, dass die elementaren Arten sich nicht, wie echte Varietäten, in einem einzigen Punkte von der ursprünglichen Art unterscheiden, sondern in fast allen ihren Organen und Eigenschaften. Es gilt dieses sowohl für die im Freien auf- gefundenen elementaren Arten, wie sie von JORDAN, GANDOGER, THURET, DE BArY, Rosen und vielen anderen Systematikern beschrieben worden sind, wie für die in meinen Culturen aufgetretenen Species. Ich behaupte nun, dass die sämmtlichen neuen Eigenschaften und Merkmale einer Mutante Aeusserungen einer einzigen in ihr vor- gegangenen Aenderung sind. Morphologisch lässt sich dieser Satz vor- 288 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. läufig mit Nothwendigkeit daraus hervor, dass solche Aeusserungen stets zu- sammen vorkommen und, soweit die Erfahrung reicht, untrennbar sind. Die Oenothera lata ist vielleicht das schönste Beispiel. Ich habe ihre Eigenschaften in $ 3 auf 8. 168—171 (Fig. 46) beschrieben, und werde unten diese Beschreibung in weiteren Einzelheiten auszuarbeiten haben. Sie ist erstens eine der häufigsten und zweitens eine der am leichtesten, auch in früher Jugend zu erkennenden Mutanten. Sie trat im Hauptstammbaum der O. Lamarckiana (S. 157) 229 Male, im Nebenzweig 171 Male, in der: Laewfolia- Familie 9 Male und in sonstigen Culturen noch sehr häufig auf. Zahl- reiche solche Mutanten habe ich bis zur Blüthe und zur Samenreife culti- virt; stets zeigten sie in allen Merkmalen völlige Uebereinstimmung. Eine Trennung ihrer Eigenschaften ist dabei nicht vorgekommen, denn die Oenothera semilata (S17), welche anfangs eine solche zu sein schien, stellte sich . bald als eine besondere Fig. 88. Oenothera lata. Ein blühender Seitenzweig F her am Ende des August, beim Anfang seiner Blüthe 07m heraus. Besser als bei den anderen neuen Arten lassen sich die Merkmale der O. lata in Gruppen zusammenfassen. Jede Gruppe bildet dabei offenbar eine Einheit, wie aber die einzelnen Gruppen von derselben Ursache abhängen sollen, bleibt einstweilen unbekannt. Solche Gruppen sind die Form der Blätter, die dickeren Blüthenknospen, der Mangel des Blüthen- staubes, die monströse Ausbildung der Narbe, und die kurzen, samen- armen Früchte, Oenothera lata. 289 Betrachten ı wir die Blätter, so sind sie sehr stark buckelig, am Gipfel gerundet, statt spitz; der Rand ist für die Spreite zu klein und daher umgebogen; die Bracteen sind am Grunde viel breiter als bei der Mutterart; die Zweiggipfel und die kleineren Seitenzweige bilden eigenthümliche Rosettchen. Eine vollständige Beschreibung würde sich fast auf eine ganze Druckseite ausdehnen lassen und viele Figuren erfordern (Fig. 89). Dennoch ist es einleuchtend, dass alle diese Einzelheiten enge zusammen gehören, und ohne jeden Zweifel einmal sich auf ein einziges Prinzip werden zurückführen lassen. Fig. 89. Oenothera lata. A ein Wurzelblatt. B die Bractee, in deren Achsel die unterste Blüthe stand. C Spitze eines kleinen Seitenzweiges. 4’, B’, 0’ die ent- sprechenden Theile von O. Lamarckiana bei gleicher Verkleinerung. ‚Vielleicht ist dieses Prinzip das viel zu starke Wachsthum des Blatt- parenchyms in der Fläche, im Vergleich zu dem der Nerven und Randnerven, vielleicht liest es noch tiefer. Aber wie dieselbe Ursache die Narben abnormal, die Früchte klein und den Pollen steril machen kann, leuchtet nicht ein. Anderer- seits ist es, wenn man für jede dieser Veränderungen eine unabhängige Ursache annehmen will, gar nicht einzusehen, weshalb diese stets zu- sammen und nie getrennt auftreten würden. De reine Zufall könnte dieses offenbar nicht bewirken. DE VRIes, Mutation. I. 19 290 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. Ich stelle mir vor, dass die Ursache jeder solchen Mutation eine einheitliche ist. Ihre Natur ist uns einstweilen verborgen. Aber es ist deutlich, dass sie sich nicht, oder doch in der Regel nicht, für sich allein äussern kann; das ist ja gerade der Unterschied gegenüber den Varietäten, deren Merkmal auf Farbe, Behaarung u. s. w. beschränkt ist. Sie äussert sich in Verbindung mit den übrigen Eigenschaften der Pflanze, und die Natur der Aeusserung hängt also nur zum Theil von ihr selbst, zum Theil aber von diesen ab. In dieser Weise betrachtet, könnte man sich denken, dass eine einzige innere Eigenschaft das Blattparenchym, die Tapetumzellen der Antheren, die Petalen, die Früchte und die Narben zu abnormalenı Wachsthum in einer ungewöhnlichen Richtung veranlassen könnte, und dadurch die breiten, buckeligen Blätter, das Taubwerden des Blüthenstaubes, die Dicke der Blüthenknospen und der Früchte sowie die abweichenden Narben hervorrufen würde. Aber dieses ist nur eine Vorstellung. Ich erwähne sie zunächst zur Klarstellung und Vereinfachung des Problems, dann aber, weil sie vielleicht die Richtung andeutet, in der eine empirische Behand- lung dieses Themas zu versuchen ist. Mit allem Vorbehalt möchte ich ferner, nur um meine Ansicht klarer zu machen, auf die Uebereinstimmung mit gewissen Erscheinungen parasitärer Natur hinweisen. Dass der prachtvolle, so äusserst zu- sammengesetzte und zweckmässige Bau der Cynipiden-Gallen, mit ihrem Nährgewebe, ihrer Steinzellenschicht und ihrem schwammigen, gerbstoffhaltigen und, in Bezug auf Dicke, der Länge der Legeröhren von Parasiten und Inquilinen angepassten äusseren Parenchym'! nicht durch einen einfachen chemischen Reiz bedingt werden kann, leuchtet ohne Weiteres ein. Aber ganz anders verhält es sich mit den Ver- grünungen, welche offenbar rur im Allgemeinen und nicht in allen ihren Einzelheiten den Parasiten nützlich sind. Die Vergrünungen von Lysimachia vulgaris, welche durch einen Phytoptus bewirkt werden, sind vielleicht das schönste Beispiel einer vollständigen Reihe von Uebergängen der Blüthen in beblätterte Zweiglein.” Diese Ver- änderung ist offenbar das Ziel der Reizwirkung seitens der Acarinen, aber ob dabei hier und dort die Anzahl der Blattorgane in den einzelnen Kreisen variirt, dürfte höchst gleichgültig sein. Dennoch sind solche und andere Monstrositäten bei Vergrünungen keines- wegs selten. ı M. W. Bevermer, Beobachtungen über die ersten Entwickelungsphasen einiger Uynipiden-Gallen. Verh. d. k. Akad. d. Wet. Amsterdam 1882. ? A. B. Frank, Pflanzenkrankheiten. 1880. S. 691. Oenothera lata. 291 Sehr lehrreich ist die von 'T'REuUB studirte Vergrünung auf den Gallen von Aulax Hieraeii in den Stengeln von Hieracium vulgatum, H. umbellatum u. s.w.! Diese Gallen liegen gewöhnlich in den Stengeln, weit von den Blüthen entfernt, in seltenen Fällen aber im Blüthen- boden. Und dann treten eine Reihe höchst merkwürdiger Vergrü- nungen in den Blüthen auf, anfangend mit dem Kelche, welcher schöne grüne Zipfel hervorbringt. Ganz offenbar sind diese Vergrü- nungen für die gallenbewohnenden Cynipiden durchaus nebensächlich und unwesentlich, denn die Aulax-Larven wachsen ebenso gut heran, wenn die Gallen, wie gewöhnlich, überhaupt keine Blüthen tragen. Gallen rufen nicht selten monströse Abweichungen hervor, voraus- gesetzt, dass die Anlage dazu vorhanden war. So fand ich z. B. bei Bieracium vulgatum einen Stengel, der unterhalb der Aulax-Galle nor- mal war, oberhalb dieser breit verbändert. So sah ich im Sommer 1587 mehrere Stengel von Bupatorium cannabinum, die in der Mitte eine Galle von Pierophorus microdactylus trugen und unterhalb dieser in allen Blättern grün, oberhalb aber bunt waren, u.s.w. Der Gallenreiz äussert seinen Einfluss also nicht nur auf die für die Gallenbildung wesent- lichen Eigenschaften, sondern auch auf andere nebensächliche und gleichgültige. Und wie ein Gallenreiz kann vielleicht auch eine einheitliche Mutation sich in den verschiedensten, wichtigen und nebensächlichen Eigenschaften einer Pflanze äussern. Aber wie die Natur der Gallen- reize sich vorläufig dem chemisch-physiologischen Studium entzieht, ebenso, und in noch viel höherem Grade, entzieht sich die chemische Natur der primären Mutationen unserer jetzigen Forschung. Kommen wir jetzt zu einer eingehenderen Beschreibung der Eigen- schaften unserer Oenothera lata, so fangen wir diese am besten mit den Staubfäden an. Diese sind von Prof. J. Porn? auf ihre ana- tomische Structur untersucht worden (Fig. 90) und zwar theils an den Pflanzen meiner ersten Lata-Familie (S. 202) im Jahre 1894, theils an einer grösseren Öultur, welche ich in jenem Jahre aus Samen der zweiten Lata-Familie (Samen von 1889 und von 1890, vergl. S. 204) gewonnen hatte, theils an vereinzelten neuen Exemplaren. Der Bau der Staub- fäden zeigte sich dabei als überall derselbe, unabhängig von der Her- kunft der Pflanze. ! M. Treup, Notice sur l’aigrette des Composees, & propos d’une monstruosite de !’Hieraeium umbellatum, Archives Neerlandaises d. sc. phys. et nat. T. VIU. p- 1 und Tafel I. ®2 Jurıus Pour, Ueber Variationsweite von Oenolhera Lamarckiana. Oesterr. Botan. Zeitschr. 1895. Nr. 5 und 6 und Tafel X. 19* 292 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. In der jetzt zu gebenden Beschreibung folge ich der Darstellung Ponr’s möglichst genau. Bei der Oenothera Lamarckiana erfolgt die Pollenbildung ganz nach dem gewöhnlichen Schema: die vom Tapetum umschlossenen Mutterzellen theilen sich in je zwei Tochterzellen und jede dieser in vier Enkelzellen. Das Loculament vergrössert sich durch Lösung des Tapetums und die Pollenkörner entwickeln sich frei in der umgebenden Flüssigkeit weiter. Der reife Pollen besteht aus zwei Formen von Körnern, etwa 70°/, grosser normaler Körner,! nebst kleineren protoplasma-armen Körnern. Hingegen zeigte der Pollen der O. lata verkrüppelte, verkümmerte Formen, welche zwischen ganz leeren Zellhäuten und anscheinend normal ausgebildeten Zellen alle denkbaren Uebergänge bilden. Doch sind die leeren und fast S leeren in der Mehrzahl,. die anscheinend 9 gut ausgebildeten zwischen ihnen nur sehr spärlich vertreten. Auch scheinen die Viscinfäden, welche bei der 0. Lamarekiana den Pollen zu einer klebrigen, reichlich in Fäden und Netzen umherhängenden Masse machen, hier zu fehlen. Die geöffneten Antheren fühlen sich trocken an, berührt man sie mit den Fingern, so hinterlassen sie auf diesen keine Spur einer klebrigen Pollenmasse. en Ee Verfolgt man bei O. lata die Entwicke- die vererösserten Zellen des Ta- lung der Antheren an Knospen zunehmen- an ee a der Grösse, so findet man sie bis zur Taf. X. Fio. 28. “ Tetradenbildung normal. Zu dieser Zeit 5 fällt in einigen Querschnitten bereits eine radiale Verlängerung der Tapetumzellen auf. In den nächsten Stadien findet nun, nach dem allgemeinen Schema, und ebenso bei den ver- wandten Arten der Zerfall des Tapetums statt. Bei der O. lata aber nicht. Sie bleiben erhalten, wachsen in die Höhlung des Antheren- faches hinein (Fig. 90) und vermehren sich der Zahl nach durch radiäre Theilung. Auf das Doppelte verlängert, springen sie mit ihren abgerundeten freien Seiten papillenartig in das Lumen des Pollen- sackes vor. In einzelnen Fällen, wohl an den Enden der langen Pollen- säcke, wachsen sie so weit hinein, dass sie das ganze Lumen ausfüllen. Selbst in Knospen von 2-4 cm Länge (Fig. 46a auf S. 169) fand ! Abgebildet von Luerrssen in PrinssH. Jahrbüch. Bd. VII. S. 35—42 und Tafel IV Fig. 1—14 (Pollen von Oenothera biennis). Oenothera lata. 293 Port das Tapetum noch erhalten und an Zellenzahl und Zellengrösse vermehrt, während doch bei O. Lamarckiana schon bei halb so grossen Knospen der Tapetumzerfall einzutreten pflegt. In 3 cm langen Knospen ist schliesslich auch bei der O. lata dieser Zerfall erfolgt: im Lumen schwimmen neben einzelnen anscheinend normal ent- wickelten tetraödrischen Pollenkörnern zahlreiche ganz verkümmerte, theils ganz runde, theils einseitig ausgebuchtete. PoHL schliesst hieraus, „die Zellenvermehrung und relative Per- sistenz der Tapetumzellen hemmt die Pollenentwickelung, macht die sonst zwitterige Pflanze zu einer fast rein weiblichen. Dasselbe Phä- nomen, Zellenvermehrung im Ueberschwang, sowohl in Antherenblättern wie in den vegetativen Blättern. Hier führt es zu gesteigertem Assi- milationsvermögen, dort bedingt es eine Entwickelungshemmung.“ Ich habe mir im Jahre 1894 viele Mühe gegeben, die O. lata unter Ausschluss des Insectenbesuches mit dem eigenen Blüthenstaub zu befruchten, in der Meinung, dass vielleicht die vereinzelten an- scheinend guten Körner Samen hervorbringen könnten. Ich habe den Staub so viel wie möglich auf die Narben einzelner Blüthen angehäuft, aber ohne Erfolg. Ich habe ferner den Pollen, da er sich schwer aus den Antheren befreien lässt, mit Nadeln aus diesen herauspräpa- rirt, auf kleine Glasscheiben zusammengebracht und von diesen auf die Narben übertragen, aber gleichfalls ohne Erfolg. Ferner habe ich Blüthen, ohne sie zu castriren, mit dem Pollen einer wenig verwandten Art, die einer anderen Untergattung an- gehört, bestäubt. Es war dies die O. odorata.! Diese giebt mit O. La- markiana, O. biennis und O. muricata zwar nicht leicht, aber doch ausreichend Bastarde; ich habe mich davon durch besondere Versuche überzeugt und die Bastarde zu Dutzenden in Blüthe gehabt. Sie wird also ohne Zweifel auch die O. lata befruchten können. In meinem Versuche geschah solches aber so gut wie nicht, trotzdem ich auf vier Pflanzen viele Blüthen befruchtete. Es keimte nur ein einziger Samen; dieser lieferte eine Bastardpflanze. Da aber die Blüthen nicht castrirt waren, zeigt dieser Versuch, dass auch keine Selbst- befruchtung stattgefunden hatte, Ferner habe ich einerseits Lata-Blüthen castrirt und nicht castrirt, und ihre Narben in derselben Weise mit dem Blüthenstaub der O. Lamarckiana belegt. Andererseits habe ich auf Narben nicht castrirter Blüthen nur ganz spärliche Mengen von Lamarckiana-Staub gebracht, ! Aus der Untergattung Oenothera (Buoenothera), während die O. Lamarckiana u.s. w. zu der Untergattung Onagra gehören. 294 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. in der Meinung, dass daneben vielleicht noch Selbstbefruchtung mög- lich sein würde. Alle diese Versuche geben aber genau denselben Erfolg, meist 15—25 °/, der Samen waren O. lata, die übrigen O. La- marckiana.! Irgend welche erhebliche Beimischung eigenen Pollens würde diese Zahlen aller Wahrscheinlichkeit nach wesentlich ver- ändert haben. Aus diesen und zahlreichen anderen Versuchen folgere ich, dass der Blüthenstaub der O. lata, trotz der vereinzelten, anscheinend guten Körner, dennoch völlig taub ist. Es ist dieser Nachweis namentlich deshalb wichtig, weil bei Kreuzungsversuchen dadurch das Castriren unnöthig wird. Bei den sehr zahlreichen Mutanten und ihren Nachkömmlingen, welche ich im Laufe der letzten sechs Jahre künstlich befruchtet habe, wäre es mir ohne Zweifel aufgefallen, wenn jemals eine unter ihnen Fig. 91. Oenothera lata. Junge Keimpflanzen. A die Cotylen und die beiden ersten Blätter zeigend. 4’ natürliche Grösse. B mit 7—8 Blättern (?/s), zwei Monate alt, von oben gesehen. Der Riss im rechten Blatt war eine Folge des umgebogenen Randes. auch nur deutliche Spuren von Pollen in einzelnen Blüthen gehabt hätte. Solches ist aber nie der Fall gewesen. Auch die Narben sind von PouL beschrieben und abgebildet worden.” Sie unterscheiden sich von denen der O. Lamarckiana da- durch, dass sie meist mehr oder weniger unter sich oder mit dem Griffel verwachsen sind. Ihre Anzahl wechselt, wie bei der Mutterart, wo vier die Norm ist, Abweichungen bis acht aber gar nicht selten sind. Durch die betreffenden Verwachsungen entstehen bei O. lata eigenthümliche, in der Verlängerung des Griffels liegende, mehr oder weniger handförmige Gebilde, deren einzelne Finger oft theilweise frei sind, oft aber bis zur Spitze zusammenhängen. Es geht dieses meist mit .einer Verkürzung und Verdickung, oft auch mit Krümmung der einzelnen Narben Hand in Hand. Die Fähigkeit, Blüthenstaub ! Vergl. den zweiten Band. ®2 Juuıus Pour, 1. e. S. 8 und Fig. 27. Oenothera lata. 235 aufzunehmen und dessen Pollenschläuche sich normal entwickeln zu lassen, scheint durch alle diese Umbildungen nicht beeinträchtigt zu werden. Die Früchte sind kurz und dick und arm an Samen. Sie er- reichen kaum die halbe Länge von derjenigen der O0. Lamarckiana, sind aber nicht merklich dünner wie diese. Die erwähnten Abweichungen vom Typus der O. Lamarckiana habe ich bereits beim ersten Auftreten der O. lata im Jahre i887 beobachtet, soweit sie ohne mikroskopische Untersuchung sich fest- stellen lassen, und seitdem alljährlich, sowohl bei den neuen Mutanten, als bei ihren Nachkömmlin- gen wiedergefunden. Wie die O. La- marckiana, so ist auch die O. lata ein- und zweijährig. Ich eulti- vire sie aber vor- zugsweise einjährig. Schon die ersten Blätter nach den Cotylen lassen den Charakter deutlich erkennen (Fig. 91.4). Denn am oberen Ende sind sie abge- TG rundet, statt spitz, AAN und dadurch im Ver- a hältniss zu ihrer Breite kürzer. Etwa ein Monat nach der Aussaat ist dieses Merkmal so scharf und deut- lich, dass ich um diese Zeit die durch die Kreuzbefruchtung stets in dem Samen der Lata auftretenden Lamarckiana-Exemplare auszujäten pflege, um nur die echten Lat«-Exemplare weiter wachsen zu lassen. Diese Form der Blätter erhält sich bei zunehmender Grösse im ganzen Leben der Rosette (Fig. 92) und im unteren Theile des Stengels. Die Runzeln und Buckeln, welche die Schönheit der Blätter der O. Lamarckiana so sehr beeinträchtigen, sind in dieser Art viel stärker Fig. 92. Oenothera lata. Rosette mit Wurzelblättern im ‚Alter von etwa drei Monaten. 296 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. ausgeprägt und fehlen nur äusserst selten (Fig. 57 und 58 S. 219 und 220). Es mag dies wohl durch die gedrungene Blattform be- dingt sein. Der Hauptsache nach bleibt die abnormale Breite der Blätter am Stengel entlang bis in die Spitzen der Inflorescenz und der Zweige (Fig. 89). Aber wie hier, bei der O. Lamarckiana selbst, die Blätter allmählich spitzer und schmäler werden, so geschieht es auch bei der Lata. Unsere Figur macht dieses deutlich (Fig. 894,4’); eine feine Spitze ist am sonst abgerundeten Ende zu finden. Wählt man das unterste Blatt, welches in seiner Achsel eine Blüthe oder unreife Frucht trägt, und vergleicht-man dieses: mit dem entsprechenden Blatte einer Lamarckiana-Pflanze (Fig. 89 BB’), so verhalten sich die Breiten, bei gleicher Länge, wie 4:3. Höher in der Inflorescenz nimmt die Differenz zu; die Blätter, in deren Achsel die Blumen im August blühen, sind etwa doppelt so breit, wie bei der Mutterart. Und wenn man einen Spross von oben betrachtet, sieht er aus wie eine dichte Rosette breiter Blättchen (Fig. 89C), während hier bei der Lamarckiana die Blätter als schmale und kleine Bracteen wieder- zufinden sind und auf den ersten Blick eine ganz spitzblätterige Gruppe bilden (Fig. 89 C’). Auch die blühenden Triebe bleiben an ihrem Gipfel dicht beblättert (Fig. 88). Die ansehnliche Dicke der Blüthenknospen, von der Jugend an ‚bis zum Oeffnen, wird durch unsere Abbildungen (Fig. 46 auf S. 169) hinreichend verdeutlicht. Die Blumenblätter haben in der dicken, aber kurzen Knospe nicht den erforderlichen Raum für ihre Entwicke- lung; sie bekommen Falten und Runzeln, welche sie nach dem Oeffnen der Blüthe nie ganz ausgleichen können. Dadurch sind die Blumen stets unschön. bei Weitem nicht so gross und glänzend und so weit geöffnet wie bei der Stammesart. Stengel und Zweige sind bei der O. lata schwach, meist am schwer- ‚beladenen Gipfel abwärts gebogen, oft einer Stütze bedürftig, um nicht umzufallen. Oft hängen die blühenden Seitenzweige im September am Stengel ganz abwärts, dadurch die eigenthümliche Tracht der Species erhöhend. Die Pflanzen bleiben meist niedrig; sie erreichen meist nur wenig mehr als die halbe Höhe der O. Lamarckiana. Nach allen diesen Merkmalen ist die O. lata vielleicht diejenige meiner neuen Arten, welche sich von der Mutterart am meisten unter- scheidet. Auch ist sie schon in der frühesten Jugend zu erkennen (Taf. IV und Fig. 51 auf S. 205 und Fig. 91) und zwar ebenso leicht als sicher. Dementsprechend ist sie auch die erste Mutante, welche ich überhaupt beobachtete, die einzige, welche ich bereits in meiner Oenothera lata. 297 ersten Aussaat von 1887 vorfand. Seitdem trat sie jährlich als Mu- tante auf. Und da sie in jeder Aussaat so bald auffällt und es deshalb nicht wahrscheinlich ist, dass sie je in merklicher Anzahl übersehen sein sollte, so können die Procentzahlen ihres Auftretens als hin- reichend gesichert betrachtet werden, um auch geringe Differenzen in ihrem „Mutationscoöfficienten“ nachweisen zu können (vergl. S. 239). Es zeigt sich dann, dass diese Zahlen merklich schwanken, oft zu 0-1°/, oder noch weniger hinabfallend, oft bis zu etwa 2 °/, oder etwas mehr aufsteigend. Aeussere Einflüsse können also wahrscheinlich die Häufigkeit des Auftretens der O. lata aus der O. Lamarckiana wesentlich verändern. Welche diese Einflüsse sind, ist aber noch zu untersuchen. Vielleicht liegen sie nur in der Saatreife und der Kei- mung (vergl. S. 185), vielleicht auch spielen sie bereits bei oder vor der Befruchtung ihre Rolle. Um die Variationsweite dieses „Mutationscoöfficienten“ im Einzel- nen vorzuführen, stelle ich jetzt wiederum die früher gegebenen Zahlen ($ 2—7) mit einigen neuen Beobachtungen zusammen. Dureh Mutation entstandene Individuen von Oenothera lata. I. Aus O. Lamarckiana. . : Keimlinge Deren unghang: Jahr Gesammtzahl OO. lata °/, Lata Hauptstammbaum S. 157 18835 —1890 25 000 8 0-03 = 1895 14 000 73 0-5 » 1896 8 000 142 1-8 A 1897—1899 3 500 6 0.2 Nebenstammbaum S. 184 1895 10 000 168 1-7 Einjährige Cultur 1897 4 132 11 0-3 Zweijährige Cultur 1897 164 8 5-0 II. Aus Kreuzungen. O0. Lam. x O. nanella 1897—1899 8 283 22 0-3 O0. Lam. x O. gigas 1899 100 2 2-0 O0. Lam. x 0. biennis 1900 80 1 1-0 O. Lam. aus Kreuzungen (S. 212) 1896 4 600 7 0.2 III. Aus anderen Familien. 0. Lam. aus O. laevifolia 1889 400 3 0-8 OÖ. laevifoha 1894 1 500 2 0-1 O. rubrinervis 1894 96 2 2.0 OÖ. seintillans 1896— 1899 7872 38 0-5 298 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. Betrachten wir diese Zahlen näher, so finden wir Folgendes. Eine hohe Mutationszahl (5 °/,) lieferte nur die mit vieler Sorgfalt ausgeführte Cultur sehr kräftiger zweijähriger Pflanzen (1897). Die Zahlen 1, 2, 2°/, kommen bei zu kleinen Saaten vor, um von Be- deutung zu sein. Dagegen lieferten die Oulturen von 1895 und 1896, welche 8000, 10000 und 14000 Pflanzen umfassten, und welche ganz auf eine genaue Ermittelung der Mutationszahlen eingerichtet waren, 0-5, 1-7 und 1-8°/,. Diese sind also wohl die am meisten: zuver- lässigen Zahlen, denen sich die übrigen, mit Ausnahme der erst- genannten (5°/,) gut anschliessen. Die übrigen Zahler, pro Mille 0-3—1—2—2—3—3—5—8 betragend, rühren theils aus älteren Jahren, theils aus speciellen Culturen her. In der ganzen Tabelle sind 493 Lata-Mutanten auf etwa 130000 Keimpflanzen verzeichnet, oder ungefähr 0-4 °/,. $ 23. Artanfänge. Nach der Mutationstheorie wählt die natürliche Auslese zwischen den Arten; die einen rodet sie aus, während die anderen sich ver- mehren und verbreiten. Die durch Mutation einer einzigen Mutterart entstehenden neuen Formen können sehr zahlreiche sein; oft sind sie auch in grosser Zahl ziemlich gleich gut für den Kampf um’s Dasein ausgerüstet und unterscheiden sich von einander vorwiegend nur durch in dieser Hinsicht bedeutungslose Merkmale, wie in dem ge- wöhnlichen Beispiele der Draba verna. Sollten aber aus Draba verna neben den jetzt existirenden ele- mentaren Arten noch andere, für den Kampf um’s Dasein nicht hin- reichend geeignete Formen entstanden sein, so würden diese offenbar früher oder später zu Grunde gegangen sein. Und es liest kein Grund vor, anzunehmen, dass nur gerade die jetzt vorhandenen Formen ausgebildet worden seien. Solche untaugliche Mutationen habe ich in meinen Culturen von Oenothera fast jährlich, und oft in nicht unbedeutender Anzahl be- obachtet. Der Vollständigkeit halber werde ich hier einige von ihnen beschreiben. Sie sind allerdings von den echten neuen Arten durch keine scharfe Grenze geschieden, und vielleicht giebt es unter ihnen solche, von denen es dennoch später, bei besseren Methoden, gelingen wird, samenbeständige Typen zu gewinnen. Es sind Anfänge zu neuen Arten, aus denen es, aus irgend einem Grunde, bis jetzt nicht gelang, die Arten selbst zu gewinnen. Ebenso wie es mir erst nach vielen mühsamen Versuchen, im Laufe von etwa Artanfänge. 299 sechs Jahren, gelang, die O. albida zur Blüthe und zum Samentragen zu bringen ($ 15 S. 247). Ich werde sie deshalb unter dem Namen „Artanfänge“ zusammenfassen. Diese Artanfänge waren mehr oder weniger von den übrigen ab- weichende Typen, welche auch mit den bisher beschriebenen neuen Arten nicht übereinstimmten. Ich habe mir namentlich in den späteren Jahren viele Mühe gegeben, sie weiter zu cultiviren, aber mit sehr wechselndem Erfolg. Mehrere unter ihnen gingen schon als junge Rosetten zu Grunde; andere bildeten schöne und dichte Kronen von Wurzelblättern aus, aber trieben keinen Stengel. Einige konnte ich überwintern, andere schossen bereits ım ersten Jahre. Mehrere bildeten Blüthen, oft schon im August, oft aber erst gegen den Herbst. Im letzteren Fall fehlt in unserem Klima jegliche Aussicht auf reife Samen; im ersteren habe ich sie stets in Pergaminbeuteln mit sich selbst zu befruchten versucht. Meist war dann aber der Blüthenstaub taub; die Operation hatte nicht die gewünschten Folgen. Ich griff dann zu der Bestäubung mit gutem Pollen von O. Lamarckiana oder einer anderen, neuen Art, aber mit ebenso geringem Erfolg; es schien auch der Fruchtknoten befruchtungsunfähig zu sein. Die Sterilität ist bekanntlich eine äusserst variable Eigenschaft. So ist es auch bei den Oenotheren. Die älteren Arten, O. biennis, O. muricata und O. Lamarckiana führen stets, soviel bekannt, einen Pollen, der zum Theil, oft zu einem Drittel, aus tauben Körnern be- steht. Es wäre sehr wichtig, den Grad dieser Fertilität zu ermitteln, er würde ohne Zweifel dem QuETELET’schen Gesetze der individuellen Variabilität folgen, und wahrscheinlich auch partiell sehr variabel sein, namentlich auf schwachen Seitenzweigen.? Sterile oder fast sterile Individuen können also von Zeit zu Zeit vorkommen. So fand ich z. B. einmal ein Exemplar von Oenothera gigas, welches trotz wiederholter Versuche künstlicher Selbstbefruchtung keinen Samen ansetzte. Und die Oenothera brevistylis ist in den meisten Exemplaren trotz völliger Ausbildung des Pollens durchaus steril, und solches im offenbaren Zusammenhang mit der individuellen Variabilität in der Grösse ihrer Früchtchen. Es ist möglich, dass eine junge Art stets ohne Pollen sei, wie wir solches bei der O. lata gesehen haben. Daraus folgt aber nicht, ı Ebauches d’especes, nach französischer Terminologie. ?” Vergl. u. A. A. Jencıc, Untersuchungen über den Pollen hybrider Pflanzen. Oesterr. Bot. Zeitschr. T. 50. 1900. 300 Das Auen der einzelnen neuen Arten. dass En neu eimmerastkamdle De wenn man sie zum ersten Male in einem sterilen Exemplare male, auch bei späterem Entstehen stets steril sein müsste. Ebensowenig als die Möglichkeit ausgeschlossen ist, von der Oenothera seintillans einmal eine völlig samenbeständige Mutante zu bekommen. Die Artanfänge in meinen Culturen waren meist einzelne Indi- viduen, jedes Exemplar stellte einen eigenen Typus dar. In anderen Fällen trat die Form in derselben Aussaat in zwei oder drei Keim- pflanzen auf, oder ich fand sie in verschiedenen Jahren wieder. Waren es nur Rosetten von Wurzelblättern, so war offenbar die Sicherheit der Identität keine absolute; aber es ist immer- hin besser, in solchen Fällen anscheinend Zusammen- gehöriges zu verbinden, als die Zahl der neuen Typen über Gebühr zu vergrössern. Denn eigentlich haben solche misslungene Artanfänge weiter keine Bedeutung, als dass sie für den Satz von der allseitigen Mutabilität eine nicht zu vernachlässigende Stütze abgeben. Dieses ist auch der Hauptgrund, weshalb ich hier einige solche Artanfänge etwas eingehender besprechen werde. Ich wähle dazu drei unter ihnen aus, und werde diese, der Bequemlichkeit wegen, mit gewöhnlichen Art- namen belegen. Es sind die O. spathulata, von der ich nur Rosetten von Wurzelblättern hatte, die O. subovata, welche mehrfach blühte, aber stets steril war, und die O. fatua, welche trotz reichlicher Verzweigung bis jetzt so gut wie keine Blüthen hervorbrachte. Fig. 93. Diesen drei Typen schliessen sich dann. eine Reihe Oenothera spa- : i . Eule‘ weiterer Formen an, welche es sich weder lohnt mit Ein Wurzel Namen zu belegen, noch alle zu beschreiben. ! Pat ander Von der O. spathulata habe ich im Jahre 1889 in der Laevifolia-Familie zwei Rosetten von Wurzelblättern gehabt (S. 192); im Jahre 1890 sieben Rosetten in dem Hauptstamm der Lamarckiana-Familie und 1895 eine im Nebenzweig dieser Gruppe (8. 184). Das wiederholte Auftreten in verschiedenen von einander un- abhängigen Familien ist somit auch für diese seltene Art festgestellt. Die Pflanzen von 1890 waren meist bereits Ende Juni sehr starke ! Einige unter meinen neuen Arten sind nicht aus dem reinen Stamme der O. Lamarckiana, sondern aus gekreuzten Samen verschiedener Herkunft hervor- gegangen, und zwar sowohl sterile als fertile und gleich beim Anfang aus Samen constante. Ihre Beschreibung werde ich erst im zweiten Bande geben. Artanfänge. s0l Rosetten, wuchsen den ganzen Sommer hindurch kräftig, gingen aber im Winter zu Grunde, ohne einen Stengel gebildet zu haben. Einige ihrer Blätter habe ich aufbewahrt und photographirt (Fig. 93). Sie waren sehr lang gestielt, der Stiel war ganz allmählich in die Spreite verbreitert; von dieser lag die grösste Breite nahe am abgerundeten Gipfel. a Eine andere Mutante mit ähnlichen Blättern blühte N in demselben Sommer mit kleinen Blüthen und leeren a Antheren; ob sie zu demselben Typus gehörte, konnte Ex ich nicht entscheiden. Als O. fatua bezeichne ich eine Pflanze, welche im Jahre 1896 aus der Lamarckiana-Familie entstand, zweijährig war und 1897 sich reichlich verzweigte. Sie trug zahlreiche Inflorescenzen mit grünen Bracteen, aber keine Blüthen (Fig. 94). Im Sommer 1896 hatte ich die Rosette mit den Wurzelblättern als eine eigene Form isolirt; die Blätter waren oval und deutlich anders als bei der O. La- marckiana. Sie wuchs im zweiten Jahre kräftig, er- reichte eine Höhe von etwa einem Meter und ver- zweigte sich viel stärker, als irgend eine andere Form, Infloreseenzen in übermässiger Anzahl hervorbringend. Erst spät im Herbst fing sie an, normale Blüthen- knospen auszubilden, zu spät, um diese noch entfalten zu können, Aehnliche Pflanzen habe ich sehr vereinzelt auch in anderen Jahren beobachtet. Als letztes Beispiel bespreche ich die Oenothera subovata, welche zuerst 18389 und später von Zeit zu Zeit in einzelnen Exemplaren in meinen Culturen auf- SS trat. Vier von diesen Mutanten haben geblüht, die 5 I We & j enothera fatua. übrigen starben als Rosetten von Wurzelblättern. Ein Zweie im Anschliessend an die früheren Mutationsabbildun- Herbst, mit zahl- : © ö Ö C reichen blüthen- gen gebe ich zuerst in Fig. 95 eine photographische josen Bracteen. Aufnahme einer Gruppe von Pflanzen, welche aus Samen von Oenothera lata, nach Befruchtung mit ©. Lamarckiana ge- keimt, und in frühester Jugend in einem Holzkasten in guter Erde auf Reihen ausgepflanzt waren. Es ist ein Theil der S. 202 im Stamm- baum der Lata-Familie verzeichneten Mutantenreihe, und zwar eine Gruppe, in der zufällig viele solche neue Formen zusammen standen. Ausser O. lata und O. Lamarckiana zeigt die Abbildung zwei Exemplare 302 Das Auftreten der einzelnen neuen Arten. von ©. albida (rechts), an ihren kleinen schmalen Blättern kenntlich, und zwei von O. oblonga (in der Mitte), welche im Bilde kaum von der Mutterart zu unterscheiden sind. Von den photographirten Lata- Pflanzen haben die meisten später geblüht. Die Albida und Oblonga entwickelten sich zu Rosetten, starben aber im Laufe des Sommers. Die Lamarckiana wurden nicht ausgepflanzt. Die O.subovata (oben in der Mitte) fiel bereits früh nach dem ersten Verpflanzen dadurch auf, dass sie sehr klein blieb, während die übrigen Fig. 95. Eine Mutation in der Zata-Familie. Nach einer Photographie vom 25. Mai 1900. In der rechten Reihe sieht man oben O. elbida, in der Mitte O. Zata, unten wieder O. albida. In der zweiten Reihe O. Lamarekiana, O. oblonga (Mitte) und O. La- marckiana. In der dritten Reihe O. lata (unten), O. oblonga und O. subovata (oben, sehr klein). In der linken Reihe drei O. Zata und in der Mitte die grösste Rosette: O. Lamarckiana. Die O. lata und O. Lamarckiana gleichen den beiden Eltern, die übrigen sind als Mutanten aufgetreten. Exemplare kräftig heranwuchsen. Ihre Blätter waren fast kreisrund und kurz gestielt. Sie wurde Ende April mit den übrigen Mutanten auf ein besonderes Beet versetzt und wuchs zu einer kräftigen, reich beblätterten Rosette mit eirunden, langgestielten Blättern heran, welche während des ganzen Sommers sich auffallend von den übrigen Exemplaren desselben Beetes unterschied. Sie starb im Herbst. Auch die beiden anderen (S. 202) erwähnten Exemplare von O. subovata gingen im Spätsommer zu Grunde, nachdem sie ganz Artanfänge. 303 ähnliche, dichte Rosetten von Wurzelblättern gebildet hatten (vergl. auch Fig. 48 auf S. 197). Rosetten mit derselben Blattform und von derselben Tracht hatte ich früher in verschiedenen Jahren beobachtet. So 1895 im “ Hauptstammbaum der Lamarckiana- Familie (S. 157) in sieben Exem- plaren auf 14000 Keimlingen, also eins pro 2000. Sie wuchsen bis in den Winter, aber es gelang mir nicht, sie zu überwintern. Dann 1898 die drei auf S. 286 erwähnten Mutanten aus Samen von O. sub- linearis und zwei andere aus Samen von O. scintillans. Endlich zwei Rosetten aus Samen von Oenothera lata nach Befruchtung mit ©. biennis. Blühende Pflanzen von O. subovata hatte ich im Ganzen vier, und zwar 1889, 1895 und zwei im Jahre 1899. Die erstere war aus Lamarckiana - Samen entstanden, einjährig, reich verzweigt, aber niedrig. Sie trieb neben ihrem Hauptstengel noch eine Gruppe von Seitenstengeln aus den Achseln der Wurzelblätter. Von diesen hat eine einzige geblüht, mit normalen Blumen, wie die der Mutterart. Die übrigen und der Hauptstengel aber blieben bis in den Herbst hinein steril, mit kleinen, grün beblätterten Zweiglein in den Achseln der Blätter (Fig. 96), welche der Pflanze ein ganz eigenthümliches Aeussere verliehen. ! Die Mutante von 1895 stammte aus der Lamarckiana-Familie und blühte im August des ersten Lebensjahres. Die Blu- men waren vom Bau derjenigen der Mutter- R Fi. 96. Oenothera subovata. art, aber, der schwächeren Pflanze ent- "steriler Stengel, 1889. sprechend, kleiner. Später aber erstarkte die Pflanze, und als sie Ende September aus den Seitenzweigen blühte, hatten ihre Blumen die völlige Grösse der Lamarckiana. ! Diese Verlaubung war eine aus inneren Ursachen entstandene und keine pathologische Vergrünung, wie sie von Parasiten (Phytoptus, Blattläusen u. s. w.) hervorgerufen zu werden pflegt. Eine solche habe ich bisweilen auch an meinen Oenothera- Pflanzen beobachtet (Botan. Jaarboek, Gent 1896, S. 88); ihre Merk- male sind aber, namentlich durch die Vergrünung der Blüthen selbst, ganz andere wie die der oben beschriebenen Pflanze. 304 Der systematische Werth der neuen Arten. Die beiden Subovata-Pflanzen von 1899 gehörten der Lata-Familie an. Die eine stammte aus Lata-Samen, welche mit O. nanella, die andere aus Samen, welche mit O. Lamarckiana befruchtet waren. Beide waren schon als junge Pflanzen erkannt, trieben einen Stengel und blühten reichlich. Die erstere war schwach und hatte verhältniss- mässig kleine Blumen, die andere war stark und trug Blüthen, welche ebenso gross waren wie bei der O. Lamarckiana. Beide waren völlig steril; anfangs befruchtete ich sie mit ihrem eigenen Blüthenstaub, später mit fremdem, gutem Pollen, beides aber ohne Erfolg. Ohne Zweifel muss es möglich sein, wenigstens von der O0. sub- ovata einmal eine samentragende Pflanze zu bekommen und sie auf ihre Samenbeständigkeit zu prüfen. Und voraussichtlich wird solches auch von weiteren, bis jetzt in meinen ÖOulturen nicht oder nur in ungenügender Weise aufgetretenen Typen gelten. II. Der systematische Werth der neuen Arten. $ 24. Die Natur der Grenze zwischen verwandten Arten. Nach der Mutationstheorie unterscheiden sich die durch je eine Mutation entstandenen Arten ebenso scharf von einander, als nächst- verwandte anerkannte systematische Arten. Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, dass neue Arten in der Regel, von ihrem ersten Auftreten an, ebenso constant. sind, wie andere Species. Diese Constanz zeigt sich in zwei Beziehungen. Erstens sind die einzelnen Exemplare einander in allen ihren wesentlichen Merkmalen gleich, sowohl wenn sie aus einander oder aus ihnen gleichen Eltern hervorgegangen sind, als wenn man die zahlreichen, unabhängig von einander und oft aus entfernten Familien derselben Mutterart als Mutationen aufgetretenen Individuen vergleicht. Zweitens sind sie samenbeständig, ohne Rückkehr zu der Mutterart. Fehlt diese letztere Eigenschaft, wie z. B. bei Oenothera scintillans, so ist die Form in der freien Natur auf die Dauer nicht existenzfähig, und somit von einem Vergleiche mit echten wilden Arten ausgeschlossen. In diesem Kapitel werde ich zu zeigen versuchen, dass in der Gattung Oenothera die Merkmale der neuen Arten denselben syste- matischen Werth haben wie die unterscheidenden Charaktere der älteren, von Lınxı& und den besten späteren Systematikern unter- Die Natur der Grenze zwischen verwandten Arten. 305 schiedenen Arten. Ich werde mich dabei auf die nächsten Ver- wandten der O. Lamarckiana, und somit auf die Untergattung Onagra beschränken. Ich habe dabei den Vortheil, mich auf sehr allgemein bekannte Formen (0. biennis L., O. muricata L., O. suaveolens Desf. u.s. w.) beziehen und diese als Vergleichsobjecte benutzen zu können. Meine neuen Arten weichen in einigen Hinsichten ebenso viel, in anderen mehr, in noch anderen weniger von einander und von der Mutterart ab, als diese allgemein anerkannten Formen. Bei dieser Behandlung sind zwei Punkte in den Vordergrund zu setzen, welche das Studium wesentlich erschweren. Ich meine unsere gegenwärtig sehr ungenügende Kenntniss von den Einheiten, aus denen die Eigenschaften der Organismen aufgebaut sind, und die Er- scheinung der transgressiven Variabilität.! Nach meiner Ansicht ist jede Mutation in der Regel durch eine einzelne neue Eigenschaft ‚bedingt (vergl. S. 287). Diese innere oder primäre Eigenschaft tritt in den einzelnen Organen mit den dort bereits vorhandenen in Wechselwirkung, und es ist diese Wechsel- wirkung, durch die sie sich äusserlich zeigt. Der äussere, sichtbare Erfolg hängt also nur zum Theil von der Mutation, zum Theil aber auch von den älteren Merkmalen ab. Oder mit anderen Worten, die neue Art kennzeichnet sich in der Regel nicht durch eine einzige neue Eigenschaft, sondern dadurch, dass viele oder alle Organe in bestimmter Weise umgestaltet wurden. So lange wir die fraglichen einheitlichen Ursachen nicht kennen, haben wir somit diese Umgestaltungen der neuen Mutationen mit den sichtbaren Unterschieden der älteren Arten zu vergleichen. Die transgressive Variabilität ist eine der wesentlichsten Stützen der Selectionstheorie. Sie ermöglicht es, Reihen von Individuen auszusuchen, welche zu verwandten, aber verschiedenen Arten gehören, und in denen dennoch bestimmte Merkmale sich ganz allmählich und ohne Sprünge vom einen Ende der Reihe bis zu dem entgegengesetzten ändern. Sind keine Arten aus solchen Gruppen aus- gestorben, oder sind ihre Ueberreste in genügender Menge erhalten, so können solche völlig continuirliche Reihen in einer fast willkür- lichen Länge aufgestellt werden. Dieses gilt in der Regel nur, wenn man einzelne Merkmale in Betracht zieht, und wenn man auf die Anzahl der Individuen, welche auf den verschiedenen Stufen der Reihe stehen, nicht achtet. Ein Beispiel wird dies sofort klar machen. Die Oenothera La ! Vergl. S. 41 und den folgenden Paragraph. DE VRIES, Mutation. L 20 306 Der systematische Werth der neuen Arten. marckiana unterscheidet sich von der O. biennis durch ihre pracht- vollen, grossen Blumen. Von Weitem erkennt man die Arten von einander. Die Blumenblätter der ersteren sind etwa doppelt so lang wie die der letzteren. Aber auf beiden Species ist diese Länge variabel, sie folgt dem gewöhnlichen QUETELET’schen Gesetze der individuellen Variabilität und ist dabei in hohem Grade von der Er- nährung abhängig. Sie ist auch partiell variabel, und namentlich nimmt sie gegen das Ende der Blüthezeit, mit der allmählichen Er- schöpfung der Pflanze durch die Samenproduction sehr wesentlich ab. An fast verblühten Stammgipfeln, kleinen Seitenzweigen oder schwachen Individuen findet man die kleinsten Blüthen, an reich ernährten Exemplaren im ersten Anfang der Blüthe, und an den sehr kräftigen Seitenzweigen grosser, aber durch irgend einen Zufall ihres Haupt- stammes beraubter Pflanzen dagegen die grössten. Es gilt dieses sowohl im Freien als in der Cultur. Nun suche man die allergrössten Blumen von O. biennis und die allerkleinsten von O. Lamarckiana aus. Man wird die Grenze über- schritten finden.’ Denn in diesen extremen Fällen sind die Biennis- Blüthen grösser als die Lamarckiana-Blüthen.? Hat man solche extreme Blüthen gesammelt, so ist es offenbar leicht, von ihnen aus durch die Biennis abwärts und durch die Le- marckiana aufwärts eine ununterbrochene Reihe von Petalen zusammen zu suchen. In einer solchen Reihe ist die Grenze auch für das ge- übteste Auge einfach nicht zu finden. Und dennoch gehen O, biennis und O. Lamarckiana nie in einander über. Man kann diese Reihe vervollständigen, indem man die kleinblüthige O. muricala in genau derselben Weise an sie anschliesst.? Und würde man auf die Verwandtschaft nicht achten wollen, so könnte man bis zu der Oenothera minutiflora mit ihren millimetergrossen Blüthen con- tinuirlich hinabgehen. Solche Reihen lassen sich im Pflanzenreich für fast alle messbaren Eigenschaften und in beliebiger Menge auf- ' Dass solches allgemein so sein muss, lässt sich ohne Weiteres aus dem Gesetze der Variabilität ableiten. Man denke sich zwei Variabilitätseurven auf derselben Abseisse aufgestellt. Je grösser die Anzahl der untersuchten Exemplare, um so weiter laufen die Schenkel der Curven aus, bis die beiden einander zu- gekehrten schliesslich einander berühren und schneiden. Und es leuchtet ein, dass solches bei einer um so geringeren Anzahl von Exemplaren eintreten wird, je näher die Gipfel der Curven (die mittleren Werthe der Eigenschaften) einander liegen und je grösser die Amplitude oder Variationsweite (Q) ist. ° Beispiele im nächsten Paragraphen. ® Vergl. den folgenden Paragraphen. Die Natur der Grenze zwischen verwandten Arten. | 307 stellen.! Sie verwischen die Grenze zwischen verwandten Arten für die einzelnen Merkmale überall. Berücksichtigst man also bei der Unterscheidung von Pflanzen und Thieren nur eine einzelne Eigenschaft, so trifft man überall solche ganz lange, ununterbrochene Reihen an. So bekanntlich bei den Schalen von Schnecken, den Muscheln, den Flügeln der Falter u. s. w. Erst die Vergleichung anderer Merkmale lässt die einzelnen Typen erkennen. Aufgabe exacter Forschung ist es somit erstens, solche continuir- liche Reihen so zahlreich wie möglich aufzustellen. Zweitens aber, sie in ihre einzelnen Componenten zu zerlegen und in der Erschei- nungen Fluth die ruhenden Pole zu suchen. Diese Zerlegung kann mit Hülfe der statistischen oder der ex- perimentellen Methode erreicht werden. Betrachten wir zunächst die erstere. Die Ueberschreitung der Grenzen geschieht nur von einzelnen, verhältnissmässig seltenen Individuen; weitaus die meisten gehören dem mittleren Typus ihrer Art an. Wenn man also nicht die Ueber- gänge aufsucht, oder einfach sucht die Reihen zu vervollständigen, sondern seine Messungen so zahlreich wie möglich in diese hinein- trägt, so werden die Curven zum Vorschein kommen. Es wird genau das herauskommen, von dem wir bei der Betrachtung der Oenothera- Blumen ausgegangen sind. Es entstehen die bekannten, von BATEson, Lupwıe und vielen anderen Forschern studirten mehrgipfeligen Curven. Jeder Gipfel entspricht einer Gruppe von zusammengehörigen Indivi- duen, einem Typus, event. einer elementaren Art. Und die Uebergangsformen fallen leicht durch ihre Seltenheit auf. Es leuchtet sofort ein, dass sie die Grenzen nur scheinbar ver- wischen, dass sie eine Vermischung der Centren grösster Dichte gar nicht herbeiführen können. Sie beweisen weiter nichts als die That- sache, dass benachbarte Curven auf derselben Abscisse mit ihren Schenkeln über einander greifen können. Die experimentelle Methode werden wir am einfachsten klar machen können, wenn wir zunächst wiederum das.Beispiel der Oeno- theren-Blumen wählen. Wir ernten die Samen in den Früchten von zwei gleich grossen Blumen. Die eine sei eine der grössten Biennis- Blumen, die andere eine der kleinsten Lamarckiana. Es kann keinem Zweifel unterliegen, was aus solchen Samen hervorgehen wird. Es ! So sind z.B. die schmälsten Blätter von Typha latifolia schmäler als die breitesten von T. angustifolia. 20, 408 Der systematische Werth der neuen Arten. lässt sich sogar, mit Hülfe des Regressionsgesetzes (S. 53, 84 u. s. £.), ziemlich genau der Erfolg im Voraus berechnen. Die Samen der Biennis-Blüthe werden Pflanzen geben, deren Blumengrösse im All- gemeinen zum Typus der Biennis zurückkehrt; die Samen der gleich grossen Lamarckiana-Blume werden aber zur Norm dieser Art hin- neigen. Mit anderen Worten: Wenn auf der Grenze zwischen verwandten Arten die sichtbaren Eigenschaften uns im Stiche lassen, so ent- scheidet die Nachkommenschaft der einzelnen (selbstbefruchteten) Indi- viduen. Zwei in Bezug auf das fragliche Merkmal völlig gleiche Exemplare können sich bei der Aussaat ihrer Samen als grund- verschieden ergeben. Und wenn, wie es ja oft vorkommt, zwei ver- wandte Gruppen sich nur in einem einzigen Merkmal unterscheiden, so können ihre extremen Varianten einander völlig gleich sein. Und dennoch ergeben ihre Samen sie als grundverschieden.! Das Studium der Artgrenzen ist also keineswegs ein rein be- schreibendes. Die auf Reihen von Formen basirten Gruppirungen haben nur vorläufigen ‚Werth.”? Erst die statistische Methode weist . die wirklichen Grenzen an,?® und weitaus das beste Verfahren ist dasjenige der OCulturversuche. $ 25. Transgressive Variabilität. Die Auseinandersetzungen des vorigen Paragraphen sollen jetzt durch einzelne Zahlenbeispiele näher beleuchtet werden. Denn die Natur der Grenzen zwischen verwandten Arten gehört zu den schwie- rigsten Aufgaben der Systematik. Weitaus die meisten systematischen Arten sind nach der Untersuchung einiger weniger Exemplare auf- gestellt und beschrieben worden, und wo zahlreiche Individuen ver- glichen wurden, hat man sich meist mit dem allgemeinen Eindruck zufriedengestellt. Man gelangt dadurch zur Kenntniss der typischen Form der betreffenden Arten, nicht aber zu einer genauen Würdigung ihrer Grenzen. Um diese Grenzen zu beurtheilen, sind somit statistische Studien ! Ebenso sind unter den echten Bastarden die constanten Nachkommen mit dominirendem Merkmal von den sich in jeder Generation spaltenden Bastard- Individuen nicht zu unterscheiden. Vergl. den zweiten Band. ? pE Canvorze, La Phytographie, p. 80. ® C. B. Daveneort, Statistical Methods with special Reference to Biological Variation. Transgressive Variabilität. 309 erforderlich." Sie lehren uns einerseits die mittleren Eigenschaften kennen, andererseits aber auch die Abweichungen. Im vorigen Para- graphen haben wir gesehen, dass diese Abweichungen oft so gross sind, dass sie die Grenzen thatsächlich überschreiten. Es ist das die Erscheinung der transgressiven Variabilität. | Um die Bedeutung dieser Erscheinung, in einfacher Weise klar zu machen, wählen wir also jetzt ein bestimmtes Beispiel. Im Anschluss an die vorhergehenden Besprechungen wählen wir die gewöhnlichen Arten O. biennis L. und O. muricata L., von denen wohl jeder weiss, dass sie sich vorwiegend und am leichtesten durch ihre Blüthen unterscheiden. Diese sind bei ersterer abstehend und gross, bei letzterer aufgerichtet und klein. Unterwerfen wir aber jetzt dieses bekannte, auffallende und be- queme Merkmal zwischen zwei sehr allgemein anerkannten, von Linx& selbst aufgestellten Arten? der statistischen Analyse. Wir messen dazu die Länge der Kelchzipfel, der Kronenzipfel und der Kelchröhre für eine gewisse Anzahl von Blüthen; es ist gar keine grosse Reihe erforderlich. Wir stellen diese Messungen in einfacher aber über- sichtlicher Weise zusammen, jedes Mal die Zahl der Blüthen auf- schreibend, welche eine bestimmte Länge haben. Für O. biennis habe ich in einer Gruppe von Exemplaren von jeder Pflanze eine einzelne Blüthe gemessen; von O. muricata gleichfalls (I), daneben aber auch von einigen Pflanzen mehrere Blüthen pro Pflanze (II). Die sämmtlichen Exemplare von beiden Arten rühren von demselben wilden Fundorte, auf Sandboden, her (Zandvoort, Sept. 1894). (Siehe Tabelle S. 310.) Diese Messungen ? lehren einmal, dass die mittlere Länge der Kelch- und Kronenzipfel für O. muricata an jenem Fundorte etwa 14—15 mm, für O. biennis etwa 19—20 mm war. Sie bestätigen also den be- kannten Unterschied. Aber sie zeigen ferner, dass dieses Merkmal keineswegs so aufzufassen ist, dass nun auch alle Blüthen von O. biennis grösser wären als die von O. muricata, oder dass in jedem einzelnen ! Schöne Beispiele transgressiver Curven giebt auf zoologischem Gebiete P. P. C. Horx, Neuere Lachs- nud Maifischstudien, in Tydschrift d. Nederl. Dierk. Vereeniging. (2) VI. 3. S. 231—235. Vergl. ferner G. Duncker, On variation in the rostrum in Palaemoneles vulgaris. Americ. Naturalist. Vol. 34. Nr. 404. 1900, und Derselbe, Variation und Asymmetrie bei Pleuronectes flesus L. Wiss. Meeresunters. Helgoland. Bd. III. Heft 2. 1900. ?2 Auch der Monograph der Gattung, Sprach, trennt diese beiden Formen als Arten (O. vulgaris Spach = O. biennis; O. chrysantha Spach = OÖ. muricata). ® Aehnliche Zahlenreihen habe ich oben für die Früchte von Oenothera leptocarpa mitgetheilt. Vergl. S. 253. 810 Der systematische Werth der neuen Arten. Länge der Kelchzipfel. Länge der Kronenzipfel. Millimeter Muricata Biennis Millimeter Muricata Biennis ka v a0 IzeI% Ro) 0 1 — 8 0 1 — 10 2 1 = 10 1 0 — 11 1 3 == 11 3 6 = 12 2 6 — 12 Ro) 4 — 13 Ol — 13 ı A! = 14 L3aa2924 2 14 14 34 1 15 20 55 7 15 16 29 4 16 (Be 3 16 3 6 17 3 T 9 17 —_ 1 6 18 4:0 8 18 = = he) 19 — N 9 19 — 9 20 — 8 20 — 12 21 — 4 21 = 5 22 = 6 22 — 3 23 N 1 23 nn 1 24 — 1 24 —.0 — 6 25 a 1 25 —..— 1 26 Be 3 Anzahl der Blüthen 57 101 63 27 —.— 1 28 = 1 33 — 1 Anzahl der Blüthen 57 101 | [or] > Fall diese Grösse entscheidend wäre. Im Gegentheil, die grössten Blüthen von O. muricata sind grösser als die kleinsten Blüthen von O. biennis. Die mittleren Unterschiede sind fest und typisch. Die Grenzen werden aber überschritten, die Variabilität ist eine transgressive. Soll man hieraus ableiten, dass es keine Grenze giebt? dass beide Arten fliessend in einander übergehen? Keineswegs. Denn die Blüthen sind ja auf unanzweifelbaren Muricata- und Biennis-Pflanzen gepflückt. Mit anderen Worten: Die Grenzen werden überschritten, aber nicht verwischt. Und umgekehrt kann die Zusammengehörig- keit einer ununterbrochenen Reihe von Formen nicht bewiesen werden, so lange nicht bekannt ist, ob sie sich um ein einzelnes Öentrum grösster Dichte gruppiren. Die Existenz zweier solcher Centren deutet auf unter- schiedene Typen, auch wenn die Grenzen verwischt zu sein scheinen. Ein Vergleich der Länge der Kelchröhre führt zu derselben Folgerung. Die Pflanzen sind demselben Fundort entnommen, die Blüthen sämmtlich von den Hauptstengeln gepflückt. Transgressive Variabilität. all Länge der Kelchröhre. Millimeter O. muricata O. biennis 10% [ou] 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 = — 38 I > 39 = — 40 — = 41 = — 42 = — 43 — = Anzahl der Blüthen 58 101 nn) SO Ho Ho ro Da oo wmr o Mm © ii a] "oomV@wvoronmnme | D ot Aehnliche Tabellen lassen sich zahlreich aufstellen und es wird sehr wichtig sein zu zeigen, dass das Gesetz der transgressiven Variabili- tät ganz allgemein herrscht, dass es aber die gegenseitige Unabhängig- keit und Immutabilität der Arten nicht im mindesten beeinträchtigt. Betrachten wir daneben eine zweite Gruppe von Merkmalen. Ich meine diejenigen, durch welche sich verwandte Arten nicht, oder nur unwesentlich unterscheiden. Hier werden die mittleren Werthe einfach zusammenfallen, oder doch nur geringe, von äusseren Ein- flüssen abhängige Differenzen zeigen. So fand ich z. B. die Samen von O. biennis und O. muricata in Form und Grösse einander genau gleich, trotz der erheblichen Verschiedenheit der Körner in einer und derselben Frucht. Aehnlich verhält es sich mit einem anderen bekannten Merkmal, dem Verhältniss zwischen der Länge der Kronen- zipfel und derjenigen der Filamente. Ich mass diese für O. muricata in zehn, für O. biennis in zwanzig Blüthen und fand im Mittel für 312 Der systematische Werth der neuen Arten. beide also das Verhältniss 100:55. Für O0. Lamarckiana ıst dieses Verhältniss aber 100: 44. Länge der Früchte von Oenothera-Arten in Millimeter. (O0. muricata 1894, die anderen 1893.) Millimeter Lamarckiana Biennis Muricata +5 1 — — 16 1 — — 17 5 — — 18 11 1 — 19 17 4 —= 20 27 9 = 21 37 13 = 22 62 10 = 23 74 23 2 24 s3 24 1 25 79 28 3 26 51 30 6 27 43 36 12 28 32 32 18 29 18 27 34 30 13 21 B3 sl 5 22 34 32 5 26 32 33 3 25 24 34 1 Ü 14 35 — 5 5 36 — 6 2 37 = 3 2 38 = 1 2 40 — 0 1 Anzahl 568 356 228 Die Früchte sind in Bezug auf ihre Länge von der Lebenslage sehr abhängig. Untersucht man Exemplare, welche unter denselben Be- dingungen cultivirt worden sind, so findet man die mittlere Länge der Früchte im Wesentlichen gleich. Sobald aber die Lebenslage eine ver- schiedene ist, können Unterschiede in der Fruchtlänge auftreten und man bekommt dann Zahlenreihen, welche den vorhergehenden ähnlich, aber durch andere Ursachen bedingt sind. (Vergl. vorstehende Tabelle.) Ich mass die Früchte im reifen, fast vertrockneten Zustande, und zwar für jede Pflanze nur die untere Kapsel des Hauptstengels; die Pflanzen waren auf den wilden Standorten, aber in verschiedenen Gegenden en Oenothera Lamarckiana SERINGE. 3118) eingesammelt. Die Differenzen haben keinen specifischen Werth und rühren offenbar von Ernährungsbedingungen her. Sie.lassen sich durch veränderte Ernährung sogar leicht umkehren. Es würde mich zu weit führen, die Variabilität der neuen, aus Lamarckiana entstandenen Arten hier in ähnlicher Weise darzustellen. Sie sind ohne Zweifel in den meisten Merkmalen transgressiv variabel; es lassen sich leicht von den Blättern der O. sublinearis zu denen der ©. lata, von den Früchten der ©. oblonga zu denen der O. rubri- nervis ununterbrochene Reihen zusammenstellen. Aber bei einer ge- nügenden Anzahl von Individuen sind solche Reihen nicht mono- centrisch, sondern polycentrisch, jede einzelne Art bildet in ihr eine wohl charakterisirte Gruppe. Nur ist der Charakter jedesmal dem Centrum grösster Dichte zu entnehmen, unbeeinflusst von der schein- baren Verwischung der Grenzen. $ 26. Oenothera Lamarckiana SERINGE. Die Oenothera Lamarckiana gehört zu der Untergattung Onagra, welche von einigen Autoren als Gattung abgetrennt wird. ! Ihre wichtigsten Merkmale liegen in den Samen, welche unregel- mässig kantig, häufig berandet und ziemlich glatt sind (Figg. 97 und 98). Durch diesen Bau sind sie von den Samen aller anderen Abtheilungen der Gattung Oenothera leicht zu unterscheiden;? diese sind entweder glatt mit feinen Buckeln oder Vertiefungen, oder nur am oberen Ende ! Die wichtigste specielle Literatur über diese Gruppe ist die folgende: E. Spach, Monographio Onagrearum, Nouv. Ann. Mus. IV. 3. 1835. S. Warson, Revision of the extra-tropieal North American species of Oenothera. Proceed. Am. Acad. of Arts and Science. Vol. VIII. 1868 —1873. EnsLer und Prantt, Die natürl. Pflanzenfam. Ill. 7. S. 199, wo auch die allgemeine Literatur zusammengestellt ist. Ferner sind hervorzuheben: J. Torkey and Asa Gray, Flora of North America. Vol. 1. 1838—1840. p. 492, A. S. Hırcacock, Les Onotheracees du Kansas. 1898. H. L£veıun£, Monographie du genre Onothera (soll im Laufe dieses Jahres er- scheinen). Die Untergattung Onagra findet sich als solche bei EnnLicher, Genera plantarum. S. 1190 sub Nr. 6115. Als Gattung in den Natürlichen Pflanzenfamilien von Enger und PrantL, 1. c. S. 214 und bei Brrrrox and Brown, An illustrated flora of the Northern United States, Canada and the british possessions. Vol. 11. 1897. 8. 475. ® Verwechselungen von Arten von Oenothera aus verschiedenen Unter- gattangen kommen im Tausch der botanischen Gärten häufig vor, könnten aber bei der Aussaat mittelst des erwähnten Merkmales grossentheils vermieden werden. 314 Der systematische Werth der neuen Arten. gekrönt. Die äussere Samenhaut, welche in der Jugend glatt ist, wächst bei Onagra in Bezug auf den Keim zu stark heran, sie wird für diesen zu weit und bildet daher Run- zeln und Falten, welche sich nach dem zwischen den Samen verfügbaren Raum modelliren (Fig. 98). Demzufolge ist die Form der Samen eines Faches meist eine sehr verschiedene. In diesem Baue stimmen die einzelnen Arten von Onagra so genau Fig. 97. Querschnitt eines Sa- mit einander überein, dass es sehr schwer mensvon Oenotkera Lamarckiana. halkcch S t nes cedieKeimblätter(einEndosperm A44l, 1Nre Damen zu unterscheiden. fehlt); o Oberhaut; s Schwamm- Die Frucht ist eine vielsamige, fach- en 2 a spaltig aufspringende Kapsel. Die Blüthen haben eine lange Blüthenröhre oder Kelch- röhre, sind vierzählig und anscheinend regelmässig, thatsächlich aber mehr oder weniger symmetrisch ausgebildet, was namentlich an den Filamenten sich ausspricht. Vor- blätter fehlen. Die Arten, welche diese Merk- male führen, sind von Linn& unter- schieden, soweit sie damals bekannt waren. Namentlich gilt solches von O. biennis L., O. muricata L. und O. parviflora L. Diesen sind später als allgemein bekannte Formen O. suaveolens Desf. (= O. grandiflora Ait.) und O. Lamarckiana Ser.(= O. grandii- flora Lamarck) angereiht worden. ! ee Ausser diesen gehören zu der frag- Fig. 95. Samen. Lm von O. Lamarckiana, lichen Gruppe noch eine Reihe vom Rücken gesehen; Zm’ von der schar- anderer amerikanischer, in Europa fen Vorderkante gesehen; 9 O. gügas; \ r O. rubrinervis, n O. nanella; It O. lata; aber wenig bekannter Arten. a0. albida ; Ss2O: seintillans, geöffnet und Alle diese Formen werden von leer, % die Hartschicht, welche die innere n : Höhlenz mmeicht späteren Systematikern entweder zu {=} Oo $ einer einzigen Grossart zusammen- gefasst, oder in sehr verschiedener Weise gruppirt. Im ersteren Falle wird als Grundform die O. biennis angenommen. Die übrigen Arten ı Obgleich der Name O. grandiflora für diese beiden Arten Anspruch auf die Priorität hat, ziehe ich es vor, ihn nicht zu verwenden, da er schon zu vielen Verwechselungen Veranlassung gegeben hat. Vergl. Neder!. Kruidk. Archief, Aug. 1895. Oenothera Lamarckiana SERINGE. 315 werden dieser als Varietäten untergeordnet. So namentlich von TORREY und Gray in ihrer berühmten Flora von Nordamerika und von WAr- son in seiner Monographie Es ist dieses für uns wichtig, weil es zeigt, dass eine eingehende Vergleichung der verschiedenen Formen auf die Abstammung aller übrigen von der O. biennis hinweist. SpacH ist in dieser Beziehung anderer Ansicht. Er unterscheidet sechs Arten von Onagra. Zwei von diesen umfassen sämmtliche uns hier interessirende Formen; die übrigen sind seltene und in Europa weder cultivirte noch verwilderte Arten. Jene beiden sind 1. Onagra vulgarıs Spach = Oenothera biennis L., aber auch die O. suaveolens Desf. und O. Lamarckiana Ser. umfassend und 2. Onagra chrysantha Spach, welche aus O. muricata L., O. parviflora L., O. eruciata Nutt. und einer mir noch unbekannten Var. latifolia aufgebaut ist. Ich folgere hieraus, dass man annehmen darf, dass die ursprüng- liche Oenothera biennis die übrigen Arten namentlich in drei Rich- tungen hervorgebracht hat und zwar durch Vergrösserung (Lamarckiane) oder Verkleinerung (Chrysantha) oder ohne Grössenveränderung der Blumen. Die übrigen Eigenschaften der Blüthen sind sehr eng mit der Grösse verbunden, zum Theil anscheinend von ihr bedingt. Ausser im Bau der Blüthen weichen die Arten von Onagra namentlich in der Form und Ausbildung der Blätter von einander ab. Ferner hat O. parviflora eine am Gipfel achtspaltige, statt vier- spaltige Frucht und hat O. Lamarckiana eine auffallend andere Tracht. Die Behaarung u. s. w. bilden weitere, untergeordnete Merkmale. Ob die Oenothera biennis einmal eine Mutationsperiode durch- laufen hat, ähnlich der gegenwärtigen von O. Lamarckiana? Ob sie zu dieser Zeit die übrigen Arten in derselben Weise hervorgebracht hat, wie diese solches jetzt thut? Ob die jetzt lebenden Formen jede unmittelbar aus ihr hervorgegangen, oder ob sie durch wiederholte Mutationen gebildet sind und also Combinationsformen darstellen? Ob es schliesslich von der O. biennis irgendwo jetzt noch eine mutable Familie giebt, welche vielleicht jetzt noch einige der bekannten Arten, oder auch andere hervorbringt? Diese und andere Fragen müssen einstweilen der weiteren Forschung anheim gestellt werden. Für uns haben sie aber die Bedeutung, die Aufgabe des vor- liegenden Kapitels klar zu machen. Die Onagra- Gruppe erscheint uns als eine, der Mutationsgruppe der O. Lamarckiana durchaus ana- loge Abtheilung. Nur ist sie älter und vielleicht umfangreicher. Sind die Artunterschiede in beiden Gruppen von demselben systematischen Werth, so wird dadurch die Uebereinstimmung meiner neuen Arten 316 Der systematische Werth der neuen Arten. mit anerkannten älteren Arten auch von dieser, rein systematischen Seite bewiesen. Indem hierdurch die Aufgabe für die nächstfolgenden Paragraphen angedeutet ist, kehren wir jetzt zu der O. Lamarckiana zurück." Zu- nächst geben wir die von LAmArck selbst aufgestellte Beschreibung in möglichst genauer Uebersetzung. Um diese zu verstehen, hat man darauf aufmerksam zu sein, dass LAmARcK sie nicht in Vergleichung mit den nächstverwandten Formen, sondern mit einer, einer anderen Untergattung angehörigen, aber ebenfalls sehr grossblumigen Art, der O. longiflora Jacg. geschrieben hat. Auch hat er weder Exemplare aus der amerikanischen Heimath, noch sonst wildwachsende Individuen studirt, noch auch die Pflanze im lebenden Zustand untersucht. Seine Beschreibung bezieht sich auf die getrockneten Exemplare des Pariser Herbars, welche im Jardin du Museum d’histoire naturelle cultivirt worden waren. LAMARCcK schreibt: Blätter ganzrandig, ei-lanzettlich, Blumenblätter uneingeschnitten, ! Ueber Oenothera grandiflora Ait. = O. suaveolens Desf., eine oft mit der Lamarckiana unter einem dieser Namen, oder auch als O. maerantha Hort. ver- wechselte Form ist Folgendes zu bemerken: Sie wurde zuerst von WILLDENOW in seiner Bearbeitung der Species plantarum (Vol. II, 1799 S. 306) beschrieben, scheint aber schon von L’H£rırıer, Störpes novae, Tom. II, Tab. 4 abgebildet worden zu sein. De Canpvorıe führt in seinem Prodomus O. grandiflora Att. und O. suaveolens Desf. als vielleicht verschiedene Arten an. DEsFoNTAINEs, der in seinem Tableau (1. Aufl. 1804 S. 169; 2. Aufl. 1815 S. 195) keine Beschreibungen giebt, scheint beide Namen als synonym zu betrachten. Im allgemeinen Herbar des Musdum d’histoire naturelle in Paris fand ich im Umschlage der O. biennis ein Papier, auf dem zwei Stengel von Oenothera grandiflora Art. geklebt waren. Der eine führte diesen Namen, von MıcHAux geschrieben. Neben den anderen hatte Desrontames Oenothera swaveolens Hort. paris. gestellt. Darüber haben Andere Oenothera grandiflora und Povret Enceyel. geschrieben, und darunter steht in der Handschrift von SpacH: Onagra vulgaris grandiflora Spach, welcher Name in Spacn’s Monographie (S. 353) synonym ist mit O. grandiflora Lam. Somit hat Spacn diese beiden Grandifloren nicht unter- schieden, obgleich sie einander durchaus unähnlich sind. Diese beiden fraglichen Speeimina sind identisch mit der in Gärten unter dem Namen 0. grandiflora Art. = O. suaveolens Desf. häufig ceultivirten Form, welche ich mehrfach auch unter den Namen O0. macrantha Hort. und O. odorata Hort. erhielt (letzteres ist eine Verwechselung, verursacht durch den französischen Namen Enothere odorante). Meine Untersuchung im Pariser Herbar hat mich also von der Identität der von mir als O. suaveolens Desf. (O. macrantha Hort.) cultivirten Form mit der von Desrontaines beschriebenen Art überzeugt. Sie hat ebenso grosse Blüthen wie O. biennis. Oenothera Lamarckiana SERINGE. 317 Früchte unbehaart. Diese Art scheint durch ihre Tracht der Oen. longiflora verwandt, unterscheidet sich aber durch mehrere auffallende Merkmale, namentlich durch verzweigte Stengel, uneingeschnittene Blätter, kurze und glatte Früchte. Die Stengel werden drei bis vier Fuss hoch, sind eylindrisch, spärlich behaart, röthlich braun, mit zahl- reichen weit abstehenden Zweigen. Die Blätter sind grün, zerstreut, ei-lanzettlich, beiderseits unbehaart, ganzrandig; die unteren Blätter sind gestielt und am Grunde ein wenig gezähnt. Die Bracteen sind schmäler, spitzer und sitzend. Die Blüthen sind gipfelständig, zu einer breiten Krone vereinigt, sie stehen einzeln in den Achseln der Bracteen, aber dicht zusammen. Der Kelch ist gelb, die Röhre etwas länger als die vier lanzettlichen, an der Basis breiteren Zipfel, welche an der Spitze eine kurze, dicke, fadenförmige Verlängerung tragen. Die vier Blumenblätter sind eirund, sehr gross, gerundet, fast so lang wie die Kelchröhre, am Grunde keilförmig verschmälert. Die Frucht ist eine kurze Kapsel, sie ist cylindrisch, unbehaart, an der Spitze abgestutzt, viereckig und erreicht etwa den dritten Theil der Länge der Kelchröhre.! Die Original-Exemplare von Lamarck befinden sich jetzt noch im Herbar des Museum d’histoire naturelle, und sind dort mit derselben Nummer 12 bezeichnet wie im Dictionnaire. Ich habe diese Exemplare ausführlich mit der Beschreibung und mit den von mir in meinem Versuchsgarten cultivirten Pflanzen verglichen und mich von der völligen Identität überzeugt.” Die Original- Exemplare vergegenwär- tigen nicht in jeder Hinsicht den mittleren Typus der Art; die Be- schreibung passt also nicht genau auf diesen, namentlich nicht in Bezug auf die Krone und die Früchte. Die Kronenblätter sind um- gekehrt herzförmig, aber im Vergleich zur O. longiflora nur schwach ausgerandet; die Früchte sind ebenso gross und von derselben Form ! Eneyclopedie methodique, Botanique par Lamarcr. Tome IV. Paris An. IV. (1796) p. 550—554. Gewöhnlich eitirt als Lam. Diet. 5 ® Es scheint, dass nicht Lamarck, sondern Poırer den Abschnitt über Oenothera im Dictionnaire geschrieben hat. Die Exemplare im Herbar tragen die Beischrift O. grandiflora, von Poıker geschrieben. In demselben Herbar befindet sich, im Umschlage der O. biennis, ein Exemplar von Oenothera grandiflora Lam., und unter diesem Namen, welches aus der Sammlung des Abtes PourreEr her- rührt und mit dieser von Dr. BArBIEr im Jahre 1847 dem Museum geschenkt wurde. Diese Pflanze wurde wahrscheinlich von Pourrer zur Zeit seines Besuches in Paris 1788 im Garten des Museums gesammelt. Sprach hat später neben dieses Speeimen geschrieben: Onagra vulgaris grandiflora Spach, was die Identität dieses Namens mit O. Lamarckiana Ser. beweist. Auch diese Pflanze stimmt mit meinen Öulturen genau überein. 318 Der systematische Werth der neuen Arten. wie bei O. biennis und stimmen mit dieser auch in der Behaarung überein. Die Untergattung Onagra, zu der die ©. Lamarckiana gehört, umfasst fast ausschliesslich nordamerikanische Arten. Die jetzt in Europa wildwachsenden Formen sind von dorther eingeführt. Die Oenothera biennis aus Virginien um 1614, die O. muricata aus Canada im Jahre 1789 durch Joun HuUNnNnEMANN, die Oenothera suaveolens im Jahre 1778 durch Joan Fornereirr.? Die beiden ersteren wachsen in den Niederlanden, namentlich in den Dünen, welche sich der Küste entlang erstrecken, sehr häufig, und bestehen dort, soviel mir bekannt, nur aus je einer Unterart. Sie sind auch sonst in Europa weit ver- breitet. Die O. suaveolens ist jetzt im westlichen Theile Frankreichs an zahlreichen Stellen verwildert.”? Wo die Oenothera Lamarckiana ihre Heimath hat, habe ich nicht ausfindig machen können. Bei uns kommt sie nur aus Gärten verwildert vor. Zu den Merkmalen der O. Lamarckiana gehört auch der sym- metrische Bau der Blüthen, welcher namentlich in den Staubfäden ausgeprägt ist.* Die Blüthen stehen seitwärts vom Stengel ab, oft in nahezu horizontaler Richtung. Die Staubfäden sind an ihrem Grunde abwärts gebogen, die oberen stärker als die unteren; in der oberen Hälfte richten sie sich wieder etwas auf. Diese symmetrische Krümmung wird, wie Vöchtine fand, von der Schwerkraft ausgelöst. Er beobachtete, dass, wenn Zweige am Klinostat der Drehung aus- gesetzt werden, die Blüthen sich in normaler Weise entfalten, dass aber die Filamente gerade bleiben. Ein Einfluss des Lichtes oder der Finsterniss macht sich dabei nicht geltend. Die Krümmung der Filamente tritt erst kurz vor oder während der Entfaltung der Blüthen ein. Öeffnet man am Vormittag solche Knospen, welche sich am Abend desselben Tages entfalten würden, so findet man die Filamente noch völlig gerade.’ ! Für eine kritische Auseinandersetzung der Synonymie und der Merkmale der hier in Betracht koınmenden Arten von Oenothera verweise ich ferner auf „Sur Vintroduetion de l’ Oenothera Lamarckiana dans les Pays-Bas‘“‘, Nederlandsch Kruidkundig Archief. Aug. 1895. ® W. T. Arton, Hortus Kewensis. 2. Ed. Vol. II. 1810. S. 341. ® Gıuwot, Soc. Bot. France. 1893. p. 197. Vergl. ferner Tom. Ill. S. 437. * H. VöcHtine, Ueber Zygomorphie und deren Ursachen in Prinasn. Jahrb. f. wiss. Bot. Bd. XVII. 1886. S. 311. Vergl. namentlich Tafel XVI, Fig. 14. Ferner über geotropische Krümmungen der Oenothera-Blüthen: HANsTEm, Beiträge zur allg. Morphologie. IV. 3. S. 151. 5 Vergl. die Abbildung auf S. 152. Uebersicht der Merkmale der neuen Arten, 819 Es ergiebt sich hieraus, dass der Grad der Krümmung der Filamente von dem Winkel abhängen muss, den die geöffnete Blüthe mit der Lothlinie bildet. Je geringer dieser Winkel, um so schwächer ist die Krümmung. In den beschriebenen Beziehungen verhält sich unsere Pflanze wie die O, biennis. Dagegen unterscheiden sich ©. muricata und O. parviflora bekanntlich durch die nicht gekrümmten Staubfäden.! Das Fehlen dieser Krümmung hängt aber offenbar mit dem Stande dieser Blüthen zusammen, denn diese sind hier am Stengel aufgerichtet, statt abstehend. Auch fehlt die Krümmung keineswegs gänzlich; ich fand sie stets, wenn auch oft in geringerem Grade ausgebildet. $ 27. Uebersicht der Merkmale der neuen Arten. Meine neuen Arten besitzen ohne Ausnahme die Merkmale der Biennis-Gruppe, zu der die O. Lamarekiana gehört. Im Anschluss an Warson’s Monographie hebe ich folgende gemeinschaftliche Charaktere hervor.? Pflanzen ein- oder zweijährig, einen meist reich verzweigten, senk- recht aufwachsenden Hauptstamm bildend. Blüthen gelb, Blüthen- knospen aufgerichtet, von den vier Kelchzipfeln gekrönt. Antheren linearisch, in der Mitte befestigt, Filamente von gleicher Grösse. Narbe aus vier oder mehr freien oder mehr oder weniger seitlich verwachsenen, langen, cylindrischen Lappen gebildet. Kelchröhre dünn, am Schlunde ein wenig verbreitert. Früchte sitzend, oblong, im oberen Theile deutlich verjüngt, Samen in zwei Reihen in jedem Fach, Samenhaut etwas zu gross für den Kern, dadurch runzelig. Es reichen diese Angaben, namentlich wenn man die folgenden Tabellen vergleicht, hin, um die Zugehörigkeit der neuen Arten zu einer Grossart morphologisch und systematisch zu beweisen. Dass sie mit O. Lamarckiana näher verwandt sind, als mit ©. biennis, O. muricata, O. suaveolens und den sonstigen in systematischen Werken beschriebenen Arten dieser Gruppe, ergiebt sich, ausser aus ihrer Abstammung, eigentlich nur aus den Eigenschaften der Blüthe. Diese sind erstens viel grösser als bei den verwandten Formen, und zweitens haben sie längere Griffel. Der Griffel erhebt die Narben bereits in den Knospen oberhalb der Spitze der Antheren. Wenn sich die Blüthe öffnet, breiten sich die vier Narben im Kreuz aus, ı Bull. Soc. Bot. France. T. UI. p. 437. ° SERENO Warson, Revision of the extra-tropical North American Species of the genus Oenothera. Proceedings, American Acad. of Aris and Sciences Mai13, 1873. Vol. VOL S. 573—618. 820 Der s ER Wer ih der neuen Rn dabei al An in der Regel Ba Den 2 O. biennis dagegen liegen die Narben in der Knospe mitten zwischen den An- theren und überragen diese zur Blüthezeit nicht. Dieser Umstand ist für die Befruchtung sehr wichtig. Bei O. biennis findet diese bereits in der Knospe statt, indem die Antheren sich einen Tag vor der Entfaltung der Krone öffnen. Oft fängt dieses bereits früher an, oft ein wenig später. Diese Erscheinung erschwert bei Kreuzungsversuchen offenbar die vorzunehmenden Operationen sehr, da man diese an noch ziemlich jungen Knospen ausführen muss. Dagegen erleichtert sie die Selbstbefruchtung, bei der weiter nichts Fig. 99. Reife Früchte, kurz vor dem Vertrocknen, in halber natürlicher Grösse. L Oenothera Lamarckiana, R O. rubrinervis, A O. albida. erforderlich ist, als dass man den Besuch der Insecten ausschliesst. Ganz anders bei der ©. Lamarckiana. Diese ist leicht und sicher und in ziemlich grossen Knospen zu castriren, erfordert aber bei Selbstbefruchtung stets die künstliche Uebertragung des Blüthenstaubes. In dieser Beziehung verhalten sich, abgesehen von O. lata und O. bre- vistylis, und von den sterilen Formen, die in meinem Versuchsgarten aufgetretenen neuen Arten alle wie die O. Lamarckiana, und nicht wie die O. biennis. Die Nothwendigkeit, alljährlich alle Blüthen, deren Samen ich ernten wollte, mit eigenen Händen zu befruchten, hat mir in dieser Beziehung ausreichende Erfahrung gegeben. Uebersicht der Merkmale der neuen Arten. Bl Bei der Beschreibung meiner neuen Arten $ 10—23 habe ich bisweilen auf atavistische Erscheinungen aufmerksam gemacht. So bildet die O. nanella in der ersten Jugend einige wenige langgestielte Blätter aus, so sieht man bisweilen Buckel auf den sonst glatten Blättern von O. laevifolia und O. seintillans u.s.w. In dieser Beziehung verhalten sie sich wie sehr viele Arten, auch aus anderen Familien, welche namentlich in der Jugend Eigenschaften ihrer Vorfahren wiederholen (z. B. Acacia, Ulex, Sium u. s. w.). Ich werde jetzt versuchen, die Merkmale der neuen Arten in Uebersichtstabellen zusammen zu stellen, um sie im nächsten Para- L£. Fig. 100. Reife Früchte, kurz vor dem Fig. 101. Reife Früchte, kurz vor dem Vertrocknen, in halber natürlicher Grösse, Vertrocknen, in halber natürlicher Grösse. noch in den Achseln ihrer Bracteen. G Oenothera gigas, Lt O. lata. O Oenothera oblonga; S O. scintillans. graphen besser mit den Eigenschaften der älteren Arten vergleichen zu können. Um mich dabei möglichst einfach auszudrücken, werde ich die Eigenschaften der Mutterart, O. Lamarckiana, als normal be- zeichnen und bei Vergleichungen mich stets auf diese beziehen. Ferner trenne ich die einzelnen Organe und Entwickelungsstadien in den Tabellen und fange mit den Keimpflanzen an, in jenem Alter (2—3 Monate), in welchem ich sie gewöhnlich ausgesucht und gezählt habe. Es enthält die erstere Tabelle somit die Merkmale, welche bei diesem Sortiren benutzt wurden. DE VRIES, Mutation. I. 21 Den REIT We ih der neuen Arten. Analytische Tabelle der Keimpflanzen. I. Blätter gestielt. A. Blätter von derselben Breite oder breiter.! 1. Von derselben Breite, von derselben Form, an den Keimpflanzen nicht zu unterscheiden. a) (Figg. 48, 51, 52, 64, 65, 66, 72, 95) 1. OÖ. Lamarckiana. DEE ANNE EN DOREEN 5 ie 2. 0. brevistylis. 6)» 5 Ä 3. O. leptocarpa. 2. Breiter, zugespitzt mit vielen Buckeln. a) (Figg. 52, 63, 65, 66). „4. OÖ. gigas. 3. Breiter, am Gipfel abgerundet, mit sehr een Buckeln, Rand umgebogen. a) (Fig. 48. 51, 52, 91, 92, 95) 5. O. lata. Dee 5 . 6. O. semilata. B. Blätter schmäler. 1. In der Mitte am breitesten. a) Sehr lang, langgestielt, mit schmalen Ner- ven, fast glatt (Fig. 83). 7.0. elliptica. b) Klein, mit breitem Stiele und breiten Haupı nerven, sehr glatt, glänzend, dunkelgrün (Fig. 52, 81, 82) 2. .8 0. seintillans. 2. Von gleicher Breite über den grösseren Theil der Länge. a) grün. a) 1. Nur wenig schmäler, glatt, ohne oder fast ohne Buckeln . 9. O. laevifola. a) 2. Sehr schmal, mit breitem Stiel End breitem Hauptnerven, Nerv röthlich; runzelig (Figg. 48, 53, 72, 73, 74, 95) 10. O. oblonga. b) weisslich. b) 1. Mit vielen Buckeln, zugespitzt, in den Stiel verschmälert (Figg. 48, 72, 15,..16,.95) : rn NO walbrda: b) 2. Mit wenigen Buckain in den Stiel verschmälert, wellig, nk, Nerv röthlich (Fige. 52, 68) 12. O. rubrinervis. b) 3. Mit wenigen Buckeln kaum in abam Stiel verschmälert, fast grasartig 13. O. sublinearis. II. Blätter sitzend, kurz und breit, fast herzförmig, mit Buckeln (Figg. 51, 52, 78, 79). Se RE 14. O. nanella. Am meisten verschieden ist bei den neuen Arten wohl die Tracht oder der sogenannte Habitus. Dieser ist, wie bei der 0. Lamarckiana selbst, in hohem Grade von der Cultur abhängig. In erster Linie ! „(wie bei Lamarckiana)“, wie später überall in den Tabellen. Uebersicht der Merkmale der neuen Arten. 323 sind zweijährige Pflanzen selbstverständlich in der Regel viel stärker als einjährige. Erstere werden bisweilen weit über zwei Meter hoch, letztere oft nur wenig über einen Meter. In beiden Fällen hat die Zeit der Aussaat einen Einfluss; je früher die Pflanzen keimen, um so mehr Zeit haben sie zu ihrer völligen Ausbildung. Weiterer oder dichterer Stand, ausreichende Besonnung u. s. w. sind von Einfluss auf Höhe und Verzweigung. Es ergiebt sich hieraus, dass man, wenn man verschiedenartige Culturen verwandter Arten vergleicht, Unterschiede beobachten wird, welche nicht oder nur mittelbar mit den wirklichen Charakteren zu- sammenhängen, und dass andererseits wirkliche Verschiedenheiten verwischt werden können. Aber bei möglichst gleicher Behandlung sind die Beete meiner neuen Arten schon von Ferne typisch ver- schieden und leicht zu erkennen. Die jetzt folgende Tabelle bezieht sich vorwiegend auf einjährig blühende Exemplare. Analytische Tabelle der blühenden Pflanzen auf Grund ihrer Höhe und Verzweigung. I. Von derselben oder nahezu derselben Höhe (1-5—1-8m). A. Inflorescenz im October erschöpft, verblüht. Stengel gerade, steif. 1. Von derselben Stärke. a) Nebenstengel stark, Stengeläste meist kurz. Locker beblättert (Fig. 55) . - - 1. O. Lamarckiana. b) Nebenstengel schwach, Hauptstamm ask verzweigt. Fruchtähren lockerer. Stengel röthlich, zerbrechlich, oft De a (Figg. 49, 67, 69, 70) Mn 2. Etwas schwächer. a) Schmalblätterig, der O. Lam. sehr ähnlich O. rubrinervis. D (Eio250)e 2: 3. O. laevifolia. b) Breitblätterig, der 0. Mala ühnlich, Aber höherer ne 4. O. semilata. 3. Sehr stark, Stengel el dl ei: ker, dient beblättert, Internodien kurz; Zweige meist kurz und rosettenbildend. Te dichter und vollerse a, mA, RE Ne 8210203908: B. Inflorescenz bis in den Winter binkand, dm sehr lang, schwach gebogen. 1. Stark verzweigt, reichblüthig. Knospengruppe oberhalb der Blüthe klein. . . 6. O. brevistylis. 2. Wenig verzweigt, armblüthig. Kaospengruppe oberhalb der Blüthen sehr lang. . . . . 7. O. leptocarpa. 2 324 Der s 2 Werth der neuen Arten. I. Nbanser eat 1 | Meter ee weniger). A. Stark verzweigt. 1. Aesteangedrückt, das Ganze daher steif. Knospen- tragender Theil oberhalb der Blüthen lang . 8. O. seintillans. 2. Aeste abstehend, steif. a) Hauptstamm dick, über die Zweige empor- ragendun 1 ‚20 u MSRonEsn se Re 9 RO eDrtRe b), Niedrig, schwach . 2 2. 22 OTeNDrEEE ce) Meist sehr schwach . . 11. O. sublinearis. 3. Aeste schlaff, daher abwärts gebogen: Gipfel gleichweise schwach . . . . 2127 Olnter B. Fast unverzweigt, Zweiglein nei nur sehen! artig, Stengel sehr dünn (Figg. 50, 1) . . 13. O. oblonga. III. Zwergform, oft bei 10—20 cm Höhe Be blühend (Big. 45, 170)... ale ee ee el oO ranzellen Die Blätter der Oenothera Lamarckiana wechseln ihre Form von der ersten Jugend an bis in die Gipfel der Inflorescenzen. Ebenso verhalten sich die aus ihr entstandenen neuen Arten. Die Wurzel- blätter der völlig erwachsenen Rosetten gehen allmählich in die unteren Stengelblätter über, anfangs mit fast unveränderter Form. Am Stengel hinauf werden die Blätter allmählich kürzer und von kleineren Stielen getragen, bis sie in der Inflorescenz, an deren Anfang oder etwas später, ganz sitzend werden. In der jungen Inflorescenz überragen sie die Blüthen noch, später sind sie in Bezug auf diese und die Früchte ganz klein. Ihre grösste Breite, welche anfangs ungefähr in der Mitte liegt, verschiebt sich dabei allmählich nach der Basis. Man darf somit bei einer Beschreibung der verschiedenen Arten nur Blätter von derselben Stengelhöhe mit einander vergleichen. Analytische Tabelle der Blätter. I. Von normaler Breite. A. Von normaler Länge und Form. 1. Zugespitzt. a) (Figg. 62, nn 1. ©. Lamarckiana. by: :. 2. O. leptocarpa. 2. Gerundet . 3. O, brevistylis. B. Rundlich 4. 0. semilata. C. Kurz, sitzend oder min eanelh. am Grande Be oft. geöhrt bis’herzförmig .. °... % 21 2.225202 nanella, II. Breiter. A. Von derselben Form, doch sehr variabel, Zähne gross, zahlreich, namentlich am Grunde. Am Stengel abwärts gedrückt (Figg. 54, 62) . . . 6. O. gügas. B. Rundlich, stumpf, wenig gezähnt, aber meist mit umgebogenem Rand (Figg. 57, 58, 88, 89) . . 7. O. lata. Uebersicht der Mer kmale E neuen ‚Arien. 325 III. Wenig schmäler. A. Grün. 1. Glatt, ohne Buckeln. a) Von normaler Länge, flach 8. d) Klein, Mittelnerv breit, weisslich (Fig. 54) 9. 2. Runzelig. Wurzelblätter schmal mit breitem Nerv; Stengelblätter mit breitem Grunde sitzend (ESS A) a Eee LT EN LEHE ON0bIONgA: B. Weisslich. 1. Oft mit röthlichen Nerven, in der Mitte am breitesten, Bracteen der ns nach gefaltet . laevifolio. . seintillans. (isoAjer. 0: 5 i 11. O. rubrinervis. 2. Sitzend mit Schalen 1a, nur Ge unteren gestielt (Kir. m5A DD) ee 2120 albide: IV. Sehr schmal. A. Lanzettlich, lang, oft zehnmal als breit (Bismsa)e ee: N ao Wellintica: B. Linealisch, klein (Figeg. 55, se). SEEN TAN ON sublineanis: In Bezug auf die Blüthen habe ich bereits oben bemerkt, dass ihre Grösse sehr wesentlich von der individuellen Kraft der sie tragenden Pflanze abhängt. Sie sind sowohl. individuell wie partiell variabel, dabei dem bekannten QUETELET’'schen Gesetze folgend. Namentlich auffallend ist, dass ihre Grösse zur Blüthezeit auf dem Stengel allmählich abnimmt, vom Juli bis in den October, oft bis auf ?/, oder fast die Hälfte sinkend. Es hängt dieses offenbar mit der Erschöpfung der Pflanze durch die reichliche Fruchtbildung zu- sammen, denn die O. brevistylis, welche fast keine Samen trägt, blüht oft bis tief in den November mit sehr grossen, leuchtenden Blumen. An Seitenzweigen sind die Blüthen kleiner, wenn der Hauptstengel mit Früchten beladen ist; war dieser früh, ganz oder theilweise ab- geschnitten, wie letzteres für die künstlichen Befruchtungen zu ge- schehen pflest, so tragen die späten Seitenzweige oft auffallend grosse und schöne Blumen. Es hängt offenbar mit Obigem zusammen, dass die neuen Arten, welche von schwachem Wuchs sind, auch etwas kleinere Blumen tragen. Analytische Tabelle über die Blüthen, Früchte und Samen. (Figg. 98—101.) I. Blüthen ebenso gross oder grösser, Petalen im Mittel 3—4 cm lang (Pflanzen gross). A. Früchte und Samen normal, Blüthenknospen dünn, keglich (Fig. 99) 1. Kelch und Früchte grün, bisweilen schwach Eöthlichx(Mir 6D) Sn mn... 170% Lamarckiang. 326 Der systematische Werth der neuen Arten. 2. Kelch röthlich, Früchte roth gestreift, Petalen oft falzlich, breit, beim Verblühen dunkler. . 2. O. rubrinervis. 3. Blassgelb; die späteren Blüthen mit eilänglichen Blättern /(Bie2.759,260)°. 2 ON TerzraTE B. Früchte kurz und dick (Fig. 101). 1. Samen gross, dunkelbraun, reichlich. Petalen sehräbreit,2 Knospen dicke 2, 2 AO Rozse 2. Samen gross, spärlich. Knospen dick, Petalen runzelig. Staubbeutel steril (Fig. 46). . . . 5. ©. lata. 3. Weniger abweichend, Blüthenstaub fertil . . 6. O. semilata. C. Früchte kurz und dünn, Blüthen kurzgriffelig, halbunterständig . en ee ne ee TAN OOTEDESCHDS: D. Früchte lang und dünn. Die Blüthe fängt erst spät im Sommer an und dauert bis in den Herbst 8. O. leptocarpa. II. Blüthen fast ebenso gross oder kleiner, Petalen meist etwa 3 cm (Pflanzen niedrig). A. Früchte lang und dünn, Blüthen ausgebreitet, Pe- talen elliptisch. Ay BHSEH SA) Le Ale ınn em eos SERIE TEL DEIEN DIES). ee Rn OO SD IDEE B. Früchte von fast normaler Grösse. a) Samen reichlich, von fast normaler Grösse, Knospen oft seitlich gebogen. . . . . 11. O. nanella. b) Früchte dünner, samenarm, Blüthen blass- gelb, Krone wenig ausgebreitet(Figg. 83,39) 12. O. albidı. C. Früchte kurz und dick, von halber normaler Grösse oder weniger. a) Blüthen aufstehend, Samen klein, Früchte glatt rl Wann le NL 3ER) ESCaretRllanSe b) Blüthen abstehend, Früchte weniger dick, samenarın . u u. ln NO ohlonges Die in diesen Tabellen mitgetheilten Merkmale sind jene, nach welchen ich meine Pflanzen in der Regel sortirt und ausgezählt habe. Die feineren Differenzen, welche man bei einiger Uebung leicht be- obachtet und mittelst deren sich mit voller Sicherheit arbeiten lässt, lassen sich bekanntlich nur schwer in Worten ausdrücken. Und der bereits hervorgehobene Umstand, dass der Grad der Entwickelung aller Organe mit der individuellen Kraft des Ganzen nach den Ge- setzen der correlativen Variabilität verbunden ist, lässt Beschreibungen stets unvollständig erscheinen, erleichtert aber auf der anderen Seite die Beurtheilung des lebenden Materiales sehr wesentlich. Vergleichung der Merkmale älterer und neuer Arten. 327 $ 28. Vergleichung der Merkmale älterer und neuer Arten. Die aus Oenothera Lamarckiana in meinem Versuchsgarten ent- standenen Arten unterscheiden sich von einander im Allgemeinen in derselben Weise, wie die bekannten Arten der Biennis-Gruppe unter sich. Diesen wichtigen, bereits oben hervorgehobenen Satz werde ich jetzt durch eine genaue Vergleichung zu beweisen versuchen. Leider ist eine solche Beweisführung durch die Unvollständigkeit der in der Literatur vorhandenen Beschreibungen sehr erschwert. Die Diagnosen sind meist kurz, sehr häufig nach einzelnen Herbar- Exemplaren aufgestellt, von denen man nicht weiss, in welchen Cha- rakteren sie den mittleren Typus der Form zur Schau tragen, und in welchen sie vielleicht mehr oder weniger stark von diesem mitt- leren Typus abweichen. Angaben über die Keimpflanzen, welche gerade so besonders wichtig sein würden, fehlen fast durchaus, u. s. w. Diese Unvollständigkeit der Literatur lässt sich selbstverständlich durch Cultur der betreffenden Arten am besten beseitigen, und ich habe die bei uns wildwachsenden und einige andere Formen während vieler Jahre und unter verschiedenen Umständen in grösseren Mengen von Individuen cultivirt, um sie mit den meinigen vergleichen zu können. Im Jahre 1395 habe ich. im Tausch der botanischen Gärten mir alle verfügbaren Proben von Samen aus der Untergattung Onagra verschafft und diese so vollständig wie möglich ausgesät. Auch später habe ich mir, wo sich die Gelegenheit dazu bot, Onagra - Samen verschafft. Am besten bekannt sind mir selbstverständlich die bei uns wild- wachsenden Arten O. muricata und O. biennis; von beiden besitze ich nur je eine Form. Ferner die in Frankreich verbreitete O. suaveolens, von der ich zwei oder drei Unterarten erhielt, O. hirsutissima (O. biennis hirsutissima Torrey and Gray), 0. parviflora L. und ©. cruciata Nutt. und einige andere. Unbekannt oder nur aus Abbildungen und Herbar- Material bekannt sind mir ©. spectabilis Spach (= O. corymbosa), O. elata Kunth, O. media Link, O. erosa Lehm. u. s. w. Ihre Merkmale liegen aber, soweit es sich beurtheilen lässt, zwischen denen der erst- genannten Arten; sie schliessen diese noch enger an einander an. Aus diesen Gründen werde ich mich im Wesentlichen auf die Vergleichung der neuen Arten mit O. biennis, O. muricata, O. La- marckiana, O. eruciata und O. suaveolens beschränken. Es wird dieses genügen, um zu zeigen, dass die Differenzen zwischen den ersteren grösser sind, als zwischen den letzteren. Und das Studium der übrigen älteren Arten kann selbstverständlich diesen Schluss nur erhärten. 328 Der systematische Werth der neuen Arten. Fangen wir mit den Keimpflanzen an. Diese bilden zwei Gruppen. O. biennis und ©. Lamarckiana haben breite Blätter (Fig. 102 A), O. muricata, ©. eruciata und O. suaveolens schmale (Fig. 102 B). Namentlich in den ganz kleinen Rosetten sieht man diese Unter- schiede deutlich; wenn aber das Wachsthum im Juni rascher zu werden anfängt, werden alle Blätter länger und ihre Merkmale da- durch weniger auffallend (Fig. 103), um aber später wieder deutlicher zu werden. Ich habe mehrfach die Rosetten der verschiedenen neuen und alten Arten reihenweise neben einander cultivirt, um 10—20 und oft viel mehr Individuen im gleichen Alter und bei gleicher Cultur vergleichen zu können. An der Seite der schmalen Blätter weichen OÖ. muricata und ©. scintillans am stärksten ab; beide mit glatten glänzenden, erstere aber mit blassgrünen langen, letztere mit dunkel- grünen kurzen Blättern. Wellig gekrümmte, weissliche Blätter haben Fig. 102. Keimpflanzen. 4 von Oenothera biennis L., B von O. muricata L., zwei Monate alt. O. rubrinervis, O. suaveolens und O. hirsutissima; sie sehen sich in der Jugend sehr ähnlich, aber die erstere ist weit früher und sicherer von anderen beigemischten Sorten zu unterscheiden als die beiden letzteren (z. B. in Bastardaussaaten). Rosetten von O. gigas sind viel grösser und stärker wie die von O. Lamarckiana; letztere sind etwa ebenso stark wie O. biennis, aber nicht glattbiätterig wie diese, sondern runzelig. O. elliptica sieht oft der O. eruciata zum Verwechseln ähn- lich und O. sublinearis hat die schmalsten Blätter aus der ganzen Gruppe. Zwischen dieser und O. gigas liegen die sämmtlichen älteren und neueren Arten in bunter Reihe durch einander. Obgleich einzelne Individuen oder ihre Abbildungen stets nur ein unvollständiges Bild geben, so bitte ich doch die Figuren 102 und 103 mit den früher gegebenen Darstellungen entsprechender Ro- setten und Blätter zu vergleichen. So erstens mit den Blättergruppen der Rosetten vom Juni (Fig. 52 S. 207 und Fig. 53 S. 208). Dann Vergleichung der Merkmale älterer und neuer Arten. 329 am besten mit den Rosetten von ©. gigas (Fig. 63 S. 229), ©. lata (Fig. 92 S. 295), O. seintillans (Fig. 82 S. 273), ©. oblonga (Fig. 74 S. 244) u. s. w. Die Wurzelblätter der erwachsenen Rosetten und die Stengel- blätter verhalten sich in derselben Weise. Die der O. biennis und der O. Lamarckiana (Fig. 104 B und L) unterscheiden sich in der Form fast nicht; die ersteren sind glatt, mit wenigen Buckeln, mit röthlichen Hauptnerven und oft vielen zerstreuten braunen Pünktchen; die letzteren sind sehr runzelig, ohne rothen Farbstoff oder mit nur sehr vereinzelten rothen Punkten. In der Form unterscheidet sich die O. gigas etwas mehr (Fig. 62 auf S. 228) und die O. lata bedeutend mehr (Fig.58 S.220 und 1228918. 289): Fig. 105 8.331 giebt eine Gruppe von Stengel- blättern zum Vergleich mit der entsprechenden Fig. 54 auf S. 209. Die Unterschiede sind ofien- bar von derselben Ord- nung; für O. eruciata und O. muricata (Fig. 105 p und m) sind sie etwas grösser, doch werden diese wieder von ©. ellip- tica und O0. sublinearis x übertroffen. Fig. 103. Erwachsene Blätter junger Rosetten im Juni, MB Ed im Alter von drei Monaten. B O. biennis; M O. muri- n ezug au en cata; 8 O. suaveolens. Habitus weichen die meisten älteren Arten nur unwesentlich von einander ab. O. muricata hat meist etwas stärkere Seitenzweige als O. biennis; O. Lamarckiana hat eine längere Traube als diese beiden. ©. eruciata ist niedriger und ©, suaveolens und O. hirsutissima sehen der O. biennis sehr ähnlich, sind aber etwas schwächer. Alles selbstverständlich bei Vergleichung von Gruppen von Pflanzen unter denselben Culturbedingungen. Unter diesen weichen ©. rubrinervis, O. gigas, O. laevifolia und O. brevistylis nicht stärker von der Lamarckiana ab, wohl aber die niedrigeren Formen, welche einen ganz anderen Habitus besitzen. Unter ihnen ist namentlich O. lata breit, dicht und gedrungen, und bilden ©. oblong« 300 Der systematische Werth der neuen Arten. und ©. seintillans schmale, steife, dünne, nicht oder wenig verzweigte engbeblätterte Stengel. Die bläulich grüne Farbe von ©. muricata ist für diese Art charakteristisch; die weisslich grüne findet sich bei O. albida etwas stärker, bei ©. rubrinervis ungefähr ebenso stark ausgebildet als bei O. suaveolens und O. hirsutissima. Diese vier Formen gleichen sich, abgesehen von den Blüthen und Früchten, sehr stark. In Bezug auf die Blüthen sind die Unterschiede bei den älteren Arten weit grösser als bei den neuen. Die Blumen sind klein bei O. muricata, O. parviflora, ©. eruciata, mittelgross bei O. biennis, O. suaveolens und ©. hirsutissima, EIN sehr gross bei ©. Lamarckiana. / ' V N Bei der ersteren Gruppe sind sie Ai A |\ aufgerichtet, ihre Staubfäden da- ag’ \ her nicht oder fast nicht gebogen (vergl. S. 318); bei den beiden letzteren Gruppen sind sie ab- stehend, das Androeceum dem- entsprechend symmetrisch aus- gebildet. Die Lamarckiana hat die Narben über den Antheren hinausragend; die anderen haben die Narben auf derselben Höhe als die Antheren. Ülfie \ f FE P Nam RN yy: h N, “ i \ 3 In allen diesen und den weiteren Einzelheiten haben meine neuen Arten Lamarckiana-Blüthen. Fig. 104. Wurzelblätter erwachsener Ro- In den beiden letzten Jahren setten; B von Oenothera biennis; L von 0. haben meine Mutanten aber auch Lamarckiana. Die Punkte auf beiden Blät- .. Mr . ee ee diese Grenze überschritten und ist eine mit Biennis-Blüthen und eine mit Mwuricata-Blüthen aufgetreten. Beide aber nicht in reinen, sondern in gekreuzten Rassen.! Hervorzuheben ist hier aber Oenothera cruciata Nuttall, eine von vielen Systematikern als Art beschriebene, von Anderen als Varietät zu O. parviflora L. gerechnete Form. Sie unterscheidet sich von dieser durch die schmalen, linearischen Petalen, und sonst in keiner Hin- sicht. Sie ist der O. parviflora somit in erheblich engerer Weise ver- ! Vergl. hierüber den zweiten Band. Vergleichung der Merkmale älterer und neuer Arten. 381 wandt, als je zwei beliebige neue Arten unter sich. Dennoch ist sie ursprünglich als eigene Art beschrieben worden. Schliesslich betrachten wir die Früchte. Hier ist unter den Fig. 105. Stengelblätter von Oenothera biennis (b); O. suaveolens (s); O. hirsutissima (R); O. erueiata (p); O. muricata (m); zum Vergleich mit Fig. 54 auf 8. 209. älteren Arten eigentlich nur O. parviflora verschieden, weil ihre Kapsel achtspaltig, statt vierspaltig aufspringt. Die übrigen angeblichen Unterschiede, wie die cylindrische oder conische Form, die stärkere oder schwächere Behaarung, die Länge und Dicke u. s. w. sind indivi- 332 Ueber die latente Fähigkeit zu mutiren. duellen Schwankungen sehr stark unterworfen, scheinen aber keine Unterschiede zwischen den Arten zu bilden. Dagegen sind gerade in den Früchten und Samen die neuen Arten sehr stark verschieden, wie die Tabelle auf S. 325 und die Figuren 98 (Samengruppe, S. 314) und 99—101 (Früchte, S. 320—321) deutlich zeigen. Zusammenfassend sehen wir, dass die bekannten systematischen Arten der Untergattung Onagra sich von einander principiell nicht in anderer Weise unterscheiden, als die aus ©. Lamareckiana neu auf- getretenen Formen. Beide Gruppen sind durchaus analog. Die Gruppe der Onagra-Arten verhält sich zu O. biennis, wie die Gruppe der Lamarckiana-Mutanten zu dieser. IV. Ueber die latente Fähigkeit zu mutiren. S 29. Gleichnamige Mutationen beruhen auf gemeinschaftlicher innerer Ursache. Bis jetzt habe ich den Vorgang der Mutation in der Gattung Oenothera beschrieben, wie er sich der directen Beobachtung darbot. Es erübrigt jetzt noch, uns über die Ursachen der besprochenen Er- scheinungen eine Vorstellung zu machen. Diese Aufgabe ist nicht nur offenbar eine völlig berechtigte, son- dern jeder Leser würde meine Darstellung als unvollständig betrach- ten und sie unbefriedigt zur Seite legen, wenn diese Frage nicht so eingehend wie nur irgendwie möglich behandelt würde. Die Lösung dieser Aufgabe soll aber zunächst nur an der Hand der Thatsachen versucht werden. Zu diesem Zwecke trenne ich meine Erörterungen in zwei Theile. Am leichtesten zugänglich sind selbst- verständlich die während meiner Versuchsjahre wirksamen Ursachen, d. h. also die inneren Ursachen der jedesmaligen Mutationen. Anderer Natur ist aber die Frage nach der Ursache der ganzen Erscheinung, nach dem Eintreten einer Mutationsperiode. Diese verschiebe ich auf den letzten Paragraphen dieses Kapitels. Die im vorigen und in diesem Abschnitt zusammengestellten Thatsachen des wiederholten Auftretens der in meinen Culturen be- obachteten Mutationen lassen offenbar nur eine einzige Erklärung zu, nämlich die Annahme der Anwesenheit der Anlage zu jenen Muta- Gleichnamige Mutationen beruhen auf gemeinschaftl. innerer Ursache. 333 tionen im latenten Zustande in den anscheinend normalen Individuen meiner Üulturen. Nehmen wir als Beispiel die Lamarckiana-Familie (S. 157), von der ich in vielen auf einander folgenden Generationen Aussaaten ge- macht habe. Die erste Aussaat gab zwei Mutationen (Lata und Nanella); die folgende Generation gab wiederum dieselben Abweichungen, nebst einer anderen. Diese Aussaat stammte von sechs Samenträgern, welche weit von anderen Oenotheren entfernt geblüht hatten, und also nur unter sich befruchtet sein konnten. Sie waren selbstverständ- lich ohne Rücksicht auf ihre Aussicht, Mutanten zu liefern, gewählt worden. Dass nun diese sechs Samenträger wieder dieselben Ungleich- zeugungen in ihren Samen hervorbrachten, wie ihre Mütter, beweist offenbar das Vorhandensein einer im latenten Zustande vererbten Eigenschaft. Dasselbe gilt von den späteren Generationen und den übrigen Cultur-Familien. Jedesmal traten, aus anscheinend normalen Vor- fahren, wieder dieselben Mutationen auf. Das Vermögen, diese hervor- zubringen, muss also im latenten Zustande vererbt worden sein. Wäre ein solches, latentes, Vermögen nicht vorhanden, so wären drei Thatsachen durchaus unerklärlich. Erstens der Umstand, dass in derselben Aussaat dieselbe Muta- tion gar häufig in zwei oder mehreren oder gar in zahlreichen Indi- viduen auftritt, sei es aus den Samen einer einzigen Mutter, sei es aus denjenigen mehrerer Samenträger. Zweitens die mehrfach (Abschnitt II S.191 u. s. w.) hervorgehobene Beobachtung, dass es wesentlich nur von dem Umfange einer Aussaat abzuhängen scheint, ob sie Mutanten enthält oder nicht. Jedesmal, wo ich die Gelegenheit zu einer grösseren Aussaat hatte, entweder mit Samen von dem Hilversumer Felde (1889) oder in meinen Familien aus den Samen einiger weniger Samenträger, namentlich im Jahre 1895 (S. 157 und S. 184), traten die üblichen Ungleichzeugungen auf. Ihre Seltenheit in anderen Jahren und Üulturen ist daher nur auf deren geringen Umfang zurückzuführen, denn auf einigen Quadrat- metern kann man nur bei sehr dichter Aussaat unter fast täglicher Auswahl zahlreiche Mutanten erwarten. Drittens die beschränkte Zahl der überhaupt auftretenden Mu- tationen. Bei Weitem nicht jede denkbare Abweichung tritt auf. So entstanden keine weissen Blumen, keine unbehaarten oder unverzweigten Individuen, keine linealischen Petalen,! von Petalomanie oder Apetalie ! „Forma erueiata“ für Oenothera erueiata Nutt. am längsten bekannt. 334 Ueber die latente Fähigkeit zu mutiren. war nie eine Spur zu finden, u. Ss. w. Ja sogar von den beiden auf dem Hilversumer Felde gefundenen neuen Arten, der ©. brevistylis und der O. laevifolia, trat in meinen Culturen nie ein Exemplar auf. Man darf also schliessen, dass, was nicht latent vorhanden ist, auch nicht sichtbar wird. Genau zu derselben Folgerung führen die mehr oder weniger unvollständig ausgebildeten Individuen der einzelnen neuen Arten, welche bisweilen wie Zwischenformen aussehen. Denn diese ent- standen in meinen Öulturen nicht vor den Mutanten, sondern ent- weder gleichzeitig mit diesen oder meist erst später. Jede Mutation ist, wenn sie zum ersten Male auftritt, ebenso vollständig ausgebildet als später. Auch wenn man sie durch mehrere Generationen culti- virt und in grossem Maassstabe vermehrt hat, bleibt sie genau dem- selben Typus erhalten. Ich besitze von meinen Mutationen aus den Jahren ihres ersten Auftretens sowohl Photographien als Beschrei- bungen, finde aber keine Zu- oder Abnahme in der Ausbildung des Typus. Ich habe mehrfach in meinem Garten neben einander Laia- Individuen von zwei- oder dreierlei verschiedener Herkunft gehabt, z. B. in erster, zweiter und fünfter Generation; sie waren unter einander aber durchaus gleich. Scheinbare Zwischenformen sind je nach der Mutation mehr oder weniger zahlreich. Sehr selten sind sie bei den Zwergen, am zahl- reichsten bei der ©. laevifolia. Bisweilen bilden die Zwischenformen in den Seitenstämmen, welche sie aus den Achseln der Rosettenblätter treiben, den Typus ihrer Art wieder vollständig aus (z.B. O. laevifolia, wenn die Blätter des Hauptstammes zu viele Buckeln hatten), dann ergeben sie sich unmittelbar als Individuen, in denen die Abweichung anfangs mehr oder weniger latent vorhanden war. Diese scheinbaren Zwischenformen sind somit nicht etwa die Entwickelungsstufen, mittelst deren eine neue Art ihre völlige Aus- bildung erlangt hat. Sie sind vielmehr nur unvollständige Copien des bereits in vollkommenem Zustande vorhandenen Vorbildes. Sie sind, um es kurz zu sagen, nur extreme Varianten des völlig con- stanten neuen Typus (vergl. $ 24 und 25). Gerade in dieser Beziehung verhalten sich die neugebildeten Arten durchaus anders, als die durch Accumulation gebildeten Rassen (Abschn. I, $ 7, S. 52) und gerade dadurch beweisen sie die volle Berechtigung ihres Namens. Als allgemeinen Schluss aus diesen Erwägungen erhalten wir also den Satz: Beim Anfange meiner Beobachtungen im Jahre 1886 Gleichnamige Mutationen beruhen auf gemeinschaftl. innerer Ursache. 335 waren die Eigenschaften der später in meinen Öulturen aufgetretenen neuen Arten in den Pflanzen des Hilversumer Standortes bereits im latenten Zustande vorhanden. Sie blieben während vieler Generationen dort und in meinen verschiedenen Cultur-Familien latent, und traten nur von Zeit zu Zeit, vorwiegend bei grösseren Aussaaten an’s Licht. Für die häufigeren, meist in messbaren Verhältnissen (z. B. 1°/, oder 0-1°/,) auftretenden Arten scheint mir dieser Schluss unabweis- bar. Ob er auch für die sehr seltenen oder erst spät aufgetretenen gilt, soll einstweilen als gleichgültig dahingestellt bleiben. Wenn aber die latente Anwesenheit im Jahre 1856 durch meine Culturen erwiesen ist, so lässt sich daraus wohl folgern, dass auch vor jenem Jahre alle oder doch die meisten meiner neuen Arten bereits latent vorhanden waren. Die latente Fähigkeit zu mutiren, und dabei ganz bestimmte, sich jedesmal wiederholende Mutationen hervorzubringen, ist somit bei meiner Oenothera Lamarckiana eine erbliche Eigenschaft. Oder vielmehr, es muss für jede einzelne Mutation die betreffende Eigen- schaft gesondert vorhanden sein. Und es ist anzunehmen, dass die verschiedenen Mutationen, obgleich sie derselben Gruppe oder der- selben Periode angehören, dennoch von einander unabhängig sind. Soweit die Beobachtung reicht, ererbt sich dieses Vermögen stets und auf alle Individuen. Ohne Zweifel hat mir manche Aus- saat keine Mutanten geliefert, oder fehlten in anderen Aussaaten be- stimmte Mutationen. Solches war aber wohl stets nur die Folge des geringen Versuchsumfanges, sei es, dass die Ernte zu klein ausgefallen, sei es, dass zu dem betreffenden Zwecke nur eine kleine Cultur er- forderlich war. Bei grösseren Aussaaten traten die üblichen Ungleich- zeugungen in der Regel alle auf. Solch grössere Culturen erforderten die Samen vielfach von etwa vier, bisweilen von 12—20 Samenträgern. Ich habe dann stets diese Samenproben einzeln ausgesät, und es ergab sich nie, dass die Nachkommenschaft irgend eines Samenträgers ohne Mutanten wäre. Fehlten bisweilen einzelne Mutationen, so waren andere dafür um so zahlreicher. Ebenso vererbt sich das Vermögen zu mutiren auf die neuen Arten. Wir haben davon in $8 und später in $$ 10—23 zahlreiche Beispiele kennen gelernt. Zunächst ist O. scintillans sehr mutabel; sie bringt ausser 10—20°/, Oblonga ziemlich regelmässig etwa ?/,°/, O. lata und etwa !/,°/, O. nanella hervor (S. 210). Ebenso entstanden aus O0. oblonga, O. nanella, O. leptocarpa und anderen ziemlich regel- mässig die verschiedenen übrigen Mutationsformen, und zwar in Ver- 336 Ueber die latente Fühigkeit zu mutiren. hältnisszahlen, welche nicht auffallend kleiner sind als für die O. La- marckiana selbst ($ 8). Und dasselbe findet man bei Kreuzungen, z. B. von ©. lata mit O. nanella, von ©. rubrinervis mit O, nanella u. S. w. Wenn somit, bei einer Mutation, eine Eigenschaft aus dem la- tenten in den activen Zustand übergeht, so bleiben die anderen, an- scheinend alle, latent. Sie gehen dabei nicht verloren. Können sie überhaupt nicht verloren gehen? Eine Antwort auf diese Frage geben die O. laevifolia und ©. bre- vistylis. Sie wuchsen 1887 auf dem Hilversumer Felde, sind sonst nirgendwo bekannt, und sind — und darauf kommt es an — in meinen Culturen, auch in Aussaaten von mehreren Tausend Individuen kein einziges Mal als Mutanten beobachtet worden. Ich folgere also, dass ihre Eigenschaften in den von mir cultivirten Familien nicht mehr latent vorhanden waren. Es ist nun allerdings möglich, dass meine Pflanzen zufällig nicht von denjenigen Vorfahren abstammen, in denen die beiden fraglichen Eigenschaften zuerst entstanden sind. Einen absoluten Beweis für den Verlust enthält die Beobachtung nicht. Da aber die ganze Menge der Oenotheren auf dem wilden Standort nur aus einigen wenigen Individuen hervorgegangen ist, scheint mir die Folgerung doch sehr wahrscheinlich. Ob in meinen Öulturen in einzelnen Individuen das Vermögen, einzelne besondere Mutationen hervorzubringen, bisweilen verloren gegangen sein mag, lässt sich ebenso wenig entscheiden. Die nega- tiven Versuchsresultate sind dazu zu unverlässig. Es würde viel umfangreichere Culturen erfordern, um diese Frage völlig experimentell zu lösen. Einstweilen muss ich es aber als wahrscheinlich betrachten, dass die einzelnen latenten Eigenschaften, welche bei Mutationen sichtbar werden, früher oder später auch verloren gehen können. $ 30. Die latente Erblichkeit anderer Eigenschaften bei Oenothera Lamarckiana. Nach den Auseinandersetzungen des vorigen Paragraphen ist das Vermögen zu mutiren eine erbliche latente Eigenschaft. Die Merk- male der neuen Arten sind der Anlage nach in der Mutterart vor- handen, bleiben aber unsichtbar, bis sie durch bestimmte Ursachen zur activen Thätigkeit aufgerufen werden.! ! Variabilite et Mutabilite. Rapport du Congres international de botanique. Oct: 1900. Paris. S. 1. Die latente Erblichkeit anderer Eigenschaften bei 0. Lamarckiana. 387 Es leuchtet ein, dass dieser Satz für die T'heorie des Mutirens, sowie für unsere ganze Auffassung von der Natur der erblichen Eigen- schaften von principieller Bedeutung ist. ! Aus diesem Grunde habe ich mich vielfach bemüht, die Erblich- keit latenter Eigenschaften dem experimentellen Studium auch auf anderen Gebieten zugänglich zu machen. Am besten eignen sich dazu die Monstrositäten oder teratologischen Erscheinungen, welche man früher für etwas Zufälliges hielt, welche jetzt aber wohl all- gemein als Aeusserungen erblicher, latenter Anlagen erkannt werden. In den Gliedern bestimmter, grosser oder kleiner Familien werden die nämlichen Abweichungen so zahlreiche Male sichtbar, dass die Annahme einer gemeinschaftlichen inneren Ursache ganz unumgäng- lich wird. Und andererseits sind die monströsen Individuen so oft im Stammbaume durch völlig normale von einander geschieden, dass die Ursache, wenn sie continuirlich, d. h. eine einzige sein soll, wohl zumeist unwirksam sein muss. Endlich hängt es von äusseren Ein- flüssen und namentlich von Ernährungsbedingungen ab, ob in be- stimmten Exemplaren die Monstrosität auftreten wird oder nicht. Und diese letztere Thatsache scheint mir ohne Weiteres geeignet, das latente Vorhandensein und somit auch die Erblichkeit im latenten Zustande zu beweisen. In allen diesen Beziehungen sind Monstrositäten viel günstiger als Mutationen. Denn sie sind Jedem bequem zugänglich und in ihrem Auftreten und ihrer Ausbildung von der Lebenslage in leicht zu erforschender Weise abhängige. Abgesehen von den Bastarden bilden sie vielleicht weitaus das beste Material, um die Gesetze der latenten Eigenschaften zu studiren und an’s Licht zu bringen. Von den Mutationen unterscheiden sich die Monstrositäten nament- lich dadurch, dass sie partiell auftreten. Ich meine, dass sie nicht an allen gleichnamigen Organen derselben Pflanze, sondern nur an einigen, meist wenigen, gesehen werden, während die in diesem Ab- schnitt beschriebenen Mutationen ganz individuell sind. Monströs brauchen sie gar nicht zu sein. Die Bezeichnung als Monstrositäten ist in ihrer Allgemeinheit eine durchaus unglückliche, denn viele Teratologica sind bei anderen Arten ganz normale Merkmale.” Ich führe als Beispiel die Becherbildungen oder Ascidien an, welche den schildförmigen Blättern (folia peltata) analog sind. Zwar haben die Becher meist die Form einer Düte und sind dann der Assimilations- ! Vergl. Intracellulare Pangenesis S. 16 und den zweiten Band des vor- liegenden Werkes. 2 Monstruosites taxinomiques, nach ÜAsSIMIR DE CANDOLLE. DD IV DE VRIES, Mutation. 1. 338 Ueber die latente Fähigkeit zu mutiren. thätigkeit des Blattes schädlich, das hängt aber nur von der Gestalt des normalen Blattes der fraglichen Art ab. Ist dieses geöhrt, so können die Ascidien flach oder nahezu flach sein und ganz typische Folia peltata darstellen. So z.B. bei einem becherbildenden Pelargonium xonale, welches ich seit Jahren in Cultur habe und durch Stecklinge vermehre, und welches jährlich, namentlich an den kurzen Trieben, solche schildförmige Blätter in ziemlich erheblicher Anzahl bildet. Ebenso sind die ersten Blätter der Zweiglein von Tika parvifolia, wenn sie in Ascidien umgebildet sind, nahezu flach ausgebreitete Schilder (Fig. 106 0). In Bezug auf die Erblichkeit der Monstrositäten möchte ich hier hervorheben, dass meine Ueber- zeugung vorwiegend auf Unter- suchungen an anderen Pflanzen- arten beruht, über welche ich theils bereits früher berichtet habe,! wel- che aber zum anderen Theil. erst im zweiten Bande behandelt wer- den sollen. Doch schliessen sich die hier mitzutheilenden That- sachen an diese so eng an, dass die Gültigkeit des allgemeinen Ge- setzes auch für die Oenotheren ohne Weiteres klar ist. Ueber die Erblichkeit solcher Abweichungen habe ich bei der Oenothera Lamarckiana nur wenige Fie. 106. Tilia parvifolia. Becherbildung directe Versuche angestellt. Diese aus Blättern. 4, B gewöhnliche Aseidien, beziehen sich auf Tricotylie und C ein schildförmiges Blatt („‚tlacher Becher‘*), bunte. Blätter undssollen weten von unten gesehen. ren Abschnitten besprochen werden. Dagegen habe ich ein ziemlich umfangreiches Material von Beobach- tungen gesammelt, welche ein Argument für diese Erblichkeit liefern. Sowohl auf dem ursprünglichen Fundort bei Hilversum, als in meinen verschiedenen Oultur-Familien haben sich eine Reihe von Abweichungen ı Ueber die Brblichkeit der Zwangsdrehumgen. Ber. d. d. bot. Gesellsch. 1889. Bd. VII. S. 291; Eine Methode, Zwangsdrehungen aufzusuchen, ibid. 1894. Bd. XII. S. 25; Ueber halbe Galton-Curven, ibid. 1894. Bd. XII. S. 197; Monographie der Zwangsdrehungen in PrınasH. Jahrb. f. wiss. Bot. Bd. XXIII. S. 14, und Overde erfelykheid van fasciatiön in Kruidk. Jaarboek Gent 1894. IV. Jaargang. S. 72. Die latente Erblichkeit anderer Eigenschaften bei ©. Lamarckiana. 339 im Laufe.der Jahre von Zeit zu Zeit wiederholt, die einen häufiger, die anderen seltener. Alle jedoch so, dass über ihre Erblichkeit kein Zweifel bestehen konnte.! Eine Ausnahme bildet in dieser Hinsicht nur die Vergrünung. Ich fand sie an den ÖOenotheren bei Hilversum nie, und in meinen Culturen nur einmal in einem einzigen Exemplare. Es war dies ein zweijähriger, blühender Zwerg im Sommer 1890, dessen Samenertrag dadurch nahezu völlig verloren ging. Ich halte diese Vergrünung für eine ansteckende Krankheit,” nach Analogie jener Fälle, wo Parasiten als Ursachen von Vergrünungen beobachtet worden sind. Die Monstrositäten unter- scheiden sich von den gewöhn- lichen individuellen Variationen oft dadurch, dass sie sich als einseitige Abweichungen vom Ty- pus der Art darstellen, während die letzteren um den Typus herum beiderseits schwanken. Es ent- stehen dadurch, wenn man die Gelegenheit hat eine gewisse An- zahl Abweichungen derselben Art Fig. 107. Oenothera Lamarckiana. Frucht : in der Achsel eines tief gespalienen, ver- zu untersuchen, die bekannten doppelten Blattes; die Blüthe, auf der diese halben GALToN - Curven.®” Poly- Frucht entstand, hatte die doppelte Anzahl mere Blüthen, 5 — 9 fächerige Kelch- und Kronenblätter und Staubfäden E : 5 wie eine normale Blume, und war im Quer- Früchte, die Spaltung der Narben, schnitt länglich, 2 ja sogar die Verbänderung folgen diesem Gesetze.* Aber weitaus die meisten monströsen Abweichungen sind zu selten, um ohne Züchtungsversuche in dieser Hinsicht das 1 Ueber die Erblichkeit von Mönstrositäten vergleiche man: Erfelyke Mon- strositeiten, Kruidkundig Jaarboek Dodonaea. 1897. S. 62; Over de erfelykheid van Synfisen, ibid. 1895. 8.129; Sur la periodieite des anomalies dans les plantes monstrueuses, Archiv. Neerl. d. Sc. exactes et nat. Serie II. T. III. S. 371; Ueber die Abhängigkeit der Fasciation vom Alter bei zweijährigen Pflanzen, Botan. Centralbl. Bd. 77. 1899; On Biastrepsis in its relation to eultivation, Annals of Botany. 1899. Vol. XIII. Nr. 51. S. 395; Sur la eulture des monstruosites, Comptes rendus de l’Acad. d. Se. Paris. Janv. 1899; Sur la culture des fasciations des esp£eces annuelles et bisannuelles; Revue generale de botanique. T. XI. 1899. S. 136; Ernährung und Zuchtwahl, Biolog. Centralblatt. Bd. XX. Nr. 6. 1900. 8. 193. ? Een epidemie van vergroeningen, Kruidkundig Jaarboek. Gent. T. VIII. 1896. S. 66. ® Berichte d. deutsch. Bot. Gesellsch. Bd. XII. 1894. S. 197—207, mit Taf. X. * Vergl. Sur les courbes galtoniennes des monstruosites. Bull. scientif. de la France et de la Belgique, publi& par A. Grarp. T. XXVII. p. 396. Avril 1896. 22* 340 Ueber die latente Fähigkeit zu mutiren. erforderliche Material zu geben. Ich werde eine Reihe von vereinzelten Beobachtungen in die Detailbeschreibungen einzuschalten haben, welche hoffentlieh zu weiteren Untersuchungen auf diesem Felde Anregung geben werden. In Prnxzı@’s vorzüglicher Teratologie (Bd. I, S. 481) nimmt die Gattung Oenothera überhaupt nur eine gute halbe Seite ein. Unsere O. Lamarckiana ist dort nicht erwähnt, von ihr sind also keine Monstrosi- täten beschrieben. Wichtig für unseren Zweck ist nur die Zusammen- stellung der Abnormalitäten von O. biennis. Diese Art hat eine auf- fallende Neigung zur Verbänderung, oft pentamere Blüthen und 5—9fächerige Früchte. Diese Angaben kann ich nach vielfachen eigenen Beobachtungen bestätigen; auch fand ich die Zahl der Narben in derselben Weise variirend wie bei der Lamarckiana. Ein sieben- gliederiges Pistill erwähnt ULos für O. campylocalyx (ibid.) und Synan- thien von Oenothera sind von MAsTEers namhaft gemacht worden (vergl. auch Fig. 107). Nun bilden Verbänderungen, penta- und polymere Blüthen, 5—9- fächerige Fruchtknoten und vermehrte Zahl der Narben für unseren Standort und meine davon abgeleiteten Culturen gerade auch den Hauptbestandtheil der auftretenden Monstrositäten. Mit Buntblätterig- keit und Tricotylie der Keimpflanzen, welche beide auch wohl bei den übrigen Oenotheren nicht fehlen, sind sie die gewöhnlichen Ab- weichungen, alle übrigen beobachtete ich im Verhältniss zu ihnen sehr selten. Ich werde deshalb die zu besprechenden Einzelfälle in zwei Gruppen eintheilen: die allgemeinen und die seltenen. Die seltenen Monstrositäten sind auf dem Hilversumer Fundort im Verhältniss zu anderen wildwachsenden Arten ziemlich stark ver- treten. Gerade dieses war eine der Ursachen des lebhaften Eindruckes, den die grosse Veränderlichkeit unserer Pflanze im Anfang auf mich machte. Ich war damals geneigt, diese Erscheinung für local zu halten, wie die eigentlichen Mutationen, habe aber keine Gelegenheit gehabt, vergleichende Untersuchungen darüber anzustellen. Vielleicht werden andere Beobachter in anderen Gegenden diese Lücke ausfüllen können. Hauptsache ist mir ja auch nur der Nachweis, dass ein hoher Grad von erblicher Veränderlichkeit auf dem Hilversumer Felde thatsäch- lich vorhanden war. Tricotylie.! Tricotyle Keimpflanzen kommen in meinen Cul- turen ziemlich häufig vor; hemitricotyle, d. h. solche mit einem ge- spaltenen Samenlappen, etwas seltener. Ich habe diese beiden Ab- ! Vergl. auch den zweiten Band. Die latente Erblichkeit anderer igenschaften um & Lamarckiana. 341 weichungen, im Gegensatz zu den übrigen, nur ae notirt, weil ich anfangs darauf kein Gewicht legte. Die folgende Uebersicht der notirten Fälle wird aber doch ihre Häufigkeit und ihr Vorkommen in den verschiedenen Familien beweisen. Ueber die Erblichkeit dieser Abweichungen habe ich drei Male einen Versuch gemacht durch Aussaat von Samen von tricotylen Pflanzen, und zwar in drei verschiedenen Familien, von O. nanella, O. laevifolia und ©. rubrinervis, aber nur in der letzteren Familie wurde der Versuch durch weitere Generationen fortgesetzt. In der folgenden Uebersicht heziehen sich die Jahreszahlen auf den Frühling der Aussaat, nicht etwa auf den Herbst der voran- gegangenen Ernte. In Samen, welche auf dem ner Fundorte gesammelt wurden, fand ich 1887 zwei Tricotylen, welche ich weiter cultivirte; der eine stellte sich später als eine O. lata heraus, reifte aber keine Samen. In der Lamarckiana-Familie (S. 157) hatte ich 1890 sowohl in der Hauptaussaat, wie aus den Samen der Unterfamilie Nanella je eine tricotyle Keimpflanze; die letztere blieb ein Zwerg. In der Laevifolia-Familie (S. 192) hatte ich 1890 zwei Tricotylen. Im Frühling 1892 säte ich den Samen des vorigen Herbstes im Ge- wächshaus meines Laboratoriums im grossem Maassstabe. Aus vielen Tausenden von Keimpflanzen suchte ich die Tricotylen heraus, ver- setzte diese in Töpfe und pflanzte sie Mitte Mai aus. Es waren 71 Tricotylen. Von diesen trugen 63 in demselben Jahre Samen, welche für jede Pflanze getrennt eingesammelt und ausgesät wurden. Aus dieser Aussaat (März 1893) zählte ich die Tricotylen auf je 100—200 Keimpflanzen. Im Ganzen zählte ich etwas über 13 000 Keimlinge und fand darunter im Mittel etwa 1 °/, Tricotylen. In den einzelnen Samenträgern wechselte der Gehalt meist zwischen 0 und 2°/,; nur fünf waren reichhaltiger und enthielten 2.5—2-7—3-.3—3-4 und 3-8°/, tricotyler Keimlinge. Ganz vereinzelte Hemitricotylen fanden sich bei dieser umfangreichen Durchmusterung vor, ebenso eine einzige syncotyle Pflanze. Von dieser Aussaat ist nichts aus- gepflanzt worden. Aus O. nanella hatte ich 1889 gleichzeitig mit dem Auftreten der ersten Nanella eine tricotyle Pflanze; ebenso 1892 aus den Samen der bereits gut fixirten Rasse drei Tricotylen, welche sämmtlich Zwerge blieben und von denen ich Samen erntete. Dieser Samen lieferte April 1893 auf S00 Keimlingen vier Tricotylen, also 0-5°/,. und daneben einen hemitricotylen. Die Tricotylen blieben in der 342 /eber die latemte Fähigkeit zu mutiren. weiteren Hulwickelune) oder Zwerge: das eo wurde nicht ausgepflanzt. In der Lata-Familie (S. 204) hatte ich in der Aussaat von 1890 eine tricotyle Pflanze. In der Rubrinervis-Familie (S. 192) hatte ich im Jahre 1890 einen Hemitricotylen, 1891 einen Tricotylen und 1892 bei umfangreicherer Aussaat zahlreiche Tricotylen. Aus diesen letzteren habe ich seitdem eine tricotyle Unterfamilie gegründet, welche ich jetzt noch fortsetze, deren Gehalt an Tricotylen sich vorläufig aber nur langsam steigern lässt. Im Jahre 1892 hatte ich neben 20 Tricotylen auch sechs Hemitrieotylen, welche ich aber nicht weiter cultivirte. Von den Tricotylen wurde der Samen von jeder Pflanze einzeln gesammelt und ausgesät; die besten unter ihnen lieferten 2-6—2-8°/, Tricotylen, die meisten weniger als 1-5°/,. Im Ganzen hatte ich auf 8000 Keim- lingen 0-7°/, Tricotylen; dazu 7 Hemitricotylen und 2 Syncotylen. Von den fünf Samenträgern, welche 1-5—2-8 °/, Tricotylen liefer- ten, wurden 1893 zusammen 70 Keimlinge ausgepflanzt. Ihre Ernte, in der oben angedeuteten Weise behandelt, lieferte 1894 aber einen geringeren Gehalt an Tricotylen, dieser war in den besten Samen- trägern auf etwa 1°/, zurückgegangen. Etwa 90 der besten Säm- linge pflanzte ich aus, um von ihnen wiederum in derselben Weise Samen zu ernten. Unter der 1894er Aussaat fand ich neben den erwähnten Tricotylen mehrere Hemitricotylen und einen einzigen Tetracotylen. Ferner eine nicht unbedeutende Anzahl von Syncotylen und eine mit beiderseits verwachsenen Samenlappen oder Amphi- syncotyle. Aus dieser Uebersicht geht hervor, dass die Tricotylie erblich ist und dass sie in meinen verschiedenen Familien auch von den Pflanzen mit normalen Cotylen, also latent, aus der einen Generation in die andere übertragen wurde. Verbänderung. Gespaltene und verbänderte Stengel ha die Oenothera Lamarckiana fast jährlich hervor.! Und zwar liest die Ab- normalität fast immer in der Achse der Inflorescenz, sehr selten tiefer im Stengel oder sogar schon in der Rosette. Mit unerheblichen Aus- nahmen traten in jeder meiner Culturfamilien solche Individuen auf, obgleich sie soviel wie möglich nie als Samenträger gewählt wurden. Gespaltene Stengel sind die schwächste Form der Ausbildung der Verbänderung, dementsprechend sind sie am häufigsten. Ich ! Over de erfelykheid van fasciatiön, in Botanisch Jaarboek Dodonaea. VI. 1894. S. 92 und 95. € Die latente Erblichkeit anderer Eigenschaften bei ©. Lamarckiana. 343 habe in den ersten Jahren meiner Beobachtungen im Freien die Art der Verbänderung regelmässig notir. Es waren 20 Fälle. Unter diesen waren 14 gespaltene Stengel (von denen einer zwei Mal ge- spalten war); fünf bildeten schmale Bänder und nur einer war ein auffallend verbreiterter Stammgipfel. Diese Zahlen zeigen jedenfalls klar, dass auch hier eine halbe GALTon-Curve vorliegt. Verbänderungen fand ich zuerst auf dem Hilversumer Fundorte 1556 an einer blühenden Pflanze und gleichzeitig an einem ver- trockneten Exemplare des vorigen Jahres (1885). Ferner fand ich solche 1887, 1888, 1889, 1892, 1393, zusammen 15 Exemplare, welche stets an einer und derselben Ecke des Feldes gefunden wurden. 1594 waren die Verbänderungen viel häufiger und über das ganze Feld zerstreut; ich beobachtete selbst sechs Fälle, während von Anderen noch weitere Beispiele notirt wurden. Im Jahre 1888 hatte ich aus einem Samen von 1886, der 1887 eine tricotyle Keimpflanze geliefert hatte, in meinem damaligen Garten in Hilversum eine Pflanze, deren Stamm sich zwei Mal hinter einander spaltete, und gleichzeitig da- selbst eine Verbänderung in der Inflorescenz eines dreijährigen, als Rosette anfangs 1857 in den Garten gepflanzten Individuums. Im Jahre 1894 fand ich ein Exemplar der O. brevistylis mit einer schmalen Verbänderung, und wurde mir auch ein solcher Fall von der O. laevifolia gebracht. In meinen Öultur-Familien traten folgende Fälle auf. In der Lamarckiana-Familie (S. 157) hatte ich drei Verbänderungen und zwar 1888 und 1890 jedesmal an einem einjährigen Zwerge; keinen von beiden liess ich Samen tragen. Im Jahre 13889 gab es in dieser Familie auch eine zweijährige blühende O. lata, welche zwei gespaltene Seitenzweige trug. In der Lata-Familie selbst (S. 202) trat die Ver- bänderung gleichfalls auf, aber erst in der dritten Generation im Jahre 1394, in welcher drei von den sechszehn Individuen schon ganz jung ihre Rosetten spalteten und somit je zwei gleich kräftige und gleich hohe blühende Stengel emportrieben. Hier und dort wieder- holte sieh an diesen die Verbänderung. Bei meinen späteren Öulturen (1895—1900) hat sich allmählich eine Vorliebe der Verbänderungen für zwei bestimmte Lebensperioden gezeigt. Erstens für die Keimpflanzen. In diesen spaltet sich nicht allzu selten die Achse, meist oberhalb der Cotylen oder oberhalb der ersten Blätter. Es entstehen dann zwei Rosetten, deren Blätter durch einander wachsen, indem die Achsen dicht an einander angeschmiegt sind. In der Fig. 108 habe ich sie etwas aus einander gebogen und die Blätter der beiden Gruppen möglichst getrennt, bevor ich sie 44 Ueber die latente Fähigkeit zu mutiren. photographirte, und zwar nur, um das Bild deutlicher zu machen. Wächst eine solche Pflanze weiter heran, so pflegt sie zwei gleich starke Stengel zu tragen, welche meist auch dieselbe Höhe erreichen und zu gleicher Zeit zu blühen anfangen. Ich habe solche Individuen nur dann künstlich befruchtet, wenn solches, behufs Beurtheilung des Samens, mit allen Individuen eines Beetes zu geschehen hatte. Sonst habe ich sie selbstverständlich vermieden, gerade wegen der Erblich- keit und der Aussicht, die Anzahl solcher Exemplare in den Culturen in hinderlicher Weise zu vermehren. Verdoppelte Rosetten wie die abgebildete sind seit dem ersten Anfang meiner Öultur fast alljährlich und oft in grösserer Anzahl aufgetreten. Ich fand sie am meisten bei der ©. Lamarckiana, aber auch bei O. lata, O. na- nella, ©. hirtella u. Ss. w. Die zweite, beson- ders zu Verbänderungen geneigte Lebensperiode ist der Herbst. Lässt man die Hauptstengel bis zu dieser Zeit blühen, so verbreitern sie ihre Gipfel sehr oft. Aber die meisten Pflanzen in meinen Culturen blühen um diese Zeit nicht Fig. 108. Oenothera Lamarckiana. Eine verdoppelte mehr. Die überflüssigen Rosette von Wurzelblättern im Anfang des Juli. Die % 5 Cotylen sind noch anwesend. oder abgezählten sind ausgerodet, die Samen- träger sind entgipfelt, die frei befruchteten meist so stark mit Früchten beladen, dass sie selbst ihre Inflorescenz abschliessen. Diesen gegen- über verhält sich die O. brevistylis besonders günstig, da sie fast keine Früchte und Samen macht, und daran auch nach dem Verblühen leicht kenntlich ist. Ich habe von ihr mehrfach die ganzen Beete bis in den November hinein blühen lassen. Es fingen dann theils im September, theils im October, die Gipfel an sich zu verbreitern, und zwar rasch, derart, dass sie in wenigen Wochen eine Kammesbreite von 1—2 cm erreichten. Die fächerförmigen Gipfeltheile waren dann oft nicht länger als breit, und dabei sehr zahlreich. Ich hatte z. B. 1595 auf einem Beete unter 49 blühenden Pflanzen von O. brevistylis 20 fascüirte, also etwa 40 °/,; und in einer anderen Öultur derselben Art 63 verbänderte und 11 nicht verbreiterte Exemplare, somit etwa 73°/,. Die Ironie Zaren, anderer nen bei O. "Lamarckiana. = Beach neue und ar Arten sind Eerch an erben So waren solche z. B. im October 1899 äusserst zahlreich an O. hir- tella und einigen ihrer Bastarde; so hatten O. lata und O. albida deren viele im Jahre 1897, O. nanella ebenso 1895. O. muricata erreichte in einer Cultur von 1896 80°/, verbänderte Individuen, O. muricata x ennis 30 °/, (1896) und 25°/, (1898) u. s. w. Nach allen diesen und zahlreichen, kaum der Erwähnung werthen vereinzelten Beobachtungen in meinen Culturen und im Freien scheint es mir völlig sicher, dass die Fähigkeit, sich unter geeigneten Be- dingungen zu verbändern, in der Gattung Oenothera, oder doch in der Gruppe der Biennis-Arten (Untergattung Onagra) im latenten Zustande erblich ist. Buntblätterigkeit. Nur wenige Male fand ich Exemplare mit gelbgeränderten Blättern (zuerst 1887), sonst waren die bunten Blätter in der gewöhnlichen Weise gescheckt. Solche fand ich in Hilversum 1857 und 1893, jedesmal in zwei Exemplaren; von den ersteren säte ich den Samen aus und hatte 1888 unter vielen grünen wiederum einige bunte Keimlinge.e Samen aus Hilversum, 1858 gesammelt, gaben eine bunte einjährige Pflanze. In meinen Culturen trat Buntblätterigkeit gleichfalls von Zeit zu Zeit auf. So in der Zata-Familie 1888, 1890 und 1899; in der Laevi- folia-Familie 1389 in sechs Exemplaren, ferner 1891, 1894 und 1899. In der Rubrinervis-Familie 1893 und 1894, bei ©. nanella 1899 und unter den Seintillans 189. Die Lamarckiana-Familie lieferte 13588 und 1890 jedesmal zwei bunte; von den ersteren war einer einjährig und trug Samen, aus denen ich im nächsten Jahre, 1559, eine ziemliche Anzahl schöner bunter Rosetten hatte. In der Rubrinervis- Familie trat bisweilen der Fall völlig gelber Keimlinge auf. Solche Keimlinge enthalten anscheinend kein Chloro- phyll und sterben demzufolge nothwendig nach der Entfaltung der Keimblätter ab. Es lohnt sich, hier auf diesen Fall etwas näher einzugehen. Unter den tricotylen Rubrinervis-Pflanzen, deren Samen 1592 für jede Pflanze einzeln eingesammelt war, gab es mehrere, welche einzelne gelbe Keimlinge hervorbrachten. Eine einzige Mutter- pflanze aber war daran besonders reich. Sie lieferte 498 Keimlinge, von denen 95 rein gelb waren, und drei buntcotylig. Die übrigen waren rein grün; ihre Cotylen wuchsen kräftig heran, während die gelben klein blieben. Der Gehalt an gelben und bunten Exemplaren war somit 20°/,.. Die bunten und gelben Keimlinge gingen bald ein; von den grünen cultivirte ich 64 Exemplare weiter, einige bis zur 946 Ueber die latente Fähigkeit zu mutiren. Fruchtreife, aber unter ihnen kam die Buntblätterigkeit nicht wieder. Da mit Ausnahme von zu besonderen Versuchen angestellten Aussaaten die bunten Pflanzen nie als Samenträger gewählt und meist vor der Blüthe entfernt wurden, so ergiebt sich aus diesen Beobach- tungen, dass diese Abweichung nicht nur erblich ist, sondern sich in den verschiedenen Familien durch eine Reihe von Generationen latent -erhält. Buntblätterige Exemplare traten ausser bei O. Lamarckiana selbst, von Zeit zu Zeit, wie erwähnt, in anderen Culturen auf. Dasselbe war in meinen Kreuzungsversuchen mehrfach der Fall, sowohl bei Kreuzungen zwischen O. Lamarckiana und ihren Unterarten, als zwischen ersterer und anderen älteren Species. Es würde zu weit führen, die einzelnen Beobachtungen namhaft zu machen. Polymerie der Blüthen ist in Hilversum, so lange ich den Standort kenne, keineswegs selten. Wenn man einige Hunderte von Blumen genau betrachtet, so findet man immer wohl eine polymere. Auch in meinen Culturen war dies der Fall. Ich habe in den ersten Culturjahren gelegentlich etwa dreissig polymere Blumen theils im Freien, theils in der Laevifolia-Familie notirt. Diese Fälle stelle ich hier zusammen mit dem Jahre und dem Orte bezw. der Familie, in der sie beobachtet wurden. Die Zahl der Narben (N) ist besonders angegeben, die Fächer des Fruchtknotens (O) sind in einigen Fällen nicht notirt worden. Anzahl Formel Jahr Fundort 1 K,C,S;N;,0, 1887 Hilversum. 1 R,C,SN:0% ; n 1 IKRCS5 1894 laevifolia. 1 K,C,S,0N 504 1888 Hilversum. 1 R,C,SıoNs 1887 laevifolia. 1 K,C,1,S;N,0,; Hilversum. 1 R;0,27,810Ns05 „ ” 1 K,0;S8;N;,0; „ „ 1 R;0,5.0N40; » ” 3. K,C;S10N505 „ „ 1 K,C,;S, N;0; 1888 Aus Hilvers. Samen. 2 REES 1886, 1887 Hilversum. 1 K,C,S,o 1890 laevifolia. 4 K,C,S,,Ns0; 1887 Hilversum. 1 R,0,S,,N50; 1894 laevifolia. 4 R,C,;S,,N70; 1887 Hilversum. 1 RC 3.510 Ns 05 „ „ Die latente Br blichkeit: anderer Eigenschaften bei 0. Lamarckiana. 347 Se Formel J ah en 1 K,C;S,ıN;0; 1887 Hilversum. R;055,3N50; K,C;S1:N50; K;C, SıuN;, 07 ” „ K,C,S.4N,.ı 1890 laevifolia. ” 5 ” ” ” HHrHr| Aus obiger, wenn auch unvollständigen Uebersicht ergiebt sich, dass diese Abweichungen nach dem Gesetze der halben GALToNn-Curven stattfinden. Erstens habe ich nie weniger als vier Kelch- oder Kronen- blätter bezw. Fächer im Ovarium beobachtet, und auch nie_ weniger Staubgefässe als acht. Die Variation ist rein einseitig, und ist so durch die neun Jahre der oben mitgetheilten Beobachtungen und später bis auf den heutigen Tag geblieben. Dreizählige Blüthen würden auch bei dem oberflächlichsten Besuche aufgefallen sein, solche sind sicher- lich nicht vorhanden gewesen. Die halben GALToN-Üurven ergeben sich, wenn man die Zahl der Fälle für Kelch, Krone u. s. w. einzeln zusammenstellt. Für den Kelch: 21ER, 4K, 2, ' Summa 27 Blüthen. "Für die Krone: 23:6, 3 GC, 3.6, Summa 29 Blüthen. Für den Fruchtknoten: 18 O, 320; 12.0: Summa 22 Blüthen. Fünffächerige Früchte habe ich auch sonst vielfach beobachtet, sowohl in Hilversum als bei den Samenernten meiner Öulturen. Namentlich bei ©. Lamarckiana und O. laevifolia, aber auch bei den anderen Arten fand ich sie häufig... Sechs- und siebenfächerige Früchte fand ich nur selten, achtfächerige bis jetzt keine. Für die Staubgefässe stellte sich in obiger Tabelle die Curve etwas anders heraus: ZESs 21.8;) OS 2 Sıa 2 Sa Summa 28 Blüthen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Staubgefässe vorzugsweise in geraden Zahlen auftreten, und wenn man die ungeraden weglässt, wie wir oben auch gespaltene Blumenblätter weggelassen haben, so erhält man die reine halbe GALTon-Ourve: 21 Sy — 2 I; — 2 Su 1! Bei O. biennis fand ich, obgleich sehr selten, bisweilen dreizählige und sogar zweizählige Blüthen. Ebenso in meinen Bastardeulturen. Vergl. auch A. Weisse, über O. biennis (K,C,SG,) in Verhandl. Brandenb. Jahrg. 39. 1897. p» XCIV mit Figur. 348 Dee die latente & Fähigkeit zu muliren. Genau so ) Sonleil; es sich ae een Non, en ae 6 N, ZEN, DEN: DEN, Summa 19 Blüthen in derselben Weise zu reduciren sein würde. Eine vermehrte Zahl der Narben, bezw. deren Spaltung tritt aber auch an den vierzähligen Blumen so zahlreich auf, dass die obigen Fälle diesen gegenüber gar nicht mehr in’s Gewicht fallen. Blumen mit 5— 8 Narben sind häufig; oft haben sogar alle oder doch die meisten Blumen auf einer Pflanze diese hohen Zahlen; Blumen mit 9, 10 und 11 Narben fand ich nur selten. Auch für die Narben gilt somit das Gesetz der halben (GALTON-Curven. Die Fähigkeit, die Blüthenkreise zu polymerisiren, ist somit offenbar bei der Oenothera Lamarckiana während der ganzen Zeit meiner Untersuchungen, und in den ver- schiedenen Familien, latent vor- handen gewesen. Seltenere partielle Mu- tationen an vegetativen Theilen. Zweigipflige Blätter mit ge- Fig. 109. Oenothera Lamarckiana. Becher- spaltenen Hauptnerven fand ich bildung an einer fasciirter Pflanze, 1892. in den Jahren 1887 und 1888 Der Becher ist in der Nähe des unterer auf dem Hilversumer Felde, 1887 Blattes eingepflauzt, aber über die Hälfte . : seines Stieles dem Stengel angewachsen. AN Eimer tricotylen O. lata und 1592 an einer tricotylen ©. laewi- folia, und später wiederholt in den verschiedensten Culturen. Becherbildung fand ich im Ganzen zehn Mal und zwar 1887 und 1592 auf dem Hilversumer Felde, 1389 und später in meinen Culturen. Die beiden ersteren Becher befanden sich auf verbänderten Stengeln (Fig. 109), die dritte an einer O. lata, zwei auf O. laevifolia (1891, 1595), zwei auf O. albida (1898), zwei auf O. Lamarckiana (1891, 1895), eine auf ©. nanella (1897). In diesen Fällen nahmen die Becher zu- meist die Stelle eines Blattes, etwa in der Mitte des blühenden Stengels, also unterhalb der Inflorescenz ein, doch schien der Ort der Ein- pflanzung am Stengel dabei mehr oder weniger in verticaler Rich- tung verschoben. Die Becher waren klein, 1—3 cm lang, die Rücken- seite etwa drei Mal so lang wie die Bauchseite. Sie sassen auf (etwa 3 cm) langen, dünnen Stielen. In anderen Fällen wurde Becherbildung unter den ersten Blättern junger Keimpflanzen beobachtet. Auch O. biennis bildete bisweilen Die latente Erblichkeit anderer Eigenschaften bei ©. Lamarckiana. 349 Ascidien (1395), ebenso ©. Lamarckiana X biennis (1396) und O. La- marckiana x suaveolens (1897). An O. hirtella fand ich im Jahre 1897 in einer ziemlich kleinen Cultur fünf Ascidien, welche den Gipfel der Stengel abschlossen und somit das Blühen am Hauptspross verhinderten. Trotz der Seltenheit der Ascidien spricht das wiederholte und in den einzelnen Familien sehr zerstreute Vorkommen den- noch deutlich für latente ‘ Erblichkeit. ! Verwachsung zweier am Stengel auf einander folgender Blätter fand ich ebenfalls bisweilen, wenn auch selten, zuerst 1887. Synanthien in den Achseln verwachsener oder doch Fig. 110 Oenothera rubrinervis. Eine Blüthe mit einander zu sehr genäher- zwei Hochblättern, das untere grösste auf dem Frucht- 1 . stiel, das obere am Fruchtknoten. Das Traeblatt, ter Blätter kommen bis- ;n dessen Achsel die Blüthe stand, ist nicht gezeichnet. weilen vor, oft pracht- | volle, wie gefüllt aussehende Blumen bildend. Ebenso Verwachsung eines Blattes mit dem Stengel selbst, eine Strecke aufwärts. Durch das angewachsene Blatt an seiner Streckung gehindert, krümmte sich hier der Stengel in auffallender Weise. Eine Adnation eines Achselsprosses an den Stengel be- obachtete ich 1899. Seltenere partielle Variationen an den Blüthen. Einen beblätterten, gestielten Fruchtknoten |, ER z e . { | Fig. 111. Oenother« fand ich einmal und zwar 1893 in der tricotylen Lamarckiana. Zwei Cultur aus der O. rubrinervis-Familie (Fig. 110). Früchte in einer Blatt- ! : achsel. Die untere, Der Stiel war 5mm lang und trug das eine Blatt (@), zussereistdie jüngere. dessen Medianebene mit der des Tragblattes, in dessen Achsel die Blüthe stand, zusammenfiel. Dieses Blatt, auf der vom Stengel abgekehrten Seite eingepflanzt, war 7 cm lang und 1-5cm breit. Das zweite Blatt war etwa in der Mitte der Länge des ! Over de erfelylsheid van Synfisen, Kruidkundig Jaarboek Dodonaea. T. VII. S. 129, für Oenothera S. 165. 350 Ueber die latente Fähigkeit zu muliren. ee I der etwas concaven, dem Stengel zugekehrten Seite eingepflanzt und. ganz klein ()) nur 2cm lang und 4mm breit.! Tragblatt und Blüthe waren sonst normal. Weniger selten kommt es vor, dass ein Blatt in seiner Achsel zwei Blüthen bezw. Früchte trägt, von denen die eine obere meist grössere die normale ist, während die untere meist kleinere und später blühende als aus einer serialen Achselknospe entsprungen zu erklären ist (Fig. 111). Ob diese überzählige Blüthe als Achselproduct eines in seiner Stellung dem oben beschriebenen überzähligen Blatte ent- sprechenden, nicht entwickelten Blattes zu betrachten ist, muss einst- weilen dahingestellt bleiben. ? Diesen Fall von serialen Achselblüthen beobachtete sch sowohl auf dem Hilversumer Felde (1887), als in meinen Culturen, sowohl bei 0. Lamarckiana als bei O. laevifolia und einigen anderen neuen Arten und Kreuzungsproducten. Bei letzteren 'na- mentlich mehrfach im Jahre 1900. Die freien Zipfel des Kelches sind bisweilen blattartig ausgebreitet und grün, statt walzlich. Ich notirte dieses \ in meinen ÜÖulturen 1889, 1894 und später. Andererseits sind die Kelch- zipfel bisweilen am einen Rande blumen- \ blattartig ausgebildet(1889). Die Blumen- Fig. 112. Oenothera Lamarckiana. hlätter tragen bisweilen auf ihrer Mittel- Knospen in den Gabelungen ge- .. . * een (Oman linie der Länge nach hervortretende Auswüchse (1887). Nicht gerade selten sind Fälle, in denen überzählige Blumenblätter derart ausgebildet sind, dass eine Längshälfte eines Staubgefässes der Länge nach mit einer Längshälfte eines Blumenblattes verwachsen scheint. Ich fand dieses 1886 und 1887 in Hilversum, und nachher in meinen Culturen. Meist ist nur ein einziges derartiges Organ in einer Blüthe vorhanden, bis- weilen mehr, einmal sogar vier (1394). Auch petalodisch verbreiterte Staubgefässe fehlen nicht, sowohl mit blumenblattartiger Verbreiterung der Anthere als des Filamentes (1887,1888 und später in den Culturen). Dagegen ist der Fall, dass zwei Filamente der Länge nach verwachsen, ! Es ist vielleieht nieht überflüssig daran zu erinnern, dass Oenothera keine Vorblätter hat (EicHLer, Blüthendiagramme. II. 458); und dass normale Vorblätter nicht median, sondern seitlich von der Mediane stehen. ? Russenı, Recherches sur les bourgeons multiple. Annales des Sc. nat. 2. Serie. I. VAT. Die latente Erblichkeit anderer ebalien bei O. Kuna ckiangı 35l oder. dass ein F ilament der a nach an Er Griffel een ist, ziemlich selten. Ersteres beobachtete ich 1887, letzteres 1894. Wie sich aus dieser Uebersicht ergiebt, sind namentlich die ge- wöhnlichen Blüthenmissbildungen auch hier vertreten. Ich erwähne sie nur kurz und habe auch bei meinen Beobachtungen kein grosses Gewicht darauf gelegt, sonst hätte ich die Liste leicht bedeutend vergrössern können. Als letztes Beispiel sich von Zeit zu Zeit wirderholander Ano- malien nenne ich das Vorkommen von Knospen auf den Cotylen. Die jungen Pflänzchen keimen bisweilen mit drei Keimblättern (S. 340), bisweilen mit zwei, von denen eins mehr oder weniger tief gespalten ist. Im letzteren Falle kommt es vor, dass sich in der Gabe- lung eine kleine Knospe bildet, was nament- lich auffällt, wenn der ungespaltene Theil des Keimblattes ziemlich gross ist. Auf diese Erscheinung bin ich erst im Jahre 1597 aufmerksam geworden; ich habe sie seitdem in etwa ein Dutzend Exemplaren beobachtet (Fig. 112). Bisweilen gelang es mir, solche Pflänzchen weiter zu cultiviren und die adventiven Knospen zur Entwicke- lung zu bringen; sie verhielten sich dann als gewöhnliche Rosetten, und es war bis- Fig. 113. weilen schwer, sie von durch Fasciation ver- Ocnotkera Lamarckiana. doppelten Rosetten (Fig. 108) zu unterschei- Knospe in der Gabelung eines { : Se espaltenen Keimblattes. Die den, ohne die betreffenden Theile völlig bloss Kae ist zu einer kräftigen zu legen. Nebenrosette herangewachsen ; : R 6 : ihre Basis demzufolge stark Unsere Fig. 113 zeigt eine solche ad- ne rollen ventive Rosette im Juli, also etwa drei Mo- nate nach der Aussaat (1900). Das Keimblatt war tief gespalten, ist aber noch erhalten. Der Grund der Rosette und ihre Verbin- dung mit dem Keimblatt sind stark angeschwollen; sie erscheint da- durch der Hauptgruppe von Blättern dieht genähert, ist aber von dieser noch scharf getrennt. Auch diese latente Fähigkeit, Adventiv-Knospen hervorzubringen, scheint in meinen Culturen weit verbreitet zu sein. Es geht aus den mitgetheilten Thatsachen meiner Ansicht nach klar hervor, dass die Anlagen zu einer Reihe von Anomalien in meinen Denotheren im latenten Zustande vererbt werden. 352 Ueber die latente Fähigkeit zu mutiren. S$S 31. Die Hypothese der Prämutationsperiode. Die in diesem ganzen Abschnitt beschriebenen Mutationen von Oenothera Lamarckiana bilden eine so eng in sich geschlossene Gruppe von Erscheinungen, dass die Frage nach ihrem vermuthlichen Anfang und nach dessen Ursache nicht von der Hand zu weisen ist. Aber es scheint mir völlig klar, dass ich von jenen Mutationen weder diesen Anfang, noch auch das Ende beobachtet habe. Ich habe offenbar nur einen Theil der ganzen Mutationsperiode verfolgen können. Wollen wir versuchen, uns über den Anfang eine Vorstellung zu machen, so verlassen wir also das Gebiet der Beobachtungen und begeben uns auf dasjenige der Hypothesen. Und wenn es sich nur um die Aufstellung theoretischer Vorstellungen handelte, so würde ich solches gewiss an dieser Stelle unterlassen. Aber es fragt sich, ob Arbeitshypothesen zu finden sind, um hoffentlich einmal auch diesen Anfang in das Bereich experimenteller Untersuchung herein zu ziehen. Um das Auffinden solcher Arbeitshypothesen zu ermöglichen, ist aus den Thatsachen so viel wie thunlich abzuleiten, was man zu finden erwarten darf, was man also zu suchen hat. Nach den Auseinandersetzungen der beiden vorigen Paragraphen beruht eine Mutation nicht auf der jedesmaligen neuen Entstehung einer Eigenschaft, sondern auf dem Sichtbarwerden bereits latent vor- handener. Während der ganzen Mutationsperiode ist in anscheinend allen Individuen die Fähigkeit latent anwesend, Zwerge hervorzu- bringen. Ebenso die, um ZLata-Exemplare entstehen zu lassen, u.s. w. Auf der anderen Seite fehlte während der ganzen Dauer meiner Ver- suche das Vermögen, um durch Mutation O. brevistylis oder O. laevi- folia zum Erscheinen zu bringen. Ebenso entstanden allerhand andere möglichen oder doch wenigstens denkbaren Abweichungen nicht. Wir folgern also, dass, was latent vorhanden ist, während der Mutationsperiode an’s Licht treten kann, nicht aber, was nicht bereits im latenten Zustande da war. Die Oenothera Lamarckiana erscheint für uns also als beladen mit einer gewissen Anzahl von latenten Eigenschaften; sie kann diese von Zeit zu Zeit abspalten, wenn man es so ausdrücken darf. Ebenso kann sie vielleicht auch von Zeit zu Zeit Exemplare „abspalten“, denen eine oder einige solcher latenten Anlagen fehlen, und welche also in Bezug auf diese aus der Mutationsperiode heraustreten. Ueber- leben dann schliesslich nur solche Individuen, so kann dieses das Ende der ganzen Periode herbeiführen. Die Hypothese 2 er RUN vode. 359 Wann und wie sind die latenten hen ner Offenbar bildete ihre Entstehung den Anfang der Mutationsperiode. Ich werde sie deshalb, um einen kurzen Ausdruck zu haben, Prä- mutation nennen. Diese Prämutation, oder die erste Entstehung der Anlagen zu den späteren Mutationen, ist somit zweifelsohne ein Vorgang, der sich völlig im latenten Zustande abspielt. Sie kann von Mutationen begleitet sein, braucht das aber gar nicht. Freilich wird sie uns erst durch solche kenntlich, aber sie kann ganz gut völlig fertig da sein, bevor wir davon auch nur die Spur bemerken. Man kann annehmen, dass die sämmtlichen Anlagen, welche in einer Mutationsperiode zur Schau treten, nach und nach entstehen, oder dass solches mit einem Male stattfindet. Es wäre möglich, dass die ganze Gruppe von neuen Anlagen im Leben eines einzigen Indi- viduums ausgebildet würde, vielleicht gar in der kurzen Zeit seines sexuellen Lebens. Es wäre aber auch möglich, dass mehrere Indi- viduen oder Generationen dazu erforderlich wären. Die älteren Pflanzenzüchter meinten, dass es nögliehl wäre, eine Pflanze in ihrem inneren Wesen derart zu erschüttern, dass sie ver- änderlich, mutabel, würde. Louıs VILMOoRIN, der für diese Operation den französischen Ausdruck affoler benutzt,! schlug Folgendes vor: Man suche in einer Aussaat die am stärksten, in beliebigen Rich- tungen abweichenden Individuen aus, unabhängig von der Frage, ob die Richtung gerade eine für die Oultur gewünschte sei. Nur von ihnen säe man die Samen, und in der Aussaat suche man nun nicht, wie bei der Selection, die in derselben Richtung abweichenden Exemplare, sondern solche, die in ganz anderen Beziehungen ab- normal sind. Diese Art der Auswahl wiederhole man durch eine Reihe von Generationen, und es ist zu erwarten, sagt VILMORIN, dass dadurch die Veränderlichkeit sich allmählich steigere, bis sie schliess- lich so gross werde, dass sie jede gewünschte neue Eigenschaft hervor- bringe. Es scheint nicht, dass VıLmorn solche Versuche wirklich aus- geführt, noch weniger, dass er davon den erwarteten Erfolg ge- sehen habe. Dennoch verdient seine Vorschrift Beachtung; sie enthält viel- leicht einen Kern von Wahrheit. Und jedenfalls wird die Methode zur Aufdeckung etwa vorhandener Mutationsanlagen führen. Die Ursachen einer Prämutation müssen theils innere, theils ! Lovıs Vırmorın, Notice sur !’amelhoration des plantes par le semis. Nouv. Edition. 1886. p. 36. DE VRIEs, Mutation. I. 23 354 Ueber die latente Ze zu muliren. äussere sein. a en Pe nd zn von aan En, wann es entsteht, vorwiegend von den letzteren abhängen. Die äusseren Ursachen müssen andere sein, als die gewöhnlichen Lebensbedingungen, unter denen die Arten constant bleiben. Anderer- seits müssen sie solche sein, als von Zeit zu Zeit, und wohl nicht all zu selten, in der freien Natur eintreten können. Ich denke mir diese Ursachen als eine Combination extrem günstiger mit extrem ungünstigen Einflüssen. Dieser scheinbare Widerspruch würde dann die Seltenheit des Auftretens erklären. . Man würde also experimentell die Verbindung dieser beiden Ex- treme zu versuchen haben. Ich halte solches gar nicht für unmöglich. Man wähle z. B. sehr schwache Knospen und deren Triebe, oder sehr schwache Blüthen und ernähre diese möglichst kräftig. Aehnlich wie die Wassersprosse, diese äusserst starken Sprosse aus kleinen ruhenden Knospen, oft sonst latente Merkmale zur Schau bringen (wie die bekannten Zwischenformen zwischen Blättern und Dornen bei der gewöhnlichen Berberitze), so könnten sie auch vielleicht in Bezug auf die Mutabilität sich besonders verhalten. Eine sehr starke Vermeh- rung wird allgemein als eine wirksame Veranlassung zur Mutabilität betrachtet; sie beruht aber darauf, dass auch solche Samen, welche sonst bei oder bald nach der Keimung zu Grunde gehen würden, die erforderlichen Bedingungen zu kräftigem Wachsthum finden. Die betreffenden Samen aber waren durch ungünstige Umstände schwach ausgebildet und der oben genannte Gegensatz trifft also auch hier ein. Versuchsweise würde man also seine Samen auf kleinen, späten Seitenzweiglein hoher Ordnung zu sammeln und diese mit aller Sorg- falt auszusäen haben.! Nehmen wir an, dass eine Prämutationsperiode wirklich herbei- geführt oder aufgefunden wäre. Was liesse sich dann erwarten? Mit anderen Worten, wir stellen uns vor, dass in einer Pflanze oder in einer Gruppe von Pflanzen die Anlagen zu einer ganzen Reihe von Mutationen entstanden wären. Wird es jede Anlage thatsächlich zu einer Mutation, und durch diese zu einer (guten oder unfähigen) neuen Art bringen? Offenbar wird dabei der Zufall sehr wesentlich mit- spielen. Die latenten Anlagen legen natürlich im Kampf um’s Dasein, auch in dem alltäglichen, kein Gewicht in die Schale, sie hängen ganz von ihren Trägern ab. Mit diesen vermehren sie sich oder gehen sie ! Solche Versuche sind offenbar durch eine Reihe von Jahren fortzusetzen; die grösste Schwierigkeit bildet dabei die Wahl geeigneter Pflanzen. Ich be- absichtige sie anzufangen, sobald die vorliegende Untersuchung abgeschlossen ist. Die Hypothese der Prämutationsperiode. 355 zu Grunde. Aber eine Oenothera-Frucht kann 100—200 Samen geben und eine kräftige Pflanze trägt Hunderte von Früchten. Auch bei sehr bedeutender Vermehrung können somit nicht alle Samen zu blühenden Pflanzen werden. Welchen dieses gelingt, hängt zum grossen Theile vom Zufall ab, damit aber auch, welche Mutationsanlagen fortbestehen und welche zu Grunde gehen werden. Ich folgere hieraus, dass die Anzahl der thatsächlich beobachteten verschiedenen Mutationen kein Maass ist für die Anzahl der vermuth- lich bei der Prämutation entstandenen. Der Mutationsperiode von Oenothera Lamarckiana völlig analog hat man sich die Entstehung von Gruppen eng verwandter Arten auch in anderen Gattungen und Familien zu denken. Einerseits die langen Reihen von elementaren Arten, deren Kenntniss wir den Ver- suchen JorDAn’s und seiner Schüler verdanken, andererseits die be- rühmten Nebelflecke der älteren Systematiker, wie Frızs, NÄgEur u. A. So liegt z. B. für Draba verna auf der Hand anzunehmen, dass ihre zahlreichen elementaren Arten in einer einzigen Periode an einem kleinen Fundorte entstanden sind und sich von dort aus über ganz Europa verbreitet haben, die eine hierhin, die andere dorthin.! Ebenso für Viola tricolor, Helianthemum vulgare u. s. w. Die ganze Erscheinungs- weise der jetzigen Draba verna deutet auf eine ähnliche Mutations- periode mit denselben Gesetzen als wie bei Oenothera Lamarckiana hin. Die Gattungen Rosa, Rubus, Hieracium, Salix und einige andere artenreiche Typen bildeten für die älteren Systematiker Nebelflecke, in denen die klare Trennung der Arten fehlte. Ohne Cultur kann man hier die Arten nur vorläufig kennen lernen, und die Cultur, welche durch wenigstens einige Generationen fortzusetzen wäre, ist hier offenbar keine leichte Aufgabe. Doch ist der Formenreichthum (sofern Bastarde ausgeschlossen sind) derjenigen der Draba verna und der Oenothera Lamarckiana durchaus ähnlich, und deutet somit ganz gewiss auf eine frühere Mutationsperiode hin. Am allerdeutlichsten aber ist die Nothwendigkeit der Annahme einer solchen Periode für die Gruppe der Oenothera biennis (der Unter- gattung Onagra), welche durchaus der Lamarckiana-Gruppe analog ist (vergl. S. 315). Zum Schlusse sind einige Worte der Frage zu widmen, wann in unserem speciellen Fall der Hilversumer Oenothera Lamarckiana ! Es sollten in jedem botanischen Garten einige Arten von Draba verna neben einander ceultivirt werden. Ihre Unterschiede und ihre Constanz sind ganz deutliche, jedem Besucher sofort auffallende Erscheinungen. Ich habe erst zwei solche Arten in Cultur; aber bereits diese finden allgemeines Interesse. 23” 356 Schluss. die Prämutationsperiode gewesen ist. Zwei Möglichkeiten bieten sich dar. Erstens die Pflanze verkehrte schon in der Mutationsperiode, als ihre Samen dort zum ersten Male von Herrn Sıx ausgesät wurden (etwa 1870, vergl. S. 187). Oder die Mutationsperiode hat an Ort und Stelle angefangen. Im ersteren Falle wird die Oenothera auch sonst wohl mutabel gewesen sein, und ist diese Eigenschaft einfach bis jetzt der Beobachtung entgangen. Es wäre dieses allerdings kaum zu erwarten, da O. nanella, O. gigas und auch wohl O. luevifolia, wenn sie sich bei Züchtern oder bei Liebhabern gezeigt hätten, wohl gewiss als der Cultur werth betrachtet und in den Handel gebracht sein würden. Aber weder in beschreibenden Werken, noch in Samen- catalogen kommen „Varietäten“ von O. Lamarckiana vor. Im zweiten Falle würde die Vermuthung nahe liegen, dass die rasche Vermehrung unserer Oenotheren, zwischen den Jahren 1870 bis 1886, welche wir $ 6 (S. 187) beschrieben haben, die Ursache des Eintretens der Prämutationsperiode und also des Anfanges der Mutabilität gewesen ist.! Und diese Annahme schliesst sich an das Wenige, was wir über die äusseren Ursachen der Entstehung neuer Arten im Allgemeinen wissen, so gut an, dass ihr bis auf Weiteres jedenfalls besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist. Zusammenfassend gelangen wir somit zu dem Satze, dass jeder Mutationsperiode eine Prämutationsperiode vorangegangen sein muss, in der die fraglichen neuen Eigenschaften, unter dem Einflusse äusserer Umstände, latent entstanden sein müssen. V. Sehluss. % Fassen wir jetzt unsere Beobachtungen über die Entstehung von Arten in der Gattung Oenothera zusammen, so zeigt sich als wich- tigstes Ergebniss der Nachweis, dass dieser Vorgang.der ex- perimentellen Behandlung fähig ist. Bis jetzt glaubte man allgemein, dass diese wichtige Erscheinung weder dem Versuche, noch auch der directen Beobachtung zugänglich sei. Dass neue Formen bis- weilen, und zwar nicht all zu selten, aus anderen entstehen, lehrt die ! Nach einer Mittheilung von M. T. Masters in GArDENErR’s Chronicle vom 1. Dec. 1900 .-kommt Oenothera Lamarckiana auch unweit London im Freien vor, zeigt dort aber keine Mutationen (Vol. 28 Nr. 727 S. 393). Schluss. 39 und unvermittelt auftreten. Sind sie aber da, so ist es zu spät; wie sie entstanden sind, kann man zwar versuchen sich klar zu legen, aber nicht mehr experimentell nachweisen. _ Für diesen letzteren Zweck ist es erforderlich, eine Pflanze zu haben, welche sich gerade in einer Mutationsperiode befindet, d. h. welche in der Lage ist, eine oder mehrere neue Arten wiederholt hervorzubringen. Solche Pflanzen waren bis jetzt noch nicht auf- gefunden. Die Methode, mutable Pflanzen aufzusuchen, besteht in Aussaaten von grossem Umfange. Man wählt die Samen am liebsten von wild- wachsenden Pflanzen, oder von verwilderten Arten, oder endlich von solchen Culturpflanzen, welche man hinreichend lange aus eigener Cultur kennt, um sicher zu sein, dass sie von den Folgen etwaiger früherer zufälliger Bastardirungen rein sind. Ich habe entweder die Samen direct im Freien eingesammelt, oder einige Pflanzen in den Garten übergebracht und sie, hinreichend isolirt, Früchte tragen lassen. Man kann sich in der Wahl der Arten von Beobachtungen im Freien leiten lassen, und zwar, wo es etwa vorkommt, von dem Auffinden neuer Varietäten oder Unterarten, oder anderenfalls von einem ge- wissen Reichthum an partiellen Mutationen, sogenannten Monstrosi- täten. Die letzteren beruhen auf latenten erblichen Anlagen, welche sich von Zeit zu Zeit, in einzelnen Zweigen oder Blättern u. s. w. äussern. Es liegt der Schluss nahe, dass, wo solche latente erbliche Anlagen in ungewöhnlich grosser Menge vorkommen, auch andere latente Anlagen erwartet werden dürfen, und unter ihnen die gesuchten. Zu Anfang meiner Versuche, und bisweilen auch nachher, habe ich solche Aussaaten in ziemlich bedeutender Menge ausgeführt. Vorwiegend mit Arten aus der hiesigen Flora, und zwar stets in so grossem Umfange, wie die jedesmal erreichbare Ernte dies gestattete. So säte ich z. B. Capsella Bursa Pastoris, Sisymbrium Alliaria, Daueus Carota, Oynoglossum officinale, Verbascum thapsiforme, Aster Tripolium, Bidens cernua, Thrineia hirta, Orepis biennis, Centaurea nigra und eine Reihe anderer wildwachsender Arten. Es waren meist Formen, welche durch Fasciation, Synfise oder irgend eine sonstige Abweichung auf- fielen und von denen ich nachher die betreffenden Monstrositäten auch während einer längeren oder kürzeren Reihe von Jahren als erbliche Rassen cultivirt habe. Fast alle untersuchten Arten ergaben sich als immutabel.! Ich ! Vergl. auch den vierten Abschnitt dieses Bandes. 358 Schluss. folgere daraus, dass wohl die meisten wildwachsenden Arten in unserer Gegend sich in einer immutablen Periode befinden. An anderen Orten können dieselben Arten selbstverständlich doch mutabel sein, ! denn die Mutabilität gehört der Theorie nach nicht zum Wesen der speciellen Art, sondern bildet nur einen vorübergehenden Zustand, in welchem sich z. B. die Pflanzen eines einzigen Standortes befinden können. Nur eine einzige Art entsprach meinen Erwartungen. Es war dieses die Oenothera Lamarckiana. Schon auf dem Fundorte schien sie mehr Aussicht auf ein günstiges Ergebniss zu bieten als alle anderen. Erstens war sie nicht eigentlich eine wildwachsende, son- dern eine verwilderte Form, welche sich von einer Anlage aus auf ‘ein benachbartes, verlassenes Feld ausbreitete und sich dabei stark vermehrte. Eine solche rasche Vermehrung ist aber bekanntlich eine der vermuthlichen Ursachen eintretender Mutabilität. Zweitens zeigte sie sich reich an partiellen Abänderungen, sowohl an den gewöhn- lichen wie Blüthenanomalien, Becherbildung, Verbänderung, Adnationen, als auch an selteneren, wie die Ausbildung von secundären Achsel- knospen in der Inflorescenz. Drittens aber fand ich einzelne schmal- blätterige, schwache Pflänzchen, welche nur Rosetten von Wurzel- blättern bildeten und bald zu Grunde gingen. Sie entzogen sich damals dem weiteren Studium, haben sich aber später zum Theil als eine gute neue Art ergeben (O, elliptica. Und viertens fand ich auf dem fraglichen Standorte zwei wohl charakterisirte Formen, welche bis dahin unbekannt waren und welche sich später als samenbeständig ergeben haben (O0. laevifolia und O. brevistylis). Eine völlige Entscheidung bot aber erst die Aussaat im Garten von den im Freien eingesammelten Samen. Diese geschah zuerst 1887, später zu wiederholten Malen, namentlich aber 1889. Bereits die erstere Cultur gab mir was ich wünschte, eine deutlich und fast in jeder Hinsicht abweichende Form, welche bis dahin nicht auf dem Felde gesehen und auch sonst völlig unbekannt war. Es war die Oenothera lata. Im folgenden Jahre säte ich Samen von Pflanzen, . welche ich im Herbst 13886 als Rosetten von Wurzelblättern vom wilden Fundort mitgebracht hatte; sie lieferten mir dieselbe Form O. lata und daneben eine andere, O. nanella, und zwar beide ın mehreren Exemplaren (S. 157). Und als ich nun 1889 wiederum im Freien eingesammelte Samen und jetzt in grösserem Maassstabe säte, ! Solches scheint z. B. für Capsella Bursa Pastoris unweit Landau der Fall zu sein, vergl. SorLms-LaugachH, Bot. Zeitung 1900. Octoberheft. Schluss. 359 erhielt ich wieder diese beiden Formen, daneben aber noch eine dritte, bis dahin unbekannte, O. rubrinervis (S. 215). Später fand ich die beiden ersteren (O. lata und O. nanella) auch auf dem Felde (1894). Alle diese auf einander folgenden Beobachtungen reiften all- mählich den Entschluss, die versuchsweisen Aussaaten anderer Arten der Hauptsache nach aufzugeben, und die Oenothera Lamarckiana so gründlich wie möglich zu studiren. Es standen dazu zwei Wege offen. Einerseits die Beobachtung im Freien, in Verbindung mit jährlicher Aussaat von im Freien gesammelten Samen. Andererseits die Cultur im Garten, durch eine Reihe von Generationen, also von sogenannten Familien. Ohne den ersten Weg ganz zu vernachlässigen, habe ich den zweiten gewählt. Es soll daher ausdrücklich betont werden, dass meine Culturen nur eine Wiederholung von dem sind, was auch im Freien vor sich geht. Es handelte sich nur darum, den natürlichen Process der Artentstehung möglichst genau verfolgen zu können und dabei die Fehlerquellen und Unsicherheiten, welche die freie Be- stäubung durch Insecten unvermeidlich herbeiführt, überall, wo nöthig, auszuschliessen. Beobachtungen auf dem Felde sind seit 1886 alljährlich gemacht worden; sie lehrten das Auftreten neuer Formen, welche aber meist bald zu Grunde gingen. Es waren im Wesentlichen dieselben, wie in meinen Culturen. Es liegt kein Grund vor, anzunehmen, dass in meinem Garten Formen aufgetreten sind, welche im Freien unter hinreichend günstigen Bedingungen nicht auch entstanden sein würden. Dort aber mangelt der Raum für die Ausbildung aller Samen; die selteneren oder schwächeren gehen demzufolge meist bald ein, während sie in meinem (sarten vorsichtig herausgehoben, einzeln verpflanzt und möglichst gut versorgt werden. Nur hierin und in der reinen Befruchtung liegen die Vorzüge der Cultur. Der Versuch schafft nichts Neues. Er gestattet nur zu sehen und zu studiren, was auch in der Natur geschieht. Ein Ueberblick über meine Culturen lässt die untersuchte Mu- tationsperiode als ein in sich abgeschlossenes Ganzes erscheinen. Sie umfasst eine scharf umschriebene Gruppe von Vorgängen, in jeder Hinsicht eng begrenzt. Dieselben Erscheinungen wiederholen sich jedesmal, neue kommen nur selten hinzu und fügen sich dann den bereits bekannten Regeln. Es entsteht weder ein unentwirrbarer Chaos in einander übergehender Formen, noch auch ist die Veränder- lichkeit eine unbegrenzte. Im Gegentheil, es ist eine verhältnissmässig 360 Schluss. kleine Anzahl von wohl unterschiedenen und in sich sehr constanten Formen, welche man immer und immer wieder auftreten sieht. Allerdings habe ich weder den Anfang, noch auch das Ende der Periode gesehen. Alles spricht dafür, dass sie bei meinem ersten Besuche auf dem Standort bereits in vollem Gange war, und dass schon damals in der Anlage alles vorhanden war, was sich später zeigen würde. Die meisten Formen habe ich in den ersten Jahren nicht gesehen, aber ganz offenbar nur deshalb, weil ich noch nicht auf sie aufmerksam geworden war. Denn hatte ich einmal eine Form kennen gelernt, so fand ich sie mit wenigen Ausnahmen fast in jedem späteren Jahre wieder. Es ist nicht anzunehmen, dass ich den ganzen Reichthum meiner Oenothera an latenten Anlagen bereits erschöpft haben würde. Im Gegentheil ist es sehr möglich, dass gerade die schönsten und wich- tigsten, am stärksten vom Typus abweichenden Mutationen mir bis jetzt entgangen sind. Ich habe bisher nur mit gewöhnlichen Aus- saaten experimentirt, und mein Zweck war mehr, die Gesetze des Mutirens, als der, eine möglichst lange Reihe neuer Formen kennen zu lernen. Gelegentliche Beobachtungen zeigten, dass die Methode, Muta- tionen aufzusuchen, sich in vielen Hinsichten wird verbessern lassen. Es scheint dazu vorwiegend zwei Mittel zu geben: die Wahl der Samen und die Kreuzung. Fällt die Ernte aus gewissen Gründen zu klein aus, oder geht die Keimkraft der Samen stark zurück, indem nur ein kleiner Procentsatz keimfähig bleibt, so scheint die Aussicht auf Mutationen im Allgemeinen, oder wenigstens auf bestimmte neue Formen erheblich zuzunehmen. So war in einer Samenprobe, welche durch 5!/, Jahre aufbewahrt war, die Keimkraft von 70 auf 5 Samen pro Cubikcentimeter heruntergegangen; dem entsprechend der Gehalt an Mutanten aber von etwa 1—5°/, auf 40°/, gestiegen (S. 185). In einer anderen Cultur keimten aus der ganzen Ernte nur etwa 30 Sa- men, von denen 12 oder gleichfalls 40°/, zu Mutanten wurden. Und dass Kreuzung die Variabilität erhöhe, ist ein bekannter Ausspruch, welcher auch hier, nach einigen gelegentlichen Funden, volle Gültig- keit zu haben scheint. In ihren grossen Zügen fanden meine Culturen in der folgenden Weise statt. Aus Samen oder Pflanzen, welche vom wilden Standort herrührten, wurden sogenannte Familien abgeleitet, d.h. dass jährlich die Samen auf einzelnen (z. B. 4—10) Individuen gesammelt wurden. Diese Exemplare waren als typische Representanten der betreffenden Familie gewählt und entweder an einer isolirten Stelle unter sich Schluss. i 361 der Bestäubung durch Insecten überlassen (1857—1894) oder später unter Ausschluss von Insectenbesuch in Pergaminbeuteln mit ihrem eigenen Blüthenstaub künstlich befruchtet. Nur bei den Zata-Familien fand stets Kreuzung statt, da diese Form weiblich ist; sie wurde mit dem Staub der O. Lamarckiana belegt. Jede Familie hat somit einen reinen, geradlinigen Hauptstamm. Seitenzweige aus dieser sind als besondere Familien zu behandeln. Aus dem Hauptstamm entstanden die Mutanten. Es hat diese Methode den wichtigen Vorzug, dass man für jede Mutation die Vorfahren durch eine oder mehrere Generationen genau kennt. Und gerade dieses fehlt bei den Beobachtungen im Freien und bei den Erfahrungen des Gartenbaues. Die Anzahl der bekannten Generationen ist um so grösser, je später das Jahr einer fraglichen Mutation. Aus unseren Stammbäumen kann man- die Vorfahrenreihe für jede einzelne Mutation ableiten und erschliessen, dass diese reine und rein befruchtete Lamarckiana, oder Laevifolia, Rubrinervis, Lata u. Ss. w. gewesen sind, je nach den Gruppen. Es liest der Wunsch auf der Hand, die Ahnenreihe auch für frühere Zeiten zu vervoll- ständigen, also vor dem Jahre 1886, in welchem ich meine ersten Samen und Pflanzen sammelte. Directe Beobachtungen liegen für diesen Zweck nicht vor; nur ist bekannt, dass die Verbreitung auf dem Fundort erst etwa 1870 angefangen hat. Es ist nicht wahr- scheinlich, dass in diesen Jahren Formen geblüht haben würden, welche später auf dem Felde, nach der sehr starken Vermehrung, niemals blühend gefunden wurden. Es ist somit wohl gestattet, den Stammbaum als hinreichend reine Linie bis zu jenem Jahre in Ge- danken zu ergänzen. Die einzelnen Mutationen in den verschiedenen Familien ent- stehen von einander durchaus unabhängig, d. h. dass jede von ihnen unvermittelt aus dem Hauptstamme hervorgeht. Erntet man die Samen von den Mutanten, oder befruchtet man andere Pflanzen mit ihrem Pollen, so entstehen neue Seitenzweige aus der Familie; die Glieder solcher Seitenlinien heissen aber fernerhin nicht Mutanten. Jene Unabhängigkeit ist aber nur eine äussere; sie verhalten sich zu einander wie Schwestern, oder wie Nichten und Tanten u. s. w., ver- danken aber ofienbar die Uebereinstimmung ihrer Eigenschaften den- selben, bereits im Hauptstamm latent anwesenden Anlagen. 1 Die Stammbäume findet man für: Die Lamarckiana-Familie: S. 157 und 184. Die Laevifokia-Familie: S. 192. Die Lata-Familie: S. 202 und 204. 362 Schluss. Aus diesem Hauptstamme aber entsteht jede von ihnen plötzlich, ohne sichtbare Vorbereitung, unvermittelt, und mit allen ihren Eigen- schaften." Jeder neu auftretende Zwerg ist ebenso klein wie die Zwerge vierter und fünfter und noch späterer Generationen. Jede Lata-Mutante ist ebenso rein weiblich wie die Lata jetzt, nach zehn- jähriger Cultur. Die zahlreichen Rubrinervis-Pflanzen, welche ich im Laufe der Jahre zu verschiedenen Versuchszwecken cultivirt habe, sind in ihren Merkmalen von neu auftretenden Mutanten dieser Form gar nicht zu unterscheiden. O. gigas entstand nur drei Mal, O. scin- tillans 14 Mal. Jedesmal aber mit genau denselben sichtbaren Merk- malen. Eine sehr wichtige Frage ist die nach dem etwaigen Vorkommen von Uebergängen und Zwischenformen. Solche fehlen allerdings nicht, sie gehören aber dem Gebiete der eigentlichen Variabilität, nicht jenem der Mutabilität an. Denn erstens treten die Uebergänge nicht vor der neuen Art auf, höchstens gleichzeitig mit dieser, meist aber erst, wenn sie bereits fertig dasteht. Die Uebergänge sind somit keine Vermittler oder Vorbereitungen zum Auftreten der neuen Form; die Entstehung geschieht nicht durch sie, sondern ganz unabhängig. Die Zwischenformen sind nicht im eigentlichen Sinne solche, sie sind nur mehr oder weniger unvollkommene Ausbildungen des bereits fertig vorhandenen Vorbildes. Sie können genau ebenso gut in jeder späteren Generation als in der ersten beobachtet werden. Die Aussicht auf sie ist aber im Anfang stets klein, wegen der geringen Anzahl der Individuen. Erst wenn diese durch Samen unbeschränkt vermehrt werden können, kann man vollständigere Reihen von Uebergangs- formen erwarten. Diese Uebergänge sind theils atavistische Erscheinungen, theils gehören sie der gewöhnlichen und theils der transgressiven Variabilität an. Als Atavismus betrachte ich den Fall der O. nanella, welche sich im ganzen Leben durch ungestielte Blätter kennzeichnet, welche aber durch eine kurze Zeit ihres Jugendlebens die gestielten Blätter ihrer Vorfahren zur Schau trägt (vergl. Fig. 78 auf S. 257). Dieser Fall ist den bekannten Jugendformen zahlreicher anderer Pflanzen durchaus analog. Atavismus durch Variabilität bedingt zeigt die O. laevifolia, wenn sie an einzelnen Blättern oder kümmerlichen Exemplaren die sonst fehlenden Buckeln ausbildet. Transgressiv variiren mehr oder ı Diese Eigenschaften sind somit als Aeusserungen einer einzigen Umwand- lung zu betrachten. Vergl. $S 13 S. 231—233. — Ueber die relative Häufigkeit des Auftretens der einzelnen Mutationen, den: sogenannten Mutationscoöfficienten, vergl. S 14 S. 239— 240. Schluss. 363 weniger die meisten Merkmale, doch liegt z.B. zwischen den grössten O. nanella und den kleinsten blühenden ©. Lamarekiana wohl stets noch eine weite Kluft. Stark transgressiv variiren namentlich die Blätter von O. gigas, welche sowohl breiter als schmäler als diejenigen der Mutterart sein können, und bisweilen die der Rubrinervis und anderer schmalblätteriger Formen durchaus erreichen. Ferner variirt die Grösse der Blüthen in Abhängigkeit von der individuellen Kraft der betreffenden Unterart; je schwächer diese, um so kleiner sind ihre Blüthen. Ohne Zweifel kann man für die O. Lamarckiana und die sämmt- lichen aus ihr abstammenden Arten ununterbrochene Reihen für die einzelnen Merkmale herstellen. So z. B. für die Breite der Blätter, die Länge der Früchte, die Grösse der Blüthen u. s. w. Aber genau dasselbe kann man für ältere, von den besten Systematikern als echte Arten anerkannte Formen thun, und zwar selbst für diejenigen Eigen- schaften, welche die besten Unterscheidungsmerkmale liefern, wie z.B. für die Blüthengrösse von Oenothera biennis L. und O. muricata L.- Durch diese transgressive Variabilität werden die Grenzen zwischen meinen neuen Arten ebenso wenig verwischt, wie zwischen älteren Typen. Die Erscheinung ist im ganzen Thier- und Pflanzenreich eine sehr allgemeine; sie führt bekanntlich leicht zu Täuschungen, wenn die Untersuchung auf einzelne Merkmale beschränkt ist. Auf der Grenze hat die Vergleichung der übrigen Eigenschaften einzu- treten, denn trotz der meist starken Correlationen weisen die anderen Organe fast stets an, zu welchem Typus die anscheinenden „Grenz- bewohner“ gehören. Und wo diese Vergleichung nicht ausreicht, hat man sich zu Aussaatversuchen zu wenden; in diesen wird das Gesetz der Regression die Nachkommenschaft eines jeden Individuums bald in die Richtung des mittleren Arttypus zurückschreiten lassen. In dieser Beziehung wie in allen anderen sind die neuen Formen von Oenothera Arten und keine Varietäten, wie bereits in & 18 S. 255 bis 257 anlässlich der O. nanella besprochen wurde. Wenn man zwischen diesen beiden vieldeutigen Begriffen eine klare Unterscheidung machen will, so sind die Varietäten je durch ein einzelnes scharfes Merkmal gekennzeichnet, die Arten oder Unterarten aber von ihren nächsten Verwandten in fast allen ihren Theilen verschieden. Mangel der Farbe, Behaarung, Bewaffnung, der Verzweigung von Blättern oder Stengeln, stärkere Ausbildung dieser Eigenschaften, geschlitzte Blätter und Blumenblätter u. s. w. bilden die Merkmale echter Varietäten. ! Vergl. hierüber aber namentlich den vierten Abschnitt. 364 Schluss. Dabei sieht man zweierlei. Erstens bleibt der ganze Habitus der Pflanze, soweit er nicht direct verändert wird, von dem Varietäts- merkmal unberührt; die Farbvarietäten sind nur an der Farbe, die dornlosen nur am Mangel der Dornen zu erkennen u. s. w. Echte Arten aber sind fast an jedem Organe und in jedem Alter von einan- der zu unterscheiden. Zweitens variirt das betreffende Merkmal meist nicht transgressiv. Mögen auch weissblüthige Varietäten einen bläu- lichen oder röthlichen Widerschein in ihren Kronen haben, sie sind wohl stets viel blasser als die blassesten Varianten der echten Art. Gerade umgekehrt verhalten sich die guten Artmerkmale; die mittleren Werthe sind durchaus und constant verschieden, die extremen Varianten aber erreichen einander oder schreiten sogar an einander vorbei. Noch in einer anderen Hinsicht unterscheiden sich neue Arten von echten Varietäten. Die letzteren kehren gewöhnlich in mehreren Gattungen und Familien in derselben Weise wieder; sie werden dann meist mit denselben oder doch mit gleichbedeutenden Namen belegt. In meinen neuen Arten habe ich aber vergeblich nach analogen Typen gesucht, mit der einzigen, auffallenden Ausnahme der Zwerge. Viel- leicht sind O. laevifolia, deren Merkmal in dem Mangel der Buckeln liegt, und O. brevistylis, mit dem theilweisen Verluste des unterstän- digen Fruchtknotens, den echten Varietäten anzureihen; sie sind gerade die beiden Formen, welche in meinen Culturen niemals als Mutanten aufgetreten sind. Sonst aber sind die neuen Arten ohne Vorbild; weder bei anderen Arten der Gattung Oenotkera noch sonst im Pflanzenreich. Betrachtet man Varietäten als durch Verlust (bezw. Latenz) einer Eigenschaft entstanden, so liest es auf der Hand, das Auf- treten der neuen Arten der Entstehung einer neuen Eigenschaft zu- zuschreiben. Von ganz principieller Bedeutung ist die Frage nach der Samen- beständigkeit der neuen Formen. Dabei ist in erster Linie zu be- merken, dass diese Eigenschaft keine solche ist, welche erst durch allmähliche Selection erreicht werden muss. Ziemlich allgemein ist zwar die irrthümliche Meinung verbreitet, dass wenigstens viele Unter- arten und Varietäten nicht oder doch noch nicht samenbeständig seien, dass sie häufig, oder doch wenigstens von Zeit zu Zeit zu der Mutterart zurückkehren. Betrachtet man die „Varietäten“ als be- sinnende Arten, so wird gerade die Samenbeständigkeit als eine der Eigenschaften angedeutet, welche sie noch zu erwerben hätten. Meine neuen Arten sind aber entweder von Anfang an voll- kommen samenbeständig, ohne jegliche Spur von Rückschlag, oder Schluss. 365 Constanz durch künstliche Zuchtwahl. Um die anfängliche Constanz zu prüfen, müssen die aus der O. Lamarckiana oder aus anderen Familien unvermittelt aufgetretenen Mutanten sofort künstlich mit dem eigenen Blüthenstaub befruchtet werden. Man kann die Samen dann in grosser Menge aussäen, und da die neue Art meist bereits in den ersten Monaten des Lebens, bevor sie Stengel treibt, leicht und sicher zu erkennen ist, bequem einige Hunderte oder einige Tausende von Keimlingen untersuchen. Aus ihnen wird nun ein Theil, ohne Auswahl, bis zur Blüthe und zur Fruchtreife weiter cultivirt, und zwar so viele, wie es der ver- fügbare Raum nur gestattet. Und indem man dieselbe Operation durch eine Reihe von Generationen wiederholt, überzeugt man sich, ob die neue Form fortwährend constant bleibt. Vom Anfang an con- stant waren 0. gigas, O. rubrinervis. O. oblonga, O. albida, O. leptocarpa, O. semilata und O. nanella, während sich die Frage für die weibliche O. lata nicht experimentell beantworten liess. Dagegen zeigten sich O. seintillans, O. elliptica und O. sublinearis als nicht beständig. Aus ihren Samen wiederholen sie ihren Typus zwar, aber nur zu einem kleinen Theile. Die übrigen kehren ent- weder zu O. Lamarckiana zurück oder bilden andere Mutationen. Die O. seintillans war zumeist zu etwa 30°/, erblich, und blieb solches trotz wiederholter Selection; die anderen lieferten bisher zu wenig Samen für entsprechende Versuche. Nichteonstante Arten! scheinen in der Natur nicht vorzukommen. Auch müssen sie fast nothwendig früher oder später zu Grunde gehen, da die Atavisten, welche sie jährlich hervorbringen, wohl samen- beständig sein und die Art bald überwuchern würden. Wir erfahren also, dass bei der Entstehung neuer Arten auch solche auftreten können, welche auf die Dauer nicht existenzfähig sind. Dieses geschieht auch in anderen Hinsichten. Die Natur bringt nicht nur das Zweckmässige hervor, sondern sie scheint in ihrer schaffenden Kraft geradezu unbeschränkt zu sein. Sie bildet so zu sagen alles Mögliche und überlässt es ferner der Lebenslage, das gerade für sie Passende auszuwählen. Die Mutabilität ist, wie man es nennt, eine richtungslose. Ob die neuen Arten von Oenothera im Freien sich behaupten würden? Ich habe in dieser Richtung noch keine Versuche angestellt. Thatsache ist, dass die O. laevifola und die O. brevistylis auf dem. ! Ueber die Berechtigung dieses Ausdruckes vergl. S 19 S. 268— 272. 366 Schluss. wilden Fundorte bereits während einer langen Reihe von Jahren den Kampf um’s Dasein aushalten. In meinem Garten zeigen sich die Pflanzen gewiss als weniger widerstandsfähig, als sie im Freien sein würden, theils wegen der reichlichen Düngung, theils wegen des Mangels an Selection, die ja im Freien die meisten Schwächlinge ın früher Jugend vernichtet, theils aber und vorwiegend wegen meiner Vorliebe für einjährige Cultur. So sind z. B. einjährige Oblonga stets viel zu arm an Samen; zweijährige pflegen aber eine gute Ernte zu geben. O. rubrinervis ist als einjährige Pflanze sehr spröde, als zwei- jährige aber sehr kräftig u. s. w. Diese beiden und O. gigas würden im Freien, wenn sie in den meisten Individuen zweijährig sein würden, wohl aushalten; vielleicht ebenso gute neue Arten bilden, wie zur Zeit die aus Amerika eingeführten O. biennis und O. muricata. O. albida wird wohl stets zu schwach sein, und die nichtconstanten oder gar die ganz oder theilweise sterilen Formen würden selbstverständlich früher oder später zu Grunde gehen. Doch bedarf es directer Versuche, um sich über diese Fragen ein Urtheil zu bilden. Betrachten wir jetzt zum Schlusse die gemachten Erfahrungen von einem theoretischen Standpunkt, so drängen sich zwei Punkte in den Vordergrund. Erstens die Frage nach dem Anfange der ganzen Mutationsperiode, und zweitens die nach der Analogie der beobachteten Vorgänge mit der Entstehung von Arten in der Natur im All- gemeinen. Den Anfang der Mutationsperiode denken wir uns als die Zeit, in der die in dieser Periode latent vorhandenen Anlagen für die neuen Arten zuerst entstanden sind. Denn offenbar ist das Vermögen, Gigas hervorzubringen, nicht sämmtlichen Vorfahren meiner Lamarckiana eigen gewesen; es muss einmal entstanden sein. Ebenso die Anlagen zu den übrigen Arten. Sind sie ebenso alt oder vielleicht gar älter als die Lamarckiana selbst? Wahrscheinlich nicht. Einfacher ist es, anzunehmen, dass sie entweder an Ort und Stelle entstanden sind, wo sie sich zeigten, oder doch in Bezug auf die Lebensdauer einer Art nur wenig früher. Die Entstehung der latenten Anlage nenne ich Prämutation; die Mutationen sind nur das Sichtbarwerden derselben. Es ist eine hohe Aufgabe für die weitere Forschung, die Bedingungen dieser Prä- mutation zu ermitteln und sie, wo möglich, willkürlich herbeizu- führen. Mutationsperioden müssen in der Natur ohne Zweifel gar häufig vorkommen oder doch vorgekommen sein. Denn Gruppen von ver- Schluss. 367 wandten Arten, die sich zu einander, soviel man es beurtheilen kann, genau so verhalten, wie meine Oenotheren, findet man überall, sowohl im Pflanzenreich als im Thierreich. Wo solche Arten in Culturen auf ihre Constanz und auf ihre Merkmale geprüft sind, bilden sie die especes affines, deren allgemeines Vorkommen .JORDAN uns kennen lehrte. Ich habe Draba verna, Viola tricolor, Helianthemum vulgare u. S. w. bereits oft als die bekanntesten Beispiele genannt. Wo die Arten aber nicht künstlich auf ihre Constanz geprüft wurden, oder wo ihr Studium durch zahllose Bastarde in der Natur erschwert wird, bilden sie die Nebelgruppen der Systematiker, Gruppen, in denen oft die eine Autorität die Beschreibungen der anderen nicht würdigen kann. Salix, Rubus, Rosa, Hieracium bilden die Jedem bekannten Beispiele. Wichtig für uns ist aber die fast vollständige Uebereinstimmung der neuen Lamarckiana-Gruppe mit der älteren Biennis-Gruppe. Die Formen dieser Gruppe, von einigen Autoren als Arten, von anderen als Varietäten betrachtet, machen ganz den Eindruck, als ob sie die Ueberreste einer früheren Mutationsperiode wären. Sie gehören offen- bar zusammen, weichen in ähnlichen Merkmalen von einander ab, als die neueren Arten, sind samenbeständig, bei Kreuzungen unter sich fruchtbar, und in vielen Eigenschaften derart transgressiv mu- tabel, dass sie auf den ersten Blick nur unscharf geschieden scheinen. Dennoch sind sie völlig samenbeständig. Diese vermuthliche Mutationsperiode der Oenothera biennis muss selbstverständlich in ihrer amerikanischen Heimath stattgefunden haben; von dort aus haben sich ihre Producte, die jetzigen Linn&’schen Arten, über einen grossen Theil der Erde verbreitet. Und wenn man seiner Phantasie freies Spiel lässt, so erblickt man leicht für jede Gattung und jede grössere Gruppe eine anfäng- liche Mutationsperiode! Dritter Abschnitt. Ernährung und Zuchtwahl. I. Die gleichzeitige Beeinflussung einzelner Merkmale durch die Ernährung und die Zuchtwahl. $ 1. Die Variabilität als Ernährungserscheinung. Wenn eine neue Wissenschaft sich Bahn bricht, so zeigt es sich gewöhnlich, dass gewisse Gruppen von Erscheinungen, welche bis dahin in anderen Disciplinen behandelt wurden, zu ihr gehören. So verhält es sich gegenwärtig mit der Lehre von der Variabilität und der Abhängigkeit des Wachsthumes und der Entwickelung bestimmter Organe und Eigenschaften von der Ernährung. Diese Abhängigkeit ist bis jetzt vorwiegend vom experimentellen und vom biologischen Gesichtspunkt aus studirt worden, während die statistischen Methoden die nämlichen Processe von einer anderen Seite angegriffen haben. Neue Grenzen sind schwer zu ziehen, und so wird es wohl noch lange dauern, ehe man sich darüber wird einigen können, welche Abtheilungen aus der Ernährungslehre der Wissenschaft der Variabili- tät zuzuweisen sind. Im historischen und kritischen Theile (Abschnitt I, S. 94—96 u.s. w.) habe ich bereits darauf hingewiesen, dass es unerlässlich ist, die Frage nach den Ursachen der fluctuirenden Unterschiede sowohl zwischen den Individuen, als auch zwischen den gleichnamigen Organen eines und desselben Individuums, wenigstens aufzuwerfen. Die Lehre von der Variabilität im engeren Sinne kann sich nicht damit begnügen, eine rein beschreibende, statistische Wissenschaft zu sein; sie hat wie jede andere auch den Ursachen der beobachteten Vorgänge nach- zuforschen. Sind einerseits die Polymorphie und andererseits die Mutabilität ausgeschlossen, so wird die ganze Lehre von der Variabilität durch das QUETELET’sche Gesetz beherrscht. Daneben steht die Erblichkeit. Die Variabilität als Ernährungserscheinung. 369 Die Abweichungen der einzelnen Individuen vom Mittel sind erblich. Aber nicht in vollem Maasse, nur unter theilweisem Verlust. Es findet stets eine Regression statt, und diese beträgt gewöhnlich mehr als die Hälfte, oft etwa zwei Drittel der ursprünglichen Abweichung. Hieraus ergiebt sich das dritte Hauptgesetz aus der Variabilitätslehre: die stetige Zunahme der Abweichung mittelst Selection. Diese Zu- nahme, welche oft auch als Häufung kleiner gleichsinniger Differenzen bezeichnet wird, führt zu dem sogenannten Accumuliren und Fixiren der Merkmale, und somit zu den veredelten Rassen. (senau dieselben Abweichungen vom Mittel, welche die Statistik uns kennen lehrt, können zufällig oder durch Versuche von wech- selnden Ernährungsverhältnissen herbeigeführt werden. Eigenschaften und Organe, deren Maasse durch Zuchtwahl gesteigert oder herab- gesetzt werden können, sind gleichfalls von der Lebenslage abhängig, und in vielen Fällen dürfte es schwer sein, zu entscheiden, welche Ursache die am meisten wirksame ist. Die neueren Untersuchungen von Mac Leon und Anderen deuten immer mehr auf eine ganz enge Beziehung zwischen Ernährung und Variabilität hin. Denn im Grossen und Ganzen liest der Grund der Variabilitätserscheinungen in dem Wechsel der sogenannten indivi- duellen Kraft. Je kräftiger die Pflanzen, bezw. bestimmte Zweige auf ihnen sind, um so grösser ist die Aussicht auf Abweichungen im positiven Sinne; Schwächlinge und kümmerliche Zweiglein neigen stets zu negativen Schwankungen. Die individuelle Kraft aber deutet klar auf die Ernährung hin, wenn man dieses Wort in seinem weitesten Sinne benutzt, und wenn man namentlich die Gelegenheit, sich besser zu ernähren durch freieren Stand, ausgiebigere Beleuchtung u. s. w. darunter begreift. Ueberblickt man das ganze Gebiet der Ernährungserscheinungen und dasjenige der fluctuirenden Variabilität,! so scheinen sie nur zum Theil in einander zu greifen. Manches schöne variationsstatistische Studium deutet ebenso wenig auf eine Beziehung hin, als andererseits das übermässig starke oder schwache Wachsthum von Unkräutern und Culturpflanzen unter extremen Bedingungen. Doch giebt es An- zeichen genug, dass auch hier die verbindenden Glieder nicht fehlen. So beobachtete GOEBEL, dass bei Agrimonia Eupatorium die untersten, am besten ernährten Blüthen der Inflorescenz viel mehr Staubgefässe enthalten, als die oberen, schwächer ernährten.” So sind bei der ! Vergl. C. Fruwırın, Die Züchtumg der landwirthschaftlichen Qulturpflanzen. 1901. ? GoeseL in Bot. Zeitung 1882. S. 357. DE VRIES, Mutation. I. 24 870 Die Beet] einzelner Mer kmale durch Ernährung u. s. w. Fe die unteren en Rn Sans Vielsamig, die oberen und die auf den kleinen Nebenzweigen dagegen wenigsamig. Manches Varietätsmerkmal entspricht nur in starken Individuen den Anforde- rungen der Gärtner, während es in schwächeren zu wenig oder sogar bisweilen gar nicht entwickelt ist (z. B. Celosia eristata). Es handelt sich also einerseits darum, die Folgen besserer und geringerer Ernährung nach der statistischen Methode zu studiren, andererseits bei den Ermittelungen der QUETELET’schen Curven auch die Lebenslagen der einzelnen Gruppen von Individuen zu beachten. Eine solche Behandlung würde namentlich auch das Gute haben, dass sie den principiellen Gegensatz von Variabilität und Mutabilität immer klarer an’s Licht würde treten lassen. Es giebt noch so viele Fälle, in denen es schwierig oder vorläufig sogar unmöglich ist, die Grenzen dieser beiden, an sich grundverschiedenen, Principien anzu- weisen, dass jeder Beitrag zur Klärung des Problems von Nutzen ist. Aus diesem Grunde ist es für die Lehre von der Mutabilität durchaus erforderlich, sich über das Wesen der Variabilität im engeren Sinne eine richtige Vorstellung zu machen. Absolute Constanz und höchste Variabilität werden von Vielen als schroffer Gegensatz be- trachtet, und nach der herrschenden Selectionslehre führt gerade die Variabilität zur Inconstanz, d. h. zur Production neuer Formen. Nach der Mutationstheorie aber sind Constanz und Variabilität durchaus vereinbar, und in den gewöhnlichen Fällen durchgehends verbunden. Denn der Typus oder das Mittel ist constant, um dieses herum schwanken aber die Abweichungen hin und her. Die Randblüthen der gewöhnlichen Kornblume sind ihrer Zahl nach variabel; je schwächer die Pflanze oder der Zweig, um so ge- ringer fand Mac Leon ihre Anzahl.! Die Nebenfrüchte des Papaver somniferum polycephalum zeigen dasselbe Verhältniss,2 die Köpfchen der Othonna crassifolia vermindern ihre Zungenblüthen, wenn die Ernährung der Pflanze künstlich herabgesetzt wird.? Ebenso bei Ohrysanthemum segetum* und anderen Compositen.®? Und sehr leicht kann jeder auf 8:98: ® S. 98—100. S. 103 und: Othonna crassifolia, in Kruidk. Jaarboek. Gent 1900. $. 20. Over het periodisch optreden van anomalien, Krwrdkumdig Jaarboek Do- donaea T. XI. 1899. S. 54; Sur la periodieite des anomalies dans les plantes monstrueuses, Archiv. Neerland. d. Sc. exactes et nat. 2. Serie. T. 3. p. 403; Ueber Curvenselection bei Ohrysanthemum segetum, Berichle d.d.bot. Ges. Bd.XVI. 1899. S. 84; Ueber die Periodieitöt der partiellen Variationen; ibid. Bd. XVII. S. 45. ® A. Weisse, Die Zahl der Randblüthen am Compositenköpfchen. Jahrk. t. wiss. Bot. Bd. 30. 1897. S. 453 und W. HaackE, Entwickelungsmechanische Untersuchungen. Biolog. Centralblatt 1900. 1 3 4 Die Variabihlät als Ernährungserscheimung. oil den meisten Umbelliferen beobachten, wie die Anzahl der Schirm- strahlen im Allgemeinen um so kleiner ist, je schwächere Zweiglein man auswählt. In Bezug auf Papaver somniferum polycephalum haben wir im ersten Abschnitt gesehen, dass es nicht gelingt, die Zuchtwahl von der Er- nährung zu trennen. Wählt man seine Samenträger nach der mehr oder weniger schönen Ausbildung des Kranzes der Nebenfrüchte, so wählt man unvermeidlich einerseits die stärksten, andererseits die kümmerlichsten Exemplare. Und so gelangt man zu der Ueberzeugung, dass die Variabilität dieses Kranzes einfach eine Ernährungserschei- nung ist und dass die Zuchtwahl nur die am besten ernährten Indi- viduen auswählt. Oder bei Selection nach der negativen Seite die am schlechtesten ernährten. Allerdings muss man dabei der empfindlichen Periode Rechnung tragen. Das eine Organ durchläuft diesen Zeitabschnitt früher, das andere später, wie wir es auch für das genannte Papaver aus einander gesetzt haben. So verhält es sich z.B. mit Hafer und Sommerweizen in Bezug auf den Wassergehalt des Bodens. In der ersten Vegetations- zeit beeinflusst dieser die Zahl der Internodien sowohl im Halm, als namentlich auch in der Rispe bezw. der Aehre. Zur Zeit des Schossens bedingt der Wassergehalt des Bodens die Länge der Internodien und die Grösse der dann bereits angelegten Theile der Inflorescenz, sowie auch die mehr oder weniger vollständige Ausbildung der Aehrchen bezw. die Taubblüthigkeit. Viel Wasser zur Zeit des Schossens ver- mehrt die Strohmenge wie auch die Kornernte.! Die von SCHINDLER und vVoN PROSKOWETZ aufgestellte Lehre von der Unvereinbarkeit mehrerer guter Eigenschaften hängt theilweise mit der absoluten Leistungsfähigkeit, theilweise aber mit der richtigen Ernährung in den empfindlichen Perioden der Entwickelung der einzelnen Eigenschaften zusammen. Die sehr ausführlichen und bahn- brechenden Untersuchungen JOHANNSEN’s über die Correlation zwischen Körnergewicht und Stickstoffgehalt bei der Gerste deuten auf ähnliche Beziehungen. ‚Je höher das Körnergewicht, desto grösser ist der hier für die Praxis nachtheilige Stickstoffgehalt.”2 Beide variiren oftenbar unter dem Einflusse guter Ernährung in demselben Sinne. Aber wenn die empfindlichen Perioden nicht zusammenfallen, muss die Ernährung 1 von SEELHORST, Journal für Landwirthschaft. Bd. 48, S. 163; Ref. in Botan. Centralbl. 1900. Nr. 41, Bd. 84, S. 54. ® W. Jonannsen, Ueber die Variabilität der Gerste mit besonderer Rücksicht auf das Verhältniss zwischen Körnergewicht und Stickstoffprocent. Meddelelser fra Carlsberg Laboratoriet. 4A. Bd. Heft 4. 1899. 24.* 312 Die Beeinflussung einzelner Merkmale durch Ernährung u. s. w. so eingerichtet werden können, dass sie das Körnergewicht erhöht, ohne eine entsprechende Vermehrung der stickstoffreichen Bestand- theile herbeizuführen. Vorläufig ist es nicht möglich, solches direct zu bewirken, aber JoHANNsSEn gelang es durch eine Selection, welche für den einen Werth positiv, für den anderen negativ war, eine Rasse herzustellen, welche eine’ bedeutend bessere Ernte, ohne erhöhten Stickstoffgehalt lieferte. Zur Begründung dieser Auffassung der sowohl für die Wissen- schaft als auch für die Praxis hochwichtigen Ergebnisse bedarf es noch einer langen Reihe von Untersuchungen. Wir beschränken uns zunächst auf den einfachen Nachweis der vorausgesetzten Beziehung zwischen Ernährung und Zuchtwahl im Allgemeinen. Denn es gient noch eine andere Methode, das Zusammenwirken von Düngung und Auslese zu studiren. Man kann dazu beide Fac- toren willkürlich abändern. Dabei kann man sie entweder gleichsinnig oder im entgegengesetzten Sinne arbeiten lassen. Man kann so zu sagen ihre Wirkungen addiren oder von einander subtrahiren. Ge- lingt solches, so ist es ein Beweis dafür, dass sie gleicher Ordnung sind, und es wird fernerhin möglich sein, sich über ihre relative Grösse ein Urtheil zu bilden. Aus diesem Grunde werde ich in diesem Kapitel eine Gruppe von Versuchen besprechen, welche ich nach obigem Prinzipe ausgeführt habe. Es handelt sich um messbare bezw. zählbare Eigenschaften, welche sowohl einer experimentellen, als auch einer statistischen Be- handlung fähig sind. Ich wählte dazu einerseits die Länge der Früchte der gewöhnlichen Oenothera Lamarckiana (Fig. 114 und 115 auf S. 378), andererseits das durch Lupwıe’s Studien berühmte Ma- terial zu statistischen Studien, welches die Strahlenblüthen der Compo- siten und die Schirmstrahlen der Umbelliferen liefern (Fig. 117—119 auf S. 401, 404). Für die namhaft gemachten Früchte habe ich sowohl die Addition wie die Subtraction beider Factoren unter- sucht, für die Strahlencurven aber nur die gleichzeitige, entgegen- gesetzte Einwirkung von starker Düngung und negativer Zuchtwahl. Es ergab sich dabei, dass je nach Umständen das eine Mal der eine, das andere Mal der andere Factor überwiegt. In Bezug auf die Wirkung der Ernährung (Düngung, weiter Stand, gute Beleuchtung und Bewässerung u. s. w.) ergaben sich bei diesem Studium zwei Sätze, welche ich zum klaren Verständniss des Ganzen glaube vorausschicken zu müssen, und welche zum Theil bereits bei den kritischen Auseinandersetzungen des ersten Abschnittes (S. 96) Verwendung gefunden haben. Die Variabilität als Ernährungserscheinung. 379 Diese beiden Sätze sind die folgenden: 1. Je jünger eine Pflanze ist, desto grösser ist der Einfluss äusserer Umstände auf ihre Variabilität, d. h. auf den Platz, den ihre einzelnen Eigenschaften in den Variabilitätscurven der ganzen Cultur oder Rasse einnehmen werden. 2. In Verbindung damit hat die Ernährung des Samens auf der Mutterpflanze, wenigstens sehr oft,! einen grösseren Einfluss auf die Variabilität, als die Ernährung während der Keimung und des vegetativen Lebens. Es scheint mir, dass diese Principien, welche ich erst durch eine vieljährige Cultur kennen gelernt habe, an sich völlig klar und ein- leuchtend sind. Aus ihnen ergiebt sich für die experimentelle Methode, was ich nennen möchte das Princip der Düngung der Mutterpflanze, d.h.: Nicht nur an den Pflanzen, welche man stark dünst, sondern vorwiegend in der nächsten, aus ihren Samen hervorgehenden Gene- ration, ist der Einfluss der Düngung auf die Variabilität zu studiren. In theoretischer Hinsicht führen diese Principien ferner zu einer Frage, deren Lösung vielleicht von principieller Bedeutung für die Selectionslehre sein wird. Denn es ist klar, dass das Princip der Düngung der Mutterpflanzen nicht auf eine Generation beschränkt ist. Die am besten ernährten Samen wird man offenbar nicht von schwachen Eltern ernten, d. h. von Eltern, welche selbst aus schwachen Samen hervorgegangen sind. Im Gegentheil, es muss sich die Wir- kung der kräftigen Ernährung der Samen während einiger Genera- tionen häufen können. Dasselbe gilt andererseits von schwacher oder mangelhafter Ernährung. Da nun aber im Allgemeinen? die Indivi- duen, welche die untersuchte Eigenschaft im höchsten Grade auf- weisen, zu den am besten ernährten gehören, so wählt man offenbar, bei einer Selection nach irgend einer Eigenschaft, immer vorzüglich ernährte Exemplare als Samenträger aus. Im Laufe der Generationen häuft sich die Wirkung der Ernährung somit, und es wird dadurch an sich die Abweichung der fraglichen Eigenschaft vom ursprüng- lichen Typus in günstiger Richtung immer mehr ‚gesteigert. Es ent- steht somit die Frage, welchen Antheil diese Häufung der Ernährung oder allgemein der günstigen bezw. ungünstigen Lebensbedingungen während einiger Generationen an dem Erfolg der Selection haben wird? ! Bisweilen kann man durch gute und schlechte Pflege der Keimpflanzen einer und derselben Aussaat grösseren Einfluss auf das Variiren ausüben, als durch die Wahl der Samen (z. B. Papaver somniferum polycephalum). ?2 Nach den von Garrton entwickelten Prineipien der Correlation. 374 u Beeinftussung einzelner Merkmale aueh Er nührung U. S. W. 2 diese nn Allen da) Pan, Selection und ‚Ernährung immer engere Beziehungen zu vermuthen. Die Art und Weise der Ernährung scheint erst in zweiter Linie in Betracht zu kommen; in erster Linie aber die Ernährung während bestimmter besonders empfindlicher Entwickelungsperioden und die Häufung dieser Wirkung im Laufe einiger Generationen. Und wie die Ernährung offenbar in wenigen Generationen ihr Maximum wenigstens in prak- tischer Hinsicht erreicht haben kann, so ist auch die Dauer des Se- lectionsverfahrens keineswegs eine unbeschränkte.! Es macht im Gegentheil den Eindruck, dass auch hier ein deutlicher Parallelismus obwaltet. Je enger aber die Beziehung zwischen Variabilität und Ernäh- rung sich zeigt, um so schärfer wird der Unterschied zwischen der ersteren und der Mutabilität. $ 2. Methode der Untersuchung. Die Wirkung der Ernährung und der Zuchtwahl soll entweder gleichmässig oder in entgegengesetzter Richtung combinirt werden; die Summe oder die Differenz ihrer Wirkungen ist dabei zu ermitteln. An und für sich sind die Erfolge beider Factoren wohl bekannt. Es handelt sich nicht um den Nachweis, dass bessere Ernährung grössere und ungenügende Düngung kleinere Früchte u. s. w. hervor- ruft. Wichtiger wäre es schon zu zeigen, dass die Selection die Anzahl der Strahlen vermehren bezw. vermindern kann, aber auch darüber besteht kaum ein Zweifel. Es fragt sich nur, welcher von den beiden Factoren in den gegebenen Fällen überwiegen wird. Die Ernährung bildet die experimentelle Seite; es handelt sich um die Herstellung günstiger Culturbedingungen. Die Ergebnisse aber sind nach der statistischen Methode zu ermitteln, wie sie von QuETELET und GALToN? begründet und in der letzten Zeit nament- lich von PrArson, LUDWIG, DUNCKER, DAVENPORT und AMAnNN ent- wickelt worden ist.? Fangen wir mit dem letzteren Punkte an und versuchen wir es, die Hauptzüge dieser Methode noch einmal in möglichst kurzen Sätzen 1 Abschn. I, 8 9, S. 62. 2 Garron’s Buch über Natural inheritance ist für das richtige Verständniss der Grundlagen dieser Methode durchaus unerlässlich, es sei deshalb für dieses ganze Kapitel darauf verwiesen. 3 Meine Versuche wurden 1392—1894 angestellt, also vor dem Erscheinen der Publikationen der genannten Forscher. Methode der Untersuchung. 315 zusammen zu fassen, um dadurch sowohl die Art und Weise, wie die Resultate ermittelt wurden, als namentlich auch die Form der Darstellung klar zu legen. Denn zu dem letzteren Zwecke habe ich die Methode GAarton’s als die einfachste und bequemste ausgewählt. QUETELET und GALTon haben gezeigt, dass die individuellen Variationen bei Menschen und Thieren den Gesetzen der Wahr- scheinlichkeitsrechnung folgen. Für jede einzelne fluktuirende Eigen- schaft lassen sich die Abweichungen vom Typus in einer Curve zu- sammenstellen, indem sie sich um diesen Typus als um ein Centrum srösster Dichte symmetrisch gruppiren. Je zahlreicher die Beobach- tungen, um so genauer fällt die Variabilitätscurve mit der bekannten Wahrscheinlichkeitscurve zusammen. Die Ursache ist offenbar die, dass die betreffenden Abweichungen von der Norm durch eine grosse Zahl von verschiedenen inneren und äusseren Einflüssen bestimmt werden. Dass dasselbe Gesetz auch für Pflanzen gilt, wurde bereits von QUETELET ausgesprochen, von GALToN durch einige Versuche erwiesen. Bei meinen Culturen von Rassen und Varietäten hatte ich seit vielen Jahren die Gelegenheit, mich von der allgemeinen Gültigkeit dieses Gesetzes im Pflanzenreich zu überzeugen. Ist einmal der Nachweis geliefert, dass die empirischen Fluktuations- curven bei Pflanzen mit der theoretischen Curve der Wahrscheinlich- keit soweit zusammenfallen, wie es die unvermeidlichen Beobachtungs- fehler gestatten, so darf man offenbar die Eigenschaften der letzteren auf die ersteren anwenden. Die wichtigste Eigenschaft der Curve für uns ist nun, dass sie durch zwei Grössen völlig bestimmt wird. Es sind dies der mittlere ‚Werth des betreffenden Merkmals und die Amplitude oder Weite der Variation. Als mittleren Werth benutzt GALToN jene (Grösse, welche von der Hälfte der Individuen überschritten, von der anderen Hälfte aber nicht erreicht wird. Er nennt sie die Mediane. Sie braucht nicht eine wirklich vorkommende Grösse zu sein, sondern wird, unter der Annahme ununterbrochener, continuirlicher Variation, durch Interpolation gefunden. Vor dem gewöhnlichen Mittel, dem Quotient der Summe aller Werthe durch die Zahl der Beobachtungen, hat Gaurton’s Methode den Vorzug der bequemeren Ermittelung. Sie hat genau dieselbe Berechtigung, und bei symmetrischen Curven fallen beide Werthe nothwendig zusammen. ! Vergl. Ber. d. d. bot. Gesellsch. Bd. XII. 1894. S. 197, wo auch die ältere Literatur eitirt ist. 876 Die Beeinflussung einzelner Merkmale durch Ernährung u. s. w. Der zweite Factor ist die Variationsweite, welche in der Grösse der extremen Abweichungen auf einer gegebenen nicht zu kleinen Anzahl von Individuen ihren klarsten Ausdruck findet. Wegen der Seltenheit dieser Extreme ist aber eine genaue Feststellung dieser Grenzen durch die Beobachtung zu sehr vom Zufall abhängig. Des- halb benutzt GALron als Maass der Amplitude, in Uebereinstimmung mit der Wahrscheinlichkeitslehre, einen anderen Werth. Dieser ist die Grösse der Abweichung vom Mittel, welche gerade von einem Viertel der Individuen überschritten wird, also analog dem sogenannten „wahrscheinlichen Fehler“. Er nennt sie das Quartil (Q). Offen- bar giebt es auf beiden Seiten der Mediane (MW) ein Quartil; diese werden durch ©, und Q@, angedeutet. Ist die Curve völlig symme- trisch, so sind die beiden Quartile einander gleich; andererseits ist die Gleichwerthigkeit der empirisch bestimmten ©, und Q, ein Maass für die Symmetrie der Curve. Weichen sie nur innerhalb des Gebietes der Beobachtungsfehler von einander ab, so ist ihr mittlerer Werth iz A, das Maass für die Variationsweite des untersuchten Merkmales. Will man schliesslich die Variationsweite verschiedener Merkmale mit einander vergleichen, so muss man sie auf ein gemeinschaftliches Maass reduciren. Es geschieht dieses, indem man Q@ durch M dividirt.! Aus diesen Auseinandersetzungen ergiebt sich, dass Q,, M und Q, die Zahlen sind, welche durch Beobachtungen gefunden werden müssen. Durch sie ist die Curve völlig bestimmt und die etwaigen Ab- weichungen der so bestimmten Curve von den einzelnen beobachteten Zahlen müssen, für normale Curven, einstweilen als Beobachtungs- fehler betrachtet werden. Je grösser die Anzahl der einzelnen Be- obachtungen für eine Curve ist, um so geringer werden diese Differenzen. In den folgenden Paragraphen werde ich stets diese Werthe aus den gefundenen Zahlenreihen ableiten und die Betrachtungen hauptsächlich an sie anknüpfen. Es hat dieses den Vortheil, dass Zeichnungen der Curven fast überflüssig oder doch nur zum Zwecke der Demonstration erforderlich werden, und dass das Zahlenmaterial auf einige wenige Werthe zusammengedrückt werden kann. in Bezug’ auf die Construction der Curven {Fig. 115—118) ist ı Ep. VerscHArreLt, Ueber graduelle Variabilität von pflanzlichen Eigen- schaften. Ber. d. d. bot. Gesellsch. Bd. XII. 1894. S. 350. Methode der Untersuchung. 377 dabei Folgendes zu bemerken: Die Anzahl der Ordinaten ist keines- wegs nothwendig dieselbe als die Zahl der Gruppen in den Tabellen. Es leuchtet dieses sofort ein, wo es sich um völlig continuirliche, z. B. nach Längenmaass stattfindende, Variationen handelt. Denn hier ist die gewählte Einheit eine rein willkürliche. Hätte ich z. B. die Früchte von Oenothera nur auf 2 mm genau gemessen (oder die Messungen z.B. mit englischen Inches ausgeführt), so hätte ich weniger Ordinaten, bei Messung bis auf halbe Millimeter aber doppelt so viel Ordinaten erhalten. Und genau ebenso gut kann man bei der Er- mittelung der Strahlen auf Einheiten oder auf Paare oder auf grössere Gruppen achten. Oder vielmehr man kann die durch Beobachtung gefundenen Zahlen in jeder beliebigen Weise zu Gruppen vereinigen. Welche Anzahl von Ordinaten man bei der Construction einer Curve wählen soll, hängt im Prinzip von der Anzahl der Individuen ab. Ist diese klein, so muss erstere entsprechend geringer gemacht werden. Man vereinigt dabei zunächst die zwei oder drei Zahlen- gruppen, zwischen denen der interpolirte Werth von M liest, zu einer einzigen Ordinate; diese bildet dann den Gipfel der Curve. Darauf schreitet man in derselben Weise nach links und rechts fort. Nur so verschwinden die von ungenügender Beobachtungszahl herrührenden Schwankungen der Curven. Wünscht man schliesslich verschiedene Curven mit einander zu vergleichen, so sind offenbar die empirisch gefundenen Zahlen in Procente umzurechnen. II. Die Fruchtlänge von Oenothera Lamarckiana. $ 3. Die Correlation zwischen der individuellen Kraft und der Fruchtlänge. Theils als Beispiel für die im vorigen Paragraphen behandelte Methode der Darstellung der Messungsresultate, theils wegen der principiellen Bedeutung der Frage, betrachten wir zunächst die Be- ziehung der individuellen Kraft der Pflanze zu irgend einer, nach der variationsstatistischen Methode bequem studirbaren Eigenschaft. Im Anschluss an den vorigen Abschnitt wähle ich dazu die Länge der reifen Früchte unserer Nachtkerzen (Fig. 114). Diese Früchte sind sehr stark variabel, sowohl auf den einzelnen Exemplaren derselben Cultur, als auch bei verschiedener Behandlung. 818 Die Fruchtlänge von Oenothera Lamarckiana. welche etwa die doppelte Länge der kürzesten haben (Fig. 114 4A und ©), Solche Früchte sind aber, der grossen Menge gegenüber, selten; die mittleren (Fig. 114 B) sind stets weitaus die häufigsten. Man überzeugt sich leicht, dass die verschiedenen Werthe dabei das QUETELET - GALToN’sche Gesetz erkennen lassen, und zwar um so klarer, je grösser die Zahl der } untersuchten Exemplare ist. - Die Fig. 115! stellt diese Werthe graphisch dar. Die Messungen wur- den an 568 Pflanzen ge- macht, indem von jeder die untere gute Frucht im reifen Zustande ab- gepflückt wurde. Die Längen dieser Früchte schwankten zwischen 15 und 34 mm und betrugen im Mittel etwa 24 mm. Sie schliessen sich, wie eine Vergleichung mit der punktirten Linie zeigt, hin- reichend genau der Wahr- scheinlichkeitscurve an. Berechnet man aus der betreffenden Zahlen- | reihe die im vorigen Fig. 114. Oenotkera Lamarckiana.. Untere Theile Paragraphen besproche- dreier Fru chtstände, vom Hauptstengel dreier Planzen NeN GALTON’schen Werthe, genommen, in natürlicher Grösse. A kleine, Bmitt- so findet man Folgendes, lere, C lange Früchte. Cultur von 1899. in Millimetern: Minimum 00 M Op Maximum N 22-2 24-1 26-1 34. ! Ueber halbe Garron-Curven als Zeichen discontinuirlicher Variation. Ber. d. d. bot. Gesellsch. Bd. XII. 1894. Taf. X, Fig. 1. Die betreffende Zahlen- reihe ibid. S. 200. Es ist diese Figur die erste, in der überhaupt auf botanischem Gebiete die Gültigkeit des QuEtELer-Garton’schen Gesetzes dargethan wurde. Die Correlation zwischen der individuellen Kraft und der Fruchtlänge. 3719 Maximum und Minimum geben einfach die Länge der längsten und der kürzesten Frucht wieder. M ist Gauton’s Mediane oder das Mittel, der Werth, der von der einen Hälfte nicht nl von der anderen aber echten wird. Die Zahl ist durch Interpolation gefunden unter der Annahme, dass die Früchte, deren Länge gleich 24 mm gemessen wurde, con- tinuirlich zwischen 23-5 und 24-5 mm in Länge variiren. Qo und Op sind die Ordinaten, welche um je ein Viertel der Individuenzahl von M entfernt sind. Sie sind in ähnlicher Weise durch Interpolation berechnet. Es sind somit die Quartile GALton’s Q, = M— 00 und Q, = Op — | Sa & TEE 7130127202122 E2EINIOTEITTTN 22 33T 3 Fig. 115. Oenothera Lamarckiana. Curve der Fruchtlänge für 568 Pflanzen. Die punktirte Linie ist die Curve des QUETELET-GALToN’schen Gesetzes. Hilversum 1893. Ferner ist nen — Q das Maass der Amplitude oder der Variations- weite der Curve. Endlich ist - ein Maass für diesen Werth, un- abhängig von der Grösse von Ir und von der Natur der variirenden Eigenschaft; eine Zahl somit, mit deren Hülfe die Variation der Fruchtlänge bei Oenothera mit der Variation anderer Eigenschaften bei anderen Pflanzen verglichen werden kann. Aus den obigen Zahlen berechnen sich diese Werthe für die vorliegende Curve wie folgt: Qı 2 Q 1-9 -95 0 SR DD oO m [0 >] 380 Die Fruchtlänge von Oenothera Lamarckiana. Bei der Beschreibung der Versuche können jetzt Qo und @p weggelassen werden, indem Q,, M und @, als die direct aus den empirischen Zahlen abzuleitenden Werthe gelten. Eine grössere Genauigkeit in diesen Versuchen kann man er- reichen, indem man für jede Pflanze nicht die Länge einer einzigen Frucht, sondern die mittlere Fruchtlänge ermittelt. Dabei entsteht aber die Frage, aus welcher Anzahl von Früchten es zweckmässig ist, diesen mittleren Werth zu bestimmen. Ich habe diese Zahl auf fünf bestimmt, und wähle sowohl in dem Versuche dieses Paragraphen als sonst und namentlich im folgenden das Mittel der Länge der fünf unteren guten Früchte des Hauptfruchtstandes als Maass für die Fruchtlänge des betreffenden Individuums. Die Gründe, welche mich zu dieser Wahl führten, sind im We- sentlichen die folgenden. Meine Zuchtwahl war stets eine indivi- duelle, d. h. ich suchte nicht etwa, in der Ernte, unter den reifen Früchten die längsten und die kürzesten aus, sondern ermittelte stets die Individuen, welche im Mittel die grössten oder die kleinsten Früchte hatten. Auf jeder Inflorescenz nimmt aber die Grösse der Früchte von unten nach oben mit der allmählichen Erschöpfung der Pflanze stetig ab. Seitenzweige haben oft kleinere Kapseln; diese liess ich aber überhaupt nicht zur Entwickelung kommen; die Zweige wurden stets ganz jung ausgebrochen. Denn nur in solcher Weise war es möglich, auf den verfügbaren Beeten eine möglichst grosse Anzahl kräftiger Individuen zu haben. Selbstverständlich ist die mittlere Länge der fünf untersten Früchte nur ein mehr oder weniger willkürliches Maass für die mitt- lere Fruchtlänge der ganzen Pflanze. Es wäre genauer, zehn oder zwanzig Früchte zu messen. Auf viel mehr als zwanzig reife Früchte pro Pflanze kann man nicht mit hinreichender Sicherheit rechnen; viele Individuen erreichen diese Zahl überhaupt nicht, denn die Früchte der nach dem 1. September blühenden Blüthen reifen bei uns nur selten. Die mittlere Länge aller Früchte einer Pflanze zu messen, würde erfordern, dass man alle Seitenzweige zur Blüthe ge- langen lassen könnte und dass man von allen Blüthen die Früchte im reifen Zustande würde messen können. Dieses ist aber, wenigstens unter unserem Klima und bei einjähriger Cultur überhaupt nicht zu erreichen. Glücklicherweise giebt die Messung der fünf unteren Früchte Zahlen, deren Genauigkeit für unsere Versuche völlig hinreicht. Um den Beweis für diesen Satz durch einen directen Versuch zu liefern, habe ich im November 1893 auf 38 Pflanzen sowohl die mittlere Die Correlation zwischen der individuellen Kraft und der Fruchtlänge 381 Länge der fünf unteren, als die mittlere Länge der zwanzig unteren Früchte gemessen. Um die mittlere Länge der Früchte zu finden, wird die Summe ihrer Länge gemessen und durch ihre Anzahl dividirt. Dazu werden die Früchte genau an ihrer Basis (welche an der Verbindungsstelle mit dem Tragblatte durch eine Einschnürung bezeichnet ist und also stets in derselben Lage genommen wird) quer durchschnitten, der Reihe nach hinter einander gelest, für genaue Berührung ohne Druck Sorge getragen und die Länge der ganzen Reihe abgelesen. In dieser Weise wird eine grössere Genauigkeit der Messungen erreicht, wäh- rend für jede Pflanze deren nur eine erforderlich ist. Wählen wir zunächst ein Beispiel. An einer Pflanze betrug die Gesammtlänge der fünf unteren Früchte 167 mm, die der zwanzig unteren Früchte aber 688 mm. Die mittleren Zahlen waren also 33-4 und 34-4mm. Differenz = 1-0 mm. In dieser Weise wurden die Differenzen für die 38 Exemplare ermittelt. Einige waren positiv, andere negativ. Ohne auf dieses Zeichen zu achten, wurden nun die Differenzen in der Reihenfolge ihrer Grösse neben einander geschrieben. Es ergab sich, dass in der Hälfte der Individuen die Differenz kleiner war als 1-25 mm, in der anderen Hälfte aber grösser. Nur in einem Falle erreichte sie 4 mm. Der wahrscheinliche Fehler ist somit 1-25 mm. Mit anderen Worten. Für den äusserst unwahrscheinlichen Fall, dass in einer Versuchsreihe die Differenzen alle positiv oder alle negativ ausfallen würden, würden die Zahlen unserer Tabellen sich um 1-25 mm genauer gestaltet haben, wenn ich stets 20 statt 5 Früchte gemessen hätte. Unterschiede von 1-25 mm oder weniger dürfen somit als innerhalb des Bereiches der Beobachtungsfehler angesehen werden; die in den zu beschreibenden Versuchen auftretenden Unter- schiede sind aber fast ausnahmslos erheblich grösser. Für das Studium der Correlation zwischen der 'indivi- duellen Kraft und der Fruchtlänge! habe ich an denselben 38 Pflanzen ausserdem die Länge und Dicke des Stengels und die Dicke der Früchte gemessen. Die Dicke des Stengels wurde einer- seits am Wurzelhalse, andererseits am untersten fruchttragenden Internodium gemessen. Die Länge des Stengels zeigte ein abweichen- des Verhalten, weil die spätkeimenden Exemplare, indem sie zwischen ! Die Methode, um die Correlationen im Variiren verschiedener Organe zu messen und zu beurtheilen, wurde von F. Garron begründet. Vergl. Correlations and their measuwrements in Proceed. Roy. Soc. Bd.45 (1888), 8.135. Vergl. ferner Garton, ibid. Bd. 40, S. 42 und Wervon, ibid. Bd. 51 (1892), S. 3. 382 Die Fruchtlänge von Oenothera Lamarckiana. ihren bereits höheren Nachbarn emporwachsen, mehr oder weniger Ueberverlängerung zeigen, als Folge der Verminderung des Licht- zutrittes. Ich werde daher auf diese Eigenschaft nicht weiter ein- gehen. Stellen wir jetzt die gefundenen Zahlen in eine Tabelle zusam- men. Um diese zu verkürzen, vereinigen wir die Individuen mit gleicher Stengeldicke zu kleinen Gruppen, für welche die Maasse der Früchte als mittlere Werthe berechnet werden. Die Anzahl der Individuen pro Gruppe ist in der letzten Spalte angegeben. Länge und: Dicke der Früchte sind für jedes Individuum, in der oben an- gegebenen Weise, an den zwanzig untersten gut entwickelten Früchten gemessen. Alle Werthe sind in Millimetern ausgedrückt. Correlation zwischen Stengeldicke und Fruchtlänge bei Oenothera Lamarckiana. Dicke des Stengels | Mittlere | Anzahl | der unten | oben Dieke der Früchte Länge derselben Individuen 16 | 12 | 3.85 | 38-6 2 15 | 9 | 3-5 | 35.0 | 2 14 9 | 3.7 | 31-8 | 2 12 8 | 3-5 | 34-1 | 3 11 9 | 3.2 | 30-2 2 la S | 3-8 32.7 2 11 7 | 3.4 31-6 3 10 8 | 3-1 31-9 2 10 7 | 3.0 30-6 9 9 7 2.9 | 29.2 2 3 7 3-1 | 29.7 3 8 6 3.0 | 29.9 | 3 7 5 3-1 | 30-1 | 3 Aus dieser Tabelle ergiebt sich eine deutliche Beziehung zwischen der Dicke des Stengels und der Dicke und Länge der Früchte. Denn abgesehen von geringen individuellen Abweichungen sind die Früchte um so länger und um so dicker, je dicker die Stämme sind. Für eine genaue Bestimmung der Beziehung zwischen diesen Grössen, des GAurton’schen Werthes r,! reichen diese Zahlen nicht aus; für den vorliegenden Zweck genügen sie aber. ! r= ratio = Maass der Correlation. Das Zusammenwirken zwischen Ernährung und Zuchtwahl. 3893 Denn in Verbindung mit den übrigen Erfahrungen der Ernährung und des Wachsthums unserer Pflanze lehren sie, dass die Früchte im Allgemeinen um so länger sind, je kräftiger die Pflanze gewachsen ist, und dass speciell die längsten Früchte nur auf den kräftigsten Pflanzen gefunden werden. Die Zuchtwahl in der langfrüch- tigen Richtung wählt also die stärksten Exemplare, wäh- rend die Zuchtwahl in der kurzfrüchtigen Richtung ge- zwungen ist, die Samenträger unter den schwächsten Stengeln zu suchen.! Es soll nicht unterlassen werden zu bemerken, dass Samenwerth und Düngung nicht allein die Stärke einer Pflanze bestimmen. Einen sehr grossen Antheil daran nimmt die Entfernung der Individuen von einander, namentlich in der Jugend. Vereinzelt stehende Exemplare werden meist sehr stark; je mehr Individuen man pro Quadratmeter wachsen lässt, um so schwächer werden sie. Eine andere Methode, die individuelle Kraft bedeutend zu erhöhen, werden wir im nächsten Paragraphen, unter dem Namen Keimtopfeultur, kennen lernen. S 4. Das Zusammenwirken zwischen Ernährung und Zuchtwahl. Die Länge der Früchte der grossblumigen Nachtkerze (Fig. 114 und 115) soll uns als Beispiel dienen, um in das Zusammenwirken von Ernährung und Zuchtwahl eine Einsicht zu gewinnen. In Bezug auf die Ernährung habe ich mich auf positive Abweichungen vom Mittel beschränkt, in Bezug auf die Zuchtwahl aber sowohl posi- tive als negative studirt, und daneben auch den Einfluss kräftiger Ernährung ohne Zuchtwahl durch einige Generationen verfolgt. Gute Ernährung hat sich dabei ergeben als der schärfsten Zucht- wahl überiegen (Fig. 116). In Verbindung mit negativer Selection hat sie dennoch das Mittel verbessert (Fig. 116 5) und positive Se- lection hat in Verbindung mit ihr nur wenig mehr leisten können (Fig. 116 ©). Und ohne Selection hat ganz besonders günstige Er- nährung weit mehr geleistet als die beiden ersteren Combinationen (Fig. 116 D). | Unsere Öurvenfigur zeigt dieses Ergebniss der ganzen Versuchs- reihe in seinen Hauptzügen. Allerdings sind die Curven B (negative Selection) und © (positive Selection) dem ersten Jahre entnommen; dieses geschah deshalb, weil die beiden folgenden Jahre, bei fort- ! Auf die Uebereinstimmung dieses Satzes mit den Auseinandersetzungen des kritischen Theiles soll hier nur hingewiesen werden. Vergl. namentlich Pa- paver somniferum polycephalum 8. 95—100. 384 Die Fruchtlänge von Oenothera Lamarckiana. gesetzter Auswahl in derselben Richtung keinen weiteren Fortschritt gebracht haben. Die Versuche erstrecken sich je über drei Gene- rationen; die sämmtlichen neun Ourven einzutragen, würde die Figur aber undeutlich machen. 1 221.00 23:0) 25.5 2720) 23.5 315 335 355 37.5 395 4.5 49.5 Fig. 116. A, B, C Oenothera Lamarckiana. Verschiebung der Variationscurven durch Ernährung und Zuchtwahl. Graphische Darstellung der Tabellen dieses Paragraphen. Curve D, Oenothera rubrinervis, stellt das Ergebniss des nächsten Paragraphen, den Erfolg sehr starker Ernährung ohne Selection, dar. Unter den Abseissen stehen die mittleren Fruchtlängen in Millimetern. ! Für diesen Versuch wurde Samen aus der Laevifola- Familie (S. 192) im Jahre 1891 besonders ausgesät und theilweise mit stick- stoffreicher Nahrung (Hornmehl) stark gedüngt. Aus der Ernte wurden, ! Für die Construction der Curven aus den im Text gegebenen Tabellen ist die Zahl der Ordinaten in dieser Figur auf die Hälfte redueirt. Alle Zahlen sind in Procente umgerechnet. Die Entfernung der Ordinaten ist 7-5 mm. Die Höhe der Ordinaten ist 1°/, = 2 mm. A (123 Ex.) die ursprüngliche Curve der mittleren Fruchtlänge für meine Cultur, nach der ersten Hornmehldüngung 1891. B und ©. Die Folgen der Mutterpflanzendüngung des Jahres 1891. B (18 Ex.). Die nächstfolgende Generation, bei Selection von kurzfrüchtigen Samenträgern. Die Curve ist dennoch bedeutend nach rechts verschoben. 1892. © (147 Ex.). Dieselbe Generation wie B, jedoch bei Selection von langfrüch- tigen Samenträgern. Die Curve ist nur wenig mehr verschoben als B. 1892. D (88 Ex.). Nach dreijähriger Keimtopfeultur, also bei äusserst kräftiger Er- nährung, aber ohne Seleetion. Die Curve ist viel mehr nach rechts verschoben als ©. 1894. DE VRIES, Mutation 7. Eine Mutation in der Oenothera-lata-Familie. Entstehung von Oenothera albida. Verlag von Veit & Comp. in Leipzig. DE VRIES, Mutation 7. Taf. 5. Oenothera scintillans. Verlag von Veit & Comp. in Leipzig. DE VRIES, Mutation 7 Taf. Oenothera oblonga. Verlag von Veit & Comp. in Leipzig. Das Zusammenwirken zwischen Ernährung und Zuchtwahl. 385 nachdem die Curve (Fig. 116 A) bestimmt war, ein Exemplar mit sehr langen Früchten und zwei mit sehr kurzen Früchten ausgewählt. . Ihre Samen wurden 1892 unter mässiger Düngung getrennt ausgesät und in den Ernten wiederum die Curven bestimmt. Es ergab sich, wie die Fig. 116 zeigt, dass in beiden Fällen die Fruchtlänge bedeutend zugenommen hatte, also in der zweiten Hälfte des Versuches trotz der Wahl kurzfrüchtiger Samenträger. Es überwog somit der Einfluss der Düngung denjenigen der Selection (Fig. 116 A, Bund ©). Auf die Einzelheiten des Versuches eingehend, ist zunächst zu bemerken, dass ich die betreffende Familie 1357 —1890 zwar auf sehr kräftigem Boden, aber ohne Düngung gezogen hatte. Von den im Jahre 1890 geernteten gut gemischten Samen säte ich für diesen Versuch zwei Proben. Die eine wurde auf zwei Beete von je 2 Quadrat- metern ausgesät und erhielt die sehr starke Düngung von !/, bezw. 5 Kilo Hornmehl pro Quadratmeter, also 1 bezw. 10 Kilo auf jedem Beete. Diese Öultur lieferte 123 kräftig wachsende Individuen mit reifen Früchten. Der grösste Theil der Samen wurde aber auf fünf Beeten von je 2 Quadratmetern ausgesät, erhielt theilweise keinen Dünger, theilweise !/,—2!/, Kilo gewöhnlichen Guano pro Quadrat- meter. Von dieser Aussaat wurden von jedem Beete 14—15 Exemplare bei der Fruchtreife ohne Wahl geerntet und für die Bestimmung einer zweiten Curve verwandt. Von jeder Pflanze wurde die Gesammtlänge der fünf unteren Früchte in ganzen Millimetern gemessen (vergl. S. 380), und daraus die mittlere Fruchtlänge in ganzen Millimetern berechnet. Ich fand in dieser Weise die folgenden Zahlen: Ernte von 1891. Mittlere Anzahl der Exemplare Mittlere | Anzahl der Exemplare Fruchtlänge mit \ ohne Frnchtlänge | mit ohne | Hornmehl | Hornmehl En ı Hornmehl | Hornmehl 20. 1 0 28 10 11 21 4 0 29 sa 4 22 7 0 30 ZN 5 23 11 b} 31 1 | 4 24 21 b) 32 1 3 25 25 10 33 1 4 26 20 8 34 0 2 27 14 | 10 Summa 123 11 DD or DE VRIES, Mutation. I. 386 Die Fruchtlänge von Oenolhera Lamarckiana. Aus dieser Tabelle ergiebt sich für die erste, aus demselben Samen erzogene Generation dieses Versuches (1891): Qı M Yıı Mit Hornmehl: 1-3 25-2 1-5 Ohne „, 1-9 27:2 2-4 Hilversum: 1-9 24-1 2-0 Den gefundenen Zahlen habe ich in der dritten Zeile die oben besprochenen Werthe für O. Lamarckiana (1893) beigefügt behufs bequemerer Vergleichung (vergl. S. 378, 379 und Fig. 115). Wie man sieht, zeigen die cultivirten Pflanzen gegenüber den wilden einen kleinen Vorsprung, der aber bei den mit Hornmehl ge- düngten etwas kleiner ist als bei dem Controlversuche. In Bezug auf die Variationsweite zeigt die Hornmehleultur eine kleine Abnahme, der Controlversuch eine ganz unbedeutende Zunahme. Nur die Hornmehleultur diente als Ausgangspunkt für meinen Versuch. Aus ihr wurden drei Individuen als Samenträger ausgewählt, deren mittlere Fruchtlänge, in obiger Weise an den fünf unteren Früchten gemessen, 20-6, 20-6 und 32-6 mm betrug. Zur grösseren Sicherheit maass ich auf diesen Stengeln auch sämmtliche reife Früchte (je 27—33 Stück), und fand daraus für die mittleren Fruchtlängen 19-0, 19-2, und 31-3 mm. Der Same des einen langfrüchtigen Stengels genügte für die Cultur von 1892, von den kurzfrüchtigen musste ich zwei Individuen nehmen, um ein hinreichendes Quantum Samen aus- säen zu können. Für jede dieser beiden neuen Rassen bestimmte ich 1892 ein Beet von 4 Quadratmetern, welches mit !/, Kilo getrocknetem Rinder- guano nebst !/, Kilo gedämpftem Hornmehl pro Quadratmeter gedüngt wurde. Diese Düngung hat sich bei meinen Versuchen im Allgemeinen als die vortheilhafteste ergeben: auf grössere Mengen reagiren die Pflanzen auf die Dauer nur wenig. Sonst war die Behandlung der Pflanzen dieselbe, wie im vorigen Jahre; sie wuchsen kräftig und lieferten bei der Fruchtreife 147 Indi- viduen aus langfrüchtigem und 78 aus kurzfrüchtigem Samen. Die Fruchtlängen wurden in der beschriebenen Weise ermittelt und die Individuen, nach aufsteigender Fruchtlänge geordnet, erreichten in den einzelnen Gruppen gleicher Länge die folgenden Anzahlen. In der Tabelle bedeutet X die Ernte der kurzfrüchtigen, ZL diejenige der langfrüchtigen Aussaat. Das Zusammenwirken zwischen Ernährung und Zuchtwahl. 387 Ernte von 1892. Mittlere Anzahl der Exemplare Mittlere Anzahl der Exemplare Fruchtlänge - Fruchtlänge | K L K L sa) | mm 23 2 0 34 6 16 24 | 2 0 35 5 16 25 | 4 0 36 2 13 26 b) 5 37 0 5 27 T 5 38 0 10 28 12 4 39 0 6 29 | 5 8 40 ) 1 30 5 10 41 0 2 31 5 17 42 0 0 32 12 13 43 0 3 33 | 6 13 Summa 78 147 Aus dieser Tabelle lassen sich, in Verbindung mit der Aussaat von 1891 und mit der unter S angedeuteten Fruchtlänge der Samen- träger, die folgenden Werthe ableiten: S Q M 02 Ernte von 1891 — 25.2 1.5. (Fig. 116. A) 1 1-3 1892. Kurzfrüchtige Cultur 20-6 2-5 29-9 2-6 (Fig. 116 B) 1892. Langfrüchtige Cultur 32-6 2-6 33.4 2.4 (Fig. 116 0) Und ferner: Minimum Maximum Ernte von 1891 20 mm 33 mm 1892. Kurzfrüchtige Cultur 2315; 80n: 1892. Langfrüchtige Cultur 264, Aa Es ergiebt sich also, dass die mittlere Fruchtlänge in beiden Culturen von 1892 wesentlich zugenommen hat, und zwar ist diese Zunahme bei der Wahl eines langfrüchtigen Samenträgers viel be- deutender als bei derjenigen von kurzfrüchtigen Individuen. Dasselbe gilt von den Extremen der Ernte: so kleine Früchte wie im Jahre 1891 wurden in beiden Culturen von 1892 nicht erhalten, dagegen nahm die Grösse der grössten Früchte ganz bedeutend zu (im Maximum um fast ein Drittel der früheren Länge). Zur ferneren Betrachtung fassen wir dieses Resultat möglichst kurz in zwei Sätze zusammen: 1. In beiden Fällen hat die Fruchtlänge zugenommen. 2. Bei der Selection eines langfrüchtigen Samenträgers war diese Zunahme bedeutender als bei der Wahl kurzfrüchtiger. 25* 388 Die Fruchtläng ge von ‚ Oemothera Lamar chiana. Es Et ein, dass a unter 2. genannte Paula einfach die Folge der Selection war. Alle übrigen Bedingungen waren in beiden Culturen dieselben, und die Differenz ist genau so, wie man sie als Folge der Selection erwarten darf. Wir brauchen auf dieses Ergebniss also nicht weiter einzugehen. Anders verhält es sich mit der Thatsache, dass die Pruchllanze in beiden Culturen zunahm, und namentlich, dass solches auch bei der Auswahl kurzfrüchtiger Samenträger stattgefunden hat. Solches kann unmöglich eine Folge der Selection sein, und es bleibt dafür also nur als mögliche Ursache die starke Düngung der Mutterpflanzen mit Hornmehl übrig. Bei der langfrüchtigen Cultur war die mittlere Fruchtlänge (33-4 mm) grösser als der entsprechende Werth im Samenträger (32-6 mm). Auch dieses kann, nach den bekannten Regeln der Se- lection, und namentlich nach den Untersuchungen GaALTon’s über die Regression, nicht eine Folge der Zuchtwahl sein. Diese muss wohl eine Zunahme der Fruchtlänge bewirken, aber der neue Werth müsste zwischen dem ursprünglichen Mittelwerthe und der Fruchtlänge des gewählten Samenträgers liegen. Das hier gefundene Mehr kommt also offenbar wieder auf die Rechnung der starken Düngung der Mutterpflanzen.! Wenden wir uns jetzt zur Variationsweite (Q). Diese war, wie oben aus der Tabelle abgeleitet wurde, 1892 in beiden Culturen die- selbe, und zwar doppelt so gross, wie in der Hornmehlcultur von 1891. In dieser letzteren war sie aber kleiner als in den gewöhn- lichen Culturen (S. 386). Die Amplitude der Fluktuation wird bekannt- lich bedingt durch die Mannigfaltigkeit der äusseren und inneren Versuchsbedingungen, und es liegt auf der Hand, dass bei starker Düngung die Unterschiede im Wachsthum zwischen den einzelnen Individuen mehr oder weniger ausgeglichen werden, dass die Variations- weite also abnehmen wird. Ein übereinstimmendes Resultat werden wir bei der Besprechung der Fortsetzung der kurzfrüchtigen Rasse zu erwähnen haben. Schliesslich ist hervorzuheben, dass ©, und Q, einander gleich geblieben sind, dass die Curve somit, trotz der sehr erheblichen Verschiebung ihres Gipfels, doch symmetrisch geblieben ist. In methodologischer Hinsicht enthält dieser Versuch die War- nung, bei wissenschaftlichen Züchtungsversuchen die äusseren Be- ! Diese Wirkung der Düngung der Mutterpflanzen habe ich auch mehrfach in Culturen mit anderen Arten beobachtet, so z. B. bei Ranuneulus bulbosus auf die Pleiopetalie. Vergl. den vierten Abschnitt. Das Zusammenwirken zwischen Ernährung und Zuchtwahl. 3839 dingungen, und namentlich die Düngung, möglichst constant zu er- halten, und Folgen etwaiger Aenderungen in den äusseren Umständen nicht etwa auf die Rechnung der Selection zu schreiben. Wie bereits erwähnt, habe ich die beiden Rassen noch während zwei weiterer Jahre, unter denselben Bedingungen von Düngung und Selection, und auch sonst unter genau gleicher Behandlung fortgesetzt (1893, 1894). Die langfrüchtige Rasse hat dabei eine Verbesserung nicht erfahren; sie ist eher etwas zurückgegangen. Dieser Versuch entspricht im Wesentlichen dem Principe Haruer’s (vergl. S. 79), welcher bei der Ausbildung seiner neuen Getreidevarietäten im ersten Jahre durch starke Düngung einen bedeutenden Fortschritt bewirkte, dann aber durch Selection nur ganz allmählich weiter kam, oder wohl überhaupt nur das Erreichte fixirte. In den Jahren 1891—1892 überliess ich die Bestäubung den Insecten, im Sommer 1893 führte ich künstliche Befruchtung unter Ausschluss des Insectenbesuches ein. Einen wesentlichen Unterschied in dem Erfolge habe ich dabei nicht bemerkt. Die Bedeutung der freien Kreuzung durch Inseeten wird gewöhnlich sehr stark über- schätzt. Die Befruchtung der Nachtkerze geschieht vorwiegend durch Hummeln, doch betheiligten sich in meinem Garten daran Plusia Gamma, Agrotis segetum und verwandte Nachtfalter wohl stets, aber nur in untergeordneter Menge. Die Thierchen, namentlich die Hum- meln, pflegen nach einander die verschiedenen Blumen desselben Stengels zu besuchen, und hierdurch nimmt die Aussicht auf Selbst- befruchtung zu. Im Jahre 1892 habe ich die einzelnen Culturen in solche Ent- fernungen von einander gestellt, dazu noch durch Gebüsch getrennt, dass zwischen ihnen öftere Kreuzungen nicht wohl möglich waren. Die künstliche Befruchtung hat in diesen Versuchen den grossen Nachtheil, dass man seine Samenträger während der Blüthe, und somit lange Zeit vor der völligen Ausbildung der Früchte wählen muss; die Wahl ist somit keine so freie wie bei der Insectenbestäubung. Die jetzt folgende Beschreibung meiner Versuche soll mög- lichst kurz gehalten werden. Ich fange mit der langfrüchtigen Rasse an. Samenträger waren im Jahre 1892 zwei Pflanzen mit einer mitt- leren Fruchtlänge von 42-6 bezw. 43-0 mm. Samenträger im Jahre 1893 waren drei Pflanzen mit 37-0, 37-0 und 41-0 mm mittlerer _ Fruchtlänge. Im ersten Jahre gab es also einen wesentlichen Fort- schritt gegenüber der Fruchtlänge der ausgewählten Exemplare von 1891 (32-6 mm), im letzten Jahre aber einen kleinen Rückschritt, 390 Die Fruchtlänge von Oenothera Lamarckiana. welcher bedingt war durch die soeben betonte Nothwendigkeit, die Wahl schon vor der Fruchtreife zu treffen. Die Ernte wurde in beiden Jahren genau in derselben Weise behandelt und gemessen wie 1892. Es ergaben sich daraus die folgenden Anzahlen von Individuen für jede in der ersten Spalte ge- nannte mittlere Fruchtlänge: Langfrüchtige Rasse in den Jahren 1893 und 1894. | Mittlere | Anzahl der Exemplare Mittlere | Anzahl der Exemplare Fruchtlänge | Fruchtlänge Ri | 1893 | 1894 En 1893 1894 | 2 33 a 9 24 1 3 34 10 14 25 3 2 35 | 10 6 26 b) 2 36 | 6 5 27 7 9 37 5 3 28 | 6 8 38 2 1 29 | 15 i) 39 0 1 30 | 12 8 40 2 1 31 15 6 41 | 1 1 32 11 11 Summa | 125 101 Die aus dieser Tabelle berechneten Werthe von © und M stelle ich jetzt mit den entsprechenden Werthen der Vorfahren von 1891 und 1892 zusammen, und füge wiederum die Fruchtlänge der In- dividuen zu, welche den Samen zur Aussaat lieferten (S = Samen- träger). Es steht somit unter S in jeder Zeile die Fruchtlänge der im vorigen Herbst gewählten Samenträger; ihre Samen lieferten die in derselben Zeile genannte Ernte. S Qı M a Ernte von 1891 — 1-3 25-2 1-5 2071899 32-6 2.6 233-4 0094 En 189 42.6—43 0 2.3 31-4 2-6 1894 370.0 41:02 3200 are mr Die mittlere Fruchtlänge hat somit, trotz der sehr scharfen Zucht- wahl, in den beiden letzten Jahren nicht mehr zugenommen, sondern eher etwas abgenommen. Die durch kräftige Ernährung erreichte grössere mittlere Fruchtlänge liess sich somit, um im Sinne HALLET’s zu reden, durch Zuchtwahl zunächst nur ungefähr fixiren. Das Zusammenwirken zwischen Ernährung und Zuchtwahl. 391 Die Quartile haben sich gleichfalls seit 1892 ziemlich constant erhalten; die Curve ist der Hauptsache nach symmetrisch geblieben; die Variationsweite hat nicht wesentlich zu- oder abgenommen. Die Zunahme der mittleren Fruchtlänge durch die Ernährung war im Jahre 1892 ohne Regression vor sich gegangen; bei der Zucht- wahl war aber wieder eine starke Regression eingetreten, d. h. der Werth von M erreichte in den Jahren 1893 und 1894 bei Weitem nicht den entsprechenden Werth der gewählten Samenträger (8). Wir gelangen jetzt zu der Fortsetzung der kurzfrüchtigen Rasse in den beiden Jahren 1893—1894. Wie die langfrüchtige Cultur wurde auch diese noch während zweier Jahre fortgesetzt und zwar unter normaler Düngung und Aus- wahl der Samen sehr kurzfrüchtiger Individuen für die beiden Aus- saaten. In $ 3 wurde gezeigt, dass die kurzfrüchtigen Individuen in der Regel zu den schwachen, also zu den am wenigsten gut er- nährten gehören. Es wird somit durch diese Wahl der Einfluss der starken Düngung von 1891 so rasch wie möglich vermindert. Dem- entsprechend hat in diesen zwei Jahren die mittlere Fruchtlänge merklich abgenommen, während dagegen die Variationsweite erheblich grösser geworden ist. Der Umfang der Cultur war im Jahre 1893 vier, 1894 sechs Quadratmeter. Düngung mit Rinderguano und etwas Hornmehl wie sonst. Für die Aussaat im Jahre 1893 wurden zwei Pflanzen ge- wählt, deren mittlere Fruchtlänge 23-2 und 23-4 mm war. In diesem Jahre lieferten die kleinfrüchtigen Pflanzen, theilweise eben wegen der kleinen Früchte, theilweise in Folge der geringen Anzahl künst- lich befruchteter Blüthen, so wenig Samen, dass die ganze Ernte von sechs Individuen zur Aussaat erforderlich war (8-6 cem Samen). Die mittlere Fruchtlänge war für diese sechs Samenträger 15-6, 17-0, 18-2, 19-2, 20-2 und 21-4 mm. Im Mittel also 18-6 mm. Gegenüber der Fruchtlänge des 1891 gewählten Samenträgers (20-6 mm) bedeuten diese Zahlen also nur ein Schwanken ohne wesentlichen Fortschritt. Die Ernte wurde wiederum in der üblichen Weise behandelt; für jede Pflanze ist die mittlere Fruchtlänge aus der Gesammtlänge der fünf untersten guten Früchte in ganzen Millimetern berechnet worden; nachher sind die Individuen nach diesen Zahlen gruppirt. Es ergaben sich die folgenden Gruppen: 392 Die Fruchtlänge von Oenothera Lamarckiana. Kurzfrüchtige Rasse in den Jahren 1893 und 1894. Mittlere ' Anzahl der Exemplare Mittlere | Anzahl der Exemplare Fruchtlänge | Fruchtlänge | = I\ 1893 1894 ee en mm | mm | 16 | 1 ) 29 | 9 B 17 | 1 1 30 7 4 18 4 2 31 10 7 19 4 | 3 32 | 13 6 20 2 11 33 1 4 21 9 12 34 | 2 3 22 | 13 12 35 | 0 0 23 | 8 11 36 2 4 24 7 | 10 87 1 | 1 25 | 5 28 | 0 | 0 26 9 | 8 39 | | 0 27 1 4 Summa | 159 Te 28 9 2 | | Die aus dieser Tabelle berechneten Werthe stelle ich wiederum mit denen der Vorfahren und mit den jedes Jahr ausgewählten Samenträgern (5) zusammen. S Q M 02 Ernte von 1891 = 1-37 oo 89 20-6 2.5. 229.90, 06 0101898 23.0 23.4 0.3.9.1 096:50 1333 1394 15.691 a0 on oo Es ergiebt sich aus dieser Uebersicht, dass die mittlere Frucht- länge durch die dreimalige Zuchtwahl ungefähr ebensoviel verloren hat, als sie im Jahre 1892 durch die starke Düngung von 1891 ge- wonnen hatte. Regression fand, wie zu erwarten, in den beiden Versuchsjahren statt. Die Amplitude der Variation hat in diesem Versuche auffallend zugenommen; offenbar wird der Wechsel in den inneren und äusseren Bedingungen des Variirens durch die Wahl schwacher Individuen bei möglichst guter Cultur erheblich gesteigert. Mit anderen Worten: Es wirken hier Zuchtwahl und Cultur in ent- gegengesetztem Sinne, während sie bei der langfrüchtigen Rasse gleich- ae sinnig wirkten; deshalb nimmt hier die Variationsweite (0- 5 zu, dort aber nicht. Es sei mir gestattet, an diese Erfahrungen über @ noch zwei weitere Betrachtungen über Zuchtwahl bei continuirlicher Variation anzuknüpfen. Das Zusammenwirken zwischen Ernährung und Zuchtwahl. 393 Erstens findet sowohl die landwirthschaftliche wie die gärtnerische Zuchtwahl gewöhnlich unter mässiger Düngung statt, während die besten Erben im Allgemeinen unter den kräftigsten Individuen ge- funden werden. Sofern hier also zwischen Ernährung und Zuchtwahl ein ähnlicher, aber im umgekehrten Sinne wirkender Gegensatz vor- kommt, als wie in unserem Versuche, darf eine Zunahme der Variations- weite, also des Variirens, als Folge davon erwartet werden. Zweitens, wenn ich die Ernten meiner beiden Rassen im Jahre 1894 gemischt hätte, bezw. die Zahlen in den Tabellen auf S. 390 und 392 zusammenzähle und daraus Q,, M und @, für das Gemisch berechne, so erhalte ich (für 118 + 101 = 219 Individuen): St Q, M, Os; O= am 1894 5-0 28-6 3-8 4.4 Während Q für die kurzfrüchtige Rasse allein Zn —= 4-0 war. Es wird somit die durch den Gegensatz von Ernährung und Zucht- wahl gesteigerte Amplitude durch die Mischung der extremen Varianten in beiden Richtungen nur noch unbedeutend vergrössert. Mit anderen Worten, es wird Q (im vorliegenden Fall) weit mehr von den wech- selnden Ernährungsverhältnissen der einzelnen Individuen auf dem- selben Beete, als von einer Zuchtwahl nach zwei entgegengesetzten Richtungen vergrössert. Zusammenfassung. Ich stelle jetzt die in den obigen Ver- suchen gefundenen Werthe von Q,, M und Q, mit denen der Samen- träger übersichtlich alle in eine Tabelle zusammen. Die Zahlen bedeuten Millimeter, wie früher. Fruchtlänge von Oenothera Lamarckiana. Jahr S M Qı 2 Ursprüngliche Form, Hilversum 1893 — 1-9 24-1 2-0 Y Cultur 1891 — 193 22520, 1) Tangfüchtige Rasse 1892 32-6 2.6 33-4 2-4 „ „ 18938 42-6—43-.0 2-3 31-4 2-6 „ „ 1894 37:.0—41.0 3-2 31-6 2-4 Kurzfrüchtige Rasse 1892 20-6 2-5 29.9, 2.6 5 a 1893. 093.9. 93.4. 3.9, 26.5 3:8 5 t a N Als wichtigste Resultate dieser Züchtungsversuche, in Verbindung mit denen des nächsten azsbı (Fig. 116 D), betrachte ich die folgenden Sätze: 394 Die Fruchtlänge von Oenothera Lamarckiana. 1. Die Variation der Fruchtlänge folgt dem QUETELET- Garrox’schen Gesetze (Fig. 116 A—D). Jede Zahlenreihe (Curve) wird also von drei Werthen bestimmt. Es sind dies die Mediane, M, oder der mittlere Werth, und die beiden Quartile, ©, und @,, innerhalb deren für die Hälfte der Individuen die Abweichungen vom Mittel fallen. 2. Die mittlere Fruchtlänge wird sowohl durch Ernäh- rung wie durch Selection stark beeinflusst, und zwar durch einmalige starkeDüngung der Mutterpflanzen mehr als durch 1—3malige Selection langfrüchtiger Exemplare als Samen- träger (langfrüchtige Rasse 1591—1894). Am stärksten aber durch mehrjährige Keimtopfcultur und Zugabe von vielem Dünger in die Töpfe der Keimlinge (Keimtopfeultur ohne Zuchtwahl 1892—1894, 85). 3. Die Amplitude der Variation (2 — u nimmt nur unbedeutend zu, solange Ernährung und Selection in demselben Sinne wirken. Sobald diese aber in entgegen- sesetztem Sinne arbeiten, nimmt offenbar der Wechsel der Lebensbedingungen und damit die Variationsweite zu (kurz- früchtige Rasse 1891—1894). 4. Die Variationscurven bleiben, trotz der sehr bedeutenden Ver- schiebungen ihrer Gipfel, der Hauptsache nach symmetrisch (Q@, = Q,). Die Abweichungen fallen mit wenigen Ausnahmen innerhalb der un- vermeidlichen Beobachtungsfehler. “$ 5. Verschiebung von Variationscurven durch die Ernährung. Ein ganz erheblich rascheres und kräftigeres Wachsthum erhält man bei Oenothera Lamarekiana sowie bei anderen Pflanzen, wenn man die Samen in Samenschüsseln aussät und die jungen Keimlinge bald nach der Entfaltung der Cotylen einzeln in nicht zu kleine Töpfe mit sehr stark gedüngster Gartenerde auspflanzt. Setzt man diese Uulturperiode während einiger Generationen fort, so muss sich, kraft des Princips der Ernährung der Mutterpflanzen, die mittlere Frucht- länge auch ohne Zuchtwahl erheblich steigern lassen. Der jetzt zu beschreibende Versuch bestätigt diese Erwartung; die in drei Jahren (1592—1S94) erreichte Zunahme übertrifft bei Weitem das in den beschriebenen Selectionsversuchen erhaltene Er- gebniss bei der Aussaat im Garten (Fig. 116). Geben wir zunächst eine Beschreibung des Versuches in den einzelnen Jahren. Er fing im Frühjahr 1892 an und zwar mit Samen Verschiebung von Variationscurven durch die Ernährung. 395 der in meinem Versuchsgarten im Jahre 1889 entstandenen Art, Oenothera rubrinervis (S. 192), deren Fruchtlänge dieselbe ist wie bei der Oenothera Lamarckiana (Fig. 99 S. 320). Im Jahre 1890 waren die Samen ohne Rücksicht auf die Frucht- länge von einer Anzahl Individuen durch einander geerntet; 1891 waren die Individuen mit kurzen Früchten aber vor der Samenreife ausgerodet worden. Der Same der übrigen wurde gemischt und in hölzerne Schalen ausgesät, und zwar im Februar im Gewächshaus meines Laboratoriums. Sobald die Cotylen völlig entfaltet waren, wurden eine Anzahl, ohne Rücksicht auf etwaige (in diesem Grade der Entwickelung auch kaum noch wahrnehmbare) Differenzen in der Entwickelung, einzeln in Töpfe von 9—10 cm Durchmesser ausge- pflanzt. Die Erde war eine gute Blatterde, der auf das Liter 10 g trockener und gemahlener Rinderguano und 10 g gedämpftes Horn- mehl zugesetzt war, eine sehr starke Düngung, welche ich auch zur Förderung von Zwangsdrehungen, Fasciationen und anderweitigen Bildungsabweichungen bei anderen Arten mit dem besten Erfolge ver- wandte. Die jungen Pflänzchen wurden anfangs unter Glas gehalten, bis die Rosetten sehr stark waren und anfingen Stengel zu treiben. Ende Mai wurden sie auf ein Beet meines Versuchsgartens, weit von den übrigen Culturen entfernt, ausgepflanzt. Wie diese, wurden die Pflanzen der sämmtlichen Seitenzweige beraubt; sie blühten nur am Hauptstengel. Der frühen Aussaat und dem beschleunigten anfänglichen Wachs- thum zufolge, blühte diese Cultur um einige Wochen früher als die übrigen; ebenso reifte sie ihre Früchte bedeutend früher. Ich hatte im Ganzen 22 Exemplare, deren Samen getrennt geerntet wurden. Darunter wählte ich, nachdem die Ernte längst abgelaufen und die Früchte selbst nicht mehr aufbewahrt waren, fünf für die Aussaat des nächsten Jahres aus. Also ohne Rücksicht auf die Fruchtlänge, welche auch nicht gemessen worden war. Im nächsten Jahre (1893) fand die Aussaat Mitte März genau in derselben Weise statt wie oben beschrieben; die Keimlinge wurden gleich nach dem völligen Entfalten der Cotylen in dieselbe Erd- mischung wie 1892 ausgepflanzt und auch fernerhin so behandelt. Gegen Ende September hatte ich 69 Exemplare mit reifen Früchten. Ihre Fruchtlänge wurde in der üblichen Weise an den fünf untersten guten Früchten gemessen, die gefundenen Zahlen sind in der Tabelle in der Spalte 1893 angegeben. 1 Eine Methode, Zwangsdrehungen aufzusuchen; Ber. d. d. bot. Gesellschaft. Bd. XII. 1894. S. 25. 396 Die Fruchtlänge von Oenothera Lamarckiana. Es galt nun im nächsten Jahre eine Aussaat zu machen ohne Rücksicht auf die Fruchtlänge. Ich säte den Samen von neun Pflanzen aus, deren mittlere Fruchtlänge 24-2, 26-2, 26-8, 27-0, 27-4, 29-0, 32-4, 34-6, 35-2 mm betrug. Im Mittel aiso 28-1 mm, welcher Werth unterhalb der Mediane für die ganze 1893er Ernte liegt (vergl. unten), während nur die zwei letzten Werthe oberhalb des oberen Quartils liegen. Aussaat, Auspflanzen, Düngung und Qultur waren 1894 dieselben, wie in den beiden vorigen Jahren. Ich hatte bei der Ernte 88 frucht- reife Pflanzen, und zwar von jeder Mutterpflanze 7—19 Exemplare, mit Ausnahme der drei Muttern mit den längsten Früchten, welche nur 4, 5 und 6 Exemplare lieferten, wodurch ihr Einfluss auf die Curve wesentlich vermindert wurde. Die Messung der mittleren Frucht- längen geschah wiederum in der früheren Weise. Ich fasse jetzt die gefundenen Anzahlen von Individuen in den einzelnen Gruppen mit gleicher Fruchtlänge in die folgende Tabelle zusammen. Keimtopfeultur von Oenothera rubrinervis. Mittlere | Anzahl der Exemplare Mittlere | Anzahl der Exemplare Fruchtlänge | Fruchtlänge 1808 1894 |< 1898 | desr mm | A mm | 24 | 2 0 35 7 5 25 2 0 36 i 4 26 2 (0) 37 0 10 27 4 0 38 0 10 28 B) 1 39 0 16 29 5 1l 40 0 UV 30 a 1 41 | 0 9 31 100 8 42 | 0 7 32 15 2 43 0 1 3 T 5 44 0 | 4 34 2 2 Summa 69 | 88 Hieraus berechnen sich die folgenden Werthe für Q,, M und Q,: Keimtopfeultur: Jahr Q, M Os Min. Max. 2. Generation SS Pole oe 24 36 3). % 1894 2-5 38-3 2-2 28 44 Die mittlere Fruchtlänge hat also bedeutend zugenommen, was auch bei der Betrachtung der Curve D in Fig. 116 sofort auffällt, vergleicht, was wohl gestattet ist, da ja beide Arten unter gleichen Umständen dieselbe Länge der Früchte aufweisen. Die höchste für sie erhaltene Ziffer in den Versuchen mit O. Lamarckiana war 33-4mm, was durch Düngung der Mutterpflanzen bei Gartenaussaat und Selection des langfrüchtigsten Individuums als Samenträger er- reicht war. Diese gewaltige Zunahme gilt nicht nur für das Mittel, sondern so gut wie für sämmtliche Individuen. Denn die Amplitude der Variation (@,, @,) hat nicht wesentlich zugenommen, ist sogar etwas geringer als in den Versuchen mit Selection. Dementsprechend sind Minimum und Maximum der Fruchtlänge in auffälliger Weise in dem- selben Grade verschoben: kleine Früchte fehlen der dreijährigen Keimtopfeultur, während ihre längsten Früchte bedeutend an Länge sewonnen haben. II. Die Strahleneurven der Compositen und Umbelliferen. $ 6. Aufhebung der Selectionswirkung durch die Ernährung. Es gilt jetzt zu untersuchen, ob die für die Fruchtlänge von Oenothera Lamarckiana gefundenen Resultate auch für andere Arten und andere Eigenschaften gültig sind. Dabei beschränke ich mich auf einen einzigen Fall und wähle den Gegensatz von Ernährung und Selection, wie er auch in der Zucht der kurzfrüchtigen Oenothera- Rasse vorliest. Die Wirkung der Selection ist im Allgemeinen be- kannt; es kann also aus dem Versuchsresultat ohne Weiteres abgeleitet werden, wie sich die entgegengesetzten Wirkungen von Selection und Ernährung verhielten. Es handelt sich somit um eine Selection nach der Minus-Richtung, und um die Frage, wie sich eine Eigenschaft verhalten wird, wenn man sie durch Selection zu verringern, aber gleichzeitig durch Ernährung zu verbessern sucht. Um die Bedeutung dieser Fragestellung klarer zu machen, schicke ich gleich das Ergebniss dieses und der beiden folgenden Paragraphen hier zusammenfassend voraus. Sie lehren, dass unter den gewählten Versuchsbedingungen der Einfluss der Ernährung den der Selection bis- weilen überwog, bei Anethum graveolens ($ 6), dass in anderen Fällen beide Einflüsse sich nahezu das Gleichgewicht hielten, bei Chrysanthe- mum segetum, Coreopsis tincioria und Bidens grandiflora ($ T), und dass 898 Die Strahlencurven der Compositen und Umbelliferen. schliesslich bei Coriandrum sativum und Madia elegans die Selection deutlich einen grösseren Einfluss hatte ($ 8). Man sieht daraus, dass in solchen Versuchen Selection und Ernährung Factoren gleicher Ordnung sind, dass also, bei Züchtungsversuchen über einen einzelnen dieser Factoren, möglichst völlige Constanz des anderen die erste, allerdings oft schwierig zu erfüllende Bedingung ist. Als Eigenschaften, deren Variation zu studiren war, wählte ich die Anzahl der Strahlen des Schirmes bei Anethum und Ooriandrum, die Anzahl der Strahlenblüthen des Köpfchens bei Chrysanthemum, Coreopsis, Bidens und Madia. Diese Zahlen variiren ziemlich bedeutend und folgen dabei in klarer Weise dem von QUETELET aufgestellten Gesetze,! wie auch bei einem Blicke auf unsere Figuren sofort er- sichtlich ist. Die Ermittelung der Curven und die Wahl der Samen- träger fanden in der Weise statt, dass die Zahl der Strahlen des Endschirmes bezw. des Endköpfchens des Hauptstammes als Maass für das betreffende Individuum galten; auf die Seitenschirme und zweigständigen Köpfchen wurde für die Curven gar nicht Acht gegeben; für die Wahl der Samenträger nur insoweit, dass, unter einer grösseren Zahl von nach ersterem Merkmal ausgewählten, diejenigen so bald wie möglich ausgerodet wurden, welche in den secundären und tertiären Schirmen oder Köpfchen keinen entsprechenden Vorsprung zeigten. Die Versuche fingen im Frühling 1892 an. Zur Aussaat wurde der Samen theils von Handelsgärtnern bezogen, theils aus verschiede- nen botanischen Gärten erhalten (Ohrysanthemum). Solcher Samen stammt also aus mässig gedüngten Öulturen, er wurde bei mir auf gut, wenn auch nicht übermässig gedüngte Gartenerde im Freien ausgesät. Während der drei Versuchsjahre blieben Düngung und Behandlung sich gleich. Die Düngung aber war dieselbe, welche in den nämlichen Jahren auch den Oenotheren gegeben wurde, also !/, Kilo getrockneten Rinderguanos nebst !/, Kilo gedämpften Hornmehles pro Quadratmeter. Diese Mischung wurde stets wenige Tage vor der Aus- saat möglichst gleichmässig ausgestreut und gut untergegraben. Die viel stärkere Hornmehldüngung, welche ich 1891 den Oenotheren ge- geben hatte, hielt ich bei diesen Versuchen für überflüssig. Diese, während der drei Versuchsjahre constante kräftige Er- nährung musste also einen steten Fortschritt des M., die Selection einen steten Rückschritt desselben Werthes erwarten lassen. Als Samenträger wählte ich die Individuen mit der geringsten ! Berichte d. d. bot. Gesellschaft. Bd. XII. 1894. S. 200 (Coreopsis und Anethum). 2 Aufhebung der Selectionswirkung durch die Ernährung. 399 Strahlenzahl im primären Schirm oder Köpfchen. Bei den Umbelli- feren konnte dieses vor der Blüthe ermittelt werden, und indem alle übrigen Exemplare ausgerodet wurden, bevor die gewählten Samen- träger zu blühen anfingen, konnte ich eine Kreuzung verhüten. Die Compositen fingen auf demselben Beete nur nach und nach an zu blühen; jede Pflanze wurde notirt, sobald sie ihre Ziffer zu er- mitteln gestattete, und ausgerodet, falls diese sie nicht zum Samen- träger wählen lies. Es wurde dadurch die Kreuzung so viel wie möglich vermindert; wo irgend möglich wurden sonst die Samenträger, nach Ablauf der Selection, gänzlich ihrer blühenden und verblühten Köpfchen beraubt, um nur rein befruchteten Samen zur Aussaat zu erhalten. Vielfache Krankheiten und Gefahren drohen solchen Cul- turen und lassen nur zu oft sämmtliche ausgewählte Samenträger nach dem Ausroden der übrigen Pflanzen und vor der Fruchtreife verloren gehen. So z. B. bei Coriandrum sativum im Jahre 1894, wo mir dadurch die beabsichtigte Fortsetzung des Versuches unmöglich gemacht wurde. Dieser Umstand zwang mich, stets eine grössere Reihe von Samenträgern zu sparen, als sonst erforderlich wäre. Sie können einander also gelegentlich befruchten. Aus ihnen wählte ich nach der Ernte die besten in solcher Anzahl aus, dass ich gerade Samen genug erhielt für die nächste Aussaat. Nach dieser Uebersicht der Versuchsanstellung schreiten wir jetzt zu der Beschreibung unserer Selection bei dem Dill (Anethum graveolens, Fig. 117). Zu diesem wurden Samen aus dem Handel bezogen und 1892 im Umfange von 1 Quadratmeter ausgesät. Die Anzahl der Exemplare bei der Ernte war 56. Die Zahl der Strahlen des Endschirmes wechselt zwischen 12—38 und ist im Allgemeinen um so geringer, je schwächer das Individuum ist. Sechs Pflanzen mit je 12—16 Strahlen im Endschirm wurden als Samenträger ausgewählt und ihre Samen 1893 auf einer Fläche im Umfang von 8 Quadratmetern aus- gesät. Die Anzahl der Exemplare bei der Auswahl war jetzt 541, dementsprechend liegen Minimum und Maximum etwas weiter aus einander wie im vorigen Jahre (9—43). Ausgewählt wurden fünf Samenträger mit 10—13 Strahlen im Endschirm, also ein Fortschritt in der Minus-Richtung gegenüber 1892. Im Jahre 1894 war der Umfang 6 Quadratmeter, und die Anzahl der Exemplare bei der Auswahl 162. Die folgende Tabelle enthält für jede der drei Ernten die An- zahl der Individuen, deren Endschirm die in der ersten Spalte an- gegebene Strahlenzahl hatte. 400 Die Strahlencurven der Compositen und Umbelliferen. Anethum graveolens. Anzahl , Anzahl der Exemplare Anzahl | Anzahl der Exemplare der | der | Strahlen | 1892 | 1898 | 1894 | Strahlen | 1892 | 1893 | 1894 9 0 4 0 26 ea: 15 10 0 4 0 27 10 25 10 in 0 4 0 DB | 12 7 12 1 6 1 Zoe 11 5 a 18 3 3050| 707 a 8 14 220 15 1 N Ne 6 Kon | 85 23 5 a tn. S 6 16 ar 29 4 33 ) 4 4 1% 1 re 26 3 34 1 7 3 18 12 42 9 35 ) 5 5 19 6 32 6 36 0 4 1 20 3 a0 6 37 0 1 4 21 1 sa, il 38 1 0 0 22 5 43 10 39 ) 2 4 Ba 44 9 40 l) 0 0 24 0.3 7 41 a il 0 er ©) 220 0 1 0 | 43 0 1 ) | Aus dieser Tabelle ergiebt sich: Jahr Samenträger 0 ger Q, M [@R nn 1892 en 125 8.3 3.6 0-14 1893 12 16 3021 3-5 0-17 1394 1013 44 0-18 Zunahme 1892—1893 +2-1 +29 —0-1 u isgs 1894 +0.9 +40 +0-9 Daraus ersieht man: Trotzdem in beiden Jahren als Samenträger Pflanzen ausgewählt wurden mit bedeutend geringerer Strahlenzahl, als das Mittel des entsprechenden Jahrganges, nahm die mittlere Strahlenzahl doch während des Versuches merklich zu. Die bessere Düngung hatte also grösseren Einfluss als die Selection schwacher Exem- plare. Die Variationsweite nahm gleichfalls zu, was mit dem Er- gebnisse der kurzfrüchtigen Rasse von Oenothera Lamarckiana überein- stimmt. Ew ı - = Gleichgewicht zwischen Ernährung und Zuchtwahl. 401 Der Werth = gestattet die Variationsweite mit derjenigen der Fruchtlänge von Oenothera Lamarckiana zu vergleichen, wo wir ihn — 0:08 fanden (S. 379). Die Anzahl der Schirmstrahlen ist hier also nach diesem Maassstabe doppelt so variabel, wie die Fruchtlänge von Oenothera. Die jm Jahre 1892 asymmetrische Curve (0, > Q,) ist in den beiden folgenden Jahren symmetrisch geworden, wie man auch durch die Vergleichung der Curven A (1892) und B (1893) in Fig. 117 deutlich erkennt. EE Ar & ' | aß SIETION TREE TEEN IE 2022ER ZEITZONE SET EEE ZEN 407 22 Fig. 117. Anethum graveolens. Curven der Strahlen des Endschirmes. Die Zahlen unter der Abseisse bedeuten die Anzahlen der Strahlen des primären Schirmes. Der S. 377 erörterten Regel gemäss ist die Anzahl der Ordinaten halb so gross genommen, wie die Anzahl der Gruppen in der Tabelle. Es bedeutet somit 8: acht oder neun Strahlen, u. s. w. A (56 Ex.) Curve von 1892, unregelmässig wegen der kleinen Anzahl der Individuen. Curve asymmetrisch, nach Rechts stark ausgezogen. B (518 Ex.) Curve der folgenden Generation, 1393. Durch Zuchtwahl und Ernährung ist die Curve jetzt nahezu symmetrisch geworden. $ 7. Gleichgewicht zwischen Ernährung und Zuchtwahl. Die Versuche wurden mit Chrysanthemum segetum (Fig. 118), Coreopsis tinctoria und Bidens grandiflora (Fig. 119) ausgeführt. Von der ersteren erhielt ich durch den Samenaustausch der botanischen Gärten eine gewisse Anzahl von Packetchen verschiedenen Ursprunges, deren Inhalt bei der Aussaat durch einander gemischt wurde. Dieser verschiedene Ursprung zeigte sich deutlich beim Zählen der Zungen- blüthen, denn die erhaltene Zahlenreihe (Curve) war nicht homogen, wie gewöhnlich, sondern zweigipfelig (Fig. 1184). Der eine Gipfel lag bei 13—14 Zungenblüthen, der andere bei 21, Es waren hier also offenbar zwei verschiedene Rassen durch einander gemischt. ! 1 Eine zweigipfelige Variationscurre, Roux’ Archiv für Entwickelungs- mechanik. II. Band. 1895. 8.52. Vergl. auch den vierten Abschnitt. DE VRIEs, Mutation. I. 26 402 Die Strahlencurven der Oompositen und Umbelliferen. Diese Auffassung bestätigte sich im nächsten Jahre (1893), als in Folge der Auswahl von Samenträgern aus der einen vermutheten Rasse (13 blüthige Exemplare) jede Spur des zweiten Gipfels ver- schwunden war (Fig. 118 B). Auch 1894 zeigte sich der zweite Gipfel nicht wieder. Zweigipfelige Curven kommen auch beim Menschen vor und werden hier als die Folgen unvollständiger Verschmelzung von wäh- rend vieler Jahrhunderte gemischten Typen betrachtet.! Ferner wurden solche Curven von BArtzEson?® und von WELDoN? bei ihren wichtigen Ermittelungen von Variabilitätscurven bei verschiedenen Thieren (Forficula, Careinus, Xylotrupes u.s. w.), und bei Pflanzen nament- lich von Lupwıs wiederholt beobachtet. Auf die hohe Bedeutung solcher Fälle für die Lehre von der Variabilität hat dann BArkson in seinem Werke über discontinuirliche Variation hingewiesen,* wo auch die Curven der betreffenden Fälle dargestellt sind. Die zwei- gipfeligen Curven werden als Fälle von Dimorphismus den gewöhn- lichen monomorphen Öurven gegenübergestellt. Die Zweigipfeligkeit der Curven kann durch die verschiedensten Ursachen bedingt werden. So hat GIArD z. B. die merkwürdige Ent- deckung gemacht, dass ein solcher Dimorphismus auftreten kann, wenn ein Theil der Individuen eines Fundortes von Parasiten heimgesucht wird. So weichen z. B. die von Sacculina carcini oder von Portunion moenadis befallenen Exemplare von Carcinus moenas weit von den normalen ab.° Es sind aber die zweigipfeligen Curven bei Pflanzen viel besser einer experimentellen Behandlung fähig als bei Thieren, oder gar beim Menschen. @ehen wir jetzt zu der Beschreibung des Versuches mit Chry- santhemum segetum über. Dieser hatte im Jahre 1892 einen Umfang von 2 Quadratmetern. Die Anzahl der Individuen betrug bei der Auswahl 97. Für die Ermittelung der Curve diente nur ein Köpfchen auf jedem Individuum, und zwar das sogenannte primäre, auf dem Hauptstamme entständige. Alle Individuen, deren Endköpfchen 14 oder mehr Zungenblüthen hatten, wurden sofort gerodet; gespart wurden 14 mit je dreizehn und eins mit zwölf Strahlblüthen. Orro Aunon, Die natürliche Auslese beim Menschen. 1893. Bareson, Proceed. Zool. Soc. London. 1892. S. 585. Weroon, 1. c. W. Barzson, Materials for the study of variation. London. 1894. S. 39—41. Comptes rendus. T. CXVIlI. 1894. Nr. 16 (16. April). S. 870. EEE De Gleichgewicht zwischen Ernährung und Zuchtwahl. 403 Im Jahre 1593 wurden dann die Samen der genannten 15 Pflanzen auf S Quadratmeter ausgesät; sie lieferten 162 Exemplare. Bei der Wahl wurde alles ausgerodet mit Ausnahme von zwölf Pflanzen, deren Endköpfehen 11—12 Strahlenblüthen hatten. Also ein Fortschritt in den Samenträgern, im negativen Sinne, verglichen mit dem vorigen Jahre. Im dritten Jahre, 1894, war der Umfang 6 Quadratmeter und rührten die Samen von drei Exemplaren von 1893 her, welche je 12 Strahlenblüthen im Endköpfchen, und in den späteren Köpfchen fast nur 13 Strahlen hatten. Die Anzahl der Exemplare war bei der Auswahl 338. Während dieser drei Jahre nahm sowohl die Keimkraft, als auch die individuelle Kraft der ganzen Cultur bedeutend zu. Im ersten Jahre hatte ich eine normale Individuenzahl pro Quadratmeter nur durch überstarke Aussaat erhalten; im folgenden war die Aussaat weniger stark und die Ernte entsprechend gering; im Jahre 1894 war die Aussaat reicher, es mussten aber sehr viele Keimpflanzen ausgerodet werden. Ich fasse das Resultat meiner Zählungen in die folgende Tabelle zusammen (Fig. 118). Chrysanthemum segelum. Anzahl | Anzahl der Exemplare Anzahl Anzahl der Exemplare der | der Zungenblüthen | 1892 | 1893 | 1894 | Zungenblüthen || 1892 | 1893 | 1894 8 0 2 0 16 I 6 7 5 9 0 1 1 17 I A) 1 4 10 50 0 3 18 MT 2 3 11 190 7 8 19 | 10 0 1 12 Kae 13 31 20 | 12 3 2 13 Im 9221 21 | 20 0 1 14 13 25 50 22 In ei 0 0 15 A 7 8 | Die Curve von 1892 war somit zweigipfelig, die von 1893 und 1894 waren monomorph. Für diese beide berechnen sich: Jahr Samenträger ©, M Os . 1893 1215 0.4 13-1 0-6 0-04 1894 12 0-4 13-1 0-4 0-03 Zunahme — 0-0 0-0 —0-2 26* 404 Die Strahlencurven der ED umd ER PIETER: Die Sem hat nn DE im Mittel, noch in der an weite eine weitere Veränderung bewirken können. Sie hat einfach das Erreichte in gleicher Höhe gehalten. Wir kommen jetzt zu Ooreopsis tinctoria (Fig. 119 0). Die Köpf- chen dieser schönen Composite tragen in der Regel acht Zungen- set \ | I | & 02.2102 9129217:59:16, 18115202422 2 3 Ze 6 7 8 OT O2, Fig.118. Ohrysanthemum segetum. Curven Fig. 119. A Coriandrum sativum (334 Ex.). der Zungenblüthen auf den Endköpfchen. Curve von 1894. Die Zahlen unter der Ab- Unter der Abseisse dieZahl dieserBlüthen. scisse bedeuten die Anzahl der Strahlen des Die Anzahl der Ordinaten ist auf dieHälfte primären Schirmes. Höhe der Ofdinaten: redueirt; 8 bedeutet somit: 7—8S Zungen- lmm = 1°/, der Individuen. blüthen u. s. w. (Höhe: Imm=1°))). B Bidens grandiflora (152 Ex.). Curve von 4 (97 Ex.). Zweigipfelige Curve aus einer 1894, Die Zahlen unter der Abscisse be- gemischten Saat, 1892. deuten für die Curven B und C die Anzahl B (162 Ex.). Durch Auswahl von Indivi- der Zungenblüthen der primären Köpfchen. duen, welche der Gruppe mit 13—14 Höhe wie bei 4. Zungenblüthen angehören, für die Aus- C Coreopsis tinctoria (495 Ex.). Curve von saat, ist die Curve der nächsten Generation 1893. eineipfelig geworden, 1893. — Die Curve von 1894 fiel nahezu mit dieser zusammen. blüthen. Doch varlirt diese Zahl sowohl auf demselben Individuum, als auf verschiedenen Exemplaren. Ich bezog im Winter 1891/92 meine Samen von VILMORIN-ANDRIEUX & Cie. in Paris und versuchte die mittlere Zahl durch Düngung zu vergrössern und gleichzeitig durch Selection zu verringern. Das Resultat war, dass sie sich nahezu Ber. Gleichgewicht zwischen Ernährung und Zuchtwahl. 405 unverändert auf acht erhielt, dass somit die Wirkungen der beiden entgegengesetzten Factoren einander aufhoben. Der Umfang meiner Cultur betrug in den drei Jahren 1892 bis 1894 etwa 1, 5 und 6 Quadratmeter. Im ersten Jahre habe ich keine Curve bestimmt; weitaus die meisten Exemplare hatten acht Zungenblüthen, einzelne deren 9—10, sehr vereinzelte sogar 11—13. Diese wurden alle ausgerodet; gespart wurden nur einige Individuen, deren meiste Köpfchen je sieben Zungenblüthen hatten. Im Jahre 1893 hatte ich 495 Exemplare; alle diejenigen, welche im Endköpfehen acht oder mehr Zungenblüthen hatten, wurden, so- bald solches kenntlich war, notirt und ausgerodet. Es blieben etwa 60 Exemplare übrig, mit 5, 6 und 7 Zungenblüthen. Unter diesen wurden fernerhin diejenigen ausgewählt, deren secundäre und tertiäre Zweige am reichsten an 5—7 strahligen Köpfchen waren. Sie wurden sofort nach dem Ausroden der übrigen von sämmtlichen blühenden und verblühten Köpfchen beraubt, damit die Samenernte nachher nur von rein befruchteten Blüthen stammen würde. Unter diesen zwölf Exemplaren wählte ich bei der Samenernte die vier kräftigsten und samenreichsten für die Aussaat des nächsten Jahres aus; sie hatten 5, 5, 6 und 7 Zungenkblüthen im Endköpfchen gehabt und waren auch sonst am reichsten an wenigstrahligen Inflorescenzen. Aus ihren . Samen hatte ich 1894 im Ganzen 256 blühreife Pflanzen, für welche ich die Curve der Endköpfchen wiederum in derselben Weise be- stimmte. Ich fasse jetzt die erhaltenen Zahlen in der Tabelle auf S. 406 zusammen (Fig. 119 0). Der dritte Versuch wurde mit Bidens grandiflora angestellt (Fig. 119 B). Bei dieser Art sind die Köpfchen regelmässig fünf- strahlig, doch auch hier ist diese Zahl wechselnd, und zwar innerhalb ähnlicher Grenzen wie bei Coreopsis. In den Blüthen der Dicotylen ist die Fünfzahl sonst auffallend wenig veränderlich, vielleicht in sehr zahlreichen Einzelfällen gar nicht fluctuirend variabel. Es erhebt sich also die Frage, weshalb dieselbe Zahl hier so sehr unbeständig ist. Diese Frage, deren Be- antwortung für die Variabilitätslehre offenbar sehr wichtige Auf- schlüsse verspricht, ist aber bis jetzt noch nicht in Angriff genommen worden. ! ! Es handelt sich somit um die Frage, ob eyclische Anordnung die Variabili- tät der Anzahl der betreffenden Organe vermindert, und weshalb. 406 Die Strahleneurven der Compositen und Umbelliferen. Coreopsis tinctoria. Anzahl | Anzahl der Exemplare Anzahl | Anzahl der Exemplare der der | Zungenblüthen 1898 | 1894 |[Zungenblüthen, 18938 | 1894 1 0 2 8 | 311 191 2 0 0 9 | ee 14 3 ' 1 1 10 28 5 4 | 0 3 11 | 12 2 5 | 2 5 12 3 0 6 | 13 10 13 0 0 7 | 49 53 | Hieraus berechnet sich: Jahr Samenträger Q, M Q; m 1593 7 0-4 s-.1 0-3 0-04 1894 5,5,16.undaz 0-5 7-9 0-3 0-05 Zunahme 0-1 —0.2 0.0 Ich bezog meine Samen im Winter 1891/92 von HaAcz und Schamipr in Erfurt, besäte 1892 einen Quadratmeter und wählte als Samenträger einige Exemplare, auf denen ich drei und vierstrahlige Köpfchen gesehen hatte. Im Jahre 1893 besäte ich acht Quadratmeter mit ihrem Samen und hatte 557 blühreife Exemplare, für deren Endköpfchen ich die Curve der Anzahl der Zungenblüthen ermittelte. Als Samen- träger wählte ich eine Reihe von Exemplaren mit vierstrahligem Endköpfehen und darunter 'bei der Samenreife jene drei aus, welche auch in den sonstigen Köpfchen die kleinsten Ziffern aufgewiesen hatten. Aus ihrem Samen hatte ich 1594 sechs Quadratmeter mit 152 blühreifen Individuen, deren Endköpfchen wiederum für die Curve dienten. Ich fand in diesen beiden Jahren die in der Tabelle auf S. 407 angegebenen Zahlen. Also auch hier, wie bei Chrysanthemum und Coreopsis, kein merk- licher Einfluss auf die Curve, während Düngung und Selection im entgegengesetzten Sinne wirken. Aufhebung des Einflusses der Ernährung durch die Auslese. 407 Bidens grandiflor.a. Anzahl | Anzahl der Exemplare Anzahl Anzahl der Exemplare der | der Zungenblüthen 1893 1894 Zungenblüthen| 1893 1894 ! 2 1 2 7 40 2 3 | 10 .8 $) 1 4 | sl 16 B) 1l 0 b) 355 117 10 0) 6 113 6 Summa 557 152 Hieraus berechnet sich: Jahr Samenträger ©, M Q; ro 1893 4 0-4 5.2 0-5 0-09 1894 4 0-3 4.9 0-4 0-07 Zunahme -0-.1 -0.3 -—0-1 $ 8. Aufhebung des Einflusses der Ernährung durch die Auslese. Die Versuche wurden theils mit Coriandrum sativum, dem ge- meinen Coriander, theils mit Madia elegans, einer der Oelmadie (Madia sativa) verwandten Pflanze, angestellt. Die Samen der ersteren waren von VILMORIN- ANDRIEUX & ie. in Paris bezogen und wurden 1892 auf einem Beet von einem Quadrat- meter ausgesät. Bei der Auswahl betrug die Anzahl der Pflanzen 45; weitaus die meisten hatten fünf Strahlen im primären Schirm, einige sechs, sehr einzelne 7—S, keine einzige mehr. Zwei Pflanzen hatten vierstrahlige Endschirme, eine von ihnen war auch an den meisten übrigen Schirmen vierstrahlig.. Nur von diesen letzteren wurden Samen geerntet. Eine Öurve wurde nicht ermittelt. Im nächsten Jahre, 1893, war der Umfang der Cultur zwei Quadratmeter und die Anzahl der Individuen bei der Wahl 52. Von diesen waren die meisten wiederum im Endschirm fünfstrahlig. Als Samenträger wurden die Pflanzen gewählt, deren eine dreistrahlig, die beiden anderen vierstrahlig im Endschirm waren. Der Samen der drei obigen Pflanzen wurde 1894 getrennt aus- gesät, je auf zwei Quadratmeter. Die Anzahl der Individuen bei der Wahl war jetzt 334, darunter zwei mit zweistrahligem Endschirm, was also den beiden vorigen Jahren gegenüber einen Fortschritt im negativen Sinne bedeutet, welcher aber wenigstens theilweise der 408 Die Strahlencurven der Compositen und Umbelliferen. grösseren Individuenzahl zuzuschreiben ist. Die Ernte fand auf den drei Beeten getrennt statt, ist aber in der Tabelle einheitlich an- gegeben. Wichtig scheint es mir aber mitzutheilen, dass die Kinder der dreistrahligen Mutter im Mittel eine grössere Strahlenzahl auf- wiesen, als die von einer der beiden vierstrahligen Mütter. Das Merkmal der Mutter ist also nur ein unvollständiges Maass für den Werth der Kinder. Ooriandrum sativum (Fig. 119 A). Strahlen Anzahl der Individuen im u Endschirm | 1893 | 1894 2 | 0 2 3 | 1 3 4 8 146 5 | 30 | 133 6 | 12 10 U 1 0 Summa 52 334 Hieraus ergiebt sich: Jahr Samenträger [OR M 98 nn 1393 4 025 5-1 0.4 0-09 1894 3, 4 und 4 0-5 4-5 0-6 0-13 Zunahme 0-0 —0:.8 +0-.2 Es ist somit, trotz der starken Düngung, durch die Selection gelungen, die Anzahl der Schirmstrahlen um nahezu eine ganze Einheit herabzusetzen. Die Variationsweite - liest zwischen den entsprechenden Werthen für Oenothera (0-08) und Anethum (0-16). Wir kommen jetzt zu der zweiten Versuchsreihe, welche mit Madia elegans angestellt wurde. Diese Art empfiehlt sich zu Selectionsversuchen aus vielen Grün- den besser als Bidens und Coreopsis.. Einerseits ist das Wachsthum ein viel gleichmässigeres, namentlich in der Jugend; zweitens ist die Zahl der Zungenblüthen eine erheblich grössere und drittens, was wohl am wichtigsten ist, ist hier die partielle Variabilität bedeutend geringer. Das heisst, dass die einzelnen Inflorescenzen auf derselben Pflanze in der Zahl ihrer Zungenblüthen nur wenig von einander Aufhebung des Einflusses der Ernährung durch die Auslese. 409 abweichen (wenigstens in meiner Rasse), wodurch die Ziffer des End- köpfchens mit grösserer Sicherheit als individuelles Merkmal für die Pflanze betrachtet werden kann. Die Samen bezog ich von HaaGE und ScHumipr in Erfurt. 1892 säte ich sie auf einen Quadratmeter aus und hatte etwa 60 blühreife Pflanzen. ‚Im Endköpfchen hatten die meisten Individuen 21 Zungen- blüthen, viele hatten deren 20 oder 22, einzelne 23—25. Diese wurden alle ausgerodet. Es erübristen 6 Exemplare mit 16 —19 Strahlenblüthen im Endköpfchen, deren Samen im Herbst geerntet wurden. 1893 hatte ich acht Quadratmeter, welche mir 411 blühreife Pflanzen lieferten, für deren Endköpfehen ich die Curve der Zungen- blüthen bestimmte. Es wurden S Exemplare als Samenträger aus- gewählt (mit 13—15 Zungenblüthen im Endköpfchen). Für die Aussaat von 1894 wählte ich unter diesen die drei besten, mit 13strahligen Endköpfehen aus, säte deren Samen auf sechs Quadratmeter und hatte, da mir ein Theil durch einen Zufall verloren ging, nur 213 blühreife Exemplare. Die Curve ihrer End- köpfehen ist in der Tabelle mit derjenigen von 1893 zusammen- gestellt. Madia elegans. Anzahl der ‚ Anzahl der Exemplare Anzahl der | Anzahl der Exemplare Strahlen- Strahlen- blüthen | 1893 1894 blüthen | 1898 | 1894 12 | 1 0 18 Inn eteat. sn 13 | 15 12 19 | 101 50 14 | 11 16 20 | 82 23 15 | 18 | 18 21 | 54 12 16 I 20 22 | 5 17 | 43 2) Summar | = Au | 2018 Hieraus ergiebt sich: Jahr Samenträger ©, M OR = 1893 16—19 1-5 18-9 1-1 0-07 1594 13 21-0 17-9 1-3 0-09 Zunahme 0-6 — 1-0 0-2 Somit eine deutliche, wenn auch geringe, Abnahme in der Mittel- zahl als Folge der ziemlich scharfen Selection. 410 Die Strahlencurven der Compositen und Umbelliferen. $ 9. Zusammenfassung. Zum Schlusse fassen wir die Ergebnisse aus den drei letzten Paragraphen zu einer kurzen Uebersicht zusammen. Im Allgemeinen ergiebt sich dabei, dass sie mit den für Oeno- thera Lamarckiana und O. rubrinervis erhaltenen ($ 4—5) hinreichend im Einklang stehen, um als eine Bestätigung jener gelten zu können. Namentlich zeigen sie, dass, wenn Ernährung und Selection mit einander in Gegensatz gebracht werden, je nach den Einzelfällen, hier die Ernährung und dort die Selection das Uebergewicht be- kommt. Bei Anethum überwog die Ernährung, bei Coriandrum und Madia die Selection, bei Chrysanthemum, Coreopsis und Bidens keine von beiden. Die Unterschiede zwischen diesen Einzelversuchen hängen zweifelsohne mehr von der relativen Grösse dieser beiden Factoren ab, als von den untersuchten Pflanzenarten. Denn offenbar bedeutet dieselbe Düngung pro Quadratmeter für verschiedene Pflanzen eine sehr ungleiche Ernährung; und andererseits richtete sich die Selection jedesmal nach dem gerade Erreichbaren und war also von wech- selnder, Stärke. Wir folgern also, dass Selection und Ernährung die Pflanzen in demselben Sinne beeinflussen, und dass je, nach Umständen, das eine Mal die erstere, das andere Mal die letztere überwiegt. Die Berechtigung dieses Satzes geht am einfachsten und klarsten aus einer Zusammenstellung der Mittelwerthe für die Strahlen- bezw. Zungenblüthen der primären Inflorescenzen aller untersuchten Arten hervor: Zunahme 1892 1893 13594 1893 —1894 Anethum graveolens 18-3 21-2 25-2 +4-0 Chrysanthemum segetum 13—14 13-1 13-1 0-0 Coreopsis tinctoria +8 8-1 7-9 —0-2 Bidens grandiflora 169 5-2 4.9 —0-8 Coriandrum sativum 12) Sales AB — 0-8 Madia elegans +21 18-9 17-9 —1-.0 Der wechselnde Erfolg des Gegensatzes zwischen kräftiger Düngung während drei Jahre und Selection der Individuen mit ge- ringer Anzahl. von Schirmstrahlen bezw. Zungenblüthen zeigt sich in den Zahlen der letzten Spalte. Daneben stelle ich die Werthe für - zusammen. Durch Division mit M werden die Werthe für © unabhängig von der Natur der Zusammenfassung. 411 varıırenden Eigenschaft und können also die Variationsweiten ver- schiedener Eigenschaften mit einander verglichen werden. Ich füge den im ersten Versuch für Oenotkera erhaltenen Werth hinzu und nehme übrigens einfach die Mittelzahlen aus den oben angeführten Tabellen. Q M Anethum graveolens . 0-16 Coriandrum sativum 0-11 Oenothera Lamarckiana 0.08 Madia elegans . 0-08 Bidens grandiflora 0.08 Coreopsts tinctoria 0.04 Chrysanthemum segetum 0-03 Die beobachteten Variationsweiten weichen somit, nach diesem Maassstabe beurtheilt, ziemlich bedeutend von einander ab. Aber auch sie stehen unter dem Einflusse von Selection und Ernährung. Von diesen beiden Factoren werden also überhaupt die Er- scheinungen der fluctuirenden Variabilität bedingt. Die Frage, ob irgend eine Eigenschaft in irgend einem Maasse von ihrem mittleren Werthe abweicht, hängt einerseits von der Selection, d. h. also von den Eigenschaften der Eltern und Grosseltern, andererseits von der Ernährung, d. h. also von der Einwirkung äusserer Umstände auf das Individuum selbst ab. Die Eigenschaften der Vorfahren wurden aber in derselben Weise von der Lebenslage be- stimmt, und so ergiebt sich der Satz, dass die Erscheinungen der Variabilität im engeren Sinne, d. h. die individuellen Abwei- chungen vomMittel der Art, ganz von den Lebensbedingungen abhängen. Nur ist dabei zu berücksichtigen, dass die Ernährungs- einflüsse ihre Wirkung im Laufe einiger Generationen häufen können, da ja im Allgemeinen nur die besten Individuen die besten Samen hervorbringen werden. Die fluktuirende Variabilität ist also eine Erscheinung der Ernährungsphysiologie, während von der Mutabilität die äusseren Ursachen noch völlig unbekannt sind. Vierter Albschmitt: Die Entstehung von Gartenvarietäten. I. Die Bedeutung der Gartenvarietäten für die Seleetionslehre. $ 1. Die Variabilität im Gartenbau. Durch das Aufsuchen kleiner Abweichungen kann man, mittelst Isolirung und Selection, neue Varietäten gewinnen. So lautet ein in der gärtnerischen Praxis sehr bekannter Satz. Und auf diesen hat Darwin zum guten Theile seine Selectionslehre gegründet. Anfangs fast unmerkliche Variationen können durch die Kunst des Gärtners aufgearbeitet werden; die Variabilität nimmt dabei zu und in günstigen Fällen sogar sehr rasch. Bald entsteht eine neue, den Erwartungen der Züchter entsprechende und seine Arbeit lohnende Form. Jedem ist das übliche Beispiel geläufig, dass aus einer ganz vereinzelt auftretenden Blüthe, in der nur ein Staubfaden und dieser nur theilweise und in geringem Grade in ein Blumenblatt umgewandelt erscheint, oft eine schön gefüllte Varietät erhalten werden kann. In unserem ersten Abschnitte haben wir diese Erfahrung mehr- fach berührt und betont, in welcher Weise sie zu Täuschungen Ver- anlassung geben kann, wenn man versucht, sie für die Erklärung der Entstehung der Arten zu verwenden (8 23 S. 124—131). Es soll die Aufgabe des vorliegenden Abschnittes sein, die einschlägigen That- sachen übersichtlich darzustellen und zu zeigen, was sie uns in dieser Hauptfrage lehren können. Freilich nur, insoweit das sehr unvoll- ständige und für die wissenschaftliche Behandlung höchst dürftige Thatsachenmaterial dieses zulässt. Die nach Darwın erfolgte Entwickelung der statistischen Be- handlung der Variation gestattet jetzt eine ganz andere Einsicht in die betreffenden Vorgänge, als vor etwa einem halben Jahrhundert. Sie hat uns das Fluktuiren der Eigenschaften kennen gelehrt als einen Vorgang, der diese stärker oder schwächer zu Tage treten lässt. Die Variabilität im Gartenbau. 413 Aber nach einer anderen als diesen beiden Richtungen variirt die betreffende Eigenschaft nicht. Die Variation ist eine lineare (S. 83); sie vergrössert oder verringert, schafft aber nichts Neues. Daneben können allerdings neue Eigenschaften auftreten, aber es geschieht solches unabhängig von dem Fluktuiren der älteren (a. a. O.). So verhält es sich auch in dem vorliegenden Falle. Die Varia- tionen, die der Gärtner aufsucht und aufarbeitet, sind keine Varianten der alten Eigenschaften; diese führen bei der Selection zu den veredelten Rassen, nicht aber zu neuen Typen (S. 60). Die erforderlichen Abweichungen sind Anomalien, wie im angeführten Beispiele der Entstehung gefüllter Blumen. Wo eine solche auftaucht, liegt im inneren Wesen der Pflanze die neue Eigen- schaft bereits vor. Wo sie herrührt und wie sie entstanden ist, ist für die Praxis gleichgültig: man hat sie und kann sie aufarbeiten. Oder kurz gesagt: „Die erste Bedingung eine Neuheit hervor- zubringen ist, sie bereits zu besitzen“ (S. 131). Dabei unterscheidet die Praxis zwei Fälle, je nachdem es sich um anscheinend invariable oder um stark fluktuirende neue Formen handelt. Im ersteren Falle braucht man die Neuheit nur zu isoliren und von etwaigen, durch Kreuzung entstandenen Verunreinigungen zu säubern. Gelinst solches leicht, so ist sie von Anfang an fertig und constant, und braucht nur einige Jahre der Vermehrung, um in den Handel gebracht zu werden (8. 56—58). Viele weissblüthige Varietäten geben hierzu bekannte Beispiele. Im zweiten Falle verhält es sich aber anders. Eine stark fluk- tuirend variable Neuheit wird selten zum ersten Male in voller Aus- bildung erscheinen. Viel häufiger ist es, dass sie im Anfange nur sehr wenig entwickelt ist. Die Neuheit verräth sich oft, wie man sagt, durch eine ganz geringe Spur oder Andeutung. Betrachten wir diese aber vom wissenschaftlichen Standpunkte, so müssen wir sie offenbar als einen Minus-Varianten, als einen extremen Varianten der neuen Eigenschaft in der ungünstigen Richtung auffassen (S. 38). Und es leuchtet ein, dass ein solcher Variant des neuen Merkmales bei der Aussaat im Garten bald zu dem mittleren Werthe seines Abänderungsspielraumes gelangen wird. Dieser Process ist, wie man leicht einsieht, im Grunde eine Re- gression (Figg. 18 und 19 8. 53 und 61); für die Praxis aber ein Fortschritt, und zwar ein sehr wesentlicher, von dem das Gelingen der Operation in erster Linie abhängt. Dieser scheinbare Wider- spruch erschwert aber das Verständniss der fraglichen Erscheinungen sehr. Andererseits erklärt er uns in einfacher Weise die anfängliche 414 Die Bedeutung der Gartenvarietäten für die Selectionslehre. Zunahme in der Geschwindigkeit des Variirens, denn es leuchtet ein, dass eine Annäherung an den mittleren Werth viel leichter und rascher vor sich gehen wird, als eine Entfernung von demselben. Die Praxis kann nun mit diesem „regressiven Fortschritte“ zu- frieden sein. Oder sie kann die neue Form über das mittlere Maass hinaus zu verbessern suchen, indem sie die Plus-Varianten aussucht und als Samenträger auswählt. Dann bleibt aber die Güte der neuen Form auf die Dauer von dieser jährlich zu wiederholenden Wahl abhängig (S. 58). Die Angaben über diese Züchtungsprocesse sind in der gärt- ‘ nerischen Literatur zwar ziemlich zahlreich, aber meist kurz und selten sehr scharf, den genauen Beschreibungen der künstlichen Bastardirungen meist weit nachstehend. Das Wichtigste, was ich finden konnte, werde ich im nächsten Paragraphen zusammenstellen. Um tiefer in die betreffenden Erscheinungen einzudringen, habe ich versucht, die Methode selbst auf eine Reihe von Fällen anzu- wenden. Durch genaue ÖOontrole und ausführliche Buchhaltung gelang es mir dabei zu sehen, wie sich solche Neuheiten zu bilden pflegen. Wie in der Praxis gelang mir die Zucht in einzelnen Fällen, nicht aber in anderen. Und die Uebereinstimmung meiner Ergebnisse mit den Erfahrungen der Gärtner scheint mir eine so vollständige zu sein, dass meine Versuche ohne Weiteres als Beispiele für die be- handelte Zuchtmethode gelten dürfen. Diesen Erörterungen entsprechend unterscheide ich also die stark variablen und die nur wenig variablen Neuheiten. Von den letzteren wird wohl allgemein angenommen, dass sie gewöhnlich single variations sind, d. h. stossweise entstehen. Für diese werde ich also nur dieses Auftreten und die Frage nach ihrer Constanz zu be- sprechen haben (Kap. IV dieses Abschnittes). Viel wichtiger sind, in kritischer Hinsicht, die stark Huktuirenden Varietäten, die Fälle also, in denen man früher meinte, dass durch Selection neue Eigen- schaften erhalten werden könnten (Kap. Il und VIII). Als Beispiele nenne ich hier die buntblätterigen Gewächse, die gefüllten Blüthen und Compositen und die gestreiften Blumen. Vergleichen wir jetzt, von einem theoretischen Gesichtspunkte, diese grosse Variabilität mit den früher behandelten, normalen Bei- spielen (S. 34—38 u. s. w.), so werden wir zu der Ansicht gelangen, dass beide nicht genau dasselbe sind. In bunten Blättern wechselt das Gelb mit dem Grün, in den halbgefüllten Blüthen wechseln die petaloiden Staubfäden mit den normalen u. s. w. Es handelt sich hier also nicht um den variablen Werth einer einzigen Eigenschaft, Die Variabilität im Gartenbau. 415 sondern um das Zusammenwirken oder vielmehr um den Kampf zweier. Je nachdem die eine oder die andere vorwaltet, ist die Pflanze mehr oder weniger bunt, gefüllt u.s. w. Die eine Eigenschaft ist die alte, normale, jene der ursprünglichen Art. Die andere ist die neue, ab- normale, jene der sich bildenden Varietät, mit einem Worte die Anomalie. Und die Wechselwirkung dieser beiden antagonistischen Typen erklärt wenigstens zu einem guten Theile den ausserordent- lichen Grad der Variabilität. Die grüne Farbe an sich ist nur wenig variabel, und ebenso einförmig sind die rein gelben oder goldgelben Varietäten, denen das Grün vollständig fehlt (Varietates aureae, z. B- Pyrethrum Parthenium aureum). Den gewöhnlichen, mehr oder weniger gefüllten Sorten stehen die in allen Blüthen völlig gefüllten Varietäten gegenüber, als eine äusserst wenig variable (aber sterile) Form (vergl. Ranuneulus acris petalomana, Fig. 40 8. 137). Die höchst variablen Formen stehen hier in der Mitte zwischen je zweien fast nicht fluktuirenden, reinen Typen. Nehmen wir dieses Prinzip für die betreffenden Fälle als Er- klärung an, so gelangen wir also zu der Erkenntniss von Zwischen- formen mitzwei um den Vorzug streitenden, antagonistischen Eigenschaften, und mit auffallend starker, durch diesen Streit bedingter Variabilität. Je nach den einzelnen Beispielen kann diese Variabilität eine mehr oder weniger weitgehende sein; im äussersten Falle kann sie einzelne Organe oder gar Individuen äusser- lich völlig einem der beiden Typen, zwischen denen sie schwankt, ähnlich machen. Rein grüne und andererseits rein gelbe bezw. rein weisse Blätter oder Keimpflanzen sind bei bunten Sorten bekannt und nicht gerade selten. Die Aehnlichkeit ist aber nur eine äussere. Der grüne Minus-Variant der bunten Sorte gehört nicht der ursprüng- lichen Art, der rein gelbe Plus-Variant nicht der goldgelben Varietät an. Solches lehrt namentlich die Aussaat der Samen jedesmal, wo der Versuch sich ausführen lässt. ‚Solche Varietäten werde ich Zwischenrassen nennen, und wenn von den beiden antagonistischen Eigenschaften keine zu stark vor- wiegt, Mittelrassen (vergl. $ 3). Versucht man es, die Variabilität solcher Zwischenformen sta- tistisch zu studiren und graphisch darzustellen, so darf man offenbar keine so einfachen und reinen Curven erwarten, als bei der Variabili- tät normaler Eigenschaften (S. 34). Im Prinzipe wird man stets Figuren erhalten, welche durch Combination der beiden Grössen ent- standen sind, also Combinationscurven, wie sie von LupwIg, 416 Die Bedeutung der Gartenvarietäten für die Selectionslehre. BATEson, PEARSON, DAVENPORT und Anderen studirt worden sind. Es leuchtet ein, dass dabei, je nach dem gegenseitigen Verhältniss der beiden Eigenschaften, sehr verschiedene Formen werden auftreten können (vergl. unten, $ 3—5). Es leuchtet gleichfalls ein, dass die Selection in solchen Fällen ganz besondere Folgen wird haben können, welche namentlich oft bedingt sein werden durch die Unmöglichkeit, die beiden Grenztypen zu überschreiten ($ 5 und Fig. 122). Fassen wir das Ergebniss dieser Erörterungen kurz zusammen, so gelangen wir zu den folgenden Sätzen: 1. Gartenvarietäten sind theils einfache, durch je eine neue Eigenschaft bedingte. Solche sind meist nicht wesentlich stärker variabel als die ursprüngliche Art und meist aus Samen con- stant, wie diese. Ganz gewöhnlich beruht die Neuheit auf Verlust, bezw. Latenz einer Eigenschaft der Mutterart. Wo ihre Entstehung ausreichend bekannt ist, fand diese stossweise statt. Ueber Com- binationen mehrerer Merkmale in derselben Varietät vergl. S. 139, 2. Zum anderen Theile sind Gartenvarietäten Combina- tionstypen, durch Verbindung zweier (oder mehrerer) antago- nistischer Merkmale entstanden. Die beiden Merkmale schliessen einander mehr oder weniger vollständig aus und streiten um den Vorrang; daher eine äusserst grosse Abwechslung in der Erscheinungs- weise (bunt, gestreift, gefüllt u. s. w.). Diese Formen tauchen in sehr geringer Ausbildung, als Minus-Varianten, auf, werden als solche auf- gesucht und dann isolirt und durch Selection verbessert. Ihre künst- liche Production geschieht also nicht stossweise, aber unter allmäh- lichem Fortschritt. Der erste Anfang bleibt aber unbekannt. $ 2. Die Lehre von der einseitigen Steigerung der Variabilität durch Auslese. Zu den anziehendsten Abschnitten der Selectionslehre gehört bekanntlich der Satz, dass die Variabilität sich durch Zuchtwahl er- starken lasse. Zahllose Erfahrungen namentlich im Gartenbau scheinen diese Lehre zu beweisen, und wäre sie richtig, so würde sie wohl eine unerschütterliche Stütze bilden für den jetzt so beliebten Glauben an die Allmacht der Naturzüchtung (S. 84). Varietäten sollen beginnende Arten sein. Durch Auswahl der am meisten vom Typus der Art abweichenden Individuen soll man erst zu Variationen, dann zu Varietäten gelangen. Diese sollen das Bestreben haben, sich zu befestigen und in Rassen überzugehen und Die Lehre von der einseitigen Steigerung der Variabilität durch Auslese. A417 auf dieselbe Weise sollen die Rassen später zu neuen Arten werden. — "So lautet die herrschende Meinung. Diese Meinung gründet sich, wie ich im ersten Abschnitt aus- führlich zu beweisen versucht habe, auf einer einseitig übertriebenen Ausbildung von Darwm’s Selectionslehre. DaAarwın stützt sich auf die Erfahrungen des Gartenbaues; diese aber scheinen mir, wenigstens in den Werken der besseren Autoritäten, eine solche Uebertreibung nicht zu rechtfertigen. Der herrschenden Meinung gemäss hätte der Mensch jeden will- kürlichen Fortschritt irgend einer gegebenen Art in seiner Hand. Alle Merkmale varıiren, man brauche nur die extremen Varianten zu isoliren und von ihnen weiter zu züchten. Allerdings geht es lang- sam voran, aber in zahlreichen Sorten dauert der Versuch schon ein kleines halbes Jahrhundert. Und die wirklich erreichten Fortschritte, so hochwichtig sie auch für die Praxis sind, entsprechen diesen theo- retischen Erwartungen nicht. Ganz im Gegentheil lehren sie, dass der Mensch zwar Vieles vermag, vieles Andere aber nicht. Die vergleichenden Betrachtungen der Systematiker lehren uns fast überall von den kleinsten Abweichungen zu wohl unterschiedenen Arten ganz allmähliche Uebergangsreihen kennen. Sie bilden somit für die besprochene herrschende Meinung eine sehr wichtige Stütze, aber noch keinen Beweis. Denn hier greift die transgressive Variabili- tät ein (Abschn. II, $ 25 S. 408) und verwischt die Grenzen zwischen verwandten Gruppen. Im vorigen Paragraphen habe ich die Prinzipien angedeutet, auf denen meiner Meinung nach eine Erklärung der fraglichen Beobach- tungen beruhen muss. Wenn man in irgend einer wilden oder culti- virten Art eine kleine Anomalie findet, und es gelinst, aus dieser durch Auslese eine neue, beträchtlich abweichende und constante Form zu gewinnen, so kann es den Anschein haben, dass alles all- mählich und nach dem freien Willen des Versuchsanstellers vor sich gehe, während dennoch nur ein glücklicher Zufall den Erfolg bedingte. Durchsucht man die Gartenbaulitteratur, so gelangt man bald zu der Ansicht, dass dieser Schein jedenfalls die tüchtigen Züchter nicht getäuscht hat. Weder der Anfang, noch das Ende einer Wahl- eultur stehen in der Macht des Gärtners, sagen sie. Nur zwischen diesen beiden Grenzen hänge alles von seiner Thätigkeit ab. Aus einer reinen Art entsteht die erste Andeutung der Anomalie durch Zufall, und eine der bekanntesten Vorschriften im Gartenbau lautet, dass ein Jeder nach solchen zufälligen Vorkommnissen fleissig — manche sagen sogar ängstlich und peinlich — zu suchen habe. DE VRIES, Mutation. I. 27 418 Die Bedeutung der Gartenvarietäten für die Selectionslehre. Wie klein die Abweichung ist, darauf kommt es gar nicht an, wenn sie nur eine Anomalie ist (S. 415). Hat man eine solche einmal aufgefunden, so hat man es in der Hand, sie weiter auszubilden und zu ihrer vollen Entwickelung zu bringen. Aber die stets vorhandenen mehr oder weniger beträchtlichen fluktuirenden Variationen normaler Eigenschaften leisten dieses nicht; mittelst dieser kann man die einzelnen Sorten schöner und besser machen, aber etwas eigentlich Neues bekommt man dabei nicht. Die besten gärtnerischen Autoritäten sind in dieser Beziehung alle derselben Meinung. So sagt ÜARRIKRE: „LD’horticulteur ne peut faire naütre les varietes““ und ausführlicher über gefüllte Blumen: „Le point de depart des fleurs doubles est en dehors de notre pwissance comme de nos calculs; nous ne pouwvons rien, ou da peu pres rien, sur le fait initiatif; nous me pouvons que le saisir lorsquwil se presente; nous ne powvons pas le provoquer; dest un effet, dont la cause nous est inconnue.““ ! Ein bekannter englischer Züchter, Wıruıam PAuL, sagt:? „He, who is seeking to improve any class of plants, should watch narrowly and seixe wiüh alacrıty any deviation from the fixed character.“ „However unpromising in appearance at the outset, he knows not what issues may lie concealed in a variation.‘ Ebenso sagte bekanntlich bereits SALTER, dass die grösste Schwierigkeit darin liege, eine kleine anfängliche Abweichung zu finden; hat man diese aber einmal gefunden, so hat man das Uebrige ganz in seiner Macht, wie gering die Variation auch sein mag. Und Darwıs, der dieses citirt,” hat die grosse Bedeutung dieses Satzes, jedesmal wo er den Gegenstand behandelte, scharf hervorgehoben. Mit anderen Worten, wie bereits mehrfach (u. a. S. 131) erinnert wurde: Die erste Bedingung, eine Neuheit hervorzubringen, ist, ihren Kern bereits zu besitzen. Doch gelingt solches bekanntlich auch dann noch keineswegs immer. Bisweilen verschwindet die Variation, ohne eine sichtbare Spur zu hinterlassen. Alle Mühe, sie zu züchten, ist dann vergeblich. Solche nicht fixirbare Abweichungen sind meiner Erfahrung nach die gelegentlichen Aeusserungen latenter Eigenschaften. Was der Züchter zu finden wünscht, sind die Fälle, wo die zufällige Anomalie im Verborgenen bereits zu einer erblichen Rasse geworden ist. Ist ! E. A. CArrıerE, Production et fixation des varieies dans les vegeiaux. 1865. 8. 64 und S. 15. ? Contributions to hortieultural literature. 1892. Nature. Vol. 46 S. 583. ? Variations of animals and plants. Il. S. 249; oder S. 346 der deutschen Ausgabe. Vergl. auch Part. I. S. 267 u. s. w. Die zeig von 27 einseitigen, Steigerumg der van aabalıat dur 20 Aumllaa0. 19 Blchas "geschehen, so wird einerseits ae Pe Zah A unter nicht ganz günstigen Bedingungen leicht äussern, andererseits wird sie sich bald zu der vollen Höhe einer guten Gartenvarietät ent- wickeln lassen. Soweit die vorhandenen Erfahrungen zu urtheilen gestatten, verlaufen solche Zuchteulturen alle im Wesentlichen in derselben Weise. Ueberall kann man die Beispiele finden. Ausgedehnte und durch viele Jahre wiederholte Aussaaten helfen nichts, wenn nicht der Zufall mitwirkt. Die Anemone coronaria plena ist in einem ein- zigen Exemplare auf der Gärtnerei von WILLIAMSON in England ent- standen;! dieses zeigte an einem Staubfaden eine geringe petaloide Verbreiterung. Als aber davon ausgesät wurde, erhöhte sich allmählich die Zahl der blumenblattartigen Staubfäden und im Laufe einiger Generationen wurden die Blüthen ganz gefüllt. So sind Rosen, Campanula und viele andere Gartenpflanzen gefüllt gemacht worden. Auf einer Gärtnerei in Erfurt sah ich ein Beet Reseda odorata mit „gefüllten“ Trauben. Die Trauben waren verbändert, die Blüthen verbreitert, das Ganze war voller, gedrungener und schöner als die Art. Das Beet war aus den Samen zweier, im vorigen Jahre zufällig aufgefundener fasciirter Exemplare aufgegangen. Die „falschen“ wurden ausgerodet, die „echten“ gespart, um Samen zu tragen und in dieser Weise eine neue Sorte in den Handel zu bringen. Die Züchtung hat in diesen Fällen einen doppelten Zweck. Einmal muss die Sorte isolirt, d. h. wie jede neue Varietät von den Unreinheiten, welche durch die freie Kreuzung entstehen, gesäubert ‘werden. Dann aber muss sie auch wirklich durch Selection verbessert werden. Die ersten Andeutungen der Füllung sind, wie erwähnt, einzelne überzählige Blumenblätter, oder bei Compositen einzelne überzählige Strahlenblüthen zwischen den Scheibenblüthen; die erste Andeutung einer neuen Farbe ist oft sehr blass; geschlitzte Blätter und Blumenblätter kennzeichnen sich durch kleine Einschnitte, Kämme (S. 135) durch geringe Auswüchse u. s. w. Alle diese Eigen- schaften werden durch Auslese zunächst auf das ihnen entsprechende Mittel, dann aber auch darüber hinaus verbessert. Eine solche Verbesserung geschieht, wenn sie einmal möglich ist, rasch und mit zunehmender Geschwindigkeit Daher die Vor- stellung von der zunehmenden Variabilität. Die Erklärung liest aber einfach darin, dass man, wie im vorigen Paragraphen erörtert wurde, in Bezug auf das neue Merkmal anfänglich Minus- 1 Darwıs, 1. e. I. S. 269. DE 420 Die Bedeutung der Gartenvarietäten für die Selectionslehre. Varianten findet, welche, sobald sie isolirt sind, in Folge des Re- gressionsgesetzes, sich nicht dem Merkmal der Art, sondern dem Mittelwerth der neuen Varietät nähern. Und solches geschieht be- kanntlich leicht und rasch, denn hier verhält sich die neue Varietät genau so wie eine alte veredelte Rasse beim Aufhören der Selection oder bei rückschreitender Auslese (I. $ 14 S. 86). Reinigung von Kreuzungsbeimischungen und diese Verbesserung zusammen lassen den Fortschritt nicht selten fast in geometrischem Maasse zunehmen. Es liegt dabei selbstverständlich nicht ein Gesetz vor, doch dürfte die Anführung eines Beispieles wesentlich zur Klä- rung beitragen. HOoFMEISTER säte Samen von Papaver somniferum polycephalum,! und zwar von Exemplaren, welche er zwischen normalen Pflanzen gefunden hatte. Durch Auslese der schönsten, an Neben- karpellen reichsten Früchte, aber ohne Isolirung, fand er den Procent- satz an anomalen Exemplaren in den nächsten Generationen wie folgt: Jahr: 1863 1864 1865 1866 1867 Procentsatz: 69, 170019 200, In OTOn, Geometrische Reihe: 8 16 32 64 (100) Wie man sieht, weichen diese Zahlen nicht all zu sehr von einer geometrischen Reihe ab. Ohne darauf viel Gewicht zu legen, möchte ich doch hieran anschliessen, dass ich sehr oft in entsprechenden Züchtungsversuchen ähnliche Zahlenreihen bekommen habe. Ebenso wenig wie der Ausgangspunkt liegt auch die Grenze des Erreichbaren in der Macht des Züchters. Dieses geht am klarsten daraus hervor, dass die meisten Gartenvarietäten jetzt noch auf der- selben Höhe stehen wie bei ihrer ersten Einfuhr. Trotz der eifrigsten Auslese und der grössten Ausdauer ist nur in seltenen Fällen ein fernerer Fortschritt in derselben Richtung erhalten worden. Zahllose Pflanzen kennt man bunt, nur sehr wenige als AJurea-Varietät. Die petalomanen Blumen sind steril und können also nur auf vegetativem Wege vermehrt werden. Aber es ist ganz klar, dass diese Schwierig- keit bei Weitem nicht die Ursache ihrer Seltenheit ist. Auf Compo- siten findet man nicht selten einzelne Köpfchen ohne Zungenblüthen, aber wie gering ist die Anzahl der discoiden Varietäten. Ich fand einmal ein solches an Strahlenblüthen sehr armes Exemplar von Coreopsis tinctoria in meinen Culturen, aber trotz Isolirung wiederholte sich die Erscheinung bei der Aussaat nicht. Die Catacorolla (äussere 1 Allgemeine Morphologie S. 565. Vergl. unsere Fig. 27 auf S. 98; ferner Horrmann, Bot. Zeitg. 1881. S. 397, und VeRrtor, 1. c. S. 88. Die Lehre von 3er IR Steigerung: der Variabilitäi durch Auslese, 421 Bonpelung nn Krone in Be nl im Zaren nur bei Gloxinia superba eine Rolle. Fistulose Compositen sind selten; von monophyllen und geschlitztblätterigen Varietäten sowie von vielen anderen Abarten könnte der Handel noch eine ganze Reihe verwenden, wenn man sie nur machen könnte. Aber so lange der Zufall sie nicht irgend Einem in die Hände spielt, ist jede Mühe vergeblich. Dennoch besitzen wohl alle Pflanzen zahllose latente Eigen- schaften. Irgend welche umfangreichere und durch eine Reihe von Jahren fortgesetzte Cultur giebt davon die Ueberzeugung. Es ist oft sehr schwer, seine Rassen rein von Anomalien zu machen. Agrostemma @Githago bot mir eine fast unabsehbare Reihe, ebenso Ra- phanus, Raphanistrum und viele andere. Bei den Gartenpflanzen sind die wünschenswerthen selbstverständlich jetzt selten, da sie ja vorher schon ausgebeutet sind; nutzlose und unschöne Anomalien bringen sie aber stets zahlreich hervor, um so mehr, je ausgedehnter ihre Cultur ist. Ist eine neu gefundene Gartenvarietät einmal isolirt und „fixirt“, d.h. durch Kunst in einer kleinen Reihe von Jahren gereinigt und verbessert, so ist von ihr in dieser Weise ein weiterer wesentlicher Fortschritt also nicht mehr zu erwarten. Dazu giebt es dann nur zwei Wege. Erstens das zufällige Auftreten einer neuen Anomalie in derselben Rasse, zweitens aber die Combination der neu gewonnenen Eigenschaften mit anderen durch Kreuzung. Der erstere Weg ist schwer zu benutzen, da man ganz vom Zufall abhängig ist. Der zweite aber um so leichter; auch wird er stets eingeschlagen. Jede neue Eigen- schaft wird sofort auf möglichst viele vorhandene Varietäten der be- treffenden Art übertragen; sie giebt dann eine entsprechende Anzahl von Neuheiten. So hat Lemoıne die gefüllten Blüthen eines einzigen Flieders auf mehrere Dutzend Varietäten gebracht, so ist die Cactus- Dahlia sofort nach ihrer Entdeckung mit fast allen Farb- und Füllungs- Varietäten der Georginen verbunden u. s. w. In der Regel stellt man dabei die Sache von der anderen Seite vor und bringt die Eigen- schaften der älteren Varietäten auf den neuen Typus über; es tritt dann diese neue Form sofort in einem grossen Reichthum von Varie- täten auf, neben dem alten Gebiet der Art ein neues von gleicher Ausdehnung darstellend. Eine einzige neue Eigenschaft kann somit die Reihe der Varietäten verdoppeln. Petunia, Zinnia, Fuchsia gehören zu den älteren, Gladiolus, Begonia und viele andere zu den neueren sehr bekannten Beispielen dieser Methode. Die Straussfeder-Chry- santhen (mit bewimperten Blumenblättern) entstanden vor einigen Jahrzehnten in einer einzigen Sorte (Alph. Hardy), haben aber jetzt eine stattliche Reihe von Varietäten aufzuweisen u. S. w. 422 Datonte und semälatente ‚Eigenschaften. Die Da von der einseitigen Steigerung Ba SL tät durch Auslese beruht somit, soweit die vorhandenen Er- fahrungen ein Urtheil gestatten, wesentlich auf der Gewinnung erblicher Rassen mit bis dahin latenten Eigenschaften. Solche Rassen sind höchst varıabel und verrathen sich, wenn sie zufällig entstanden sind, durch geringe Anomalien, welche sich durch „Zucht- wahl“ leicht „aufarbeiten“ lassen. Sie entfernen sich dabei rasch vom Typus der Art, aber nur deshalb, weil sie sich dadurch ihrem neuen Typus nähern; sobald sie diesen durch Isolirung erreicht und durch Selection überschritten haben, ist es ebenso schwer, sie weiter zu verbessern, wie bei jeder anderen veredelten Rasse. Willkürlich hervorrufen kann man diese Varietäten nicht, man muss abwarten, bis sie sich zufällig zeigen. Und ebenso wenig kann man aus ihnen willkürlich zu höheren Stufen aufsteigen. Nur der Zufall, d. h. eine uns unbekannte Einwirkung, überschreitet bis jetzt diese beiden Grenzen; keine Auslese vermag mehr als den leeren Schein eines oa eihigen Eingreifens zu bewirken. Il. Latente und semilatente Eigenschaften. $ 3. Mittelrassen und Halbrassen. Bevor ich die Erfahrungen des Gartenbaues auf dem Gebiete der sehr variablen Varietäten sowie meine eigenen Versuche be- schreibe, ist es erforderlich, zur Klärung der Begriffe die Zwischen- stufen, welche sich zwischen einer Art und einer von ihr abgeleiteten einfachen und reinen Varietät darbieten können, eingehender zu unter- scheiden. Wir wollen dabei von der Erfahrung ausgehen, dass das zufällige Auftreten einer Anomalie bei Weitem nicht immer den Weg eröffnet, um zu einer neuen Sorte zu gelangen. Ein Beispiel aus vielen. Becher (Figg. 16, 106 und 109, S. 45, 338 und 348) findet man als seltene Abweichung, ganz vereinzelt, aber doch bei ziemlich vielen Pflanzenarten,! bei einzelnen, wie Magnolia und Tilia sogar ziemlich häufig. Aber eine Varietät, welche an solchen Bildungen eben so reich wäre, wie z. B. Trifolium pratense qwinguefolium am vier- und fünfscheibigen Blättern, hat man nicht, obgleich sie offenbar Aufsehen erregen und also die Mühe des Zuchtversuches gewiss lohnen würde. 1 Over de erfelykheid von synfisen, Kruidkundig Jaarboek, Gent. 1895. S. 129. itlrassen und Halhrassen. 423 Es a an an dass eine ae aan Anomalie die Aeusserung einer sonst Inonten Eigenschaft sein kann, welche man nicht zu activiren vermag. Neben dieser extremen, aber sehr gewöhnlichen Weise des Auftretens sind, meiner Erfahrung nach, zwei andere Fälle möglich: Erstens. Bei der Aussaat von Samen der abweichenden Exem- plare wiederholt sich die Anomalie, und zwar von Zeit zu Zeit, in einzelnen oder mehreren Exemplaren; sie bleibt aber selten oder tritt doch nur meist in geringer Ausbildung auf. Selection verbessert sie, aber nicht sehr wesentlich. Zweitens. Bei entsprechender Aussaat sieht man die Anomalie sowohl im Grade der Entwickelung, als auch in der Anzahl der Individuen rasch und stark zunehmen. Es „bildet sich“ im Laufe weniger Generationen eine sogenannte erbliche Rasse. Diese zeigt in Bezug auf das fragliche Merkmal starke Fluktuation und deutliche Abhängigkeit von der Cultur. Ich werde im ersteren Falle ..die fragliche Eigenschaft semi- latent nennen und unterscheide somit unter den latenten Eigenschaften die eigentlichen, durchgehends latenten von den mehr oder weniger oft in die Erscheinung tretenden oder semilatenten. Letztere Bezeichnung bezieht sich somit auf das Verhalten der Eigenschaft in der ganzen Rasse; eine semilatente Eigenschaft kann in vielen Exemplaren und Organen latent bleiben, während sie in anderen activ wird. Eine eigentliche latente Eigen- schaft wird dagegen nur höchst selten activ. Untersucht man die drei unterschiedenen Fälle statistisch, indem man für die Anomalie eine empirische Curve aufzustellen versucht (S. 415), so findet man in der Regel Folgendes: Erster Fall: Die eigentlich latenten Eigenschaften äussern sich zu selten, um ausreichendes Material für eine Curve zu bieten. Zweiter Fall: Die semilatenten Eigenschaften zeigen, in Ver- bindung mit der antagonistischen activen Eigenschaft, halbe Curven (Fig. 120 S. 429), aus diesen lässt sich durch Selection eine zwei- schenklige Curve ableiten (Fig. 121 S. 434), welche aber sich nicht erheblich vom Gipfel der halben Curve entfernt. Dritter Fall: Die fraglichen Eigenschaften zeigen beim An- fang, weil sie als Minus-Varianten aufgefunden werden, gleichfalls halbe Curven, welche nach Isolirung leicht und rasch in zwei- schenklige mit einem neuen Gipfel übergehen. Man erreicht die erwartete erbliche Rasse, welche sich dann ohne weitere Selection erhält. 424 Latente und semilatente Eigenschaften. Versucht man ferner, aus diesen Daten zu einer schematischen Vorstellung der Wechselwirkung zweier antagonistischen Eigenschaften in Gartenvarietäten zu gelangen, so erhält man die folgende Uebersicht: Die normale Eigenschaft sei: Die Anomalie sei: Tl activ latent. I. activ semilatent. II. Beide halten sich ungefähr das Gleichgewicht. IV. semilatent activ. V. latent activ. Selbstverständlich behaupte ich nicht, dass keine weiteren Fälle möglich sind, dass die Semilatenz nicht noch in Abstufungen vor- kommen kann. Zu einem solchen Ausspruche fehlt augenblicklich die thatsächliche Grundlage durchaus. Auf der anderen Seite muss ich hervorheben, dass das gegebene Schema für die jetzt vorhandenen Beobachtungen ausreicht; von den fraglichen Zwischenformen werden wir eine ausreichende Anzahl von Beispielen kennen lernen, während ich andere bis jetzt nicht aufgefunden habe. Es leuchtet in obiger Tabelle ein, dass I einfach die normale, ursprüngliche Art, und V eine von ihr abgeleitete, wenig variable und constante Varietät aufzeigt. Die drei anderen Nummern sind die fraglichen Zwischenformen, von denen die beiden ersteren (II und III) den obigen Erörterungen entsprechen, und die vierte sich aus dem Schema ergiebt. Doch scheint mir dessen Vorkommen in der Natur noch fraglich. Es wird nothwendig sein, für die beiden ersteren Zwischenformen besondere Namen einzuführen. Und so werde ich sie zusammen Zwischenrassen nennen, und ferner Nr. II Halbrasse (mit halber Curve), und Nr. III Mittelrasse. Das Wort Rasse ist hier selbstverständlich nicht im Sinne einer veredelten Rasse (S. 58) oder Zuchtrasse, sondern in jenem einer erblichen Form benutzt worden. Ich führe zum besseren Verständniss hier sogleich ein paar Beispiele an; es sind dieselben, welche schon oben mehrfach genannt wurden. Beispiele. Bunte Blätter Gefüllte Blüthen I Ursprüngliche Art. Grün. Einfach. II Halbrasse Seltenes bunt. Einzelne petaloide Staubfäden. III Mittelrasse Var. variegata. Var. plena. V Constante Varietät Var. aurea. Var. petalomana. Mittelrassen und albrassen: 425 Ich nehme zum Zwecke dieses Beispieles somit an, dass dieselbe Eigenschaft, rein auftretend, die constanten goldgelben bezw. völlig gefüllten Varietäten giebt,! während durch ihre Mischung mit der antagonistischen Eigenschaft die gelbbunten und halbgefüllten Sorten entstehen. Die Annahme hat nur den Zweck, die Sachlage möglichst klar zu machen, denn bei Spaltungen verhalten sich die Eigenschaften in etwas anderer Weise (vergl. S. 497). Halbrassen und Mittelrassen giebt es gar viele, die ersteren liefern einen sehr wichtigen Theil des teratologischen Materiales, und namentlich eignen sie sich besonders für experimentelle teratologische Studien. Dasselbe leisten auch viele Mittelrassen, und im zweiten Bande werde ich auf diesen Punkt, namentlich für die erblichen Rassen mit Zwangsdrehung und Verbänderung zurück zu kommen haben. Für den Gartenbau zeigen die Halbrassen ihre Anomalie im Allgemeinen zu selten und haben sie also keinen, oder nur einen untergeordneten Werth. Dagegen bilden die Mittelrassen hier einen sehr wesentlichen Theil des Formenreichthums. Zahllose : Varietäten mit bunten Blättern, gestreiften oder gefüllten Blumen, bezw. gefüllten Körbehen bei den Compositen gehören hierzu. Ferner die Formae cristatae vieler Farne, die Kämme auf den Blüthen von Primula sinensis, von Oyclamen persicum, Begonia u. Ss. w., die Polycephalie von Papaver, die Catacorolla von Gloxinia superba, und eine Reihe anderer mehr oder weniger seltener Beispiele. Selbstverständlich ist es keineswegs erforderlich, dass von einem bestimmten Paare antagonistischer Merkmale auch alle die genannten Formen existiren. In vielen Fällen fehlen ja die Zwischenrassen überhaupt, in anderen fehlt eine oder zwei von ihnen. Ebenso ist es nicht erforderlich, dass neben einer Zwischenrasse auch die reinen Typen vorkommen, wenn wir auch in solchen Fällen darauf beschränkt sind, unsere Auffassung auf Analogieschlüsse zu gründen. Ich nenne als Beispiele die folgenden, in diesem Abschnitte ausführlicher zu besprechenden Fälle, in denen mir die entsprechende constante Varietät noch unbekannt ist. BEL: Halbrasse. Mittelrasse. Trifolium pratense vierblätteriger Klee im T. p. qwinquefolium. Freien Trifolium incarnatum T. . quadrifolium unbekannt. Kanumeulus bulbosus R. b. semiplenus „ Chrysanthemum inodorum unbekannt ©. i. plenissimum. COhrysanthemum_ segetum ©. s. grandiflorum ©. s. plenum. ! Vergl. $ 19 und namentlich S 24 (Ueber Buntblätterigkeit). 426 Latente und semilatente Eigenschaften. Als fernere Beispiele nenne ich Caltha palustris, von der im Freien die Halbrasse mit überzähligen Blumenblättern, und im Handel die wenig variable, sterile petalomane Varietät vorkommt. Oamellia japonica mit beiden Formen der Füllung. Auch gehören wohl zu den Zwischen- rassen (Mittelrassen) die durch partiellen Atavismus auffallenden monophyllen und fistulosen Varietäten (Fig. 38 S. 136 und Fig. 134), die viviparen Gräser (Poa alpina vivipara, Poa bulbosa vivipara u. S. W.) und viele andere viviparen Formen (Agave vivipara u. s. w.)! Kommt neben einer Zwischenrasse die entsprechende constante Varietät nicht vor, so gilt erstere ohne Weiteres als Varietät, wie zumal für die Mittelrassen selbstverständlich ist. Die Halbrasse gilt dann meist als erbliche Anomalie. Es ist ferner sehr wahrscheinlich, dass in der Natur eine Reihe von Arten, welche durch grosse Variabilität einer Eigenschaft auf- fallen, in der Weise der Zwischenrassen aufgebaut sind, d. h. der Verbindung zweier antagonistischer Merkmale ihren Formenreichthum verdanken. Statt auf diese sehr anziehende Frage weiter einzugehen nenne ich Acacia diversifolia, welche ihren Namen und ihre Eigenschaft dem Hin- und Herschwanken zwischen doppelt gefiederten Blättern und Phyllodien verdankt. Eine sehr wichtige Frage ist die nach der Constanz der Zwischen- rassen. Ich werde diese bei den einzelnen Beispielen ausführlich behandeln, hebe aber bereits jetzt hervor, dass sowohl constante als auch inconstante Zwischenrassen vorkommen. Einerseits giebt es Fälle, wo eine Ueberschreitung der Grenzen zwischen diesen Rassen anscheinend ebenso selten ist, als die Mutationen, durch welche neue Arten entstehen, wo es mir jedenfalls bisher nicht gelang, trotz aller Mühe und Sorgfalt, aus der einen Rasse die andere zu bekommen (Trifolium incarnatum quadrifolium, T. pratense quwinquefolium, Ranunculus bulbosus semiplenus). Andererseits aber giebt es Beispiele incon- stanter Zwischenrassen, in denen bei genügend umfangreichen Culturen jährlich einzelne Exemplare die sonst feste Grenze über- schreiten. Solche Erscheinungen gehören offenbar zum Ata- vismus, falls sie, wie in meinen Beobachtungen, aus einer Mittel- rasse zu dem Typus der ursprünglichen Art zurückkehren, wenn sie auch dabei nicht deren Constanz erlangen, sondern nur zu Halb- ! Vergl. Gorger, Organographie. I. S. 153—159; E. H. Hunser, Ueber einige vivipare Pflanzen. Diss. Rostock 1887. Bot. Jahresber. 1888. T. XVI, 1, S. 421 und namentlich Cros in den Actes du congres international de botanique. Paris. Sept. 1900. 8. 7. Mittelrassen und Halbrassen. 427 rassen werden. Solche atavistische Erscheinungen sind bei gestreiften Blüthen und wohl auch bei bunten Blättern sehr bekannt, ferner fand ich in Linaria vulgaris peloria und Plantago lanceolata ramosa auffallend deutliche Beispiele ($ 20 und $S 17). Neben diesen beiden Kategorien gelang es mir eine dritte aufzufinden, in der ganz vereinzelt und selten die eine Zwischen- rasse aus der anderen entstand. Ich beobachtete davon bis jetzt nur zwei Fälle. Erstens die Entstehung der Linaria vulgaris peloria aus der L. v. hemipeloria (8 20) und zweitens die Bildung des normal gefüllten Chrysanthemum segetum plenum (Taf. VIII) aus dem C. s. grandiflorum mit 21 statt 13 Zungenblüthen ($ 18). Die Linaria vulg. peloria be- trachte ich wegen ihrer Inconstanz als eine Zwischenrasse, während die L. vulg. hemipeloria (mit vereinzelten pelorischen Blüthen) offenbar zu den Halbrassen gehört. Die Entstehung der ersteren aus der letzteren findet vermuthlich in der Natur von Zeit zu Zeit statt. Mein Chry- santhemum segetum plenum ist eine Neuheit im gärtnerischen Sinne, ebenso gefüllt wie die gefüllten Varietäten anderer Compositen; sie entstand bis jetzt, soviel bekannt, anderswo nicht. Sie bildet eine Mittel- rasse wie die zahlreichen analogen gefüllten Compositen, und nahm in meinem Versuchsgarten ihren Ursprung nicht aus der reinen Art, sondern aus der Handelsvarietät ©. s. grandiflorum, welche sich in Bezug auf die Anzahl ihrer Zungenblüthen als eine niedere Stufe verhält und somit den Halbrassen! zuzuzählen ist.? Fassen wir jetzt die Erörterungen dieses Paragraphen kurz zu- sammen, so finden wir: _ 1. Es kommen sowohl im Gartenbau als auch im Freien eine Reihe von Formen vor, welche entweder inconstant oder höchst variabel sind, und dabei eine Wechselwirkung zweier antagonistischer Eigenschaften verrathen. | 2. Von diesen beiden Eigenschaften ist die eine als die normale, von der Mutterart herrührende zu betrachten, die andere aber als die Anomalie. 3. Ueberwiegt erstere, so hat man die teratologischen Halbrassen mit ihren halben Curven. ! Die mehrgipfelige Form der Strahlencurven der Compositen, deren Er- klärung bis jetzt fehlt, erschwert hier allerdings diese Auffassung. ° Vergl. ferner die Entstehung der Dahlia variabilis fistulosa in meinen Culturen ($ 11 $. 480). 428 Latente und semilatente Eigenschaften. 4. Halten beide einander im Wesentlichen das Gleichgewicht, so entstehen die stark variablen Mittelrassen, zu denen zahlreiche Gartenvarietäten und manche „erbliche“ teratologische Rassen gehören. 5. Die starke Fluktuation der Mittelrasse, ihr zufälliges Auffinden im Freien oder in der Öultur, ihr Aufarbeiten zu wichtigen Neuheiten durch Isolirung und Zuchtwahl geben die Erklärung der Erscheinungen, welche Darwın auf diesem Gebiete zu seiner Meinung über die langsame Umwandlung der Arten leiteten. Damals meinte man, dass der Anfang dieses Processes in der Variation einer älteren Eigenschaft zu suchen sei, während that- sächlich die fragliche Variation von dem Fluktuiren der älteren Eigenschaften unabhängig ist. 6. Man könnte sich die Entstehung einer constanten Varietät oder neuen Arten wohl so vorstellen, dass man annimmt, dass zunächst aus der reinen Art eine Halbrasse, dann aus dieser eine Mittel- rasse, und ferner die neue constante Form entstünde. Doch fehlt es augenblicklich an der ausreichenden thatsächlichen Grundlage zu einer solchen Ansicht. Namentlich fehlen in sehr zahlreichen Fällen die Zwischenstufen gänzlich. $ 4. Halbrassen und halbe Curven. Die Lehre von den Anomalien wird in erster Linie durch den Satz beherrscht, dass äussere Factoren sich nur dann für die Aende- rung der Pflanzengestalt geltend machen können, wenn die Fähigkeit darauf zu reagiren, d. h. also die innere Anlage, bereits vorhanden ist.! „Wo äussere Ursachen Missbildungen hervorrufen, handelt es sich nur um ein Zutagetreten latenter Anlagen,“ sagt GOEBEL.? Jede Pflanze besitzt eine ganze Menge solcher latenter Anlagen. Eine einzelne Pflanze von Plantago lanceolata kann zugleich ramosa, stipitata, bracteata sein, gespaltene Blätter und ein- oder zweiblätterige Ascidien tragen, abnormale Torsionen, zwei- bis mehrfach gespaltene Aehren und eine Reihe anderer Anomalien zeigen. Ebenso sieht man bei Aussaat der Samen einer einzigen, rein befruchteten Pflanze oft eine ganze Reihe von Missbildungen auftreten. Viele Cultur- gewächse wie Cyclamen, Pelargonium und Fuchsia bringen fast unauf- hörlich Missbildungen hervor. ' Vergl. Intracellulare Pangenesis. S. 194. ® K. GoEBEL, Organographie. S. 158. Im ersteren Falle äussern sie sich nicht oder nur ausnahmsweise, wie z. B. die gefiederten Blätter des Rothklee’s (Fig. 165) und die zahlreichen Beispiele von einmal oder fast nur einmal bei einer Art gefundenen Bechern. Im anderen Falle äussern sie sich mehr oder weniger regelmässig, fast jährlich und an vielen Exemplaren. So sah ich in den verschiedenen botanischen Gärten, die ich besuchte, Becher- bildung an Magnolia obovata, und trägt diese Art sowie ihre Ver- wandten bei uns jährlich mehrere solche Blätter. ! In beiden Fällen sind die Anlagen erblich. Für die semilatenten ist solches bei ihrer Häufigkeit ohne weiteres klar, aber auch bei den übrigen weisen die gelegentlichen Wiederholungen mit völliger Bestimmt- heit darauf hin. Latente und semilatente Eigenschaften bilden, was man den äusseren Formenkreis der Art nennen kann. Die im gewöhn- lichen Leben einer Art sich an jedem Individuum äussernden, oder die nur als Reaction auf gelegentliche Einwir- kungen wie Verwundung, Verstümme- lung, Verdunkelung, Entblössung unter- irdischer Organe u. s. w. eintretenden normalen Eigenschaften bilden den inne- ren Formenkreis, sie gehören zum inner- a sten Wesen der Art. Aber die zahl- , caltıa palustris, Curve der Zahl losen latenten Eigenschaften gehören der Blumenblätter für 416 Blüthen. B Weigelia amabilis, Curve der ebenso gut zum Wesen der Art, nament- “ yi,felderKrone für1145 Blüthen.? lich dann, wenn sie unter den Vorfahren schon einen Theil des inneren Kreises gebildet haben und somit atavistische sind. Und gerade dieser bis jetzt viel zu wenig studirte äussere Kreis enthält die besten Anweisungen über die Abstammung und somit über die systematische Verwandtschaft, wie namentlich die musterhaften Arbeiten CzrLakowsky’s lehren. Nur sollte man, nach dem Vorgange HEINRIcHER’s, sich mehr bemühen, sie durch Cultur dem Studium näher zugänglich zu machen und einen immer grösseren Theil dieser latenten Anlagen an’s Licht zu bringen. ! Over de erfelykheid van synfisen, Bot. Jaarb.d.Gesellsch.Dodonaea. Gent 1895. S. 129. Im Laufe von 10 Jahren habe ich etwa 100 Magnolia-Becher beobachtet. BuBer. d..d. bot. Ges: Bd. XII. 1894. .S. 197. Taf. X. 430 Latente und semilatente Eigenschaften. Die Aeusserungen latenter Merkmale sind so selten, dass sie sich fast stets einer statistischen Behandlung entziehen (S. 423). Wiederholen sie sich, so pflegen sie sich als sehr variabel zu erkennen zu geben, denn auch die seltensten Anomalien bleiben sich dabei gewöhnlich nicht gleich. Man erkennt dann, dass die Variabilität eine sogenannte einseitige ist; Öurven zu construiren, gelingt aber in der Regel, wegen der grossen Spärlichkeit des Materiales, nicht. Viel günstiger stehen in dieser Beziehung die Halbrassen. Hier sind die Abweichungen nicht mehr so seltene. Allerdings überwiegt die normale Eigenschaft noch, aber man findet meist leicht ein ge- nügendes Material für statistische Studien. Dann ergiebt sich klar, dass die Variabilität eine einseitige ist. Die Curve gipfelt in der normalen Eigenschaft, die Abweichungen liegen alle auf derselben Seite. Und in den gewöhnlichen Fällen sind sie um so weniger zahl- reich, je weiter sie sich vom Typus der Art entfernen. Unsere Fig. 120 giebt in A und B ein paar Beispiele. A giebt die Anzahl der Blumen- blätter von Caltha palustris an einem Standorte unweit Hilversum an; die Blumen sind, wo die Art rein ist, fünfzählig. Hier fanden sie sich aber mit 5—8 Blumenblättern, und zwar in der folgenden Ver- theilung: Blüthen mit 5 6 7 8 Kronenblättern. Anzahl 22.5 2140) BR, 1590 Weigelia amabilis hat gleichfalls als Norm fünfzählige Blüthen; sie varliren aber häufig in der Minusrichtung. Ich fand in 1167 Blüthen von 3 Sträuchern unseres Gartens (Fig. 120 B): Zipfel der Krone 3 4 5 Zahl der Blüthen 61 196 888. Die halben Curven sind nicht der Hälfte einer normalen Curve gleich, dazu ist die Höhe des Gipfels, d.h. die Anzahl der normalen Fälle eine zu grosse. Es handelt sich ja nicht um die Variabilität der auf der grössten Ordinate verzeichneten Eigenschaft, sondern um die Abwechselung einer anderen, in jenen Blüthen gänzlich ver- borgenen.! ' Die halben Curven sind somit Combinationscurven. Ihren Gipfel bildet der mittlere Werth der normalen Eigenschaft; ihr einseitiger Schenkel wird von der semilatenten Eigenschaft bedingt. Ist die normale Eigenschaft innerhalb des Beobachtungsmateriales invariabel, so hat sie selbst keine Curve, daher das völlige Fehlen eines Schenkels auf der einen Seite. So z. B. bei auf Zahlen gegründeten Curven, wenn die normale Zahl constant oder so gut wie constant ist, wie im Falle des dreiblätterigen Klees oder fünfzähliger Blüthen. Ist die normale Eigen- Halbrassen und halbe Ourven. 451 Die halben oder einseitigen Curven sind in der Natur weit ver- breitet. Wo sie vorkommen, deuten sie meist die Existenz von Halb- rassen an. Jedoch können, wie wir bereits erörtert haben (S. 423), unter Umständen auch Mittelrassen halbe Curven aufweisen, wie auf der anderen Seite durch Selection und gute Ernährung die halbe Curve einer Halbrasse in eine zweischenkelige umgewandelt werden kann. Doch komme ich hierauf demnächst zurück. Beispiele halber Curven und halber Rassen bieten die älteren Untersuchungen von Frırz MÜLLER mit Abutilon,! deren Blüthen ın einer Zuchtcultur aus Samen sechsblätteriger Blumen, die folgende Zahlenreihe aufwiesen: 145 (5 Pet.), 103 (6 Pet.), 13 (7 Pet.) Ein- geklammert ist die Anzahl der Petalen für jede der drei Gruppen von Blüthen. Von den neueren Untersuchungen sind diejenigen von Bartzson und PERTZ mit Veronica Buxbaumii anzuführen, in denen trotz Selection bei den verschiedensten Abweichungen in dem Zahlen- verhältniss der Blüthentheile die normalen Fälle stets etwa 70—90°/, betrugen, während sich daneben die abnormen in abnehmender Reihe anordneten.” Die Früchte von Aguwilegia sind fünf in der Blüthe, daneben kommen einige zu 6 und andere wenigere zu 7 vor. Die Frucht der Baumwolle ist fünffächerig, doch fand ich mehrere darunter mit 4 und einzelne mit 3 Fächern. Papaver Argemone hat vierzählige Blüthen, doch giebt es bisweilen solche mit 5 und wenige mit 6 Kronenblättern; als ich die Samen der letzteren aussäte, erhielt ich keine Verbesserung. Blattverdoppelungen, Connation von Schirmstrahlen bei Umbelli- feren, von Fruchtstielen bei Cruciferen, von Früchtchen bei Com- positen u. s. w., Adnation von Achselsprossen an ihre Tragsprosse, und zahlreiche andere Anomalien verhalten sich wie Halbrassen: neben massenhaft vorwiegenden normalen Fällen kommen die anormalen um so seltener vor, je weiter sie von der Norm abweichen. Es wäre überflüssig, hier eine längere Liste zusammenzustellen. Nur führe ich noch die Catacorollarlappen auf der Aussenseite der Krone einer schaft an sich merklich variabel, wenn auch wenig, wie bei auf Messungen ge- gründeten Statistiken, so hat die halbe Curve auch auf der anderen Seite einen Schenkel, dieser ist aber sehr steil. Es lohnt sich nicht, diesen Punkt hier weiter auszuarbeiten; es sollte nur hervorgehoben werden, dass die halben Curven nur ein specieller Fall ungleichschenkliger oder asymmetrischer Curven sind. ! HERMANN MÜLLER, Die Befruchtung der Blumen. 8. 450. ®2 W. Barzson and Miss D.F.M. Perrz, Notes on the inheritance of Varia- tion in the Corolla of Veronica Buxbauwmii. Proceed. Cambridg. Phil. Soc. Vol.X. Er IT. 8.78. 432 ‚Batenie und semüilatente Bigenschaften. a von \ Einen De an, ae ich selbst a: einige Generationen cultivirt habe, und für welche die halben Curven jüngst von GARJEANNE aufgestellt und studirt worden sind.! Jedermann weiss, dass jede Art eine Neigung hat, wie man zu sagen pflegt, um in bestimmten Richtungen zu variiren; in diesen thut sie solches öfters, in anderen entweder gar nicht oder höchst selten. Die Anzahl der Anomalien ist für jede Art eine begrenzte, keineswegs eine unbegrenzte. Dabei bringt die eine Art vorwiegend diese, die andere am zahlreichsten jene Abweichung hervor. Diese allgemeine, aber in etwas vagen Ausarücken geläufige Erfahrung kann der Ausgangspunkt für eingehende experimentelle Studien werden. Denn was ist in diesen Fällen unter „Neigung“ zu verstehen? Meiner Ansicht nach einfach die Existenz einer Halbrasse, bisweilen sogar die Existenz einer Mittelrasse. Diese beiden Rassen sind, soweit meine Erfahrung reicht, scharf geschiedene, und in zahlreichen Fällen dem experimentellen Studium zugängliche Sachen, welche in ihrem Wesen nichts Vages haben, deren Erscheinung aber durch ihre sehr stark fluktuirende Variabilität für die oberflächliche Betrachtung mehr oder weniger getrübt wird. Nimmt man Pflanzen, welche eine solche besondere Neigung zu irgend welcher Anomalie haben, in Cultur, und isolirt man sie in entsprechender Weise, so findet man wohl stets, dass man eine be- sondere Rasse vor sich hat. Ein Beispiel werde ich im nächsten Paragraphen besprechen; daneben giebt es aber eine lange Reihe anderer. Mehrfach aber ist es, wenigstens vorläufig, unsicher, ob neben der Halbrasse auch noch die „Art“ selbst vorkommt, d. h. eine Rasse, in der das fragliche Merkmal latent, und nicht semilatent ist. Wenn aber, wie ja so oft, die Art sehr verbreitet ist, die Halb- rasse aber nur local beobachtet wurde, liegt es auf der Hand, die getrennte Existenz beider anzunehmen. Fe Anomalien, welche sehr häufig im Freien beobachtet werden, deuten auf Mittelrassen, die selteneren aber auf Halbrassen. Im ersteren Falle werden sie nicht selten zu den Artmerkmalen ge- rechnet, wie die merkwürdigen Seitenfrüchtchen auf den Früchten von Tetragonia expansa, welche bereits DE CANDOLLE im Prodromus in seine Diagnose aufnahm.? Sehr bekannt ist die unvollständige Apetalie ı A. J. M. GARJEANNE, Beobachtungen und Qulturversuche über eine Blüthen- anomalie von Linaria vulgaris. Flora 1901. Bd. 88. S. 78 mit Taf. IX und X. ®2 A. ne Canporıe, Prodromus Regni Vegetabilis. Vergl. ferner EICHLER, Blüthendiagramme. I. S. 120. Halbrassen und halbe Curven. 433 von Ranuncuhıs auricomus,! ebenso die verzweigten Aehren von Lolkum perenne ramosum, welche in meinem Vaterlande fast überall verhältniss- mässig häufig zu sein scheinen. Linden, mit 20—30°/, ihrer Blätter in Ascidien umgewandelt, erwähnt LEnEcEr? und auch bei uns kommen theils Bäume mit ganz vereinzelten Bechern, theils solche, welche daran jährlich reich sind, vor (Fig. 106 S. 335). In mehreren Fällen kennt man neben einander die Halbrasse und die Mittelrasse, sei es bei derselben, sei es bei verwandten Arten. So wächst bei uns häufig eine Form von Plantago major (f. bracteata), welche im unteren Theile der Aehre mehr oder weniger zahlreiche srüne Bracteen trägt. Die bekannte Plantago major rosea unserer Gärten, deren sämmtliche Bracteen grün und meist ziemlich gross sind, bildet dazu die samenbeständige. Mittelrasse. Neben Papaver somniferum polycephalum (Figg. 27—28 8. 98—99), welche als Mittel- rasse aufzufassen ist, kommen polycephale Halbrassen von P. commu- zatum und mehreren anderen Arten vor. Sie verhielten sich, in meinen Versuchen, der Selection gegenüber durchaus anders als jene. Neben den so sehr beliebten Varietates cristatae unserer cultivirten Farne findet man im Freien gelegentlich wilde Arten mit einem gespaltenen Blatte. Celosia cristata, der Hahnenkamm ist eine höchst interessante Mittelrasse,? neben der fasciirte Halbrassen in zahlreichen anderen Gattungen sehr bekannt sind.* Aber ich muss hier auf die Auf- zählung weiterer Beispiele verzichten. Wie eine Art sich durch zwei und mehrere Merkmale von ihren nächsten Verwandten unterscheiden kann, ebenso kann eine Halbrasse zwei oder mehrere Eigenschaften, welche in der betreffenden Art latent sind, als semilatente Anomalien zur Schau tragen. Solches kommt ja keineswegs selten vor. Wenn es sich dann um Merk- male handelt, welche von der Norm der Art in entgegengesetzter Richtung abweichen, so können „doppelte halbe Curven“ gebildet werden, welche dann zweischenkelige, aber abnormal geformte Curven bilden. So varıirt z.B. bei uns die Zahl der Blumenblätter von Ay- pericum perforatum um die Norm 5, einerseits häufig zu 4 und selten zu 3, andererseits selten zu 6. Ebenso variirt die Krone von Campa- ! Winter, Journ. of Bot. Vol. 35. 1897. S. 406. Auch in unserem Garten und in der hiesigen Gegend im Freien wächst diese Form. ? O. Lenecer, Mitth. d. naturw. Vereins. Wien 1893. 8. 19. Gefunden unweit Leitmeritz. ® Vergl. den zweiten Band. * Botanisch Jaarboek Gent. Jahrg. 1894. S. 72. DE VRIES, Mutation. I. 28 434 Latente und semilatente Eigenschaften. nula rotundifolia vielfach von 5 nach 6 und 7, und selten von 5 nach 4 und 3.! Selection und Ernährung haben auf Halbrassen ihren gewöhn- lichen, grossen Einfluss. Ich werde hierüber allerdings erst am Schlusse dieses Abschnittes ausführlich handeln können, glaube aber, zum richtigen Verständniss des Ganzen, wenigstens das Prinzip voran- schicken zu sollen. Nach unseren Auseinandersetzungen über die fluktuirende Varia- bilität im dritten Abschnitte pflegen die Auslese und die Ernährung gleichsinnig auf die einzelnen Merkmale der Pflanzen einzuwirken. Durch positive Auslese und gute Ernährung erhöht man die Ausbildung einer Eigenschaft, während Selection nach der Minus-Richtung oder mangelhafte Versorgung in der entgegengesetzten Richtung wirken. So verhält es sich mit a der Polycephalie von Pa- A 8 paver somniferum? und, wie wir nachher sehen werden, mit allen darauf geprüften Anomalien. Halbe Curven können dadurch in zwei- schenkelige umgewandelt werden (Fig. 121), sei es, dass man für die besten, an der Anomalie reichsten Fig. 121. Einfluss von Selection und Ernährung Exemplare eine besondere auf die Halbrasse Ranunculus bulbosus semiplenus. Curve aufstellt, sei es, 4 Halbe Curve nach mehrjähriger Cultur. B Curve der 12 besten (d. h. an Blumenblättern reichsten) dass man von diesen aus- Individuen. C Curve der allerbesten Pflanze. ? gehend eine veredelte Rasse züchtet. Aber eine solche veredelte Rasse bleibt von der Selection und der Ernährung abhängig, sie verliert sich, wenn diese aufhören.* Ein Beispiel möge genügen. Die Achillew Millefolium blüht weiss, bildet aber stellenweise einzelne röthliche Inflorescenzen aus. Aus dieser habe ich eine roth blühende Rasse gezüchtet, mit theilweise dunkelweinrothen Blüthen. Nach vierjähriger scharfer Selection blühten bei guter Cultur sogar alle Exemplare mehr oder weniger roth. Bei gedrungenem Stande oder Vergl. auch Ber.d.d.bot. Ges. Bd. XIl. 1894. S.202; daselbst weitere Beispiele. Ber. d. d. bot. Ges. Bd. XII. 1894. Taf. X Fig. 4. Abschnitt I. S. 95—100. Abschnitt I. $ 14 S. 86. MM» oo DD + Trifolium pratense qwinguefolium, eine Mittelrasse. 435 auf schlechtem Boden waren aber mehr als dıe Hälfte weiss, und als ich dann ohne Selection weiter säte, ging der Gehalt an rothen bald auf das ursprüngliche ganz geringe Maass zurück. Dem gegen- über steht. bekanntlich die Begonia semperflorens atropurpurea Vernon . des Handels als eine samenbeständige dunkelbraunrothe Rasse. Mittelrassen gehen durch Minus-Selection leicht und stark zurück, doch gelingt es nicht oder doch sehr selten, ihr Merkmal nahezu vollständig auszuroden, wie ich solches z. B. bei Aster Tripolium und Bidens grandiflora in Bezug auf die Adnation der Achselsprosse an den Tragspross erfuhr, und wie ich es später für Celosia cristata aus- führlicher erörtern werde (Band II). Zusammenfassend sehen wir, dass es in der Natur sowie in der Cultur in Bezug auf Gartenvarietäten und sonstige Anomalien häufig zwischen einer ursprünglichen Art und einer constanten Varietät Zwischenstufen giebt. Namentlich häufig sind die Halbrasse und die Mittelrasse. Die ersteren haben eine halbe Curve, die Curve der letzteren ist eine zweischenkelige. Beide kommen in sehr zahlreichen Arten und Gattungen vor, entweder zusammen oder nur die eine von ihnen. Beide lassen sich durch Ernährung und Selection leicht be- einflussen, sind aber gewöhnlich scharf getrennt und nur scheinbar durch Uebergänge vielfach verbunden. $ 5. Trifolium pratense quinquefolium, eine Mittelrasse. So selten die Vierkleeblätter im Freien sind, so leicht ist es, deren viele Hunderte zu haben, wenn man nur erst im Besitz der erblichen Rasse ist. Von dieser Rasse scheinen im Freien gelegent- lich vereinzelte Exemplare vorzukommen; es gilt nur sie aufzufinden, zu isoliren und zu vermehren (Fig. 122). In diesem Paragraphen werde ich die Geschichte einer solchen Rasse beschreiben. Es geschieht dieses hauptsächlich mit dem Zweck, um den Gegensatz zwischen einer Mittelrasse und den im vorigen Paragraphen besprochenen Halbrassen um so schärfer an’s Licht treten zu lassen. In einer Halbrasse wird die latente oder semi- latente Eigenschaft oft nur selten sichtbar, in einem Blatt oder auf einer Pflanze unter vielen Tausenden, und nach mehrjähriger Selection giebt es oft nur noch einzelne Individuen, welche mehr als zwei oder drei Exemplare der Anomalie zur Schau tragen. In der erblichen Rasse, der Mittelrasse, wie ich sie im Gegensatz zu der Halbrasse nenne, tritt die Anomalie aber überwiegend auf. 28 436 Latente und semilatente Eigenschaften. Die meisten Blätter haben 4—7 Scheiben, und Pflanzen ohne solche entstehen auch bei völligem Mangel von Samenauswahl kaum jemals. Dreiblätter fehlen nicht und wohl auf keinem einzigen Individuum, namentlich in der Jugend und auf schwachen Aesten. Andererseits existiren rein fünfblätterige und rein siebenblätterige Rassen bis jetzt nicht. Ich meine solche ohne! Rückschläge, d. h. echte Arten. Es liegt kein Grund vor, anzunehmen, dass es nicht später einmal gelingen wird, wenigstens eine constante siebenblätterige Varietät zu erhalten. Dazu ist aber, nach den Erörterungen des & 2, ein glücklicher Zufall, d. h. eine Combination uns unbekannter Ur- sachen erforderlich, und einen solchen gab es bis jetzt in diesem Falle nicht. Wenn man eine variable Rasse im Freien aufgefunden hat, handelt es sich zunächst darum, sie zu isoliren. Und ist die Art, wie es beim Rothklee der Fall ist, in vereinzelten Individuen unfruchtbar, so hat man deren zwei oder drei zu- sammen zu cultiviren, oder wenn man diese nicht hat, so sind eine A B C oder mehrere Genera- Fig. 122. Trifolium pratense quinquefolium. Fünf- und Kiomem, dem armen lea siebenscheibige Kleeblätter. Das linke Blatt A zeigt die Rasse von etwaigen in der Spaltung eines der Seitenblättchen einen Ueber- Kreuzungseinflüssen zu gang zur Sechsblättrigkeit. reinigen. Doch geschieht solches in der Regel leicht. Ferner lässt sich, innerhalb des Formen- kreises der neuen Rasse, das Merkmal durch Selection verbessern, wie es ja auch bei den reinen Artmerkmalen der Fall ist. Hat man erreicht, was in dieser Richtung zu erreichen ist — und solches tritt meist nach wenigen Generationen ein —, so sind weitere Ver- besserungen nur von einer entsprechenden Erhöhung der günstigen Culturbedingungen zu erwarten. In dieser Weise gelang es mir an- fangs meinen Vierblattklee allmählich zu verbessern, aber seit 1895 ! Ohne Rückschläge, oder doch mit so seltenen, als beim gewöhnlichen Klee die Vierblätter, welche ja auch partielle Atavismen sind, vorkommen. Trifolum pratense qwinquefolium, eine Mitielrasse. 437 ist, trotz anhaltender scharfer Selection, kein Fortschritt mehr be- merkbar gewesen. Ich beschränke mich deshalb auf die Beschreibung der sieben ersten Generationen. Diese waren: 1. Generation. 1836—89. Zwei Pflanzen aus Loosdrecht. 2. n 1890. Vier Pflanzen mit 4—5 scheibigen Blättern. 3% R 1891. Mit bis 36°/, abnormalen. Blättern pro Pflanze. | F' Mit einzelnen abnormalen Keimpflanzen. 4.1 „ 1892. E Mit 60°/, Keimpflanzen, deren 1., 2. oder 3. Blatt vierscheibig war. 5: x 1893. E Mit 55°, Keimpflanzen mit zusammengesetztem Primordialblatt. 6. r 1894. E Mit 96—98°/, Keimpflanzen mit zusammengesetztem Primordialblatt. 7. > 1895. E Mit 95—97°/, Keimpflanzen mit zusammengesetztem Primordialblatt. Zur eingehenderen Beschreibung übergehend, fange ich mit den im Freien aufgefundenen Exemplaren an.” Ich fand sie unweit Loosdrecht auf einem mit Gras bewachsenen Wegrande. Sie trugen einige vierscheibige und ein fünfscheibiges Blatt, und schienen also günstiger gestellt zu sein, als die mehr gewöhnlichen Funde, welche oft ja nur ein Vierkleeblatt auf einer Wiese ergeben. Ich verpflanzte sie in meinen Versuchsgarten; sie lebten dort noch drei Jahre und wiederholten die Anomalie alljährlich, und zwar, wegen der besseren Lebenslage, in zunehmendem Maasse. Im Juli und September 1839 zählte ich 46 vierscheibige und 19 fünfscheibige Blätter unter einer viel grösseren Menge normaler. Sechs- oder siebenscheibige Blätter haben diese Exemplare aber überhaupt nicht hervorgebracht. Im Herbst 1889 sammelte ich ihre Samen und säte sie im nächsten Frühling auf einem Beete meines Versuchsgartens aus. Ich erhielt etwas über 100 Pflanzen, unter denen die Hälfte vier- scheibige Blätter trug. Die übrigen wurden ausgerodet, theils im Juli vor der Blüthe, theils während der Blüthe.e Am 1. September sparte ich nur die vier Pflanzen, welche am reichsten an anormalen Blättern waren, und entfernte alle übrigen. Jene vier trugen zu- sammen 64 vierscheibige und 44 fünfscheibige Blätter. Von den ! Für dieses Jahr ist die Angabe eine doppelte. F'(Frühling) bezieht sich auf die Cultur von 1892 selbst. E auf die Beurtheilung der Samenträger dieses Jahres auf Grund der aus ihren Samen hervorgehenden Keimpflanzen (vergl.S.438). Ebenso für die folgenden Jahre. ? Over het omkeeren van halwe Galton-curven. Kruidkundig Jaarboek. Gent. Bd. X. 1898. S. 27—54 mit Tafel 1. 438 Latente und semilatente Eigenschaften. übrigen Pflanzen hatten die besten im Mittel nur fünf anormale Blätter pro Pflanze. Sechs- und siebenscheibige gab es auch dieses Jahr noch nicht. Aus den Samen dieser vier auserwählten Pflanzen erhielt ich 1891 die dritte Generation, wiederum durch Aussaat im Garten. Sie umfasste 300 Pflanzen, auf welchen ich beim Anfang der Blüthe 8366 Blätter untersuchte. Von diesen hatten 1177 oder 14°/, vier oder fünf Blättehen. Solche mit 6—7 Scheiben gab es damals noch nicht; diese erschienen erst im August und September. Auch ın Bezug auf die „Erben“, d. h. die Pflanzen mit wenigstens einem vier- scheibigen Blatte war ein Fortschritt zu bemerken. Es gab deren 1890 etwa 50°/,, jetzt aber nahezu 80°/,. Diese trugen im Mittel je 4 vier- und ebenso viele fünfscheibige Blätter. Anfang August wählte ich die zwanzig besten Erben aus und entfernte alle übrigen. Unter ihnen erntete ich nur Samen von neun Pflanzen, welche wiederum die besten waren, und säte im nächsten Frühling nur die Samen einer einzigen Mutter, welche mir die allerbeste zu sein schien. Sie hatte unter ihren Blättern deren 36 °/, mit mehr als drei Blattscheiben getragen. Im Frühling 1892 machte ich meine Aussaat in Schüsseln im Gewächshaus des Laboratoriums, anstatt auf den Beeten wie bis dahin. Dieses hatte den Vortheil einer mehr vollständigen Keimung, nament- lich aber den der bequemeren Beurtheilung der Keimpflanzen. Diese blieben bis zur Entfaltung des dritten Blattes in den Schüsseln, wurden dann ausgesucht, und die besten einzeln in kleine Töpfe mit sedüngter Gartenerde versetzt. Es zeigte sich, dass es unter mehreren Hunderten von normalen Keimlingen achtzehn Exemplare gab, bei denen die Vierscheibigkeit bereits an den ersten Blättern sichtbar war. Nur diese wurden ausgepflanzt; sie waren den ganzen Sommer überaus reich an 4—Öscheibigen Blättern und auch 6—7scheibige waren an ihnen, zum ersten Male in diesem Versuche, in grösserer Menge zu beobachten. Damit war die Isolirung der fünfblätterigen Kleerasse abge- schlossen. Die Ausbildung des sonst latenten oder semilatenten Merk- males hatte ihre volle Höhe erreicht. Durch Selection konnte die Rasse, wie jede andere, noch etwas weiter verbessert werden, ihren Typus würde sie aber dabei behalten. Ich habe es selbstverständlich nicht unterlassen, auch diese weitere Verbesserung in meiner Rasse anzubringen. Auf die Merk- male der erwachsenen Pflanzen brauchte dabei weiter nicht Acht ge- geben zu werden. Denn hier würden nur durch genaues Auszählen Trifolium pratense qwinquefolium, eine Mittelrasse. 459 aller Blätter Unterschiede gefunden werden können. Und ein solches Auszählen ist praktisch nicht mit der erforderlichen Genauigkeit aus- führbar. Denn die Pflanzen sind zu stark, um noch in Töpfen zu wachsen; auch darf man ihre Blätter weder abbrechen, noch auch - sonst beschädigen. Gilt es, Curven zu machen, so muss man die Pflanzen dazu aufopfern, und solches kann selbstverständlich erst nach der Wahl der Samenträger geschehen. Aus diesen Gründen empfiehlt es sich, die Wahl bereits an den Keimpflanzen machen zu können, und zwar am besten so früh wie möglich, jedenfalls vor dem Auspflanzen. Solches hatte bereits im Frühling 1892 stattgefunden, brauchte also nur noch durch fort- gesetzte Selection ausgearbeitet zu werden. Und das Ergebniss hat diese Erwartungen bestätigt. Von den oben erwähnten 18 Pflanzen von 1892 konnte ich im nächsten Frühling die Samen aussäen, und zwar für jede Mutter besonders. Als die Keimlinge das dritte Blatt entfaltet hatten, zählte ich sie. Waren die Blätter alle normal, so rodete ich sie ohne Weiteres aus; hatte wenigstens eins dieser Blätter eine überzählige Scheibe, so betrachtete ich sie als gute Erben. Im Ganzen fand ich auf 3409 Keimpflanzen 2471 normale und 938, also etwa 30 °/, solcher Erben. Allerdings waren die übrigen 70°/, ebenfalls Erben, nur in diesem Alter noch nicht als solche kenntlich. Denn einige von ihnen, welche ich versuchsweise ausgepflanzt habe, trugen später noch 4—7 scheibige Blätter in grosser Menge. Für 16 der genannten 18 Samenträger bestimmte ich nach diesem Merkmal den procentischen Gehalt an guten Erben; ich fand diese Erbziffer in der folgenden Weise vertheilt. Sie lag zwischen: 102200 221300 31-100), 41-509), 51-00%, 61- 70°), bei 1 7 3 2 2 1 Samenträgern. Ferner wählte ich in dieser Reihe eine Pflanze mit 60°/, solcher Erben aus; sie hatte selbst in ihrer Jugend ein zusammengesetztes Primordialblatt gehabt, und empfahl sich somit auch aus diesem Grunde für die Fortsetzung der Rasse. Man findet sie in der Tabelle auf S. 437 unter 1892 E genannt. Unter den Keimlingen aus den Samen dieses Stammhalters fanden sich jetzt mehrere mit dreischeibigem (statt einfachem) Primordialblatt 1 Botan. Jaarboek Gent. T. X. S. 37, wo die beiden Zahlen durch ein Versehen verwechselt worden sind. 440 Latente und semilatente Bigenschaften. (Fig. 123). Ich wählte nur diese als Samenträger, zum Auspflanzen, aus. Und indem ich dieses Merkmal auch später als Bedingung für die Wahl als Samenträger festhielt, konnte ich meine Culturen in erheblicher Weise vereinfachen. Denn bereits 2—3 Wochen nach der Aussaat konnte jetzt die endgültige Wahl vorgenommen werden, und es brauchte auf die weitere Entfaltung der Eigenschaft gar nicht mehr Acht gegeben zu werden; diese war völlig versichert. Doch unterliess ich es nicht, mich durch weitere Versuche zu überzeugen, dass zwischen dem Reichthum an 4—7 scheibigen Blättern und der Erbziffer ein hinreichend genaues Verhältniss obwaltet. Im Juli 1893 hatte ich, aus den Samen der 1892er Pflanzen N mit 60°/, guter Erben, nur die zwölf besten behalten. Mit Ausnahme von zwei Exemplaren trugen sie alle nicht nur 4—6scheibige, sondern auch 7scheibige Blätter. Die vier besten hatten deren 27—30—33 und 34. Blätter mit mehr als sieben Blättchen gab es nicht. Die Pflanze mit 34 siebenscheibigen Blättern hatte in ihren Samen auch den höchsten Gehalt an Erben, wie sich ım Frühling 1894 ergab. Sie hatte auf 209 Keimlingen 51 mit zweischeibigem und Fig. 123. Trifolium pratense quinquefolium. | i : SE 3 : A Keimpflanze mit dreischeibi- 64 mit dreischeibigem Primordialblatt, gem Primordialblatt. 3, C solche zusammen also 55 %/,. Sie wurde deshalb mit einfachem und mit zweischei- x e 3 bigem Primordialblatt; diese beiden als Samenträger auserwählt (vergl. S. 437). Typen wurden als Atavisten der Zu bemerken ist, dass in früheren Jahren Bas acer Keimlinge mit einem zusammengesetzten Primordialblatt entweder völlig fehlten oder doch sehr selten gewesen waren.! Im Sommer 1894 erzog ich nur Kinder von jener Pflanze mit 55°/, Erben, und zwar von diesen nur die zwanzig besten mit drei- zähligem Primordialblatt und mit dem nächsten Blatte 4—5scheibig. Nur diese liess ich blühen und Samen tragen; ihre Ernte wurde im Frühjahr nach denselben Merkmalen beurtheilt.- Sie enthielt für 11 Pflanzen 70—90 °/,, für fünf andere 91—96 °/, und für die zwei besten 98—99 °/, Keimlinge mit zusammengesetztem Primordialblatt. ! Vergl. das für Trifohum incarnatum (S 22) in Bezug auf die Samen- grösse mitgetheilte. Beim fünfblätterigen Rothklee hatten, namentlich später, fast alle Keime zusammengesetzte Primordialblätter, und hing diese Eigenschaft also nicht von der Samengrösse ab. Trifolium pratense quwinquefolium, eine Mittelrasse. 441 Und je höher diese Zahl, um so ausschliesslicher waren diese Blätter . dreischeibig, um so seltener waren die zweischeibigen. Die Cultur des nächsten Jahres (1895), die siebente Generation meines Versuches, erhielt sich auf etwa derselben Höhe, und so blieb meine Rasse seitdem, bei entsprechender Auslese, constant. Diese constante, an der betreffenden Anomalie so überaus reiche Rasse habe ich zu einer Reihe von Beobachtungen und Versuchen benutzt, deren wichtigste hier kurz erwähnt werden mögen.! Denn sie sind geeignet, uns eine klare Einsicht in das Wesen einer solchen Rasse zu geben. Diese hat einen hohen Grad von Variabili- tät und verdankt diese dem Besitze einer semilatenten Eigenschaft neben derjenigen, welche sie offenbar von der Mutterart vererbt hat. Je nach der Lebenslage gelingt es diesem mütterlichen Erbtheil, den dreizähligen Blättern, mehr oder weniger zur Geltung zu kommen. Und im All- gemeinen sind günstige Umstände dem Rassenmerkmal, ungünstige dem Artmerkmal vortheilhaft (siehe unten & 26). Es ist dieses nur ein specieller Fall des bekannten Satzes: jede Beeinträchtigung erhöht die Neigung zum Atavismus.? Zunächst besprechen wir die Periodicität. Mit zunehmender individueller Kraft nimmt sowohl an der ganzen Pflanze als an den einzelnen Aesten die Aussicht auf mehrscheibige Blätter zu. Tritt am Ende wiederum Schwäche ein, so nimmt auch dieser Reichthum wiederum ah. Betrachten wir zunächst die Fig. 124. Sie ist eine Photographie eines jungen, kräftigen Astes, und wurde am 1. August 1900 auf- genommen. Das untere Blatt war nahezu verwelkt; es war klein und hatte die umgekehrt-eirunde Form der Blättchen, welche den Blättern der jungen Rothkleepflanzen eigen ist. Es hatte nur drei Scheiben. Die beiden folgenden Blätter sind erheblich grösser und kräftiger, von mehr elliptischer Form und vierzählig. Dann folgt ein 6- und darauf ein 7scheibiges Blatt, bis schliesslich der Ast wieder zu schmächtigeren Typen zurückkehrt. Der photographirte Zweig war ein ausgesucht regelmässiger; doch fehlte ihm in der aufsteigenden Reihe ein fünfscheibiges Blatt. Die meisten Zweige sind, auch auf den schönsten Pflanzen, weniger ! Für die ausführliche Beschreibung vergleiche man meinen mehrfach er- wähnten Aufsatz in Kruidkundig Jaarboek. Bd. X. ? D.h. Rückschlag der Rasse zu ihrer Mutterart; denn das Rassenmerkmal selbst stellt ja einen Atavismus zu früheren Vorfahren dar, 442 Latente und semilatente Eigenschaften. regelmässig; auch kommt es nicht selten vor, dass auf die vierblätte- rigen Blätter zunächst wiederum Dreiblätter folgen u. s. w.! Was von den Seitenzweigen gilt, gilt auch von der Rosette der’ Wurzelblätter, deren Achse ja den primären Stamm der ganzen Pflanze darstellt. Auch hier nimmt im Grossen und Ganzen die Anzahl der Scheiben pro Blatt anfangs zu, und später wiederum ab, aber mit vielfachen Störungen. Auch die Aeste selbst zeigen eine gewisse Periodicität, denn die unteren sind weniger reich an anormalen Blättern, als die nächst oberen, während die am höchsten inserirten wiederum ärmer sind. Wenn nun, bei einer solchen Verthei- lung, für eine Achse die Lebensbedingun- gen in der frühesten Jugend günstige sind, wird sie demzufolge mehr 4--7 scheibige Blätter ausbilden. Und es leuchtet ein, dass diese sich vom Maxi- so weiter nach oben und nach unten er- strecken werden, je grösser ihre Anzahl Fig. 124. Trifolium pratense quinquefolium, 1900, die ist. Daraus folgt aber Periodicität der Anomalie auf einem Aste zeigend. Von wiederum, dass bei unten anfangend er 3—4—4—6 75 Yasserer Ernährung ee die Erscheinung in früherer Jugend sichtbar werden wird, als bei schlechterer. “Und solches gilt sowohl von den einzelnen Zweigen, als auch von der Rosette der Wurzelblätter, also von der ganzen Pflanze. Umgekehrt ergiebt sich hieraus die Regel, dass man von einer ! Für Zahlenbelege verweise ich auf: Ueber die Periodievtät der partiellen Variationen, in Ber. d. d: bot. Ges. 1899. Bd. XVII. S. 48. mum der Periode um Trifolium pratense quwinquefolium, eine Mittelrasse. 445 jungen Pflanze einen um so grösseren Reichthum an anormalen Blättern erwarten darf, je früher sie ihr erstes vierscheibiges Blatt hervor- bringst. Und die besten Erben werden somit die Keimpflanzen mit zusammengesetztem Primordialblatt sein. Solches hat sich denn auch im Allgemeinen in meiner Cultur bestätigt. Ueberblickt man nun noch einmal die Tabelle auf S. 437, so ersieht man, dass das Merkmal der Beurtheilung im Laufe der Generationen und in Folge der Selection sich allmählich verschoben hat. Je weiter die Verbesserung vorgeschritten war, um so. früher konnte die Auslese stattfinden. In der dritten Generation erzog ich auf den Beeten noch 300 Pflanzen für die Auswahl; seit der vierten wählte ich in den Keimschüsseln und pflanzte nur die wenigen (z. B. 10—20) besten Individuen aus, um Samen zu tragen. Innerhalb der erblichen Rasse kann man somit einerseits durch Auswahl den Gehalt an mehrscheibigen Blättern zunehmen, oder ihn andererseits durch sogenannte Retourselection oder Rückwahl ab- nehmen lassen. In beiden Fällen entfernt man sich soweit wie mög- lich vom Mittel der Rasse, ohne dabei bestimmte Grenzen über- schreiten zu können. Sehen wir zu, was die Auslese in beiden Fällen zu leisten vermag, und fangen wir mit dem ersteren an. Es gilt somit die Anomalie bis an ihre äusserste Grenze zu ver- stärken. Eine auffallende Eigenthümlichkeit meiner Rasse ist, dass sie nie oder nur äusserst selten Blätter mit mehr als sieben Scheiben hervorbringt. Allerdings kommt auch in dieser Rasse die auch sonst nicht seltene Verdoppelung der Blätter durch Spaltung! bisweilen vor, und trifft diese ein fünfscheibiges Blatt, so kann dieses zehnscheibig werden. Das ist aber die Aeusserung einer anderen latenten Eigen- schaft, welche wir hier nicht zu besprechen haben. Aber abgesehen davon habe ich in meinen Culturen, trotz fleissigen Suchens, bis jetzt keine Blätter mit mehr als sieben Scheiben angetroffen. | Das Merkmal meiner Rasse sind die fünfscheibigen Blätter, diese bilden gewöhnlich die Mehrzahl, und um sie gruppiren sich die übrigen nach dem QUETELET’schen Gesetze, soweit es der Vorzug der Symmetrie gestattet. Denn es ist klar, dass dieser Vorzug der regel- mässigen Ausbildung der Variationscurve entgegenwirkt. Die Ver- mehrung der Scheibenzahl von drei auf vier beruht darauf, dass eins der beiden Seitenblättchen sich seitlich spaltet (vergl. Fig. 122.4), indem einer der Seitennerven zum Hauptnerven der neuen Scheibe ! Derrino, Teoria generale della Fillotassi. 1883. S. 197. 444 Latente und semilatente Eigenschaften. wird. Uebergänge, wie der abgebildete, sind allerdings ziemlich selten, kommen aber in jedem Grade der Spaltung, bis in den partiellen Blattstiel hinein, von Zeit zu Zeit vor. Erfährt nur eine Scheibe Spaltung, so wird das Blatt unsymmetrisch; spalten sich dagegen die beiden Seitenblättchen, so kann das Ganze symmetrisch bleiben. Die Verdoppelung kann sich auch auf das Endblättchen erstrecken und von diesem entweder einerseits oder beiderseits einen Nerv zum Haupt- nerven der neuen Spreite machen. So entstehen die sechs- und die siebenzähligen Blätter; die ersteren sind wiederum asymmetrisch, die B letzteren symmetrisch. Die Erfahrung lehrt nun, dass bei grösseren Zählungen die asymme- trischen Blätter stets den anderen gegenüber zurück- treten. Die Pflanze zieht C es offenbar vor, die Sym- metrie zu behalten, auch in den Anomalien. Dem entsprechend findet man in der Regel die Curven ‚3 au den Stellen der vier- und sechszähligen Blätter mehr oder weniger ab- wärts gedrückt. . = r E 2 Kehren wir jetzt zu Fig. 125. Trifolium Ionen quinguefolium. A Nor- den Auslese-Processen zu- male Curve der Scheibenzahl der Blätter. B Curve rück. Die Rasse hat im eines atavistischen Individuums. C Curve bei maxi- . 2 1: 2 maler Vielscheibigkeit. 1894. Mittel fünfscheibige Blät- | | ter; sie varlirt dabei zwi- schen ziemlich engen Grenzen, indem sie nie oder fast nie Blätter mit weniger als drei oder mit mehr als sieben Scheiben hervorbringt. Die Auslese kann also einerseits die Siebenzahl, andererseits die Dreizahl bevorzugen. In beiden Fällen wird die ursprünglich sym- metrische Öurve einseitig werden. Aber im ersteren wird die Leistung der Rasse so stark wie möglich gesteigert, im letzteren herabgesetzt, bis sie sich von dem gewöhnlichen Vorkommen seltener Vierklee- blätter äusserlich nicht merklich mehr unterscheidet. Aus der Betrachtung der Uebersichtstabelle auf S. 437 geht hervor, dass meine Rasse anfänglich nur sehr schwach ausgebildet war, und erst durch Isolirung und Selection auf die normale Höhe Trifolium pratense qwinquefolium, eine Mittelrasse. 445 gebracht werden musste. Trotz dieser Selection ist sie aber doch nicht so constant, dass sie nicht von Zeit zu Zeit atavistische In- dividuen hervorbringen würde. Auf der anderen Seite bringt sie auch bisweilen Exemplare mit maximaler Ausbildung des Rassenmerkmales hervor. Und bisweilen findet man diese Extreme in einer einzelnen Cultur zusammen. Dieses beobachtete ich im Jahre 1894 an Pflanzen, welche aus Samen eines Exemplares der dritten Generation (1891 S. 437) gezogen waren. Die betreffende Mutter war überwintert worden und hatte die Ernte erst in ihrem zweiten Jahre getragen. Es waren im Juli 1594 eine grosse Anzahl kräftiger Pflanzen gleichen Alters, von denen ich die sieben -anscheinend besten behufs der genauen Auszählung aller ihrer Blätter ausrodete. Einzelne der ältesten Blätter waren bereits verfault; die allerjüngsten noch nicht entfaltet; diese wurden nicht mitgezählt. Diese sieben Pflanzen gaben deutliche Curven, eine (Fig. 125 4A) war die normale Form der Rasse, eine andere (B) war atavistisch und die übrigen gipfelten auf sieben Blattscheiben (0). Für die fünf letzteren theile ich also nur die mittleren Werthe mit. In Procenten umgerechnet gaben diese drei Gruppen die folgenden Anzahlen von Blättern mit der darüber angedeuteten Scheibenzahl. Anzahl der Blattscheiben: 3 4 5 6 7 Anzahl der gezählten Blätter A Normales Exemplar: EL Be TAN 6 172 B Atavistisches „, a aß) 5 0 1 216 © Extreme Varianten: 12 97.122 740 Id Diese Zahlen sind in Fig. 125 graphisch dargestellt. Man ersieht, dass die normale Curve eine symmetrische ist, nur auf den Ordinaten der ebenen Nummern, wegen der oben angegebenen Gründe der Sym- metrie, etwas stark herabgedrückt. Die beiden anderen Linien stellen halbe Curven dar; ihr Gipfel fällt mit dem einen Ende zusammen. Die Curve B des atavistischen Individuums ist nahezu dieselbe, welche‘ in den ersten Jahren meiner Cultur, als es noch keine 6—7scheibigen Blätter gab, die herrschende war (S. 437). Sie ist eine gewöhnliche halbe Variationseurve, wie sie auch in den Halbrassen den semi- latenten Anomalien allgemein zukommt. Die Curve C aber ist eine umgekehrte Curve, sie giebt das Vorherrschen des Rassenmerkmales über die antagonistische, die ursprüngliche Art kennzeichnende Eigen- schaft an. Auch hier findet man eine ausgesprochene Vorliebe für die symmetrischen Blätter. ! Im Mittel pro Pflanze. 446 Latente und semilatente Eigenschaften. Wählt man atavistische Individuen als Samenträger aus, so kann man in kurzer Zeit die Eigenschaft der Rasse zurückgehen sehen. Ich habe in den Jahren 1396—1898S einen solchen Versuch gemacht, nachdem die Rasse in den Jahren 1894 und 1895 die S. 437 be- schriebene maximale Höhe der Entwickelung erreicht hatte. Innerhalb dreier Generationen ging sie soweit herunter, dass die Pflanzen gar nicht mehr dieser Rasse anzugehören schienen. Aus den, Samen der auserwählten, an 5—7scheibigen Blättern überaus reichen Pflanzen von 1895 (S. 437) wählte ich behufs dieser Retourselection diejenigen Keimpflanzen aus, deren Primordialblatt einfach und deren erste Blätter dreizählig waren. Mit wenigen Ausnahmen entfalteten sie alle bis Mitte Juni einige 4—5scheibige Blätter; darauf wurden von diesen Ausnahmen drei sehr kräftige Exemplare zum Zwecke der Blüthe isolirt; auch sie bildeten nachher einige mehrscheibige Blätter aus. Bei der Keimung ihrer Samen zeigten sie sich aber an Keim- lingen mit zusammengesetztem Blatt nicht ärmer, sondern eher etwas reicher als die übrigen, und aus diesem Grunde wurden sie für die Fortsetzung des Versuches nicht gewählt. Ich wählte die Samen von drei Pflanzen von 1896, welche nur 2—3°/, „Erben“ unter den Keim- lingen hatten, und pflanzte nur atavistische Keimpflanzen aus. Aber auch diese trugen im Sommer 1897 fast ohne Ausnahme einige 4—5- scheibige Blätter. Dagegen fehlten 6—7scheibige nahezu ganz und war die Cultur somit zu der einseitigen Curve der ersten Versuchsjahre (1891—1892) zurückgekehrt. Einige Exemplare bildeten im ganzen Sommer und ebenso im nächsten Frühling ausschliesslich dreizählige Blätter aus. Im Jahre 1898 machte ich wiederum eine Cultur von Atavisten aus den Samen von 1897. Es war somit die dritte atavistische Generation. Sie bildete noch in etwa zwei Drittel der Pflanzen 4—5scheibige Blätter aus, war daran also unverhältnissmässig viel reicher als gewöhnlicher Rothkle. Die dreimalige, sehr scharfe Retourselection hatte also die Ausbildung der Anomalie in hohem Maasse beeinträchtigt, aber die Zugehörigkeit der Cultur zu der fünf- scheibigen Rasse nicht aufzuheben oder unkenntlich zu machen vermocht. Schliesslich habe ich einen Versuch über den Eintluss der Lebens- lage auf die Ausbildung mehrscheibiger Blätter gemacht. Es handelt sich bei solchen Versuchen bekanntlich um eine doppelte Frage. Einerseits kann man die verschiedenen Theile derselben Pflanze unter verschiedene Bedingungen bringen, andererseits aber gleiche Samen- proben von der Keimung ab verschiedenen Umständen aussetzen. . Trifolium pratense quinquefolium, eine Mittelrasse. 447 Im ersteren Falle lernt man den Einfluss auf die erwachsene Pflanze kennen. Dieser Einfluss ist aber kein sehr grosser, da die Pflanze in der frühen Jugend am empfindlichsten ist. Es sind sozusagen nur die letzten Ueberreste ihrer einstmaligen Empfindlichkeit, welche man in solchen Versuchen studirt. Weit grössere Ergebnisse darf man von Aussaaten erwarten, diese aber erfordern sehr gleiche Samen- proben, um ganz fehlerfrei zu sein. Es reicht meist nicht aus, die Samen gut zu mischen, sondern es empfiehlt sich stets, die Samen von einigen oder wenigen Samenträgern gleicher Abstammung oder von einer einzigen Pflanze bekannter und reiner Herkunft zu ernten. Noch besser ist es aber, wenn man die zu untersuchenden Einflüsse bereits während der Ausbildung der Samen auf der Mutterpflanze einwirken lässt. | Diesen Erwägungen entsprechend habe ich eine Pflanze meiner. Rasse in zwei Theile zerschnitten, die eine auf armem Sandboden, die andere aber auf guter Gartenerde cultivirt und beide Samen tragen lassen. Ich konnte dadurch einerseits den directen Einfluss schlechter Ernährung auf die Pflanze, andererseits deren Einfluss auf die nächste Generation kennen lernen (vergl. Abschnitt III S. 375). Den Versuch führte ich 1392—1894 aus, und zwar mit einem Exemplar, welches von dem S. 437 für 1891 erwähnten Stammhalter meiner Cultur abstammte. Diese Pflanze hatte bei der Keimung im Jahre 1892 ein zweischeibiges Primordialblatt gehabt und trug in demselben Jahre Samen, welche bei der Aussaat im Frühling 1893 etwa 40 °/, Keimpflanzen mit einem vierscheibigen Blatte lieferten. Sobald solches in der Keimschüssel sichtbar war, wurde die Wahl bestimmt und die Mutter, welche ich auf dem Beete überwintert hatte, in zwei Theile gespalten, um sie sofort in die oben erwähnten Bodenarten zu pflanzen. Beide Hälften wuchsen kräftig, wenn auch nicht in gleicher Ueppigkeit heran, blühten im Juli, wurden von den zahlreichen Pflanzen der zwischen ihnen befindlichen Haupteultur jenes Jahres befruchtet und trugen im August Samen. Zur Zeit der Ernte zählte ich auf beiden Hälften eine gleiche Anzahl von Blättern und fand: Anzahl der Spreiten: 3 4 5 6 7 Auf Gartenerde: 12 25 34 20 15 Auf Sandboden: 18 19 35 19 17 Beide Hälften verhielten sich also gleich; ein Einfluss des ver- schiedenartigen Bodens zeigte sich nicht. Auch waren die Samen auf beiden von derselben Grösse und in etwa gleicher Menge aus- 448 Latente und semilatente Eigenschaften. gebildet. Beide Proben wurden gesondert geerntet und im nächsten - Frühling (1894) ausgesät. Letzteres fand in Schüsseln statt; als die jungen Pflänzchen je etwa drei Blätter hatten, wurden sie untersucht. Nennt män diejenigen mit einem vier- oder fünfscheibigen Blatt Erben, so erhielt ich: Samen von Gartenboden 30°/, Erben, s „ Sandboden DAR ER: Der Versuch umfasste 150 und 200 Keimlinge. Die Erben wurden jetzt weiter sortirt und zwar nach der Zusammensetzung ihres Primordialblattes. Blattscheiben 1 2 3 Summa Samen von Sandboden 24 10 13 471 Ex. ” „ Gartenboden 16 12 13 41 Beide Zählungen ergaben somit eine Differenz zu Gunsten der besser ernährten Samen. Zur ferneren Untersuchung wählte ich aus beiden Reihen die anscheinend besten Erben, d.h. die Keimlinge mit dreispreitigem Primordialblatt, und pflanzte sie unter gleichen Be- dingungen aus. Als sie im Juli je 20 und mehr Stengel hatten, rodete ich sie und untersuchte sie auf ihre Blätter, und zwar von jeder Gruppe die zehn besten Exemplare, welche im Mittel etwas über 100 Blätter pro Pflanze trugen. Die Blätter wurden für jede Pflanze besonders sortirt und gezählt, und als sich ergab, dass zwischen den einzelnen Individuen in jeder Gruppe kein erheblicher Unterschied obwaltete, berechnete ich das Mittel für beide Proben in Procenten: Anzahl der Spreiten pro Blatt 3 4 5 6 Ai Aus Samen vom Gartenboden 14 13 25 16 32 es 5 „ Sandboden 39 13 23 10 15 Differenz —25 0 +2 +6 +17 Jetzt trat also der Einfluss der Behandlung im vorigen Jahre sehr deutlich zu Tage. In beiden Gruppen war die Curve eine einseitige geworden, aber für die besser ernährten Samen lag der Gipfel auf sieben, für die schlecht ernährten im Gegentheil auf drei Scheiben pro Blatt. Aus diesen Resultaten darf man umgekehrt schliessen, dass in dem S. 445 beschriebenen und in Fig. 125 graphisch dargestellten Versuch die Atavisten aus schlecht, die maximalen Varianten aber aus gut ernährten Samen hervorgegangen waren. Und im Allgemeinen wird im Gebiete der Anomalien wohl der Schluss berechtigt sein, dass die Ernährung der Samen auf der Mutterpflanze für die Ausbildung der fraglichen Eigenschaft von prinzipieller Wichtigkeit ist (S. 3735). Gartenvarietäten, systematische Varietäten und elementare Arten. 449 Fassen wir die Ergebnisse dieser Cultur kurz zusammen, so ergiebt sich, dass ich anfangs im Freien eine der fünfblätterigen Rasse an- gehörige Pflanze aufgefunden hatte, welche aber, wohl in Folge schlechter Ernährung durch mehrere Generationen, nur wenige 4—5- und keine 6—7scheibige Blätter bildete. Durch bessere Öultur und stetige Auswahl der besten Erben, also wohl der zufällig am besten ernährten Individuen, gelang es im Laufe einiger weniger Generationen, die Rasse zu normaler Ausbildung mit 4—7 scheibigen und vorwiegend fünfscheibigen Blättern zu kringen. Bereits nach vier- und fünfmaliger Zuchtwahl brachte sie auch maximale Varianten hervor, deren meiste Blätter siebenscheibig waren: gleichzeitig bildete sie auch in der siebenten Generation noch „Atavisten‘“, deren Curve auf drei Spreiten sipfelte. Diese Atavisten bleiben aber der Rasse angehörig und bilden auch nach wiederholter Selection in atavistischer Richtung weit mehr vierscheibige Blätter, als der normale Rothklee (oder genauer die ent- sprechende wilde Halbrasse des Rothklee’s). Je besser die Samen auf der Mutterpflanze ernährt werden, um so schöner bilden die aus ihnen hervorgehenden Individuen die Ano- malie aus. Schlechte Samen geben Atavisten, sehr gute aber extreme Varianten. Meine Cultur erstreckt sich über zehn Generationen. Sie giebt keinen Grund für die Vermuthung, dass die fünfblätterige Rasse in der Ausbildung ihres Merkmales begriffen sei, oder ohne eine weitere Mutation zu einem ‚höheren Formencentrum heransteigen könnte. Sie ist nach wie vor dieselbe. III. Die verschiedenen Entstehungsweisen neuer Arten. S$ 6. Gartenvarietäten, systematische Varietäten und elementare Arten. Es ist ın der letzten Zeit vielfach, und namentlich von von WETT- STEIN, hervorgehoben worden, dass kein Grund vorliegt, anzunehmen dass alle Arten in derselben Weise entstanden sein sollten." Dieser Ausspruch behält seine volle Gültigkeit auch für die Mutationstheorie. IR. v. Werssteım, Der Saison- Dimorphismus als Ausgangspunkt für die Bildung neuer Arten im Pflanzenreich, Ber. d. d. bot. Ges. Bd. XII. 1895. S. 303, und namentlich dessen Descendenztheoretische Untersuchungen. 1. Unter- suchungen über den Saison-Dimorphismus im Pflanzenreich. Denkschr. d. Mat.- Naturw. Classe d. k. Akad. d. Wiss. Wien. 1900. DE VRIES, Mutation. 1. “29 450 Die verschiedenen Entstehungswerisen neuer Arten. Allerdings betrachte ich es als eine Aufgabe des vorliegenden Buches, zu zeigen, dass die gewöhnliche fluktuirende oder individuelle Variabilität nicht das Material für die Entstehung neuer Arten bildet. Aber auch auf dem Gebiete der Mutationslehre sind die verschieden- sten Weisen der Entstehung neuer Arten möglich. Die gleichzeitige Entstehung von Arten in Gruppen, in bestimmten Perioden, wie ich sie für die Oenothera Lamarckiana geschildert habe, bildet für mich den Haupttypus,! namentlich so lange, bis es gelingt, in anderen Fällen die Entstehung von Arten experimentell zu studiren, d. h. vor und ‚während des ersten Sichtbarwerdens der neuen Typen, und nicht aus Schlüssen aus den nach dem Auftreten festgestellten Umständen. Dieser Haupttypus gilt nach meiner Ansicht zunächst für die progressive Artbildung, für die Bildung neuer Merkmale, auf der der Stammbaum des Pflanzenreiches in seinen Hauptlinien beruht. Da- neben giebt es eine ganze Reihe anderer Typen, welche sich, so viel es sich jetzt beurtheilen lässt, vorwiegend auf die Nebenäste des Stammbaumes beziehen. In Bezug auf diese muss man sich aber einstweilen mit der indirecten Forschungsmethode begnügen. Es ist ein oft wiederholter Ausspruch Darwın’s, dass Varietäten beginnende Arten seien. Ebenso bekannt ist der Ausspruch einer der berühmtesten gärtnerischen Autoritäten,? VERLOT: Toute variete a d’abord existe a l’etat de variation. Die Verbindung dieser beiden Sätze weist auf eine ganz andere Entstehungsweise von Arten hin, als wir sie bei der Oenothera haben kennen gelernt. Sie bildet so zu sagen das andere Extrem der Reihe. Es ist somit meine Aufgabe, zu untersuchen, in welcher Weise „Variationen“, d.h. hier die sogenannten Bildungsabweichungen oder Anomalien (und nicht die nach dem (@UFTELET’schen Gesetze vom Mittel abweichenden Einzelfälle) und „Varietäten“ entstehen, und zur Bildung von „Arten“ Veranlassung geben können. Versuchen wir solches, so ergiebt sich aber sehr bald, dass auch hier das Studium durch die Vieldeutigkeit des Wortes Varietät? erschwert wird, und ‚dass wir namentlich die systematischen Varietäten und die Garten- varietäten als Gruppen eines ganz verschiedenen Werthes zu betrachten I Vers]. 'S. 182. ? B. Veriot, Production und fixation der varietes. 1865. 8. 100. ® Die allgemeine Auffassung dieses Begriffes ist wohl diejenige, welche CARRIERE in dem folgenden Satze formulirt: „On nomme variete tout individu qui, par quelgque caractere que ce soit, se distingue d’un ou de plusieurs autres avec lesquels on le compare et qu’on considere comme appartenant a um meme type sp£cifique (Production et fivation des varietes. 1865. S. 6). Gartenvarietäten, systematische Varietäten und elementare Arten. 451 haben. Die citirten Aussprüche DArwın’s und VErLoT’s gründen sich aber auf die an den letzteren gemachten Erfahrungen; es fragt sich, in wie weit ihre Uebertragung auf systematische Varietäten er- laubt ist.! Die Entstehung von Gartenvarietäten soll somit einem kritischen und experimentellen Studium unterworfen werden. Diesem hat aber einerseits eine Schilderung des Varietätsbegriffes in den systematischen Werken, und eine theoretische Betrachtung über die verschiedenen Weisen, in denen Arten im Allgemeinen entstehen können, voranzu- gehen. Es wird sich daraus ergeben, dass die Entstehungsweise der Varietäten im Gartenbau ohne Zweifel ihre Analoga in der Entstehung sogenannter guter Arten hat, dass diese Uebereinstimmung aber doch viel seltener zutrifit, als die herrschende Auffassung der Descendenz- lehre solches annimmt. Fangen wir also mit dem systematischen Varietätsbegriffe an, so handelt es sich wesentlich um eine möglichst naturgetreue Unter- scheidung von dem, was man elementare Arten, und dem, was man systematische Varietäten zu nennen hat. Dabei wird es sich, in Verbindung mit unseren im ersten Ab- schnitt gegebenen Erörterungen,? ergeben, dass es zweckmässig wäre, diese Begriffe scharf aus einander zu halten. Linsk und seine Schüler behandeln die elementaren Arten als Varietäten; JORDAN, DE BARY und die übrigen Forscher, welche sich dabei auf Öulturversuche stützen, beschreiben sämmtliche Formen als Arten. Die Begriffe Art und Varietät-sind jetzt so allgemein angenommen, dass sich an ihrer Umschreibung im Ganzen und Grossen nichts mehr ändern lässt. Um sie genau kennen zu lernen, hat man auf die Werke von Lıns& selbst zurück zu gehen. Wie er sie aufgestellt hat, sind sie jetzt Gemeingut geworden, und meiner Ansicht nach würde man am besten thun, sie so viel wie möglich unverändert zu lassen. Es ist zunächst festzustellen, dass zwischen Varianten und Variationen der Unterschied immer allgemeiner anerkannt wird. Varianten sind das, was man auch individuelle Abweichun- gen nennt; sie gehören dem Gebiete der fluktuirenden Variabilität an. Ihre Merkmale verschwinden bei geeigneter Cultur; sie sind in ! Ueber die Entstehung neuer Formen vergl. die Aufsätze von F. Krasan in Exerer’s Botanischen Jahrbüchern. Bd. XIII. Heft 3—4; Bd. XXVII. Heft 1, 2 und 5, und ferner dessen Mettheilungen über Qulturversuche nit Potentilla arenaria. Graz 1900. ? Vergl. I. S 7 „Arten, Unterarten und Varietäten“, namentlich S. 11S—120. 29* 452 Die verschiedenen Entstehungsweisen neuer Arten. dieser Hinsicht als unbeständige Formen zu betrachten. Sie werden in den systematischen Werken meist nicht aufgeführt, oder doch nur kurz erwähnt, oder endlich als „Forma“, z. B. „Forma alpestris,“ „Forma aquatica“ u. s. w., als niederste Stufen des Systems behandelt. Solches kann aber offenbar nur dann geschehen, wenn die Zusammengehörig- keit der Formen bekannt ist; anfangs, oder beim Mangel ausreichen- den Materiales im Falle exotischer Pflanzen ist dieses nicht der Fall, und werden daher häufig solche Formen als Varietäten oder gar als Arten unterschieden." In vielen Fällen dürfte auch jetzt noch das wahre Verhältniss unbekannt und die systematische Gruppirung also eigentlich nur eine vorläufige sein, wie z. B. bei Anthyllis Vulneraria alpestris, Limosella aquatica caulescens, Carlina acaulis caulescens U. S. W. Boxnıer’s oben (S. 102) ausführlich mitgetheilte Untersuchungen über Alpenpflanzen haben gelehrt, dass es sich hier oft nicht einmal um individuelle, sondern um rein partielle Verschiedenheiten handelt. Die beiden Hälften eines einzigen Individuums können eine Form der Ebene und eine Forma montana bilden. Aber die sehr zahlreichen, vorläufig als Varietäten unterschiedenen Formen, von denen man nicht weiss, ob sie vielleicht nur Varianten sind, erschweren das Studium sehr. Untersucht man, welche Regeln Lınx& bei der Untervertheilung seiner Arten befolgt hat, so findet man zwei verschiedene Fälle In dem einen wird die Art als Typus betrachtet, von dem die Varietäten abgeleitet sind; in dem anderen ist aber die Art eine Collectiv-Form, welche eine gewisse Anzahl ebenbürtig neben einander stehender Ein- heiten zusammen umfasst. .Die Unterscheidung ist scharf und deut- lich und war offenbar eine völlig bewusste. Bei den abgeleiteten Varietäten beginnt die Reihe mit , dann folgen 7, ö, e u. s. w.; es wird als selbstverständlich vorausgesetzt, dass die Hauptform die « oder Forma genuina ist. Bei den ebenbürtigen Varietäten giebt es eine solche Forma genwina nicht, und deshalb fängt die Reihe der Varietäten mit « an. Betrachten wir. beide Fälle getrennt und fangen wir mit dem zweiten an. Die ebenbürtigen Varietäten Lınn#’s stehen entweder einfach als a, P, y u. s. w. neben einander (z. B. Teucrium Polium, Lavandula Spica u. s. w.) oder sie sind noch in Gruppen verbunden. Die ganze ! 7. B. Ranunculus aconitifokus L. in alpibus minor, caule 3—5 floro; R. a conitifolius altior Koch, ceaule multifloro, fol. laciniis longius acuminatis, in montibus humilioribus = R. platanifolus L. mant. 79 (KocaH, Synopsis S. 12). werden eine oder mehrere Varietäten aufgezählt. So hat z.B. Euphorbia exigua die beiden Unterarten acuta und retusa, deren erste eine, deren letzte zwei Varietäten umfasst. Beta vulgaris hat die bekannten Unter- arten rubra und Cicla; die erstere hat fünf, die zweite zwei Varietäten u. s. w. Eine Forma typica oder Forma genuina giebt es dabei nicht; die zuerst genannte Varietät hat vor den übrigen nichts voraus. In solchen Fällen ist die Art eine Gruppe von ähnlicher Zu- sammensetzung wie eine Gattung und eine Familie, in denen man auch nicht eine besondere Art oder Gattung als den Typus und die übrigen nur als abgeleitete Formen betrachtet. Solche Arten sind somit offenbar und eingestandenermaassen Collectivarten. Das Prinzip der Collectivarten ohne Forma typica halten LinDLey, A. P. DE CANDOLLE, ALPHONSE DE ÜANDOLLE und andere berühmte Systematiker für das einzig richtige. Die Arten sind genau in derselben Weise in Unterabtheilungen zu zerlegen, wie die Gattungen, sagt der Letztere in seiner Phytographie.! Linptey theilt die Arten seiner Rosen nach diesem Prinzipe ein, z. B. Rosa rubiginosa mit 8, R. spino- sissima mit 9 Varietäten. Ebenso DE CANDOLLE für die sehr zahlreichen und schwierigen Untergattungen und elementaren Formen von Brassica im zweiten Bande des Systema Vegeiabilium u. Ss. w. Dr CAnDoLLE nennt die Einheiten, welche in solchen Fällen als Varietäten behandelt werden, „les elements de l’espece“;? sie verhalten sich zu den Arten wie diese zu den Gattungen und wie die Gattungen zu den Familien. Die meisten Botaniker fassen aber die Varietäten als von den Arten abgeleitete Formen auf. Die Art ist für sie das Typische, wirklich Bestehende, aus der die Varietäten durch unbedeutende Ver- änderungen hervorgegangen sind. Sie folgen hierin dem Vorgange Lisne®’s, der seine Diagnose in weitaus den meisten Fällen auf eine der Formen der Art gründete und dieser die übrigen unterordnete. Die Abstammung der Varietäten von der Art wurde dabei nur aus dogmatischen Gründen angenommen, wie ich bereits im ersten Ab- schnitt auseinandergesetzt habe; Beobachtungsthatsache war sie nur in ganz vereinzelten Fällen gärtnerischer Producte. Denn sehr viele und namentlich die wichtigsten Culturvarietäten sind ja so alt, als die Cultur selbst oder gar noch älter. ! ArpH. DE ÜANDOLLE, la Phytographie ou lart de decrire les vegetaux. 1880. S. T74—82, welchem ausgezeichneten Artikel mehrere der obigen Angaben ent- nommen sind. CS. 80. 454 2 reale 720 ERDE neuer 4 ten. Sue wir in en einer Alone, diese she Vera zusammen, so fällt sofort auf, dass dieselbe Abweichung in den ver- schiedensten Familien, (sattungen und Arten wiederkehrt. Ueberall bilden die Varietäten Reihen von parallelen Formen. Für die weiss- blüthigen Varietäten blauer und rother Blumen ist dieses so allgemein bekannt, dass sie oft gar nicht mehr angeführt werden. Bereits Liınn# wusste, dass fast alle solche Arten eine weisse Varietät aufzu- weisen haben. Ist die Farbe einer Blüthe eine zusammengesetzte und fehlt eins der Elemente, so entstehen häufig weisse Blumen mit dunklem Herzen, welche als Var. bicolor bekannt sind (z. B. Oynoglossum offieinale bicolor, Agrostemma coronaria bicolor). Oder es fehlt die dunkle Punktirung wie in Gentiana punctata concolor, welcher Fall dem Arum maculatum immaculatum ganz analog ist. Häufig fehlt die Behaarung entweder auf der ganzen Pflanze oder, wenn nur einzelne Theile in der „Art“ auffallend behaart sind, auf diesen. Hier ist die Nomenclatur dieser Parallelformen reich an im Grunde gleichbedeutenden Namen, wie z. B. Papaver dubium glabrum, Biscutella laevigata glabra, Arabis ciliata glabrata, Arabes hirsuta glaberrima, Veronica spicata nitens, Amygdalus Persica laevis, Erürichium nanum leiospermum, Paeonia corallina (peregrina) leiocarpa U. S. W. Unbewafinete Formen heissen meist inermis, man findet sie bei Ranunculus arvensis, Genista germanica, Robinia Pseud-Acacia und vielen anderen. So findet man die TVarietas ciliata z. B. bei Oytisus prostratus und ©. spinescens, ferner bei Lotus corniculatus u. s. w. Grössere Be- haarung ist Merkmal von Solanum Dulcamara tomentosum, Veronica scutellata pubescens, Melissa officinalis villosa, Galeopsis Ladanum canescens, Vicia lutea hirta, Lotus corniculatus hirsutus U. S. W. Die Herzflecken am Grunde der Blumenblätter fehlen häufig bei Papaver orientale, bei Brodium cicutarium und vielen anderen Gewächsen. Namen wie ochroleuca, purpurascens, integrifolia, serratifolia, angustifolia, latifolia bezeichnen in vielen Gruppen gleichartige Varietäten u. s. w. Schliesslich nenne ich die rothen Beeren, welche als Varietätsmerkmal bei Empetrum nigrum und den rothen Stachelbeeren vorkommen; die selben Beeren von Atropa Belladonna lutea und Daphne Mexereum album, welche janur Beispiele auslangen Reihen von gleichartigen Varietäten sind. Alle diese Formen unterscheiden sich von ihrer Art dadurch, dass irgend eine Eigenschaft entweder in stärkerem Grade (hirsuta, ciliata, purpurascens) oder meist in geringerem Grade ausgebildet ist, oder auch wohl gänzlich fehlt. Ein solcher Mangel kann auch eine im ganzen Pflanzenreich sehr seltene Erscheinung sein, wie die Erdbeeren ohne Ausläufer, und wie Gartenvarietäten, systematische Varietäten und elementare Arten. 455 der sonderbare Pinus Abies aclada, ein hoher, ganz unverzweigter Stamm, den SCHRÖTER abbildet.! Hierher gehören ferner Fragaria vesca monophylla (Fig. 38), Robinia Pseud-Acacia monophylla, Fraximus Ornus monophylla, dem sich eine einblätterige Form von Mellotus coerulea anreiht (Fig. 131). Die aufgezählten Varietätsnamen gehören in den Floren fast stets zu denjenigen Formen, deren Reihe nicht mit &, sondern mit $ an- fängt, welche also als von der Forma typica oder genuwina abgeleitet und nicht als mit dieser ebenbürtig betrachtet werden. Worauf be- ruht diese Auffassung? Sie ist wohl im Allgemeinen ein Analogie- schluss, dem die Gartenvarietäten als Ausgangspunkt dienen. Und zwar eigentlich nur diejenigen verhältnissmässig seltenen Fälle, in denen nachgewiesenermaassen die Varietäten jünger sind als die Arten. Ferner wird zumeist die geographische Verbreitung in Betracht ge- zogen bei der Beantwortung der Frage, welche von den verschiedenen Formen die Art und welche die Varietäten seien. Es liest auf der Hand, sobald eine Form sehr allgemein ist und die andere nur local oder sporadisch auftritt, die erstere für die ältere und somit für die Art anzusehen. Häufig fällt dieses auch damit zusammen, dass die Art früher entdeckt wurde als die Varietät, und dann hat es seine grosse Bequemlichkeit, letztere einfach hinter der Art im System ein- zureihen, ohne an dieser selbst etwas zu verändern zu brauchen. Es würde mich zu weit führen, hier noch mehr Einzelheiten anzugeben. Das Mitgetheilte möge genügen, um zu zeigen, dass der systematische Begriff der Varietät, sowohl bei Lınx# als auch bei den späteren Systematikern, zwei ganz verschiedene Sachen umfasst, nämlich: 1. Ebenbürtige Formen, zwischen denen sogar Linx& nicht eine als Typus für die übrigen wählen konnte: „Elements de Vespece“ (DE CANDOLLE) oder Elementare Arten. Abgeleitete Formen, welche sich nur durch geringere oder stärkere Ausbildung irgend einer besonderen Eigenschaft oder durch deren gänzliches Fehlen von der typischen Art unter- scheiden: Echte Varietäten.’ Es scheint mir in vielen Hinsichten sehr erwünscht, diese beiden Gruppen von Unterabtheilungen der Art nicht länger mit demselben ID 1 ©. ScHRÖTER, Die Vielgestaltigkeit der Fichte. 1898. 8. 52—53. ” A. Braun, Verjüngung S 332; hier auch die ältere Literatur, sowie über Rubus Idaeus monophyllus. ® Unter diesen sind dann ferner die einfachen, invariablen Typen von den gemischten oder Zwischenrassen zu unterscheiden. Vergl. Ss 3—4. 456 Die verschiedenen Entstehungsweisen newer Arten. Namen zu belegen. Am einfachsten wäre es, nur die ersteren als elementare Arten und die letzteren als Varietäten aufzuführen, doch eine solche Regel hätte nur dann einen wesentlichen Vortheil, wenn sie allgemein angenommen würde. Dazu kommt, dass die Frage eine rein systematische, der be- schreibenden Wissenschaft angehörige ist. Denn sobald man die Sache vom experimentellen Standpunkte aus betrachtet, fällt der ganze Unterschied wiederum weg. Bei Aussaaten sind viele der besten Varietäten ebenso selbstständig wie die elementaren Arten; darauf ist somit eine Unterscheidung gar nicht zu basiren. Auf Grund dieser Auseinandersetzungen behandle ich die eben- bürtigen Unterabtneilungen der Livx&’schen Arten als elementare Arten, und bezeichne ich sie vorzugsweise, wie jene, mit binären Namen. Für die abgeleiteten Varietäten aber möchte ich keine bestimmte Wahl treffen; ich halte z. B. Chehidonium laciniatwm MILLER und Chelidonium majus laciniatum für völlig gleichberechtigt. Und wenn in derselben Gattung mehrere Arten weissblüthige, unbehaarte Varietäten u. s. w. haben, würde eine binäre Nomenclatur offenbar viel zu unbequem sein.! S 7. Progressive, retrogressive und degressive Artbildung. Ueberblickt man den Stammbaum des Pflanzenreiches, .so sieht man sofort, dass nicht alle Arten in derselben Weise entstanden sein können. Die fortschreitende Entwickelung beruht auf der stetigen Neubildung von Merkmalen, der zunehmenden Differenzirung. Die grosse Mannigfaltigkeit der Arten innerhalb der Ordnungen und Fa- milien beruht nur zum Theil auf diesem progressiven Vorgang, zu einem sehr grossen Theil aber auf den mannigfachsten Combinationen der bereits vorhandenen Eigenschaften. Dazu kommt in zahllosen Fällen ein gewisser Rückschritt, d. h. das Fehlen von Merkmalen, welche der Gruppe, zu der eine gewisse Art gehört, sonst gemein- schaftlich sind. Sium und Berula haben z.B. einfach gefiederte Blätter inmitten der Gruppe von Umbelliferen mit doppelt gefiederten Blättern, und man nimmt an, dass sie aus solchen unter Verlust ent- standen sind. Aehnlich steht Primula acaulis in der Mitte einer Gruppe von Primeln, von Androsace u. s. w. mit schirmartigen Inflorescenzen, und es gilt die gleiche Annahme. Ebenso in zahllosen Fällen, selbst ı Z.B. wenn das Beispiel Agrostemma nicaeenses für Agrostemma Githago pallida allgemein für blassblüthige Varietäten befolgt werden würde. Progressive, retrogressive und degressive Artbildung. 457 für ganz grosse Gruppen. So nimmt bekanntlich DELPINO an, dass die Monocotylen durch Verlust einer ganzen Reihe von Eigenschaften aus den niedersten Dicotylen hervorgegangen seien. Man spricht in solchen Fällen von retrogressiver Metamorphose. Und es scheint kaum gewagt, zu behaupten, dass es vielleicht jetzt auf der Erde mehr auf retrogressivem als auf progressivem Wege entstandene Einzelarten giebt. Eine vielfach ventilirte Frage ist die, ob bei der Retrogression die betreffenden Eigenschaften auch innerlich verloren gehen, oder ob sie nur unsichtbar, latent, werden. Zahlreiche Beweise existiren für die letztere Meinung, namentlich die so sehr verschiedenartigen Gruppen atavistischer Bildungen (Jugendformen, Subvariationen an den unteren Internodien von Seitentrieben, Blattform der Wasserschöss- lingse, Wirkungen von Parasiten, Anomalien, Rückschläge durch Knospenvariation auf die Stammform u. s. w.).. Ohne Zweifel ist das Latentwerden der allgemeine Fall; dass daneben auch ein wirk- licher innerlicher Verlust vorkommen kann, dürfte im Allgemeinen selbstverständlich, in den einzelnen Fällen aber oft schwer nachzu- weisen sein. Denn jede positive Erfahrung deutet selbstverständlich auf Latenz, und nur der absolute Mangel solcher bei ausgedehnten Untersuchungen würde das innerliche Fehlen einer Eigenschaft be- sründen können. Die Mannigfaltigkeit der Arten innerhalb der grösseren Gruppen beruht zu einem anderen Theile auf einer Erscheinung, welche Darwın parallele Anpassung nennt. Ich meine die Entstehung derselben neuen Eigenschaft, zu wiederholten Malen, in verwandten oder auch in entfernten Gruppen.! Schling- und Rankenpflanzen, Parasiten und Saprophyten, insectivore Gewächse, decussirte Blattstellung sind. ein- zelne Namen aus einer unabsehbaren Liste von Beispielen. Hierher gehört auch jene grosse Schwierigkeit der Systematik, die Frage nach dem mono- oder polyphyletischen Ursprung bestimmter Merkmale. Sind z. B. die Schoten und Schötchen, oder die Keimlagen bei den Cruciferen mono- oder polyphyletisch? Stammen die oberständigen Sympetalen von Sympetalen oder von oberständigen Choripetalen ab? Sind die Gymnospermen einmal oder in getrennten Gruppen aus den Gefässkryptogamen entstanden? Man weiss es nicht, denn die besten Autoritäten sind auf solchen Punkten entgegengesetzter Meinung. Und so lange diese Differenzen nicht beseitigt sind, dürfte es schwer sein, der Frage nach den inneren Ursachen der parallelen Artbildung ı Vergl. hierüber meine Intracellulare Pangenesis. 458 Die verschiedenen Entstehungswersen neuer Arten. — ob aus gemeinschaftlichen latenten, oder aus jedesmal neugebildeten inneren Anlagen — mit Aussicht auf Erfolg näher zu treten. Auf retrogressiver Entwickelung oder Latenz beruht wohl in weitaus den meisten Fällen die Entstehung der systematischen und Garten-Varietäten, wie sie im vorigen Paragraphen geschildert wurde. Hier besteht eine weitgehende Analogie zwischen der Bildung dieser Varietäten und derjenigen bestimmter Arten. Daneben kommt, viel seltener, die Gründung von Varietäten auf einer Verstärkung von Merkmalen vor, wie z. B. die erwähnten Var. hirsutissima, spinosissima, ciliata u. s. w. Ich möchte diese, wie es scheint, für die Hauptzüge des Systems sehr nebensächliche Form subprogressiv und die ent- sprechende Entstehung von Arten somit subprogressive Artbildung nennen. Die parallele, retrogressive und subprogressive Entstehungs- weisen haben das gemeinschaftlich, dass sie nur neue Verbindungen, aber keine neuen Einheiten, keine wesentlich neuen Elemente für den Fortschritt der Entwickelung des ganzen Pflanzenreiches bilden. In dieser Beziehung stehen sie der progressiven Artbildung schroff gegen- über. Und hier reihen sich ihnen noch andere Formen dieses Pro- cesses, ich möchte fast sagen in absteigender Bedeutung für das System, an. Unter diesen nenne ich in erster Linie das Activwerden alter latenter Eigenschaften. Eine ganze Reihe von Eigenschaften kommen im Pflanzenreiche, oder doch unter den Blüthenpflanzen, in so weiter Verbreitung hier und dort als Anomalien vor, dass es sich kaum abweisen lässt, dafür eine gemeinschaftliche Ursache anzunehmen. Diese wäre dann aber eine latente, von den gemeinschaftlichen Vor- fahren herrührende und somit sehr alte Eigenschaft. Das allgemeinste und bekannteste Beispiel einer solchen weit verbreiteten Anomalie ist wohl die Verbänderung, von der man, wenn man während einiger Jahre darauf achtet, Beispiele in so zahlreichen Arten zusammen- bringen kann, dass man bald aufhören muss, sie aufzubewahren, weil sonst die Sammlung viel zu gross werden würde. Es scheint, dass fast jede Art, sowohl unter den Coniferen und Monocotylen, als namentlich unter den Dicotylen solche Fasciationen bilden kann.! Als erbliche Gartenvarietät kennt man sie bei Celosia eristata; als Artmerkmal findet man sie, so viel mir bekannt, nicht. Solches gilt aber wohl von den fast ebenso verbreiteten gespaltenen Blättern (vergl. Boehmeria biloba), von den Adnationen (Solanum), von den ! Vergl. Figg. 34—35 auf S. 128—129. Progressive, retrogressive und degressive Artbildung. 459 Blüthen auf Blättern (Hehwingia ruseciflora u. a.) und zahlreichen anderen Anomalien, über welche CAsIMmIR DE CANDOLLE eine zusammenfassende Uebersicht von grosser Tragweite gegeben hat.! Er nennt sie Variations taxinomiques, während er die als Artmerkmale nicht auftretenden Ano- malien (Verbänderung, Zwangsdrehung, Vergrünung, sterile Varietäten u.s.w.) ataxinom nennt. Seiner Liste entnehme ich noch die folgenden Beispiele: Connation opponirter Blätter, wie sie normal bei Dipsacus, Lonicera u. s. w. vorkommt, oder der Cotylen (Amphisyncotylie, normal bei Sicyos), Ascidien, normal bei Sarracenia u. s. w. und in den schild- förmigen Blättern, z. B. Eucalyptus eitrina, Auswüchse auf Blättern, normal bei Senecio sagittifolius aus Uruguay, und auf Petalen, normal bei Petagwia saniculaefolia und teratologisch bei Clarkia elegans, Synanthie bei Lonicera u. a. Für unsere Auseinandersetzungen aber ist es nicht die Haupt- sache, welche Anomalien auch als Artmerkmale, sondern umgekehrt, welche Artmerkmale auch als Anomalien bei anderen Arten vorkommen können. Denn es handelt sich um die Erklärung der Arten, und im Besonderen um die Frage, in wie weit ihre Merkmale aus alten latenten, im Pflanzenreiche oder in bestimmten Gruppen mehr oder weniger verbreiteten Eigenschaften. abgeleitet werden können. Aus diesem Grunde möchte ich den genannten Beispielen noch einige weitere beifügen; sie zeigen, wie ganz allgemein dieser Parallelismus zwischen Anomalien und Artmerkmalen ist. So führen z. B. Poly- gonum vwiviparum und Agave vivipara L. normal Brutknospen in den Infilorescenzen, und fand ich solche als Anomalie bei Aloe verrucosa und Sazifraga umbrosa. Spiralige Einrollung von Stengelgebilden zeigen in den Blüthenstielen Vallisneria und Cyclamen, als Varietät die Stengel von Juncus spiralis, als Anomalie fand ich dasselbe sehr schön bei Seirpus lacustris. Hypocotyle Knospen haben z. B. Linaria und Linum, als Anomalie erwähnt Braun sie bei Siegesbeckia? und beobachtete ich sie selbst bei Phaseolus multiflorus. Den auf den Internodien zerstreuten Knospen von Begonia phyllomaniaca sind die von CasparYy beschriebenen zahllosen Blüthenknospen auf einem Blatt- stiele von Oucumis sativus analog.” Die Zwiebeln von Gladiolus tragen ihre Seitenzwiebeln bekanntlich auf Stielchen; Aehnliches beobachtete ich als Anomalie bei Ayaecinthus orientalis. Von Knospen auf Blättern 1 C. DE CanvoLıE, Remarques sur la Teratologre vegetale. 1896. S. 5—6. 2 A. Braun, Verh. d. bot. Vereins Brandend. XII. 1870. 8. 151. 3 Caspary, Ueber Blülhensprosse auf Blättern. Schriften d. phys. Gesellsch. Königsberg. 1874. S. 99 und Taf. II. 460 Die SENAT nun neuer Arten. nennt Masters eine Haie ee Fälle, denen: Brı TOR mis als normales Beispiel an die Seite gestellt werden kann, u. s. w. Zahllose Artmerkmale finden also ihre Analoga in taxinomen Anomalien. Und diese kommen zum Theil bei verwandten Formen, zum grösseren Theil in mehr oder weniger entfernten Gruppen vor. Soweit sie auf gemeinschaftlicher Ursache beruhen, deuten sie auf das sehr verbreitete Vorkommen latenter Eigenschaften hin. Ich möchte diese Form degressive Artbildung nennen. Es entsteht dabei jedesmal allerdings etwas Neues, oft sogar etwas auffallend Neues, aber meist ohne eine klare Beziehung zum Fortschritt des ganzen Stammbaumes. Es sind sozusagen seitliche Verbesserungen der vorhandenen Typen. Die degressive Artbildung beruht somit auf dem Activwerden alter latenter Eigenschaften. Dabei sind, wie von GOEBEL in seiner Örganographie hervorgehoben wurde, zwei Fälle zu unterscheiden.? Entweder war die betreffende Eigenschaft bereits in früheren Vor- fahren activ, oder nicht. In dem ersteren Falle hat man einen so- genannten Rückschlag oder Atavismus vor sich, und zwar einen echten, systematischen Rückschlag, wenigstens insoweit sich die Abstammung mit Sicherheit nachweisen lässt. Im anderen Falle haben wir nur die Entwickelung einer taxinomen Anomalie zu einem Artmerkmale. Es braucht kaum hervorgehoben zu werden, dass die Anwendung der vorgeschlagenen Unterscheidungen augenblicklich sich nur erst in einer verhältnissmässig geringen Anzahl von Fällen durchführen lässt. Die vorhandenen Kenntnisse entsprechen den Anforderungen eines solchen Systems durchaus nicht. Für die physiologische Seite der Frage ist aber die Unterscheidung der Hauptgruppen von prin- zipieller Bedeutung, und nur darauf ist somit hier der Nachdruck zu legen. Fassen wir unter dieser Einschränkung das Gesagte kurz zu- sammen, so können wir die folgende Uebersicht aufstellen: Entstehung neuer Arten: A. Unter Bildung neuer Eigenschaften: Progressive Art- bildunse. B. Ohne Bildung neuer Eigenschaften. B,. Durch das Latentwerden vorhandener Eigenschaften: Retro- gressive Artbildung, Atavismus zum Theil. ! Masters Vegetable Teratology. S. 170. ® K. GoEBEL, Organographie. Bd. I. S. 170. Progressive, retrogressive und degressive Artbildung. 461 B,. Durch Activirung latenter Eigenschaften: Degressive Art- bildung. a. Aus taxinomen (ev. latenten) Anomalien. b. Als eigentlicher Atavismus. B,. Aus Bastarden. Es ist selbstverständlich, dass diese Zusammenstellung keine voll- ständige zu sein beansprucht. Es giebt ohne Zweifel noch eine Reihe weiterer Typen, welche sich diesen Abtheilungen mehr oder weniger leicht werden unterordnen oder anreihen lassen. Auf der anderen Seite ist es aber ohne Weiteres klar, dass die Unterscheidung von A. und B. beim jetzigen Stande der Wissenschaft die Hauptsache ist, und dass namentlich für das experimentelle Studium diese Unter- scheidung einstweilen genügen würde. Ehe ich aber dazu übergehe, diesen Gegensatz näher zu beleuchten, möchte ich Einiges über die letzte Abtheilung (B,) vorausschicken. Aus Bastarden können neue Arten entstehen, nicht aber durch Bastardirung neue Artmerkmale. Oder vielmehr in Bezug auf das Auftreten von Mutationen verhalten sich Bastarde wie gewöhnliche Arten, nur sind sie dazu, nach der herrschenden Meinung, etwas mehr geneigt. Zahllose Arten beruhen aber einfach auf verschiedenen Com- binationen derselben Merkmale wie andere, oft nahe verwandte, oft entferntere Arten. Und durch Kreuzungen können offenbar Merkmale combinirt werden, welche nicht in derselben genealogischen Linie, sondern in verschiedenen Arten einer solchen neben einander auf- getreten sind. So erhielt ich z. B. durch Kreuzung von Oenothera rubrinervis mit O. nanella eine samenfeste O. rubrinervis-nanella, welche bis jetzt in mehreren Generationen sich ohne Spaltung und ohne Rückschlag erhielt. Und in ähnlicher Weise sind zweifelsohne viel- fach neue Arten entstanden.! Kommen wir jetzt zu der Besprechung des Unterschiedes unserer beiden Hauptgruppen A und B, so unterscheiden wir also die pro- gressive Artbildung oder die Entstehung neuer Artmerk- male von der retrogressiven und degressiven Artbildung, bei denen es sich um Latenz oder Activirung bereits vorhandener Anlagen handelt. Offenbar ist für die progressive Artbildung eine Prä- mutation erforderlich, für die retrogressive und degressive ! Die eingehende Erörterung dieser Frage ist aber erst im zweiten Bande zu geben. entstehen, bevor sie sich äussern können, während bei den beiden letzteren nur bereits existirende Anlagen in Frage kommen. Ich erlaube mir deshalb hier die bei Oenothera Lamarckiana gemachten Erfahrungen und die dort gegebenen Erörterungen über die Prä- mutationsperiode anzuwenden.! Es handelt sich dabei selbstverständ- lich nur um eine hypothetische Erörterung, welche aber, wie mir scheint, zur Klärung der Sachlage wesentlich beitragen kann. Ich möchte deshalb’ hier vorauschicken, dass diese Auseinandersetzung in den in diesem Abschnitte mitzutheilenden Versuchen, und am klarsten in der Geschichte meiner Linaria vulgaris peloria (vergl. $ 20) ihre Stützen finden wird. Im zweiten Abschnitt wurde bereits betont, dass ich annehme, dass die Mutationsperiode der Oenothera Lamarckiana für die Ent- stehung von Arten überhaupt, das heisst für die wesentlichste Form derselben, die progressive Artbildung, als Typus zu betrachten ist.? Vielfach sehen wir im Pflanzenreiche ähnliche Gruppen nahe ver- wandter Arten, meist als elementare Arten bestimmten Grossarten untergeordnet, oder aber theilweise von den besten Autoritäten als gute Arten unterschieden. Am nächsten mit unserem experimentellen Beispiel verwandt ist die Gruppe der Oenothera biennis, oder der Untergattung Onagra;? etwas entferntere Verwandtschaft weisen die Gruppen von FZleracium, Rosa u. a., oder von Draba verna, Viola trico- lor u.s. f. auf. Solche Gruppen scheinen uns Ueberreste vergangener Mutationsperioden zu sein. Im Anschluss an die Erörterungen des vorigen Paragraphen sind die aus solchen periodischen Mutationen entstandenen neuen Formen als ebenbürtige Unterabtheilungen der älteren Arten oder als elementare Arten zu bezeichnen. Dass in solchen Perioden nicht nur neue Artmerkmale auftreten, sondern auch alte latente leichter an’s Licht kommen als sonst, kann kein Wunder nehmen, und bei den Mutationen von Oenothera La- marckiana war die O. nanella den typischen Gartenvarietäten und die O. laevifolia den durch Verlust einer Eigenschaft entstandenen syste- matischen Varietäten ohne Zweifel analog. Mit diesen letzteren und ähnlichen retrogressiven und degressiven Artbildungen verhält es sich aber ganz anders. Ihre innere Bedingung ist stets vorhanden, es bedarf nur der äusseren, die Mutation selbst veranlassenden Einwirkung. Diese braucht weder periodisch einzu- ! Vergl. Abschnitt II und namentlich 5 31 S. 352. 279.182: ® Vergl. S. 315 und S 31 S. 352. Beispiele constanter Rassen. 465 Ab und zu, ohne bestimmte Intervallen, im Laufe der Jahre ebenso unregelmässig zerstreut als im Oulturgebiete der betreffenden Arten, sieht man im Gartenbau die neuen Formen erscheinen. Aber ebenso klar ist es, dass es sich hier ausschliesslich oder doch fast ausschliesslich nur um retrogressive und degressive Artbildung han- delt.! Analogie und Parallelismus herrschen überall, und solches geht so weit, dass oft die eigentlichen Artmerkmale in den Hinter- grund treten. Gutgefüllte Blumen sehen sich so ähnlich, dass man an den besten Abbildungen oft nicht sehen kann, zu welcher Gattung oder Familie sie gehören. Aus diesem Grunde werde ich in diesem Abschnitte die Entstehung von Gartenvarietäten möglichst ausführlich zu schildern versuchen. Sie sind für mich, beim jetzigen Zustande unserer Wissenschaft, das Muster der retrogressiven und der degressiven Artbildung. Sie bilden also ein Seitenstück zu der progressiven Artbildung in der, Gattung Oenothera. Zu- sammen umfassen beide, soweit ich jetzt urtheilen kann, die Haupt- züge, nach denen die Artbildung muthmasslich auch in früheren Zeiten vor sich gegangen ist. Der Fortschritt im Stammbaume beruht nothwendiger Weise auf Progression, auf der Bildung neuer Eigenschaften; der überwältigende Formenreichthum aber beruht daneben auf dem gelegentlichen Verschwinden bereits vorhandener, und der Activirung latenter Eigenschaften (Retrogression, Degression, Atavismus). IV. Das plötzliche Auftreten und dieConstanz neuer Varietäten. $ 8. Beispiele constanter Rassen. Die Varietäten des Gartenbaues sind in der Regel constant; Ausnahmen pflegen in den grösseren Werken ausdrücklich als solche bezeichnet zu werden. Die meisten Sorten sind nicht nur samen- beständig, sondern auch samenrein. Samenbeständig nennt man sie, wenn sie praktisch rein sind, d. h. bei der gewöhnlichen Cultur nicht mehr Verunreinigungen aufweisen, als unvermeidlich ist (also meist ! Die Bastardirungen schliesse ich hier selbstverständlich aus. 264 Das BIO bene Blur und die EOS: neuer Varietäten. zu 9799 Inezein): Sn east man si. wenn ERS Samen versuchsweise ie Exemplare nur die Varietät geben und zwar ohne Ausnahme. Die Constanz ist dann eine völlige. Die Praxis hat aber fast nie ein Interesse dabei, ihre älteren Sorten oder ihre Neuheiten auf diesen Grad der Reinheit zu prüfen oder zu bringen. Solches ist aber zu wiederholten Malen von den verschiedensten Forschern gethan worden, namentlich von Darwın und von HorrmaAnn.! Unvollständige Bekanntschaft mit den Gefahren zufälliger Kreuzungen und mit deren Folgen ist allerdings die Ursache, dass vielen dieser älteren Versuchen keine völlige Beweiskraft mehr zukommt, aber wo das Resultat ein positives war, ist dieser Einwurf selbstverständlich ausgeschlossen. Die zahllösen Beobachtungen völliger Constanz sind offenbar von Kreuzungseinflüssen rein gewesen, denn solche bewirken ja nur anscheinende Inconstanz. Trotz des vorliegenden Versuchsmateriales ist doch jetzt noch die allgemeine Meinung diese, dass Varietäten inconstante Bildungen seien. Gerade darin sollen sie sich von den echten Arten unter- scheiden, dass sie von Zeit zu Zeit, und nicht gerade allzu selten, zum Typus der Art zurückkehren. Und eben dadurch sollen sie ihre Zugehörigkeit zu. der betreffenden Art beweisen. Offenbar steht es Jedem frei, seine Definition einer Varietät so zu wählen, wie er will. Wer aber die Inconstanz als zum Wesen der- selben gehörig annimmt, wird sehr zahlreiche, und vielleicht die meisten und wichtigsten Gartenvarietäten auszuschliessen und als elementare Arten zu betrachten haben. Ich habe mich vielfach bemüht, sowohl Gartenvarietäten als wildwachsende auf ihre Constanz zu prüfen, theils um persönlich Ge- wissheit über ihre völlige Reinheit zu erlangen, theils aber auch um etwaige inconstante Formen für spätere Versuche herauszufinden. Ich bin dabei meist von Samen ausgegangen, theilweise auch, bei perennirenden Sorten, von käuflich bezogenen Pflanzen. Wo möglich wurden die Exemplare unter Ausschluss des Insectenbesuches künst- lich befruchtet; in weitaus den meisten Fällen muss man aber die Bestäubung den Hummeln und Faltern überlassen, und kann man nur für vollständige Isolirung sorgen. Der wichtigste Punkt ist schliesslich der Umfang der Aussaat. Absolute Constanz kann man selbstverständlich praktisch nie beweisen. ! Vergl. dessen Rückblick auf meine Qulturversuche in der Botanischen Zeitung 1881 und die dort eitirte Literatur. Eine vollständige Uebersicht über Horrmann’s Schriften gaben Inne und Schröter im Nachrufe auf Horrmann in den Berichten d. d. bot. Gesellsch. Bd. X. 1892. S. 18 des Schlussheftes. Beispiele constanter Rassen. 465 Viel mehr als einige Tausend Exemplare einer Sorte zur Blüthe zu bringen, lassen die Anforderungen der übrigen Versuche nur sehr selten zu. Und auch wenn man solches durch einige Jahre fortsetzt, ist die Möglichkeit eines seltenen Atavismus (z. B. von einem Indivi- duum in der Million) doch nicht ausgeschlossen. Dieses kann also überhaupt nicht Aufgabe der Oulturen sein. Meist thut man am besten, mit einigen Hunderten von Exemplaren zufrieden zu sein; oft gelingt es nicht einmal, soviel Samen zu erlangen. Kleinere Versuche dienen dann nur zur Bestätigung der bei anderen bereits gefundenen, und können unter dieser Be- | schränkung meiner An- sicht nach ihren Werth haben. Dem Nachweise ab- soluter Constanz kommen die Beobachtungen sol- cher Rassen am nächsten, welche ingewissen Gegen- den im Freien wachsen, und dort sehr zahlreich und dennoch sortenrein sind. Hier ist die Con- stanz eine so auffallende, dass sie manchen Syste- matiker veranlasst, die Form als Art zu be- trachten. Zu den be- kanntesten Beispielen gehören die Discoidea- Formen mancher Com- positen. Mogauın Tannon betrachtete die Discoidea, d. h. die Form ohne Zungenblüthen; als die Peloria der Compositen.! Allgemein werden sie wohl als aus den Radiaten hervorgegangen angesehen. Bisweilen ist die zungenlose Form häufiger als jene mit Strahlen, und dann wird bisweilen die Discoides in den systematischen Werken als Art, die Radiata als Varietät beschrieben. So z. B. bei Bidens tripartita (Fig. 126) und B. cernua,? obgleich B. grandiflora, B. bipinnata, B. atro- Fig. 126. Bidens tripartia. Typus ohne Strahlen- blumen. 1 Teratologie vegetale S. 179. ® Koch, Synopsis Florae Germanicae 8. 309. DE VRIES, Mutation. I. 30 466 Das plötzliche Auftreten und die Constanz neuer Varietäten. purpurea bekannte Arten mit Strahlenblüthen sind. In meinem Vater- lande wachsen B. iripartita und B. cernua sehr allgemein; ich habe mich vielfach bemüht, Exemplare mit Zungenblüthen zu finden oder zu bekommen, aber vergeblich. Die beiden Formen sind in dieser Hinsicht so constant wie überhaupt nur möglich. In anderen Ländern kommen die betreffenden Varietates radiatae aber bekanntlich vor. Fig. 127. Fig. 128. Senecio Jacobaea L. (f. radiata). Senecio Jacobaea discoideus. KOcH. Senecio Jacobaea hat gleichfalls eine Forma radiata« und eine F. dis- coidea! (Figg. 127 und 128), welche beide bei uns vorkommen und völlig constant sind. In den Dünen der Provinz Nord-Holland wächst der Discoideus überall und zu Tausenden, in jenen der Provinz Süd- Holland aber die F. radiata, und zwar ebenso zahlreich; beide gehören IsVierz1S. 138. Beispiele constanter Rassen. 467 zu den allgemeinsten und verbreitetsten Arten unserer Flora. Aber Jahrzehnte hindurch habe ich nie eine Vermischung oder einen mög- lichen Fall von Rückschlag beobachtet; die beiden Sorten waren an ihren betreffenden Standörtern stets völlig rein. Erst in den letzten Jahren treten sie auf den Grenzen ihrer Gebiete hier und dort ver- mischt auf, ohne Zweifel in Folge eines Samentransportes, Die beiden Sorten sind also in dieser Gegend als absolut constant zu betrachten. ! Ebenso constant ist auch in meinen Versuchen Matricaria Chamomilla diseoidea,” von der aber Murr das gelegentliche Vorkommen von Blüthenköpfchen mit Strahlen erwähnt.” Von einer Pflanze von M. discoidea hatte ich 1897 575 Exemplare, alle ohne Zungen. Ich erntete nur die Samen der schwächsten Zweige höherer Ordnung, und hatte 1598. wiederum 460. Pflanzen, alle ohne Zungenblüthe. Ich erntete dann, nach häufigem Wegschneiden des Hauptstammes und der kräf- tigsten Zweige, nur die allerschwächsten Samen von kleinen Spät- trieben, aber auch aus diesen kamen nur echte Discoides hervor (750 Exemplare 1899). Ausser den constanten strahlenlosen Rassen kommen auch ge- legentlich Blüthenköpfchen ohne oder doch fast ohne Strahlen in sonst normalen Rassen vor, wie solche z. B. in meiner Cultur bei Chrysanthemum coronarium, Üoreopsts tinctoria, Dahlia striata nana u. a. gesehen wurden.* Im ersten Abschnitt habe ich zu wiederholten Malen Beispiele völlig constanter Varietäten aus der Literatur angeführt? und gezeigt,® dass viele gewiss ein oder zwei Jahrhunderte alt sind; ja so alt als, oder noch wahrscheinlicher sogar älter als die Cultur selbst. . Die Varietäten sind im Allgemeinen ebenso constant wie die wilden ele- ! Eine sehr wichtige Zusammenstellung giebt J. Murr: Strahllose Blüthen bei heimischen Kompositen. Deutsche Bot. Monatsschr. Bd. 14. 1896. S. 161—164. Vergl. Botan. Jahresber. T. 24, 2. S. 11, wo von einigen discoiden Formen seltene Beispiele mitStrahlen, und von radiaten Formen ausnahmsweise strahlenlose Blüthen angeführt werden. Zu den letzteren zählt in dortiger Gegend Senecio Jacobaea. Die Unterscheidung von Halbrassen (vergl. $S 3 S. 422) würde hier vermuthlich zu wichtigen Ergebnissen führen. ® Ueber deren rasche Verbreitung in Norwegen vergl. Jens Hormsor, Nogle Ugroesplanters Invandring i Norge. 1900 (Nyt Magax. f. Naturv. Bd. XXXVII]). S. 157. Mit einer Karte. Auch dort ist die Sorte völlig constant. ® J. Mung, 1. e. S. 161—164. * Weitere Beispiele bei Mur |. c. > Vergl. S. 138, ferner die GaızLon-Erdbeeren (Fig. 7 S. 25), Chelidonium laeıniatum (Fig. 36 S. 134). ° Vergl. Abschnitt I S. 129 die Liste der schon MunrtinG (1671) bekannten und noch jetzt eultivirten Abarten. 30° > es plötzliche Auftreten umd ‚die ‚Consianz neuer Varietäten. mentaren Arten, von denen oa we na, ion or ua: 1. besprochen wurden. Die beiden merkwürdigen, von HERMANN MÜLLER unter- schiedenen Typen von Iris Pseudacorus, deren einer mit engen Blüthen- eingängen der Befruchtung durch Rhingia, der andere aber den Hummeln angepasst ist,” gehören wohl zu derselben Gruppe. Eine sehr inhaltsreiche und wichtige Liste samenbeständiger Sorten hat neuerdings IrwIn Lynch, nach den Angaben mehrerer Gärtner und Botaniker, sowie nach eigener Erfahrung zusammengestellt. ° Unter den Gärtnern ist die Meinung sehr verbreitet, dass die weissblühenden Varietäten zu den am meisten constanten gehören. Sie sind überaus zahlreich und sehr leicht zu controliren. Nach be- kannten Analogien® ist als Regel anzunehmen, dass ihre Bastarde mit der gefärbten Sorte gleichfalls gefärbt und also bald und leicht kennt- lich sein würden. Sie werden somit beim Reinigen oder Fixiren früh und vollständig entfernt, was für die Constanz der Sorten sehr wichtig ist. Mehrere Forscher haben weisse Sorten auf ihre Reinheit geprüft. So untersuchte HILDEBRAND? weisse Hyacinthen, Delphinium Consolida, Maithiola incana und Lathyrus odoratus.* HOFFMANN Linum usitatissi- mum album, HOFMEISTER während dreissig Jahre Digitalis parviflora alba,” PREHN COentaurea Scabiosa alba® u. Ss. w. Von einer Reihe weissblühender Varietäten perennirender Arten habe ich einige wenige Pflanzen aus dem Handel bezogen, diese isolirt blühen lassen und die Samen ausgesät. Soweit die Isolirung eine ausreichende war, war die Nachkommenschaft, mit einer einzigen Ausnahme (Aguilegia chrysantha) völlig einfarbig weiss und also samen- rein. Die in dieser Weise untersuchten Arten waren die folgenden (ich gebe zwischen Klammern die Anzahl der von ihnen gewonnenen und in der Blüthe beobachteten Nachkommen): Oampanula pyramidalis alba (26), ©. persieifolia alba (1044), Catananche coerulea alba (3), Hys- ! Vergl. Figg. 3 und 4 S. 15 und 16. Ueber die Constanz elementarer Arten von Viola tricolor vergl. auch V. B. Wırrrock, Viola Studier Acta Horti Bergiani. Bd. Dr Nr. 1. 1897 (dreijährige Culturen). ® H. Mürter, Die Befruchtung der Blumen S. 68. ® Irwın Lynch, The evolution of plınts. Journ. Roy. Hort. Soc. Vol. XXV. Part. I. S. 34-37. Nov. 1900. * Vergl. den zweiten Band. 5 HILDEBRAND, Die Farben der Blüthen S. 79. ° Horrmann, Botan. Zeitung. 1876. S. 566. Vergl. ferner die ausführliche Liste samenfester weisser Varietäten bei CARRIERE a. a. O. S. 12—13, und die sonstige Literatur. ” HorMEISTER, Allgemeine Morphologie S. 556. 8S J. Prean, Schr. Naturw. Vereins Holstein. Bd. X. 1895. S. 259. Beispiele conslanter Rassen. 469 sopus officinalis albus (198), Lobelia syphilitica alba (5371), Lychnis chalce- donica alba (401), Polemonium dissectum album (126), Salvia syWwestris alba (296). Von einjährigen Sorten fand ich ferner völlig samenrein Chrysanthemum coronarium album (400), Godetia amoena, weisse Perle (15), Linum usitatissimum album (179), Phlox Drummondi alba (50), Silene Armeria alba (617). Von wilden Sorten prüfte ich ausführlich Brodium eiceutarium album, welches bei uns sehr verbreitet ist. Ihm fehlt der rothe Farbstoff der Art sowohl in den Blättern als in den Blüthen. Ich fand die Varietät durch fünf Generationen im Garten samenrein, nie entstand, trotz grösseren Aussaaten, ein rothes Exemplar. Ich sammelte später noch Samen von einem anderen Fundorte und fand auch hier die Alba samenrein (43 Exemplare). Andere Farbenvarietäten pflegen gleichfalls rein zu sein, wenn man die Samen isolirter Exemplare untersucht. Für einige ist solches ‘so allgemein bekannt, dass die betreffenden Formen aus diesem Grunde zu Arten „erhoben“. worden sind, wie z. B. Anagallis (arvensis) coerulea. Von dieser habe ich 1897 25 Exemplare an einer isolirten Stelle blühen lassen und hatte 1898 866 Pflanzen, welche ohne Aus- nahme blau bühten. Von Tetragonia expansa, welche in ihrer ganzen Belaubung sowie in den Blüthen rothbraun ist, giebt es eine rein grüne Form, welche als Art T. cerystallina heisst. Letztere fand ich völlig samenrein. Ich säte 1898 etwa 600 Früchte aus einer Cultur von 1897; jede Frucht enthält 6—10 und oft mehr Samen, deren einige früher und andere später, oft erst nach Jahren keimen. Es keimten im Laufe des ersten Sommers 3975, ım Laufe des zweiten 1082, im dritten 88 und im vierten 90 Samen. Zusammen also 5235 Keimpflanzen, welche sämmtlich grün, ohne Spur von rother Farbe, und also der T. cerystallina angehörig waren. Es sind also in diesem Falle auch die spät keimenden Samen ebenso sortentreu als die ersten. ! In anderen Fällen, wo die Constanz ebenso vollständig, aber zu- fällig weniger bekannt ist, werden die betreffenden Sorten „nur“ als Varietäten behandelt. Einige dieser Formen scheinen sogar in bo- tanischen Kreisen völlig unbekannt zu sein,? wie z. B. die Sülene AÄrmeria rosea, deren Farbe die Mitte hält zwischen der Art und der weissen Varietät, welche aber nicht etwa ein Bastard, sondern eine alte, völlig samenfeste Sorte ist, ebenso gut wie die beiden anderen. ! Anders verhält es sich z. B. bei Trifolium incarnatum quadrıfolium (vergl. $ 22). ? Vergl. Bot. Zeitung. 1900. S. 234. 470 Das plötzliche Auftreten und die Constanzs neuer Varietäten. Fig. 129. Madia elegans. Im Jahre 1895 hatte ich aus Samen der Var. flore roseo, nach isolirter Blüthe im Jahre 1897, über 4000 Pflanzen in Blüthe, sämmtlich von der Farbe der Mutter. Ebenso in kleinerem Umfange in anderen Jahren. Desgleichen bei anderen Arten z. B. Clarkia pulchella carnea (50 Exemplare). Ebenso fand ich die blassblüthige Agrostemma Githago nicaeensis samenrein (im Laufe von 10 Jahren), ferner Agrostemma coronaria bicolor (349 Ex.) und Hyoscyamus (niger) pallidus (40 Ex.). Ferner das gelbe Chry- santhemum coronarium (228 Ex.), die Varie- täten des Leins mit weissen und mit gelben Samen, manche Varietäten ohne die dunklen Herzflecken ihrer Arten am Grunde der Petalen, wie Papaver somniferum Danebrog, Papaver commutatum, Madia elegans (Fig. 129) us. w. Eine interessante samenreine Varietät ist auch Chelidonium majus latipetalum (Fig. 130), welche ich der Güte des Herrn Prof. J. W. Morz in Groningen verdanke. Es unterscheidet sich von ©. majus durch die Blumenblätter, welche so breit sind, dass sie sich an den Rändern überdecken, und so eine geschlossene Krone, statt eines offenen Kreuzes bilden. Ich fand es durch einige Generationen samenrein. Sehr bekannt ist die Constanz der fasciirten Varietät von Myosotis alpestris: Victoria, mit den weiten, vielblätterigen centralen Blumen, ferner von Linaria vulgaris tricalcarea, ! von vielen unbehaarten Formen wie Lychnis vespertina glabra, von unbe- dornten Typen wie Datura Stramonium inermis? u. Ss. w., welche ich alle ı J. H. WArkeErR, Linaria vulgaris. Fig. 130. A B Chelidonium majus lati- Nederl. Kruidk. Archief 1889 mit Tafel X. petalum. C D Chelid. majus. 2? Vergl. Fig. 5 auf S. 22. Beispiele constanter Rassen. 471 auch selbst geprüft habe. Es würde viel zu weit führen, die Liste der constanten Varietäten auch nur annähernd vollständig machen zu wollen. “= Ich führe nur zum Schlusse noch eine Rasse von Melilotus coerulea an, welcheichder Freund- lichkeit des Herrn Prof. M. W. BEYERINcK ver- danke (S. 455). Ihre Blättehen! sind zu einer einzigen Spreite zusam- mengewachsen, in der die drei Hauptnerven noch vom Grunde aus vereinzelt laufen. Auch ist die Spreite dreigipfelig, und zwar mit einer sehr grossen fluktuirenden Variabilität in der Tiefe der Einschnitte zwischen den drei Abtheilungen. Mehrfach sind diese nur halbwegs verbunden, oder noch weniger, bisweilen sogar fast bis unten, in seltenen Fällen auch wohl gänzlich getrennt. Alle diese Formen kön- nen auf derselben Pflanze vorkommen. Aber bei meinen Aussaaten fand Fig. 131. Melilotus coerulea monophylla. Sämmtliche F > 3 % Blätter sind einscheibig, aber mehr oder weniger tief ich keine Rückschläge; gespalten. Im mittleren Blatt auf der rechten Seite jedes Exemplar zeigt in der Figur a eine Seitenblättchen ganz 2 Ä rei zu sein. höherem oder geringerem 4 Hochblatt aus der Inflorescenz; hier sind die Blätter Grade diese Monophyllie. am wenigsten gespalten. $ 9. Sterile Varietäten. Im ersten Abschnitt habe ich mehrfach hervorgehoben, dass eine der grössten Schwierigkeiten der Selectionslehre darin liegt, dass das ! Bereits beschrieben von Wyprer, Flora. 1860. S. 56, und nach ihm nicht selten. 472 Das plötzliche Auftreten und die Constans neuer Varietäten. von ihr angenommene allmähliche Entstehen von Arten niemals be- obachtet wurde. Ueberall, wo die Beobachtungen dem Ursprunge einer neuen Form hinreichend nahe kommen, deuten sie auf einen Sprung hn. Wo man nach der Selectionslehre allmähliche Ueber- gänge erwarten sollte, findet man solche nicht. Die neue Form mag in hohem Grade variabel sein, und dabei die Grenzen zwischen ihr und ihrer Mutterart gelegentlich überschreiten, solche transgressive Variabilität stellt aber nur in morphologischer und nicht in genetischer Hinsicht eine Ent- wickelungsreihe vor (vergl. II. $ 25 S. 408). Es ist in diesem Kapitel meine Aufgabe, eine Reihe weiterer Beispiele, theils aus der Literatur, theils aus eigener Erfahrung zu- sammenzustellen, um die dort gemachten Aus- sprüche näher zu begründen. Allerdings wird ein solcher Nachweis da- durch erschwert, dass es, wenigstens vorläufig, nicht möglich ist, in den einzelnen Fällen, in denen andere Forscher geglaubt haben Uebergänge zu finden, zu zeigen, in welcher Weise ihre Beobachtungen nach der Mutations- lehre zu erklären sind. Solches gilt nament- lich überall dort, wo nur vergleichende Studien vorliegen. Diese können wohl überall durch die Annahme einer transgressiven Variabilität erklärt werden, doch erlangt eine solche An- nahme offenbar erst dann wissenschaftlichen Werth, wenn die betreffenden Erscheinungen auch wirklich nach der statistischen Methode Fig. 132. Eine Blüthe von untersucht werden. Lilium candidum plenum. ‚Der Solchen zweideutigen Fällen steht aber Blüthenboden bildet emen , r langen Stiel, auf welchem eine lange Reihe von Beobachtungen gegen- die schmalen, völlig weissen über, in denen das Fehlen von Uebergängen Blumenblätter in spiraliger . . : 0 Anordnung stehen. mehr oder weniger gesichert ist. Unter diesen bilden die sterilen Varietäten einen der be- kanntesten Einwürfe gegen die Selectionslehre, wenigstens gegen die ausschliessliche Anwendung dieser Lehre. Als solche sind sie nament- lich von Darwın selbst vielfach hervorgehoben und ausführlich be- sprochen worden. Von den meisten unfruchtbaren Sorten weiss man allerdings gar = Sterile Varietäten. a nicht, wie, wann und wo sie entstanden sind. Sie sind da, seit Ur- zeiten cultivirt und auf vegetatirem Wege vermehrt. Sie unterscheiden sich aber von ihrer muthmaasslichen Mutterart ın so scharfer Weise, dass sie den besten Varietäten ebenbürtig sind. Eine allmähliche Entstehung nimmt für sie wohl Niemand an. Als erstes Beispiel führe ich das Lilium candidum plenum des Handels an. Es ist eine sehr bekannte Varietät, deren Zwiebeln noch jährlich von den Zwiebelhändlern in ihren Catalogen angeboten werden. Statt der Blüthen hat es beblätterte Zweiglein (Fig. 132). Der Zweig ist der verlängerte Blüthenboden; die Blättchen sind schmal und rein weiss, von der Farbe und der Structur der Petalen anderer weisser Lilien. Sie entwickeln sich in jeder Blüthe im Laufe einiger Wochen fortwährend; die untersten können lange Zeit braun und verwelkt sein, bevor die obersten sich entfaltet haben. Unsere Fig. 132 stellt eine ziemlich kurze Blume dar; sie werden oft doppelt so lang. Staubfäden und Carpelle werden nie gebildet; am Scheitel findet man die jüngsten Petalen zu einer dicht gedrängten Knospe zusammen- gefügt. Wie diese Varietät entstanden ist, weiss man nicht. Sie wurde zum ersten Male 1827 von G. VroLik beschrieben, nachdem er sie bereits während zwanzig Jahre im botanischen Garten zu Amsterdam hatte blühen sehen." Ihr Alter erreicht also jedenfalls nahezu ein Jahrhundert. Sie blüht auch jetzt noch regelmässig jedes Jahr in unserem Garten. In der Gartenbau-Literatur findet man sie erst viel später, seit etwa 1840, erwähnt.? Zu den bekanntesten sterilen Gartenpflanzen gehören die grünen Georginen (Dahlia variabilis viridiflora). Ihre Körbchen sind ohne Blüthen, und die sonst dünnen durchscheinenden Bracteen sind in grüne Blättchen umgebildet. Sie werden in Gärten vielfach cultivirt, theils als Merkwürdigkeit, theils deshalb, weil ihre grünen „Blumen“ nicht verwelken, sondern frisch an der Pflanze bleiben; diese ziert sich also bis zum Herbst mit einer stetig anwachsenden Zahl solcher Blumen.” Die Varietät ist um die Mitte des vorigen Jahrhunderts in Boskoop in Holland in einer Aussaat entstanden und seitdem durch 1 G. VRoLIK, Over een rankvormige ontwikkeling van witte leliebloemen. Nieuwe Verhandelingen der eerste klasse v. h. k. Nederl. Instituut van Wet. te Amster- dam. Dl. I. 1827. S. 295—301, mit einer Tafel. Der dort abgebildete Zweig mit fünf Blumen befindet sich noch, in Spiritus aufbewahrt, in unserer Sammlung. ?2 Bei M£rAat, Ann. Soc. d’hortic. de Paris 1841—1845, und VERIOT, |]. c. 1865. S. 91. ® Vergl. die Literatur in Penzıe’s Teratologie. II. S. 71. 474 Das plötzliche Auftreten und die Constans neuer Varietäten. ihre Knollen vermehrt. Sie bildet von Zeit zu Zeit einzelne (rothe) Strahlenblüthen aus, trägt aber, soviel mir bekannt, niemals Samen. \ a S ANZ N 2? i Fig. 135. Grüne Georgine, eine neue Varietät. Eine neue und, wie es scheint, noch nicht beschriebene grüne Georgine erhielt ich vor einigen Jahren durch die Güte der Herren ZOCHER & Co. in Haarlem. Woher die Sorte stammt, ist unbekannt, da sie anfangs mit der vorhergenannten verwechselt wurde. Von dieser unterscheidet sie sich dadurch, dass die grünen Köpfchen nicht von der normalen Form und Grösse sind, sondern umgewandelt in lange grün beblätterte Stiele, ähnlich wie in Fig. 133 mit Ausnahme des oberen Köpfchens. In der Handelsgärtnerei bilden sie solche verlängerte Blüthen in grosser Menge; diese bringen es an ihrem oberen Ende aber nie zu einem Abschluss. Sie wachsen bis zum Herbst stetig weiter und erreichen oft eine Länge von 30 cm und darüber. Genau so verhielten sie sich in meinem Garten, bis ich sie im vorigen Jahre übermässig stark düngte. Dann brachten sie, aber nur spät und aus we- nigen grünen „Blumen“, am oberen Ende ein kleines Köpfchen hervor (Fig. 133). Dieses entfaltete sich, bestand aber nur aus grünen Bracteen, ohne Blüthen und ohne Samen. Die Pflanze ist somit völlig steril. Dieser Varietät am ähnlichsten ist die oft citirte weizenährige Nelke (Wheat-ear-Car- nation, Dianthus barbatus var.). An Stelle der Blüthen findet man hier kleine grüne Aehr- chen, welche aus grünen, kreuzweis gestellten Bracteen gebildet sind. Diese Form scheint nicht regelmässig in Cultur zu sein, da sie in der Regel steril ist, und zweijährig; da- gegen tritt sie hier und dort zufällig in Aus- saaten, namentlich gemischter Sorten auf. In dieser Weise zeigte sie sich auch in meinem Garten; die-meisten Aehrchen waren wie ge- wöhnlich steril, eine bildete aber an ihrem Gipfel eine Blüthe, aus der ich auch einige keimfähige Samen erhalten habe. Sterile Varietäten. 475 Die grüne Rose ist seit alten Zeiten allgemein bekannt, dagegen gehört das grüne Pelargonium xonale der neueren Zeit an. In beiden sind es die Blüthentheile, welche in grüne Blättchen umgewandelt sind. Sie sollen völlig steril sein und nur durch Stecklinge vermehrt werden. Manche gefüllte Gartenblumen bilden nie Samen, namentlich die Formen, welche keine Mittelformen zwischen Staubfäden und Blumen- blätter aufweisen, sondern als Petalomanie beschrieben werden.! Ranuneulus acris (Fig. 40 S. 137), Oaltha palustris, Anemone nemorosa, Hepatica triloba, Tropaeolum majus flore pleno, Clematis recta, Barbarea vulgaris floribus plenis und viele andere werden in der Gartenbau- literatur als völlig steril aufgeführt. Ebenso von Compositen gefüllte Varietäten von Achilles Ptarmica, Ageratum mezicanum (einzelne Var.), Pyrethrum roseum u. Ss. w. Andere geben bekanntlich von Zeit zu Zeit Samen, wie Anthemis nobilis, und gehören also nicht hierher. Durch Umwandlung ihrer geschlechtlichen Blüthen in sterile Schaublumen sind Viburnum Opuwlus, Hydrangea hortenseas und andere steril geworden, ebenso Muscari comosum plumosum u.s. w. Bananen und andere Früchte ohne Samen wurden schon im ersten Abschnitt S. 137 aufgezählt. Manche Varietäten des Zuckerrohres tragen nie Samen, wie z. B. die zuckerreichste Sorte, das Cheribonrohr. Die über ausgedehnte Gegenden verbreitete Varietät bildet nur ein Individuum, d. h. ist von einer einzigen, unbekannten Stammpflanze herzuleiten, da sie stets nur durch Stecklinge, sogenannte Bibits, vermehrt wurde. Die Kugel-Acacia (Robinia Pseud-acacia inermis)” soll gleichfalls niemals blühen und nur durch Propfen vermehrt werden. Trifft die Sterilität einjährige Arten, oder doch solche, welche nicht auf die Dauer vegetativ vermehrt werden können, so stirbt die sterile Varietät bald aus. Es lohnt sich dann kaum, von einer Varietät zu reden, und die betreffenden Exemplare werden nur als Monstrosi- täten angesprochen. Doch sind sie ihrer Entstehung nach eigentlich den bisher behandelten sterilen Formen durchaus gleich. Im ersten Abschnitt (S. 138 Fig. 41) habe ich als Beispiel den sterilen Mais vorgeführt. Merkwürdiger noch ist die astlose Fichte (Pinus excelsa aclada oder monocaulis), welche SCHRÖTER in seiner vorzüglichen Monographie der Fichte beschreibt. Die ganze Pflanze stellt ! K. Goegeı, Beiträge zur Kenmntniss gefüllter Blüthen. Jahrb. f. wiss. Bot. Bd. XVII. S. 217—219 u. a. a. St. 0) * DE CanvoLıe, Physiologie. 11. S. 735. 476 Das plötzliche Auftreten und die Constanzs neuer Varietäten. einen vollkommen astlosen Spiess ohne irgend welche Verzweigung dar, der an den Enden der Jahrestriebe nur ein wenig angeschwollen ist; die Nadeln bleiben lange sitzen." Die Form ist an den verschie- densten Oertern aufgetreten. SCHRÖTER zählt 4 Exemplare in Italien, eins in Baden, einige aus Westfalen, Mittelfranken und Böhmen, und einige von Mariabrunn bei Wien auf. Manche dieser Exemplare er- reichten 1—2, einzelne 5— 6 Meter Höhe; einige von ihnen sind jetzt noch am Leben. Steriler Roggen wurde von Rımpau beschrieben.” Es fanden sich während mehr als einem Jahrzehnt fast alljährlich solche Aehren, meist verzweigt und nicht selten sogar sehr stark verästelt, besonders in Jahren und an Stellen, wo der Roggen sehr dünn stand. Da aber solche Aehren mit normalen an derselben Pflanze vorzukommen pflegen, so beruht das alljährliche Vorkommen vielleicht dennoch auf Ver- erbung. Schliesslich ist hier noch, statt einer weiteren Aufzählung der sehr zahlreichen sterilen Monstrositäten auf die von A. ERNST jüngst beschriebene Nitella syncarpa hinzuweisen, welche statt der Oögonien kümmerlich entwickelte Antheridien trägt, welche es nicht zur Aus- bildung von Spermatozoiden bringen.” Die betreffenden Exemplare wurden bei Zürich beobachtet und waren völlig steril. De $ 10. Beispiele im Freien plötzlich entstandener Rassen. In der freien Natur sind bekanntlich die elementaren Arten mit ihren nächsten Verwandten durch Uebergänge nicht verbunden. Aller- dings bewirken die fluktuirende und die transgressive Variabilität mehrfach den Schein continuirlicher Reihen; bei genauerer und nament- lich statistischer Untersuchung lösen sich diese Reihen aber in ihre einzelnen, wohl unterschiedenen Componenten auf.* In sehr zahl- reichen Fällen aber fehlen die Uebergänge durchaus, und gerade in diesem Fehlen ist die systematische Unterscheidung als Varietät, ! Vergl. S. 455 und C. ScHRöTER, Ueber die Fichte (Picea excelsa Link) in Vierteljahrsschr. d. nat. Ges. in Zürich. Jahrg. XLIIIl. 1898. Heft 2 und 3. Ss. 50—53, Fig. 18. In diesem wichtigen Werke findet man eine sehr vollständige Uebersicht über die Varietäten, Formen und Monstrositäten dieses so höchst „variablen“ Baumes. ? Deutsche landwirthschaftliche Presse. Berlin, 4. October 1899; mit photo- graphischen Abbildungen monströser Roggenähren. ® ArrreD Ernst, Ueber Pseudo- Hermaphroditismus bei Nitella syncarpa. Flora 1901. Bd. 88. Heft I. Mit Tafel I—IMl. * Vergl. den zweiten Abschnitt $ 25 S. 408. Beispiele im Freien plötzlich entstandener Rassen. 47 Unterart, elementare Art, oder sogar einfach als Art für die be- treffenden Formen begründet. Wo es sich um längst bekannte und weit verbreitete Formen handelt, lehrt uns dieser Mangel der Uebergänge über die Entstehungs- weise offenbar nur wenig. Günstiger verhalten sich die Fälle, wo die fraglichen Typen nur local vorkommen und wo man also, wenn es überhaupt Uebergänge geben würde, sie an dem Standorte der Pflanze zu finden erwarten könnte. In einigen Fällen gelang es einem gründlichen und kritischen Studium der geographischen Ver- breitung für bestimmte Varietäten das Verbreitungscentrum nachzu- weisen, wie solches für die hellfrüchtigen Spielarten der europäischen Vaccinien und einigen verwandten Ericaceen durch AscHERSoN und Masxus geschehen ist.! Auch in solchen Studien deutet der jetzige Mangel der Uebergänge darauf hin, dass es solche überhaupt nicht gegeben hat. Neben diesen mehr verbreiteten Varietäten sind in der Literatur eine Reihe von Beobachtungen beschrieben, in denen eine neue Form an einem einzigen Fundorte unter solchen Umständen gefunden wurde, dass man schliessen durfte, dass sie an Ort und Stelle und vor nicht allzu langer Zeit entstanden sei. Dann fehlten stets die Uebergänge, und es wies dieses Fehlen auf ein sprungweises Auftreten hin, und zwar mit einem so hohen Grade wissenschaftlicher Sicherheit, als überhaupt nur verlangt werden konnte. Im zweiten Abschnitt sind für die Oenothera Lamarckiana zwei solche Fälle ausführlich beschrieben worden: das Auftreten von O. brevistylis und O. laevifola auf dem ur- sprünglichen Fundorte bei Hilversum. Beide Arten zeigten sich, so- bald sie darauf untersucht werden konnten, als samenrein, d. h. ohne Atavismus, und Uebergänge fanden sich nicht vor. Sind sie an Ort und Stelle entstanden, so liest der Zeitpunkt für diese Entstehung zwischen dem ‚Jahre der Einfuhr und dem ersten Beobachtungsjahre, also etwa zwischen 1870 und 1886 {vergl. S. 187). Die wichtigste und ausführlichste einschlägige Beobachtung ist die erst vor Kurzem von SOLMS-LAuBacH beschriebene, welche sich auf eine neue, aus Capsella Bursa Pastoris entstandene Art bezieht. ? Diese wurde von Prof. HEEGER auf dem Messplatze bei Lindau zwischen dem gewöhnlichen Taschenkraut gefunden und ihm zu Ehren von SoLMms C. Heegeri genannt. Sie fand sich 1897 und 1898 in wenigen ! P. AscHerson und P. Macnus, Verhandl. d. k. k. zool.-botan. Gesellschaft in Wien. 1891. S. 677. ®? H. Gear zu Sorms-LaugacH, Orueiferen- Studien. Botan. Zeitung. 1900. Heft X. 1. Oct. 1900. S. 167—190, Taf. VII. 475 Das plötzliche Auftreten und die Constans neuer Varietäten. Exemplaren vor, und zwar nur an dieser einen Stelle. Sie ist in ihrem vegetativen Theile der ©. Bursa durchaus ähnlich und unter- scheidet sich nur durch die Früchte. Hier sind die neuen Merkmale derartige, wie sie sonst in der Familie der Öruciferen wohl als Gattungs- merkmale gelten. Die Früchte der Capsella Heegeri sind eiförmig, etwa ebenso dick als breit. Die Samen sind notorrhiz. Den Klappen fehlt der feste anatomische Bau, sie sind weich und saftreich, und können als eine Hemmungsbildung im jugendlichen Alter aufgefasst werden. An Spät- knospen treten Abweichungen auf, welche mehr oder weniger zu der Form der ©. Bursa zurückkehren; ebenso unterliegen Blüthe und Fruchtknoten unter dem Eintlusse des Oystopus candidus monströsen Veränderungen, welche sie den entsprechenden Bildungen von ©. Bursa nähern. Aus Samen geht C. Heegeri rein auf (382 Exemplare), ohne Rück- schlag auf ©. Bursa, wenn man die Pflanzen vor Kreuzung mit dieser schützt. Es kann somit keinem Zweifel unterliegen, dass Capsella Heegeri eine gute elementare Art ist, welch im Jahre 1897 oder einige Jahre vorher unweit Lindau aus ©. Bursa entstanden ist. Und zwar eine Art, welche sich von ihren nächsten Verwandten durch systematisch viel wichtigere Merkmale unterscheidet, als weitaus die meisten, sonst ihrer Entstehung nach bekannten Arten. Unter ähnlichen Umständen fand ich unweit Wageningen eine Stellaria Holostew apetala (1889), und in demselben Jahre nahe bei Horn in Lippe die auch sonst bekannte Onpsella Bursa Pastoris apetala.! Von beiden konnte ich aber keine Samen gewinnen. Ebenso sammelte ich unweit Hilversum im Jahre 1885 Samen von Lychnis vespertina, aus denen zum Theil völlig unbehaarte Exemplare aufgingen. Die neue Varietät L. v. glabra zeigte sich, sobald ich sie isoliren konnte, als gänzlich samenrein, und erhielt sich bis jetzt ohne Rückschlag. Soweit Angaben in der Literatur vorliegen, zeigen sich im Freien neu aufgetretene, oder doch vorher nicht beobachtete Formen in der Regel als samenrein, wenn sie wenigstens nicht der Gefahr von Kreu- zungen ausgesetzt sind. Sonst wird die Rasse rein oder fixirt, sobald man sie isoliren kann. Eine der ältesten einschlägigen Angaben ist die Constanz von Ranunculus arvensis inermis, welche von HoFFMANN nachgewiesen -wurde.?” Die meisten Beobachtungen beziehen sich auf Vergl. Penzıe, Teratologie. 1. S. 267. Horrmans, Bot. Zeitung 1878. S. 273. Dort auch weitere Beispiele. 1 2 Plötzlich entstandene Gartenvarietäten. 479 Darwın plötzlich entstanden sein sollen,! wie die Trauereiche, Trauer- weissdorn u. s. w.? Fagus sylvatica aspleniüifolia, in einem Exemplar? in Lippe-Detmold in einem Walde gefunden, konnte sofort durch Samen vermehrt werden. Von Tuxus baccata fastigiata, welche nach Loupox im Jahre 1780 in Irland wild gefunden wurde, hat man bis jetzt keine echten Sämlinge, da es nur ein Exemplar (ein weib- liches) gab.* Die hier gegebene Zusammenstellung ist keine reichhaltige; sie soll aber auch auf Vollständigkeit keinen Anspruch machen. Die einschlägigen Beobachtungen sind mit wenigen Ausnahmen mehr oder weniger unvollständig, indem selbstverständlich die Möglichkeit stets offen bleibt, dass dem ersten Funde einer neuen Art oder Varietät thatsächlich bereits eine längere Eintwickelungsperiode vorangegangen ist. Nimmt man eine solche an, so sprechen nur der Mangel an Uebergängen und die Samenbeständigkeit für ein sprungweises Auf- treten. $ 11. Plötzlich entstandene Gartenvarietäten. Dass Gartenvarietäten sehr häufig stossweise entstanden sind, weiss ein Jeder. Auf diesem Gebiete differiren die Meinungen nur in Bezug auf zwei Punkte Und zwar in empirischer Hinsicht in Bezug auf die Frage nach der Samenbeständigkeit, in formeller Hin- sicht über die Bedeutung des Wortes Varietät. Beide Punkte hängen eng zusammen. Ist die Sorte nicht samenrein, sondern geht sie durch Rückschläge häufig auf ihre Mutterart zurück, so soll sie als von dieser abgeleitet und ihr untergeordnet behandelt werden. Ist die Sorte aber ebenso samenrein als die Mutterart selbst, so fehlt jedes empirische Mittel, die Zusammengehörigkeit zu beweisen, und beruhen die diesbezüglichen Auffassungen nur auf den historischen Nachrichten und auf dem vergleichenden Studium. Und dass letzteres gar häufig zu Meinungsdifferenzen führt, ist allgemein bekannt. Es handelt sich also neben den historischen Angaben stets um den Nachweis der Samenreinheit. Da aber die Praktiker nur dafür Interesse haben, ob die Sorte sich aus Samen bequem vermehren ! Darwin, Variations. 1. S. 461—463. ? Weitere Beispiele bei Braun, Verjüngung. S. 333 (plötzliches Entstehen rothblätteriger Sorten von Quercus, Corylus u. s. W.). % RATZEBURG, citirt von Braun in Abh. d. k. Akad. Berlin. 1859. S. 217. * L. Beissser, Handbuch der Nadelholskunde. 1891. S. 169. In diesem Werke noch eine Anzahl weiterer Beispiele. 480 Das plötzliche Auftreten und die Constanz neuer Varietüten. lässt, und nicht dafür, ob sie vielleicht gelegentlich Rückschläge giebt, so dürfen die vorhandenen Angaben, und namentlich die älteren, nur mit Vorsicht aufgenommen werden. Unter dieser Reserve wünsche ich einige der bekanntesten Bei- spiele hier zusammenzustellen. Vorher führe ich aber einen Fall einer sehr schönen Varietät an, welche ich bis jetzt in der Literatur noch nicht beschrieben und in Handelscatalogen noch nicht angeboten fand, welche aber in meinen eigenen Culturen auftrat. Die Fig. 134 stellt eine Georgine vor von einer sogenannten einfachen Sorte, deren Strahlenblüthen sämmtlich in lange, weite, oben offene Röhren umgewandelt sind. Aehnliches kommt bei manchen anderen Öompositen vor, z. B. bei Chrysanthemum segetum fistulosum, Coreopsis tinctoria fistulosa u.s.w. Diesen entsprechend ist die neue Form Dahlia variabilis fistu- losa zu nennen. Diese Varie- tät entstand in einer Aus- saat von Samen von D. var. Jul. Chretien, einer einfach blühenden, mennigrothen, zwergigen Form aus Lyon, von der ich 1892 Knollen gekauft hatte. Aus den in diesem Jahre von mir ge- ernteten Samen dieser Varie- tät hatte ich 1893 unter vielen Pflanzen von derselben Farbe eine weisse Blüthe, und nur von dieser säte ich 1894 die Samen.! In dieser Saat trat .die Pflanze auf, welche das in Fig. 134 abgebildete Köpfchen trug. Die Farbe war dunkelkarminroth (nicht mennigroth). Die Köpfchen waren sämmtlich fistulös, von Anfang Juni bis in den October; aber die späteren zeigten die Abweichung in wechselnden Graden. Entweder war die Röhre nur im unteren Theile geschlossen, oder es waren nicht alie Strahlenblüthen röhrig. Die Pflanze musste der freien , Fig. 134. Dahlia variabilis fistulosa, eine neue in meinen Culturen -aufgetretene Abart. ! Künstliche Befruchtung von Georginen mit ihrem eigenen Blüthenstaub ist mir bis jetzt leider noch nicht gelungen. Plötzlich entstandene Gartenvarietäten. 481 Kreuzung mit ihren Nachbarn überlassen werden, über die Constanz lassen sich also keine genauen Angaben machen. Diese war aber jedenfalls eine sehr bedeutende. Denn aus den Samen meines. Con- questes erhielt ich im ‚Jahre 1895 43 Pflanzen, von denen 25, also mehr als die Hälfte, das Merkmal der neuen Varietät wiederholten. Die Entstehung des Chelidonium laciniatum aus ©. majus wurde im ersten Abschnitt ausführlich besprochen (S. 134 Figg. 36 und 37); dort wurden auch eine Reihe anderer einschlägiger Beispiele vor- geführt. VERLOT (l. c. S. 34) nennt Ageratum coeruleum nanum als eine bisweilen steril auftretende, in anderen Fällen aber samenbestän- dige Neuheit. Verbena hybrida „a fleur couronnee* entstand etwa 1889 aus der Varietät „a fleur d’aurieule“‘, war sofort samenbeständig und wurde bereits nach zwei Jahren von E. Foureeor in Paris in den Handel gebracht.! Robinia Pseud- Acacia rosews wurde von DECAISNE in einer Aussaat der gewöhnlichen Akazien gefunden, und in ähnlicher Weise ist auch @leditschia sinensis.inermis entstanden; ferner Sophora japonica pendula, welche etwa 1800 in der Gärtnerei des Herrn JoLY in Paris auftrat, u. s. w.” Im Jahre 1860 trat in Boskoop eine neue Erdbeere, „AReus van Zuidwyk“, auf, welche in Blättern und Früchten bedeutend grösser und hesser ausgestattet war, als die da- mals bekannten Sorten; sie war sofort samenbeständig und fand eine rasche Verbreitung. Ich schliesse diese Uebersicht mit den neuen Arten von Tomaten, welche Baıtey jüngst beschrieben hat.? Er beschreibt die Entstehung zweier neuen Formen, welche er Upright und Mikado genannt hat und welche in seinen Culturen entstanden sind. Sie sind sowohl unter einander als auch von ihrer Mutterart schärfer und vielseitiger unterschieden, als manche ältere und allgemein als gute Arten an- erkannte Typen in der Gattung Lycopersicum. Sie traten in der ge- wöhnlichen Weise unvermittelt auf und wurden durch Samen vermehrt. Aus den in diesem und in den beiden vorhergehenden Para- sraphen mitgetheilten Beobachtungen, welche ja bei Weitem keine vollständigen Listen sind, darf man folgern, dass die Entstehung von Varietäten und elementaren Arten, sowohl in den Öulturen als im Freien, ganz gut dem experimentellen Studium zu- gänglich ist. Die Erscheinung ist nicht eine so seltene, wie man vielfach glaubt. Der Botaniker wird ja unschöne und nutzlose Formen ! Vergl. dessen Samencatalog von 1891. ZEVER”OT, 1..e.:S., 598 und 92, 93. ® L. H. Baıtey, Surviwal of the unlike. DE VRIES, Mutation. I. 31 482 Der Atavismus. mit demselben Nutzen studiren, als die viel geringere Anzahl der vortheilhaften, welche der Praktiker selbstverständlich ausschliesslich berücksichtigt. Die Culturen brauchen gar nicht sehr umfangreich zu sein, um von Zeit zu Zeit, wenn auch nicht gleich anfangs und nicht jedes Jahr, Neuheiten hervorzubringen. Nur kommt es darauf an, die Neuheiten sofort bei ihrem Auftreten zu isoliren oder künst- lich zu befruchten. Noch wichtiger ist es aber, auf die Vorfahren zurückgehen zu können, theils des historischen Nachweises wegen, theils aber, um ihre Samen nochmals aussäen zu können, und zu untersuchen, ob die Neuheit sich etwa wiederholen wird, und wenn möglich, von welchen Bedingungen ihr Sichtbarwerden abhängt. Leider eignen sich viele Pflanzen zu solchen Versuchen nicht, entweder, da sie mit ihrem eigenen Pollen keine oder doch zu wenig Samen bilden, oder weil sie sich im Grossen nicht künstlich befruchten lassen, oder weil überhaupt ihre Ernte zu klein ist, u. s. w. Auch ist man fast ausschliesslich auf ein- oder zweijährige Arten, und auf solche peren- nirende, welche im ersten Jahre üppig blühen können, beschränkt. Trotz aller dieser Schwierigkeiten, und trotz der Unvollständig- keit fast aller vorliegenden Beobachtungen ist an der Möglichkeit eines experimentellen Studiums der Entstehung von Gartenvarietäten meines Erachtens kein Zweifel mehr erlaubt. ! V. Der Atavismus. $ 12. Atavismus durch Samen und durch Knospen. In seiner Allgemeinen Morphologie definirt HorMmEIsSTER den Atavismus, indem er sagt: „das Vorkommen von Rückschlägen: Nachkommen einer Varietät bekannter Abstammung, welche der Stammform ähnlich sind“ (S. 559). Je nach der Bedeutung, welche man in diesem Satze dem Worte „bekannt“ giebt, umfasst der Atavismus eine Reihe von Erscheinungen von verschiedenartiger Wichtigkeit. Man kann die Anforderung stellen, dass die Abstammung historisch bekannt sei, oder aber, dass sie sich mit ausreichender Sicherheit aus vergleichenden und systematischen Studien ableiten lasse. So lange es sich um morphologische Fragen handelt, mag diese Unterscheidung eine unwesentliche scheinen, sobald ı Einen derartigen Versuch werde ich in $S 20 für Zinaria vulgaris peloria 8 D beschreiben. Atavismus durch Samen und durch Knospen. 483 es aber das Ziel der Studien ist, die erhaltenen Resultate durch das Experiment direct zu beweisen, ist sie von durchschlagender Bedeutung. Denn um den Atavismus experimentell als solchen beweisen zu können, muss selbstverständlich die Abstammung Beobachtungsthatsache sein. Die Abstammung einer Reihe von Varietäten und elementaren Arten von den entsprechenden älteren und allgemein verbreiteten Formen ist aber in genügender Weise durch die historischen That- sachen über ihr erstes Auftreten gesichert. Es erscheint daher aus- führbar, physiologische Studien auf solche Fälle zu beschränken und somit eine Trennung durchzuführen zwischen dem physio- logischen und dem phylogenetischen Atavismus. Ersterer ist dann der Rückschlag auf die historisch bekannten, letzterer derjenige auf die systematischen Voreltern. Ehe ich dazu übergehe, das Wesen dieser beiden Abtheilungen näher zu besprechen, habe ich hervorzuheben, dass das Wort Atavis- mus hier in seinem engeren Sinne benutzt wird. Denn in seinem weiteren Sinne umfasst es eine so grosse Gruppe von Erscheinungen, dass es nicht möglich ist, diese in einem kurzen Umriss alle zusammen- zufassen. Es lohnt sich aber, die wichtigsten dieser Formen einzeln anzudeuten, weil sie oft mit einander verwechselt werden, und weil namentlich oft Erfahrungen und Beobachtungen, an der einen Form gemacht, auf eine andere übertragen werden, einfach weil man ge- wohnt ist, beide mit demselben Namen zu belegen. Scharf zu trennen sind zu allererst der Atavismus auf dem Ge- biete der Variabilität und jener auf dem der Mutabilität. Im ersteren Falle handelt es sich um die Erscheinungsweise einer einzelnen erb- lichen Eigenschaft; im letzteren um den Gegensatz zweier oder mehrerer. Beim Veredeln der Rassen gleichen die Kinder der aus- gesuchten Eltern diesen nicht, sie gehen im Mittel stets erheblich auf das grosselterliche Maass zurück. Es gilt hier die im ersten Ab- schnitt bereits ausführlich behandelte Regression (S. 60 und 84), und man sollte alle die minderwerthigen Individuen, welche man bei der Selection ausrodet, eigentlich Regressisten nennen, und diejenigen, welche das Merkmal der Eltern übertreffen, Progressisten. Es ist aber üblich, die ersteren als Atavisten zu bezeichnen, und thatsäch- lich zeigen sie, in der fraglichen Eigenschaft, den Grad der Ent- wickelung ihrer Grosseltern und Ahnen, und nicht denjenigen ihrer Eltern. Aber die Bedeutung solcher „Curven-Atavisten“ erstreckt sich nicht weiter, als die Grenzen der Öurve, zu der sie gehören.! ! Vergl. den Stammbaum des vielreihigen Mais auf S. 53 Fig. 18. Bl 484 Der Atavismus. Das am meisten anziehende Gebiet der Lehre vom Atavismus bilden die sogenannten Jugendformen und die verwandten Erschei- nungen. Die mustergültigen Forschungen GoEBErV’s! haben die weite Verbreitung und die grosse Bedeutung dieser Bildungen für die Ab- stammungslehre klargelegst. Jedermann weiss jetzt, dass zahlreiche Pflanzen, und sogar ganze Gruppen von Arten, in ihrer Jugend Merk- male aufweisen, welche ihnen im späteren Leben fehlen, oder welche dann doch nur unter ganz bestimmten Bedingungen auftreten. Beıss- neR’s Nachweis, dass ganze Gattungen cultivirter Coniferen, wie z. B. Retinospora, nur jugendliche Formen von anderen bekannten Typen, wie z. B. Thuya, sind,? Reinke’s Studien über die Jugend der Legumi- nosen® und die Arbeiten vieler anderer Forscher haben hier eine grosse Menge von Thatsachen angehäuft. Sium und Berula haben in ihrer Jugend die doppeltgefiederten, feingeschlitzten Blätter ihrer Verwandten, die Dornen von Berberis kehren an den sogenannten Wassertrieben zur Blattform zurück u. s. w. Diese Erscheinungen gehören aber im Wesentlichen der systematischen Botanik an, und der Variabilitätslehre nur insofern sie von äusseren Einflüssen in ihrem Auftreten abhängig sind. Auszuschliessen von unseren Betrachtungen sind ferner die Folgen von Kreuzungen, welche wir im zweiten Bande ausführ- licher zu behandeln haben werden. Zwar spielen diese in der Praxis sogenannten „Rückschläge“, welche entweder durch Kreuzung mit der Mutterform bedingt werden, oder an Bastarden auftreten, im Gartenbau und in der Literatur eine sehr hervorragende Rolle, von wissenschaftlichen Betrachtungen sind sie aber durchaus fern zu halten. Und solches sowohl dort, wo ihre Ursache klar zu Tage tritt, als auch überall da, wo die Beobachtungsumstände auch nur eine Vermuthung einer Kreuzung, sei es in der vorigen, sei es in einer noch früheren Generation, zulassen. Durch eine solche Beschränkung wird allerdings das anscheinend so reiche Gebiet des experimentellen Atavismus äusserst arm an Thatsachen; es ist aber offenbar besser, auf wenigen gut begründeten Beobachtungen weiter zu bauen, als auf dem bisherigen, höchst unsicheren Boden. ! K. GozBEr, Ueber Jugendformen von Pflanzen und deren künstliche Wieder- hervorrufung. Sitzungsber. d. k. bayr. Akad. d. Wiss. Bd. 26. 1896. Heft III.- Vergl. die fernere Literatur in GoEBEL’s Organographie der Pflanzen. 1. Theil. 1898. ? L. Beisswer, Handbuch der Nadelholzkunde. 1891. 3 J. Reınke, Untersuchungen über die Assimilationsorgane der Legumimnosen. I—III und IV—VII. Jahrbücher f. wissensch. Botan. Bd. XXX. Heft 1. u. 4. 8. 1. und 712° 189. Atavismus durch Samen und durch Knospen. 485 Nach diesen Beschränkungen kehre ich zu der Unterscheidung des physiologischen und des phylogenetischen Atavismus zurück. Beide haben ihr eigenes Gebiet. Aufgabe des ersteren ist es, die Gesetze dieser Form des Variirens kennen zu lernen. Aufgabe des letzteren ist es vorwiegend, sei es durch Beobachtung zufälliger Funde, sei es durch Cultur und Selection, Aufschlüsse über die systematischen Vorfahren der untersuchten Arten zu erhalten. Von wie grosser Wichtigkeit in letzterer Richtung die Anwen- dung des Selectionsverfahrens ist, lehren uns namentlich die um- fassenden Studien HEINRICHERrR’s in der Gattung Iris. Die cultivirten Pflanzen dieser Gruppe sind bekanntlich äusserst variabel,! und die jetzt so sehr beliebte grossblumige Iris Kaempferi bietet jedem die Gelegenheit, vier- und fünfzählige Blüthen sowie allerhand andere Abweichungen zu studiren. HEINRICHER aber hat durch eine me- thodische Zuchtwahl mit Iris pallida, ausgehend von vereinzelten Ano- malien, eine atavistische Rasse erzogen, welche er Iris pallida abavia nennt.” Trotz einer Auslese durch drei Generationen liessen sich die einzelnen Anomalien zwar nicht fixiren, aber es traten allmählich eine ganze Reihe neuer Typen an’s Licht, welche einen bestimmten Schluss auf die vermuthlichen Vorfahren ermöglichten. Als solche ist eine ausgestorbene Form mit einem sechsblätterigen Perigon von unter sich gleichen Blättchen und mit sechs Staubfäden anzunehmen. Ein solches Perigon, aber mit nur drei Staubfäden, besitzt gegen- wärtig die Iris faleifola. Indem ich den Leser für diese specielle Versuchsrichtung und die höchst wichtigen Resultate, welche sie bis jetzt geliefert hat, auf die Untersuchungen des genannten Forschers verweise, kehre ich jetzt zu meinem eigentlichen Gegenstande, dem physiologischen Atavismus zurück. Es handelt sich somit nicht um den Gewinn neuer Formen, sondern um die Gesetze, welche das Wiedererscheinen einer früheren Gestalt beherrschen. Und zwar ist die betreffende Eigenschaft eine solche, welche noch in derjenigen Art, von der die zu untersuchende abstammt, erhalten ist. Der Atavismus ist hier also ein Schwan- ken zwischen zwei empirisch bekannten Extremen. Der Abänderungsspielraum kann dabei offenbar kein sehr bedeutender sein, 1 Carrıbre, Production et fixation des varietes. 1865. S. 65. ®2 E. Hemeriıcner, Versuche über die Vererbung von Rückschlagserscheinungen. Jahrb. f. wiss. Bot. Bd. 24. Heft I. 1892, und Iris pallida abavia im Biolog. Gentralbl. Bd. XVI. Nr. 1. S. 13. 1896. 486 Der Atavismus. denn nur bei ganz enger Verwandtschaft ist die gemeinschaftliche Ab- stammung zweier Formen uns historisch bekannt. Auch in diesem beschränkten Gebiete kann der Atavismus so- wohl durch Variation als auch durch Mutation eintreten. Im ersteren Fig. 135. Cephalotawus pedunculata fastigiata. Der Stamm trägt die auf- rechten und allseitig beblätterten Aeste der Varietät, hat aber bei A, aus dem Grunde eines abgeschnitte- nen Astes einige Zweige mit flach ausgebreiteten zweizeiligen Blättern gebildet, wie sie für die Mutterart normal sind. sowohl bei der Fortpflanzung Falle ist er nur eine vorübergehende, von der Lebenslage abhängige Erschei- nung; im zweiten führt er zur Ent- stehung einer Rasse, welche äusserlich den betreffenden Vorfahren ähnlich ist. Variationsatavismus scheint auf dem Gebiete der semilatenten Eigenschaften eine sehr verbreitete Erscheinung zu sein. Als Beispiel nenne ich den oben beschriebenen fünfblätterigen Rothklee (dieser Abschnitt $5 S. 435), der stets eine gewisse Anzahl dreizähliger Blätter hervorbringt, und zwar um so mehr, je ungünstiger die Lebenslage ist. Offen- bar bilden die dreischeibigen Blätter einen Rückschlag auf das normale Kleeblatt, andererseits stellen sie aber einfach die extremen Varianten der Curve unserer fünfblätterigen Rasse dar (Fig. 125 S. 444). Und ähnlich verhält es sich in zahllosen Fällen von Semi- latenz, wenn die Variationsweite eines Merkmales durch den Antagonismus zweier Eigenschaften bedingt wird. Mutationsatavismus muss offenbar ebenso selten sein, wie die Mutationen überhaupt. Die Rückschläge gestreifter Blumen zu einfarbigen, der erbliche Atavismus von Plantago lanceolata ramosa und die Inconstanz der pelorischen Linaria sind Beispiele, welche wir unten behandeln werden. Der physiologische Atavismus kann durch Samen als bei der Vermehrung durch Knospen auftreten. Im ersteren Falle aber ist der völlige Nach- weis nur unter besonders günstigen Umständen möglich, im zweiten springt er sofort in die Augen (Fig. 135 bei A). Fast immer unter- durch Aussaat den Bedenken, welche wir oben entwickelt haben; sie sind so äusserst selten und treten in so vereinzelten Individuen auf, dass die Möglichkeit einer Kreuzung durch Hülfe der Insecten mit dem Staube weit entfernt wachsender Verwandten immer zugegeben werden muss. Nur wenn, wie bei Oenothera scintillans (S. 172 und 268), eine Art jährlich eine grössere Menge von atavistischen Individuen hervorbringt, ist die Erscheinung dem experimentellen Studium ohne Weiteres zugänglich. Ob der Atavismus durch Samen häufig oder selten vorkommt, lässt sich unter den besprochenen Umständen nicht entscheiden. Jedenfalls ist er sehr viel seltener, als man dieses in der gärtnerischen Praxis anzunehmen pflegt. In meinen Culturen habe ich mehrfach Fälle beobachtet, welche mit grösserer oder geringerer Sicherheit als Atavismus zu deuten wären. Aber nur die regelmässig inconstanten Rassen, wie die oben genannten von Plantago und Linaria und die demnächst zu beschreibenden Erscheinungen an gestreiften Blüthen scheinen mir hinreichend gesichert, um als Atavismus vorgeführt zu werden. Atavismus durch Knospenvariation ist dagegen eine sehr bekannte Erscheinung. Eins der besten Beispiele ist in Fig. 135 abgebildet. Sie stellt einen senkrecht aufsteigenden Ast eines Bäumchens von Cephalotaxzus pedunculata fastigiata (Podocarpus Koraiana Hort.) vor. Unter- halb der Mitte der Figur sieht man einen abgehauenen, nach vorne gerichteten Zweig, aus dessen Grunde seitlich bei A Seitenzweige mit flach ausgebreiteten Blättern entspringen. Die Varietät Fastigiata hat nur ‘aufsteigende Aeste, deren Blätter nach allen Seiten ausstehen; die Zweige bei A haben den Bau der Mutterart O0. pedunculata; ihre Blätter stehen nach links und rechts; ihre Verzweigung liegt in einer Ebene; das Ganze ist flach mit ausgesprochener Ober- und Unter- seite. Das Bäumchen wächst in unserem Garten und trägt mehrere Aeste mit solcher Knospenvariation; ich verdanke es der Freundlich- keit der Herren ZocHER & Co., Kunst- und Handelsgärtner in Haarlem. Die Varietät wird nur durch Stecklinge vermehrt, da sie nie blüht,! und diese bilden, sowohl in jener Gärtnerei als auch sonst, fast regelmässig solche Rückschläge. Zuerst scheint dieses im Jahre 1863 von CARRIERE in Paris beobachtet worden zu sein,? und später 1 Beissser, Handbuch, 1. c. S. 181. ?2 E. A. CARRIERE, 1. c. S. 44 mit Fig. 1 u. 2; vergl. ferner CARRIERE, Traite general des Coniferes. S. 717 und James VEITCH AND sons, A manual of the Coni- Ss ferae. 1881. S. 308. 485 Der Atavwismus. von vielen Anderen. Merkwürdig und näherer Forschung wohl würdig ist dieser Pflanze gegenüber die sonst völlig entsprechende Varietät Taxus baccata fastigiata, welche, soviel mir bekannt, nie Atavismus durch Knospenvariation zeigt. ! Die Erscheinungen der Knospenvariation sind von botanischer Seite bis jetzt viel zu wenig berücksichtigt worden. Nur in wenigen Fällen weiss man, dass ihr eine sectoriale Spaltung der Eigenschaften vorangegangen ist, wie bei gestreiften Blumen ($ 13) und bunten Blättern ($ 24); in den meisten Fällen liegen hierüber keine Be- obachtungen vor. Wie sich die Samen der Knospenvarianten bei Selbstbefruchtung verhalten, ist gleichfalls noch zu erforschen.” Dass neue Typen bisweilen in dieser Weise entstehen, scheint gewiss, doch sind viele der angeführten Belege nicht ausreichend gesichert. Unter diesen Umständen lohnt es sich, die Aufmerksamkeit auf die fragliche Erscheinung des Weiteren zu lenken, und dazu noch einige vereinzelte Beispiele anzuführen.” Sie sind vorwiegend holzigen Gewächsen ent- nommen, weil Kräuter und namentlich einjährige Pflanzen, mit Aus- nahme der genannten Beispieie und der Bastarde, nur sehr selten durch Knospen variiren. Grüne Zweige an rothblätterigen Sträuchern und Bäumen sind gar nicht selten, und werden namentlich bei Corylus Avellana, C. tubulosa, Betula alba, an den Varietäten Airopurpurea, sowie bei der Blutbuche gesehen. Auch die rothen Bananen mit rothen Früchten haben, trotzdem sie steril sind, eine grüne Varietät mit gelben Früchten hervorgebracht. * \ Braun erwähnt ein Exemplar von Kerria japonica plena, welches an einzelnen Zweigen ungefüllte Blüthen trug.” FockE beobachtete an einer Garten-Hortensia mit nur grossen sterilen Blüthen einen Zweig, dessen Inflorescenzen in der Mitte kleine fruchtbare Blüthen und nur am Rande die Schaublumen trug, wie die wilde Form.® Vielfache Rückschläge an einzelnen Aesten pflegen die geschlitzt- blätterigen Bäume zu bilden, wie z. B. Fagus sylvatica asplenürfola, ! Vergl. Carrıtre, 1. c. und BEIssnEr, Handbuch, 1. ec. S. 169. ? Bei älteren Angaben ist nur selten auf die Bestäubung Rücksicht genommen, vergl. die Literatur bei CARRIERE, 1. c. S. 59 und Darwm, Animals and plants. 1.525, 1.7442 u. s. w. ® Eine sehr ausführliche Liste giebt CArriere, ]l.c. S. 42—56, ferner Horr- MAnN, Bot. Zeitung 1881. 8. 395, Darwın, 1. c. I. S. 476—530, HoFrMEISTER, All- gemeine Morphologie. S. 560, u. A. 4 Fr. Mürrer, Flora. Bd. 84. 1897. S. 96—99. 5 Abh. d. k. Akad. Berlin. 1859. S. 219. ° Abh. d. Naturf. Vereins Bremen. Bd. 14. 1897. S. 276. Vırmorin’s Meinung über die Entstehung gestreifter Blumen. 489 Carpinus Betulus heterophylla, Sambucus nigra laciniata, Oytisus Laburnum querecifolia, Vitis u. a. (Braun a.a. O0... Ebenso Salix babylonica erispa, die Petersilientraube, die Nektarinen, ferner namentlich die Rosen und viele Zwiebelgewächse (Hyaecinthus, Gladiolus u. s. w.), doch ist die Frage nach etwaigen Kreuzungen in den letzteren Fällen noch eine offene. Ich schliesse hier diese Aufzählung. Sie zeigt, dass die Reihe von Fällen, welche dem experimentellen Studium zugänglich sind, keine allzu kleine ist. Andererseits reichen die Beispiele völlig aus, um das ziemlich allgemeine Vorkommen von Rückschlägen von Varie- täten auf ihre Mutterarten zu beweisen und somit darzuthun, dass die betreffenden Eigenschaften der letzteren bei der Bildung der ersteren nicht etwa verloren gegangen, sondern nur latent ge- worden sind. $ 13. Vilmorin’s Meinung über die Entstehung gestreifter Blumen. Eins der ältesten und am meisten bekannten Beispiele, sowohl von Knospenvariation, als auch von sectorialer Spaltung liefern uns gewisse sogenannte bunte Blumen unserer Gärten und namentlich die einjährig cultivirten Rittersporne Delphinium Ajacis und D. Consolida. Alle einschlägigen Erscheinungen kann man hier leicht verfolgen. Denn seit uralten Zeiten tragen diese Varietäten Blüthen, welche in den verschiedensten Weisen auf andersfarbigem Grunde gestreift sind, und bringen sie auch Blüthen hervor, welche zu einem Drittel, oder zur Hälfte, oder zu einem anderen Abschnitt die Farbe, welche sonst nur in Streifen auftritt, rein und ausschliesslich führen (Fig. 138). Solche Blüthen stehen oft zerstreut auf den Trauben, häufig aber so, dass eine Seite der Traube einfarbig, die andere aber gestreift ist. Blüthen, welche auf der Grenze der beiden Sectoren eingepflanzt sind, pflegen dann zum Theile dem einen, zum übrigen Theile dem anderen Sector in ihrer Farbe zu entsprechen. Entwirft man dann von einem solchen Ast ein Diagramm oder eine Projection, so erhält man ein Bild wie Fig. 137, auf welchem Aste die Blüthen Nr. 1, 4, 6, 9, 11 dunkelblau, Nr. 2, 5, 7, 10, 12 und 13 blassröthlich mit zerstreuten blauen Streifen, und Nr. 3 und 8 halbwegs blau und halbwegs röth- lich waren. Diesen Ast fand ich in meiner Öultur von 1599; ähnliche Fälle sind gar nicht selten. Auch Zweige mit ausschliesslich blauen Blüthen treten auf, aber aus solchen Blüthen bei künstlicher Selbst- befruchtung gewonnene Samen gaben mir bis jetzt wieder die gestreifte Varietät und nicht eine rein blaue Nachkommenschaft. Dagegen be- 490 Der Atavismus. findet sich unter den Samen der gestreiften und namentlich unter denen der sectorialen Zweige stets ein gewisser Procentsatz (z. B. 6°/, und mehr), welche sich zu solchen rein blauen Exemplaren entfalten. ! Die beschriebenen Erscheinungen der Spaltung sind bei gestreiften Blumen etwas ganz Gewöhnliches, und bei Dahlia variabilis striata Fig. 137. Delphinium Consolida striatum . plenum. Diagramm eines Zweiges, dessen linke Hälfte blaublüthig, dessen rechte Hälfte aber fein gestreifte Blumen auf blassröthlichem Grunde trug. 1899. Fig. 136. Delphinium Consolida striatum Fig. 133. Eine sectoriale Blüthe derselben plenum. Eine blühende Pflanze. Varietät. Die ganze rechte Hälfte war dunkelblau, die linke blassröthlich mit zer- streuten blauen Streifen. (Fig. 14 S. 40), Mörabilis Jalapa, Verbena und vielen anderen beliebten Gartenpflanzen kann jeder sie leicht beobachten. Die sectorial gefärbten Blüthen scheinen eine Vorliebe für einfache Verhältnisse ! Es wäre vom grössten Interesse, die Beziehungen der sectorialen Variabili- tät zu den Zelltheilungen am Vegetationspunkt zu erforschen; denn es sind hier ohne Zweifel wichtige Aufklärungen über viele Fragen zu erwarten. Vıruorrn’s Meinung über die Entstehung gestreifter Blumen. 491 zwischen ihren beiden Theilen zu haben. Sehr häufig ist genau die Hälfte des Blüthenumfanges atavistisch, oft ein Viertel oder drei Viertel, ®/, sah ich bei weiss- und rothgestreiften Tulpen, bei ab- wechselnd dunkeln und blassblauen Blumen von hrs ziphioides u. Ss. w. Dabei kommen die einzelnen Fälle oft auf derselben Pflanze, oder bei Zwiebelgewächsen an den durch Theilung vermehrten Sorten zu- sammen vor, z. B. bei den namhaft gemachten Beispielen von Tulpen und /ris auch zur Hälfte atavistische Blüthen u. s. w. Sectoriale Variabilität trat in meinen Culturen mehrfach auf, so z. B. an den Köpfchen von Helichrysum bracteatum und an den Blüthen von Papaver nudicaule (Fig.139), in beiden Fällen die dunklen Sec- toren oder Streifen der Farbe der Mutterart auf den Köpfchen oder Blüthen der blasseren Varietät zei- gend. Einen Zweig mit nur rothen Blumen bildete in meinem Garten eine gewöhnliche Balsamine (Impatiens Balsamina), deren Blumen sonst weiss mit feinen rothen Strichen waren. Celosia cristata variegata zeigt über den ganzen verbänderten Stengel breite, in der Längenrichtung laufende Strei- fen von verschiedener Farbe, z. B. gelb und roth, je nach der Sorte. Geor- ginen aber zeigen die reichste Ab- wechselung von allen buntblüthigen Arten, namentlich die unter dem Na- men Faney-flowers angedeuteten Sor- Fig. 139. Papaver nudicaule. Gelbe ten.! Hier verbindet sich die Farbe Varietät mit dunklen orangefarbigen mit der Füllung, welche gleichfalls oft, und meist gleichzeitig, sectorial und durch sogenannte Knospen- variation abgeändert wird.” Die gestreiften Dahlien bilden diese partiellen Varianten bisweilen selten, bisweilen aber so zahlreich, dass ganze Sorten zu verlaufen scheinen, und nur mit Mühe echt erhalten werden. Fast stets handelt es sich hier um zwei Typen, welche in verschiedener Weise verbunden oder getrennt auftreten. Fälle, in denen mehr als zwei Formen vorkommen, und durch Knospenvariation 1 Groomerınge’s Treatises on florist’s flowers, The Dahlia 1853, und die spätere, sehr ausgedehnte Literatur. ? VıLMorRIN-AnDrIEux, Les fleurs de pleine terre S. 340. 492 Der Atavismus. also auf derselben Pflanze neben dem Haupttypus zwei oder mehr andere gesehen werden, findet man zwar beschrieben, doch scheint es sich dann um Bastarde zu handeln. Centrale Spaltung scheint sehr selten zu sein. Ich sah von Mad. H. Vourchy, welche Sorte sonst rothgestreifte weisse Blumen trägt, ein Köpfchen, dessen äussere Strahlenblüthen dunkelroth waren, während die inneren eine Scheibe von rein weisser Farbe mit ganz vereinzelten feinen rothen Streifchen bildeten. Im Herzen lagen dann die fruchtbaren gelben unveränderten Scheibenblüthen. Und ähnlich in anderen, aber sehr seltenen Fällen. Oyclamen persicum soll nicht selten in den gestreiften Varietäten das eine Jahr nur solche und das andere Jahr auf derselben Knolle nur einfarbige atavistische Blüthen tragen. Centaurea Cyanus, die blaue Kornblume, hat eine braune Varietät mit gefüllten Körbchen, welche in der Farbe sehr stark varlırt, „noch bei Weitem nicht fixirt ist“, wie ein Erfurter Züchter mir sagte. Ich cultivirte sie während fünf Jahre, indem ich stets die am reinsten und am dunkelsten braungefärbten Exemplare in geringer Anzahl als Samenträger auswählte. Die Rasse gab alljährlich einzelne Rückschläge auf die blaue Form. Einzelne Pflanzen trugen nur blaue Blumen, in anderen trat die blaue Farbe an einzelnen Köpfchen segmentweise oder in Streifen auf. Irgend ein Fortschritt wurde dabei durch die Selection nicht erzielt. Die angeführten Beispiele mögen genügen, um die Bedeutung der gestreiften Blumen im Gartenbau nachzuweisen. Von vielen Arten wird eine Var. striata in den Handelscatalogen angeführt; ein Jeder kann sie also leicht cultiviren. Von vielen anderen Arten zeigt die Var. alba bei genauerem Zusehen hier und dort Streifehen von der Farbe der Mutterart; durch Isolirung und Selection lassen diese Streifen sich oft leicht vermehren, wie ich in einem der nächsten Paragraphen zeigen werde. Auch für die Theorie der Variabilität und Mutabilität haben die gestreiften Blüthen! eine hohe Bedeutung, und namentlich für die Lehre vom Atavismus, in der sie vielleicht das schönste und beste Beispiel bilden. Als solches sind sie namentlich von Lovıs VILMORIN behandelt worden, dessen Theorie wir somit jetzt zu besprechen haben.? VILMORIN geht von der Beobachtung aus, dass gestreifte Blumen ! Punktirte Blüthen verhalten sich vielleicht anders; ich habe solche bis jetzt noch nicht ceultivirt. ? Societe Philomatique de Paris, Seance du 17. janvier 1852, Proces-verbaux p- 9; Notices sur l’amelioration des plantes par le semis. 1886. p. 39, und B. VeErıIorT, Sur la production et la fixation des varietes. 1865. p. 62—66. BEP VILMORIN’S ung über die ug ENT Buch. 493 nur an solchen Arten an welche selbst gefärbt a eindhan aber eine weisse Abart besitzen. Oder wenn die Blüthenfarbe aus roth und gelb zusammengesetzt ist, so verhält sich die einförmig gelbe Varietät in diesen Fällen wie die weisse (Mirabilis, Antirrhinum). Zuerst entsteht die weisse (bezw. gelbe) Varietät, viel später soll aus dieser, durch Rückschlag zu der Mutterart, die gestreifte sich bilden. Die weissen Varietäten vieler Gartenpflanzen sind in der Cultur aufgetreten, nicht wenige sehr beliebte in der Gärtnerei des Herrn Vırmorın. Sie lassen sich in der Regel leicht im Laufe einiger Jahre „üxiren“, d. h. sie sind in der Regel von Anfang an völlig constant, müssen aber von den Folgen der unvermeidlichen Kreuzungen ge- säubert werden, was gewöhnlich einige wenige Jahre beansprucht. In dieser Periode entstehen die gestreiften Sorten nicht, die Kreuzungs- producte sind der Mutterart gleich, und spalten sich in diese und die rein weisse Varietät. Die Panachirung der Blüthen ist somit nicht das Resultat von Kreuzungen; auch haben directe Versuche in solchen Fällen nur einfarbige und keine bunten Blumen gegeben. Sogar bei sectorialer Variation solcher Bastarde trennen sich die beiden Farben rein, ohne Streifung. Erst wenn die weissen Varietäten völlig gereinigt sind und sie sich durch eine Reihe von Generationen als constant erwiesen haben, fängt die Panachirung an, und zwar, wie es scheint, ganz allgemein, fast mit Nothwendigkeit jede cultivirte weisse oder gelbe Varietät treffend. Von einigen lohnt es sich, sie in den Handel zu bringen, von anderen aber nicht. Unter den letzteren nennt VILMmorın (1852) bereits die Olarkia pulchella, von der aus käuflichen Samen der weissen Varietät auch bei mir die gestreifte Form aufging (vergl. $ 16). Ferner Browallia erectia und Commelina tuberosa. Von Geranium pratense, welche im Handel nur weiss oder blau zu haben ist, gewann ich Samen von zwei als Var. alba gekauften Pflanzen, und erhielt aus ihnen neben rein weissen Exemplaren solche mit Blüthen mit allen Graden der Streifung und sectorialen Variation bis zu ganz blauen (Fig. 140). Lohnt es sich, die gestreifte Varietät in den Handel zu bringen, so muss sie durch Selection gereinigt werden. Anfangs findet man nur auf grossen Beeten ganz einzelne Blüthen mit einem einzelnen sehr feinen Streifehen. Isolirt man diese Exemplare und sät man ihre Samen für sich, so sind weitaus die meisten Pflanzen rein weiss, aber es wird doch einzelne geben mit breiteren und etwas zahl- reicheren Streifen. Von diesen gewinnt man wieder die Samen und so weiter. Es handelt sich darum, die gestreifte Rasse von der weissen zu isoliren, und solches lässt sich in wenigen Jahren vollständig 494 Der Atavismus. erreichen. Andererseits aber liegt daran, auch die Neigung der ge- streiften zu bekämpfen, um, sei es durch Knospen oder durch Samen, PU N in die blaue oder rothe Form überzugehen. 2 Vınmorın schreibt deshalb vor, die Samen stets auf den weissesten Exemplaren der gestreiften Sorte zu wählen. Convolvulus tricolor war die erste Art, an der diese Entstehung der gestreiften Form beobachtet wurde (1840). Ihr folgten: Gomphrena globosa, Antirrhinum majus album und luteum, Nemophila insignis, Portulacca grandiflora und andere. In späteren Jahren sind auf verschiedenen Gärtne- reien noch eine grosse Anzahl weiterer pana- chirter Blüthenvarietäten gewonnen worden, und ‚ Fig. 120. zwar, so weit bekannt, stets nach derselben Regel, en d.h. aus der weissen oder gelben Varietät men. Die dunklen Par- in Rückschlag auf die rothe oder blaue ee Er nn van Farbe der Mutterart. In den folgenden Paragraphen wollen wir dementsprechend einige Fälle von gestreiften Blüthen als Beispiele des physiologischen Atavismus näher untersuchen. S$ 14. Antirrhinum majus striatum. (Mit Tafel VII.) Unter den sehr zahlreichen Varietäten des cultivirten Löwenmauls giebt es eine Gruppe, welche sich durch 'gestreifte Blumen auszeichnet. Ihre Beete bieten einen bunten Wechsel der Farben. Daneben geben die gärtnerischen Handbücher von ihnen an, dass sie, während die übrigen Sorten meist genügend samenbeständig sind, in dieser Hin- sicht zu wünschen übrig lassen.” Gerade diese Angabe ladet den Forscher zu einem eingehenden Studium ihrer Erblichkeitsverhält- nisse ein. Die gestreiften Varietäten verdanken diese Eigenschaft dem Um- stande, dass die normale rothe Blüthenfarbe des wilden Löwenmauls hier auf schmälere oder breitere Längsstreifen beschränkt ist. Wo das Roth fehlt, kommt dann die Farbe des Grundes rein zum Vor- schein. Diese aber kann weiss, rosa, gelb oder schwefelgelb sein, ! Vırmorin’s Blumengärtnerei, deutsche Ausgabe. 3. Aufl. Bd. I. 1896. S756: Antirrhinum majus striatum. 495 wie in den gleichnamigen, einfarbigen Varietäten.! Schliesslich ist zu erwähnen, dass von jedem dieser Typen wieder eine hohe, eine mittlere und eine Zwergform vorkommt. Für die unten zu besprechen- den Versuche habe ich das Antirrhinum majus luteum rubro-striatum von mittlerer Höhe benutzt. Die Mannigfaltigkeit der Zeichnungen dieser gestreiften Varietäten ist eine sehr grosse. Die Streifen können spärlich und sehr fein sein, die Blüthen daher auf den ersten Blick fast einfarbig gelb oder weiss; andererseits können die Streifen grob und breit und sehr zahlreich sein, derart, dass gelb, bezw. weiss, und roth zu gleichen Theilen ver- treten scheinen. Oft ist eine Blüthe zur Hälfte roth ohne Streifen und auf der anderen Längshälfte gestreift, u. s. w.? Kauft man Samen der gestreiften Sorten, so findet man die Aus- saat beträchtlich weniger rein, als es sonst in käuflichen Samenproben der Fall zu sein pflegt. Ich säte 1899 solche Samenproben von sechs verschiedenen Varietäten von Antirrkinum majus und fand für A. m. album rubro-striatum 26°), und A. m. luteum rubro-striatum 19°], ungestreifte Individuen. Sonst ist die Reinheit gewöhnlich eine viel bessere, so fand ich z. B. für A. m. luteum nur 2°/, Beimischungen. Diese überzähligen Beimischungen waren zum weitaus grössten Theile einfarbig roth und also der gestreiften Sorte nahe verwandt. Andere Abweichungen waren bei diesen nicht zahlreicher vorhanden als bei beliebigen sonstigen Varietäten. Die Ursache der Häufigkeit jener rothblumigen Individuen ergiebt sich bei der fortgesetzten Oultur; sie ist in der unvollkommenen Erblichkeit der gestreiften Sorte zu suchen. Denn wenn man die Samen gestreifter Individuen nach künstlicher Selbstbefruchtung erntet und aussät, so bekommt man daraus in der Regel wiederum einige einfarbig rothe Exemplare. Die gestreifte Sorte bringt somit von Zeit zu Zeit rothe Pflanzen hervor, und in meinen Culturen, welche sich über etwa acht Jahre erstrecken, that das A. m. luteum rubro-striatum solches fast jährlich, trotz der Selbstbefruchtung. Da die ursprüngliche wilde Form ein- farbig ist (d. h. nicht gestreift; denn die Farbe selbst ist eine aus weiss, roth und gelb zusammengesetzte), kann der Verlust der Streifung als Atavismus bezeichnet werden. Diesen Atavismus zeigen die Aussaaten noch in zwei anderen Formen (Tafel VII). Einerseits als Knospenvariation, indem ganze 1 A. m. album rubro-striatum, A. m. sulphureum rubro-venosum, A. m. pu- milum roseum rubro-strialum u. 8. W. ® Vırmorin, Fleurs de pleine terre p. 723. 496 Der Atavismus. Zweige eines gestreiftblüthigen Exemplares zum rothen Typus zurück- kehren. Andererseits als laterale oder sectoriale Variation, wie wir sie mit HEınsıus nennen,! wenn eine Seite einer Traube einfarbig wird, während die andere Seite gestreifte Blüthen trägt. Betrachten wir zunächst diese beiden Fälle etwas eingehender. Im Falle der Knospenvariation trägt eine gestreifte Pflanze einen Zweig, dessen sämmtliche Blumen roth sind, ohne Streifung. Wenn die Pflanze, wie gewöhnlich, auf 6—8 oder mehr Seitenzweigen blüht, fällt diese Abweichung sofort auf. Sehr selten trägt dieselbe Pflanze zwei rothblühende Aeste, noch seltener, vielleicht nie, kommt es vor, dass die gipfelständige Traube roth ist, während auf den Seitenzweigen gestreifte Blumen sich ausbilden. Meist ist es einer der untersten stärkeren Aeste, der atavistisch wird, selten einer der höheren, schwächeren. Bisweilen fand ich auch ein tertiäres Zweiglein roth- blumig; es war dann ein Seitenzweig eines gestreiften Astes. Im All- gemeinen haben, wie zu erwarten, die grobstreifigen Exemplare mehr Aussicht auf Knospenvariationen, als wie die feinstreifigen. Die sectoriale Variation ist äusserst wechselnd. Ich fand sie meist an der centralen Traube, aber doch auch an den Aesten. Be- trachtet man die Inflorescenz von oben, also in der Projection, so ist ein Sector roth, während die übrigen gestreift sind. Oft umfasst der rothe Sector nur einen schmalen Streifen, oft die Hälfte, oft drei Viertel des Ganzen. Fast stets erstreckt er sich von unten bis oben in der Traube; er kann aber auch auf einen Theil beschränkt sein, namentlich wenn er auch sonst nur schmal ist. Nicht selten ist eine einzige Blüthe in einer übrigens gestreiften Traube einfarbig roth. Auf den Grenzen der Sectoren sind mehrfach die Blüthen einerseits roth, andererseits gestreift. Wie bei der Knospenvariation sind es vorzugs- weise die grobstreifigen Individuen, welche sectoriale Farbspaltung zeigen. Die rothe Farbe erstreckt sich nicht nur auf die Krone, sondern auch auf die Staubgefässe. In den feinstreifigen Blüthen sind die Filamente meist gelb, in den breitstreifigen gestreift oder ganz roth. Die einzelnen Staubfäden derselben Blüthe sind in dieser Beziehung einander meist ungleich, doch hält es sehr schwer, in derselben Blüthe hinreichenden Gegensatz zu finden, z. B. einen fast gelben und einen fast rothen Staubfaden. Ich habe mir mehrfach viele Mühe gegeben, solche Blüthen aufzusuchen, namentlich unter solchen, deren eine ı H. W. Hemsıus, Over bonte bladeren, Genootschap v. Natuur-, Genees- en Heelkunde, Biologische Sectie, Sitzung 7. Mai 1898, S. 2. Antirrhinum majus striatum. 497 Längshälfte völlig oder nahezu völlig ohne Streifen war. Eine deut- liche Beziehung zwischen der Streifung auf den Staubgefässen und dem entsprechenden Theile der Krone fand ich nicht. Es ist hier der Ort hervorzuheben, dass rein gelbe Blumen nicht auftreten. Allerdings hat es oft den Anschein, dass sie gar nicht selten sind, dass sogar auf ganzen Trauben und Pflanzen die rothen Streifen fehlen. Aber das ist nur Schein; sieht man genau zu, so findet man hin und wieder feine rothe Streifchen. Ich fand nie eine Traube, auf der diese gänzlich fehlten, nie eine Pflanze oder einen Ast, der zu der reinen Sorte 4. m. luteum übergegangen wäre. Auf sehr streifenarmen Inflorescenzen mag es immerhin vorkommen, dass man an einer einzigen Blüthe keine Streifen finden kann; dann ist aber eine solche einfach ein extremer Fall der überall vorhandenen partiellen Variabilität. Es ist diese, auf achtjährige Erfahrung sich stützende negative Beobachtung deshalb wichtig, weil sie uns zeigt, dass es sich hier nicht um eine gleichwerthige Spaltung in die beiden Componenten A. majus rubrum und 4A. majus luteum handelt. Wünscht man von einer Spaltung zu reden, so sind die beiden Componenten die rothgestreifte und die einfarbig rothe Form. Dass die Breite der rothen Streifen individuellen Schwankungen unterliegt, sieht man auf den Beeten beim ersten Blick; ebenso dass, wie zu erwarten, die extrem feinen und die extrem groben Streifen verhältnissmässig am seltensten sind. Im Jahre 1897 habe ich ver- sucht, ob es gelingen würde, diese Variabilität in Curven auszudrücken. Auf den ersten Blick schien dieses unmöglich, da ein genaues Maass der Streifung nicht vorliegt. Denn die Summe der Breite aller Streifen in einer Blüthe zu ermitteln und in Theilen des Kronen- umfanges auszudrücken, zeigte sich bald als völlig unerreichbar. In der folgenden Weise gelangte ich zu meinem Ziel. Ich liess von einem Gehülfen von der Endtraube jeder Pflanze eines Beetes eine mittlere Blüthe abpflücken, und versuchte dann diese nach ihrer Farbe in einer Reihe anzuordnen, von den fast gelben zu den einfarbig rothen aufsteigend. Mit einer Gruppe von 100—200 Blüthen gelang solches über Erwartung, es ergaben sich dabei aber von selbst gewisse Gruppen, welche hinreichend gleiche Stufen der Skala bezeichneten, um sie als Ordinaten zu wählen. Ich gestehe, dass diese Methode nicht frei von persönlichen Fehlern ist, für den betreffenden Fall reichte sie aber aus. Namentlich ergab sie bei Wiederholung der Sortirung derselben Blüthengruppe hinreichend übereinstimmende Resultate. DE VRIES, Mutation. 1. > [80] 495 Der Atavismus. Ich habe in dieser Weise im Jahre 1897 drei Öurven ermittelt; jede umfasste sämmtliche blühende Pflanzen eines Beetes, und aus jeder Endtraube eine einzige Blüthe. Die drei Beete trugen die Nachkommenschaft von drei verschiedenen gestreiftblüthigen Pflanzen von 1894, deren Samen für jede getrennt geerntet und ausgesät, deren Blüthen aber inmitten einer grösseren Oultur von Insecten be- fruchtet worden waren. Auch waren die drei Samenträger nicht in Bezug auf den Grad ihrer Streifung ausgewählt. Die Curven geben somit die mittlere Zusammensetzung der Handelsrasse an. Ich erhielt in dieser Weise die folgende Tabelle: Streifen Farben-Effect A B C Fast fehlend | eitronengelb (9) 0 6 4 Sehr fein gelb 0 9 18 Schmal | dunkelgelb 2 12 30 1—2 mm breit | vothgelb 15 58 1-3 ,„ ” | schmal gestreift (s) 18 22 s4 N grobstreifig 28 22 31 1—6 „ » | breitstreifig: (b) 42 21 16 Breite Felder ‚ halb gelb, halb roth 26 12 10 Einfarbig roth | roth (R) 37 9 15 Anzahl der Individuen 158 128 261 Diese Zahlen sind in Fig. 141 in der Form von Curven dar- gestellt; für die Zahlen unter C ist die Einheit der Ordinaten halb so gross gewählt wie für A und B. Es ergiebt sich bei dieser Untersuchung zunächst, dass die acht ersten Gruppen continuirlich in einander übergehen; dass aber zwischen den gestreiften Blüthen und den rothen eine scharfe, weite Kluft vorhanden ist. Die rothen sind nicht durch Uebergänge mit den gestreiften verbunden, wie die citronen- gelben es mit den grobstreifigen sind; rothe Blumen mit ganz kleinen gelben Feldern sind, wenn vorhanden, höchst selten. Der Verlauf der Curven ist ein so regelmässiger, als kaum er- wartet werden konnte; aber die rothen fügen sich dem Curvengesetze nicht; sie sind verhältnissmässig viel zu zahlreich. Sie sind somit offenbar nicht einfach die extremen Varianten der Reihe, sondern bilden eine besondere, von den gestreiften ge- trennte Gruppe. Diese Gruppe ist um so grösser, je reicher an Streifen die andere ist. Nachdem in dieser Weise die Zusammensetzung der Handelsrasse Antir rhinum majus striatum. 499 ermittelt war, eh sich a Ara Nacken der einzelnen Componenten dieser buntfarbigen Mischung bei Selbst- befruchtung kennen zu lernen. Die Lösung dieser Aufgabe habe ich zunächst auf die drei Haupttypen beschränkt: die feinstreifigen, die srobstreifigen und die einfarbig rothen. Fangen wir mit den beiden ersteren Gruppen an. Die Nachkommenschaft der Mutter A (Fig. 141 und Tabelle S. 498) war reich an grobstreifigen (Fig. 141); aus ihr verpflanzte ich zur Zeit der Blüthe eine Reihe sehr grobstreifiger Pflanzen auf ein be- sonderes Beet, beraubte sie aller Blüthen und Früchte und bestäubte die später sich öffnenden Knospen in Sersammbeuteln mit ihrem eigenen Pollen. Ebenso behandelte ich aus dem Beete B (Fig. 141 B) einige fast rein gelbblüthige Exemplare. Von jeder Pflanze erntete und säte ich die Samen getrennt. Im August 1898, als die Beete in voller Blüthe waren, bestimmte ich den Grad ihrer Streifung in BR LE derselben Weise, wie im 9 S d R ä ya 1 Fig. 141. Antirrkinum majus luteum rubro-striatum. ne 5 Jahre, indem ich an C Curven über den Grad der Streifung unter möglichst genau dieselben den Nachkommen dreier frei befruchteter Individuen. Grenzen zwischen den ein- 1897. 9 eitronengelb, fast ohne rothe Streifen; z : s schmal gestreift; 5 breit gestreift; % einfarbig roth. zelnen Gruppen beibehielt. Vergl. die Tabelle auf 8. 498. Von vier breitstreifigen Müttern konnte ich die Nachkommen untersuchen, wenn auch in ziemlich geringer Anzahl. Sie ergaben Folgendes: (Die einzelnen Samenträger von 1897 sind als A,—A, bezeichnet.) Nachkommenschaft der breitstreifigen Mütter. Streifen: A, As As A, Summa Weniger als 4 mm breit 0 0 0 0 1—5 mm breit 3 2 6 Re) 19 nen 5 4 6 9 24 Breite Felder 7 8 5 6 26 Einfarbig roth 0 2 5 9 Summa 17 14 DS 78 Diese Zahlen sind in Fig. 142 B versinnbildlicht. 500 Der Atavismus. DB er Unang es Versuehe ein a. kleiner war, und mir namentlich der Gehalt an einfarbigen Pflanzen sehr klein schien, habe ich ihn im nächsten Jahre wiederholt. Ich wählte in dem breitstreifigen Beete dieser Cultur eine sehr schöne typisiche Pflanze, mit breiten Streifen, aber ohne breite Felder.auf der Krone, und befruchtete sie mit sich selbst in Pergamin. Aus ihren Samen hatte ich 1899 ein Beet von etwa 4 Quadratmetern mit über 250 blühenden Pflanzen, welche fast alle auf dem Hauptstengel und mehreren Seitenzweigen Trauben bildeten. Feinstreifige gab es unter ihnen nur sehr wenige, die meisten waren sehr grob gestreift. Der Gehalt an einfarbig rothen war aber ein sehr bedeutender: Gestreifte Individuen 160 64%), Rothe > 91 36.4, Summa 251 Es war somit etwa ein Drittel der Pflanzen zur gleichmässigen Farbe zurückgekehrt. Die Nachkommen der fast en Mütter von 1897 (B in Fig. 141 und in der Tabelle $. 498) ergaben bei der Ermittelung ihrer Farben- töne im Jahre 1898 das Folgende (B,—B, bedeuten die einzelnen Samen- träger und die aus ihnen hervorgegangenen Gruppen von Nachkommen): Nachkommenschaft der geiben Mütter: Streifen: B, B; 15% B, Summa Fast fehlend 6 5 12 1 24 Sehr fein 3 7 18 2 30 Schmal 3 6 12 2 23 1—2 mm breit 9 Q 18 3 37 ee 7 A 2 35 De ) ) 3 1 4 ee Re 0 0 ) ) ) Breite Felder 0 0 0 0 0 Einfarbig roth 0 0 0) 0 0 Summa 28 29 85 al 153 Vergl. Fig. 142 4. Aus diesen Tabellen und der daraus construirten Fig. 142 ersieht man sofort, dass durch die Selbstbefruchtung der extremen Varianten zwei Selectionsrassen hervorgetreten sind. Die eine, A, hat fast nur feinstreifige Individuen und auch keine rothen, die andere, 5, hat fast nur breitstreifige und dazu etwa 11—36 °/, einfarbig rothe. Die Tren- nung ist keine so scharfe als zwischen den gestreiften einerseits und den einfarbigen andererseits, da die beiden Curven über einander greifen. _ 501 Antirrhinum majus striatum. Wir kommen jetzt zu dem wichtigsten Theile dieser Versuchs- reihe, der Frage nach der Erblichkeit der rothen Individuen. Gerade wegen ihrer hohen Bedeutung hatte ich diese bereits früher in An- griff genommen. Es handelt sich dabei nicht nur um die Erblichkeit der rothen Blumen im Allgemeinen, sondern diese sind je nach ihrer Herkunft einzeln zu studiren. Zuerst die rothen Samenvarianten, dann die Knospenvarianten, ferner die einzelnen rothen Blumen an gestreift- blüthigen Trauben. Endlich könnte man auch die rothen Staubfäden aus gestreiften Blüthen untersuchen, doch habe ich dazu bis jetzt das geeignete Material nicht in Händen gehabt. Aus käuflichen Samen des A. majus luteum rubro- striatum hatte ich 1892 “ ein grösseres Beet von Pflanzen, deren Blüthen sämmtlich gestreift waren. Ich wählte die Samen eines einzelnen Individuums zur nächstjährigen Aussaat (m (7 x ö (1893). Diese gab mir etwa 40 blühende Pflan- zen; die meisten trugen feingestreifte Blüthen, ein- zelne Exemplare hatten Fig. 142. Antirrhinum majus luteum rubro-striatum. Farbencurven überdie Nachkommen selbstbefruchteter Individuen aus der in Fig. 141 dargestellten Cultur. Selectionsversuch der breit- und schmalgestreiften Exemplare. Curven über die Nachkommen: 4 der feinstreifigen Mütter B,—B,; B der breitstreifigen Mütter 4,—4,. Vergl. die Tabellen auf S. 499 u. 500. har grobgestreifte a Die Bedeutung von 9, N wie bei der vorigen hier und dort eine Blume, ; welche zur Hälfte gleichmässig roth war. Vier Pflanzen waren ohne Streifen, mit einfarbig rothen Blumen. Von ihnen wählte ich die stärksten, umhüllte ihre Traube mit Pergamin und befruchtete die Blüthen mit ihrem eigenen Pollen. In derselben Weise behandelte ich zwei gestreifte Exemplare, mit feinen und nicht zahlreichen rothen Streifen auf den Kronen. Schon während der Keimung im nächsten Frühling zeigte sich der Unterschied: die Keimlinge aus Samen der gestreifen Pflanzen hatten grünes Laub, die der rothen aber rothbraunes. Namentlich auf der Unterseite der späteren Blätter der jungen Pflanzen war dieser Unterschied auffallend. Es gelangten zur Blüthe auf ersterem Beete 152, auf letzterem 71 Exemplare. In beiden Gruppen gab es theils Pflanzen mit gestreiften, theils solche mit rothen Blüthen, aber, 502 Der Atavwismus. wie zu erwarten, in sehr verschiedenen Verhältnissen. Diese waren für die Nachkommen der Gestreift Roth feinstreifigen Mütter 98% 26 rothblühenden Mutter 24°, 630% Die gestreiften waren zumeist feinstreifig; die grobstreifigen waren nur zu 7°/, bezw. 6°/, vertreten. Beide Rassen sind also erblich, aber in unvollkommener Weise. Man kann das Hervorbringen von Individuen der anderen Rasse in beiden Fällen als Atavismus bezeichnen. Die gestreiften Kinder der rothen Mütter gleichen ihren Grosseltern. Die rothen Kinder der gestreiften Mütter aber der ursprünglichen wilden Sorte, also sehr entfernten Vorfahren. Und die Differenz in dem Grade der Erblich- keit liesse sich dann derart bezeichnen, dass man sagte, dass der Einfluss der näheren Vorfahren ein stärkerer sei, als derjenige der entfernteren. Doch ist das nur eine Umschreibung der Thatsache, welche sich der üblichen Terminologie anschliesst. Es soll damit keineswegs ein Grund der Erklärung angedeutet werden. Unter den feinstreifigen Exemplaren der besprochenen Cultur gab es dreizehn, welche neben der gestreiften Endtraube und neben mehreren gestreiften Seitenästen einen oder zwei Zweige mit lauter rothen Blumen trugen. Ich hatte hier also eine schöne Gelegenheit, die Erblichkeit der Knospenvarianten zu studiren; ich verdankte sie der frühen Aussaat und dem weiten Stande auf gut gedüngtem Boden, welche fast sämmtliche Pflanzen zu sehr reicher Verzweigung gebracht hatte. Ich versetzte die betreffenden Individuen an eine besondere Stelle, beraubte sie aller blühenden Blüthen und jungen Früchte, sowie der überzähligen Zweige und wickelte von jeder 1—2 gestreifte und I —2 rothe Trauben in Pergamin zur Selbstbefruchtung. Eine ausreichende Ernte von den gestreiften und den rothen Trauben derselben Pflanze hatte ich nur auf drei Exemplaren. Diese ergaben im Sommer 1895: Pflanze Roth G 8 In Procenten Nr. ol estreitt =Summa Re eereitt 1 713 27 100 73 27 Von den rothen 5 01 12 38 63 37 ruhen [rs 25 5 30 Tr 23 N 3 93 96 4 96 Von den gestreiften a 0 75 75 0 100 ‚timnizem | 3 1 36 37 3 97 Oder im Mittel erreichte die Erblichkeit für die gestreiften Trauben 98°), für die rothen Zweige 71 °/.. Antirrhinum majus striatum. 505 Vergleichen wir diese Zahlen mit denen der vorigen Generation, so finden wir keinen merklichen Unterschied. Oder mit anderen Worten: Der Grad der Erblichkeit ist für die rothen Knospen- varianten im Wesentlichen derselbe wie für die rothen Samenvarianten. Im nächsten Jahre habe ich diesen Versuch noch durch eine weitere Generation fortgesetzt, indem ich unter den Kindern der Knospenvarianten theils rothe, theils feinstreifige mit dem eigenen Pollen befruchtete. Die Samen von drei gestreiften Müttern lieferten 67 blühende Kinder, von denen nur 5°/, roth waren; die Samen der fünf rothen Samenträger aber 127 Individuen mit 84°/, rothen Pflanzen. (Die Procentzahlen der einzelnen Familien waren 71 — 78 — 84 — 88 — 100.) Also wiederum ähnliche Verhältnisse wie im vorigen Jahre. Ich fasse jetzt, zur besseren Uebersicht, diesen ganzen Versuch in der Form eines Stammbaumes zusammen: Antirrhinum majus luteum rubro-striatum. Samen- und Knospenvariation (bei einjähriger Oultur). Jahr 1896. 95 °/, Gestreift 84 °/, Roth. | (1895.) Gestreifte Ex. Rothe Ex. NS ——— ————— mn — | 1895. 98 °/, Gestreift 71°/, Roth. | (1894.) Gestreifte Zweige Rothe Zweige. | 1894. 98 %/, Gestreift 76 °/, Roth. 1893. 90°), Gestreifte Ex. 10°/, Rothe Ex. | 1892. Gestreifte Pflanze. Das Resultat unseres Versuches können wir auch noch in einer anderen Form darstellen. Es betrug die Erblichkeit für die fein- streifigen Trauben in den auf einander folgenden Generationen bei Selbstbefruchtung stets etwa 95—98°/,. Für die rothblühenden Neben- zweige aus dieser Cultur aber betrug die Erblichkeit: IPBürSamenyariantena. a 0 u. 202.6, 2. Für Knospenvarianten . . . ls], 3. Für die Kinder der Ken nariactin ST Im Mittel 77°, 504 Der Atavismus. Schliesslich habe ich versucht, die Erblichkeit im Falle der sec- torialen Variation, d. h. also der gestreiften, aber einseitig rothen Trauben zu ermitteln. Es leuchtet ein, dass diese Erscheinung durch zwei verschiedene Ursachen bedingt sein kann. Erstens können die rothen Blüthen wirkliche Knospenvariationen sein; sie werden dann voraussichtlich einen den oben behandelten Knospenvarianten ent- sprechenden Grad von Erblichkeit besitzen. Aber es kann auch vor- kommen, dass an einer sehr grobstreifigen Traube einzelne Blüthen eine derart extreme Streifung haben, dass sie einfarbig roth scheinen. Ihre Erblichkeit wird dann voraussichtlich nicht wesentlich von der- jenigen der übrigen Blüthen derselben Traube abweichen. Das letztere war der Fall in dem einzigen Versuche, den ich bis jetzt die Gelegenheit hatte auszuführen. Ich benutzte dazu im Sommer 1898 eine breitstreifige Pflanze aus der S. 500 besprochenen Aussaat, deren Endtraube einerseits nur rothe, andererseits aber ge- streifte Blüthen trug. Von den ersteren 8, von den letzteren 7; zu- sammen 15. Die ganze Traube umhüllte ich vor der Blüthe mit Pergamin, bestäubte jede Blume mit ihrem eigenen Staube und sammelte die Samen getrennt. Von jeder Farbe reiften fünf Früchte, wenn auch theils mit nur wenigen Samen. Diese säte ich 1899 auf zehn Beeten getrennt aus; sie blühten im Juli. Auf jedem Beete sah man auf den ersten Blick, dass nahezu die Hälfte der Pflanzen nur rothe, die andere etwas grössere Hälfte aber gestreifte Blumen trug. Ich zählte sie für die zehn Gruppen getrennt aus; glaube aber die einzel- nen Zahlen nicht mittheilen zu brauchen. Es blühten: Aus Samen der Pflanzen Rothe Ex. Im Mittel 1. rothen Blumen 67 33 . ; 7 {) 42%), 2. gestreiften Blumen 137 46%, Fassen wir jetzt die Ergebnisse dieser Versuche zusammen, so finden wir Folgendes: 1. Antirrhinum majus luteum rubro-striatum (Tafel VII) bildet eine inconstante Rasse, welche theils gestreifte, theils rothblüthige Exemplare hervorbringt. 2. Die Streifung in der Handelsrasse variirt continuirlich, aber nicht bis zum Roth; die Rothen sind durch eine Kluft von den Ge- streiften getrennt (Fig. 141). 3. Die feinstreifigen Pflanzen sind zu etwa 95—98°/, erblich. Antirrhinum majus striatum. 505 Sie gehen theils durch Samen, theils durch Knospen in die rotlıe Rasse über. Solches geschieht stossweise. 4. Die breitstreifigen bringen in derselben Weise vielmehr rothe Exemplare hervor; im Mittel aus drei Versuchen (11 — 36 — 42) etwa 30°/,. 5. Die rothen Pflanzen sind äusserlich der wilden Stammform ähnlich, aber nicht constant wie diese. Sie sind nur zu etwa 70—85°/, erblich, und kehren in den übrigen Exemplaren sprungweise zu der gestreiften Rasse zurück. Durch Knospenvariation sah ich dies bis jetzt noch nicht geschehen. 6. Das Antirrhinum majus luteum entsteht aus diesen gestreiften und rothen Rassen nicht. 7. Vergleichen wir die besprochenen Formen! mit den in $ 3 dieses Abschnittes S. 422 unterschiedenen Halbrassen und Mittelrassen, so ergiebt sich, dass zwischen den beiden völlig constanten elemen- taren Arten (der systematischen Art. A. majus und der systematischen Varietät A. majus luteum) zwei Zwischenformen bestehen, welche von jenen beiden scharf getrennt sind, unter sich aber nicht. Wir unter- scheiden: a) Die Mittelrasse: A. majus luteum striatum, mit gestreiften Blumen und starker fluktuirender Variabilität, aus der durch Selection eine armstreifige und eine breitstreifige Zuchtrasse erhalten werden können. Diese gehen aber continuirlich in einander über. b) Die Halbrasse, hier einfarbig roth, aber mit unvollkommener Erblichkeit, und bei reiner Befruchtung in jeder Generation aus den rothen Individuen etwa 25 °/, gestreifte Exemplare liefernd. Der Uebergang der Halbrasse in die Mittelrasse sowie der um- gekehrte finden hier jährlich statt, aber stets mit einem kleinen Sprunge. Aus der Mittelrasse entsteht die rothe Halbrasse durch Samen und durch Knospen, aus der Halbrasse die gestreifte Mittel- rasse bis jetzt nur durch Samen. Der Uebergang der rothen in die gestreifte schwankt um etwa 25°/,, der Uebergang der gestreiften in die rothen ist aber in hohem Maasse von dem Grade der Streifung abhängig, und dieses deutet auf bis jetzt noch unbekannte Beziehungen hin. ! Die Eblichkeitsverhältnisse der grobstreifigen Exemplare sind noch näher zu untersuchen. Ebenso bei der sectorialen Variation. Auch sind die Versuche mit anderen gestreiften Varietäten zu wiederholen, und die getuschten Formen zu prüfen, ob sie sich ähnlich verhalten. Namentlich aber wäre eine Reinzucht der einzelnen Typen durch eine längere Reihe von Generationen vorzunehmen. NB. Man wähle dazu die hohen Varietäten; sie geben weit bessere Samenernten als die mittlere, mit der ich meine Versuche gemacht habe. 506 Der Atavismus. Vorausgreifend ist hier zu erwähnen, dass die gestreiftblumigen Varietäten von» Hesperis und Clarkia ($ 15 und $ 16) sich in der- selben Weise verhalten, während auch bei Plantago ($ 17) und Linaria vulgaris pelorıa (8 20) die Mittelrasse inconstant ist und mehr oder weniger leicht in die Halbrasse zurückschläst. $ 15. Hesperis matronalis. Die Blüthen der gemeinen Nachtviole sind violett. Von ihr kommen im Handel eine weissblühende, eine gefüllte und eine zwergige Varietät vor, welche, so viel bekannt, samenbeständig sind. Ausserdem werden in den Handelscatalogen eine Forma lilacina und eine „ge- mischte“ Sorte angeboten. Die Pflanzen sind perennirend; wenn man sie im Frühling aussät, blühen sie meist erst im zweiten Jahre; wenn man die Samen frei herabfallen lässt, oder sie doch sofort nach der Ernte in die Erde lest, blühen sie zu einem sehr grossen Theile im nächsten Jahre. Ich habe diese beiden Methoden abwechselnd benutzt. Meine Samen erhielt ich von einer gemischten (Gruppe von theils weisslich, theils violett blühen- den Pflanzen aus dem hiesigen botanischen Gar- ten im Jahre 1890. Ich cultivirte sie durch ‚Fig. 143. zwei Generationen und fand, dass die „weissen“ Hesperis matronalis. Ene 2 : i Blüthe der blassfarbigen, nicht rein weiss, sondern blass lila waren. Ich feingestreiften Form mit ijherwinterte dann nur solche, und untersuchte einem ben Amkel sie zuerst 1894 bei voller Blüthe. Sie blühten völlig isolirt, befruchteten sich theils selbst, theils mit Hülfe der Insecten. Auch in späteren Jahren habe ich die Pflanzen nicht in Pergaminbeutel gebunden, sondern sie ent- weder isolirt und der Insectenbestäubung übergeben, oder in einem kleinen, völlig aus feiner Metallgaze gebildeten Gewächshause blühen lassen. Es handelte sich darum, den Grad der Erblichkeit der weiss- lichen, der lilablüthigen und der violetten getrennt zu untersuchen. Ich gebe zunächst eine Uebersicht über meinen Versuch. In diesem bedeutet W weisslich, L Lila und V Violett (das heisst also die Farbe der wildwachsenden Art). Die Zahlen sind Procente der ganzen Cultur; wo die Cultur zu klein war, habe ich die Zahlen weg- gelassen. : Hesperis matronalis. 507 Hesperis matronalis. | (Weisslich, lila und violett in Procenten.) 1900, 1899 33 W. 301. 32V. 50 W. 28.1. 22V. ein- und zweijährig Di nr Yen IE Be 1898 92WE GB 22V. ee . mn m In einjährig | | 1897 W. V. einjährig | | 1895 29 W. 5TL. 14 V. ein- und zweijährig | 2 = 1894 | Jbr Bevor ich zu der Beschreibung dieser Versuche übergehe, ist es erforderlich, die Variabilität in der Blüthenfarbe eingehender dar- zulegen. Reine weissblühende Exemplare wie diejenigen der Varietät Alba gab es in meinen Culturen nicht. Ich habe sowohl die Alba selbst, als auch die Alba plena mit meinen Pflanzen verglichen. Allerdings ist der Unterschied oft ein sehr geringer, namentlich da auch die Petalen der Alba beim Verblühen blass-lla-farbig werden. Zwischen den weissesten Exemplaren und den schön lila gefärbten giebt es alle Uebergänge; hier ist die Variabilität völlig continuirlich. Zwischen diesen und den violetten giebt es aber stets eine Lücke; die dunkelsten lilafarbigen sind anscheinend nur halb so dunkel gefärbt wie die violetten; Zwischenstufen findet man nicht. Weitaus die meisten Exemplare haben gleichmässig gefärbte Kronen, doch kommen auch bunte vor. Und zwar, wie sonst, ge- streifte, sectoriale und Knospenvariationen. Beispiele jeder dieser drei Gruppen traten in meiner Cultur in verschiedenen Jahren auf, jedoch stets nur selten. Auf den gestreiften Petalen trugen die Streifen die violette Farbe der ursprünglichen Art; sie waren fein und meist spärlich. Von sectorialer Variation hatte ich bis jetzt theils einzelne dunkle Blüthen auf blassen Trauben, theils Blumen, an denen von einem Blumenblatte die eine Längshälfte weiss, die andere violett war (Fig. 143). Die Knospenvariationen traten an sehr blassblüthigen Individuen auf, wenn solche reich verzweigt waren und bis ın den Herbst blühten. Es waren stets einzelne Zweige am untersten Theile der Hauptstengel; ihre Blüthen waren sämmtlich normal violett. Samen habe ich von ihnen leider noch nicht ge- winnen können. 508 Der Atavismus. Auf grösseren Beeten orientirt man sich leicht über den Farben- wechsel. Man sieht auf den ersten Blick, dass die blassfarbigen die Mehrzahl bilden; die weisslichen einerseits, die lilafarbigen anderer- seits sind auffallend seltener. Die violetten heben sich scharf ab, weil die Uebergänge fehlen. Sonst ist der Wechsel ein so continuir- licher, dass es fast unmöglich ist, die Variabilität in Zahlen darzu- stellen. Ich habe es versucht, Gruppen zu bilden und die Glieder der einzelnen Gruppen zu zählen. Ich theile die gefundenen Zahlen nur zu dem Zwecke mit, den Eindruck, den die Beete auf den Be- sucher machen, wiederzugeben, denn es ist unvermeidlich, dass die Grenzen mehr oder weniger willkürliche sind. Doch glaube ich in den auf einander folgenden Jahren der Hauptsache nach dieselben Grenzen beibehalten zu haben. Behufs dieser Farbenschätzungen habe ich von jedem Beet von jeder Pflanze eine blühende Traube, womöglich die Endtraube, mit nach Hause gebracht, und diese dann sortirt. Es bildeten sich mehr oder weniger deutliche Gruppen. Ich konnte die folgenden unter- scheiden: W. Weisslich, stets ohne Streifen. W,. Fast weiss; Knospen und welkende Petalen fast weiss. W,. Weiss mit Lila-Anflug, beim Verwelken nicht dunkler. W,. Sehr blass lila, Knospen lila, beim Verwelken nur wenig dunkler. L. Lila, bisweilen gestreift oder fleckig. L,. Deutlich lila, wenn auch blass; dunkler als wie W.,,. L,. Lila, halb so dunkel als P. V. Violett, die Farbe der typischen Art. Ich gebe jetzt zunächst die Zusammenstellung der Cultur von 1598, welche aus den Samen weisslich blühender Pflanzen erhalten worden war. Ich sortirte am 14. Juli 250 Individuen in der an- gegebenen Weise und fand: Hesperis aus Samen der weisslichen. w, 5.05 Wa Bu, op ya WER) L, 4 ” 1) Do | oh v Du 29%, V. 509 Hesperis matronalis. In derselben Weise habe ich die Zusammenstellung ermittelt für die Culturen von 1899, welche beide aus Samen von lilafarbigen Pflanzen stammten. Die eine (5. Generation) blühte zum Theil 1899, zum Theil 1900, die andere nur 1899. Es ergab sich das Folgende: Hesperis aus Samen der lilafarbigen. Farbe 1. Versuch (5. Gen.) 2. Versuch (3. Gen.) a 4%) Wa as WZ 22 „. 50%, W. ıW, 20 „ ) 24 ” ] on I) Ba 30 EZ a NOV ER Ib, N) Io Be] > 1% 32 „= 32%,V 22, 220 W. Der erstere Versuch umfasste 155, der zweite 219 blühende Pflanzen. Die Samen der weisslichen Nachtviolen dieser Cultur bringen also vorwiegend nur ihresgleichen hervor, mit wenigen Procenten von lilaer und violetter Farbe. Die Samen der lilafarbigen aber bringen drei Typen zu nahezu gleichen Theilen hervor, doch ist die Grenze zwischen W, und L, eine ziemlich willkürliche. Ueber die Erblichkeit der violetten habe ich noch keine hin- reichende Erfahrung. Der einzige ausgeführte Versuch lieferte nur fünf blühende Pflanzen, diese hatten aber alle denselben Farbenton wie die Eltern. Uebergehend zu der Einzelbeschreibung des Versuches erinnere ich daran, dass dieser 1894 mit sieben Pflanzen anfıng, welche bereits 1893 geblüht und sich als lilafarbig erwiesen hatten. Viele ihrer Blüthen waren mehr oder weniger gestreift, einige bildeten im August die bereits erwähnten violettblüthigen Zweige als Knospenvarianten aus, zu einer Zeit, wo die übrige Blüthe bereits längst beendigt war. Samen wurden nur von den lilablüthigen Zweigen geerntet; ein Theil wurde bereits im August gesät, die übrigen aber jedesmal, sobald sie ‚reif waren. Die meisten keimten im Februar und März des nächsten Jahres (1895), etwas mehr als die Hälfte trieben Stengel und blühten bereits im August. Ich hatte im Ganzen 234 blühende Pflanzen, von denen 29°/, weisslich, 57 °/, lila und 14°/, normal violett blühten. Aus den drei Gruppen wählte ich die am meisten typischen unter den kräftigsten Pflanzen aus und versetzte sie im Herbst an möglichst entfernte Stellen meines Gartens, wo sie sich reichlich verzweigten und im nächsten Jahre (1595) wiederum blühten. Die violetten waren drei Exemplare, welche nur wenig Samen brachten; sie sind sofort gesät worden und blühten im Sommer 1897 510 Der Atavismus. in einem Gewächshaus; ich sorgte dafür, dass sie von Insecten nicht besucht werden konnten, um etwaige Uebertragung ihres Blüthen- staubes auf die anderen Pflanzen unmöglich zu machen. Sobald ihre Blumenfarbe völlig sicher ermittelt war, wurden sie ausgerodet. Es waren, wie bereits erwähnt, nur fünf Pflanzen; sie blühten violett. Die lilafarbigen liess ich in diesem Jahre nicht zur Blüthe ge- langen, sondern bewahrte sie für das nächste Jahr. Von den weiss- lichen, welche im Herbst 1895 gesondert verpflanzt waren, blühte 1896 nur ein Exemplar; seine Samen wurden sofort gesät und lieferten 12 Pflanzen, welche bereits im Sommer 1897 ihre Blumen entfalteten; sie waren alle weisslich mit meist nur schwacher Andeutung der lila Farbe. Die Samen wurden im Herbst in Schüsseln ausgesät, im November wurden die Keimpflanzen pikirt und im April 1898 auf ein grösseres Beet ausgepflanzt. Im Juni blühten 250 Individuen, und wurde die oben mitgetheilte procentische Zusammensetzung der Farbenmischung ermittelt. Darauf wurden die vier lilafarbigen, der Gruppe L, angehörigen Individuen ausgehoben und möglichst vor- sichtig in das Gewächshaus von Metallgaze verpflanzt. Selbstverständ- lich wurden sie dabei aller geöffneten Blüthen und jungen Früchte beraubt. Dabei ist zu bemerken, dass bei dieser Cultur die lila- blüthigen Exemplare alle auffallend später zu blühen angefangen hatten, als die weisslichen und die violetten. Die Samen der vier isolirten Individuen wurden theils im October, theils im November ausgelest, und zwar für jede Mutter getrennt. Es blühte von den vier so erhaltenen Gruppen im nächsten Jahre (1599) nur eine; die übrigen blieben Rosetten und blühten 1900. Die Farbenmischung war in den vier Gruppen eine sehr überein- stimmende; ich habe für jede die Zahlen gesondert ermittelt, finde aber keine erwähnenswerthen Unterschiede. Die Zusammensetzung der gesammten Öultur geben die auf S. 509 in der ersten Spalte (1. Versuch, 5. Generation) bereits mitgetheilten Zahlen. Aus der ersten Aussaat (1895) habe ich einige lilafarbige Pflanzen ausgepflanzt, behielt aber von diesen nur ein einziges, das sich durch schön gestreifte Blumen empfahl. Es wuchs zu einer sehr kräftigen Staude heran, blühte 1898 an einer isolirten Stelle und trug reichlich Samen. Dieser lieferte 1898 219 blühende Pflanzen, über deren Farbe die letzte Spalte der Tabelle auf S. 509 (2. Versuch, 3. Generation) berichtet. Fassen wir die Ergebnisse dieses siebenjährigen Versuches mit den sonstigen bekannten Thatsachen zusammen, so haben wir die folgenden Rassen zu unterscheiden: re Clarkia pulchella. 511 1. Hesperis matronalis alba, die samenbeständige Sorte des Handels. 2a. Weissliche, blasslila, selten oder nie gestreifte Sorte (W, — W,). welche durch sectoriale, Knospen- und Samenvariation die violette Farbe wieder herstellen kann; Samenvariation zu etwa 2 °/,; lilafarbige Nachkommen zu etwa 6°/,. 2b. Lilafarbige, oft gestreifte oder fleckige Rasse, welche wech- selnde, aber sehr erhebliche Mengen weisslicher und violetter Nachkommen bildet. Ihre Farbe geht in diejenige von Nr. 2a continuirlich über, ist aber von Nr. 3 durch eine scharfe Kluft getrennt. | 3. Violette Sorte, aus 2a und 2b entstanden, und nach Analogie von Antirrhinum majus vermuthlich inconstant. 4. Hesperis matronalis, die ursprüngliche, violette, samenbeständige Art. Die Analogie mit den entsprechenden Rassen von Antirrkinum majus scheint mir jetzt völlig auf der Hand zu liegen, und lässt sich folgendermaassen darstellen: 1. Die systematische Varietät, welche völlig samenbeständig ist (H. m. alba, A. maj. luteum). 2. Die Mittelrasse mit lila oder gestreiften Blumen (H. m. liliacina, A. maj. luteum striatum); sie zerfällt durch Auslese nach Plus oder nach Minus in die blasslila bezw. feinstreifige Zuchtrasse einerseits, und andererseits in die dunkler lilafarbige, oft ge- streifte Nachtviole und das breitstreifige Löwenmaul. 3. Die einfarbige, aber inconstante Halbrasse, welche die Farbe der ursprünglichen Art hat, aber nicht deren Samenreinheit. 4. Die ursprüngliche violette bezw. rothe, völlig samenfeste Art (Hesperis matronalis, Antirrhinum majus). $ 16. Clarkia pulchella. Von dieser zierlichen rothblühenden Art ist eine weisse Varietät im Handel. Man trifft mitunter auch eine gestreifte Abart an, welche auf den weissen Blumenblättern mehr oder weniger zahlreiche und mehr oder weniger breite rothe Streifen trägt.” Das Roth hat in diesen Fällen dieselbe Intensität wie bei der Art. Ausserdem sind die weissen Blumen nicht völlig rein weiss; hat man von ihnen ein ! Auch giebt es eine Varietät Oarnea, welche, soweit meine Erfahrung reicht, constant ist. ® Vergl. S. 493. Bereits erwähnt von Vırmorın und von B. Verror, Pro- duction et fication des varietes. 1865. 8. 64. 512 Der Atavismus. Beet in voller Blüthe, so sieht man einen sehr schwachen, aber doch deutlich erkennbaren röthlichen Anflug. Bisweilen sind einzelne Exemplare oder einzelne Blüthen etwas reicher an Farbstoff und ergeben sich dann ohne Weiteres als nicht vollkommen weiss. Ich habe mit dieser Pflanze, welche für künstliche Befruchtungen sich äusserst wenig eignet, und auch ein Versetzen während der Blüthe meist nur schlecht erträgt, nur eine unvollständige Versuchs- reihe machen können. Diese reicht aber meines Erachtens aus, um die Uebereinstimmung mit den für Antirrhinum und Hesperis fest- gestellten Thatsachen darzuthun. Wie bei diesen kann man auch hier zwischen einer weisslichen, an Streifen armen, und einer reichlich gestreiften Zuchtrasse unter- scheiden, und beide haben jenen Beispielen entsprechende Eigenschaften. Die breiten Streifen zeigen sich hier meist als rothe Sectoren, z. B. ganze oder halbe Petalen; aus diesem Grunde werde ich solche Blü- then und Pflanzen sectoriale nennen. Im Jahre 1396 hatte ich ein Beet von etwa 50 Pflanzen, welche alle weisslich blühten. Die meisten trugen keine rothen Streifen, oder so feine und seltene, dass sie übersehen wurden, was bei der grossen Zahl von Blüthen und deren raschem Wech- Fig. 144. Olarkia pulchella. Eine ge] immerhin möglich ist. Nur eine Pflanze weisse Blüthe, von der 1!/, 2 > B er Blumenblatt dunkelroth sind, zeichnete sich aus; sie trug Ende Juli eine während ‚die beiden anderen Blüthe mit zwei rothen Petalen, und An- Vo en fang August ein Blumenblatt, dessen mitt- leres Drittel der Länge nach roth gefärbt war. Sonst war im ganzen Sommer alles nahezu weiss. Von diesen letzteren Pflanzen wurden keine Samen geerntet. Samen von einem weisslich blühenden Individuum gaben 1897 eine Cultur von etwa 100 Pflanzen. Unter ihnen war wiederum nur ein sectoriales Exemplar; von diesem habe ich die Samen getrennt geerntet, aber sie waren inmitten der übrigen von Insecten befruchtet. Auf den meisten Exemplaren beobachtete ich keine rothen Streifen, auf einigen wenigen sah ich solche von meist geringer Bedeutung. Die Samen der weisslichen wiederholten die Armuth an Streifen; auf dreissig Pflanzen sah ich 1898 nur eine gestreifte. Bei steter Auswahl fast weisser Exemplare erhielt sich diese Sorte somit arm an rothen Sectoren. er Olarkia pulchella. 513 Aus den Samen der sectorialen Pflanze erhielt ich sofort eine an rothen Petalen und rothen Blumenblattabschnitten reiche Rasse, welche auch mehrfach ganz rothe Blumen sowie rothblühende Zweige hervorbrachte (Knospenvariation). Ich cultivirte sie durch zwei Gene- tionen (1898 und 1899). Die Samen für die erstere waren 1897 ohne Isolirung der Mutterpflanze gewonnen; im Jahre 1398 habe ich aber während der Blüthe alle nicht sectoriale Pflanzen ausgerodet und auf den übrigen nur die Samen der nach jener Operation blühenden Blüthen geerntet. Die einzige sectoriale Pflanze von 1397 trug eine Blüthe mit einem, und eine andere mit zwei rothen Petalen. Ihre Samen wurden getrennt geerntet und ausgesät. Die sonstigen Blüthen waren weiss- lich; auch von ihnen behandelte ich die Ernte für sich. Die erst- genannten, selbstverständlich spärlichen Samen gaben (1898) etwa 40 blühende Pflanzen; die letztgenannten aber etwa 200. In beiden Gruppen waren die rothen Streifen und Seetoren auffallend zahlreich, im Vergleich mit dem vorigen Jahre. Ende Juli fand ich in der ersteren 25 °/,, in der letzteren 23 °/, sectoriale Pflanzen. Dazu ein völlig rothblühendes Exemplar in der ersteren Gruppe. Hätte ich die Beobachtungen fortgesetzt, so wären diese beiden Procentzahlen ohne Zweifel merklich höher ausgefallen. Aber behufs der Isolirung der sectorialen habe ich zu jener Zeit alle Exemplare, welche noch keine oder nur wenige und schmale Streifen gezeigt hatten, ausgerodet. Nur von den sich nachher öffnenden Blumen erntete ich, wie bereits erwähnt, Samen, und solches wiederum in zwei Mustern. Einerseits markirte ich eine Anzahl von sectorialen Blüthen auf einer grösseren Gruppe von Individuen und sammelte ihre Samen zusammen. Anderer- seits zeichnete ich eine besonders auffallende Pflanze aus, welche ziemlich viele sectoriale und einzelne völlig rothblühende Blumen trug und auch Knospenvariationen an den unteren Zweigen aufwies. Von dieser Pflanze erntete ich nur die Samen der schmalstreifigen Blüthen. Ehe ich zur Mittheilung der Ergebnisse dieser Ernte übergehe, habe ich noch einen Fall von sectorialer Variation zu erwähnen. Auf einer sonst weissen oder feinstreifigen Pflanze zeigte ein grüner Seitenzweig in der Inflorescenz einen schmalen rothen Streifen, welcher nicht viel breiter war als ein Blüthenstielchen und sich über vier Internodien erstreckte. Auf dem Streifen standen die obere, untere und mittlere Blüthe dieser Strecke; die beiden ersteren waren völlig roth, die mittlere zum Theil roth. Die beiden zwischenstehenden Blüthen, auf der grünen Seite des Astes, waren nahezu weiss. DE VRIES, Mutation. 1. 33 514 Der Alavismus. Die Cultur von 1899 war, wie wegen der Isolirung der Samen- träger zu erwarten, reicher an sectorialen Exemplaren wie jene von 1898. Aus den erwähnten gemischten Samen hatte ich etwa 300 Pflanzen, unter denen fünf völlig roth waren, während die Zahl der sectorialen 40 °/, erreichte. Der auserwählte Samenträger aber gab nur 50 blühende Nachkommen, von denen wiederum einer roth war, während die Anzahl der sectorialen auf 70°/, stieg. Im Mittel für beide Culturen somit 1—2 °/, rothe und etwa 45 °/, sectoriale Pflanzen. Diese Versuche lehren also, dass die weisslichen bei der Auswahl als Samenträger eine ziemlich constante Nachkommenschaft geben, welche nur in ganz einzelnen Procenten zu den sectorialen übergeht. Die Nachkommenschaft der sectorialen enthält aber etwa 45 In breitstreifige und 1—2°/, rothe Pflanzen, während die übrigen weiss- lich mit rothem Anhauch oder doch sehr arm an Streifen sind. Die Culturen der weisslichen blühen meist bereits einige Wochen, bevor die ersten Streifchen sich zeigen; auf den Beeten der sectorialen begegnet man der rothen Farbe meist bereits in den ersten Blüthen. Aber auch hier sind die weissen Blumen stets weitaus in der. Mehr- zahl; ich zählte auf 1000 Blumen dieser Rasse 34 gestreifte und 8 sectoriale, also zusammen nur 4°/,. $ 17. Plantago lanceolata ramosa. Plantago lanceolata gehört zu den Pflanzen, welche an Anomalien besonders reich sind. PrEnzıG erwähnt deren eine beträchtliche Anzahl, namentlich beblätterte Aeste, Aehren, deren Spitze einen Schopf von Laubblättern trägt,! zwei- bis mehrfach gabelig getheilte Aehren, Torsionen u. s. w. Diese und mehrere andere Missbildungen, wie gespaltene Blätter und ein- bis mehrblätterige Ascidien fand ich in hiesiger Gegend sowie in meinen Culturen häufig. Bemerkenswerth ist dabei, dass alle oder doch fast alle diese Abweichungen in der- selben Rasse vorkommen können, nicht selten sogar in einem einzigen, besonders kräftigen Individuum. Jede Pflanze enthält hier offenbar eine Menge latenter oder semilatenter, ausserhalb ihres eigentlichen Formenkreises liegender Merkmale; sie bilden, wie bereits betont wurde, einen äusseren Formenkreis der Art (S. 429). ! Solche Schöpfe habe ich mehrfach abgepflückt und als Stecklinge benutzt; sie bewurzeln sich leicht und wachsen zu kräftigen Rosetten von Wurzelblättern aus, deren Aehren die Erscheinung der Schöpfe zum Theil wiederholen (Plantago lanceolata coronata). Plantago lanceolata ramosa. 515 Gleichfalls mehrfach in der Literatur erwähnt! ist eine Form mit verzweigten Aehren (Plantago lanceolata ramosa?). In den Achseln der Bracteen am Grunde der Hauptähre bilden sich sitzende, secun- däre Aehrchen aus. Oft sind sie klein, bisweilen erreichen sie nahezu die Länge der Hauptähre. Ihre Anzahl auf einer Aehre ist höchst variabel. Bei guter Cultur haben die meisten Aehren oft 2—7 Seiten- ährchen, doch kann die Zahl bis zwanzig und mehr steigen (Figg. 145 und 146). Mit dieser Ramosa-Rasse habe ich seit 1887 Versuche über die Erblichkeit angestellt. Diese ergab sich dabei als eine unvollkommene. Trotz sorgfältigster Auswahl und Isolirung während der Blüthezeit bringt die Rasse alljährlich Exemplare hervor, deren sämmtliche Aehren, auch wenn sie über 100 pro Pflanze betragen, ohne jegliche Spur von Verzweigung bleiben. Sie sind offenbar als Atavisten zu betrachten. Das Verhältniss, in dem diese Atavisten entstehen, scheint ein ziemlich constantes, im Laufe der Jahre aber hin und her schwanken- des zu sein. Es lässt sich durch die Wahl guter oder schlechter Samenträger etwas steigern oder etwas herabdrücken, es scheint aber durch mehrfach wiederholte Selection auf die Dauer nicht wesentlich verbessert werden zu können, wenigstens nicht derart, dass Aussicht bestände, in dieser Weise je den Atavismus zu beseitigen. In den ersten Jahren meiner ÖOultur habe ich auf diese Erschei- nung nicht besonders geachtet, auch war der Umfang meiner Versuche damals zu gering, um bestimmte Zahlen ermitteln zu können. Nur fand ich alljährlich sowohl Ramosa-Exemplare, als auch Atavisten, trotzdem ich die Samen stets nur von den ersteren sammelte. Erst in der fünften Generation (1392) habe ich angefangen, das Verhältniss zu ermitteln. Ich bemerke dazu, dass ich alljährlich meine Samen- träger vor der Blüthe isolirte und auf ihnen, so vollständig wie irgend möglich, die nicht verzweigten Aehren vor der Blüthe abschnitt. Die Befruchtung, welche frei dem Winde überlassen wurde, war also eine möglichst reine zwischen den ausgewählten Samenträgern, deren Anzahl meist nur zehn oder weniger betrug. Ich erhielt die folgenden Zahlen: Generation Procentischer Gehalt an Atavisten 5. — 1892 46 9], 6. — 1894 50%, 58%, 59 %)o- ne Eh 47°], = 18 45%, 56%, 59%). 8. — 1900 52 9), 1 Penzıe, Teratologie. II. S. 252. ? Krwidkundig Jaarboek, Gent 1897. S. 76 und 91. 335 516 Der Atavismus. Die Plantago lanceolata ramosa bringt also in jeder Gene- ration nahezu zur Hälfte atavistische Individuen hervor. Die Variabilität in den angegebenen Zahlen hängt wenigstens zum Theil von äusseren Einflüssen (Ernährung und Auslese) ab. Dieses ergiebt sich aus einer näheren Betrachtung der einzelnen Versuchsjahre. Im Jahre 1892 hatte ich 48 blühende Exemplare; unter diesen waren beim Verpflanzen in der Jugend, etwa drei Wochen nach der Aussaat, neun Pflanzen als besonders bevorzugte ausgezeichnet, da sie theils gespaltene Blätter, theils Ascidien zeigten. Diese neun Exemplare ergaben sich später alle als Ramosa- Erben, und zwar mit sehr reichlich ver- zweigten Aehren. Sie wurden im nächsten Jahre weiter cultivirt. Die sechste Gene- ration erzog ich theils aus ihren Samen, theils aus den 1892 auf zwei anderen Samenträgern geernteten. Letztere er- gaben bei normaler Cultur 50°), auf 103 blühenden Pflanzen, und zwar für beide Samenträger nahezu dasselbe Verhältnis. Um dieses zu ermitteln, waren, wie stets, die Samen der einzel- nen Mütter getrennt ausgesät worden. Die höheren Zahlen 58°), und 59°, rühren von den Kindern einer Pflanze her, welche 1893 in zwei Hälften zer- rissen wurde. Die eine Hälfte wuchs dann auf Sand, die andere auf gewöhn- licher Gartenerde.e Auf den Einfluss dieser Behandlung auf die Pflanze selbst komme ich unten zurück, auf den Nach- kommen wurde, wie man sieht, ein Einfluss der verschiedenen Behandlung nicht beobachtet (Umfang der Culturen 57 und 60 Individuen). Samen von den Erben von 1894 säte ich erst 1897, und zwar unter normalen Bedingungen, wie sonst (Aussaat im Gewächshaus; Pikiren in Töpfe und Umpflanzen auf dem Beete). Es waren die Samen von zwei Müttern mit sehr stark verzweigten Aehren. Sie Fig. 145. Plantago lanceolata ra- mosa. Ganze Pflanze. Plantago lanceolata ramosa. 517 ergaben eine Cultur von 70 blühenden Pflanzen mit 47 °/, Atavisten. Aus dieser Cultur verpflanzte ich während der Blüthe alle Erben, welche nur wenige verzweigte Aehren hatten, und zeichnete ich anderer- seits eine Pflanze als die am reichlichsten verzweigte aus. Ich erntete nur Samen von Blüthen, welche nach dieser Trennung und nach dem Ausroden der Atavisten ihre Narben hervorgetrieben hatten, und zwar für jede Pflanze besonders. Im nächsten Sommer zeigte sich (1898, 8. Generation), dass die Samen des besten Samenträgers nur 45 °/, Atavisten gaben (auf 100 blühenden Pflanzen). Die Samen der mitt- leren Mütter gaben deren 56°/,, ’ diejenigen der schlechtesten Mütter aber 59°,. Die Aus- wahl hatte also einen merk- lichen, wenn auch nicht sehr grossen Erfolg gehabt. Zu be- merken ist noch, dass die An- zahl der mittleren Mütter 8, die der schlechtesten 10 betrug. Für jede wurde die Zusammen- setzung der Nachkommenschaft einzeln ermittelt; die Unter- schiede waren aber nicht grösser, als der Umfang des Versuches solches erwarten liess. Dieser erreichte für die mittleren Samenträger 1033, für die zehn schlechtesten 732 Pflanzen. Die am meisten abweichenden Einzelceulturen zeigten 37°), bezw. 65 r Atavisten. Die der- Fig. 146. „Plantago lanceolata ramosa. selben Generation angehörige a a Ziffer von 1900 — 52 °/,, soll weiter unten noch besprochen werden. Wie bei den inconstanten Rassen anderer Arten kommt auch hier Knospenvariation, wenn auch sehr selten vor. Es sind dann eine oder mehrere Seitenrosetten, welche abweichen. Der Bau unserer Pflanze ist ein sehr einfacher. Der Stengel der Keimpflanzen wächst zu einem kurzen, etwas schiefen Rhizom heran, das eine Rosette von Wurzelblättern bildet. In den Achseln der höheren Blätter stehen die Aehren, in den Achseln der unteren bilden sich Rosetten zweiter Ordnung, Nebenrosetten aus. Im zweiten Sommer verhält sich sowohl die Haupt-, als auch jede Nebenrosette ähnlich, oben Aehren und 518 Der Atavismus. unten wiederum Rosetten treibend. Wächst die Pflanze sehr kräftig, so besteht sie oft aus 10—20 oder mehr Einzelrosetten. Ist sie eine Ramosa, so bildet jede Rosette, wenigstens zum Theil, verzweigte Aehren; bisweilen sind auch sämmtliche Aehren verzweigt, und dann sieht man auf den ersten Blick, dass keine Knospenvariation vorliegt. Im zweiten Jahre kann eine einzige Pflanze leicht 50 und mehr ver- zweigte Aehren treiben. Die Cultur von 1897 enthielt eine Pflanze mit Knospenvariation. Die Samen ihrer verzweigten Aehren, im ersten Jahre geerntet, hatten 89 blühende Pflanzen gegeben, von denen 36, also 40 °/,, Atavisten waren. Die Pflanze selbst bestand im Herbst ihres zweiten Jahres aus über 25 einzelnen Rosetten, welche losgerissen und einzeln ver- pflanzt wurden. Nur die kräftigsten überlebten diese Operation. Ich hielt sie in ihren Töpfen, bis eine hinreichende Anzahl von Aehren sichtbar war, und pflanzte sie dann auf zwei weit von einander ent- fernten Beeten aus. Auf das eine kamen vier Rosetten mit unver- zweigten, auf das andere drei mit verzweigten Aehren. Die vier ersteren bildeten zusammen über 200 kräftige Aehren, sämmtlich unverzweigt mit Ausnahme einer einzigen, welche an ihrem Grunde einen kleinen Seitenzweig trug. Die drei letzteren bildeten theils unverzweigte, theils mehr oder weniger reichlich verzweigte Inflores- cenzen; die ersteren wurden den ganzen Sommer über vor der Blüthe abgebrochen. Die Ernte von beiden Beeten, getrennt gesammelt und getrennt ausgesät, gab im Jahre 1900 zwei Culturen. Diese hatten die folgende Zusammensetzung: Mutterähren: Umfang der Cultur Atavisten Erben Verzweigte 44 Individuen Haan 48 °,- Unverzweigte 206 5 925: Sn Die Rosetten mit verzweigten Aehren ergaben jetzt etwas mehr Atavisten, als die Samen der verzweigten Inflorescenzen derselben Pflanze im ersten Jahre (52 °/, gegen 40°/,), was wohl daher rührt, dass sie 1899 einen weniger sonnigen Stand hatten als 1897. Die Rosetten mit unverzweigten Aehren, obgleich sie 1899 an einem suten Orte standen und äusserst kräftig wuchsen, lieferten aber eine Nachkommenschaft, wie sie bis dahin von keinem Erben dieser Rasse gesehen war (vergl. Tabelle S. 515, welche die Ergebnisse von mehr als 25 Einzelaussaaten, je von einer besonderen Mutter, umfasst). Die Rosetten mit unverzweigten Aehren bildeten hier also einen deutlichen Fall von Knospenvariation, mit Uebergang zu einer an verzweigten Aehren armen Rasse. Plantago lanceolata ramosa. 519 Eine wichtige Frage ist die nach der Samenbeständigkeit der Atavisten meiner Rasse. Ich fand sie bis jetzt völlig so. Für diesen Versuch habe ich im Jahre 1894 in der fünften Generation die Ata- visten nicht ausgerodet, sondern sie nur vor der Blüthe der Erben aller Aehren beraubt, und diese Operation von Zeit zu Zeit, als sich neue Aehren zeigten, wiederholt, bevor diese ihre Staubfäden entfalten konnten. Nach der Ernte rodete ich die Erben aus; die meisten Atavisten überlebten den Winter und blühten 1895 sehr reichlich und völlig isolirt. Die meisten unter ihnen bildeten mehr als hundert Aehren pro Pflanze. Von jedem Exemplar erntete ich die Samen getrennt. Die Aussaaten fanden theils 1896, theils 1897 statt. Sie lieferten drei, bezw. sechs Culturen, zusammen also die Samen von 9 Müttern. Jede Cultur umfasste 35 bis etwa 100 Pflanzen, zusammen 600 blühende Individuen mit 4000 Aehren. Diese waren ohne Ausnahme unverzweigt. Es drängt sich. die Frage auf, ob die Samen-Atavisten und die Knospen-Atavisten zu derselben Rasse gehören. Es ist ja einerseits möglich, dass die Samenbeständigkeit der ersteren keine so absolute ist, wie sie in meinem Versuche sich zeigte. Und andererseits könnte ja auch in dieser Rasse gelegentlich Knospenvariation auftreten, welche den Gehalt meiner Cultur von 1900 (8°/,) an verzweigten Individuen erklären würde. Doch sind weitere Untersuchungen er- forderlich, um diese Frage endgültig zu beantworten. Die Plantago lanceolata ramosa bringt somit theils durch Samen (etwa 50°/,), theils durch Knospen (selten) atavistische Individuen hervor, welche entweder völlig, oder doch in hohem Grade aus Samen beständig sind. Es erübrigt uns jetzt noch, die fluktuirende Variabilität unserer Rasse kurz zu beschreiben. Sie ist eine ganz bedeutende und gehorcht den bekannten Gesetzen; namentlich ist sie in hohem Grade von der Lebenslage abhängig, und innerhalb gewisser Grenzen fähig, durch Selection abgeändert zu werden. Die mitzutheilenden Beobachtungen beziehen sich auf echte Ramosa-Pflanzen, mit Ausschluss von Atavisten und Knospenvarianten. Die Variabilität unserer Rasse schliesst sich insofern derjenigen anderer monströser Rassen an, als sie eine zweigipfelige Curve zeigt. ! Ich pflückte im Juli und August 1893 allmählich sämmtliche Aehren von einer kleinen Gruppe von Pflanzen ab, und erhielt die folgenden Zahlen: 1 Sur les courbes galtoniennes des monstruosites, Bull. Scientif. de la France et de la Belgique, publie par A. Grarn. T. XXVI. 1896. S. 397. 520 Der Atavismus. Aehren ohne Verzweigung. . . . 191 Aehren mit 1 Seitenährchen . . . 80 15 2 S Ve 1539 ” PR) 3 „ ® 2 ° 93 ” „ # ” 2 33 5 r Noel Summe der Aehren 544 Die Verzweigung war in dieser Gruppe eine ziemlich geringe; dennoch war der Gipfel der atavistischen Aehren scharf von dem- jenigen der verzweigten getrennt. Auch ohne Zählung äussert sich die Erscheinung sehr leicht in der verhältnissmässigen Seltenheit der Aehren mit einer einzigen Seitenähre, was ich auch in späteren Jahren mehrfach bemerkte. Dadurch kennzeichnet sich die Mittelrasse. Und da man in der freien Natur, wo die Ramosa-Form keineswegs selten ist, häufig einästige Aehren findet, gehören solche Funde vermuthlich der Halbrasse an, doch habe ich dieses nicht weiter untersucht. Sowohl die Anzahl der zusammengesetzten Aehren pro Pflanze, als auch der Grad ihrer Verzweigung sind in hohem Grade von der Lebenslage abhängig. Je kräftiger der Wuchs des Ganzen und je reicher die Beblätterung, desto üppiger pflegt die Anomalie ausgebildet zu sein. Dementsprechend geht eine stärkere Verzweigung der einzelnen Aehren meist mit einem grösseren Reichthum an verzweigten In- florescenzen überhaupt Hand in Hand. Auch zeigt die Verzweigung eine deutliche Periodicität: die jungen Pflanzen fangen fast stets mit unverzweigten Aehren an und erst später tritt auf den Beeten die Monstrosität an’s Licht, allmählich an Stärke zunehmend. Gegen den Spätsommer sah ich dann häufig die Verzweigung wieder abnehmen und zahlreichere unverzweiste Aehren sich bilden. Im zweiten Sommer findet man auf kräftigen Individuen oft ausschliesslich verzweigte Aehren, oder doch nahezu nur solche, auch wenn die Anzahl der Aehren 50—60 und mehr pro Pflanze beträgt. Im ersten Lebens- jahre fand ich meist 10—20, bisweilen aber 30 und mehr verzweigte Aehren auf jeder Pflanze, und: als Regel kann man wohl annehmen, dass im Mittel, bei gewöhnlicher Cultur, im ersten Sommer etwa ein Drittel der Aehren verzweigt sind. So fand ich z. B. 1898 auf 439 Aehren an 30 Pflanzen 136 mit Verästelungen, also 31°/,. Selbstverständlich waren, wie ja auch bereits hervorgehoben, die ata- vistischen Individuen von dieser Zählung ausgeschlossen. Um den Einfluss der individuellen Kraft auf die Ausbildung der Anomalie kennen zu lernen, habe ich auch einige directe Versuche gemacht. Erstens habe ich ganz schwache Exemplare erzogen und Plantago lamceolata ramosa. 521 kannte Eigenschaft des Wegerichs, aus seinen Wurzeln Knospen zu machen. Da die Wurzeln sämmtlich sehr dünn sind, sind die so erhaltenen Pflänzchen anfangs ganz schwächlich; sie wachsen auch nicht so rasch heran wie Sämlinge. Im März 1893 wählte ich zu diesem Versuche zehn Pflanzen, welche im Vorjahre meist je 10—25 verzweigte Aehren getragen hatten. Ich hob sie aus der Erde, schnitt die Masse der Wurzeln ab und pflanzte nur diese, während ich die 'Rosetten und alle etwa vorhandenen Blattknospen wegwarf. Von jedem. Individuum setzte ich die Wurzeln zusammen in die Erde, ohne sie aus einander zu legen. Wurzelknospen entstanden zu Hunderten, oft so viele aus einem Wurzelbündel, dass sie nicht Raum hatten, sich alle zu ent- wickeln. Mitte Juni, also nach etwa 3 Monaten, fingen sie an zu blühen. Anfangs gab es nur etwa 40 °/, verzweigte Aehren, mit nur 1—2 Seitenährchen (auf den 46 ersten Aehren). Auf den 100 folgen- den Aehren stieg das Verhältniss auf 60°/, und kamen 3—4fach verzweigste Inflorescenzen dazu. Nachher, also Mitte Juli, kamen die ersten Aehren mit 5 Seitenährchen und allmählich stieg die Zahl der verzweigten auf “etwa 70°/,. Und die kräftigste Rosette hatte, für sich allein untersucht, im August auf 67 Aehren 52 verzweigte, somit etwa 78 °/.. In der älteren Literatur wurde vielfach die Frage besprochen, ob adventive Knospen im Stande sind, Variationen und Anomalien ihrer Mutterpflanze zu wiederholen. Damals aber hielt man diese Missbildungen nicht für erbliche Erscheinungen. Seitdem aber die Erblichkeit der Monstrositäten allgemein anerkannt worden ist,! dürfte es selbstverständlich sein, dass adventive Knospen sich im Grossen und Ganzen so verhalten wie die normalen Zweige; höchstens könnte die Frage aufgeworfen werden, ob sie eine grössere Aussicht auf Knospenvariationen bieten. Sind sie schwächer, so prägen sie das anormale Merkmal weniger aus; sind sie sonst den gewöhnlichen Knospen ebenbürtig, so sind sie es auch in dieser Beziehung. Es ist also eigentlich überflüssig, hier die Wiederholung der verzweigten Aehren auf dem Wurzelbrute unserer Plantago besonders zu betonen. Meine übrigen Versuche habe ich mit getheilten Pflanzen gemacht. Ich benutzte dazu im Frühjahr 1893 zwei schöne überwinterte Ro- setten, welche im Vorjahre sich an verzweigten Aehren besonders reich gezeigt hatten. Beide Pflanzen wurden in möglichst gleiche ! Erfelyke Monstrositeiten, Kruidkundig Jaarboek. Gent 1897. 8. 62. 522 Der Atavismus. Hälften zerrissen, von der einen wurde ein Theil auf Sandboden, von der anderen ein Theil im Baumschatten gepflanzt, während die corre- spondirenden Theile als Vergleichsobjecte unter gewöhnlichen Be- dingungen weiter cultivirt wurden. Zu Anfang der Blüthe zeigte sich in beiden Versuchen noch kein Unterschied zwischen den beiden Hälften, ein solcher wurde im Laufe des Sommers nur allmählich sichtbar. Für die Sandceultur habe ich Ende Juli und Ende August die sämmtlichen Aehren abgepflückt und gezählt; ich fand: Anzahl der Seitenährchen pro Aehre Summa ) 1 2 3 4 5 Sand 3 3 4 6 3 1 17 28. Juli | u: | Controle 9 7 9 6 0 (0) 31 Sand 1a 010, Bo 8 3 1 48 sau! "8 Controle : 12 210 7 6 2 39 Also ein deutlicher, wenn auch geringer Unterschied. Dieser wird noch klarer, wenn man die mittlere Anzahl der Seitenzweige pro Aehre berechnet. Man findet dann im August auf Sand deren 1-5 und in der Vergleichshälfte 2-0. In ähnlicher Weise wirkte der Schatten, der auf meine Versuchs- pflanzen in ihrem ganzen Wuchse sehr nachtheilig wirkte, wie sich sofort an der geringen Anzahl der ausgebildeten Aehren verräth. Ich ermittelte in derselben Weise wie im vorigen Versuche die folgenden Zahlen: Anzahl der Seitenährchen pro Aehre Summa (0) 1 2 3 4 5 6 Schatten 7 6 2 7 5 2 ) 29 | a ai 1 2 8:19 00 1 52 An [ Schatten 15 1 1l 2 0 0 0 19 AUS | Controle 21 ee ) 719 Mittlere Anzahl der Seitenährchen pro Aehre im August auf der Schattenhälfte 0-5, auf der Vergleichshälfte 2-0. Fassen wir zum Schluss die Ergebnisse der ganzen mehr als zehnjährigen Versuchsreihe kurz zusammen, so finden wir das Folgende: Die Plantago lanceolata ramosa meines Versuches bildet eine „inconstante Mittelrasse“, d. h. eine Rasse, welche in jeder Generation und in ziemlich constantem Verhältniss Atavisten hervorbringt. Dieses Verhältniss beträgt etwa 50°/,. Die Abspaltung der Atavisten geschieht regelmässig durch Samen, bisweilen aber auch durch Knospenvariation. Die Atavisten sind ganz oder doch nahezu constant. Die Erben, d. h. die echten Exemplare der Rasse (also sämmt- liche mit Ausnahme der Atavisten), bilden sowohl unverzweigte, als auch mehr oder weniger reichlich verzweigte Aehren, und sind in Die Entstehung von Chrysanthemum segetum plenum. 523 dieser Beziehung sehr von ihrer Lebenslage und ihrer individuellen Kraft abhängig (fluctuirende Variabilität). Je kräftiger die Pflanze und je günstiger die Umstände, um so üppiger zeigt sich die Anomalie.! VI. Experimentelle Beobachtung der Entstehung von Varietäten. $ 18. Die Entstehung von Chrysanthemum segetum plenum. (Siehe Tafel VIII.) Die gefüllte Saatwucherblume bildet eine neue Varietät, welche erst vor Kurzem in meinen Öulturen entstanden ist. Sie war bis jetzt völlig unbekannt. Allerdings ist Chrysanthemum segetum im Gartenbau als Zierpflanze beliebt, und findet man von ihr auch eine Varietät erwähnt, das ©. segetum grandiflorum. Unter den diesjährigen Neuheiten befindet sich sogar ein ©. segelum Gloria,? welches Blüthen- köpfchen von bis zu 10 cm Durchmesser haben soll, aber ohne Füllung. Wäre je eine gefüllte Form aufgetreten, so würde sie ohne irgend einen Zweifel als wichtige Verbesserung in den Handel gebracht worden sein, wie denn auch von Ohrysanthemum inodorum und anderen Verwandten gefüllte Varietäten allgemein verbreitet sind. Mein Conquest, wie die Haarlemer Hyacinthenzüchter ihre Neuheiten nennen, ist dem Ohrysanthemum inodorum plenissimum eben- bürtig. Er steht diesem nur in Bezug auf die Farbe nach, da die rein weissen Blumen wohl immer einen Vorzug vor den gelben be- halten werden. Die Füllung ist bekanntlich nie eine so vollkommene, dass in allen Köpfchen alle Röhrenblüthen fehlen würden. Allerdings hat solches häufig den Anschein (Fig. 147); sucht man dann aber genauer, so findet man zwischen den Zungenblüthen doch immerhin mehr oder weniger zahlreiche Röhrenblüthen, welche nur von diesen verdeckt und dadurch unsichtbar waren. Dazu kommt, dass der Grad der Füllung einer bedeutenden fluctuirenden Variabilität unterliegt; die eine Pflanze hat mehr, die andere weniger stark umgewandelte Blüthen. Dies ist auch sehr wichtig, denn die weissen Zungenblüthen des C. inodorum plenissimum sind weiblich, und Köpfchen wie Fig. 147 und Fig. 153 0 auf S. 540 geben überhaupt keinen Samen. Die Sorte wird somit durch Aussaat von Pflanzen wie Fig. 1584 und B S. 540 fortgepflanzt. ! Vergl. auch das Verhalten von Papaver somniferum polycephalum in Abscehn. I. $ 16 S. 98, sowie den Schluss dieses Bandes. ? Samencatalog von HAAGE und Schuipr in Erfurt. 1900. 524 Experimentelle Beobachtung der Entstehung von Varietäten. Ebenso verhält es sich mit dem neuen Ohrysanthemum segetum plenum. Manche Exemplare liefern überhaupt keinen Samen, da die Füllung zu stark ist. Andere liefern nur eine geringe Ernte aus dem- selben Grunde. Eine all zu scharfe Selection beim Anfang der Blüthe würde alle Aussicht auf reife Früchte vernichten und die Sorte völlig verschwinden lassen. Die stark gefüllten Exemplare liefern auch keinen Pollen zur Befruchtung der an- deren, da sie ja nahezu rein weiblich sind; sie betheiligen sich somit an der Fortpflanzung der Rasse auch in dieser Weise nicht. Meine Neuheit dürfte die erste gärt- nerische Varietät sein, welche in einer ex- perimentellen Oultur entstanden ist. Ich meine damit, dass die Bestäubungsverhält- nisse seit Anfang der Cultur rein gehalten sind, und dass jähr- lich genaue und aus- führliche Notizen über den Gang des Ver- suches gemacht wur- ı % den. Dazu hat die Ö Auswahl der Samen- Fig. 147. Chrysanthemum inodorum plenissimum. Ein träger vom Anfang an Exemplar mit sehr stark gefüllten Köpfchen, und dadurch stetsin derselben Rich- ganz steril. N tung stattgefunden. Die erste Selection fand 1897 statt, die gefüllte Rasse war 1900 er- zielt. Somit eine dreijährige Auslese. Die Saatwucherblume bietet, als Composite,- den Vortheil einer bequemen variationsstatistischen Behandlung. Die Anzahl der Strahlen- blüthen fluctuirt nach dem bekannten, auf der BRAUN-SCHIMPER’schen Reihe gegründeten Gesetze Lupwıie’s. Durch Zählung einer hin- reichenden Menge von Köpfchen lässt sich die ganze Zusammensetzung Br - Die Entstehung von Chrysanthemum segetum plenum. 525 einer Cultur in Zahlen ausdrücken und graphisch darstellen. Der Verlauf des Ausleseversuches kann somit in allen seinen Einzelheiten klar vor Augen geführt werden. Allerdings fehlt uns noch die Er- klärung der Braun-ScHimper’schen Reihe; jede ihrer Zahlen (z. B. s.8. 13, 21 u.s. w.) kann als Artmerkmal, d. h. als constantes Mittel für eine bestimmte Art auftreten; andererseits können sie Variations- stufen und sogar Rassen bilden, deren Natur uns noch unbekannt ist. Wir sind demnach auf eine rein empirische Beschreibung angewiesen. Ehe ich zu den Einzelheiten meines Versuches übergehe, scheint es mir zweckmässig, seine Bedeutung in kurzen Zügen anzugeben. Die Saatwucherblume ist in Ge- treidefeldern eine ganz allgemeine, über einen grossen Theil Europa’s verbreitete Pflanze, wie auch ihr zweiter Name, gelbe Kornblume, andeutet. Sie hat dreizehn Strahlenblüthen im Köpfchen, und fluctuirt um diese Zahl nach QuETELET’s Gesetz. Von ihr giebt es im Handel eine Varietät, Chrysanthe- mum segetum grandiflorum, deren Her- kunft unbekannt ist. Sie zeichnet sich durch grössere und zahlreichereZungen- blüthehen aus." Soweit meine Erfah- rung reicht, bilden die aus dem Handel bezogenen Samen eine Mischung der beiden Sorten, was auch wohl zu er- warten, da beide auf den Handels- gärtnereien aus praktischen Rücksichten Fig. 148. Chrysanthemum segetum dicht neben einander cultivirt werden. m. Nahezu völlig gefülltes Körb- chen. Vergl. auch Tafel VII. Ebenso werden in den botanischen Gärten beide Sorten, oft durch einander und in der Regel nur unter dem Namen C. segetum gehalten. Diese Mischung hat eine zweigipfelige Curve,? aus ihr kann man aber leicht die den beiden Sorten angehörigen Individuen einzeln auslesen. Es zeigt sich dann, dass das (©. segetum grandiflorum im Mittel 21 Zungenblüthen hat, dass es in der Hauptsache in derselben Weise variirt wie die 13strahlige Rasse (d. h. die wilde Art), dass es ‘ aber eine Neigung hat, die Zahl der Strahlen stärker zu vermehren, ! Rümpter, Velmorin’s Blumengärtnerei. 1896. II. S. 507. ? Eine zweigipfelige Variationscurve, Archiv für Entwickelungsmechanik der Organismen. Leipzig 1895. Bd. II. 8. 52. 526 Experimentelle Beobachtung der Entstehung von Varietäten. als dem QUETELET’schen Gesetze entspricht. Und dieses deutet auf eine discontinuirliche Variation. ! Diese geringe Andeutung war der Ausgangspunkt für meinen Versuch. Ich wählte 1897 einen Samenträger mit 34 Strahlen für die Aussaat von 1898 und erreichte 49 Strahlen.” In derselben Weise fortschreitend erzielte ich 1899 67 und 1900 etwa 90 Strahlen in den besten Köpfchen. Bis 1899 zeigten sich die Zungenblüthen nur im Umkreise, die Scheibe bestand völlig aus Röhrenblüthen. In diesem Jahre aber bildete eine einzige Pflanze auf einigen Köpfchen 2—3 Zungen inmitten der Scheibe. Es war dies die erste Andeutung der gefüllten Rasse. Ich säte dann 1900 nur von dieser einen Pflanze die Samen aus und fand, dass die Rasse völlig fertig dastand (Tafel VIII). Sie brauchte einer weiteren Auslese, abgesehen von den Folgen der Kreuzbefruchtung, nicht mehr, und war auch überhaupt für eine scharfe Wahl nicht zugänglich, wegen der Sterilität ihrer besten Erben. Meine Öulturen umfassten meist etwa Hundert oder doch nur einige Hunderte von Individuen. Es scheint mir ganz zweifellos, dass ich mit weit umfangreicheren Saaten das Ziel wohl um ein Jahr früher hätte erreichen können. Aber je schärfer die Auslese, um so kleiner ist die Ernte und somit auch die Aussaat. Es wird sich jedem Leser die Frage aufdrängen: ist dieser Ueber- sang ein allmählicher oder ein stossweiser gewesen? Mir scheint das letztere der Fall zu sein, aber es hängt dabei viel ab von der Bedeutung, welche man den Wörtern giebt. Jedenfalls geschah die Umwandlung nicht im Laufe der Jahrhunderte, wie es die Selections- theorie anzunehmen pflegt, nicht einmal brauchte es dazu Jahrzehnte. Drei Jahre genügten, und solches in einer Cultur von nur wenigen Quadratmetern Umfang. Jetzt komme ich zu den Einzelheiten des Versuches und fange mit einer kurzen Beschreibung der ursprünglichen wilden Art an. Diese wächst in der hiesigen Gegend nicht. Mein Herbarmaterial, in verschiedenen Provinzen der Niederlande von mir gesammelt, deutet auf das allgemeine Vorkommen der Mittelzahl 13 hin. Hrısıus be- stimmte im October 1895 die Curven für zwei Fundorte in der Pro- vinz Nord-Brabant und fand die folgenden Zahlen. Die erste Zeile ! Ebenso wie die halben Curven S. 428 und die Note auf S. 430. Vergl. Ueber halbe Galton-Curven als Zeichen disceontinuirkcher Variation. Berichte d. deutschen bot. Gesellschaft. Bd. XII. 8. 197. ? Ueber Curvenselection bei Chrysanthemum segetum. Ebendaselbst. Jahrg. 1899. Bd. XVII. S. 84. Die Entstehung von Ohrysanihemum segelum plenum. 527 bezieht sich auf Pflanzen, welche unweit Vucht, die untere auf solche, welche bei Hintham gesammelt wurden:! Anzahl der Zungenblüthen (Z.B)) in den Niederlanden: 21.B3: GET SEE OO Da 1 est Mueht 70,751 02137 55 I 32 8187,178,.7788 181 72222 1357 E27 307327,0 Elinthea 1 0008 9 9230 192 1417329 Al 2055180500750 In Ganzen 221 und 104 Einzelzählungen. Die Curven sind ein- sipfelig und symmetrisch. In Thüringen verhält sich die Sache genau so. Lupwic theilt von Brotterode die folgenden Zählungen von genau 1000 Blüthen- köpfehen mit:? Strahlencurve für Thüringen. IEEOFSEIE 1202192 2147 5155 165,100 7.182,.1907207:21 30125874614125295.1292 4050 159121780 0,6802 Z.B.: 8 Köpfchen: 1 6 Man darf somit annehmen, dass die mittlere Strahlenzahl für die wilde Saatwucherblume — 13 ist. Die gemischte Rasse der botanischen Gärten habe ich zuerst 1892 untersucht. Dieoabimireinezweisiptelige 1, 0 u 20m de 2b Cnrye(Eig. 149), welche da- onen 2.13 v7 6 a2 1012 207 1,0 mals die erste derartige Fig. 149. Ohrysanthemum segetum. Gemischte Saat. : : Curve der Strahlenblüthen im primären Köpfchen Combinationscurve auf bo- yon 97 Individuen vom Jahre 1892. Die obere tanischem Gebiete war.* Ich Zahlenreihe giebt die Anzahl der Strahlen, die untere Bades leheich die der Individuen mit dieser Strahlenzahl für jeden atte die Samen, welche ic ans aus einer grösseren Anzahl botanischer Gärten durch Tausch erhalten hatte, durch einander ge- mischt und auf einem PBeete ausgesät. Es gelangten im Ganzen 1 Ber.d.d. bot. Ges. Bd. XVII. S. 87. Eine graphische Darstellung dieser Ergebnisse, für beide Standorte in eine einzige Curve gebracht, habe ich bereits oben, S. 107 Fig. 32 gegeben. ?.F. Lupwis, Ueber Varialionsceurven und Variationsflächen. Botan. Centralbl. Bd. LXIV. 1895. S. 5. Ferner F. Lupwıs, Die pflanzlichen Variationscurven und die Gauss’sche Wahrscheinlichkeitscurve, ebendaselbst Bd. LXXIII. 1898. S. 71 (S. 16 des Sonderabdruckes). ® Aus Archiv f. Entwickelungsmechanik. 1. e. S. 58. * Archiv für Entwickelungsmechanik. 1895 1. c. Vergl. auch Lupwıs im Botan. Oentralbl. Bd. LXIV. 1895. 8. 71. 528 Ei Zeperimentell Beobachtung 2 den Bntstehung von Varietasenız 97 oa zur Blüthe. an Tea habe ich jedesmal ü im Ton: des Sommers je ein Köpfchen abgepflückt und gezählt. Ich wählte stets das Endköpfchen des Hauptstengels; Individuen, welche dieses nicht entfalteten, wurden vor der Blüthe ausgerodet. Es wurden somit nur primäre Köpfchen benutzt und die erhaltene Curve war eine individuelle, d. h. jede Einheit in ihr stellte eine ganze Pflanze vor. Die erhaltenen Zahlen sind in der folgenden Reihe angegeben. Die obere Zeile bedeutet die Anzahl der Zungenblüthen pro Köpfchen (Z.B.); die untere die Anzahl der Individuen, welche diese Zahl in ihrem Endköpfchen hatten. Strahlencurve für 1892. Z.B.: ler el ale Individ. 1:25 14°132,427776.72. 5979 570240, 2120 20 Die aus dieser Reihe abgeleitete Curve ist in Fig. 149 abgebildet. Von ihren beiden Gipfeln entspricht der eine demjenigen der wild- wachsenden Art, der andere den Gipfeln der Strahlencurven von Chrysanthemum Leucanthemum und ©. inodorum. Es handelte sich nun darum, aus dieser Mischung die Componenten nicht nur zu trennen, sondern solches derart zu thun, dass ihr Vor- kommen in der Mischung klar bewiesen würde. Es schien mir wegen der unumgänglichen Mithülfe der Insecten für die Befruchtung nicht möglich, solches für beide vermuthete Rassen gleichzeitig aus- zuführen, und so entschloss ich mich, zuerst die 13strahlige Form und nachher, aus einer neuen gemischten Saat, die 21strahlige zu isoliren.. Dem ersteren Versuch widmete ich die beiden Jahre 1893 und 1894. In der gemischten Saat von 1892 habe ich dazu jedes Indivi- duum, welches im Endköpfchen mehr als 13 Strahlen hatte, sofort nach der Zählung ausgerodet. Ich behielt somit nur 15 Pflanzen, von denen eine 12, die übrigen aber 13 Zungenblüthen hatten und entfernte alle übrigen so früh, dass eine Befruchtung der ausgewählten Exemplare nicht zu befürchten war. Diese Pflanzen blühten nachher aus ihren Seitenzweigen reichlich, zeigten aber auch dann keine Spur eines Ourvengipfels auf 21. Sie waren also ausreichend reine Ver- treter der vermutheten Rasse. Von den gesparten 13strahligen Pflanzen erntete ich die Samen im September und säte davon die Hälfte im nächsten Frühling (1893). Es brachten 162 Individuen ihre Endköpfchen ‘zur Entfaltung, und von diesen wurden die Strahlen gezählt. Sie ergaben jetzt eine sehr Die Entstehung von COhrysanthemum segetum plenum. 529 steile, eingipfelige und dazu symmetrische Curve (vergl. Fig. 150.4 für 1893), welche in sehr befriedigender Weise mit den oben besprochenen Curven für die wilden Fundorte übereinstimmt (S. 527 und Fig. 32 S. 107). Es konnte also keinem Zweifel unterliegen, dass in der Samenmischung der botanischen Gärten auch die wildwachsende Form vertreten war. Um darüber aber jede Sicherheit zu haben, habe ich die isolirte Rasse noch während einer Generation weiter gezüchtet. Dazu wählte ich unter den Pflanzen von 1893 drei kräftige Exemplare, deren Endköpfchen 12 Strahlenblüthen aufgewiesen hatten und liess sie sich unter sich und mit ihresgleichen befruchten, nachdem alle Pflanzen mit 13 oder mehr Strahlen ausgerodet waren. Aus den 72232007920101511021201371920750:76017.2.182.:19\ 20%2722)0322% 25112627128 ya, B: Fig. 150. A. Ohrysanthemum segetum. B. Chrysanthemum segetum grandiflorum (nach Reinigung). Curven der beiden Rassen nach der Isolirung. 4. Curve der 13strahligen Rasse im Jahre 1893. 2. Curve der 21strahligen Rasse im Jahre 1897. Die Ordi- naten geben die Anzahl der Individuen mit gleicher Zahl von Strahlenblüthen im primären Köpfchen der einzelnen Pflanzen. Diese Anzahl der Strahlenblüthen selbst ist unterhalb der Abscisse angegeben. getrennt geernteten Samen dieser Samenträger erhielt ich 1894 drei Familien, welche ich bis zur vollen Blüthe jede für sich pflegte. Dann wurden die Strahlen der Endköpfchen gezählt und der Versuch abgeschlossen. Ich gebe jetzt die Ergebnisse dieser drei Zählungen von 1894 mit derjenigen von 1893 zusammen. Man wird sehen, dass die einzelnen Zahlenreihen sich ganz genau entsprechen, jedenfalls so genau, als für den Zweck des Versuches erforderlich war. Die Zu- sammensetzung der vier Culturen in den zwei Generationen war also soweit dieselbe, als man solches von einer gewöhnlichen Art er- warten darf. DE VRIES, Mutation. I. 34 90 Experimentelle Beobachtung der Entstehung von Varietäten. löstrahlige Rasse. Strahlencurve für zwei Generationen. Strahlenblüthen: 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 ı8 19 20 21 1893 2 1 on 713 9er To 1894, Erste Familie 00° 0.1.10 59. 18 vor 2 a or „Zweiter, .:0:.0°.71,. 4.11.0189 112 5. 00 oo „ Diitte „, :0°1.02.3 10.078 210 1° 2,0002 0000000 a Summa 0 1. 3 8 31 221. 50° 8, 52 2A SS Es ist diese „Summe“ für 1894 in Fig. 150 A graphisch dar- gestellt worden. Die ganze Anzahl der Individuen dieses Jahres betrug 338. ! Um aus derselben Mischung auch die 21strahlige Rasse zu iso- liren, musste ich mir neuen Samen verschaffen, da der frühere Vorrath 1892 völlig verbraucht war. Ich bezog sie aus der nämlichen Quelle, dem Samentausch der botanischen Gärten, und zwar von einer etwa gleichen Zahl von Gärten (etwa 20). Es war selbstverständlich nicht zu erwarten, dass ich die nämliche Form der Curve wieder erhalten würde, da das Verhältniss der beiden Gipfel offenbar von der Mischung der beiden Bestandtheile abhängt, und diese völlig dem Zufall über- lassen werden musste. Es lag mir aber daran, zu erfahren, ob viel- leicht in einzelnen Gärten nur die 13strahlige, in anderen nur die 21strahlige Rasse cultivirt würde. Zu diesem Zwecke habe ich die einzelnen erhaltenen Proben getrennt ausgesät, und zwar möglichst breit, um für jede auch die Zählungen der Endköpfchen besonders vorzunehmen. Aus keinem Garten war eine reine Rasse zugesandt worden, weder eine solche mit auf 13 gipfelnder, noch auch eine mit auf 21 gipfelnder Curve. Beide Formen kamen überall durch einander und zwar in den verschiedensten Mischungen vor. Es wurde somit damals überall nur die gemengte Rasse cultivirt. Die Endköpfchen der 559 Individuen der ganzen Öultur ergaben die folgende Reihe für diese Mischrasse der botanischen Gärten im Jahre 1895: 9310112127 211377142715 16717 2187197520721 >22 7239229290026 3 B) 3 14 .153:77 60: 55.,312.33739 41.56 1072150220 Also dieselben Gipfel wie 1892, aber offenbar war jetzt die 13strahlige Rasse stärker vertreten als die andere. ! Für die eingehende Vergleichung der Curven der beiden Jahre vergleiche man: Archiv f. Entwickelungsmech. II. 1895. 1. e. S. 62. Die Entstehung von Ohrysanthemum segelum plenum. 581 Um nun auch die im Handel unter dem Namen COhrysanthemum segetum grandiflorum käufliche Rasse kennen zu lernen, machte ich auch von dieser eine Aussaat. Als die Pflanzen im Juli blühten, zeigte sich eine ausserordentliche Mannigfaltigkeit in den Zungen- blüthen. Diese waren oft sehr kurz, dann aber wieder auffallend lang; bisweilen so schmal, dass sie einander nicht berührten, bisweilen aber von mehr als der doppelten Breite der wilden Form. Die Farbe wechselte zwischen Goldgelb und Strohgelb, die Spitzen waren ganz oder zerschlitzt u. s. w. Es deutete solches bereits auf die Mischung verschiedener Rassen hin. In Bezug auf die Anzahl der Strahlen- blüthen waren die Unterschiede aber nicht so gross, wie in den erst- genannten Mischungen. Es trat nur ein Gipfel klar hervor, und zwar derjenige auf 21. Der andere auf 13 war mehr oder weniger ver- deckt. Es war deutlich, dass die Handelsrasse die 21strahlige war und dass sie durch Vermischung mit der anderen nur in soweit verunreinigt war, als solches bei der Cultur im Grossen nun einmal gestattet und praktisch unumgänglich ist. Meine Zählungen erstreckten sich über 282 Pflanzen, von denen je nur das Endkönfchen berücksichtigt wurde. Sie ergaben für das ©. segetum grandiflorum: 732: SI IE LO TED BEE So SIE 22272324 Ind.: 120575022 152 217 727.9,7.,24314.3020.217297 245587 27270, 751 Diese Zahlen bestätigen also das soeben Gesagte und zeigen, dass dem 21strahligen C. s. grandiflorum eine untergeordnete (und wahr- scheinlich von Jahr zu Jahr wechselnde) Menge der 13 strahligen Sorte beigemischt ist. Es handelte sich nun darum, die bis dahin nur vermuthete 21- strahlige Rasse aus diesen Mischungen zu isoliren. Ich widmete diesem Versuche die beiden nächstfolgenden Jahre und suchte dazu im Sommer 1895 in der gemischten Saat die erforderlichen Samenträger aus. Hier stossen wir auf eine Schwierigkeit, welche bereits früher als transgressive Variabilität besprochen wurde! und welche bei früheren Untersuchungen mehrfach zu Unklarheiten Veranlassung gegeben hat. Um sie möglichst scharf hervorzuheben, denken wir uns, dass die Isolirung bereits stattgefunden hatte und dass die neue Rasse bereits rein gewonnen war. Oder mit anderen Worten, wir beziehen uns auf die Fig. 150 (S. 529) und die dieser zu Grunde liegenden Zahlen. Betrachten wir die Ordinate 21. Sie enthält nur Individuen ı Vergl. Abschnitt I S. 41 und Abschnitt II $ 25 S. 408. 34* 532 Experimentelle Beobachtung der Entstehung von Varietäten. der 21strahligen Rasse. Aber im Jahre 1894 trat ein einzelnes Indivi- duum auf, das, obgleich es der 13strahligen Rasse angehörte, dennoch durch sehr starke Variation die Zahl 21 erreichte (S. 530). Wären die Culturen von 1893 und 1894 umfangreicher gewesen, so wäre die Anzahl dieser extremen Varianten offenbar grösser ausgefallen. Für die Ordinaten 20, 19, 18 u. s. w. gilt es noch mehr, dass auf ihnen Individuen von beiden Rassen werden vorkommen können. Wählt man also aus einer gemischten Saat die Pflanzen, welche 21 und mehr Zungenblüthen im Endköpfchen haben, so hat man gar keine Sicherheit, dass diese auch alle der gesuchten Rasse angehören werden. Und lässt man sie sich unter sich befruchten, oder erntet man ihre Samen durch einander, so hat man nur eine geringe Aus- sicht auf eine reine Rasse. Es kommen auf der rassenreinen Mehr- zahl einige minderwerthige Exemplare vor, und es handelt sich darum, diese sobald wie möglich und jedenfalls vor der Ernte, zu entfernen. Die Möglichkeit dazu bieten die späteren Blüthen. Sie erlauben es, für jede Pilanze eine Curve zu ermitteln und dadurch diese zu beurtheilen, unabhängig von den Zufälligkeiten, welche stets einer einzelnen Zahl anhaften. Die Curve, welche die einzelnen Partien eines Individuums ergeben, nennt man seine Partialcurve. Ich habe somit für alle beim Anfang der Blüthe ausgewählten Exemplare mit 21 und mehr Strahlen im Endköpfchen, später auch die Partialeurven gewonnen. Es zeigte sich dabei die Richtigkeit der obigen Erörterung und die Nothwendigkeit der sich daraus ergebenden Correction. Denn es gab 22 Pflanzen, welche trotz eines 21—22strahligen Endkörb- chens dennoch eine auf 13—14 gipfelnde Partialcurve hatten. Ich gebe hier die Summe dieser Öurven, wie ich sie Ende August 1895 fand: EA RR A a re bye a se aka a re ala 10) 20. DL Partialeurve für 22-1nd: 227 547587 55 287 1 ST . Diese Pflanzen gehörten also der 13strahligen Rasse an und wurden dementsprechend ausgerodet. Dann gab es fünf Pflanzen mit undeutlichen Curven, welche gleichfalls nicht beibehalten wurden. Schliesslich gab es nur sechs Individuen, deren Partialeurve mir hinreichend scharf und sicher schien, um ihre Samen zu ernten. Die Summe dieser Curven war: VEN ER ER An ER 13.14 21525 162 ANZ SIE 2 Partialeurve für 6 Ind.: . 2 0: „1.375742 36° 511,217 >02 Im Ganzen 111 Köpfchen.! Hätte man die Endköpfchen dieser 1 Die Curve ist abgebildet in den Ber. d. d. bot. Ges. Bd. XVII, Tafel VII, Fig. 25. : Di " Eistehung ı von „Cor kusanthemmum segehum Ban 533 Pflanzen (5 mit 21, eins mit 26 Strahlen) mitgezählt, so wäre der Gipfel genau auf 21 gefallen. Nur von diesen sechs Pflanzen wurden die Samen behufs der Aussaat von 1896 geerntet, und zwar für jede getrennt. Die Befruchtung dieser Pflanzen war keine völlig reine gewesen, weil die oben erwähnten minderwerthigen erst gegen Ende August erkannt und entfernt werden konnten, und Blüthen, welche sich im September öffnen, unter unserem Klima keinen oder doch fast keinen Samen mehr reifen. Zwar gab jede der sechs Aussaaten eine Curve, welche einen sehr ausgesprochenen Gipfel auf 21 hatte, aber nur bei einer von ihnen (Nr. 1) fehlte das andere Maximum, obgleich die Figur noch bei weitem keine symmetrische, die Rasse somit bei weitem noch nicht rein war. Ich theile deshalb nur die eine Curve für das beste Beet, also für die Nachkommen der besten Mutter (Nr. 1) be- sonders mit, und stelle darunter die Summe der fünf übrigen Mütter (Nr. 2—6). Die Curven beziehen sich somit auf die Anfangscultur der 21strahligen Rasse von 1896: Be: IE STORE 10 13, 214,152 016.017 18. 3,.190.2.20,.,.01209958.937 794 INNE TE: Omee 120022307921 508190022.7.3027 332 23650. 6441290: 152292820 52 6:01 520.110 .12100,207:.817.6955922.792 0.114 215074167 ,46: 232501 Im Ganzen wurden für Nr. 1 370 und für Nr. 2—6 1220 Einzel- pflanzen gezählt. Nur die erstgenannte Gruppe, also die Nachkommenschaft von der im Jahre 1895 Nr. 1 genannten Pflanze wurde zur Fortsetzung des Versuches bestimmt, und unter dieser wurden nun, auf Grund von Zählungen an den Seitenzweigen, die besten Samenträger für die Reinigung der Rasse ausgesucht. Es waren dieses zwei Pflanzen mit den unterstehenden Partialcurven (1896). Z.B.: 12132 14 1516217 18 19 00821 29 Nester 0 11 ds 292030 0,3, 300 = 211p9,000208.00...0.20°.0.%2% 0203,14. 0 Namentlich Nr. 1b gehörte bereits deutlich der gesuchten Rasse an. Nur von diesen beiden Pflanzen erntete ich die Samen für den fraglichen Zweck, und säte sie, jede Probe für sich, im nächsten Jahre aus. Ich hatte die Ernte dabei auf die Blüthen beschränkt, welche nach dem Ausroden der übrigen sich geöffnet hatten und welche somit möglichst rein befruchtet waren. Der Erfolg entsprach meiner Erwartung, denn im nächsten Sommer (1897) zeigte sich die Rasse auf beiden Beeten rein. 994 Experimentelle Beobachtung der Entstehung von Varietäten. Dieses ersieht man sofort aus den beiden folgenden Zahlenreihen und aus der Fig. 150B, welche die zweite Gruppe graphisch darstellt. Die Zahlen wurden in derselben Weise gewonnen, wie in den vorigen Jahren, indem von jeder Pflanze nur das Endköpfchen des Haupt- stengels berücksichtigt wurde. Es ergab sich somit für die zweite Generation der 21strahligen Rasse im Jahre 1897 Folgendes: Z.B.: 12 19% 167217 1871972207 72177227237 2247 12550260, 27002 352 Nr. la:2 0. 0..1, 210 2° 3041.42 2170277708 2 0 „tb: 01 33780703 2.707 14 2482142774821 211 aa Beide Gruppen sind sehr symmetrisch gebaut, was man auch sofort an der Fig. 150B sieht, welche ja noch regelmässiger ist, als die entsprechende Figur der löstrahligen Rasse (Fig. 1504). Es umfasste die Nachkommenschaft von Nr. 1a nur 56, die von Nr. 1b aber 298 blühende Pflanzen. Hätte ich im Vorjahre meine Ernte nicht auf eine so geringe Zahl von Samen beschränken wollen, so hätte ich entweder auch von minderwerthigen Individuen, oder auf denselben Pflanzen auch von den früher geöffneten, also unrein befruchteten Blumen Samen aussäen müssen. Und dann würde meine Rasse auch im Jahre 1597 noch nicht völlig rein gewesen sein, ebenso wenig wie im Jahre 1896. Ich habe mich durch besondere Versuche mit den betreffenden Samen, welche ich getrennt geerntet hatte, von der Richtigkeit dieses Aus- spruches überzeugt, unterlasse es aber, die Zahlenreihen anzuführen.! Damit war die Isolirung der beiden in dem @emische ver- mutheten Rassen erreicht. Betrachten wir deshalb noch einmal die Figuren 149 S.527 und 150 S.529. Zunächst fällt auf, dass die Gipfel dieselben sind, sie liegen in Fig. 149 wie in Fig. 150 auf 13 und 21. Die aus der doppelten Curve herausgelesene Erklärung hat sich somit durch den Versuch völlig bestätigt. In zweiter Linie aber sieht man, dass die zweigipfelige Curve keineswegs einfach der Summe der beiden eingipfeligen entspricht. Die Mischung enthält nicht einfach die beiden gemischten Rassen, weder in einer Mischung nach gleichen Theilen, noch in irgend einem anderen zufälligen Verhältniss.. Sie lässt sich auch nicht aus ihren Componenten berechnen. Letzteres lehren namentlich zwei Umstände. Einerseits die Schienen ausserhalb der Gipfelordinaten, andererseits der mittlere Theil der Curve. Die beiden ! Dureh Kreuzung vermischen sich die Strahlenrassen (Ber. d. deutschen bot. Ges. Bd. XVII. $S. 92). Diese in vielen Beziehungen höchst wichtige Ver- mischung bedarf aber noch eines gründlichen Studiums. Die Entstehung von Ohrysanthemum segetum plenum. 535 Componenten fangen bei 7 an und endigen bei 28 (32), ihre Summe würde solches also offenbar auch thun. Dagegen liegt die Curve der gemischten Rasse zwischen 11 und 23. Noch deutlicher sieht man solches, wenn man die Ordinaten 12 und 22 betrachtet; auf ihnen weist Fig. 149 viel zu wenig Individuen auf. Die Grenzen werden bei der Vermischung somit „eingezogen“ Dafür haben sich aber um so mehr Individuen zwischen den beiden Gipfeln angehäuft. Und hier bilden sie, auf 17, sogar ein secundäres Maximum, welches nach den für die Mischung von 1895 mitgetheilten Zahlen eher auf 16 fallen sollte. ! Wir kommen jetzt zu der gefüllten Rasse. Es ist im Garten- bau ein bekannter Satz, dass jeder, der Neuheiten hervorzubringen wünscht, eifrig nach kleinen Abwechselungen spüren soll (vergl. Ab- schnitt I S. 131 und IV S 2 8. 416). Sind diese Abweichungen keine Fälle der fluctuirenden Variabilität, sondern fallen sie dadurch auf, dass .sie viel seltener sind als diese, so besteht die Aussicht, dass sie Aeusserungen einer semilatenten Eigenschaft sind. Und ist solches in der That der Fall, so besteht die fernere Aussicht, dass man durch Isolirung und Auslese diese Eigenschaft zum Vorherrschen, wenn nicht gar zur Alleinherrschaft wird bringen können. Ob der Versuch ge- lingen wird, das hängt freilich von uns noch unbekannten Umständen ab. Denn keineswegs gelingt es immer. Durchdrungen von diesen, von Darwın mehrfach hervorgehobenen Prinzipien habe ich von Anfang an den Partialcurven, d. h. den aus den Seitenblüthen je einer einzelnen Pflanze abgeleiteten Ourven in meinen Culturen besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Es lohnt sich nicht, alle die Fälle anzuführen, welche mir keine Andeutung einer latenten Eigenschaft boten, und so komme ich sofort zu derjenigen Pflanze, welche dieses zuerst that. Es war ein Individuum der 21strahligen Rasse von 1896, welches im Eindköpfchen 21 Zungen- blüthen gehabt hatte und am 12. August die folgenden Zahlen in seinen Seitenköpfchen finden liess: Z.B.: ste 1 18%.19.,20,.21,122 pp, koasl ul ea) a ee ee Ich bezeichne diese Pflanze als Nr. I1c,? um damit anzudeuten, dass sie derselben Cultur angehörte, wie die Nr. 1a und 1b, deren Zahlen- 116(=3+5+8) ist eine der Nebenzahlen des Lupwıe’schen Gipfelgesetzes. Es entsteht die Frage, ob solche Nebenzahlen vielleicht auch sonst durch Kreu- zung reiner Rassen hervortreten können. ? Berichte d. d. bot. Ges. Bd. XVII, S. 91, wo Nr. 1e als Nr. 12 in der dortigen Reihe steht. 36 Experimentelle Beobachtung der Entstehung von Varietäten. reihen auf S. 533 angeführt worden sind. Mit jenen beiden Reihen stimmt diese darin überein, dass von einem Gipfel auf 13 keine Spur mehr vorkommt; von ihnen und von allen übrigen untersuchten Pilanzen jenes Beetes unterscheidet sie sich aber durch die vier Blüthen mit je 22 Strahlen. Denn allen anderen Exemplaren fehlten Seitenblüthen mit mehr als 21 Strahlen durchaus. | Chrysanthemum segetum plenum (zu 8. 538). Strahlencurven der Vorfahren-Generationen.! (Für die Ermittelung der Curven ist von jedem Individuum nur das Endköpfchen des Hauptstammes berücksichtigt.) z.B. |12lı5\16lırlıs)19|20 21 22!\23|24 25 26 27/28 29 3031132 33 34 1896° 115 15122 30.33 36 64.123 ae = | 1897 | 2) 1, 2 1 0/12/10.169 102 45 30.19 12 3, 1) 2 110 0) 1 1898 | | | [2 2] 10 1717/20 21,30 1713,10. 11) 6 913 21 1899 | | | Iı1lı) ı/ 0) 0) 3) 2) 9.6] 6| 7) 3| 8j12/13| 12 1300 [| 1] | an al. Zee Fortsetzung 1. j | a TEE N RT ERNEST) 1) | ZB. 35 36 37|38|39|40|41|42|43 4445 4647 48 4950/51 5258/54 55 1898 6 3| 5| 31 1) 2| 0|.0| 0] 0 0 2| 0 1| | | 1899 14/10/10) 8| 6| 7| A| 8| 6| 1110 2 2| 4| 2] 2 217022 KojWel 1900 0 ılı 1150] 301 | ° 202) 11 0) 4 ° o| 2 0 1 280 I er ES EAU EN Fortsetzung IL. | BEST BBTBesz Bea ZBa 66 57 58/59 60 6116263 6465 66|67,68,69 70171 72 14 7599 101 o| ı SR | 01 1| 0 0 0 un l 189 | 0 1 1900 | 0 | 0 1 Diese Andeutung war allerdings eine äusserst geringe. Sie konnte überhaupt nur durch das Zählen der Zungenblüthen entdeckt werden. Ohne diese statistische Untersuchungsmethode wäre sie wohl niemals aufgefallen. Denn die Pflanze Ic wuchs in einer Gesammtecultur von etwa 1500 Pflanzen; sie zeichnete sich anfangs mit 500 anderen dadurch aus, dass ihr Endkörbehen 21 Strahlen führte, was in der ! Diese Zahlenreihen sind mit Ausnahme derjenigen von 1896 in Fig. 151 übersichtlich zusammengestellt. ? Für die vollständige Curve von 1896 vergl. S. 533. Die Individuen mit 10—13 Strahlen sind hier weggelassen. Die Entstehung von Ohrysanthemam segetum plewum. 537 betreffenden Rasse ja eben das Mittel sein sollte. Durch Gruppirung der Zahlen wurde zunächst die Nachkommenschaft einer Mutter (1895 Nr. 1, vergl. S. 533) isolirt, dann unter dieser die besten Erben und unter den allerbesten wurde wiederum die einzige aufgefunden, welche die fragliche leise Andeutung gab. 1897 | | N 1898 | . | | | DEBAT 26 29 46 | 899 N u, 72 15 18 21 24 21 30 33 36 39 92 45 48 57 54 57 60 683 66 69 12 75 178 8184 87 90 93 96 99 102 Fig. 151. Vorfahren-Generationen des Ohrysanthemum segetum plenum. Curven der Endköpfchen der einzelnen Individuen der Generationen von 1897—1900. Für die Zahlen siehe S. 536. Der Samenträger von 1896 war 21strahlig (x in 1897 oben); die übrigen Samenträger sind in den einzelnen Curven durch ein X auf der be- treffenden Ordinate angewiesen. Urpflanze der Cultur war das Individuum von 1895 Nr. 1, aus diesem entstand 1896 Nr. 1c und aus dessen Samen die Cultur von 1897. Aber so gering diese Andeutung auch war, so reichte sie doch völlig aus, um die latente Eigenschaft an’s Licht zu bringen. Es war dazu weiter nichts erforderlich, als eine durch drei Jahre fortgesetzte Selection nach denselben Prinzipien und in derselben Richtung. Jedes Jahr wählte ich nur einen Samenträger zur Fortsetzung 538 Experimentelle Beobachtung der Entstehung von Varietäten. des Versuches aus, isolirte ihn mit einigen wenigen nächstbesten so früh wie möglich und erntete seine Samen getrennt von denen der Nachbarn. Völlig vereinzelte Pflanzen von Chrysanthemum segelum pflegen so wenig Samen anzusetzen, dass man sich darauf nicht ver- lassen kann. Die Befruchtung muss also zum Theil durch etwas minderwerthige Exemplare stattfinden. Wäre dieses nicht der Fall, so wäre das Ziel gewiss früher erreicht worden. Auch insofern hängt man vom Zufall ab, dass häufig gerade die beste Pflanze nicht kräftig genug ist, um als Samenträger gewählt zu werden. Aber im vorliegenden Versuche trat dieser Umstand, zum Theil in Folge der günstigen Culturbedingungen, nicht ein. Der Fortschritt war ein regelmässiger und ist am einfachsten durch das Merkmal der jeweiligen Samenträger anzugeben. Die Zahl der Strahlenblüthen in den Endköpfchen meiner auserwählten Pflanzen war in den einzelnen Jahren die folgende: COhrysanthemum segetum grandiflorum. Vorfahren der gefüllten Rasse. Jahr Pflanze Anzahl der Strahlen im Endköpfehen Fortschritt 1895 Nr. 1 21 — 1896 le 21 er 1897 — 34 13 18983 = 48 14 1899 — 66 18 1900 Maximum 101 35 (senauer ergiebt sich der Fortschritt aus den Öurven, welche ich für die Endblüthen der verschiedenen Generationen ermittelt habe. Ich verweise jetzt auf die Tabelle auf S. 536 und Fig. 151 auf S. 537. Die Urpflanze von 1895 Nr. 1 war aus Samen entstanden, welche ich, wie oben erwähnt, durch Tausch aus einem botanischen Garten, und zwar aus Groningen erhalten hatte; sie fand sich in einer Mischung, für welche somit die Angabe der Curve keinen Werth haben würde. Die Culturen der nächstfolgenden Jahre sind aber stets Nachkommen eines einzelnen, möglichst, wenn auch nicht völlig, rein befruchteten Individuums. Die Fig. 151 giebt zu den folgenden Betrachtungen Veranlassung. Die Curve von 1897 war eingipfelig wie diejenige der typischen Exemplare der 21strahligen Rasse (Fig. 150B auf S. 529). Aber sie war deutlich unsymmetrisch und dieses wies ohne Zweifel auf die Fähigkeit der Rasse hin, sich in dieser Richtung durch Selection Die Entstehung von Ohrysanthemum_ segetum plenum. 599 verbessern zu lassen. Sie bestätigte somit die Aussicht, welche die Mutter dieser Cultur in ihrer Partialcurve gegeben hatte. Die Curve von 1898 vereinigt die Kinder der 34strahligen Pflanze von 1897. In ihr treten neue Gipfel auf. Diese entsprechen dem Lupwıe’schen Gesetze, denn sie liegen auf den Zahlen der bekannten BRAUN-SCHIMPER’schen oder Fısonaccı-Reihe Und zwar theils auf 34 (=13 + 21), welches der Hauptreihe angehört, theils auf der Nebenzahl 26 (=5 + 8 + 13). Das Maximum in diesem Jahre bildete eine Pflanze mit 48 Strahlen, welche als Samenträger gewählt werden konnte. Die Zahl 48 aber liegt einem neuen Gipfel der Reihe (13 +34=417) sehr nahe. Der Gipfel auf 21 war 1898 verschwunden, aber nicht völlig, denn die Form der Curve deutet klar auf seine Betheiligung an der Zusammensetzung des Ganzen hin. Im nächsten Jahre war der Fort- schritt ein viel geringerer. Die Gipfel auf 26 und 34 und derjenige unweit 47 heben sich noch deutlich hervor. Aber das Maximum der Strahlenzahl hat zu- genommen, da es in diesem Jahre 67 erreichte. Gleichzeitig trat aber eine weitere Aenderung ein. Denn zum ersten Male zeigten sich jetzt Zungenblüthen zwischen den Röhrenblüthen der Scheibe. Und zwar nur an einer einzigen Pflanze Bu zum Aulumg de: aus Diene Fig. 152. Ohrysanthemum segetum Pflanze hatte im Endköpfchen 66 Strahlen an ae a sechs Köpfehen, getragen und war einer der beim Anfang welche 1899 zuerst wirkliche Fül- der Blüthe ausgewählten und isolirten "8, zeigten. Von der Mutter pflanze der gefüllten Sorte. Samenträger. Sie wurde, mit Ausschluss aller übrigen, zur Fortsetzung der Cultur in 1900 gewählt. Bekanntlich besteht die Füllung bei anderen Arten dieser Gat- tung, z. B. bei Ohrysanthemum indieum und bei C. inodorum gerade in derselben Erscheinung (Fig. 153). Inmitten der Röhrenblüthen (Fig. 1534) bilden sich Zungen aus (Fig. 1535). Ist die Füllung sehr stark, so sind erstere von letzteren völlig verdeckt (Fig. 153 0), und sieht man sie nur, wenn man die Zungen einzeln ausreisst oder umbiest. Fast stets findet man dann nicht vereinzelte, sondern sehr zahlreiche röhrenförmige und gelbe Kronen. Je schwächer die Fül- lung, um so deutlicher fallen diese auf, und nicht selten sieht man, 540 Experimentelle Beobachtung der Entstehung von Varietäten. bei beiden Arten, Körbchen mit einer breiten gelben Scheibe, in der einzelne weisse Zungenblüthen zerstreut stehen (Fig. 153 B). Diese sehen dann wie Anomalien aus, obgleich sie eigentlich weniger monströs sind, als die anscheinend völlig gefüllten. Die 66strahlige Pflanze meiner Rasse verrieth somit zum ersten Male klar die Analogie mit jenen im Gartenbau so äusserst beliebten Varietäten. Die Erreichung des Zieles war von jenem Augenblick an für meinen Versuch gesichert. Die erwähnten sechs ersten „gefüllten“ Körbchen hatten im Umkreis meist etwa 40—50 Strahlenblüthen, und dazu in der Scheibe noch je eine bis drei. Da sie zu spät blühten, um Samen reifen zu können, habe ich sie photogra- phirt und aufbe- wahrt (Fig. 152). Leider gab die Pflanze nur eine geringe Ernte. Diese lieferte mir nur 31 Pflanzen, welche ihre End- blüthe entfalteten. Die Strahlenlinie dieser Körbchen ist Fig. 153. Chrysanthemum inodorum plenissimum. A Blüthen- Fig. 151 unter 1900 köpfehen mit centraler Scheibe von Röhrenblüthen (fertil); abgebildet. Die An- B mit in der Scheibe zerstreuten Zungenblüthen (halb fertil); R C höchster Grad der Füllung (steril). zahl der Beobach tungen ist eine viel zu geringe, um eine Curve construiren zu können, und um Schlüsse über etwaige Gipfel zu gestatten. Im Ganzen und Grossen zeigt die Figur aber dennoch einen deutlichen Fortschritt gegenüber den früheren Jahren. Und dieser spricht sich namentlich darin aus, dass es unter dieser geringen Zahl zwei Pflanzen gab, welche im End- körbchen alle früheren weit übertrafen. Sie hatten darin 99 bezw. 101 Strahlen, während der nächste zu erwartende Gipfel 34 + 55 = 89 sein würde. Die Füllung trat nun in dieser Cultur plötzlich in voller Aus- bildung auf (Tafel VIII. Ich werde, um mich bequem ausdrücken Die Entstehung von Chrysanthemum segetum plenum. 541 zu können, die zungenförmigen, denen der Strahlen gleichgebauten Blüthen, welche zwischen den kleinen Röhrenblüthen stehen, Scheiben- zungen nennen. Solche Scheibenzungen waren nun ganz allgemein. Sie fehlten, wenn man Endköpfchen und Seitenblumen zusammen berücksichtigte, wohl keiner Pflanze völlig. Doch war ihre Anzahl im höchsten Grade fluctuirend. Im Allgemeinen zeigten Körbchen mit weniger als 40 Strahlen keine Scheibenzungen, und nahm deren Zahl mit dem zunehmenden Reichthum der Strahlen selbst zu. So hatte das Endkörbchen mit 56 Strahlen deren 53 im Umkreis und 3 im Innern; dasjenige mit 74 Strahlen 58 im Rande und 16 im Herzen u. s. w. Für die Zählungen der Tabelle S. 536 und der Fig. 151 sind beide Sorten von Zungenblüthen zusammengezählt. Die beiden Endkörbchen mit 99 und 101 Zungen waren anscheinend fast ganz gefüllt. Die Füllung wiederholte sich an den Seitenzweigen. Als diese in voller Blüthe waren, habe ich die 12 am besten gefüllten Exemplare ausgezeichnet und alles übrige gerodet. Die Seitenkörbcehen der ge- rodeten ergaben eine Curve, deren Gipfel auf 47 (= 13 + 34) lag, entsprechend den oben besprochenen und in Fig. 151 ersichtlichen Andeutungen. Die schlechteste Blume hatte nur 28, die beste 94 Strahlen. Das Mittel von allen war 47; die Curve aber, trotz des Zusammenfallens von Mittel und Gipfel, nicht symmetrisch. Es sind im Ganzen die Strahlen von 378 Körbchen gezählt worden. Die ausgewählten Samenträger zeigten sich, wie zu erwarten, in der Füllung der Seitenkörbchen sehr verschieden. Auf einigen war diese unbedeutend. Auf anderen wurden im Mittel 2—5, auf zwei Exemplaren im Mittel 11 Scheibenzungen pro Körbchen gezählt. Eine Pflanze trug nur völlig gefüllte Körbchen. Es wurden auf sieben Körbchen 279, also im Mittel 40 Scheibenzungen gezählt. Dem- entsprechend war diese Pflanze völlig steril, sie gab mir, trotz aller Sorge und sehr reichlicher Blüthe, keinen einzigen Samen. Aber bekanntlich liefern auch bei C. inodorum plenissimum die schönsten Exemplare keine Ernte. Ebenso gaben auch die beiden Pflanzen, deren Seitenkörbehen im Mittel 11 Scheibenzungen hatten, gar keine Ernte. Hieraus ergiebt sich, dass die Grenze erreicht ist. Jede etwaige weitere Verbesserung der Rasse wird nur die Anzahl der ganz ge- füllten und dadurch sterilen Pflanzen etwas vermehren können. Die Samenträger wird man aber stets unter Pflanzen mit demselben Grade der Füllung wählen müssen, als wie in diesem Jahre. In dieser Beziehung verhält sich meine neue Rasse sofort bei ihrem 542 Experimentelle Beobachtung der Entstehung von Varietäten. Entstehen genau so wie das uralte Ohrysanthemum inodorum ple- nissimum, ! Es erübrigt noch, die Bestäubungsverhältnisse der Samenträger in den einzelnen Jahren zu besprechen. Ohne Zweifel wäre der Versuch ein viel reinerer gewesen, wenn die Saatwucherblume sich selbst befruchten könnte. Solches ist aber entweder nicht oder doch nur in sehr ungenügendem Maasse der Fall. Ich habe somit jährlich eine Gruppe von einigen wenigen auserwählten Pflanzen, nach dem Ausroden der übrigen, zusammen blühen lassen, und mich damit be- gnügen müssen, dass ich die Samen von jeder in einem besonderen Beutel sammelte. Welchen Einfluss diese Kreuzung auf den Fort- schritt der Rasse hatte, werden spätere Versuche ermitteln müssen. Einstweilen ist es von Interesse anzugeben, wie viele Pflanzen und mit welchem Grade der Selection jedes Jahr zusammen geblüht haben. Im Sommer 1895 konnte die aus durch Tausch erhaltenem Samen aufgegangene Urmutterpflanze der ganzen Rasse (1895 Nr. 1) nur spät und unvollständig isolirt werden. Da aber die mitblühenden auch der 21strahligen Rasse angehörten, war die Curve ihrer Kinder im Jahre 1896 in dieser Beziehung eine sehr reine (S. 534). In diesem Jahre wurde Mitte August die Anzahl der Samenträger auf drei sehr kräftige Individuen beschränkt, welche 21,21 und 22 Strahlen im Endkörbchen hatten. Eine mit 21 diente zur Fortsetzung des Versuches; alle drei hatten auch in ihren Seitenblumen entsprechend hohe Zahlen gezeigt. Die Bestäubung in diesem Jahre war also eine sehr reine. Solches war im Jahre 1897 nicht der Fall. Der 34strahlige Samenträger jenes Jahres war anfangs inmitten aller anderen Pflan- zen, später nur durch die übrigen ausgewählten, deren Anzahl aber 25 betrug, bestäubt worden. Er trug zu wenig Samen, um die Aus- saat auf die letzten, am reinsten befruchteten beschränken zu können. Die beiden hohen Gipfel der Curve von 1898 werden also wenigstens zum Theil durch diese sehr gemischte Befruchtung bedingt worden sein (Fig. 151 unter 1898). Im Jahre 1898 sammelte ich die Samen des Stammhalters meiner Rasse in zwei Perioden, nachdem ich für jede die Blüthen im Sommer gemerkt hatte. Die erste Ernte umfasste die Blumen, welche vor ! Die von Muxtine im Jahre 1671 beschriebene Matricaria flore toto albo plenissimo, welche in den besten Exemplaren auch keinen Samen gab, ist ver- muthlich dieselbe Sorte (Waare Oeffeninge der Planten. S. 527). Die Entstehung von Ohrysanthemum segetum plenum. 543 dem Ausroden der übrigen geblüht hatten, die zweite die später ge- öffneten. Diese konnten also von den sieben übrigen Samenträgern befruchtet werden, welche aber sämmtlich mehr als 34 Strahlen im Endköpfchen führten (die Zahlen waren 35 — 36 — 37 — 38 — 39 — 40 und 46). Die beiden Proben wurden getrennt ausgesät und ihre Curven ermittelt; diese gaben weder in den Extremen, noch im Mittel, noch auch im ganzen Verlauf einen wesentlichen Unterschied. Der Stammhalter mit 66 Strahlen und mit den 1—3 Scheibenzungen in den Seitenköpfchen gehörte sogar der ersten Serie an (die 67strahlige Pflanze aber der zweiten). Im Sommer 1899 sparte ich Ende Juli 17 Samenträger mit 48—67 Strahlen im Endköpfchen. Auf ihnen sammelte ich die Samen der im Juli blühenden Blumen getrennt von denen, welche sich nach der Selection geöffnet hatten; aus dem ersteren Samen blühten aber nur drei Exemplare (mit 41 — 44 — 47 Strahlen im Endkörbchen), welche somit auf das Bild der Gruppe keinen wesentlichen Einfluss hatten und bald ausgerodet wurden. Die Befruchtung im Jahre 1899 ist also wiederum als eine sehr reine zu betrachten. Am Ende der Beschreibung unseres Versuches angelangt, erübrigt es uns, den Gang des Selectionsverfahrens in diesem Falle zu ver- gleichen mit der gewöhnlichen Selection beim Veredeln landwirth- schaftlicher Culturgewächse. Ich verweise dazu auf das früher ge- wählte Beispiel, den Selectionsversuch von Fritz MÜLLER mit dem vielreihigen Mais. Vergl. den Stammbaum in Fig. 18 auf S. 53. Der principielle Unterschied wird nach unserer ganzen Darstellung klar sein. Beim Mais handelte es sich darum, das Rassenmerkmal (12—14 Reihen) durch Selection so weit wie möglich auszubilden; beim Ohrysanthemum war die Aufgabe, ein latentes Merkmal hervorzuholen und zur vollen Entfaltung zu bringen. Im ersteren Falle sollte eine sichtbare, längst bekannte Eigenschaft mög- lichst erstarkt werden, im zweiten sollte, wenigstens nach der geläufigen Auffassung, eine neue Eigenschaft hervorgerufen werden. Die 26—28- reihigen Maiskolben gehören dem Fluctuationsspielraume der 12—14- strahligen Rasse an, sie würden innerhalb dieser auch ohne jegliche Züchtung zweifelsohne aufgetreten sein, wenn man der Aussaat nur den dazu erforderlichen, nach bekannten Regeln durch Rechnung leicht zu ermittelnden Umfang gegeben hätte (S. 114). Ohne Zweifel würde meine Aussaat von 1897 (Fig. 151 S. 537) auch unmittelbar Blumen mit Scheibenzungen gebracht haben, wenn sie nur gross genug gewesen wäre. Aber voraussichtlich nicht in einer Menge, welche sich im Voraus aus dem QuUETELET’schen Gesetze würde berechnen lassen, sondern nach den uns noch unbekannten Gesetzen der stossweisen Variation. Der Gang des Fortschrittes ist in beiden Fällen ein verschiedener. Die Züchtung des Mais ist beherrscht vom Regressionsgesetze GALTOY’s; die Zunahme der Reihenzahl auf den Kolben wird um so schwieriger und um so langsamer, ie weiter man sich vom Ausgangspunkte ent- fernt. Gerade umgekehrt beim Ohrysanthemum. Der Fortschritt ist ein sehr stetiger, nicht nachlassender bis 1899, wo sich die ersten Scheibenzungen zeigen. Dann nimmt er aber einen Sprung; die Nachkommen dieser Pflanze haben alle mehr oder weniger gefüllte Blumen. Oder richtiger: es fand der Sprung schon vorher statt, die Pflanze mit den ersten Scheibenzungen (Fig. 152) hatte die Schwelle schon überschritten; ihre Nachkommen- schaft verhielt sich ohne Weiteres wie die einer reinen Rasse, z. B. wie das mehrfach genannte (©. inodorum plenissimum. Es fand somit ein Sprung statt und zwar vor 1899, entweder bei der Entstehung des Samens im Jahre 1898, aus dem die fragliche Pflanze hervorging, oder bereits früher. Und ebenso wie das C. inodorum plenissimum sich seit vielen Jahren ohne Selection erhält, ebenso wird es voraussichtlich auch das neue C. segetum plenum machen können. Nicht aber der 22reihige Mais, der schon wenige Jahre nach dem Aufhören der Selection auf die alte Form zurückgegangen ist (S. 88). Bis jetzt habe ich nahezu ausschliesslich die Anzahl der Strahlen- blüthen im Endköpfchen des Hauptstengels als Merkmal der ganzen Pflanze benutzt, und in dieser Weise die mitgetheilten Zahlenreihen ermittelt und die Curven construirt. Es giebt aber, wie bereits er- wähnt, noch einen anderen Weg, um den individuellen Werth einer Pflanze zu bestimmen, nämlich den, dass man dazu das Mittel von möglichst vielen Blumen auf einem und demselben Individuum wählt. Hierbei kommen zwei Punkte in Betracht. Erstens die Verzweigungs- weise der Saatwucherblume, und zweitens der Einfluss der Abweichung des Individuums vom Mittel seiner Rasse. Die Verzweigungsweise ist bei Ohrysanthemum segetum die folgende. Der aus der Plumula hervorgegangene Hauptstamm trägt seine Aeste in einer doppelten Periode, sehr starke am Fusse, aus den Achseln der Wurzelblätter hervorgehend, und höher hinauf schwächere, deren Stärke nach oben zuerst allmählich zu-, dann aber wieder abnimmt. Beides sowohl in Bezug auf die Länge, als auf die Zahl und Stärke ihrer Nebenzweige. Diese Nebenzweige gehören somit der dritten Ordnung an; sie tragen nicht selten Zweiglein vierter und sogar Die Entstehung von Ohrysanthemum segetum plenum. 545 fünfter Ordnung. Im Juli blühen bei uns vorwiegend die Blumen zweiter, im August und September vorwiegend diejenigen dritter und vierter Ordnung. Im Laufe des Sommers und bei zunehmender Höhe der Zweig- ordnungen nimmt nun im Allgemeinen die Variabilität ab. Es werden sozusagen die Schenkel der Curve eingezogen; diese selbst wird enger. Dabei nimmt dann die Abweichung der einzelnen Individuen vom Mittel ihrer Rasse ab, und es tritt demzufolge dieses Mittel schärfer und klarer zum Vorschein. Und solches ist namentlich dort von Bedeutung, wo durch die scharfe Selection die Curven einseitig ver- schöoben sind, wie in Fig. 151 S. 537, und wo es eben fraglich bleiben kann, wie sich die Curven gestalten würden, wenn die Auslese nichts weiter gethan hätte, als nur die Individuen der neuen Rasse isolirt. Wir haben somit die Spätsommercurven der 13strahligen, der 21strahligen und der gefüllten Rasse für sich zu betrachten. Fangen wir mit der ersteren an. Die Curve dieser Rasse wechselte Anfang August zwischen 11 und 21 Strahlenblüthen als äussere Grenzen. Allmählich nahmen diese Zahlen ab, bis im September nur noch Köpfchen mit 13 und 14 Strahlen gebildet wurden. Im nächsten Jahre waren Ende Juli die Grenzen 10—19, im August aber 12—14. Die 21strahlige Rasse habe ich in dieser Richtung im Sommer 1898 untersucht und zwar an den zum Zwecke des Samentragens gesparten Individuen. Ich fasse die für drei Pflanzen gewonnenen Curven! in der folgenden Tabelle zusammen. Pflanze Blüthen Anzahl Min. Med. Max. A. Endblüthe 1 — 48 = 1% September 32 29 33 45 10. October 42 18 27 36 1. November 28 19 26 31 B. Endblüthe 1 — 35 — 1. September 36 24 28 36 10. October 33 16 22 27 1. November 23 15 21 25 C. Endblüthe 1 -_— 46 —_ 1. September 14 26 28 35 10. October 18 18 26 30 1. November 8 21 23 23 1 Over het periodisch optreden der anomalien op monstreuze planten. Kruid- kundig Jaarboek Gent. T. XI. 1899. 8. 57—58. DE VRIES, Mutation. I. 35 546 Experimentelle Beobachtung der Entstehung von Varietäten. Wie man sieht, ziehen sich die Zahlen allmählich in der Rich- tung des 2ler Gipfels zurück, diesen mehr oder weniger vollständig erreichend, und ohne jegliche Andeutung des 13er Gipfels der anderen Rasse. Die betreffenden Pflanzen gehörten also deutlich der 21strahligen Rasse an. | Solches war anscheinend im nächsten Sommer nicht mehr der Fall. Es ergaben die Spätsommerzählungen für fünf Pflanzen: Endblüthe Min. Med. Max. A 67 33 39 50 B 55 sl 42 50 C 51 37 47 54 D 50 33 öl 60 18% — 33 40 51 E 66 38 47 62 E’ —_ 32 43 52 D’ und E’ sind 6 Wochen später auf denselben Pflanzen gezählt als D und E. Die Pflanze E ist der in Fig. 151 8. 537 für 1899 mit x angedeutete Stammhalter. Die mitgetheilten Zahlen dürfen, in Verbindung mit den übrigen gemachten Zählungen, als ein Zurück- greifen auf den Gipfel 47 (= 13 + 34) betrachtet werden. Im nächsten Jahre (1900) lag der Gipfel der Seitenköpfchen noch höher. Ich führe die Zahlen für die drei, durch ihre Füllung sterilen, und für die vier nächstbesten, als Samenträger ausgewählten Exemplare an: Min. Med. Max. Steril 1. 12 87 100 10E 48 62 94 IT. 46 56 19 Samenträger 1. 47 63 76 10% 51 62 91 Il. 44 60 94 IV. 46 56 s6 Die gefüllte Rasse scheint somit den Gipfel ihrer Curve auf etwa 55 (= 21 + 34) zu haben. Und die Erreichung höherer Mittelzahlen scheint durch die Sterilität der besser gefüllten Pflanzen ausgeschlossen zu sein. Fassen wir jetzt das Ergebniss unseres Versuches kurz zusammen, so sehen wir, dass im Handel eine 2lstrahlige Rasse dessonst l3strahligen Chrysanthemum segetum vorkommt. Sie ist zwar nicht rein, kann aber leicht gereinigt werden und führt den Namen ©. segetum grandiflorum. Aus einem durch Seitenköpfchen mit Gefüllte Blumen und Blüthenkörbchen. 547 22 Strahlen aufgefallenen Exemplare von 1895 gelang es mir, durch Selection eine bis dahin nicht vorhandene ge- füllte Rasse zu bilden, das neue (©. segetum plenum (Taf. VII). Den Verlauf dieses Processes stellt die Fig. 151 auf S. 537 dar, in der x xxx die jedesmal als Samenträger gewählten Individuen anweisen. Das C. segetum plenum verhält sich, in Bezug auf die Füllung, genau so wie die gefüllten Handelssorten der übrigen Arten derselben &attung (C. inodorum, O©. indicum u. s. w.) Die neue Sorte wurde somit dadurch gewonnen, dass eine, in CO. segetum ygrandiflorum latente Eigenschaft zur Entfaltung gebracht wurde. $ 19. Gefüllte Blumen und Blüthenkörbchen. Der im vorigen Paragraphen beschriebene Versuch gestattet uns, uns eine Vorstellung darüber zu machen, wie die bei den cultivirten Compositen so sehr verbreitete Erscheinung der Füllung auch in den übrigen Fällen entstanden sein mag. Und sehen wir genauer zu, so finden wir fast überall eine bis in’s Einzelne gehende Uebereinstim- mung mit unserem Beispiel, wenigstens soweit es der Mangel an experimentellen Beobachtungen erlaubt. Allerdings giebt es einige abweichende Arten der Füllung, wie die Ausbildung von Nebenköpfchen (Cineraria), die Umbildung der kleinen gelben Scheibenblüthen in lange weisse Röhrchen (Pyrethrum, vergl. Fig. 155) u. s. w. Diese sollen hier aber ausser Betrachtung bleiben und können einstweilen als uneigentliche Füllung ausgeschieden werden. Der gewöhnliche Fall der Füllung bietet aber bei den verschie- densten Arten die grösstmögliche Uebereinstimmung mit den für Ohrysanthemum segetum beschriebenen Verhältnissen. Andeutungen einer Neigung zur Füllung kommen sowohl bei solchen Arten vor, von denen eine gefüllte Varietät in den Handelscatalogen nicht auf- geführt wird, als namentlich bei solchen, von denen die betreffende Form bereits im Handel ist. So beobachtete ich 1892 in meiner Cultur von Bidens grandiflora vereinzelte, mehr oder weniger vollständig in Zungenblüthen umgewandelte Röhrenblüthen. In anderen Fällen sieht. man die Variation nur, wenn man die Curven ermittelt. So fand ich für Ohrysanthemum coronarium, eine äusserst beliebte Garten- pflanze (Fig. 154), von der man die gefüllte Form längst kennt, die folgende höchst ungleichschenkelige Curve. Es war die einfache Varietät. Es wurden 130 Blüthen auf 25 Pflanzen einer einzigen 35* Aussaat gezählt, und zwar nur die Endblüthen des Hauptstammes und der Aeste erster Ordnung. Ich fand: Zungenbl.: 7 1 972107 SRE12 77137 A215 lese ie Körbchen: 1 8 0 2 2 12 25 19.01 15 1a oT Also auf dem einen Schenkel 18, auf dem anderen 87 Köpfchen und dazu eine sehr geringe Andeutung eines zweiten Gipfels auf der nächsten Zahl der Braun-ScHimper’schen Reihe: 21. Es liest auf der Hand, dass man aus diesen Pflanzen in ähnlicher Weise wie beim ©. segetum zu der gefüllten Varietät gelangen könnte. Auch wird es wohl gestattet sein, in den Nebengipfeln der Lun- wıG’schen Strahleneurven, soweit sie auf der positiven Seite des Hauptgipfels liegen,! im Allgemei- nen Aeusserungen einer latenten Eigenschaft zu vermuthen, welche, wenn man sie activ machen könnte, vielleicht die entsprechenden ge- füllten Varietäten liefern würde. Betrachten wir andererseits die gefüllten Varietäten der Com- positen, so sehen wir, dass der Bau ihrer Körbchen bis in alle Einzelheiten mit denen des Chrys- anthemum segetum plenum überein- stimmt. Stets ist die Füllung sehr variabel. Die schönsten \ Fälle bieten dem Auge keine Fig. 154. Chrysanthemum coronarium. köhrenblüthen, ähnlich wie die Fig. 153 C auf S. 540 für Ohrys- anthemum inodorum. Schaut man aber zwischen die Zungen, so findet man die kleinen gelben Röhrenblüthen in gar nicht geringer Menge. So bei Onalendula offieinalis und vielen anderen Arten. Solche Köpfchen pflegen steril zu sein, denn die Zungenblüthen sind weiblich. Und da gar oft sämmtliche Köpfchen einer und derselben Pflanze diesen Grad der Füllung erreichen, so sind dann gerade die besten Varianten keine Samenträger. Stets findet man aber noch zwei andere Typen, ! Deuten die Nebengipfel auf der negativen Seite vielleicht in ähnlicher Weise auf eine Varietät ohne Strahlenblüthen, der Varietät Discordea? (Vergl. S SS. 465 und Fig. 128 auf S. 466). Gefüllte Blumen und Blüthenkörbchen. 549 beide mit gelber Scheibe, sei es, dass diese rein ist (Fig. 153 A), sei es, dass sie zerstreute Zungen zwischen den Röhrchen führt, wie man solches namentlich bei Chrysanthemum indieum und Zinnia elegans so oft sieht. Auch die gefüllte Bellis perennis ist, falls aus Samen ge- zogen, in dieser Hinsicht sehr fluctuirend. Diese beiden Typen sind fertil und stellen somit die Samenträger der Varietät dar; liefern die Pflanzen mit Scheibenzungen (vergl. S. 541) ausreichenden Samen, so beschränkt man die Ernte auf sie; oft sind sie aber samenarm oder fast unfruchtbar. Diese gezwungene Wahl der Samenträger und die oft unabweis- lichen Schwierigkeiten der Selection sind die Ursache, weshalb die Samenproben von gefüllten Compositen so häufig nur zum Theil die gewünschten Typen liefern, wie solches schon längst bekannt! und auch jetzt noch der Fall ist (Ohrysanthemum coronarium bisweilen nur 50 %/,, Oentaurea Cyanus 40—50 °/,, Tagetes africana mit seltenen Aus- nahmen gefüllt, u. s. w.)? Viele gefüllte Varietäten von Compositen scheinen fast so alt zu sein, als die Gartencultur überhaupt (vergl. S. 129); nach den ältesten Beschreibungen waren der Grad ihrer Füllung und ihre Variabilität damals dieselben als wie jetzt. Schliesslich erwähne ich den Umstand, dass auch hier, wie sonst, nicht selten Knospen- und sectoriale Variation gefunden werden. Es möge genügen, von letzterer ein sehr schönes Beispiel anzuführen (Fig. 155), das ich der Freundlichkeit des Herrn Erxst H. KrELAGE in Haarlem verdanke. In ähnlicher Weise wie das Auftreten gefüllter Körbchen dürfte auch die Entstehung gefüllter Varietäten bei anderen Blumenpflanzen aufzufassen sein. Ich beschränke mich dabei auf die Füllung durch Umwandlung der Staubfäden in Blumenblätter oder die Petalodie der Staubgefässe, indem ich für die übrigen Arten der Füllung auf die berühmte Monographie GOoEBEL’s verweise.” Einzelne petalodische Staubgefässe kommen sowohl in den Cul- turen als im Freien gar nicht selten vor; sie sind zu bekannt, als dass es sich lohnen würde, Beispiele anzuführen. Sie bilden eine einseitige Variation, ihre statistische Curve ist eine sogenannte halbe, ı 2. B. Pyrethrum roseum, Dahlia, Chrysanthemum indicum, nach VERLOT, Produetion et fication des varietes. 1865. S. 83. ® Man vergl. die Handelscataloge von Verrch an Sons, London, BEnary Erfurt, Haase und Scamipt, ebendaselbst, Surron AnD Co., u. Ss. w. 3 K. GozseL, Beiträge zur Kenntniss gefüllter Blüthen, in Prınesuem's Jahrb. 2 wiss, Bot. Bd. 17. 1886. 'S. 207. 550 Experimentelle Beobachtung der Entstehung von Varietäten. sie deuten dadurch auf eine latente oder semilatente Eigenschaft hin.! Diese kann man versuchen activ zu machen, und gelingt solches,2 so darf man die Bildung einer gefüllten Varietät erwarten. Solche gefüllte Varietäten pflegen in derselben Weise variabel zu sein, wie diejenigen der Compositen. Untersucht man die Varietates plenae des Handels z. B. bei Olarkia pulchella, Clarkia elegans, Phlox Drummondi u. a., so findet man fast alle Zwischenstufen zwischen kugelig gefüllten Blüthen und solchen mit nur normalen Staubfäden. Im”Allgemeinen bemerkt man dabei, dass eine günstige Lebenslage die Füllung erhöht, wie das z.B. für Anthemis nobilis, für Arten von Fig. 155. Pyrethrum roseum, aus der Gärtnerei der Herren E. H. KrELAGE und SOHN in Haarlem (1899). In der einen Hälfte (der hinteren in A, der linken in B) ist das Körbchen durch Verlängerung der Röhrenblüthen „gefüllt“, in der anderen Hälfte „einfach“. A Ansicht; 3 Durchschnitt. Nareissus und andere Zwiebelgewächse seit langer Zeit bekannt ist.? Ferner giebt es auch eine gewisse Periodicität: bisweilen sind die allerersten, häufiger aber die späteren Blumen weniger gefüllt als diejenigen, welche sich in der üppigsten Blüthezeit entfalten. Diese Beobachtung ist den Züchtern wohl bekannt,* namentlich bei ver- 1 Deber halbe Galton-Curven als Zeichen discontinwirlicher Variation. Ber. d. d. bot. Ges. Bd. XII. 1894. S. 197. ? Was übrigens gar nicht stets der Fall zu sein braucht. Vergl. den Ver- such mit Ranunculus bulbosus in S 23 dieses Abschnittes. ® Linorey, Theory of Horticulture. 8. 333. * CArrıere, Production et fivation des varietes. 1865. S. 66 u. 67 (Oamelka alba plena, incarnata, Fuchsia u. Ss. w.). Gefüllte Blumen und Blüthenkörbchen. 551 schiedenen Sorten von Begonia, von denen man dann nur von den Herbstblumen Samen gewinnen kann. Die meisten gefüllten Sorten sind samenbeständig, auch wenn es sich um Holzgewächse handelt (z. B. Pfirsich- und Apfelblüthe), ! andere anscheinend nur wenig oder gar nicht (Prunus spinosa).” Für Dianthus Caryophyllus fand ich z. B. S0°/, angegeben,® und gefüllte Campanula-Sorten sollen stets einige einfache Exemplare geben. Bei den gefüllten Levkojen kann man je nach der Behandlung und der Samenwahl entweder auf 50°/,, oder — bei Topfeultur u. s. w. — bis 60 °/, gefüllter Exemplare rechnen.* Oft geht die Umwandlung der Staubfäden in Blumenblätter so weit, dass gar kein Pollen mehr gebildet wird. Man muss dann die Narben der gefüllten Exemplare mit dem Staube einfacher Blumen derselben Sorte befruchten oder von Insecten befruchten lassen. Die Rasse bringt dann alljährlich beide Formen hervor. So z. B. Papaver nudicaule aurantiacum ple- num, deren Samen in der Regel etwa 40—60°/, gefüllte Exemplare geben. Umgekehrt verhält es sich bei den gefüllten Petunien, deren Fruchtknoten missgebildet zu sein pflegen, welche aber einzelne Staub- fäden ausbilden. Mit diesen be- Fig. 156. Anemone coronaria „the Bride“. fruchtet man die Fruchtknoten Einerseits gefüllt, andererseits einfach. Aus . den Culturen der Herren E. H. KRELAGE einfacher Blumen, am besten nach are Castration. Die nach dieser Ope- ration gewonnenen Samen sollen etwa 25—40°/, gefüllter Pflanzen geben, um so mehr, je grösser die Sorgfalt ist, welche auf die Castration verwandt wird. Sectoriale und Knospen-Variation giebt es auch bei gefüllten Blüthen. Der Genfer Kastanienbaum (Aesculus Hippocastanum), der während vieler Jahrzehnte einen einzelnen Zweig mit gefüllten Blumen 1 VERIDOT, 1. e. 8..83. ?® Tbid. ®? Samencatalog von D. Sacas, Quedlinburg. 1890/91. (Dianthus Caryophyllus ce. fl. Margaritae, Neuheit 1889.) * CnuAr£, Culture pratique des Girofless. Nosse, Botan. Centralblatt. Bd. 32. 1887. S. 253. 952 Experimentelle Beobachtung der Entstehung von Varietäten. trug,! ist wohl das bekannteste Beispiel der letzteren, und für die ersten giebt unsere Fig. 156 einen interessanten Fall. Es ist eine Blume der rein weissen Anemone coronaria „the Bride‘“, welche ich, wie das Pyrethrum, der Güte des Herrn KrELAGE verdanke. Sie wuchs in einem Beete der einfachen Varietät; die Pflanze, welche sie trug, hatte ausserdem nur noch einfache Blumen. Zur einen Hälfte hatte sie nur Staubgefässe; es ist, wie man sieht, die vordere Hälfte in der Figur. In der anderen waren aber weitaus die meisten Staubfäden in schmale Blumenblätter umgewandelt, wie solches, bei der gefüllten Form, rings um die Fruchtknoten herum der Fall zu sein pflegt. Die einfache Varietät bietet häufig kleinere oder grössere Spuren von Füllung dar, und es ist den Herren KrELAGE und SoHn auch ge- lungen, daraus eine gefüllte Sorte herzustellen und in den Handel zu bringen. Eine sectoriale Variation wie die abgebildete wurde dabei im Laufe der Jahre nur dieses eine Mal beobachtet. $ 20. Die Entstehung von Linaria vulgaris peloria. Etwa zehn Jahre nach dem Erscheinen der ersten Auflage von Darwın’s Origin of species (1859) schrieb HormEIsTER am Schlusse seiner Besprechung der Pelorien Folgendes: ? „Einer der auffälligsten und merkwürdigsten Züge des Variirens der Pflanzen ist ohne Frage die Plötzlichkeit und Unvermitteltheit des Auftretens weitgreifender Abweichungen der Formenbildung von der gewohnten, wie sie in den zuletzt erwähnten Erscheinungen und ihnen analogen, sowie bei der Bildung der Monstrositäten im All- semeinen vorkommt. Nicht dadurch, dass kleine Differenzen von der gewohnten Entwickelung, die sämmtlich nach derselben Richtung hin liegen, Generationen hindurch sich summiren, kommt die neue Form zu Stande; sie tritt mit einem Schlage, vollendet in ihrer weiten Abweichung von der Stammform, in die Erscheinung.“ Dieser hochwichtige und ohne Zweifel durchaus richtige Aus- spruch beruht aber auch jetzt noch einfach auf dem Fehlen der Uebergangsformen und nicht auf directer Beobachtung. Hätte das Auf- treten der Pelorien allmählich stattgefunden, so dürfte man annehmen, dass auch die Zwischenstufen aufgefunden sein würden; da solches, trotz des verhältnissmässig häufigen Vorkommens der Monstrosität ı A. P. oe Canvorie, Physiologie vegetale. 1832. II. S. 479 und Arpn. DE CAnDoLLE, Geographie botanique. 1855. 1. S. 1080. Dieser Baum stand im Garten des Herrn Sarapın DE Bup£ unweit Genf. Der gefülltblüthige Ast wurde durch Stecklinge vielfach vermehrt. ® W. Hornmeıster, Allgemeine Morphologie der Gewächse. 1868. S. 564. Die Entstehung von Linaria vulgaris peloria. m ——— — Zn nicht der Fall war, so folgerte man, dass sie auch nicht da gewesen wären, dass die Entstehung somit eine unvermittelte sei.! Es leuchtet aber ein, dass die directe Beobachtung einzig und allein im Stande ist, den endgültigen Nachweis zu liefern. Und ferner, dass sie das Studium dieser merkwürdigen Erscheinung in ein neues Stadium überführen wird, indem einerseits die Art und Weise der Entstehung, und andererseits ihre äusseren Bedingungen oder rich- tiger Veranlassungen der Forschung zugänglich gemacht werden. Aus diesem Grunde habe ich mich bemüht, die Entstehung der Peloria aus der gewöhnlichen Form in meinem Versuchsgarten herbei- zuführen. Ohne Zweifel hängt das Gelingen eines solchen Versuches, wenigstens zum ersten Male, wesent- lich vom Zufall ab, und dieser lässt sich nur durch umfangreiche Culturen und möglichst abgewechselte Lebensbedingungen beeinflussen. Mir aber hat das Glück insoweit gedient, dass ich nach siebenjähriger Arbeit mein Ziel erreicht habe. In der fünften und sechsten Generation mei- ner Cultur trat die Peloria auf, und zwar unvermittelt. Zum richtigen Verständniss dieser Beobachtung schicke ich eine kurze c Fig. 157. A, B Linaria vulgaris. Darstellung der Sachlage voraus, in- <, D Pelorische Blüthen derselben. dem ich für die vollständige Zusam- menstellung der Literatur auf den folgenden Paragraphen und auf PenzıG’s Teratologie verweise.? Bekanntlich wurden die Pelorien von Linaria vulgaris? zum ersten ! Ueber Pelorien von Linaria, namentlich von L. spuria, vergleiche man H. Vöcatıng, Ueber Blüthenanomalien. Jahrb. für wiss. Bot. Bd. XXXI. Heft 3. 1893 und L. Jost, Blüthenanomalien bei Linaria spuwria. Biolog. Centralblatt. Bd. XIX. 1899. S.145. Ferner J. H. WAxkER, Over pelorien, Ned. Kruidk. Archief. 2. V. p. 1, Juli 1889 m. Pl.X. P. VuırLremis, Monstruosites chez le Linaria vul- garis, Bull. Soc. Se. Nancy. Dec. 1893 avec 1 Planche (T. 13. 1894. p. 33). W.and A. Bareson, On variations in the floral symmetry. Journ. Linn. Soc. Bot. Vol. 28. 1871. p. 381. ? O. Prnzıs, Pflanzen-Teratologie. Bd. II. 8. 195. ® Die Pelorien haben fünf Sporne: Peloria nectaria. Es kommt aber auch eine Peloria anectaria vor, deren sämmtliche Blüthen regelmässig sind, aber ohne Sporne. Vergl. Pexzıe, 1. c. und Verror, Production des varietes p. 90. Auch diese Varietät ist nahezu steril, mit seltenen Samen, aus denen aber wiederum die Peloria aneetaria erhalten wurde. 554 Experimentelle Beobachtung der Entstehung von Varietäten. Male im Jahre 1742 von ZIOBERG auf einer Insel unweit Upsala entdeckt und in den Amoenitates academicae von Linx& beschrieben.! | Sie wuchsen dort mit der gewöhnlichen Zinaria zusammen und bildeten eine sich durch Wurzelbrut vermehrende „constante“ Rasse. Sämmt- liche Blumen dieser Pflanze waren pelorisch ausgebildet (Fig. 158). Fig. 158. Linaria vulgaris peloria. Ein reichverzweig- Fig. 159. ter Stengel einer Pflanze der zweiten Generation. Aus Linaria vulgaris. Samen der ersten Generation von 1897 im Jahre 1898 Normal blühender Stengel. gekeimt und im August 1900 photographirt. Sämmt- liche Blüthen sind pelorisch. Lixx& beschrieb diese damals neue Form unter dem Namen Peloria, vom griechischen z&/wo, Monstrum. ! Amoen. acad. I. p. 55. p. 250 (1744). Vergl. Mogum-Taxpon, Pflanzen- Teratologie. 1842. 8. 170, und W. Horueister, 1. c. S. 563. Die Entstehung von Linaria vulgaris peloria. 555 Erst später entdeckte man, dass auch an der gewöhnlichen Linaria vulgaris von Zeit zu Zeit vereinzelte pelorische Biüthen gefunden werden. Auch wurden ausser dem ersten im Laufe der Jahre noch eine Reihe weiterer über die meisten Länder Europas zerstreuter Fundorte der echten Peloria entdeckt. Mehrere Forscher haben solche Pflanzen in Cultur genommen; sie erhielten sich dort constant und vermehrten sich durch die zahl- reichen Wurzelknospen. In den vereinzelten Fällen, wo die Exemplare anscheinend zu der einspornigen Form zurückkehrten, bleibt es un- sicher, ob zwischen den Wurzeln der Peloria vielleicht einzelne Wur- zeln der L. vulgaris mit übergepflanzt würden. Beschreibungen der Blüthen liegen so zahlreich in der Literatur vor, dass ich auf ihre Anführung oder Wiedergabe glaube verzichten zu dürfen. Die Fig. 158 giebt aber ein Bild unserer Pflanze, und zwar von einem sehr reich- lich verzweigten Exemplar. Zum Vergleich gebe ich in Fig. 159 eine normale Traube der Linaria vulgaris. Nach der übereinstimmenden Erfahrung aller Forscher sind die Blüthen der Peloria in hohem Grade steril. Der Pollen ist schlecht ausgebildet, aber auch der Fruchtknoten ist meist atrophisch. Jedoch nicht in solchem Grade, dass nie keimfähige Samen entstehen würden, wie einige Forscher meinen.! Denn es gelang bisweilen, solche Samen zu ernten. WILLDENOwW berichtet über einen Versuch, in welchem aus diesem Samen fast ausschliesslich reine Pelorien hervorgegangen sind.? Die Peloria, oder Linaria vulgaris peloria, zeichnet sich dadurch aus, dass sämmtliche Blüthen pelorisch sind. Freilich ist dieses Merkmal bedeutender fluctuirender Variation unterworfen, indem namentlich in der Zahl und der Ausbildung der Sporne viel Ab- wechselung herrscht. Normale einspornige Blüthen fand ich aber darunter nicht, obgleich ich seit 1894 jährlich einige Hunderte, in den besten Jahren mehrere Tausend pelorische Blüthen in meinen Culturen beobachten konnte. Neben dieser Peloria findet man, wie erwähnt, auf der gewöhn- lichen Linaria vulgaris bisweilen einzelne pelorische Bildungen, gleich- falls mit starker fluctuirender Variabilität (Fig. 160). Meist ist es nur eine einzige Blüthe auf einer ganzen Pflanze, und wiederholt sich die Erscheinung im Laufe des Sommers nicht wieder. Bisweilen fand ich auf derselben Pflanze zwei oder gar drei Pelorien, sowohl im ! Verror, Production et fixation des varietes, p. 90. ? pe Canporze, Physiologie vegetale. T. II. p. 692. Mit WiırLpexow’s Er- fahrung stimmt die meinige völlig überein. Vergl. S. 562. 556 Experimentelle Beobachtung der Entstehung von Varietäten. Freien als in meinen Öulturen, selten mehr. Oft bildet ein Indivi- duum, welches im ersten Jahre eine solche Verbildung zeigte, im. zweiten Jahre, trotz reicherer Verzweigung und viel reicherer Blüthe, keine einzige aus; oft aber auch wiederholt sich die Erscheinung. Die vereinzelten Pelorien sind an keine bestimmte Stellung gebunden, ! doch kamen sie bei mir vorzugsweise am höchsten Seitenzweige unterhalb der endständigen Traube vor. Ist das Vermögen, vereinzelte pelorische Blüthen hervorzubringen, allen Exemplaren der Linaria vulgaris inhärent? Oder giebt es zwei Rassen, eine ohne, und eine mit facultativer Pelorienbildung? Diese Frage scheint bis jetzt nicht untersucht zu sein. Aus den soeben angeführten Beobachtungen ergiebt sich, dass sie im Freien wohl nie sicher zu entscheiden sein wird. Denn das Fehlen der Verbildung an einzelnen Tagen oder in einzelnen Jahren beweist an sich nichts. Ich halte es für wahrscheinlich, dass beide Sorten existiren, und dass es Gegenden giebt, wo man auf der Linaria vulgaris nie diese Missbildungen findet. Mein Vaterland gehört aber nicht zu diesen. Wenn man auf Excursionen darauf Acht giebt, so findet man verhältnissmässig häufig einzelne pelorische Blüthen, und zwar Fie. 160. Linaria vulgaris an den verschiedensten Standorten. Als ich hemipeloria. Zweig einer nor- zu der Fig. 160 eine solche als Vorlage zum malblüthigen Pflanze mit einer Pnotographiren brauchte, bat ich meine Frau einzigen pelorischen Blüthe. stap ’ ’ Zandpoort, August 1900. mir eine solche in der hiesigen Gegend zu a Blume. „chen, und erhielt ich sie sofort. Das Ver- mögen, sie zu bilden, ist somit in unserem Lande weit verbreitet und offenbar erblich, wenn auch zumeist latent. Ob es hier und dort Fundorte ohne diese Eigenschaft giebt, weiss ich nicht. So lange nicht entschieden ist, ob es eine Linaria vulgaris apeloria giebt, werde ich die Pflanzen mit diesem Vermögen vorläufig L. vulgaris hemipeloria nennen (Fig. 160). Ich bezeichne als solche somit theils die Pflanzen, an denen einzelne Pelorien beobachtet wurden, theils aber auch ihre Nachkommenschaft. ! Vergl. Pexzie, 1. c. S. 195. Die Entstehung von Linaria vulgaris peloria. 557 In meinem Vaterlande wird auch die echte, vollständige Peloria (Fig. 155) von Zeit zu Zeit im Freien beobachtet. In den Floren finden sich einige wenige Fundorte aufgezählt. Ich selbst erhielt solche Pflanzen nur im Jahre 1574 und zwar von einer Stelle unweit Zandvoort; seitdem sind sie dort aber nicht wieder gefunden. In den letzten Jahrzehnten ist mir nur ein Fund bekannt geworden, dieser lag in der Nähe von Öldenzaal (1896). Ob an diesen ver- schiedenen Stellen die Peloria spontan, d. h. unabhängig von anderen Fundorten entstanden ist, weiss man selbstverständlich nicht, aber wegen der grossen Schwierigkeit der Samenbildung darf es ohne Zweifel als sehr wahrscheinlich betrachtet werden. Zu meinen Versuchen habe ich im Sommer 1886 Exemplare aus dem Freien in meinen Garten übergepflanzt. Ich wählte solche mit einzelnen pelorischen Blüthen und reinigte ihre Wurzeln möglichst sorgfältig von solchen Wurzeltheilen, deren Herkunft von der Hemi- peloria nicht sicher war. Die Pflanzen stammten aus dem Gooiland. Gleichzeitig sammelte ich auch die Linaria vulgaris mit Catacorolla, ! und erhielt von Herrn Dr. WARKER die dreispornige Varietät (vergl. & 8 S. 470). Diese drei Formen blühten im nächsten Sommer zu- sammen in meinem Garten. Die zweite Generation säte ich aus den 1387 gesammelten Samen im Frühling 1888; die Pflanzen blühten aber erst 1889, und ebenso 1890. Sie trugen neben den zahllosen einspornigen Blüthen im ersten Blüthenjahre eine einzelne, im zweiten aber zwei pelorische Bildungen. Die Samen sammelte ich 1889. Aus diesen erhielt ich die dritte Generation im Jahre 1890. Auch jetzt trat das Blühen erst im zweiten Jahre ein, und gab es unter einigen Tausenden von normalen Blumen wiederum eine pe- lorische. Von dieser sammelte ich die Frucht getrennt, sie lieferte mir hinreichenden Samen für die Cultur von 1892. In diesem Jahre habe ich zum ersten Male die Aussaat in einer Schüssel mit guter Gartenerde im Gewächshaus meines Laboratoriums vorgenommen. Bis dahin hatte ich einfach im Freien ausgesät; dazu bedarf man aber ein viel grösseres Quantum von Samen. Die Keim- linge wurden, sobald sich eine hypocotyle Knospe zu entwickeln anfing, einzeln in Töpfe mit stark gedüngter Erde ausgepflanzt, zunächst unter Glas gehalten und erst im Juni auf das Beet gebracht. Die Folge war, dass sie bereits im ersten Jahre blühten, und zwar sehr üppig. Es waren im Ganzen etwa zwanzig Individuen. Auf diesen ! Vergl. Kap. II. dieses Abschnittes $ 4 S. 432. 598 Experimentelle Beobachtung der Entstehung von Varietäten. sah ich Ende August eine einzige pelorische Blüthe. Ich habe dann im Herbst sämmtliche Pflanzen ausgerodet mit Ausnahme derjenigen, welche diese Pelorie trug. Diese Pflanze liess ich im nächsten Jahre völlig isolirt blühen, was aus zahlreichen reich verzweigten Stengeln sehr üppig stattfand. Sie bildete aber in diesem Jahre keine einzige pelorische Blüthe aus. Sie trug 13 ccm Samen, somit eine überaus reichliche Ernte. Von dieser säte ich einen kleinen Theil im nächsten Jahre, und als ich darunter die gewünschte Linaria vulgaris peloria gefunden hatte, den Rest theils 1896, theils 1899. Bevor wir zu der Besprechung dieses Hauptabschnittes der Ver- suchsreihe übergehen, fassen wir die Ergehnisse der Jahre 1886—1893 kurz zusammen. Sie umfassen vier Generationen, deren jede unter vielen Hunderten oder Tausenden von normalen Blüthen eine oder einzelne pelorische Blumen zeigte. Die Anomalie kehrte somit alljährlich zurück, sie beruht offenbar auf der Anwesenheit einer erblichen semilatenten Anlage, welche nur äusserst selten an’s Licht tritt. Der Versuch bestätigt die Folgerung, welche man aus dem öfteren Vorkommen vereinzelter pelorischer Blüthen im Freien ziehen durfte. Die Linaria vulgaris hemipeloria ist somit eine erbliche Form. Ob sie mit der Linaria vulgaris selbst identisch ist, oder eine Varietät oder Rasse von dieser darstellt, muss, wie bereits bemerkt, einstweilen dahingestellt bleiben. Von ihr stammt meine L. vulgaris peloria ab, wie ich jetzt beschreiben werde. Um diesen Theil meines Versuches leichter verständlich zu machen, schicke ich zunächst eine Uebersicht in Form eines Stammbaumes “ voraus. Dieser enthält die vier bereits beschriebenen und zwei weitere Generationen der Hemipeloria (1—6) und dazu die erste, zweite und dritte Generation der total pelorischen Pflanzen (I—III). Es bedeuten: kh und H: Linaria vulgaris hemipeloria. p: 3 „» peloria, erste (reneration. 12: ” h „no2: und 33, Wo es nützlich schien, ist diesen Buchstaben die Anzahl der Versuchspflanzen vorangesetzt, sei es in absoluten Zahlen, sei es nach Procenten. Für die fünfte und sechste Generation habe ich, wie man sieht, wiederholte Aussaaten in verschiedenen Jahren gemacht. Die Ziffer @ bedeutet, dass die betreffenden Exemplare dieselben waren, wie im vorigen Jahre, und zum zweiten Male Samen trugen. Endlich habe ich mit Z die überwinterte Pflanze von 1893 angewiesen, aus deren Samen zum ersten Male in diesem Versuche die L. vulgaris peloria hervorging, welche also die Mutterpflanze dieser Rasse war. Die Entstehung von Linaria vulgaris peloria. 559 Stammbaum über die Entstehung von Linaria vulgaris peloria. Generation | H und A = Hemipeloria; p und P = Peloria. II. 189° | 28 P+4h eleize . | a einjährig el 1898 75P+4h ı einjährig | rer IT. 1897 | sPp+5% 0) » al N 'ein- und zwei- | | jährig | — 6. | 1895, 1897 | 15% +2» 6h+i1p eildelee . mn mm m einjährig | | | | | 1895 1897 | | | | 5. | 1894, 1896, | 57A+1p h+1°,P h+1°,Pp einjährig | 1894 1896 1899 | | | A 1892 98 | H ‚ zweijährig | 3. 189091 | h | zweijährig | 2. 1888-89 h | zweijährig | | | 1. | 1886—87 | h ı zweijährig | Die weitere Beschreibung des Versuches fängt somit mit der ‘ Mutterpflanze der pelorischen Rasse ZH an (1893). Da ich selbst- verständlich bis dahin noch nichts Besonderes bemerkt hatte, säte ich von ihren Samen nur einen kleinen Theil aus. Es geschah dieses, wie später auch stets, in Schüsseln im Gewächshaus; die jungen Pflänzchen kamen in Töpfe mit gedüngter Erde, bis sie im Juni aus- gepflanzt wurden. Sie blühten demzufolge sämmtlich im ersten Jahre. Es blühten 58 Pflanzen; von ihnen waren 45 dicotyl und 13 tricotyl. Unter den Dicotylen gab es elf Exemplare, welche je eine, zwei oder drei pelorische Blüthen trugen; in einem Falle ersetzte eine solche 560 Experimentelle Beobachtung der Entstehung von Varietäten. Blüthe eine ganze Traube. Unter den Tricotylen fand ich solche Blumen nicht, doch wurden die meisten bereits Mitte August ent- fernt. Unter ihnen trat aber eine Pflanze auf, welche ausschliesslich pelorische Blüthen trug, und zwar auf mehreren Stengeln und deren Aesten. Sie trug keinen Samen trotz vielfacher Bestäubung, auch mit dem Pollen ihrer Nachbarn, wurde überwintert und blühte im nächsten Jahre wiederum reichlich, und zwar ebenfalls mit ausschliess- lich pelorischen Blüthen. Es liess sich aus diesem Versuche ableiten, dass die Peloria etwa in einem Verhältniss von 1—2°/, aus ihrer hemipelorischen Mutter hervorgegangen war. Um dieses Verhältniss genauer kennen zu lernen, habe ich dann 1896 von derselben Samenernte eine grössere Aussaat gemacht, und von dieser sämmtliche Keimpflanzen, etwa 1850 Stück, in Töpfe ausgepflanzt. Bereits Mitte Juli zeigten sich darunter einige total pelorische Individuen; sie wurden sofort aufgenommen und an einer entfernten Stelle des Gartens gepflanzt. Neben sie stellte ich von Zeit zu Zeit die weiteren Individuen der Peloria. Mitte August waren alle kräftigen Pflanzen in Blüthe und wurden sie ausgezählt. Es zeigten sich 16 total pelorische Pflanzen, und 1759 Exemplare mit gewöhnlichen Blumen, unter denen hier und dort vereinzelte pelorische Bildungen angetroffen wurden. Zusammen also 1775 blühende Exem- plare, von denen 1°/, (genauer 0-9°/,) Peloria waren. Für die Ernte wurden die besten Pelorien in Pergaminbeuteln eingehüllt und jede mit dem Blüthenstaub einer anderen Peloria be- befruchtet. Ferner wählte ich ein schönes hemipelorisches Exemplar, welches reichlich blühte, nachdem es früh eine einzige pelorische Blüthe gebildet hatte. Es gab bei Selbstbefruchtung! eine hin- reichende Ernte. Denselben Versuch habe ich 1899 noch einmal mit dem Rest der Ernte der Mutterpflanze H ausgeführt, und wie zu erwarten, mit demselben Erfolge. Ich erhielt etwas über 300 blühende Pflanzen, unter denen 3 total pelorisch waren. Also wiederum 1°/,. Unter den übrigen beobachtete ich im Laufe etwa zweier Monate und bei sehr reichlicher Blüthe eine nicht unerhebliche Anzahl vereinzelter pelorischer Blumen. Die drei beschriebenen Culturen bildeten somit die fünfte Gene- ration meines Versuches. Aus ihren Samen konnte also, sofern sie von hemipelorischen Pflanzen geerntet waren, die sechste Generation ! Diese gelingt bei Linaria vulgaris häufig nicht, bisweilen aber, nament- lich an sehr kräftigen Pflanzen, mehr oder weniger vollständig. Die Entstehung von Linaria vulgarıs peloria. 561 dieser Familie erhalten werden. Ich habe dieses theils 1895 aus den Pflanzen von 1894, theils 1897 aus denen von 1896 gemacht; die Samenträger hatten dazu in Pergaminbeutelchen geblüht und waren theils mit ihrem eigenen Pollen, theils unter sich künstlich von mir befruchtet worden. In beiden Fällen hat sich die Mutation wiederholt. Es sind aus hemipelorischen Vorfahren wiederum total pelorische Indivi- duen entstanden. Und zwar trotz der, durch die geringen Ernten bedingten, ganz kleinen Aussaaten. Im Jahre 1895 erhielt ich aus den Samen einer der S. 559 er- wähnten dicotylen Pflanzen 17 blühende Individuen, von denen zwei völlig pelorisch waren; ihre sämmtlichen Blüthen gehörten diesem Typus an. Im Jahre 1897 säte ich Samen einer sehr schönen, oben erwähnten hemipelorischen Pflanze von 1896 und erhielt nur sieben blühende Exemplare, unter diesen war wiederum eine total pelorisch, die übrigen einspornig. Ich komme jetzt zur Behandlung der Frage, ob die Mutanten sofort samenbeständig sind. Die Beantwortung dieser Frage stösst auf die äusserst geringe Fruchtbarkeit, die nahezu völlige Sterilität der Peloria. Mit ihrem eigenen Blüthenstaub ist fast nichts zu machen, unter sich künstlich bestäubt setzen weitaus die meisten Blüthen dennoch keine Frucht an. Tausende von Blüthen habe ich im Laufe einiger Jahre befruchtet, um im Ganzen wenig über hundert keim- fähige Samen zu erhalten. Unter diesen Umständen sind Fehler offen- bar äusserst schwer zu vermeiden und können mitunter einzelne Pollen- körner von entfernten Gruppen normaler Pflanzen durch Insecten oder beim Ausführen der Operation auf die Narben gelangen.! Auf unvoll- ständige Erblichkeit darf somit nur mit dieser Reserve geschlossen werden. Von den total pelorischen Pflanzen von 1896 bildeten nur drei in demselben Jahre Samen. Daraus gingen acht Pflanzen hervor, fünf einspornige und drei total pelorische. Ich habe dann die Peloria von 1896 überwintert und mir 1897, wie erwähnt, viele Mühe gegeben, sie unter sich zu befruchten. Jeden zweiten Tag befruchtete ich sämmtliche geöffnete Blumen mit dem Staube ihrer Nachbarn. Ich erhielt eine geringe Samenernte, grösstentheils taub (0-2 ccm), Es keimten etwa 100; einige Pflänzchen waren aber so schwach, dass sie bald zu Grunde gingen. 79 Exemplare gelangten zur Blüthe, die meisten von ihnen waren äusserst kräftig und reich an Stengeln. Es waren 75 völlig pelorische und 4 einspornige Pflanzen, welche ! Solche Befruchtungen geben einspornige Pflanzen, vergl. den zweiten Band. DE VRIES, Mutation. 1. 36 562 Experimentelle Beobachtung der Entstehung von Varietäten. sobald wie möglich entfernt wurden. Die ersteren zeigten sich in Bezug auf den Blüthenbau sehr variabel, brachten aber keine ein- spornigen Blüthen hervor. Sie bildeten ein Beet von über drei Quadratmeter, welches während der Monate Juli und August völlig mit üppigen Trauben von ausschliesslich pelorischen Blüthen be- deckt war. Von diesem Beete erhielt ich wiederum nur eine ganz kleine Ernte, welche aber nur zum Theil durch künstliche, zum Theil durch Insectenbestäubung bei isolirter Lage bewirkt war (0-3 ccm). Es keimten daraus 1899 wenige Samen, von denen 32 zur Blüthe ge- langten. Unter ihnen waren 28 total pelorisch und vier einspornig. Die Nachkommenschaft der Peloria war somit in den drei Ver- suchen, welche zwei Generationen umfassten, eine gemischte. Sie bestand im Ganzen aus 3+75 +28 = 106 total pelorischen und 5+4+4= 13 einspornigen (hemipelorischen) Individuen. Zusammen 119, mit etwa 10°/, Atavisten. Ebenso fand WILLDENOW (vergl. S. 555) die Peloria erblich, aber nur unvollständig. An dieser unvollkommenen Reinheit der Nachkommenschaft können immerhin, wie erwähnt, Fehler der Isolirung einen Antheil gehabt haben, jedoch kaum einen solchen, dass man nach diesen Versuchen auf eine völlige Constanz schliessen dürfte. Ueberblicken wir jetzt den ganzen dreizehnjährigen Versuch noch einmal, so finden wir: 1. Die Linaria vulgaris hemipeloria ist eine erbliche Rasse mit semilatentem Merkmal, welches sich unter Tausenden von Blüthen meist nur ganz einzelne Male äussert. Sie ist im wilden Zustande weit verbreitet. Aus ihr kann die Linaria vulgaris peloria entstehen, und zwar unter bis jetzt noch unbekannten Bedingungen. 3. Diese Entstehung ist eine Mutation, sie geschieht un- vermittelt und ohne sichtbare Vorbereitung; namentlich bricht in den Exemplaren, deren Samen die Mutation zeigen, das latente Merkmal gar nicht öfter oder stärker hervor, als sonst in der Rasse. 4. Die Mutation kann sich in den auf einander folgenden Generationen wiederholen. Ich beobachtete sie in zwei Jahrgängen, habe sie dann aber nicht weiter verfolgt. Die Mutation trat in etwa 1°/, der Individuen auf. Die Mutanten zeigen das betreffende Merkmal sofort in völliger Ausbildung, in allen ihren Blüthen, wenn auch mit erheblicher fluctuirender Variabilität. ID ag Die Entstehung von Linaria vulgaris peloria. 569 | Die Mutanten sind in hohem Grade, aber nicht völlig, samenbeständig. Der Grad der Erblichkeit betrug etwa 90°/,, vielleicht mehr. Wir wenden diese Ergebnisse zunächst an zur Erklärung des Vorkommens der Peloria in der freien Natur. Hier wurde sie von zahlreichen Botanikern und in den verschiedensten Gegenden gefunden. Aber soweit die Angaben in der Literatur es zu beurtheilen gestatten, stets nur vereinzelt und vorübergehend. Sie erhält sich während einer längeren oder kürzeren Reihe von Jahren durch ihre Wurzel- knospen, bildet vielleicht einen spärlichen Samen aus, kann sich aber mittels dieser nicht verbreiten oder einen neuen Standort gewinnen. Wo man sie findet, muss sie also autochthon sein, d. h. an Ort und Stelle entstanden. Ich denke mir, dass dieses Auftreten im Grossen und Ganzen überall denselben Gesetzen gehorcht, und dass es also in derselben Weise stattfindet, wie in dem einzelnen, von mir beobachteten Falle, d. h. also aus der Linaria vulgaris henvipeloria, und aus dieser jedes- mal plötzlich. Dazu stimmt erstens das sehr allgemeine Vorkommen dieser Rasse, und zweitens die Thatsache, dass Zwischenformen zwischen ihr und der völlig ausgebildeten Peloria von keinem Forscher erwähnt worden sind. Ist diese Auffassung richtig, so haben wir hier eine Muta- tion vor uns, welche nicht an eine Periode gebunden ist, sondern im Laufe der Jahrhunderte von Zeit zu Zeit, und, was die äusseren Ursachen anbelangt, gewiss unabhängig von den anderen Fällen und somit polyphyletisch auftritt. Dafür spricht auch, dass sie nicht ein Glied aus einer bestimmten Gruppe von Mutationen darstellt, wie die Unterarten von Draba verna, Viola tricolor und anderen bekannten Beispielen. Allerdings kommen auch andere Abweichungen von Linaria vulgaris ziemlich häufig vor, wie die Peloria anectaria und die Catacorolla, welche beide auch in meinen Culturen mehrfach an einzelnen Blüthen auftraten. Jedoch ist von einer Beziehung zwischen diesen und der beschriebenen Peloria nectaria nichts bekannt. Vergleichen wir unsere eeebiikse mit denjenigen, welche wir oben für Antirrhinum majus striatum (8 14 8. 504) beschrieben haben, so haben wir die Linaria vulg. hemipeloria offenbar als eine Halbrasse und die L. vulg. peloria wegen ihrer unvollkommenen Samenbeständigkeit als dem gestreiften Löwenmaul analog und also als eine Mittelrasse zu 36” 564 Experimentelle Beobachtung der Entstehung von Varietäten. betrachten. Beide varliren so zu sagen gegen einander hin, dabei die gemeinschaftliche Grenzlinie, sei es in einzelnen Blüthen (L. vulg. hemipeloria), sei es in einzelnen ganzen Individuen (L. vulg. peloria) überschreitend. Wir kommen jetzt zu der wichtigsten Aufgabe, zu der die mit- getheilten Versuche und Folgerungen Veranlassung geben, der Ver- gleichung dieser Mutation mit denjenigen von Oenothera Lamarckiana. Mehrere Züge haben diese beiden Vorgänge mit einander gemeinschaftlich, in anderen sind sie sich aber mehr oder weniger vollständig entgegengesetzt. Uebereinstimmung findet sich in der plötzlichen, un- vermittelten Entstehung, in dem wiederholten Auftreten, in dem Mutationscoöfficienten von etwa 1°/, (vergl. II. $ 14 S. 239), in der Vollendung des neuen Typus und dessen hohem Grade von Erblichkeit. Diese gemeinschaftlichen Züge berechtigen dazu, auch die Ent- stehung der Linaria vulgaris peloria als Mutation zu bezeichnen.! Aber es ist eine Mutation eigener Art. Die Umgestaltung er- streckt sich nicht auf alle Theile der Pflanze, sondern beschränkt sich auf die Blüthen; in der Jugend sind die beiden Typen gar nicht zu unterscheiden. Bei den Mutationen von Oenothera Lamarckiana fanden die neuen Eigenschaften ihre Analoga in den Art- merkmalen der verwandten älteren Arten; bei Linaria be- steht eine solche Analogie nicht. Im Gegentheil kommt das ! Bekanntlich hat Lınx# die Meinung ausgesprochen, dass die Peloria ein Bastard von der gewöhnlichen Linaria vulgaris mit irgend einer anderen un- bekannten Pflanze sei. Ihre sehr geringe Fruchtbarkeit sprach dafür. Doch hat man den zweiten der beiden Eltern nicht finden können, und somit die Meinung aufgegeben. Andererseits lohnt es sich, hier die Möglichkeit hervorzuheben, dass die L. vulg. hemipeloria ein Bastard sei von der L. vulg. (apeloria) und der L. vulgaris peloria. In diesem Falle wäre das Auftreten der letzteren aus der ersteren nicht als Mutation, sondern als Bastardspaltung aufzufassen. Die Peloria müsste dann anfangs aus der Apeloria, ohne Vermittelung durch die Hemipeloria, entstanden sein, und es würde sich die Aufgabe ergeben, diese Entstehung zu beobachten. Es ist aber eine reine Vermuthung, dass ein eventueller Bastard Apeloria x Peloria eine Hemipeloria sein würde; nach unseren bisherigen Kennt- nissen (vergl. den zweiten Band) würde man eher vermuthen, dass sie einem der beiden Eltern, und zwar der Apeloria gleich sein würde. Und so lange über diese verschiedenen Punkte keine directe Erfahrung vorliegt, scheint mir eine Discussion über diese Auffassung gegenstandslos. Auch ist es keineswegs sicher, dass die Linaria vulgaris apeloria überhaupt besteht oder je bestanden hat; die Varietät kann, namentlich in dieser Gattung, ganz gut älter sein als wie die Art. Die Entstehung von Linaria vulgaris pelorva. 565 neue Merkmal der letzteren als ,Varietät“ bei sehr zahlreichen anderen, theils gar nicht verwandten Pflanzen vor. Endlich tritt die Mutation der Linaria nicht mit anderen zugleich, örtlich und zeitlich be- schränkt auf, sondern vereinzelt und zerstreut über vielleicht das ganze (sebiet der Mutterform, und wahrscheinlich über die ganze Dauer des Lebens dieser Rasse. Die Mutationen von Oenothera Lamarckiana erforderten die Annahme einer bestimmten Prämutation, die Entstehung der Peloria verhält sich offenbar anders. Die Pelorien werden häufig als Beispiele von Atavismus be- trachtet.! Die Berechtigung dieser Auffassungsweise hängt offenbar zunächst davon ab, ob man diese Bezeichnung in einem engeren oder in einem weiteren Sinne nimmt. Der Atavismus ist der Rückschlag zu vorelterlichen Merkmalen; im engeren Sinne zu dem vollständigen Typus bestimmter Vorfahren, im weiteren bezieht er sich nur auf einzelne Eigenschaften. Nun ist es klar, dass die Sporne, welche ein Merkmal der Gattung Linaria sind, viel älter sind, als die Art Z. vul- garis; Vorfahren ohne Sporne und mit den sonstigen Eigenschaften der Art kann diese somit nicht gehabt haben; somit kann der L. vul- garis anectaria kein Platz in der Vorfahrenreihe zukommen. Viel älter ist die Symmetrie; reguläre L. vulgaris hat es unter den Vorfahren gewiss nie gegeben. Schliesslich widerspricht auch die Sterilität dieser Annahme. Will man die Pelorien als Atavismus auffassen, so heisst das somit weiter nichts, als die Behauptung, dass sie durch Verlust oder Latenz eines Merkmales aus der gewöhnlichen Linaria entstanden sind. Es handelt sich somit um eine retrogressive Mutation und es fragt sich dann, in wie weit die Unterschiede von den progressiven Mutationen, wie wir sie bei Oenothera kennen gelernt haben, darin ihre Erklärung finden. Diese ist nun eine so auffallend einfache, dass sie sich aus der oben gegebenen Zusammenstellung von selbst ergiebt. Hervorzuheben ist nur, dass die wichtigste Vorbedingung zu einem Latentwerden der Besitz des fraglichen Merkmales ist, und dieses erklärt, weshalb die Peloria im ganzen Verbreitungsbezirke der Art so wiederholt auftritt. Weder eine Prämutation, noch eine Mu- tationsperiode ist dazu erforderlich. Trifft der Verlust oder die Latenz (denn die innere Anlage geht offenbar nicht verloren, sondern wird nur inactiv) einzelne Blüthen, ! Vergl. hierüber L. Jost, Biolog. Centralbl. 1899. S. 149. rz 566 Experimentelle Beobachtung der Entstehung von Varietäten. so haben wir partiellen Atavismus, trifit er die ganze Pflanze, so haben wir die erbliche Peloria vor uns. In dieser Beziehung stehen somit die atavistischen Erscheinungen der gestreiften Blumen, der vielährigen Plantago (8 17 S. 514) und der pelorischen Linaria auf einer Linie. Sie sind retrogressive Vor- gänge, ein Zurückgreifen auf ältere, äusserlich verlorene, innerlich noch latent vorhandene Eigenschaften. Ihre Uebereinstimmung unter sich einerseits, und der Gegensatz zu den progressiven Mutationen der Oenothera Lamarckiana finden darin ihre ausreichende Erklärunse. $ 21. Erbliche Pelorien. Als Artmerkmal begegnen wir den Pelorien in der freien Natur äusserst selten. Ich nenne als Beispiele Mentha aquatica, deren Gipfel- blüthen nach Schımper’s Entdeckung stets regulär und also pelorisch gebildet sind,! und die Orchidee Uropedium Lindenü, welche als die pelorische Form von Cypripedium caudatum betrachtet wird.” Ebenso sind pelorische Rassen im Gartenbau höchst spärlich, und ist die gewöhnliche Gloxinia superba erecta mit ihren zahlreichen Farbvarietäten und Hybriden wohl die einzige mehr allgemein cultivirte und bekannte.° Die im vorigen Paragraphen beobachtete Entstehung der Linaria vulgaris peloria erlaubt also, uns in diesen ganz bestimmten Fällen eine Vorstellung über die Entstehung solcher Formen zu machen und diese Vorstellung, ohne den Boden der Thatsachen zu verlassen, bis in ihre Einzelheiten auszumalen. Doch giebt es auch hier noch Schwierigkeiten. Namentlich die sehr geringe Fertilität und die nicht völlige Constanz unterscheiden die Peloria von einer echten Art.* Auch würden die meisten Syste- matiker sie erst dann als gute Art anerkennen, wenn die gewöhnliche Linaria vulgaris ausgestorben wäre. ı A. Braun, Abh. d. Berliner Akad. 1859. $S. 112 und Delpino, Mem. R. Instit. di Sei. Bologna. 5. Serie. T. I. 1890. p. 269. ? A. BrocnIart, Ann. Se. nat. 3. Serie. T. 13. S. 113 (Tafel 2) und J. M. JansE, Maandblad voor Natuurwetenschappen. T. XIV. Nr. 3. 1887. S. 29. Uropedium Lindenii scheint in Colombien (Nordamerika) keineswegs selten zu sein, sie wurde dort 1843 von Lmpen entdeckt (Pescatorea, Iconographie des Orchidees par LinDEn. 1860.71 17): ® Auch die spornlosen Varietäten gewisser Arten von Viola und Tropaeolum sind wohl als Pelorien zu betrachten, vergl. die folgende Seite. * Es wäre für diese Fragen wichtig festzustellen, ob die erwähnten Mentha und Uropedium völlig samenrein sind, d.h. nie Atavisten ohne Pelorien bilden. Erbliche Pelorien. 567 Neben den genannten Beispielen giebt es eine sehr grosse Reihe von erblichen Pelorien, welche theils als seltene Anomalien auftreten, theils bekannte Culturrassen sind, welche die Abweichung regelmässig und in einer grösseren Anzahl von Exemplaren jährlich wiederholen.! In beiden Fällen ist aber, wie gewöhnlich so auch hier, die Aus- bildung der Anomalie in hohem Grade von äusseren Einflüssen ab- hängie. Wie im vorigen Paragraphen bereits hervorgehoben wurde, giebt es verschiedene Sorten von Pelorien, je nachdem die eine oder die andere Petalenform der Mutterart ın der Abart die ausschliessliche geworden ist. Bei den sporntragenden Arten unterscheidet man sie als Peloria nectaria und anectaria. Beide sind von äusserst geringer Fertilität, aber, soviel man weiss, erblich. Pelorien ohne Sporne kennt man namentlich von Linaria? und Antirrhinum,? ferner von Viola* und Tropaeolum? u. a. Erbliche pelorische Rassen giebt es ausser den genannten eigent- lich nur wenige. Die bekanntesten sind die Corydalis solida peloria, welche in den Versuchen Gopkrow’s sich durch eine Reihe von Gene- rationen erblich zeigte?” und Digitalis purpurea monstrosa (Fig. 161). Diese letztere, die pelorische Glockenblume, ist seit alten Zeiten eine beliebte Culturrasse und war zu wiederholten Malen Gegen- stand morphologischer Untersuchungen. Die ältesten Beschreibungen und Abbildungen rühren wohl von meinem Vorgänger G. VRoLIK her, dessen Präparate auch jetzt noch eine Zierde der Amsterdamer Samm- lung sind.® In unserem botanischen Garten ist die Sorte seitdem mehr oder weniger regelmässig cultivirt und auch jetzt noch vor- ! Ob es daneben auch Pelorien giebt, welche ihr Auftreten nur äusseren Einflüssen, ohne Mitwirkung einer entsprechenden inneren Anlage, verdanken, ist wenigstens sehr fraglich. 2 C. Bırror, Annotations a la Flore de France et d’Allemagne, eitirt in Bot. Zeitung. 1872. 8. 278. ® J. T. C. RATzegurs, Animadversiones ad peloriarum indolem. 1825. Taf. I, Fig. 64—76. * J. C. Costerus, Pelories dw Viola trieolor, Archiv Neerl. T. 24. S. 142. Taf. II; oe Canvorıe, Organographie. Pl. 45. 5 E. v. Freynoın, Ueber Pelorienbildung bei Tropaeolum aduncum. Botan. Zeitung. 1872. S. 725 und Tafel IX. ® D.A.Gopron, Mem. Acad. Stanislas. 1865 u. 1868 (Delphinium chinense u. a.). ? Gopron, l.c. 1868. S. 3—8, Culturen von 1862—68 mit über fünfzig pe- lorischen Pflanzen. ® G. Vrouık, Ueber eine sonderbare Wucherung der Blumen bei Digitalis purpurea, Flora 1844. S.1. Taf. Iu. II. — Derselbe, Fortgesetzte Beobachtungen über die Prolification von Digitalis purpurea. Flora 1846. 8. 97. Taf. I u. II. aber höchst variabel und nur zu häufig von anderen Monstrositäten begleitet. Vermehrung der Anzahl der Organe in den einzelnen Kreisen, Catacorollarbildungen und floripare Durchwachsung der Achse sind dabei die gewöhnlichsten. Auch sind diese in der Literatur am häufigsten beschrieben und abgebildet. Um schöne regelmässige, durchaus fünfzählige Blüthen zu haben, muss man die Gipfelblüthen der schwachen Seitentriebe kräftiger Pflanzen wählen (Fig. 161); diese sind fast nie durchwachsen, oft noch mehrzählig, aber nicht selten findet man unter ihnen Glocken mit fünf- lappiger Krone und fünf aufrecht wachsenden Staubfäden. Die Pelorien der Digitalis pur- purea sind stets endständig, sei es am Hauptstamme, sei es an den Zweigen. Ebenso bei den meisten anderen Scrophularineen”? und vielen anderen Familien, namentlich bei den Orchideen.” Die Beziehungen dieser Stellung zu der regelmässigen Blüthenform bedürfen noch der end- Fig. 161. Digitalis purpurea monstr0sa, gültigen Aufklärung, namentlich die ein Seitenzweig mit einer gipfelständigen \ . ö fünfzählieen Pelorie. Frage, ob es sich hier vorwiegend um bessere Ernährung oder um den Mangel der bestimmenden Ursache für die Symmetrieebene handelt. Seitenständige Pelorien sind zwar selten, fehlen aber nicht, wie die ! Aus der umfangreichen Literatur hebe ich hervor: W. F. R. Surınsar, Plantaardige Monstruositeiten. K. Akad. v. Wetensch. Amsterdam. 1873.02. R. 7. VI STar 1: P. Macnus, Digitalis purpurea. Sitzungsber. Prov. Brandenb. T. 22. 1880. 8.8. J. C. Costerus, Teratologische Verschynselen by Digitalis purpurea. Ned. Kruidk. Archief. 1885. Pl. VII. ANGEL GALLARDO, Fasciacion, Proliferacion y Sinantia. Ann. Mus. Nacion. Buenos Aires. T. VI. p. 37. Taf. 3. Derselbe: Sobre algunas ano- malias de Digitalis purpurea L. (mit ausführlichem Literaturverzeichniss). Ebendaselbst. T. VII. p. 37—12. ? EıcnLer, Blüthendiagramme, 1. S. 208. 3 PriTzEr in EnGLER u. Prantı's Natürl. Pflanzen-Familien: Orchid. S. 61. Vergl. ferner über Pelorien und Orchideen Penzıs, Mem. Soc. nat. Sc. Oherbourg. T. 29. 1894. S$. 79—104. Erbliche Pelorien. 569 Linaria vulgaris hemipeloria (Fig. 160 8. 556), Antörrhinum majus (Fig. 162) u. a. lehren. Wichtig ist auch der bis jetzt noch wenig berücksichtigte Umstand, dass bei Digitalis und einigen anderen die pelorische End- blüthe sich zu allererst öffnet, während sonst die Blüthenfolge der Traube eine normale, acropetale ist. Als zufällige Anomalien kommen Pelorien bei einer grossen Zahl von Pflanzen vor. Aeusserst zahlreich trägt sie eine seit einem Jahr- zehnt von mir cultivirte Pflanze von Scrophularia nodosa. Dagegen lieferten meine Culturen von Antirrkinum majus trotz zwölfjähriger Dauer und beträchtlicher Ausdehnung nur zwei pelorische Blumen, von denen eine in Fig. 162 4 abgebildet ist. Beide sassen in der Mitte ihrer Traube, also seitenständig. Gelegentliche Pelorien beobachtete ich ferner an Aesculus Hippocasta- num, Melampyrum pratense, Oro- banche Galüi,! Oytisus Laburnum u. & In meinen ÜÖulturen trat 1892 eine pelorische Blüthe an einer Traube von Lupinus luteus auf. Sehr bekannt sind auch die röhrenförmigen Pelorien der cul- tivirten Calceolarien. Untersuchun- gen über die Erblichkeit sind über diese und ähnliche Fälle Bar noch anzustellen. Wichtig ist in EIR,1CE Anrrkium me. +1 Ploisce dieser Hinsicht die Beobachtung Traube, August 1899. Zwei Zipfel der von Pnyarnson, dass die Pelorien Kran sl alt, dl ri aan and von Leonurus Cardiaca, einer ein- selben Traube jährigen Labiate, aus Samen sich wiederholen, und zwar sowohl aus den Samen der pelorischen, als auch aus jenen der normalen Blüthen. Zu den besten und wichtigsten Arbeiten über die Pelorien ge- hören diejenigen von PEYRITSCH, welche namentlich für die Labiaten eine fast vollständige Monographie bilden.” In seinen Werken ist auch der Einfluss der Lebenslage auf diese Anomalien, namentlich ! Vergl. auch W.F.R. Surınaar, Orobanche Galüi. Ned. Kruidk. Archief. BA 1717552330, »Raf. 18. ? J. Peyrııscah, Ueber Pelorien bei Labiaten. Sitzber. d. k. Akad. d. Wiss. Wien. Bd. 40, I. Abth. 1869. S. 343. Taf. I-VI und Bd. 42, 1. Abth. 1870. S. 497. Taf. I-VII. BY) Nicht isolirbare Rassen. für eine Reihe von Labiaten untersucht worden.! Ich entnehme diesen Aufsätzen das Folgende: Lamium maculatum und Galeobdolon luteum kommen bei Wien häufig mit Pelorien vor; sie bilden solche oft alljährlich auf derselben Pflanze, mitunter werden aber auch ein oder mehrere Jahre überschlagen. Eine sonnige Lage erhöht die Zahl der anomalen Blüthen, während zu dichter Schatten sie herabsetzt; dementsprechend tragen oft an einem und demselben Fundorte mehrere Arten von Labiaten (z. B. Calamintha u. a.) Pelorien, während dieselben Arten an anderen Stellen zusammen wachsend keine oder nur wenige regelmässige Blumen bilden. Verbessert sich die Lage einer Pflanze durch Abholzen einer Waldstelle, so trägt sie nachher die Pelorien in reichlicherer Menge, und ebenso rief das Verpflanzen an sonnige Stellen des Gartens die Anomalie zum Vorschein. Auch andere Verfasser, namentlich VUILLE- MIN,? schreiben der Lebenslage einen grossen Einfluss auf die Aus- bildung von Pelorien zu, vorausgesetzt, dass die erbliche Anlage dazu vorhanden sei. VII. Nicht isolirbare Rassen. $ 22. Trifolium incarnatum quadrifolium. Wenige Erfahrungen sind so geeignet, uns eine Einsicht in das Wesen der Artmerkmale zu geben, als das Misslingen eines Selections- versuches. Ich meine nicht eines praktischen Versuches, denn sehr oft täuscht den Praktiker das Resultat dadurch, dass es dem bereits vorher Vorhandenen nicht überlegen oder doch sonst für den Gross- betrieb ungeeignet ist. Bei der wissenschaftlichen Forschung fällt diese Rücksicht durchaus weg, denn sie gehört nun der angewandten Wissenschaft an. Es handelt sich einfach darum, zu erfahren, ob irgend eine im Voraus bestimmte Rasse erhalten werden kann oder nicht. Nach der Selectionstheorie sollte fast alles möglich sein. Fast alle Eigenschaften fluctuiren in dem Grade, der für die Zuchtwahl erforderlich ist. Ist die Variationsweite eine bedeutende, so schreitet die Selection, nach ihr, rasch voran; ist der Spielraum ein enger, so bedarf es einer längeren Reihe von Generationen. Und nimmt 1 J. Peyrııscn, Untersuch. über die Aetiologie pelorischer Blüthenbildungen. Denkschr. d. k. Akad. Wien. Bd. 38, 2. Abth. 1877. Mit Taf. I-VIIL Vergl. auch GoEBEL, Organographie. 1. S. 1638. 2a ea SM Trifolium incarnatum quadrifolium. Ha man dabei den bekannten, aber unbewiesenen Hülfssatz an, dass die AHuctuirende Variabilität in Folge des Selectionsverfahrens zunehme, so ist gar nicht einzusehen, weshalb in einem gegebenen Falle die Züchtung einer gewünschten Rasse nicht gelingen würde. Aber diese Betrachtungen sind nach meiner Ansicht auf die Lehre von der gewöhnlichen, fluctuirenden Variabilität zu beschränken; hier stimme ich gern der herrschenden Meinung bei. Anders verhält es sich in dem Reiche der Mutabilität. Hier entstehen die Arten, Unter- arten, Varietäten, Rassen u. s. w. durch Mutationen, deren Charakter darin liegt, dass eine bis dahin latente oder semilatente Eigenschaft activ gemacht wird. Es ist somit für eine gewünschte Mutation eine erste Bedingung, dass die fragliche Eigenschaft bereits latent oder semilatent da sei. Ohne dieses kann man, wenigstens beim jetzigen Stande der Wissenschaft, nichts machen. Und nur im Falle der Semilatenz können wir uns stets von der Anwesenheit der gewünsch- ten Eigenschaft überzeugen. Im Gartenbau geben die Züchter be- kanntlich fortwährend darauf Acht, ob sich irgendwo eine solche An- deutung erkennen lasse. ! Die Anwesenheit einer latenten Eigenschaft genügt aber nach meinen Erfahrungen an sich keineswegs als Ausgangspunkt eines glücklichen Selectionsversuches. Denn mancher Versuch misslingt, trotz vieljähriger Arbeit. Das würde allerdings nichts beweisen, da es ja oft durch Mangel an ausreichender Erfahrung bedingt sein kann. Und diese Erfahrung erzielt man eigentlich nur dadurch, dass man in einem entsprechenden Falle bereits einen gelungenen Züchtungsversuch gemacht hat. Mit anderen Worten, wenn man genau denselben Versuch bereits mit einer verwandten Pflanze, am liebsten mit einer anderen Art der- selben Gattung, durchführen konnte. Aus diesem Grunde habe ich mir mehrfach zur Aufgabe gestellt, solche Rassen durch Züchtung zu gewinnen, wie sie bei verwandten Arten derselben Gruppe entweder bereits im Handel sind, oder doch schon in meinen Culturen aufgetreten waren. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass die Aufgabe sich, je nach Umständen, das eine Mal mehr, das andere Mal weniger leicht lösen lässt, dass sie aber in vielen Fällen auf, wenigstens anscheinend, unüberwindliche Schwierigkeiten stösst. Einen sehr klaren und einfachen Fall bildet die Aufgabe, eine fünfhlätterige Rasse des Inkarnatklees (Trifohum incarnatum) her- zustellen, analog meinem, in 85 S. 435 beschriebenen fünfblätterigen 1 Vergl. den ersten Abschnitt $ 25 S. 133 und $ 2 dieses Abschnittes S. 416. Nicht isolirbare Rassen. Rothklee (Trifohum pratense). Diese Aufgabe habe ich mir 1894 ge- stellt; seitdem nalie ich mir die grösste Mühe gegeben, ihr gerecht "a zu werden, aber ohne Erfolg, bis ich schliess- lich, im Jahre 1900, die Sache habe auf- geben müssen. Sie gelingt nicht, wenigstens nicht mit meinem Material. Die Aufgabe war aller Anstrengung werth. Ich glaubte anfangs, dass ich den fünfblätterigen Rothklee künstlich gemacht, oder wie man wohl zu sagen pflegt, ge- schaffen hatte. Die Ausbildung meiner Theorie führte mich aber dazu, an der Richtigkeit dieser Meinung zu zweifeln; es wäre ja möglich, dass ich die schöne Rasse ganz fertig, aber nur in einem als solchen nicht kenntlichen Zustande im Freien auf- gefunden hätte. Aber seit dem Anfang jener Cultur waren damals schon acht Jahre vergangen, es war somit aussichtslos, darauf zurück zu kommen. Ich fasste so- mit den Entschluss, zu versuchen, eine neue fünfblätterige Kleeart zu gewinnen, und wählte den Inkarnatklee. Entscheidend für diese Wahl war namentlich der Um- stand, dass vier- oder fünfscheibige Blätter von dieser Pflanze in der Literatur nicht erwähnt sind,! dass sie also, wenn latent vorhanden, jedenfalls viel seltener sein würden, als beim Rothklee. Es sei mir gestattet, hier den unschätz- baren Werth von Pexzıe’s Teratologie dankbar hervorzuheben. Dieser liegt viel- ö leicht noch mehr auf der negativen, als auf ne ee ER der positiven Seite. Denn die hauptsäch- einzigen vierzähligen Blatte, lichste Literatur über eine gegebene Frage als Resultat eines sechsjährigen konnte man, wenn auch mit viel grösserem Züchtungsversuches. Aug. 1900. > ni n 3 Zeitverlust, auch früher wohl zusammen- bringen. Aber wenn man nicht Teratologe von Fach ist, scheint es 1 O. Penzıc, Pflanzenteratologie. Bd. I. 1890. S. 385, wo T. incarnatum gar nicht erwähnt wird. Trifolium incarnatum quadrıfolium. 573 mir unmöglich, ohne solche Hülfe zu der Ueberzeugung zu gelangen, dass über irgend eine Erscheinung auch keine einzige Erwähnung gemacht würde. Bei der Aufgabe, für rein wissenschaftliche Zwecke künstlich Rassen und Varietäten zu erzeugen, handelt es sich offenbar in erster Linie darum, zu wissen, ob eine fragliche Abweichung bereits be- obachtet wurde, und falls ja, ob sie selten oder häufig ist. Ich vertrete in diesem Buche die Ansicht, dass die häufigeren Anomalien erbliche Rassen mit oft hoher Erblichkeitsziffer (oft etwa 30—40 °/, oder mehr) darstellen, dass die selteneren aber die gelegentlichen Aeusserungen latenter bezw. semilatenter Eigenschaften sind. Auch diese sind in ihrem latenten Zustande erblich, und wenn sie sich hier und dort zeigen, weist dieses auf ein sehr verbreitetes Vorkommen hin. Wäre das Trifolium incarnatum mehrfach mit vierzähligen Blättern erwähnt worden, so würde die Möglichkeit vorliegen, dass auch von ihm eine erbliche fünfblätterige Rasse in der Natur vorhanden sei, wenn auch ebenso wenig vom gewöhnlichen Inkarnat- klee getrennt, als dieses beim Rothklee der Fall ist. Solches schien mir aber . durch Penzıe’s Riesenarbeit ausgeschlossen. Fig. 164. Trifolium incarnatum. Vierzählige Blätter, Mei Mei Ih das mittlere mit unvollkommener Abspaltung eines eıner Meinung nac Seitenblättchens. sind latente Eigenschaften häufig älter als die Arten, welche sie tragen. Im gegebenen Falle halte ich die Vierblätterigkeit für eine sogenannte atavistische Er- scheinung, und denke ich, dass das latente Vermögen so alt ist, als die ganze Gruppe der Kleearten mit ihren Dreiblättern (Trifolium, Medicago, Melilotus u. Ss. w.), somit älter als die einzelnen Gattungen dieser Gruppe. In vielen Arten mag das Vermögen, vierblätterige Blätter hervorzubringen, gänzlich verloren gegangen sein, denn von verhältnissmässig sehr wenigen Arten ist es in Penzı@’s Buch erwähnt worden. In anderen ist es aber bis auf den heutigen Tag geblieben. Sind die dreiblätterigen Kleeformen von Papilionaceen mit gefiederten Blättern abzuleiten, so sind ihre gelegentlichen mehrscheibigen Blätter atavistische Erscheinungen. Und die Richtigkeit dieser Auffassung zeigt sich in den viel selteneren Fällen, wo statt der gewöhnlichen mehrscheibigen Blätter in den betreffenden Rassen gefiederte auf- treten. Solches habe ich von Zeit zu Zeit bei meinem Trifolium pratense quinguefolium beobachtet (Fig. 165), und dasselbe wurde 574 Nicht vsolirbare Rassen. von anderen Autoren bei Trifolium minus und Trifolium repens gefunden. Vier- und fünfzählige Blätter fand ich selbst bei Medicago lupulina, während Braun sie für M. sativa erwähnt. Für T. pratense und T. repens sind sie allgemein bekannt, und WYDpL£r führt vierscheibige Blätter von Lotus major und Tetragonolobus biflorus an. Bei Medicago lupulina fand ich die Erscheinung bei wiederholter Aussaat erblich, wenn auch in geringem Grade; ich habe sie aber nicht weiter verfolgt. Doch kehren wir zu unserer Aufgabe zurück. Es fragt sich, welche Aussichten beim Anfang des Versuches vorhanden waren, und was man überhaupt von solchen Versuchen erwarten darf. Es sind namentlich drei Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Man kann gleich beim Anfange zufällig finden (vergl. $ 3 S. 424): 1. eine erbliche, an der fraglichen Anomalie reiche Rasse, also eine Mittelrasse ; 2. eine Halbrasse, mit semilatenter, sich nur bisweilen zeigender Anomalie; 3. eine gewöhnliche Pflanze der Species mit dem fraglichen Merkmal im latenten Zu- stande. Im ersteren Falle ist die Rasse von Anfang an fertig, man hat sie nur noch zu. isoliren. Im zweiten kann man sie vielleicht machen, im dritten ist die Aussicht darauf eine sehr geringe. no en Um das gegenseitige Verhältniss dieser Blatt. verschiedenen Fälle zu einander klarer zu machen, betrachten wir zunächst Trifolium. repens und T. pratense. An beiden Arten lässt sich die fragliche Er- scheinung beobachten, wie aus der gewöhnlichen Erfahrung und der Volksüberzeugung des sogenannten Glücksklees allgemein bekannt ist. Sucht man auf einem Kleefelde, auf einer Wiese, oder am Wege entlang, so findet man bekanntlich von Zeit zu Zeit ein einzelnes Vierkleeblatt. Achtet man regelmässig darauf, so bleiben sie selten, aber doch nicht so selten, wie man anfangs meinte. Ich traf fast jährlich welche an, mehrfach innerhalb kurzer Frist, als mir eine Bitte um ein solches Blatt gemacht wurde. Andererseits giebt es im Handel das fünfzählige T. repens atropurpureum, welches wegen seiner dunkelbraunen Blätter vielfach in Gärten cultivirt wird. Und von T. pratense habe ich in $ 5 die entsprechende Form ausführlich be- schrieben. Trifolium incarnatum quadrifolium. 575 Bisweilen findet man im Freien Pflanzen von T. pratense, welche zwei oder mehr vier- und mehrscheibige Blätter tragen. Ich fand eine solche im Jahre 1866 auf dem Gute Cronesteyn unweit Leiden, und später, 1886, ein anderes Exemplar unweit Loosdrecht. Das erstere hatte mehrere Vierkleeblätter, dazu auch 5—6scheibige. Ich habe es zwar gesammelt, aber nicht cultivirt. Das letztere bildete den Ausgangs- punkt meiner Rasse. Und nach den später gemachten Erfahrungen nehme ich an, dass ich in beiden Fällen die Rasse fertig im Freien vor- gefunden habe. Der herrschenden Betrachtungsweise gemäss ist ferner anzunehmen, dass die Rasse vermuthlich an Ort und Stelle neu gebildet worden war, oder wenigstens doch in nicht all zu grosser Entfernung. ! Ob man nun aus den seltenen Funden von vereinzelten Vierklee- blättern auch diese Rasse erhalten könnte, weiss ich nicht. Ich ver- muthe, dass solches bisweilen gelingen würde, bisweilen aber nicht. Werden spätere Versuche diese Meinung bestätigen, so wird man innerhalb derselben Art die beiden Rassen nachweislich neben einander haben. Vorläufig muss es genügen, die an anomalen Blättern reiche Rasse beim Rothklee und beim Weissklee, die das Merkmal nur semi- latent führende Rasse beim Inkarnatklee zu kennen. Zu der Beschreibung dieser letzteren gehe ich also jetzt über. Im Winter 1894/95 kaufte ich ein Kilo Samen vom gewöhnlichen Inkarnatklee, und säte davon einen Theil auf einem Beete von etwa 5 Quadratmetern. Es zeigten sich zwei tricotyle und eine tetracotyle Keimpflanze, welche sobald wie möglich auf ein besonderes Beet gepflanzt wurden, in der Hoffnung, dass gerade sie die gewünschte Abweichung zeigen würden. Diese Hoffnung begründet sich in den Prinzipien der Correlation zwischen verschiedenartigen Anomalien;? zeigt eine Pflanze in früher Jugend eine solche, so darf man erwarten, dass sie, leichter als ein beliebiges anderes Exemplar derselben Cultur, später auch andere Abweichungen hervorbringen wird. Im gegebenen Falle hat diese Erwartung mich nicht getäuscht, denn das tetracotyle Exemplar entwickelte im Laufe des Sommers ein vierscheibiges und ein fünfscheibiges Blatt. Solche wurden auf keiner anderen Pflanze gefunden, weder während der Öultur, noch als diese Ende Juli in voller Blüthe ausgerodet und genau ausgesucht wurde. Es waren etwa tausend Pflanzen. Die drei ausgewählten Pflanzen liess ich zusammen blühen und ! Also eine polyphyletische Entstehung, wie bei der Linaria vulgaris peloria. S. 563. ? Eine Methode, Zwangsdrehungen aufzusuchen. Ber. d. d. bot. Ges. Bd. XII. 1394. S. 25. 576 Nicht isolirbare Rassen. säte ihre Samen im April 1896. Ich hatte etwas über 600 Keim- pflanzen, sämmtlich mit nur zwei Samenlappen. In allen war das erste Blatt einfach, wie es bei den Kleepflanzen im Allgemeinen zu sein pflest (Fig. 1664). Das zweite und das dritte Blatt entfalteten sich im Mai; sie waren durchaus normal dreizählig, mit Ausnahme eines Exemplares, auf dem eine der drei Scheiben seitlich gespalten; wenn auch nicht ganz getheilt war. Die Form dieses Foliolums war ähnlich der Fig. 164 B abgebildeten. Von der ganzen Gruppe wurden etwa 250 Exemplare ausgepflanzt. — Die Aussaat hatte in Schüsseln stattgefunden; die jungen Pflanzen waren in Töpfe versetzt worden und wurden mit dem Erdballen Mitte Mai auf’s Beet gesetzt. Ende Juni, beim Anfang der Blüthe, zeigten sich an mehreren Exemplaren eine oder einige vierscheibige Blätter; die Anomalie war somit eine erbliche. Auch hatte die Scheibenverdoppe- lung durch die Se- lection bedeutend zugenommen, wie man aus den folgen- den Zahlen ersieht. Diese beziehen sich auf die Nachkommen Fig. 166. \ OR ER incarnatum. A Keimpflanze ua nor derjenigen Mutter malem Primordialblatt. 2—D solche mit zwei- bis drei- , scheibigem Primordialblatt. Die ersteren entstehen vor- welche im vorigen wiegend aus den a die letzteren aus den kleinsten Jahre die Anomalie Sa bereits gezeigt hatte. Ihre Zahl war 90; den Kindern der tricotylen Mütter fehlten die Vierkleeblätter zwar nicht, sie waren daran aber verhältnissmässig ärmer und wurden deshalb sofort beim Anfang der Blüthe ausgerodet. Von den übrigen waren etwa zwei Drittel (58 Exemplare auf 90) völlig normal, ohne Scheibenverdoppelung. Sie hatten im Mittel etwa 10 Stengel und 100 Blätter pro Pflanze. Die übrigen Pflanzen bildeten eine halbe Öurve! von der folgenden Zusammensetzung. Die erste Zeile enthält die Anzahl der vier- bis fünfscheibigen Blätter pro Pflanze; die zweite giebt an, auf wie vielen Individuen die einzelnen Anzahlen beobachtet wurden (Cultur von 1896): Anormale Blätter: 0 1 2 Individuen: 53.10012 | 3242586 9 4. 20:027517.02,.0B1" 1S4S. 428 und Ueber halbe Galton-Curven. Berichte d. d. bot. Gesellsch. 1894. _ Bd. XII. S. 197. Trifolium incarnatum quadrifolium. 577 Die 55 normalen Pflanzen wurden ausgerodet; von den übrigen fielen vier Exemplare weg, da sie zu schwach waren, und es blieben 2S, welche zusammen blühten, deren Samen aber für jede Pflanze und unter Angabe der Anzahl der von ihr getragenen vier- bis fünf- scheibigen Blätter geerntet wurden. Im März 1897 säte ich einen Theil dieser Samen in Schüsseln aus, und zwar für jede Mutter besonders. Es hatte dies den Zweck, zu ermitteln, ob in der Ernte der einzelnen Samenträger sich ein Unterschied im Gehalt an Erben, d. h. an solchen Exemplaren, welche die Anomalie wiederholen, finden würde. In den Schüsseln zeigte es sich, dass schon an dem ersten Blatte der Keimpflanze, dem so- senannten Primordialblatte, die Abweichung hier und dort entwickelt war. In der übergrossen Mehrzahl der Fälle war dieses allerdings normal, einscheibig, wie in der ganzen vorhergehenden (reneration. In einigen Fällen trug es aber zwei oder drei Blättchen (Fig. 166 B—C). Solches kam in der Ernte von 6 der 21 Pflanzen vor, von denen Samen ausgesät waren. Auf je etwa 300 Keimpflanzen hatten fünf Proben deren 1—2; nur eine hatte auffallend viele und zwar 14 auf 335 Keimlingen, also etwa 4°/,. Merkwürdig war, dass die Mutter dieser Samenprobe selbst nur zwei vierscheibige Blätter getragen hatte, und also durch Nichts eine so auffallend bessere Nachkommenschaft hatte erwarten lassen. Ueberhaupt fand ich zwischen der Anzahl der anormalen Blätter auf den Samenträgern und dem Procentgehalt ihrer Samen an Erben keine Beziehung. Die Pflanze mit neun vier- bis fünfscheibigen Blättern gab auf 300 Keimpflanzen keine einzige Anomalie. In der Thierzucht ist es allgemein bekannt, dass die sichtbaren Eigenschaften eines Individuums in Bezug auf den Werth für die Züchtung nur in zweiter Linie in Betracht kommen, trotzdem sie chronologisch die ersteren sind. Weit wichtiger für die Bestimmung des Werthes eines Zuchtthieres sind die Eigenschaften der Kinder, welche es bis dahin hatte. Nach der Wahl der Keimpflanzen wurden im Juni 1897 auf das Beet die 14 Erben der Mutter mit 4°/,, und ferner sieben der sonst besten Pflanzen ausgepflanzt. Die letzteren bildeten sehr wenig, die ersteren O—1, in drei Fällen aber 9—9 und 4 vier- bis fünfscheibige Blätter pro Pflanze. Ein Fortschritt war also in dieser Beziehung dem Vorjahre gegenüber nicht bemerklich. Ebenso wenig fand sich ein wesentlicher Fortschritt in der Ernte jenes Jahres. Der Procentgehalt an Erben unter den Keimlingen schwankte 1898 zwischen 1—4°/, und erreichte in einem Falle 6 °/,. 37 DE VRIES, Mutation. I]. 578 Nicht isolirbare Rassen. Dagegen hatten jetzt alle (19) untersuchten Mütter wenigstens eine, meist aber zwei oder mehr Keimpflanzen mit verdoppeltem Primordial- blatte. Eine Beziehung zwischen diesen Erbziffern und der Anzahl der vier- bis fünfscheibigen Blätter auf den Mutterpflanzen während der Blüthe gab es auch dieses Mal nicht. Ausgepflanzt wurden 227 Exemplare, von denen während der Blüthe die meisten völlig normal waren. Ich ermittelte die folgende halbe Curve (1898): Anzahl der mehrzähligen Blätter pro Pflanze: 0.1220. 3004 09 Individuen: en... SSR 2 IR Also etwa 20°/, Individuen mit der erblichen Anomalie in einem bis fünf ihrer sämmtlichen, etwa 100 pro Pflanze zählenden Blätter. Die Verhältnisse waren somit ungünstiger als im Vorjahre. Für diese Cultur hatte ich theils normale und anormale Keim- pflanzen der besten Mutter, theils anormale der übrigen Mütter aus- gepflanzt. Bei den Zählungen während der Blüthe ergab sich zwischen diesen drei Gruppen kein merklicher Unterschied. Ascidienbildung wurde sowohl an den Keimpflanzen, als auch im späteren Leben beobachtet; es deutet dieses wiederum auf eine Cor- relation der verschiedenen latenten Eigenschaften hin. Im Sommer 1898 bildeten 41 auserwählte Pflanzen ein aus- reichendes Samenquantum aus. Für jede dieser Proben ermittelte ich im nächsten Frühling den Gehalt an Keimpflanzen mit zusammen- gesetztem Primordialblatt, und berechnete diesen in Procenten. Ich fand für die Ernte von 1898: Procente an Erben: 0 & 16.2.0237 40.5, 82 110 215,16, 2000 9797 Mütter: . 12,1 904 ea 1 Also ein bedeutender Fortschritt, den man sofort sieht, wenn man diese Zahlenreihe mit den oben für die Ernte von 1897 gegebenen Werthen (1—4 und 6°/,) vergleicht. Und solches trotz des Rück- schrittes im Gehalt an vierzähligen Blättern auf den Mutterpflanzen. Im Frühling 1899 wählte ich nun für das Auspflanzen aus- schliesslich Keimlinge mit dreizähligem Primordialblatt aus (vergl. Fig. 166C) und zwar nur von den vier Müttern mit 15—24°/, Erben. Zur Zeit der Blüthe erfüllte sich aber meine Hoffnung nicht. Mitte Juli gab es zwar unter 120 reich verzweigten blühenden Pflanzen 45 °/, ohne Anomalie, 27°/, mit je einem einzigen anormalen Blatte und 28°), mit je 2—4 vier- bis fünfscheibigen Blättern. Also 55°/, Erben gegen 20°/, im vorigen Jahre, und somit ein merklicher Fortschritt. Trifohium incarnatum quadrifolium. 579 Aber in Bezug auf die Bildung von Blättern mit mehr als fünf Scheiben blieb meine Hoffnung unerfüllt. Solche erhielt ich, trotz wiederholten, fleissigen Suchens nicht. Und ebenso wenig In- dividuen, welche reich an Vierkleeblättern sein würden, denn es gab deren nicht mehr als vier pro Pflanze. Aus diesen Gründen habe ich dann die Aussicht aufgegeben, aus diesem Material eine an Vierkleeblättern reiche Rasse, entsprechend meinem Trifolium pratense quwinquefolium, zu gewinnen. Es fällt in diesem Versuche auf, dass zwischen dem Fortschritt der Anomalie auf den erwachsenen Pflanzen und demjenigen auf den Keimpflanzen ein anscheinend ganz irrationelles Verhältniss besteht. Denn dem Reichthum an mehrscheibigen Primordialblättern entspricht die Armuth an späteren Vierkleeblättern durchaus nicht. Dieses Missverhältniss hat mich zu der Entdeckung einer äusserst merkwürdigen Beziehung zwischen der Grösse der Samen und der Variabilität geführt. Denn die kleinsten Samen sind diejenigen, welche am zahlreichsten die zu- sammengesetzten Primordialblätter enthalten. Die kleinen Samen keimen etwas später als die grösseren, auch liefern sie schwächere Pflänzchen. Es war mir nun wiederholt auf- gefallen, dass die Wahl der schönsten Erben unter den Keimpflanzen mehrfach dadurch erschwert wurde, dass viele Exemplare mit zu- sammengesetztem Primordialblatt zu schwach waren, um ausgepflanzt zu werden, oder doch bald nach dem Versetzen eingingen. Ferner fiel mir auf, dass die Keimpflanzen einer Schüssel nicht alle zu der- selben Zeit beurtheilt werden können. Anscheinend keimen die Pflänzchen sehr regelmässig und zu Hunderten entfalten sie in der- selben Schüssel gleichzeitig ihr erstes Blatt. Sodann werden sie ge- zählt und, sofern dieses Blatt einfach ist, in der Regel alle ausgezogen. Die gesparten sind dann meist schwächer, niedriger, etwas später erwachsen. Mehrere haben das erste Blatt noch nicht entfaltet, und unter diesen findet man, wenn man die Prüfung nach einigen Tagen wiederholt, die meisten der gewünschten Erben. Sodann habe ich mich durch einen einfachen Versuch von der Richtigkeit dieser Folgerungen überzeugt. Es kam ja nur darauf an, die grossen und die kleinen Samen in einer Probe auszusuchen und getrennt zu säen. Aber da es zwischen beiden gar keine Grenze giebt, musste man im Voraus wissen, wie viel Samen als die kleinsten auszuscheiden seien. Und dieses konnte nur durch den Gehalt an Erben, d. h. an Samen mit zusammengesetztem Primordialblatt ge- schehen. Ich wählte daher eine Samenprobe, von der ich den Gehalt mx [1 580 Nicht vsolirbare Rassen. an Erben bereits bestimmt hatte. Dieser war 15°/,, die Probe war von einem einzigen Samenträger geerntet. Um sicherer zu gehen, trennte ich sie in drei Partien: kleine, mittlere und grosse. Es waren 217 Samen, von denen 17 nicht keimten. Es keimten: Anzahl der Scheiben des Primordialblattes 1 2 3 2—3 Kleine Samen 31 g 16 12.5) Mittlere Samen 50 2 1 Wo) Grosse Samen ss 2 1 NO) Zusammen 169 13 18 yon, Man ersieht hieraus, dass die „Erben“ fast ausschliesslich in den kleinsten Samen zu finden sind. Die grossen Samen hatten mit einer einzigen Ausnahme (welche ein Erbe war) innerhalb 14 Tagen nach der Aussaat, im Mai, ihr Primordialblatt entfaltet; die mittleren Samen mit Ausnahme von 2 Erben und zwei normalen gleichfalls. Von den kleinsten Samen keimten 22 normale Pflänz- chen in der genannten Zeit, die neun übrigen undalle25 Erben brauchten zur Entfaltung des ersten Blattes drei Wochen.! Es leuchtet jetzt ferner Fig. 167. Trifolium incarnatum. Monströse Keim- ein, dass der procentische pflanzen aus den kleineren Samen. 4, B, Dmit Gehalt einer Samenprobe an 2—4 Primordialblättern, C mit einem verdoppel- 5 5 ten Blatt mit breitem, flachem Blattstil. Am Primordialblatt kennt- lichen Erben nicht einfach von dem Grade der Fixirung der Varietät abhängt. Er hängt ja wesentlich von dem Gehalt an kleinen Samen ab. Dieser aber hängt selbst wiederum von der Grösse der Ernte ab. In den 41 Proben der Ernte von 1898 gab es acht Proben mit 8—27 %/, Erben; diese Proben umfassten 0-3 bis 1-5 ccm Samen. Die übrigen Proben hatten 2—5 ccm Samen, und ihr Gehalt an Erben wechselte nur zwischen 0—5°/, ab. Es brachten somit die schwächeren Individuen, welche eine geringe Ernte gaben, die grösste Anzahl von „Erben“ in ihren Keimlingen. ! Auch bei den Levkojen haben die Samen, welche zu gefülltblüthigen Pflanzen werden, und jene, welche später einfach blühen sollen, bekanntlich un- gleiche Keimgeschwindigkeit. Samenuntersuchungen inconstanter, oder wie man zu sagen pflegt, „noch“ nicht fixirter Varietäten sind wohl überhaupt noch eine Fundgrube neuer Entdeckungen. Trifokum incarnatum quadrifolwum. 581 Ich habe mit der Ernte von 1899 den erwähnten Versuch wieder- holt, und zwar mit den Samen von vier verschiedenen Müttern. Da ich aber den Gehalt jetzt im Voraus nicht kannte, fiel der Unterschied nicht so bedeutend aus. Die grossen Samen gaben 2—4, die kleinen 3—13°/, Erben. Im Ganzen wurden die Keimpflanzen von 2758 grossen und 617 kleinen Samen gezählt. Es drängen sich bei der Besprechung dieser Versuche zwei Fragen auf. Erstens, lässt sich der Ort ermitteln, wo die kleinen Samen an der Pflanze vorwiegend entstehen? Und zweitens, werden die Keime der kleinen Samen vielleicht besser ernährt, erhalten sie z. B. ebenso viele Nährstoffe zugeführt, als die grösseren Keime, müssen sie diese aber, wegen des engen Raumes, in anderer Weise ver- werthen?! Indem ich diese Fragen für das weitere Studium empfehle, be- merke ich nur, dass beim Inkarnatklee unter den kleineren Samen viel zahlreichere monströse Exemplare gefunden werden, als unter den grösseren. Die letzteren sind meist fast alle durchaus normal entwickelt. Die kleinen Samen bringen aber oft Pflänzchen mit über- zähligen Samenlappen, oder mit zwei bis mehreren einfachen Primordial- blättern (statt eines einzigen) oder mit Gabelungen der Achse, Blatt- symphysen und sonstigen Missbildungen hervor (Fig. 167). Leider hält es meist schwer, solche Individuen am Leben zu erhalten und zur Blüthe zu bringen. Ueberblicken wir zum Schluss noch einmal unseren ganzen Versuch. Durch die Wahl von tricotylen und tetracotylen Keimlingen liess sich, den Correlationsgesetzen entsprechend, eine Pflanze mit Vier- kleeblättern auffinden. Diese Anomalie ergab sich als erblich und erhielt sich bis jetzt in sechs Generationen (1895—1900). Sie liess sich durch Selection verbessern, jedoch innerhalb sehr enger Grenzen. Pflanzen mit mehr als fünf Scheiben auf einem Blatte entstanden bis jetzt nicht, ebenso wenig Individuen mit zehn oder mehr vier- bis fünf- scheibigen Blättern. Und unter den Samen sind es fast nur die „kleinen“, welche Keimlinge mit zusammengesetztem Primordialblatt enthalten. Namentlich aber entstand das, nach Analogie mit Trifolium pratense guinguefolium gewiss mögliche, an Vierkleeblättern reiche „T. incarna- tum quwinquefolium“ nicht. ? ! Bei den Levkojen entstehen nach Cnart, Culture des Giroflees, die Samen für die gefülltblüthigen Exemplare in grösserer Menge in der unteren Hälfte der Schoten der kräftigsten Trauben, als sonst auf der Pflanze. ?2 Ebenso verhält es sich gewiss in vielen anderen Fällen. Bisweilen gelingt es, aus gelegentlichen Anomalien erbliche, an der betreffenden Abweichung reiche 582 Nicht isolirbare Rassen. $ 23. Ranunculus bulbosus semiplenus. Gefüllte Blumen sind bei den Hahnenfüssen eine gewöhnliche Erscheinung.! Sie kommen sowohl bei den cultivirten Ranunkeln (R. asiatieus) als auch bei mehreren wildwachsenden Arten vor. Die Füllung ist theils ‚ n 7 eine vollständige, => a. N durch Petalomanie z KR | bedingte, wie sie für “ ww. Ramumeulus acris auf E I T\ S. 137 in Fig. 40 abgebildet wurde, theils eine mehr oder weniger unvollstän- dige, wenn sie auf Umwandlung einer schwankenden An- zahl von Staubge- )gr fässen in Blumen- blätter beruht (R. acrıs, R. auricomus, R. Philonotis, R. re- pens u. S. W.). Bei Ranunculus bulbosus, dem knolli- gen Hahnenfuss, sind die Stamina häufig Fig. 165. Ranuneulus bulbosus semiplenus. A die Knolle, (zum Theil oder alle) 4 und 4’ ihre Blätter, in deren Achseln die blühenden In Petalen umgewan- Stengel S stehen. EZ Endblüthe des Hauptstammes. 8’ Se- delt, so dass dicht eundärblüthen, theilweise abgebrochen. 7 Tertiärblüthen. = e a Vergl. 8. 591. gefüllte Blüthen ent- stehen.” Solche sind von verschiedenen Autoren beschrieben worden.” In der Umgebung Rassen heranzubilden; in anderen Fällen wiederum nicht. So habe ich mich während einiger Jahre vergeblich bemüht, aus der gelegentlich auftretenden Polycephalie von Papaver commutatum eine Form mit so schönen Kränzen zu erzeugen, als sie bekanntlich das Papaver somniferum polycephalum bietet (vergl. Fig. 27 8. 98). ! Vergl. Pexzie, Pflanzen-Teratologie. Bd. I. 8. 181—189. ® Ibid. S. 185. Fasciirte Stengel mit verbänderten Blüthen kommen bei R. bulbosus auch in hiesiger Gegend nicht gerade selten vor. ® Vergl. Ranumeulus bulbosus Aleae von Neapel, beschrieben von TERRACCIANO, N. Atti. d. R. Instit. Napoli. 1895. Vol. 8, Nr. 7. Ranunculus bulbosus semiplenus. 583 von Amsterdam fehlt, soweit mir bekannt, diese Varietät. Dagegen findet man gewöhnlich, in sandigen Gegenden, wo die Pflanze sehr häufig zu wachsen pflegt, Blüthen mit in geringem Maasse erhöhter Anzahl von Blumenblättern. In solchen abweichenden Blüthen sieht man meist sechs, selten sieben, und noch seltener mehr Petalen; mehr als 10—12 fand ich bis jetzt äusserst selten. Es sind meist gewöhnliche Blumenblätter, bisweilen kommen aber auch viel schmälere und kleinere vor, welche offenbar durch Umwandlung der Staubblätter gebildet wurden. Diese Umwandlung ist oft nur eine theilweise, die bekannten Zwischen- bildungen darbietend. Die verbildeten Staubgefässe gehören den äusseren Kreisen an, sind aber nicht noth- wendiger Weise die äussersten, auf die Petalen zunächst folgenden. ! Das Vermögen der Füllung ist somit in den wildwachsenden Pflanzen der fraglichen Art in unserer Gegend in semilatentem Zu- stande vorhanden. Ich nenne sie somit in dieser Beziehung eine Halbrasse, im Gegen- satz zu der, mir nur aus der Literatur be- kannten, normal gefüllten Rasse. Offenbar sind beide durch dieselbe Eigenschaft gekenn- zeichnet; diese ist aber in der einen activ, in Fig. 169. Ranunculus bul- bosus semiplenus. Eine Blüthe der anderen latent oder semilatent. Es schien mir eine wichtige Aufgabe, zu untersuchen, ob es gelingen würde, aus der Halbrasse die gefüllte Rasse durch Züchtung zu gewinnen. Der in diesem Werke vertretenen Ansicht nach muss solches möglich sein, es braucht aber nicht bei jedem Versuche zu gelingen. Wenn es aber gelingt, muss die mit 31 Blumenblättern (theil- weise petalodischen Staub- blättern). Die einzige auf 4425 Blüthen: Sie fand sich auf einem quaternären Zwei- ge meiner Cultur im October 1892. Vergl. die Zahlenreihe auf S. 588. Umwandlung plötzlich stattfinden, und also, unter gewöhnlichen Culturbedingungen, im Laufe weniger Jahre sich völlig zeigen. So muss nach meiner Ueberzeugung im Freien von Zeit zu Zeit die gefüllte Sorte entstanden sein, so würde auch vielleicht, bei genügender Ausdauer, die hiesige Halbrasse sich umbilden lassen. Diese Umbildung aber kann nicht einfach das Resultat sorg- fältiger Züchtung sein. Sie würde eine Mutation darstellen. Ueber ihre Ursachen wissen wir ebenso wenig, als über die Mittel, sie ! Vergl. GoEBEL, Jahrb. f. wiss. Bot. Bd. XVII. S. 217—219. 584 Nicht isolirbare Rassen. künstlich herbeizuführen. Die Mutationen zeigen sich bekanntlich in Züchtungsversuchen sowohl als im Freien nicht all zu selten, aber bis jetzt hängt ihr Eintreten vom Zufall ab ($ 10 und 11, S. 476—482). In meinem Versuche, der sich über fünf Generationen erstreckt, ist eine solche Mutation nicht eingetreten." Die Halbrasse ist, durch wiederholte sehr scharfe Seiection, erheblich verbessert worden; sie war schliesslich an extremen oder fast extremen Varianten übermässig reich, zeigte sich aber gerade in diesen als sehr constant. Sie hat in jenen fünf Generationen eine Höhe erreicht, welche durch weitere Auslese, wie es mir schien, nicht mehr wesentlich zu verbessern war. Sie hat einzelne Blumen mit über 15 Petalen, und eine einzige sogar mit 31 Blumenblättern (Fig. 169) hervorgebracht, ist aber im Mittel ihrer auserwählten Individuen auf 9—10 Petalen geblieben. Die gefüllte Sorte entstand aus ihr nicht, trotz aller Mühe. Ich schliesse daraus, dass in diesem Falle, in Uebereinstimmung mit den obigen Krörterungen, die Halbrasse nicht durch einfache Züchtung, sondern durch eine, uns in ihren äusseren Ursachen noch unbekannte Umwandlung — durch eine Mutation — in die gefüllte Rasse übergehen kann. Uebergehend zu der Einzelbeschreibung meines Versuches fange ich mit der Halbrasse in jenem Zustande an, in dem ich sie im Freien vorgefunden habe. In den Jahren 1886 und 1887 und seitdem zu wiederholten Malen beobachtete ich die Halbrasse an einem kleinen sandigen und sonnigen Standort unweit Hilversum. Der knollige Hahnenfuss wuchs dort in Menge, die meisten Blumen waren normal, viele aber mit mehr als fünf Blumenblättern. Ich werde solche, um einen bequemen Ausdruck zu haben, mehrblätterige oder pleiopetale nennen. In mehreren Jahren habe ich die Blüthen an jenem Standorte gezählt. Ich führe die Zählungen von 1886 und 1887, welche je 300—400 Blüthen umfassten, in Procenten berechnet an. Anzahl der Blumenblätter: 5 6 7 S 9 On ang Blumen in=l8se: 2 2 22 292,52 Heise #159.2.0,.6220..6, 50 0 0r392.082083 gt N ea 980.5, 100 OO ! Die fluctuirende Variabilität des semilatenten Merkmales umfasst bei Ranunculus bulbosus semiplenus einen anscheinend viel weiteren Formenkreis als bei Trifolium. Dort sind die Extreme 3 und 7 Blattscheiben; beim Hahnen- fuss 5 und 31 und vielleicht mehr Petalen. Es geht daraus nicht hervor, dass die Fluctuation im einen Falle eine weitere sei als im anderen, sondern nur, dass mehr Stufen sich der Beobachtung darbieten. Diese kann also auch in mehr Einzelheiten eindringen. Beide Reihen! stimmen so genau überein, wie man es nur er- warten kann, und ebenso war es in den anderen Jahren. Die Curve (vergl. Fig. 170 4) gipfelt auf der normalen Blumenblätterzahl, und fällt dann sehr steil herab. Sie bildet eine halbe GaLTox -Öurve. Blüthen mit weniger als fünf Petalen kommen an jenem Standorte nicht vor. Der sehr steile Gipfel dieser Curve rührt daher, dass an vielen Pflanzen an den Beobachtungstagen überhaupt keine pleiopetalen Blüthen gefunden wurden. Solches ist aber nicht so aufzufassen, dass etwa die Halbrasse mit einer rein fünfpetaligen Sorte vermischt wäre. Denn die betreffenden Pflanzen sind entweder Schwächlinge, oder sie zeigen an anderen Tagen pleiopetale Blumen. Häufig konnte ich beobachten, dass an vielen Exemplaren die sechsblätterigen Blumen den einen Tag vorkommen und den anderen nicht. Die 6—7 petaligen Blüthen findet man schon von Anfang der Blüthezeit an, die höheren Zahlen kommen erst später, wie Aehnliches ja auch bei anderen ge- füllten Blüthen der Fall zu sein pflegt. Im Jahre 1887 pflanzte ich einige Exemplare mit gut ausge- bildeter Anomalie in meinen Garten über, wo sie im nächsten Sommer wiederum blühten und Samen trugen. Sie bildeten die erste Gene- ration meiner Cultur. Seitdem säte ich jährlich. Allerdings treibt nur ein Theil der Pflanzen, bisweilen die Hälfte, bisweilen zwei Drittel, im ersten Jahre Stengel, und habe ich mich stets auf diese beschränkt, und die nicht blühenden im Laufe des Sommers ausgerodet. Von den besten Exemplaren der Halbrasse habe ich bisweilen einige zu Neben- versuchen überwintert, doch komme ich hierauf bald zurück. In den Jahren 1859—1892 hatte ich in dieser Weise die zweite bis fünfte Generation der Halbrasse, und zwar bei allmählich zu- nehmendem Umfang der Cultur. Ich erntete meine Samen stets von den besten Erben, und suchte diese in der Art aus, dass ich die fünf- petaligen Blumen sämmtlich abschnitt. Je nach dem Jahre wurden diese dabei für die einzelnen Pflanzen aufgeschrieben oder nicht. Die Befruchtung überliess ich den Hummeln und Bienen, irgend ein wesentlicher Einfluss der Kreuzbefruchtung auf die Versuchsergebnisse hat sich dabei nicht gezeigt. Die beiden ersten Selectionsjahre (1889, 1890) bedürfen nur einer kurzen Erwähnung. Die Pflanzen ohne oder mit nur wenigen pleio- 1 Deber halbe Galton-Curven als Zeichen discontinuirlicher Variation. Ber. d. d. bot. Gesellsch. Bd. XII. 1894. S. 197, wo auch einige der unten vor- zuführenden Zahlenreihen mitgetheilt sind. 586 Nicht isolirbare Rassen. petalen Blüthen wurden so bald wie möglich entfernt, oder aller Blüthen beraubt; von den übrigen nur die Samen der sechs- bis mehrblätterigen Blumen gesammelt. Letzteres ist aber keine Selection, wie aus später angestellten Versuchen hervorgegangen ist. Das Ergebniss der Selection zeigte sich im Jahre 1891 in den besten Exemplaren der Halbrasse, im Jahre 1892 (5. Generation der Cultur) in nahezu allen Pflanzen. Die Anzahl der Blumenblätter nahm in jeder Hinsicht zu, der Gipfel der Curve verschob sich nach neun und zehn Petalen und sogar noch etwas weiter hinaus. Es trennte sich somit, durch die Cultur und die Auslese, das Mittel der Halbrasse (9—10 Petalen) von demjenigen der reinen Art (5 Blumen- blätter), was namentlich auch deshalb hervorzu- heben ist, weil solches in unserem Versuche mit Trifolium incarnatum nicht erreicht wurde. Der Verlauf des ganzen Versuches ist in der Fig. 170 gra- phisch dargestellt. Diese enthält vier Curven. Und zwar erstens (H Fig. 170. Ranunculus bulbosus semiplenus. Selections- 1887) das bereits oben versuche von 1887—1892. 41887 Curve der wild- miteetheilte Ergebniss wachsenden Form; Z1891 Curve der Erben im Jahre Se 1891; 41891 Curve der auserwählten Samenträger im der Zählungen an dem Jahre 1891. 1892 Curve der ganzen Aussaat, im August ursprünglichen Fund- 1592. Die Zahlen am Fusse bedeuten die Anzahl der Blumenblätter pro Blume. orte. Ferner zwei Cur- ven für 1891. In diesem Jahre hatte ich eine Cultur von etwa 4 Quadratmetern, in der ich Anfang August alle blühenden Exemplare, welche noch keine pleio- petalen Blüthen gebildet hatten, sowie alle noch nicht blühenden ausrodete. Ich zählte darauf während 14 Tage alle sich öffnenden Blüthen, es waren deren 128, welche in folgender Weise die einzelnen Grade der Anomalie darboten: Anzahl der Blumenblätter: BehEeeer eenn 121 en „ Blumen: 45, 247 28 85, AO Die Zahlenreihe ist in Fig. 170 bei 21891 dargestellt. Sie ergiebt eine halbe Curve wie die vorhergehende, aber ohne den steilen Gipfel. Dieser verschwand, theils durch die Cultur und die wieder- Ranunculus bulbosus semiplenus. 587 holte Selection, theils aber dadurch, dass vor dem Zählen die an pleiopetalen Blüthen ärmsten Exemplare ausgerodet worden waren. Nachdem diese Curve ermittelt war, traf ich noch eine weitere Selection. Mehrere Exemplare hatten keine einzige Blüthe mit mehr als sieben Petalen aufgewiesen. Diese wurden Mitte August entfernt, und dann die Beobachtungen mit den übrigen fortgesetzt. Es waren 18 Pflanzen, welche als die besten Stammhalter der Rasse zu Samen- trägern auserwählt wurden. Vom 15. bis 31. August zählte ich alle ihre Blüthen und fand die folgende Reihe: ! Anzahl der Petalen: De oe 8 OEL 2 lat 2% Blüthen. 9 1m 59 64 5 au 5 90er > Summa 243. Die Curve (Fig. 170 A1891) ist jetzt eine zwei- schenkelige geworden. Sie hat keinen Gipfel mehr auf 5, sondern einen sehr deutlich ausgesprochenen auf 8 Petalen. Sie umfasst 18 Pflanzen, welche von einander nur wenig abweichen. Solche In- dividuen gab es weder auf dem wilden Standorte, noch auch im An- fange in meiner Cultur. Die Aussaat von 1892, aus den Samen jener auserlesenen In- dividuen, gab etwa 300 Exemplare, welche vom 21. Juli bis zum 3l. August zu blühen anfıngen. Auf diese bezieht sich die Curve für 1892 in Fig. 170. Die später blühenden wurden gesondert unter- sucht und sollen nachher besprochen werden. Zwischen den genannten Tagen zählte ich auf allen sich öffnenden Blüthen die Petalen, und schrieb die Zahlen für jede Pflanze einzeln in mein Notizbuch ein. Ich gebe jetzt die Summe, welche 4425 Einzelblüthen umfasst. Auf diesen waren die Petalenzahlen in der folgenden Weise vertheilt: Petalen: B) 6 7 8 az ee ee Blüthen: 409 532 638 690 764 599 414 212 80 29 18 20 Diese Curve, welche jetzt den Entwickelungsgrad der ganzen Rasse vorstellt, stimmt ziemlich genau mit derjenigen der auserwählten Samenträger des vorigen Jahres (1891) überein, wie die Fig. 170 in 41891 und 1892 ohne Weiteres zeigt. Aber der Gipfel ist um ein ganzes Blumenblatt vorgerückt. Es hat keine Regression stattgefunden, wie bei der Selection activer Eigenschaften, sondern eine Progression, wie sie ja der Auslese semilatenter Merkmale eigenthümlich ist. Wichtig ist auch die Veränderung im rechten Schenkel der Curve, ! In der oben erwähnten vorläufigen Mittheilung ist diese Gruppe in zwei Curven getrennt, indem der beste Erbe von den übrigen gesondert wurde. 1 588 Nicht isolirbare Rassen. ration gab es keine Blüthen mit mehr als 14 Blumenblättern. Jetzt fand ich deren 38, und zwar in folgender Vertheilung: Blumenblätter: el a er Ft Anzahl der Blumen: 18 Ss 5 2 ul FRONT: 1 Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass sie unter 4425 Zählungen gefunden wurden, und zusammen also nur etwa 1°/, (0-86°/,) be- tragen. Da aber im Jahre 1891 auf 243 Blüthen keine einzige solche beobachtet wurde. so fand offenbar ein wirklicher Fortschritt, wenn auch kein sehr erheblicher, statt. Die Cultur von 1892 bestand für weitaus den grössten Theil der 295 im August blühenden Exemplare aus solchen, deren Curve, für jede Pflanze geson- dert betrachtet, auf etwa 9 . Petalen gipfelte. Aber es gab unter ihnen auch Varianten und extreme Varianten. Einerseits die „Ata- visten“, deren Öurve auf 5 Petalen gipfelte, und somit | | 5 6 NE 9 10ER] TE ET 7; Fig. 171. Ranunculus bulbosus semiplenus. Zusammensetzung °, 3 ö der fünften Generation im Jahre 1892. A die Curve einiger EIN einschenkelige „Atavisten“. M die Curve mittlerer Individuen. V die war, wie auf dem Gruppe extremer Varianten. Die Zahlen bedeuten die Anzahl der Blumenblätter pro Blume, ursprünglichen Fundorte. Anderer- seits aber auch Varianten nach der Plus-Seite, deren Mittel etwa 11 Petalen pro Blume war, in einem einzelnen Falle sogar einen Gipfel auf 13 Blumenblättern erreichte. Diese Curven waren zwei- schenkelig, und nicht, wie bei der fünfblätterigen Rasse des Roth- klees, umgekehrt einschenkelig. Aber es gilt hier auch nur eine Accumulation in der Halbrasse, und keine isolirte volle Rasse. Ich habe für beide Gruppen von Varianten eine gewisse Anzahl ausgewählt und ihre Blüthenzahlen addirt; dieses ergab die folgenden Zahlenreihen: Blumenblätter: En ee ld 1 23 Anzahl der Blumen A: 66 34 21 18 15 11 1 225 70205120 „ % »..:M2213214922728251%267 7167 127162 Bass V:..,9.11..26. 39 .62.79, 14834730, 287 ar Sy ” ” ” Diese Zahlenreihen sind in Fig. 171 graphisch dargestellt. Sie ausgewählt, dass die Curven der einzelnen Pflanzen innerhalb der Gruppe keine erheblichen Abweichungen vom Mittel zeigten. 4A ist die Curve von zwölf Atavisten, aus der ganzen Beobachtungsreihe ausgesucht; alle hatten den Gipfel auf 5 Blumenblättern. M ist die Curve für zehn Pflanzen, welche aus den Samen einer einzigen Mutter hervorgewachsen waren. V ist die Curve von allen Pflanzen, deren Gipfel oberhalb zehn lag; im Ganzen 22 Exemplare; sie gipfelten mit nur drei Ausnahmen auf 11; diese drei gipfelten auf 12 und 13, hatten aber keinen merklichen Einfluss auf den Lauf der mittleren Curve für die ganze Gruppe. Vergleicht man die Fig. 171 mit der Fig. 170, so sieht man eine sehr auffallende Uebereinstimmung. Die eine Figur giebt die Zusammensetzung meiner Öulturrasse nach viermaliger Selection an, die andere aber ihre Entwickelungsgeschichte während jener Periode. Beide sind namentlich darin einander ähnlich, dass die anfängliche halbe Curve (Fig. 170 471887) auch später in der Rasse vertreten bleibt; wenn auch etwas abgeflacht; sie findet sich noch im Jahre 1891 (Fig. 170 #1891) und ebenso 1892 (Fig. 171 A). Die atavistische Fluctuation bleibt somit, trotz der wiederholten Auslese, in der Rasse vorhanden.! Die Curve M hat eine mehr normale Form, als die entsprechende Curve „1892“ in der Fig. 170, was offenbar daher rührt, dass die erstere eine einheitliche Gruppe vertritt, während die letztere eine alle Gruppen umfassende Summationscurve ist. Die Curve V verhält sich zu M in der auch für die gewöhnliche Variabili- tät üblichen Weise, sie ist einfach durch die Selection seitwärts ver- schoben.? Ohne Zweifel würde man, durch Aussaat der Samen der auf 11 gipfelnden Samenträger, die Rasse noch etwas verbessern, d. h. ihre Curve noch etwas weiter nach rechts verschieben können. Ich habe solche Aussaaten seit 1892, wenn auch mit Unterbrechungen, gemacht, aber stets in einem kleinen Maassstabe, und nicht zu dem Zwecke der Fortsetzung des Versuches. Der Reichthum an Blumenblättern nahm dabei noch etwas zu, aber ohne den Typus wesentlich zu ändern. Von einem Auftreten von wirklich gefüllten Blüthen sah ich dabei niemals eine Spur. Um zu erfahren, ob irgend welche ausreichende Aussicht vor- ! Während bei der Selection activer Merkmale einfach die ganze Curve verschoben wird, vergl. S. 53 Fig. 18 und den dritten Abschnitt. ? Vergl. die Fig. 116 auf S. 384. 590 Nicht isolirbare Rassen. handen war, bald den Typus meiner Rasse sich wesentlich verbessern zu sehen, habe ich die folgende Berechnung angestellt. Die 295 Pflanzen meiner Beobachtungsreihe stammten aus den Samen von 21 Müttern. Von diesen Gruppen wählte ich die zehn besten aus, und berechnete die Curve für die sämmtlichen Kinder je einer Mutter. Es zeigte sich, dass diese Curven sehr wenig von einander abwichen. Sie gipfelten sämmtlich auf neun Petalen, mit Ausnahme einer ein- zigen, welche auf zehn gipfelte. Dabei lasse ich die Gruppen, welche weniger als je 300 Blüthen umfassten, ausser Acht, doch zeigten auch diese keine grösseren Abweichungen. Ich verglich dann diese zehn Curven mit den für die Mütter selbst ermittelten Partial-Curven (d. b. mit den auf der Mutter ausgeführten Blüthenzählungen) und fand keine Beziehung. Gerade die Mutter mit den am wenigsten pleiopetalen Blüthen hatte die beste Nachkommenschaft. Aus meiner Tabelle seien die folgenden vier Curven, für die Nachkommenschaft von vier Müttern, angeführt. M bedeutet die Anzahl der Petalen auf den betreffenden Müttern im Jahre 1891. M Anzahl der Blumenblätter pro Blume — 5276°:7 028 5.9710 51171272137 140 15° 716517218 238 Summe C5—10F 37T. FAT TE ESIETSES TOD FFAT E31 3 EA 0, 0 526 E6—107° 25271672. 780° 7751 ET 155 545,253 0210.16 El? 3 612 6761154 253:2.627.781780. 0602.59 7.972 102 FA A Se 1 ıl 501 E7—11152257.,.76 17702.952 6412206135 2.02°.05202 202.0 0 434 Mit diesen Zahlen stimmt überein, dass die Pflanze, welche im Sommer 1891 weitaus die beste zu sein schien, da sie eine Curve aufwies, welche auf 11 und 12 Blumenblättern gipfelte, in ihrer Nach- kommenschaft genau mit dem Mittel der ganzen Cultur von 1892 übereinstimmte. Ihr besseres Merkmal deutete also keinen zu er- wartenden Fortschritt an. Aus diesen Gründen habe ich dann meinen Versuch eingestellt, denn es schien mir jetzt über allen Zweifel erhoben, dass durch einfache Selection aus meiner Halbrasse die gefüllte Rasse nicht hervorgehen würde. Solches könnte nur von einer weiteren Mutation erwartet werden. Das umfangreiche Material meiner Cultur habe ich in den ver- schiedenen Versuchsjahren dazu benutzt, um zu erfahren, in wie fern die Anzahl der Blumenblätter einer Blüthe in der Halbrasse, ausser von der Selection, von inneren und von äusseren Ursachen bestimmt wird. Ich fand sie von ersteren nicht in einem merklichen Grade, von letzteren dagegen in sehr hohem Maasse abhängig. Zuerst fragte es sich, welchen Gesetzen die Vertheilung der PrY Ranunculus bulbosus semiplenus. 591 Blumenblätterzahl auf der einzelnen Pflanze gehorcht. Ist diese Zahl durch den Sitz der Blüthe oder durch äussere Einflüsse, oder durch beides bestimmt? In Bezug auf den Sitz der Blüthe unterschied bereits BRAUN in seiner „Verjüngung“ das erstarkende und das er- schwachende Verzweigungssystem. Im ersteren nehmen die Sprosse mit zunehmendem Grade der Verzweigung an Stärke zu, wenn auch oft nur wenig; im letzteren ist jeder Seitenzweig im Mittel schwächer als der Ast, von dem er getragen wird. Ranunculus bulbosus gehört zu dem ersteren System (vergl. Fig. 168 auf S. 582). Der Haupt- stengel (Z) wird überragt von den kräftigen Seitenstengeln (5), welche direct aus der Knolle hervorgehen, und diese wiederum von ihren eigenen (tertiären) Zweigen (T in der Figur). Beim weiteren Wachs- thum verhält es sich ebenso, bis zuletzt wiederum schwächere Zweig- lein hervorbrechen. Je kräftiger ein Zweig, um so grösser und stärker ist im Allgemeinen die Blüthe, welche er trägst. Vergleicht man nun den Reichthum der Blüthen der Halbrasse an Petalen mit ihrem Sitz auf den Zweigen verschiedener Ordnung, so glaubt man oft auf den ersten Blick eine bestimmte Beziehung zu finden. Solches rührt aber nur daher, dass solche Fälle einen lebhafteren Eindruck zu machen pflegen, als die entgegengesetzten. Denn bei genauerem Zusehen kommen die anderen wenigstens ebenso häufig vor. Im September 18592 habe ich auf 82 Pflanzen meiner Beete für 1197 Einzelblüthen ihren Sitz und die Anzahl ihrer Blumen- blätter notirt, und für jeden „Sitz“ eine Curve construirt. Ich gebe hier aber nur die Mittelzahlen. Anzahl der Blüthen Petalen pro Blüthe A. Am Hauptstengel: 1. Endblüthe 75 697 9-3 2. Seeundäre Blüthen 221 2005 9.1 3. Tertiäre | 134 1237 9.3 B. Aus der Knolle: 4. Secundäre Blüthen 259 2419 9.3 5. Tertiäre 5 397 3716 9.4 6. Quaternäre „ 111 1014 981 Summa 1197 11118 9.3 Wie man sieht, ist keine Gruppe vor den anderen in Bezug auf die Anzahl der Petalen bevorzugt.! ! Bei erschwachender Verzweigung pflegt solches im Gegentheil wohl der Fall zu sein, z. B. in meinen Culturen, bei Saponaria officinalis mit 5—10 Blumen- blättern, bei Chrysanthemum segetum ($ 18) u. s. w. 592 Nieht isolirbare Rassen. Auch die Samen der pleiopetalen Blüthen sind in keiner merk- lichen Weise bevorzugt. Im Sommer 1891 habe ich meine Samen derart gesammelt, dass ich für jede Pflanze die Samen ihrer Blumen mit gleicher Petalenzahl besonders erntete. Die Blumen wurden dazu selbstverständlich während der Blüthezeit etiquettirt. In der Cultur von 1892 standen die Pflanzen somit in Gruppen, erstens nach den Müttern, und zweitens nach der Petalenzahl ihrer Blüthen. Ich habe dann alle Zahlenreihen nach letzterem Merkmal gruppirt und addirt, und erhielt schliesslich das folgende Resultat: Blumenblätterzahl der Blüthen, Mittlere Petalenzahll Anzahl der gezählten welche die Samen lieferten der Nachkommen! Blüthen C5-—7 8-3 932 08 8-7 1072 09 Ss-5 1217 C 10—11 S-6 1420 C 12 —14 8-7 919 Mittel 8-6 Summa 5560 Also auch hier wieder keine merkliche Beziehung. Dasselbe Resultat erhielt ich auch in anderen Jahren. Es ergiebt sich hieraus, dass es in diesem Falle bei der Selection nicht auf die Wahl der Blüthen auf der Pilanze, sondern auf die Wahl der Pflanzen ankommt. Doch habe ich den Einfluss der Verzweigungsordnung, abgesehen von der Petalenzahl, auf die Nachkommenschaft noch nicht untersucht. Liessen sich keine inneren Ursachen für die Bestimmung der Pleiopetalie in jeder einzelnen Blüthe auffinden, um so leichter lassen sich die äusseren Ursachen dafür nachweisen. Diese folgen wiederum der allgemeinen Regel, denn je besser die Ernährung und die Lebenslage, um so zahlreichere Blumenblätter werden an- gelegt. Die folgenden Versuche und Beobachtungen werden dieses beweisen. Zunächst eine Beobachtung, für welche ich leider keine Zahlen- belege anführen kann, welche aber auf die Unabhängigkeit der Blüthen von der Zweigordnung ein Licht zu werfen im Stande ist. Als ich im Sommer 1892 zweimal wöchentlich sämmtliche Blüthen meiner Cultur auf ihre Petalen prüfte und deren Zahl notirte, fiel es mir auf, dass die hohen Zahlen auf bestimmte Tage zusammenfallen, während sonst: nur niedere oder mittlere Zahlen notirt wurden. Es würde dieses darauf hinweisen, dass während der Anlage der Blüthen, ! Das Mittel ist hier etwas niedriger als in der vorigen Tabelle, weil jene sich nur auf Zählungen im September bezieht. Vergl. später. Ranunculus bulbosus semiplenus. 595 im Mai und Juni, die Pleiopetalie vom Witterungszustande beeinflusst wird, dass namentlich bei schönem Wetter die Blüthenanlagen, welche sich gerade in der empfindlichen Periode ihrer Ausbildung befinden, mehr Blumenblätter bekommen würden. Und solches unabhängig von der Ordnung des Zweiges, auf dem sie stehen. Zu derselben Folgerung führt noch eine andere Beobachtung. Im September 1892 waren die Blüthen im Allgemeinen reicher an Petalen, als im August desselben Jahres. Oder richtiger gesagt, es war dieser Reichthum grösser auf jenen Pflanzen, welche ihre erste Blume erst im September öffneten, als auf jenen, welche schon im Juli und August zu blühen ange- fangen hatten. Die Anzahl der Individuen der ersterene GEURDe. 55 20 an 5 betrug 77, sie öff- Fig. 172. Ranunculus bulbosus semiplenus. A Curve der im neten bis Anfang August blühenden Pflanzen. 8 Curve der im September blühenden. ak Die Zahlen am Fusse geben die Anzahl der Blumenblätter pro ee Blume an. November, bis zum Schlusse meiner Zählungen 1134 Blüthen. Die erstblühenden waren 295 an der Zahl, mit 4425 Blumen. Die Vertheilung war die folgende:! Blumenblätter: 5 6 8 9521002112 7127180145,19016 31 Aelteste Pflanzen: 409 532 638 690 764 599 414 212 80 29 18 20 September-Pflanzen: 40 52 126 165 204 215 177 104 35 8 4 0 Diese Zahlen sind in Fig. 172 graphisch dargestellt, wobei sie, zur bequemeren Vergleichung, auf eine ungefähr gleich grosse Anzahl von Beobachtungen reducirt worden sind. Der Gipfel liegt für die erstblühenden Pflanzen auf neun; es ist dieselbe Curve, welche schon in Fig. 170 auf S. 586 für das Jahr 1892 gegeben wurde. Die andere aber erhebt sich bis zur Ordinate von zehn Blumenblättern, und bleibt auch weiterhin oberhalb der ersteren. Die Ursache dieses Unterschiedes kann nur in der späteren Kei- mung gelegen sein. Entweder sind die später keimenden Samen an sich bessere Erben,? wie die kleinen spätkeimenden Körner des Incarnatklees, oder die Keimung im Hochsommer, bei besserem und 1 Vergl. oben S. 587 und Fig. 170 (1892). ® Es wäre in dieser Hinsicht von Interesse, bei dieser und bei anderen Pflanzen den Grad der Anomalie bei solehen Individuen zu kennen, welche erst im zweiten oder dritten Jahre nach der Aussaat keimten. DE VRIES, Mutation. I. 38 594 Nicht isolirbare Rassen. namentlich wärmerem Wetter begünstigt die Entwickelung derart, dass die Blüthen reicher ausgestattet werden. Denn die im Juli und August blühenden Pflanzen waren, nach der Aussaat im Anfang Mai, wohl zumeist im Laufe desselben Monats, bei kaltem, ungünstigem Wetter gekeimt. Ueber den Einfluss der Ernährung auf die Pleiopetalie habe ich zuerst 1890 einen Versuch gemacht. Ich hatte die auserwählten Pflanzen von 1889 überwintert und verpflanzte im März die eine Hälfte auf ein Beet mit reinem Sandboden, die andere aber auf ein Beet mit gewöhnlicher Gartenerde. Von der ersteren Cultur blühten nur zwei Drittel der Pflanzen (12 Exemplare), von der letzteren alle (20 Exemplare). Auf dem Sandbeete zählte ich die Petalen aller Blumen, auf dem Controlbeet etwa die doppelte Auzahl, indem an abwechselnden Tagen die sich öffnenden Blüthen ohne nähere Prüfung abgepflückt wurden. Es wurden im Ganzen 75 bezw. 147 Blüthen untersucht. Zur besseren Vergleichung in Procente umgerechnet gaben sie das folgende Resultat: Anzahl der Blumenblätter: 5 6 Eh) Auf dem Sandbeete: 13 23 AO 0 Auf Gartenboden: Dar 20, SAN Es bringt somit der bessere Boden weniger fünfzählige und er- heblich mehr 7—10zählige Blüthen hervor. Man darf hieraus ab- leiten, dass das steile Herabfallen der Curve auf dem wilden Standort, auf Sandboden, wenigstens zu einem wesentlichen Theile von der geringen Ernährung bedingt wird. Denn vermuthlich würden, ebenso wie in diesem Versuche, dieselben Pflanzen auf besserem Boden die Pleiopetalie in höherem Maasse zeigen, und somit eine weniger steile Curve bilden. Einen entsprechenden Versuch habe ich im Sommer 1891, dies- mal auf gedüngtem und ungedüngtem Gartenboden, und mit der da- mals schon wesentlich verbesserten Rasse (Fig. 170 auf 3.586) gemacht. Die Düngung fand mit Guano statt; die beiden Beete lagen neben einander und waren gleich gross. Es wurde auf ihnen je die Hälfte der Ernte einiger an mehrblätterigen Blumen reichen Exemplare von 1890 ausgesät. Im Laufe des Sommers konnte ich auf dem un- gedüngten Beete 159, auf dem gedüngten 376 Blüthen zählen. Das Verhältniss dieser beiden Zahlen ist das beste Maass für die Wir- kung des Düngers. Die Ergebnisse, in Procente umgerechnet, wareu die folgenden: Ranunculus bulbosus semiplenus. 595 Blumenblätter 0527 62.2.702287 72,95, 10,:: 119122 Ohner Dünger: 7.120.152 290.212 1227102 7312219270 Mit Guano: 14 19, 01021 1A 90 A et Ohne Dünger lag der Gipfel der Curve auf sieben Petalen und gab es nur wenige Blüthen mit mehr als elf Blättern; mit Dünger lag der Gipfel auf acht, und gab es merklich mehr reich aus- gestattete Blüthen. Die Control-Exemplare waren in diesen beiden Versuchen andere Pflanzen als die der Hauptreihe.e Man kann aber auch dieselbe Pflanze abwechselnd günstigen oder ungünstigen Einflüssen aussetzen, und erhält dann wiederum dasselbe Resultat. Zu diesem Zwecke habe ich im Frühjahr 1593 eine Reihe der besten Pflanzen von 1892 in einen trockenen Boden übergepflanzt und sie, bei anhaltend trocke- nem Wetter, ohne Begiessen sich selbst überlassen. Sie litten hierunter sichtlich und brachten zum Theil sogar weniger Blüthen hervor wie in dem vorigen Sommer. Aus meinen oben besprochenen Tabellen kannte ich für jede Pflanze von 1892 die Petalenzahl aller einzelnen Blumen; in derselben Weise wurden sie 1893 untersucht. Ich gebe aber hier nur die mittleren Zahlen der Blumenblätter pro Blüthe. Mittlere Anzahl der Pflaaze Anzahl der Blüthen Petalen pro Blüthe Differenz 1892 1893 1892 1893 Nrat: 25 14 11 9 2 SR 43 9 9 5 4 8 9 14 10 6 4 A 44 5 8 5 3 a 12 18 10 8 2 6 16 al 9 S 1 Auf jeder einzelnen Pflanze hatte die Anomalie somit in Folge des Verpflanzens auf trockenen Boden sehr wesentlich abgenommen. Blicken wir jetzt auf diese Versuche zurück, so ergiebt sich, dass die Hervorbringung von mehr als fünf Blumenblättern in einer Blüthe von dem Sitze dieser Blüthe auf der Pflanze im We- sentlichen unabhängig ist, dagegen im höchsten Grade abhängig von den äusseren Einflüssen, unter denen die betreffende Blüthe ihre früheste Jugend, d. h. die empfindliche Periode ihrer Entwicke- lung durchläuft. Je kräftiger die Pflanze, je günstiger der Boden in Bezug auf Feuchtigkeit und Ernährung, je milder die Jahreszeit, und wohl auch je sonniger die Tage in jener Periode sind, um so höher fällt die Zahl der Petalen aus. 385 596 Nicht tsolirbare Rassen. Durch die Cultur im Garten muss somit die steile halbe Curve des wilden Fundortes (Fig. 170 für 18857) in eine flachere über- sehen, welche sich auf höhere Blumenblätterzahlen erstrecken und schliesslich auf diesen einen neuen Gipfel bilden wird. Solches geschieht aber bequemer und sicherer, wenn mit der besseren Cultur die Selection verbunden wird (vergl. dieselbe Figur). Diese wählt die Pflanzen aus, welche die Anomalie am häufigsten und am stärksten zeigen; das sind aber, nach dem Obigen, im All- gemeinen die am besten ernährten, d. h. die von ihrer Lebenslage am meisten bevorzugten. Denn auf demselben, möglichst gleichmässig vorbereiteten Beete sind ja die Umstände sogar bei benachbarten Pflanzen oft äusserst verschieden. Der eine Same keimt an einer Stelle, wo sich gerade das Regenwasser am längsten erhielt; der andere keimt fast trocken. Einige keimen an warmen und schönen Tagen, sie sind dadurch für ihr ganzes Leben ihren weniger be- günstigten Brüdern voraus, u. s. w.! Die einzelnen Pflanzen, aus Samen derselben Mutter an demselben Tage auf demselben Beete ausgesät, sind also nothwendiger Weise verschiedenen Bedingungen ausgesetzt. Unter ihnen wählt die Selection die besten, und somit, wenigstens in der Hauptsache, die am besten ernährten. Sie beschleunigt so zu sagen nur die Wirkung der Lebensumstände, wie wir dies ja auch früher, gelegentlich des Papaver somniferum polycephalum aus einander gesetzt haben. ? Selection und Cultur haben also in meinem Versuche während vier Generationen in derselben Richtung zusammengewirkt. Sie haben die mittlere Anzahl der Blätter pro Blüthe etwa verdoppelt, indem sie sie auf 9—10 brachten; sie haben auf mehreren Hundert Pflanzen und mehreren Tausend Blüthen nur drei solche mit mehr als zwanzig Petalen (C21, C23 und C31) hervorgebracht, also jedenfalls nicht wesent- lich mehr, als sich bei jener Mittelzahl und der vorhandenen Variations- weite der ganzen Cultur nach dem QUETELET’schen Gesetze erwarten lässt. Diese Blüthen befanden sich rein zufällig an sonst nicht er- heblich bevorzugten Pflanzen, denn die drei Zahlencurven der be- treffenden Individuen gipfelten alle auf 10. Es geht hieraus hervor, dass durch Auswahl dieser Exemplare als Samenträger der Gipfel der Curve sich im Laufe der Jahre wohl noch um etwas hätte ver- bessern lassen, dass aber diese extremen Variationen keine besondere Aussicht auf die Gewinnung einer gefülltblüthigen Sorte eröffneten. I Vergl..S.. 97. 2 \iergl..S. 99. Die Buntblätterigkeit. 597 Cultur und Selection wirken in der Richtung des Zieles; sie führen die Halbrasse in dieser Richtung messbar weiter, sie sind aber an sich nicht im Stande, das Ziel zu er- reichen. Die Halbrasse bleibt Halbrasse, trotz aller Mühe und Sorgfalt, die semilatente Eigenschaft äussert sich öfter und öfter, es gelingt ihr aber nicht, den normalen, activen Eigenschaften ebenbürtig zu werden, d. h. sich ohne Hülfe weiterer Selection und weiterer günstiger Culturbedingungen als mittlere Eigenschaft der Rasse auszuprägen und zu behaupten. Dazu bedarf es also eines ganz anderen Vorganges. Die Selections- theorie nimmt an, dass man das Ziel erreichen würde, wenn man den Versuch in derselben Weise durch Jahrzehnte oder Jahrhunderte fort- setzen könnte. Dafür spricht aber der Verlauf des Versuches nicht; dieser deutet vielmehr darauf hin, dass dasjenige, was durch Selection und Ernährung überhaupt erreicht werden kann, thatsächlich in den fünf Culturgenerationen im Wesentlichen erreicht wurde. Und er- reicht wurde eine „Zuchtrasse“, deren Blüthen im Mittel unter den obwaltenden günstigen Culturbedingungen neun Petalen führen, welche aber je nach der Lebenslage einerseits bessere Varianten (mit im Mittel 11—13 und wohl vielleicht etwas mehr Petalen) und anderer- seits Atavisten mit halber GALToX-Öurve hervorbringt (vergl. Fig. 171 auf S. 588). Meines Erachtens aber würde, bei fortgesetzter Cultur der Halb- rasse, die gefüllte Rasse einmal plötzlich auftreten, und dann nach kurzer, entsprechender Isolirung wiederum als constante, wenn auch sehr variable Rasse dastehen.! $ 24. Die Buntblätterigkeit. Zu den beliebtesten Varietäten des Gartenbaues gehören ohne Zweifel die buntblätterigen Gewächse. Dabei haben sie, durch ihre grosse Unbeständigkeit, sehr viel zur Ausbildung des gärtnerischen Begriffes der Varietäten beigetragen. Denn sie wechseln ihre bunte Mannigfaltigkeit stets und in jeder Beziehung. Fast keine zwei Blätter derselben Pflanze sind einander gleich, und manche Art hat eine ganze Reihe verschiedener gescheckter und gefleckter Varietäten. Auch haben sie das Typische, dass sie fortwährend und unter den Augen eines Jeden zu der Art, zu der sie gehören, zurückkehren. ! Ich meine als eine -Mittelrasse mit grosser Variationsamplitude, welche aber im Laufe der Generationen sich nicht ändert. _ 593 Nicht isolirbare Rassen. Sie thun solches sowohl aus Samen, als auch durch Zweige. Und da diese letzteren an den Sträuchern und den Bäumen viele Jahre, oft Jahrzehnte sichtbar bleiben, und die Erscheinung sich dazu mehrfach an demselben Gewächs wiederholt, so sieht man sie überall und betrachtet Mancher sıe als ausreichende Beweise für den Satz, dass Varietäten unbeständige, abgeleitete, und zu ihrer Art von Zeit zu Zeit zurückkehrende Gebilde sind. Namentlich in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts waren die Pflanzen mit gesprenkelten oder gebänderten Blättern sehr in der Mode.! Zu jener Zeit hatte der bekannte englische Gärtner THoMmAs FAIRCHILD in seinem Garten bereits mehr als hundert solcher Arten, und etwa hundert Jahre später gab SCHLECHTENDAHL eine Liste, aus der hervorgeht, dass buntblätterige Gewächse über das ganze Pflanzenreich verbreitet sind, und in allen grösseren Gruppen, ja in den meisten Familien der Blüthenpflanzen vorkommen. ? Am weitesten verbreitet war damals die Cultur des Bandgrases, Phragmites arundinacea variegata und der bunten Stechpalme oder Hülse (llex Aquifolium). Beide sind jetzt noch in Gärten sehr beliebt, das Bandgras verhältnissmässig einförmig, die Stechpalmen äusserst wech- selnd. Von diesen giebt es namentlich eine Varietät mit weiss- geränderten Blättern neben der gewöhnlichen gefleckten. Erstere gehört eigentlich nicht zu der Gruppe der Plantae variegatae, auch ist sie in jeder Hinsicht viel weniger unbeständig. Letztere ist höchst variabel und treibt besonders gerne grüne Triebe, welche, da sie sich besser ernähren können, bald die bunten überwuchern. Mancher schöne bunte Strauch, sowohl von der Hülse als auch aus anderen Gattungen, kann dadurch ganz grün werden, wenn nicht jährlich die grünen Aeste vom Gärtner zurückgeschnitten werden. Umgekehrt darf man von gar vielen Exemplaren der Stechpalme, welche jetzt grün sind, annehmen, dass sie ursprünglich bunt waren, und wohl auch als solche gekauft und gepflanzt worden sind. Häufig findet man denn auch, bei genauerem Zusehen, hier und dort noch einen bunten Ast, der die Richtigkeit dieser Auffassung bestätigt. Genau so verhält es sich mit der Rosskastanie, deren ältere, jetzt lebende Bäume zu einer Zeit gepflanzt wurden, als man mit Vorliebe ge- sprenkelt-blätterige Exemplare kaufte. Seitdem sind ihre Kronen grün geworden, und sieht man ihre ursprüngliche Natur nicht mehr. ! Meyen, Pflanzen-Pathologie. 1841. S. 282. 2 SCHLECHTENDAHL, Linnaea. 1830. V. S. 494. Ueber bunte Moose und Thallophyten scheint äusserst wenig bekannt zu sein. Die Buntblätterigkeit. 599 Aber hier und dort ein gescheckter Ast, und namentlich die bunten, meist fast völlig weissblätterigen Stammesausschläge verrathen, dass die betreffende Pflanze anfänglich eine buntblätterige war. Ueber- haupt sind in zahlreichen Fällen vereinzelte bunte Zweige an grünen Sträuchern und Bäumen nicht als etwas Neues, sondern als eine Er- innerung an längst vergangene Zeiten, an eine frühere, sehr all- gemeine Mode aufzufassen. Man unterscheidet verschiedene Sorten von Buntblätterigkeit. Erstens die gelbbunten und die weissbunten Varietäten. Den ersteren fehlt nur die genügende Ausbildung des Chlorophylis, den letzteren auch jene des Xanthophylis oder Carotins,' und mit dem Mangel beider Farbstoffe geht häufig eine mehr oder weniger kümmerliche Ausbildung der Chlorophylikörner selbst Hand in Hand.? Ferner unterscheidet man buntgeränderte, buntfleckige und buntgestreifte Sorten. Die ersteren scheinen eine Varietät für sich zu bilden, welche viel seltener ist als die letztere; sie scheinen gute Rassen zu sein, so beständig wie andere gute Gartenvarietäten. Auf sie werde ich in diesem Paragraphen nicht oder doch nur sehr ge- legentlich Rücksicht nehmen; das beste und am meisten bekannte Beispiel für sie liefert die bereits oben besprochene geränderte Stech- palme.® Ob eine Pflanze buntfleckig oder buntgestreift erscheint, hängt im Allgemeinen von der Nervatur ihrer Blätter ab. Viele bunte Monocotylen haben gestreifte Blätter (Agave, Convallaria majalis, Phor- mium tenax, Tradescantia repens u. Ss. w.), während die Dicotylen meist gescheckt oder gesprenkelt sind. Ob die mosaikartige Buntblätterig- keit der Abutilon-Blätter eine andere Ursache hat, als das gewöhnliche Bunt, ist noch zu untersuchen. Die mangelhafte Ausbildung des Chlorophylifarbstoffes bedingt selbstverständlich eine ungenügende Assimilation der Kohlensäure. ! Vergl. T. Tammes, Ueber Oarotin. Flora 1900. ?2 Ueber die anatomischen Verhältnisse vergleiche man die ausführlichen Studien von A. ZIMMERMANN, Ueber die Chromatophoren in panachirten Blättern, in den Beiträgen zur Morphologie und Physiologie der Pflanzenzelle. Heft II. 1891. S. 81—111, und Ber. d. d. bot. Ges. VIII. 1890. p. 95 und H. Tımpe, Beiträge zur Kenntniss der Panachirung. Inaug.-Diss.. Göttingen 1900. ® Es ist eine geläufige Behauptung, dass geränderte Sorten beständiger sind als gefleckte. Bereits MorREN (Heredite de la panachure, Bull. Acad. roy. Belg. T. XIX, 2. Serie, p. 225) hat solches betont (1865). Jedoch ist VerrLor (Des Varietes. 1865. p. 74) anderer Meinung. Vergl. über die bunten Hülsensorten (Ilex) auch Focke, Abh. d. Naturw. Ver. zu Bremen. Bd. V. S. 401—404. 600 N 'icht isolirbare Rassen. Die balten Theile w achken weniger as und sc weniger wider: standsfähig, als die entsprechenden grünen. Der Oyperus alternifolius unserer Gewächshäuser, die Aspidistra elatior und viele andere beliebte Sorten zeigen dies auf’s deutlichste. Arundo donax erreicht oft drei Meter Höhe und mehr; seine gestreifte Varietät wird kaum halb so hoch. Blätter der bunten Aspidistra sind nicht selten in der einen Längshälfte grün, in der anderen farblos; dann ist das Blatt ge- krümmt, das Zurückbleiben der letzteren im Wachsthum anzeigend. Und ähnlich in zahlreichen Fällen. Jedoch fehlt den gelben Blättern und Blatttheilen weder der grüne Farbstoff, noch auch das Vermögen der Assimilation gänzlich. An Alkohol geben sie meist einen grünen Auszug ab, und auch unter dem Mikroskop findet man hier und dort, besonders in der Nähe der Nerven, noch die Spuren grüner Körner. Oft aber genügt die Thätig- keit nicht, sie am Leben zu erhalten, und gehen sie, nachdem sie ihr Wachsthum vollendet, früher oder später ein. Starke Grade der Anomalie sind dadurch unbeliebt, mehrfach werden sie bereits früh durch braune Ränder unschön. Manches Individuum, das zu stark bunt ist, geht in frühester Jugend zu Grunde, andere werden nicht kräftig genug, um zu blühen und Samen zu tragen. Gerade dieser letztere Umstand ist von grossem Interesse, da er die Ursache ist, dass die besten Erben in der Regel von der Fortpflanzung der Varietät ausgeschlossen sind. Ferner hängt damit zusammen, wenigstens nach der Meinung vieler Autoren, dass Varietäten, welche gleichzeitig bunte Blätter und gefüllte Blüthen tragen, weit seltener sind, als man solches bei dem Vorherrschen dieser beiden Anomalien im Gartenbau erwarten würde. ? An panachirten Pflanzen sind bekanntlich nicht nur die Blätter gefleckt. Solches gilt sehr häufig auch von den Stengeln und vom Blüthenkelche, oft sogar auch von den Früchten (Birnen, Trauben, Kohlschoten, Barbarea vulgaris, Cheiranthus Cheiri, Alyssum maritimum, Acer, llex, Aegopodium, Ligustieum u. s. w.?). Auch Gallen auf bunten Eichen fand ich bisweilen buntfleckig, so namentlich die schönen kugelisen Gallen des Oynips Kollari. ! Es ist wohl überflüssig zu bemerken, dass rothgefleckte, braune und pur- purne Blätter u. s. w. von den obigen Auseinandersetzungen ausgeschlossen sind. Vergl. über diese’ die schöne Arbeit Srauı's Ueber bunte Laubblätter, Ann. Jard. Bot. es Vol. SIT. Heft02..189620p. 137. B. VERLOT, Sur la reden et la fixation des varietes dans les plantes enden 1865. S. 75. MoRrrEn, Heredite de la panachure, 1. c. p. 226. ® MOoRRENn, 1. c. p. 233. Die Buntblätterigkeit. 601 Wir gelangen jetzt zu der wichtigen Frage der Erblichkeit, dem Grade der Fixirung, wie man es gewöhnlich nennt. Dabei schliesse ich, wie bereits hervorgehoben, weissbunte! und geränderte Sorten aus, und beschränke mich auf den gewöhnlichen Fall gelbgescheckter Blätter. Und indem ich erst weiter unten die zahlenmässigen Belege geben werde, ist hier zunächst Stellung zu nehmen zu der Frage, ob die buntblätterigen Sorten Halbrassen oder Mittelrassen seien, im oben angedeuteten Sinne (Kap. Il dieses Abschnittes). Nach meiner Ueberzeugung handelt es sich bei den Garten- varietäten meist um Mittelrassen (z. B. Barbarea vulgaris), bei den zu- fällig bunt gefundenen Pflanzen aber gewöhnlich um Halbrassen. Dafür spricht namentlich die Mannigfaltigkeit und Unbeständigkeit der Formen. Und nur die Häufigkeit gescheckter Sorten und das hervorragende Interesse, das sich an sie knüpft, scheinen mir die Ursachen zu sein, weshalb sie gewöhnlich als den besten Varietäten ebenbürtig behandelt werden. Dazu kommt die allgemein herrschende Meinung, dass eine völlige Ausbildung der gelben Farbe zwar den Typus der constanten Varietät darstellen, aber gleichzeitig die Pflanze nothwendig zum Tode verurtheilen würde. Fast überall betrachtet man die Bunt- blätterigkeit als eine unvollendete Anomalie, deren vollendeter Zustand auf die Dauer existenzunfähig sein würde. Aber mit Unrecht.” Völlig gelbe Varietäten sind nicht nur mög- lich und existenzfähig, sondern auch im Gartenbau wohlbekannt. Allerdings in einer verhältnissmässig kleinen Reihe von Beispielen. Die Samen- und Pflanzencataloge führen vor allen Sambucus nigra aurea und Fraxinus excelsior aurea an, ferner die Aurea-Varietäten von Chrysanthemum carinatum, Mirabilis Jalapa, Scabiosa atropurpurea, Hu- mulus japonicus (lutescens) u. Ss. w. Diese Pflanzen sind, soweit ich sie kenne, meist gelbgrün bis goldgelb.” Auch scheinen sie sehr beständig zu sein, und nicht oder nur selten zum grünen Typus zurückzukehren. So säte ich in verschiedenen Jahren versuchsweise im Gewächshause meines Laboratoriums grössere Mengen von Samen von dem gewöhn- lichen goldgelben Ohrysanthemum Parthenium* (Matricaria eximia nana 1 Ueber diese — Albicatio, Albinismus — habe ich selbst keine Versuche gemacht, und die Literatur reicht zu einem sicheren Urtheile nicht aus. Viel- leicht würde sich für Versuche der prachtvolle weissbunte Humaulus japonicus variegatus empfehlen. 2 Vergl. $ 3 dieses Abschnittes (S. 422—428). 3 Einige der Genannten habe ich noch nicht eultivirt; auch deutet der Name aureus nicht immer auf einfarbige Sorten, z. B. Agave striata aurea. * Vırmorin’s Blumengärtnerei. Bd. II. S. 509. 602 Nieht isolirbare Rassen. compacta fol. aureis Hort.), und fand auf vielen Hunderten von Exemplaren nie eine Ausnahme von der goldgelben, gleichmässigen Farbe. Weder grüne noch auch bunte Keimlinge kamen vor. Bei Aussaaten käuf- licher Samen anderer Arten fand ich keine so völlige Reinheit, aber nur so viele Beimischungen grüner Pflanzen, als überhaupt in Handels- samen zu erwarten sind. So z. B. Stellaria graminea aurea mit 28%), und Myosotis alpestris compacta folüis aureis mit nur 3 °/, grünen Keim- lingen. Buntblätterige Exemplare fehlten aber auch in diesen Oul- turen durchaus. Dass die Aurea-Varietäten in Alkohol einen grünen Auszug geben, Fig. 173. Thymus Serpyllum. Der gewöhnliche Thymian; ein Exemplar mit einem bunten Zweiglein B. und hinreichend Chlorophyll enthalten, um sich zu ernähren, braucht wohl nicht besonders betont zu werden. Die Aurea-Varietäten und die gelb parachirten Sorten beruhen beide auf dem Vorherrschen des gelben Farbstoffes vor dem grünen. Diese Eigenschaft ist in den ersteren überall, in den letzteren nur tleckenweise ausgebildet. Die meisten bunten Pflanzen sind jenen zahllosen Halbrassen analog, welche ihre Anomalie — sei es Füllung, Becherbildung, Vierblätterigkeit, oder was man will — nur in einzelnen Organen und Theilen von Organen vorzeigen. Einzelne Sorten möchte ich als den gefüllten Varietäten ebenbürtig Die Buntblätterigkeit. 605 erachten, während die Aureae vielleicht ebenso constant sind, wie die Varietates discoideae und überhaupt wie die besten elementaren Arten. Das sehr verbreitete Vorkommen bunter Pflanzen spricht dafür, dass das lateute Vermögen der Panachirung im Pflanzenreich ganz allgemein verbreitet sei. Noch mehr spricht dafür der Umstand, dass man sowohl im Freien als im Garten alljährlich bei neuen Arten bunte Triebe oder bunte Exemplare antrifit. Dabei sind weiss oder gelb geränderte sowie weissbunte verhältnissmässig sehr selten. Ich beobachtete von ersterer Sorte ein Beispiel im Freien an der Oeno- thera Lamarckiana (1887, vergl. S. 345), und fand von der letzteren z. B. Spiraea Ulmaria, Calluna vulgaris, Trifolium pratense, Lychnis diurna, in den Jahren 1886 und 1887 in der Umgebung von Hilversum. Von gelbbunten Pflanzen fand ich daselbst in den beiden genannten Jahren: Plantago major, Phalaris arundinacea, Rhinanthus major, Erica Tetralix, Urtica urens, Hypericum perforatum, Trifolium pratense, Hieracium Pilosella, Rubus fruticosus, Polygonum Convolvulus und Geum urbanum. Von Arnica montana fand ich 1869 ein schön buntes Exemplar im Thüringerwald, und später von Plantago lanceolata in der Sächsischen Schweiz und von Thymus Serpyllum unweit Wyk aan zee (Fig. 173). Auch später habe ich sehr häufig einzelne bunte Exemplare von wild- wachsenden Arten beobachtet. Genau so traten sie in meinen Culturen auf, wo es sicher ist, dass sie durch Reihen von Generationen nur grüne Vorfahren hatten. So z. B. Chrysanthemum segetum, Antirrhinum majus, Polygonum Fagopyrum, Linaria vulgarıs, Stilene noctiflora u. S. W. Wegen der sehr ansehnlichen Ausdehnung meiner Culturen habe ich namentlich bei Oenothera Lamarckiana das Auftreten bunter Exem- plare verfolgen können. Sie erscheinen hier, aus grünen Vorfahren- reihen, fast alljährlich und in den verschiedensten Oulturfamilien und elementaren Arten.! Ich fand sie in dieser Weise in den Haupt- familien der Lamarckiana erstens im Freien am ursprünglichen Fund- orte, dann 1889, 1890, 1892, 1895, 1898, 1899 in meinen Culturen, deren Samenträger stets grüne Pflanzen waren. Ebenso in O. rubri- nervis 1891, 1893, 1894; in O. laevifolia 1891, 1894 und 1899; in O. sublinearis 1896; in O. lata 1390 und 1899; in O. nanella 1890, 1896 und 1899; in O. scintillans 1898, u. s. w. Ferner aus Kreu- zungen von O. lata x O. cruciata, von O. Lamarckiana x 0. Lam. cruciata, u. s. w. Im Jahre 1899 entstanden in meiner ganzen Üul- tur von über 5000 Oenothera-Pflanzen acht bunte Exemplare, somit ! Vergl. auch Abschn. II S. 345. 604 Nieht isolirbare Rassen. jedenfalls viel seltener. Eine der auffallendsten Erscheinungen an bunten Gewächsen ist die sogenannte Zweig- oder Knospenvariation. Aus einer Knospe entsteht ein Ast, welcher in Bezug auf die Panachirung sich sämmt- lichen übrigen Theilen der Pflanze entgegengesetzt verhält. Und zwar kommt es einerseits vor, dass bunte Pflanzen rein grüne Triebe, andererseits, dass bis dahin grüne Pflanzen einen buntgescheckten Zweig hervorbringen. In beiden Fällen äussert sich eine bis dahin latente Eigenschaft. Das Hervortreten von grünen Zweigen an bunten Gewächsen wird allgemein als Atavismus, als Rückschlag auf die Stammesform betrachtet. Es kommt namentlich an holzigen Arten und Stauden sehr häufig vor. Evonymus japonica, Ilex Aquifolium, Buxus semper- virens, Aucuba japonica, Quercus pedunculata, Weigelia amabilis, Cornus sanguinea und viele andere bilden allbekannte Beispiele; ferner wird es unter den perennirenden Kräutern wohl am meisten bei Arabis alpina gesehen. Als weitere Beispiele führe ich theils aus der Litera- tur, theils aus eigener Erfahrung Castanea vesca, Kerria japonica, Aesculus Hippocastanum, Yucca pendula aurea, Ulmus campestris, Zea Mays, Rubus fruticosus an, und es wäre ein Leichtes, die Liste noch bedeutend zu vergrössern. Die grünen Aeste können sich besser ernähren als die bunten, und wachsen daher kräftiger, erhalten sich und erstarken im Laufe der Jahre, und überwuchern häufig die anderen. Dabei bleiben sie in der Regel in allen ihren Blättern und Verzweigungen rein grün und machen den Eindruck, als ob sie die Fähigkeit zur Panachirung vollständig verloren hätten. Dem ist aber nicht so, denn von Zeit zu Zeit sieht man an solchen grünen Abschnitten wiederum einzelne bunte Zweiglein sich bilden. Namentlich Arabis alpina ist hier lehr- reich, da sie aus sehr zahlreichen Knospen zu varliren pflegt, und man die einzelnen Theile leicht trennen und getrennt weiter cultiviren kann. Aehnliche Fälle von doppeltem Rückschlage beobachtete ich 1893 an Castanea vesca variegata und Kerria japonica variegata, welche auf einem grünen Aste wiederum je ein kleines buntes Zweiglein trugen. Und ähnlich in anderen Fällen. Die mangelhafte Ernährung macht die bunten Blätter häufig kleiner als die grünen. Fehlt der Farbstoff namentlich in den Rand- partien, so werden diese zu klein für die mittleren Theile der Spreite und es wölbt sich das Ganze. Einseitiges Zurückbleiben des Wachs- thums führt zu Krümmungen. Diesen Erscheinungen verdanken bunte Die Buntblätterigkeit. 605 Gewächse häufig ein Aeusseres, das von demjenigen ihrer Mutterart durchaus verschieden ist. Tritt dann Rückschlag durch Knospen- varlation ein, so verschwinden alle. diese abgeleiteten Merkmale wie mit einem Schlage; die grünen Blätter sind flach ausgebreitet, von normaler Gestalt und oft doppelt so gross als wie die bunten. Sie fallen dann bereits von Weitem auf. Solches beobachtete ich in sehr schöner Weise namentlich bei Castanea vesca und Ulmus campestris, aber auch Kerria japonica und viele andere Arten zeigen dasselbe. Es ist vielfach die Frage ventilirt worden, welche Knospen vor- zugsweise zu atavistischen Trieben werden. Namentlich die Rhizom- knospen und die Adventivknospen auf Wurzeln wurden dabei berück- sichtigt. So bildet @lechoma hederaceum variegatum oft grüne Aus- läufer,* während das bunte Tussilago Farfara aus seinen Ausläufern sich echt erhält. Von Rubus fruticosus besitze ich seit mehr als zehn Jahren ein buntes Exemplar, welches aus seinen Wurzelknospen, je nach Umständen und je nach den Jahren, das eine Mal vorwiegend grüne, das andere Mal vorwiegend bunte Pflänzchen emporspriessen lässt. Es ist mir wahrscheinlich, dass die schwächeren Knospen im Allgemeinen zum Atavismus neigen; da sie dann aber grüne Triebe hervorbringen, welche viel kräftiger wachsen, als ihre bunten Nach- barn, entzieht sich dieses Verhältniss meist der Beobachtung.? Bunte Zweige an grünen Pflanzen kommen fast ebenso häufig vor. Im Gartenbau nimmt man allgemein an, dass die zahlreichen buntblätterigen Varietäten von Holzgewächsen mit nur wenigen Aus- nahmen in dieser Weise entstanden sind. Zu diesen Ausnahmen zählt Weigelia amabilis variegata, welche von van HouTTE aus Samen der grünen Sorte erzogen wurde,? und ebenso ein bunter Weinstock, den Knıcnt gewann.* In vielen Fällen ist der erste Fund auf- gezeichnet. So beschreibt WoLrr,° dass er an einem Strauche von Spiraea opulifolia einen buntblätterigen Trieb fand. Die Blätter waren weisslichgrün mit schwefelgelbem, häufig durch dunkelgrüne Flecken unterbrochenem Rande. Die neue Form war durch Stecklinge leicht zu vermehren und kam als Sp. op. heterophylia fol. aur. marg. in den Handel. IZVERLOTN 12.0. 8.78. ? In der Literatur findet man vielfach die Meinung, dass gerade die stärksten Triebe grün werden würden; solches beruht aber wohl grossentheils auf der oben angedeuteten Verwechselung von Ursache und Folge. 3 VERLOT, 1: e.'S. 74. * DE CanDoLLE, Physiologie. II. 8. 734. 5 Gartenflora. Vol. 39. 1890. S. 9. 606 Nicht isolirbare Rassen. variation, und wie es scheint, ist dieses nahezu die einzige Knospen- variation, welche an wildwachsenden Pflanzen angetroffen wird. Denn sonst tritt diese Erscheinung wenigstens vorwiegend als Rückschlag an cultivirten Varietäten oder an Bastarden auf. Ich selbst fand sehr schöne und reich beblätterte bunte Zweige an Quercus pedunculata, Betula alba und Fagus sylwatica in den Forsten unweit Hilversum, je einen bereits verzweigten Ast an einem sonst grünen Bäumchen, unter Hunderten bezw. Tausenden von völlig grünen Exemplaren. An bunten Zweigen tritt die Buntblätterigkeit häufig nur einseitig auf. Die Anomalie ist lateral oder unilateral ausgebildet, oder noch besser gesagt sectorial. Denn in der verticalen Projection des Zweiges ist es meist ein einziger Sector, der bunt ist, oft die Hälfte, oft ein Drittel, vielfach auch einen kleineren Theil des Stengelumfanges beeinflussend.! Die sectoriale Variation verhält sich hier ähnlich wie bei den gestreiften Blumen. Die Knospen in den Achseln der Blätter auf den bunten Sectoren pflegen zu bunten Trieben, diejenigen auf den grünen Sectoren zu grünen Trieben auszuwachsen. Die Züchter berücksichtigen dieses bei der Vermehrung bunter Sorten durch Stecklinge, wie wir bereits früher gesehen haben.” Es scheint, dass die Knospenvariation, sowohl die progressive (Bunt hervor- bringende), als die retrogressive oder atavistische, allgemein an eine vorangegangene sectoriale Variation gebunden ist. Nur lässt sich dieses in den meisten Fällen nicht mehr nachweisen. Bei Quercus pedunculata beobachtete ich, wie oben erwähnt, auf einem grünen Strauche einen buntblätterigen Zweig. Hier erstreckte sich das Bunt auch auf die Rinde, und war die Farbe der vorjährigen Aeste somit noch zu erkennen. Der Tragast ergab sich als einseitig bunt, und auf dieser Seite war der bunte Zweig eingepflanzt; die Zweige der anderen Seiten waren grün (Hilversum 1886). Bei Pflanzen mit zwei- zeiligen Blättern, wie Oßstanea vesca, Ulmus campestris u. s. w. ist oft die eine Blätterreihe eines Zweiges bunt, die andere grün. In solchen Fällen fand ich an den älteren Theilen auf der grünen Seite die Seitenzweige völlig grün, auf der bunten Seite aber bunt. Ich wieder- hole hier, dass den grünen Zweigen in solchen Fällen immer eine, wenn auch sehr stark geschwächte „Neigung“ innewohnt, um wiederum bunte Blätter hervorzubringen. Der Gegensatz zwischen grün und ! Es wäre von höchstem Interesse, das secetoriale Bunt bei den Coniferen und Gefässcryptogamen (z. B. Juniperus, Adianthum, Selaginella u. s. w.) in Be- ziehung zu den Theilungen der Scheitelzelle zu studiren. ?2 Vergl. Sarter’s Methode. Abschnitt I. S. 104. Die Buntblätterigkeit. 607 bunt ist hier in Wirklichkeit nicht so gross, wie er auf den ersten Blick zu sein scheint. Wir kommen jetzt zu der Besprechung des Einflusses äusserer Umstände auf den Grad der Buntblätterigkeit." Die Literatur ist hier überaus reich an sich widersprechenden Angaben. Diese rühren, wie schon erwähnt, hauptsächlich daher, dass die grünen Theile so erheblich kräftiger wachsen, als die bunten. Es muss Jedem sofort auffallen, dass sie die stärkeren sind, und die Folgerung liegt somit nahe, zu meinen, dass die kräftigsten Theile der bunten Pflanzen am leichtesten grün, die schwächsten Triebe grüner Gewächse am ehesten bunt werden. Jedoch täuscht hier die Schlussfolgerung. Die be- obachteten Verhältnisse werden von der Anomalie bedingt, ob sie diese auch selber bedingen, geht daraus keineswegs hervor. Soweit meine Erfahrung reicht, ist das Umgekehrte der Fall, und bildet die Buntblätterigkeit keine Ausnahme von der allgemeinen Regel für semi- latente Eigenschaften, dass günstige Lebensbedingungen den Grad der Anomalie erhöhen. Das schönste Beispiel bildet der bunte Meerrettig (Cochlearia Armoracea variegata), der bekanntlich bei schlechter Behandlung nahezu grün, unter Glas oder im warmen Mistbeet häufig völlig weiss aus- treibt. Freiland-Pflanzen sind an sonnigen Stellen oft schön bunt, während sie an beschatteten Orten viel stärker grün sind. Solches berichtet z. B. SCHLECHTENDAHL von Plectogyne variegata, auf deren Blättern durch Versetzen willkürlich mehr oder weniger schöne weisse Streifen hervorgerufen werden können.? Fragaria indica variegata ist eine beliebte Hangpflanze; wünscht man sie schön bunt zu haben, so muss sie in gute trockene, nicht zu lehmige oder in kalkhaltige Erde gepflanzt werden.” Dasselbe gilt von den panachirten Sorten gewöhnlicher Erdbeeren, bei denen „la panachure peut s’obstenir pour ainsi dire a volonte“, wie VERLOT sagt,* es kommt nur darauf an, sie in trockener Lage zu cultiviren. Die trockene Lage ist aber zu gleicher Zeit die sonnige, die feuchte aber die schattige. Versuche, welche ich mit dieser und mehreren anderen buntblätterigen Sorten der verschiedensten Arten anstellte, um in voller Sonne durch täg- lich reichliche Bewässerung einen Einfluss auf die Buntblätterigkeit auszuüben, blieben durchaus ohne Erfolg. Dagegen gelang es mir ! E. LAURENT, Sur lorigine des varietes panachees. Bull. Soc. R. Bot. Belgique. T. 39. 1900. 8. 6—9. ?2 Bot. Zeitung. 1855. S. 558. ® VILMORIN-ÄnDRIEUx, Fleurs de pleine terre. S. 408. =VERLOT. 1..c. S. 10. 605 Nicht isolirbare Rassen. mit der bunten Tradescantia repens, welche ich zu diesem Zwecke in einer Anzahl von Töpfen cultivirte, durch einfaches Versetzen an besser oder weniger gut beleuchtete Stellen der Gewächshäuser, ohne Aenderung des Bodens oder der Bewässerung das Verhältniss zwischen den grünen und den gelben Streifen abzuändern. ‚Je intensiver das Licht, um so bunter wurden die neu sich bildenden Blätter.! An bunten Sträuchern sieht man häufig, dass die besser be- leuchteten Theile stärker bunt, die beschatteten aber grüner sind. Sogar die bunten Üoniferen zeigen solches, z. B. Juniperus, und von Sambucus nigra ist es allgemein bekannt. Auch Myrten mit gestreiften Blättern sind in ihrer Panachirung von der Ernährung abhängig, ? und von verschiedenen Autoren und Gärtnern wird dem Boden und der Lage ein mehr oder weniger bedeutender begünstigender Einfluss auf den Grad der Panachirung zugeschrieben.” Als Beispiele werden Pelargonium zonale, Convallaria majalıs, Mentha aquatica, Phalaris arun- dinacea, Phlox. decussata u. a. genannt. Mehrfach sind solche Gewächse bei ungenügender Behandlung durch ein oder zwei Jahre völlig grün, um dann, bei besserer Sorgfalt wieder schön bunt zu werden.° Wie von der Lebenslage, so hängt die Buntblätterigkeit auch von der Jahreszeit ab. Giebt man genau Acht, so sieht man in den Gewächshäusern an bunten Sorten die Triebe, welche im Sommer entstehen, schöner gefleckt, diejenigen, welche sich in der lichtärmeren Winterszeit bilden, grüner, bisweilen fast ganz grün. So verhält es. sich wenigstens in unserem Klima. Nur muss man darauf achten, dass die im Sommer gebildeten Blätter den Winter über an den Sträuchern bleiben, und in ihrer Gelbfleckigkeit nicht mehr verändert werden; es ist somit nicht das ganze Bild der Pflanze von der Jahres- zeit abhängig. Quercus pedunculata argenteo-pieta treibt im Frühjahr grün, später aber weiss oder bunt aus.° Junge Pflänzchen im Früh- jahr sind oft noch grün, wenn sie später bunt werden sollen, z. B. Symphytum, Barbarea vulgaris u. s. w.” An einer Öultur von Geum urbanum habe ich durch eine Reihe von Jahren feststellen können, dass meine bunten Exemplare im Herbst allmählich grüne Blätter ! Ueber den Einfluss von Gallen auf Buntblätterigkeit bei Pupatorium. cannabinum vergl. S. 291. 2 Meven, Pflanxzen-Pathologie. S. 287. > So von SaLter in Darwın, Variations. II. S. 263—264. = DARWIN, li@c. 1.58.2390. I1..78::268. SZVIERTOD ICH AS H1D: 6 L. Beissner, Knospenvariation. Mittheilungen d. d. Dendrolog. Gesellsch.. Nr. 4, 1895. NV ERDOTElCH ST: Die Buntblätterigkeit. 609 trieben, während die bunten abstarben. Im Winter waren sie dann stets völlig grün, aber sobald im Frühling das Leben wieder erwachte, fingen sie wieder an gefleckte Blätter zu treiben, und den ganzen Sommer über waren sie dann wieder schön bunt. So verhielten sie sich jeden Winter ihres Lebens. Umgekehrt ist eine Varietät des Zierkohles mit gelbgeaderten Blättern im Spätherbst und im Winter schön bunt, im Frühling und Sommer aber völlig grün.! Bei allen diesen Beobachtungen war die Knospenvariation aus- geschlossen. Ueber ihre Ursachen weiss man sehr wenig. Dagegen ist es Jedem bekannt, dass, wenn ruhende Knospen an bunten Pflanzen zum Austreiben und zum kräftigen Wachsthum gebracht werden, sie gar häufig zu völlig weissen oder gelben, sogenannten chlorotischen Zweigen auswachsen. Es sind dieselben Knospen, welche unter ähn- lichen Veranlassungen an grünen Sorten zu kräftigen Wassertrieben werden würden. Aber die Chlorose stellt bald ihrer Entwickelung ein Ziel. Adventive Knospen am Stamme wenig oberhalb des Bodens bilden gerne solche chlorotische Triebe, sei es, dass der Stamm ab- _ gehauen war, sei es, dass er von Schnecken oder anderen thierischen Feinden entblättert war, sei es, dass eine andere Ursache die Veran- lassung zu ihrem Wachsthume gab. Aesculus Hippocastanum ist wohl das bekannteste Beispiel, ebenso Pvonymus japonicus, Pelargonium zonale, Azalia japonica, Aucuba japonica, Ilex Aquwifolium. Ferner Spiraea callosa, Kerria japonica, Vinca major,” Hydrangea hortensis,® Fagus sylvatica,* Ulmus campestris, Cornus sanguwinea,” Sambucus nigra,° Myrtus communis tarantina,° Zeu Mays u. a.7 Die Vererbung der Buntblätterigkeit durch Samen gehört zu den interessantesten Erscheinungen, welche die ganze Gruppe uns bietet. Die bunten Sorten sind wohl alle mehr oder weniger erblich, oft in ! H. Morıson, Ueber die Panachüre des Kohls. Berichte d. d. bot. Gesellsch. BASXRIX. 1901.78: 32 ® VERLOT, 1. c. 8. 75, hier auch G@lechomn hederacea. ®? Morren, Heredite, 1. ec. S. 230, hier auch Pelargonium inquwinans. * Nach ScHrEiven, nach Beschädigung durch Schnecken, eitirt von MOoRREN, PREIS T22X. > Ulmus, Cornus und Sambucus nach eigener Beobachtung. Ich sah solche Triebe selbst auch mehrfach bei den meisten oben genannten Sorten. 6 G. Arcanseıı, Bull. Soc. Bot. Ital. 1895. S. 16—18. ” Ueber die beim Propfen bunter Sorten vielfach beschriebenen Ansteckungs- erscheinungen zwischen Edelreis und Wildstamm vergleiche man den zweiten Band. Es ist nicht unmöglich, dass die Vertheilung der gelben Flecken in einem und demselben Blatte auch zum Theil auf Ansteckung beruht, und nur zum anderen Theil auf ontogenetischem Wege zu erklären ist. Doch sind hier ein- gehende entwickelungsgeschichtliche Untersuchungen ein dringendes Bedürfniss. DE VRIES, Mutation. 1. 39 610 Nicht isolirbare Rassen. sehr geringem, oft aber in hohem Grade. Dazu kommt, dass sie so zu sagen von selbst selectirt werden, denn jeder Gärtner pflanzt selbst- verständlich nur bunte Exemplare aus und verwirft die grünen; ebenso pflegt man stets die durch Knospenvariation entstehenden grünen Zweige zurückzuschneiden. Es liegt hier eine Art unbewusster Auslese vor, welche aber in sich völlig gleichbleibender Richtung durch viele Jahrzehnte, und in manchen Fällen durch Jahrhunderte ihren Einfluss auf die Pflanzen ausgeübt hat. Und was hat diese fortwährende Auslese geleistet? Gar nichts. Wenigstens, so viel wir wissen, weiter nichts, als dass sie die bunten Sorten erhalten und uns in ziemlich reinem Zustande überliefert hat. Von einer Fixirung ist übrigens nirgendwo die Rede, weder davon, dass die Sorten sich ohne oder fast ohne Atavismus durch Samen vermehren würden, noch auch davon, dass sie die ihnen entsprechen- den reinen und constanten Varietäten hervorgebracht hätten. Denn als solche betrachtet man, wie oben bereits aus einander gesetzt wurde, rein gelbe Varietäten, denen unter den bekannten Sorten des Garten- haues die Aurea-Formen am meisten entsprechen würden. Solche Aurea-Formen giebt es aber in unseren Gärten vielleicht zwanzig oder dreissig, oder doch nur wenig mehr, und dieses bedeutet gegenüber der fast unendlichen Reihe bunter Sorten so gut wie nichts. Auch haben gerade die am längsten und am meisten cultivirten bunten Typen keine Aurea-Varietäten hervorgebracht. ! Ich folgere daraus, dass fortgesetzte Selection aus den bunt- blätterigen Gewächsen, ohne Weiteres, keine constanten Formen zu bilden im Stande ist. Dazu ist noch etwas Anderes erforderlich, und dieses Andere lieferte bis jetzt nur ein sehr seltener Zufall. — Und was dieser lieferte, ist der Uebergang einer Rasse in eine andere, ein Ueber- sang, der nach meiner Auffassung nicht allmählich bewirkt werden kann, sondern der plötzlich aus unbekannten Gründen eintritt. Also im vollen Sinne des Wortes eine Mutation. Je älter die bunten Pflanzen in der Cultur sind, um so deut- licher spricht der Mangel jeglichen Fortschrittes sich aus. Das beste Beispiel bietet hier das alte Sanct-Barbara-Kraut,? eines der ältesten, beliebtesten und am weitesten verbreiteten bunten Gewächse, das jetzt noch so häufig eultivirt wird, dass man es gar oft in verwildertem Zustande beobachtet (Barbarea vulgaris variegata). Die Pflanze wird, obgleich sie eine Art Kresse ist, fast nur wegen der schönen bunten ! Vergl. die Liste auf S. 601. ?2 VILMORIN-ÄNDRIEUX, Fleurs de pleine terre. S. 33. Die Buntblätterigkeit. 611 Blätter eultivirt. Sie ist zweijährig und ausreichend samenbeständig, und wird gewöhnlich durch Samen vermehrt, obgleich man dazu auch ihre Wurzelschösslinge verwenden kann. Sät man den Samen aus, so findet man nur einen geringen Procentsatz der Keimlinge bunt. Ich fand auf einige Tausend Keimlinge, aus Samen, welche ich selbst von isolirten schön bunten Exemplaren geerntet hatte, nur 1°/, bunte, keine weissen oder gelben, und 99°/, Exemplare, deren Cotylen und erste Blätter rein grün waren. Von den grünen entwickeln sich selbstverständlich eine grössere Menge später noch zu bunten Pflanzen.’ Aber völlig fixirt kann man die Sorte bei Weitem nicht nennen. Zahllose buntblätterige Varietäten, namentlich von ein- und zwei- jährigen Pflanzen, sind samenbeständig. MORREN, CARRIERE? und andere Autoren haben darüber Listen zusammengestelit, in den Handels- catalogen kann man jährlich ausgedehnte Angaben finden. Es handelt sich dann selbstverständlich nur um praktische, nicht um absolute Constanz: die Ernten geben eine hinreichende Sicherheit, unter den Keimpflanzen eine gewisse Menge bunter Individuen zu finden. An- gaben über die Grösse dieses Verhältnisses sind selten. GODRoN fand Acer strialum variegatum nur in !/, der Keimpflanzen erblich.® VıvıanD- Moren fand auf 500 Keimlingen von Hedera Helix variegata und auf 50 von bunten Yucca nur einzelne bunt, die meisten blieben grün.* Prix sagt, dass von Sophora japonica folüis variegatis die Samen stets mehr bunte als grüne Pflanzen geben.” Bei diesen und ähnlichen Angaben weiss man in der Regel aber nichts über die Frage nach der Isolirung der die Samen liefernden Individuen. PoLLock säte Samen einer im Freien gefundenen bunten Pflanze von Ballota nigra; er erhielt 30°/, bunte Keimpflanzen. Aus deren Samen aber ergab die folgende Generation 60°/, panachirte Individuen.® Jetzt ist die Pflanze im Handel, und aus den Handelssamen erhielt ich 25°/, bunte und 75°/, grüne Planzen. Die Samen eines in der Nähe von Amster- dam gesammelten bunten Exemplares von Ohrysanthemum inodorum lieferten mir auf 65 Pflanzen 5°/, bunte Keimpflanzen und 17°/, Exemplare, welche im Laufe des Sommers noch gefleckte Blätter ! Nach Morren, Heredite, 1. c. S. 229 werden etwa 70—90°/, der Sämlinge im späteren Leben bunt. 2 E. A. Carrıere, Produetion et fixation des varietes. 1865. 8. 14. ® Mem. Acad. Stanislas. 1873. * Lyon horticole. 1893. S. 144. SEVERLOT, 1. 0 9..19. 6 Darwın, Variations of Animals and plants. I. 8. 409. Lunaria biennis erhielt ich (1893) nur grüne Pflanzen; ebenso 1896 aus einer selbstbefruchteten bunten Oenothera Lamarckiana, doch in gewöhnlichen Fällen sind diese beiden Sorten samenbeständig. Bunte Oenothera rubrinervis gaben 20°/, bunte Keimpflanzen (1892), bei einer Wiederholung mit einem anderen Exemplare (1393) aber nur grüne, Beim sectorialen Bunt liegt es auf der Hand zu erwarten, dass die Samen der bunten Sectoren mehr gefleckte Pflanzen geben werden als diejenigen der grünen Sectoren. Die einzige mir bekannte dies- bezügliche Angabe in der Literatur rührt von Hrmsıus! her. Er beobachtete einen Stengel von Dianthus barbathus, dessen eine Längs- hälfte bunt war, während die andere sich in der gewöhnlichen Weise grün gefärbt zeigte. Während der Blüthezeit wurde die Pflanze durch Gaze gegen Insectenbesuch geschützt und künstlich befruchtet, und zwar jede Blüthe mit dem Pollen einer Blüthe derselben Längshälfte. Auf der einen waren die Früchte weiss, auf der anderen grün; beide bildeten reife Samen aus. Die Samen der weissen Früchte keimten ohne Chlorophyll, diejenigen der grünen Kapseln aber waren normal srün. Im Jahre 1888 sammelte ich von einem sectorialen Haupt- stengel von Oenothera Lamarckiana die grünen und die bunten Früchte besonders; die Samen der ersteren lieferten fast nur grüne, die der letzteren vorwiegend bunte Pflanzen. Im Sommer 1895 sammelte ich von derselben Art die Früchte eines grünen und eines bunten Zweiges derselben Pflanze; die beiden Samenproben ergaben aber gleichviel bunte Exemplare, und zwar sehr wenige, etwa 2°/,. Im Sommer 1898 habe ich über das sectoriale Bunt von Oeno- thera-Lamarckiana einen ausführlicheren Versuch gemacht. Zufällig in den normalen Familien meiner Culturen bunt gewordene Exemplare hatten bei künstlicher Selbstbefruchtung nur etwa 2°/, bunte Kinder gegeben, und bei derselben Sorgfalt ebenso viele bunte Enkel. Aus diesen wählte ich 1898 die vier schönsten jungen Pflanzen aus, pflanzte sie in gegenseitiger Entfernung von etwa 1 Meter, und erhielt kräftige, reich verzweigte, zum Theil schwach, zum Theil stark bunte Exemplare, an denen die Blüthen, von denen ich Samen zu ernten wünschte, unter Ausschluss des Insectenbesuches mit ihrem eigenen Pollen befruchtet wurden. Auf jeder der vier Pflanzen befruchtete ich zunächst Blüthen auf rein grünen, und solche auf bunten Seiten- zweigen. Die Samen ergaben, auf 675 Keimlinge der ersteren und ı H. W. Heımsıus im Sitzungsbericht des Genootschap ter bevordering der Natuur-Genees- en Heelkunde te Amsterdam. Sitzung vom 7. Mai 1898. Die Buntblätterigkeit. 613 1300 der zweiten Gruppe, folgende Procente an gelben oder bunten Keimpflanzen: Procentgehalt an bunten Keimen: Pflanze Grüne Zweige Bunte Zweige Nr. 1 0—0 . ” 2 va 3 8 00 4—12—18 u, 00 6-9 —45—100 Jede Zahl bezieht sich auf einen besonderen Ast. Die sechs grünen ergaben also nur grüne Keimlinge; die bunten aber. alle mehr oder weniger bunte Pflänzchen. Die Zahlen 1—3 — 4 und 45°), beziehen sich auf schwach bunte Zweige; die übrigen auf stark bunte; die letzteren gaben also einen grösseren Procentgehalt an bunten Nachkommen. Die „bunten“ Keimlinge hatten theils gelbe, theils ge- fleckte Cotylen, theils grüne Cotylen und gefleckte Blätter, und zwar im Ganzen 68°/, der ersteren, 12°/, der zweiten und 20°/, der dritten Gruppe. Je mehr eine Samenprobe von den gelben Keimen enthielt, um so mehr bunte Keime führte sie in der Regel daneben. Von einer gelben Frucht sammelte ich die Samen für sich; es keimten deren nur elf, diese hatten aber alle rein gelbe Cotylen. Grün ge- streifte Früchte hatten dagegen sehr wechselnde Procente an bunten Keimen, ebenso gestreifte Fruchtfächer, wenn ich ihre Samen getrennt geerntet hatte. Dagegen gaben die Samen grüner Fruchtfächer bis jetzt nur grüne Keime. Die Farbe der Keime wird somit sehr wesentlich von der Farbe des Theiles der Mutterpflanze bedingt, auf dem der Same (und der Blüthenstaub) entstanden waren. Ich untersuchte ferner bei verschiedenen Arten die Keimlinge aus Samen von grünen und von bunten Zweigen derselben Pflanze bei künstlicher Isolirung, sei es mittels Pergaminbeuteln, sei es durch Verpflanzen der Theile in ausreichender Entfernung, sei .es durch angleichzeitiges Blühen.! Ich fand die folgenden Procente an bunten und chlorophylllosen Keimlingen: Samen von A. Käufliche bunte Rassen: grünen Zweigen bunten Zweigen Arabis alpina 2—10 °/, 90%, Hehianthus annuus Gem 100 „, B. Zufällige Funde: Lamium album 0025 3; Geum urbanum 0-3... „ 4 „ Silene noctiflora (er) (82...) ! Nur bei Silene noetiflora war die Bestäubung eine freie. 614 Nicht tsolirbare Rassen. Der hohe Gehalt der grünen Theile von Arabis alpina hängt ver- muthlich mit der grossen Leichtigkeit zusammen, mit der diese Art Knospenvariationen hervorbringt, sowohl bunte Zweige aus grünen, als auch grüne aus bunten. Schliesslich sind die gelben Keimpflanzen der bunten Pflanzen zu besprechen. Diese scheinen allerdings Mutanten, sind aber nur die extremen Varianten der Rasse, welche jedoch das Ziel nicht erreichen, sondern vorbei streben. Denn sie sind zu arm an Chlorophyll, und somit dem Tode gewidmet. Sie sterben fast aus- nahmslos, ohne es zur Entfaltung ihrer ersten Blätter zu bringen, bisweilen sogar ohne die Samenlappen ausbreiten zu können. Sie sind das äusserste Glied der langen Reihe bunter Formen, aber in einer falschen Richtung. Sie sind gar nicht selten; im Gartenbau z. B. für die Stechpalme (Nex Aquifolium) wohl bekannt; sie bedingen oft einen ganz bedeutenden Verlust an Keimpflanzen, wenn man die Samen bunter Exemplare aussät. Aber nicht nur bunte Gewächse bringen solche Keime hervor, auch grüne thun dieses nur zu oft, und zwar in zu experimentellen Zwecken cultivirten Familien auch dann, wenn die Culturen alljährlich rein grün sind, oder nur ganz gelegentlich ein vereinzeltes buntes Blatt oder ein geflecktes Zweiglein ausbilden. Sät man dabei die Samen der einzelnen Samenträger gesondert, so findet man sehr wechselnde Gehalte an bunten Keimen. Einige Arten scheinen solche nicht hervorzubringen, so z. B. die von mir cultivirten tricotylen Rassen von Cannabis sativa, Mercurialis annua und Phacelia tanacetifolia, obgleich ich im Laufe der Jahre von mehreren Hundert Einzelpflanzen die Samen getrennt ausgesät habe. In anderen Arten sind sie sehr selten, in noch anderen aber steigt der Procentgehalt an gelben Keimen oft zu einer bedenklichen Höhe. So fand ich z. B. in den Samen je eines einzelnen Samenträgers als höchste Zahlen, neben viel zahlreicheren niedrigeren, für: Gelbe oder weisse Keime Antirrhinum majus 5—6 %, Clarkia pulchella 9—13 „, Papaver Rhoeas 15—30 „, Polygonum Fagopyrum 8—12,,, Scrophularia nodos«a 10—15 „, Trifolium incarnatum 4—6 „ Chrysanthemum segetum I Linaria vulgaris Zoe, Trifolium pratense 1 urn x Oenothera Lamarckiana 20 Die Buntblätterigkeit. 615 Bei vielen anderen Arten fand ich bis jetzt nur etwa 1—2°/, gelber Keime in den Samen einzelner Samenträger. Vermuthlich wird diese extreme Variation, neben der erblichen Anlage, von ähnlichen Ursachen bedingt, wie die Varianten in den kleinen Samen von Tri- folium incarnatum (S. 579). In einigen Fällen, z. B. Polygonum Fagopyrum und Trifohum in- carnatum fiel es mir auf, dass die höheren Erbzahlen häufiger waren als die niederen. Namentlich war dies der Fall bei Papaver rupifragum, unter den Kindern einer einzigen Mutter. Diese Mutter war aus durch Tausch erhaltenem Samen als tricotyle Pflanze ausgewählt, blühte 1898 völlig isolirt und gab in ihrer Ernte 6°/, gelbe Keime. Von den grünen pflanzte ich etwa Be = en 60 aus, welche 1899 zum grössten EIE IM. Paper repfrayen. Gel Theile blühten. Ich überliess die gelben Keimen. Die Pflanzen selbst Befruchtung den Insocten, sammelte Yu, Kinder, sr sign, grünen die Samen aber für jede Pflanze sind in etwas abweichendem Maassstabe getrennt, und zählte dann auf je gezeichnet. Die Zahlen 3—6— 9 u.s. w. bedeuten 2—4, 5— 7, 8—9°/, gelbe Keim- ni L l il O3 6 I a ENTER 2 300 Keimlingen die Zahl der gelben. linge u. s. w. Ich fand: GER 051.237 74555627705 8.95 100.141 12 13.214 715916, 517.22 2227230 Ex.: 20 8a ae ee ee a en ee ra Oder: 27 6 3 0 4 5 6 Baer nn: Es bedeutet G. K. Gelbe Keime pro Samenprobe und Ex. die Anzahl der Exemplare, welche in ihrer Ernte diesen Gehalt aufwiesen. In der unteren Linie sind diese von 2°/, an in Gruppen von je drei zu- sammengefasst, um die Uebersicht zu erleichtern. Die Zahlen dieser letzteren Zeile sind in Fig. 174 graphisch dargestellt worden. Diese Curve stimmt mit derjenigen der Monstrositäten nach mehrjähriger Selection überein,! sie besteht wie diese in einer halben und einer zweischenkeligen Curve. Sie deutet somit auf eine Auslese einer latenten Eigen- schaft hin, welche Auslese in der Wahl einer tricotylen Pflanze, ? verbunden mit einem glücklichen Zufall, ihren Ausgangspunkt hatte. ! Vergl. den zweiten Band und Sur les courbes galtoniennes des monstruosttes. Bull. Se. de la France et de la Belgique, publie par A. Garn. T.27, Avril 1896. p.396. 2 Vergl.: Ueber eine Methode, Zwangsdrehungen aufzusuchen. Ber. d. d. bot. Ges. Bd. XII. 1894. S.'25. 616 Nicht isolirbare Rassen. Nach den mitgetheilten Beobachtungen und Versuchen stellen die bunten Gewächse eine Gruppe von Formen dar, welche es trotz einer durch Jahrzehnte und Jahrhunderte fortgesetzte Selection nicht weiter gebracht haben, als viele der neuesten bunten Varietäten. Sie sind im höchsten Grade variabel, liefern meist fast alljährlich einerseits grüne Nachkommen, andererseits rein gelbe Keime. Die ersteren werden als Atavisten betrachtet, die letzteren aber sind nur Varianten und keine Mutanten; soweit die Beobachtungen reichen, haben sie keine Aussicht, je eine rein gelbe Rasse zu begründen. Auch sind solche, die echten Aurea-Varietäten, nur in verhältnissmässig äusserst seltenen Fällen entstanden. Mög- licherweise aus bunten Typen, aber ohne dass Thatsachen vorlägen, um diese Vermuthung zu begründen. Das Vermögen, bunte Blätter oder gelbe Keime hervorzubringen, ist im latenten und semilatenten Zustande im Pflanzenreiche so weit verbreitet, als kaum irgend eine andere Eigenschaft. $ 25. Facultative Ein- und Zweijährigkeit. Zu den wichtigsten Stützen für die Mutationslehre gehört die Erscheinung, welche man bei den Rüben das Aufschiessen nennt. Man sieht es fast auf jedem Rübenacker; einzelne Exemplare treiben bereits ım ersten Jahre einen Stengel, blühen und tragen Samen. Sie lagern keinen Zucker und keine sonstigen Nährstoffe, oder doch einen ungenügenden Vorrath in ihrer Wurzel ab, welche dazu meist ziemlich holzig wird. Sie sind für die Oultur verloren. Auf guten Aeckern bilden sie meist etwa 1°/, oder wenig mehr, selten einen kleineren Theil der ganzen Pflanzung. Unter ungünstigen Bedingungen steigt ihre Zahl aber oft erheblich, bis 10—20°/, und bisweilen noch höher. Kein Landwirth wird Samen von solchen einjährigen Rüben zur Aussaat verwenden; sie bieten offenbar eine zu grosse Aussicht auf eine Wiederholung und Steigerung des Uebels. Auch können nicht durch Zufall oder Nachlässigkeit die Samen der Schösslinge mit denen der zweijährigen Rüben vermischt werden, da sie ja um ein Jahr früher reifen. Es findet also in jeder Generation eine absolute Se- lection zweijähriger Exemplare als Samenträger statt, und es muss eine solche stattgefunden haben, so lange es überhaupt eine rationelle Rübencultur gegeben hat. Dennoch sind die Schösslinge nicht verschwunden. Die scharfe Selection hat nicht vermocht, sie auszumerzen. Ja, soviel die historischen Facultative Ein- und Zweijährigkeit. 617 Angaben darüber zu entscheiden gestatten, ist das Verhältniss der Schösslinge stets annähernd dasselbe geblieben. Wir dürfen also wenigstens für diesen Fall wohl behaupten, dass die Selection, was sie in wenigen Jahren nicht zu erreichen vermag, auch auf die Dauer nicht zu Stande bringen kann. Diese Ueberzeugung ist bei den praktischen Landwirthen sehr verbreitet. Sie suchen stets nach Mitteln, um das Samenschiessen zu bekämpfen, aber die einfache Selection zweijähriger Rüben scheint ihnen dabei aussichtslos. Rımpau hat es versucht, das Ziel zu er- reichen, indem er aus einzelnen Exemplaren, welche im zweiten Jahre noch nicht geblüht hatten, den sogenannten Trotzern, eine dreijährige Rasse züchtete,! die meisten Landwirthe begnügen sich damit, die Culturbedingungen für das Aufschiessen möglichst ungünstig zu machen. ? Die erwähnten Trotzer bilden gewissermaassen ein Seitenstück zu den Schösslingen, da sie bei der normalen Selection seit den ersten Zeiten der Öultur ebenso vollständig ausgeschlossen und dennoch nicht ausgerottet worden sind. Nach der jetzt herrschenden Auffassung des Stammbaumes des Pflanzenreiches ist anzunehmen, dass die Vertreter der grossen Linien dieses Baumes zumeist perennirende Gewächse waren. Aus ihnen müssen in den verschiedenen Familien und Gruppen, unabhängig von einander, die zwei- und einjährigen Formen entstanden sein. Es liest dabei auf der Hand vorauszusetzen, dass zuerst die ersteren, und aus ihnen die einjährigen sich gebildet haben. Dieser Auffassung gemäss wäre ein Varliren von einjährigen Pflanzen zur Zweijährigkeit, und von den einmal Frucht tragenden Sorten zu den mehrjährigen als Atavismus zu betrachten.” Solcher Atavismus scheint im Pflanzen- reiche sehr allgemein vorzukommen, aber auch die fortschreitenden Uebergänge, d. h. jene in der umgekehrten Richtung, sind nicht all zu selten.* ı W.Rımpau, Das Aufschiessen der Runkelrüben. Landwirthsch. Jahrbücher. Bd. V. 1876. S. 31 und Bd. IX. 1880. S. 191.. Derselbe, Das Samenschiessen der Rüben. Deutsche Landw. Presse. Jahrg. XXI. Nr. 102. 22. Dec. 1894. S. 984. ? Die wichtigste Literatur findet sich zusammengestellt in von RünkEr, Die Zuckerrübenzüchtung der Gegenwart. Blätter für Zuckerrübenbau. 1894. S. 22—23. ® Doch findet auch die entgegengesetzte Ansicht mehrere Vertreter. Vergl. Darwın, Das Varöiren. 11. S. 41 und Rınmpar, a. a. 0. * Vergl. namentlich die einschlägigen Arbeiten von Irmıscn und. Warnıne. Ferner HırdEegrAnn in Encrer’s botan. Jahrb. 11. 1882. S. 51—135. In Bezug auf die Runkel- und Zuckerrübe: F. ScHinnpLer in. dem Botan. Centralbl. 1891. Nr. 14 u. 15, und die dort angeführte Literatur. 615 Nicht isolirbare Rassen. Aus der reichhaltigen Literatur hebe ich hier zwei Fälle her- vor, welche mir die wichtigsten zu sein scheinen. Phaseolus multi- florus (Ph. eoccineus L.) ist bei uns eine einjährige Pflanze, welche aber bisweilen eine knollige Wurzel bildet, die man überwintern und durch die man die Pflanze ausdauernd machen kann. Von WeETT- STEIN, dem wir die Kenntniss dieser Erscheinung verdanken, hat bis vierjährige Exemplare gewonnen,! und in meinem Versuchsgarten habe ich gleichfalls mehrfach solche Phaseolus-Rübchen überwintert. Vox WEITTSTEIN folgert hieraus, dass wir hier den Fall der Umprägung einer perennen Art in eine annuelle vor uns haben.” Zu demselben Schlusse führen die schönen Versuche BrıEn’s, dem es gelang, Zucker- rüben nach dem Samentragen zu überwintern und so dieselbe Pflanze zum zweiten, ja bisweilen zum dritten und zum vierten Male Samen tragen zu lassen.” Es war dazu wesentlich nur erforderlich, dass die samentragende Rübe auch noch in die Dicke wuchs,* und in ihren neuen Geweberingen die erforderlichen Mengen von Zucker und anderen Nährstoffen in sich anhäufte. Dass Sommerweizen in Winterweizen? durch Auslese umgewandelt werden kann, und umgekehrt, ist bekannt,® ebenso dass vom sonst einjährigen Roggen hier und dort in Russland noch eine mehrjährige Sorte gebaut wird.” Von vielen einjährigen Arten kommen auch zweijährige und perennirende Formen vor, wie z. B. von Arabis dentata und Delphinium Consolida.® Ueberhaupt scheinen die verschieden- artigsten Störungen des normalen Lebersprocesses Pflanzen zum Trotzen, d. h. zum Mehrjährigwerden bringen zu können.? U R. v. Wersstein, Die Innovntionsverhältnisse von Phaseolus coccineus L. (= Ph. multiflorıs Willd.). Oesterr. bot. Zeitschr. 1897. Nr. 12. 1898. Nr. 1. ZU -MeHS al: ® F. Stronner, H. Brıem und A. Stırt, Ueber mehrjährige Zuckerrüben und deren Nachzucht. Oesterr.-Ungar. Zeitschr. für Zuckerindustrie. 4. Heft. 1900. Mit Tafel XV. j * Ueber dieses Diekenwachsthum vergl.: Die abnormale Entstehung secun- därer Gewebe in Prinssn. Jahrb. f. wissensch. Bot. Bd. XXI. 1890. 8.35 und Tafel IIL Fig. 14. 5 Zahlreiche Beispiele für die im Text behandelten Fragen giebt aus der landwirthschaftlichen Praxis: C. Fruwırrn, Die Züchtung der landwirthschaftlichen Oulturpflanzen. 1901. S. 146. 6 Darwın, Animals and plants. I. S. 333. ? A. Barauın, Das Perenniren des Roggens. Sehr wichtig in Bezug auf die sich hier ergebenden Fragen ist ferner H. C. ScHELLENBERG, Graubündens Getreide- varietäten. Ber. d. Schweiz. bot. Gesellsch. Heft X. 1900. 5 Taeop. Horn, On the vitality of some annual plants. Americ. Journ. of Seience. Vol. 42. 1891. S. 304. ®» W. Barros, Zeitschr. f. Zuekerindustrie in Böhmen. Bd. XII. 1898. S. 456. . Facultative BPin- und Zweijährigkeit. 619 Umgekehrt können viele perennirende Pflanzen, welche unter normalen Bedingungen im Freien im zweiten Jahre nach der Aus- saat zu blühen pflegen, durch eine gute Cultur veranlasst werden, bereits im ersten Sommer zu blühen, sei es in allen, oder doch in einer erheblichen Zahl der Individuen. In dieser Weise werden im Gartenbau viele ausdauernde Arten als einjährig behandelt, und habe ich selbst in meinen Versuchen eine ganze Reihe mehr oder weniger regelmässig als solche cultivirt, z. B. Achillea Millefolium, Hesperis matronalis, Lychnis vespertina glabra, Pieris hieracioides, Trifolium pra- tense quinquefolium u. a. Nach diesen Auseinandersetzungen komme ich jetzt zu meinem eigentlichen Gegenstande, der Erscheinung, dass viele Arten theils in einjährigen, theils in zweijährigen Individuen vorkommen. Von den beschreibenden Systematikern werden solche Pflanzen als zweijährige betrachtet, wie dieses z. B. der Name Oenothera biennis L. beweist. Denn bei der im Allgemeinen wenig günstigen Lebenslage im Freien sind weitaus ihre meisten Exemplare zweijährig. Nach meiner Meinung ist diese Auffassung durchaus richtig, be- sitzen aber die betreffenden, zweijährigen Arten das Vermögen der Einjährigkeit im. semilatenten Zustande Auch scheinen sie dieses Vermögen keineswegs ausnahmslos, sondern nur in bestimmten, localen Rassen zu besitzen. So nennen z. B. Kocn’s Synopsis Florae Germa- nicae et Helveticae (3. Aufl. 1857) und GRENIER & GoDRON, Flore de France (1852) Dipsacus sylvestris einjährig, während ich bis jetzt aus Samen der verschiedensten Bezugsquellen nur eine zweijährige Rasse habe erziehen können, ohne jegliche Spur einjähriger Exemplare. Und solches trotzdem ich die Cultur in jeder denkbaren Richtung abgewechselt habe, um sie einjährig zu machen. Ohne Zweifel giebt es von vielen anderen Arten in bestimmten Gegenden rein zweijährige, in anderen gemischte, und wiederum in anderen vielleicht auch rein einjährige Rassen.! Soweit somit die Zweijährigkeit als das Merkmal der Art, und die Einjährigkeit als die Anomalie zu betrachten ist, muss letztere der allgemeinen Regel folgen, nach der die Ausbildung der Anomalie durch die bessere Lebenslage begünstigt wird. Und die Versuche, welche ich in diesem Paragraphen zu beschreiben habe, bestätigen die Richtigkeit dieses Ausspruches. Allerdings giebt es hier scheinbar einen Widerspruch. Denn ! Beispiele bei J. Costantın, Les vegetaux et les milieuw cosmiques. Paris 1898. S. 28 folg. Ver- langsamung oder Unterbrechung des Wachsthums, sei es während der Keimung oder gleich nach dem Aufgange, oder in späteren Ent- wickelungsstadien der Pflanze, den Samentrieb im ersten Vegetations- jahre begünstigt. ! Aber in diesem Falle handelt es sich nur scheinbar um die Be- günstigung der Anomalie, in der That aber um den Reiz, dessen Wirkung für das Samenschiessen überhaupt erforderlich ist. Da es nicht sehr leicht ist, diesen Unterschied klar zu machen, so wähle ich zunächst ein Beispiel einer rein zweijährigen Sorte,? der das Ver- mögen, einjährige Exemplare zu bilden, überhaupt abgeht. Ich beziehe mich auf meine Oulturen von Dipsacus sylvestris. Man kann diese Rasse zu jeder beliebigen ‚Jahreszeit aussäen, stets bleiben die Pflanzen Rosetten bis in den Winter, und treiben sie im Frühling des zweiten Jahres ihre Stengel. Jenachdem die Aussaat früh, oder im Sommer, oder erst gegen den Herbst stattfand, sind die Rosetten stärker oder schwächer, aber auf den Zeitpunkt des Aufschiessens hat solches keinen Einfluss. Sät man im März im Gewächshaus, versetzt man die Keimlinge früh einzeln in Töpfe und pflanzt man sie im Mai oder Juni aus, so bekommt man schwere, reich beblätterte Rosetten, aber keinen einzigen Stengel im ersten Jahre. Sät man im September, bald nach der Samenreife, im Gewächshause, so bleiben die Rosetten bis zum Winter nur ganz schwach, treiben aber dennoch ihre Stengel im nächsten Frühjahr. Nur wenn man im Spätherbst im Freien aussät, und die Pflänzchen vor dem Winter nur ein Blattpaar ober- halb der Cotylen entfalten können, überwintern sie, ohne im Frühling zu treiben. Sie bleiben dann den ganzen nächsten Sommer über Rosetten von Wurzelblättern, werden äusserst stark, schiessen aber erst nach dem zweiten Winter empor. Es geht aus diesen Versuchen hervor, dass es zum Aufschiessen eines gewissen Reizes bedarf. Unter den Bedingungen meiner Ver- suche ist es der Winter, der diesen Reiz ausübt, und zwar in jedem Alter mit Ausnahme der noch allzu jungen, erst zweiblätterigen Pflänzchen. Ohne diesen Reiz giebt es keine Stengelbildung. Die Erfahrungen des Rübenbaues lehren, dass das Aufschiessen wesentlich von den Nachtfrösten des Frühjahrs bedingt wird. Diese üben offenbar auf die jungen Pflänzchen einen ähnlichen Reiz aus ! Landw. Jahrbücher, a. a. OÖ. 1880. 8. 194. ? On Biastrepsis and üts relation to Oultivation, Annals of Botany. Vol. XIII. Nr. LI. Sept. 1899. S. 395. Facultative Ein- und Zweijährigkeit. 621 Schösslingen um so höher ausfällt, je früher man seine Aecker bestellt; spät besäte Aecker sind mitunter von diesem Uebel ganz frei. Rımpau zeigte, dass, wenn man auf einem früh bestellten Acker auf einem kleinen Theil in jeder Nacht, welche auf einen Frost Aussicht giebt, mit einem Laken die jungen Pflänzchen bedeckt, das Vorkommen von Schösslingen ganz erheblich vermindert wird. In einem Versuche von etwa 7°/, auf 4°/,." Andere Erfahrungen sind damit in Ueberein- stimmung. HEvz%, in seinem sehr lesenswerthen Büchlein über die Oel- pflanzen,” sagt vom Raps (Brassica Napus oleifera), dass man ihn in Nord-Frankreich nicht vor Mitte Juli und nicht nach Mitte August säen darf. Denn im letzteren Falle würden die Pflanzen zu schwach sein, um den Winter zu überleben; im ersteren würde ein erheblicher Theil schon im ersten Jahre in Samen schiessen. So verhält es sich bei einer ganzen Reihe weiterer zweijähriger Arten, sowohl unter den cultivirten als unter den wilden Pflanzen: die spätkeimenden werden zweijährig, von den frühkeimenden aber wird ein um so grösserer Theil einjährig, je früher die Aussaat, bezw. das Keimen stattfand. In diesen Fällen handelt es sich nicht um eine Auslösung des Aufschiessens durch Nachtfröste oder durch irgend einen anderen Reiz. Wir haben hier einen Fall erblicher Variabilität vor uns. Auch die Rübe besitzt diese Variabilität, bei ihr sind die Verhältnisse da- durch sehr complicirt. Dass es sich um eine erbliche Erscheinung handelt, ergiebt sich daraus, dass die einjährige Form durch Selection leicht fixirt werden kann, wenn auch nicht bis zur völligen Reinheit. Rımpau säte die Samen von Schösslingen® und erzielte durch Fort- zucht von einjährig gereiften Samen in vierter Generation eine Rübe, welche bei Bestellung am 31. März völlig einjährig und in fünfter (Generation bei Bestellung am 5. April fast ebenso constant einjährig, wie die gleichzeitig bestellte normale Rübe zweijährig war. Ebenso verhält es sich mit anderen Arten. Samen vom wilden Daucus Carota, auf einjährigen Pflanzen gesammelt, gaben mir vorwiegend einjährige, von überwinterten Exemplaren geerntet aber grossentheils zweijährige Individuen. Andererseits scheint Selection nicht zu rein einjährigen Rassen ohne Atavismus zu führen. Meine Oenothera Lamarckiana und ı W. Rımpau, Das Aufschiessen der Runkelrüben. Landwirthsch. Jahrbücher. 1880. S. 192. ® L. Heuz£, Les plantes oleagineuses in Bibliotheque du cultivateur, Paris, 2. Ed. 8. 16. AF2EOTSELIT. b22E Nicht isolirbare Rassen. die aus ihr entstandenen Arten cultivire ich zumeist einjährig. Viele dieser Culturen sind während sechs oder mehr Generationen nur aus den Samen solcher Schösslinge fortgepflanzt; dennoch kommen all- jährlich einzelne, bisweilen mehrere zweijährige Exemplare vor. Aster Tripolium wird gewöhnlich in den Floren zweijährig ge- nannt,! bei uns besteht er zum Theil aus überwinternden, zum Theil aus im ersten Sommer blühenden Exemplaren. Bei Aussaat im Garten erhielt ich meist von beiden Typen etwa gleichviel Individuen. Säte ich aber im März oder April im Gewächshaus aus, so trieben die Pflanzen fast ausnahmslos im ersten Jahre Stengel. Sie wurden dazu bis in den Juni Nachts unter Glas gehalten und gegen Nachtfröste geschützt, aber möglichst gut behandelt, und namentlich bald nach beendigter Keimung in gute, stark gedünste Gartenerde versetzt. Ueberhaupt ist starke Düngung nach meiner Erfahrung eins der besten Mittel, um zweijährige Arten, vorausgesetzt dass das Vermögen, ein- jährig zu werden, in ihnen semilatent ist, dazu zu veranlassen. ? Ausführlichere Untersuchungen über die Begünstigung des Auf- schiessens durch die bessere Lebenslage habe ich mit Oenothera La- marckiana gemacht. Diese Pflanze besteht im Freien zumeist aus zweijährigen, theilweise aber auch aus ein- und dreijährigen Indivi- duen. Sie scheint aber, in den Versuchen, in Bezug auf ihre Lebens- dauer weit mehr von äusseren Einflüssen als von der Wahl der Samen abzuhängen. Namentlich sind es die Saatweite, die mehr oder weniger sonnige Lage und die Nährkraft des Bodens, welche ich in dieser Hinsicht geprüft habe. Für das Studium des Einflusses der Saatweite bestimmte ich 1888 die Samen meiner zweijährigen Stammpflanzen der Lamarckiana-Fa- milie von 1886/87 aus (S. 157). Ich wählte dazu vier Beete neben einander und von gleichen Bodenverhältnissen und Düngung, streute die Samen Mitte April in Reihen, aber ziemlich dicht aus, und jätete während der Keimung derart, dass auf zwei Beeten ein mittlerer, auf einem Beete ein sehr weiter, und auf dem vierten ein sehr gedrängter Stand resultirte.e Im Sommer, bis Mitte September, zählte ich dann die Schösslinge und die Rosetten; die Summe beider ist offenbar das ! Koch, Synopsis Florae Germanicae et Helveticae. S. 361. GRENIER et Gopron, Flore de France T.II. S. 102. KarscHh, Vademecum botanmicum u. S. W. ? Sur la culöure des monstruosites, Comptes rendus de l’Ac. d. Sc. Paris. Janvier 1899; Sur la culture des fasciations des especes annuelles et bisannuelles, Revue gen6rale de botanique. T. XI. 1899. S. 136, und Ueber die Abhängig- keit der Fasciation vom Alter bei zweijährigen Pflanzen, Botanisches Centralblatt. Bd .1899% Facultative Ein- und Zweijährigkeit. 625 nn — nn Maass für die Dichte des Standes. Jedes Beet umfasste 13 Quadrat- meter. Es wurden gezählt: Beet Pflanzen Pflanzen pro Quadratmeter Procent Schösslinge Nr. 1 1350 + 100 232015 „2u.3 680+8650 + 50 48 „ RR 380 2 30 58, ,, Also je dichter die Pflanzen bei einander stehen und je weniger Raum jede einzelne dadurch zu der Entfaltung ihrer Blätter hat, um so geringer ist die Zahl der einjährig blühenden Individuen. Im nächsten Jahre habe ich diesen Versuch wiederholt, jetzt aber mit Samen von einjährigen Exemplaren. Das Resultat war aber das- selbe. Auf dem einen Beet von 13 Quadratmetern standen 1188 Pflanzen, also etwa 90 pro Quadratmeter. Davon waren 20 °/, ein- jährig. Auf dem anderen ebenso grossen Beete standen 348 Pflanzen (oder 27 pro Quadratmeter) mit etwa 54°/, Schösslingen. Ebenso 1890, aus den Samen einer einjährigen Pflanze von 1889. Auf dem einen Beete wuchsen etwa 40 Exemplare pro Quadratmeter; darunter waren 17°/, einjährig. Auf dem Üontrolebeete standen auf gleicher Fläche nur 10 Pflanzen, von denen 72°/, im ersten Sommer einen Stengel bildeten. Umfang der Beete je 5 Quadratmeter. In einem Versuche mit Oenothera laevifolia untersuchte ich 1891 den Einfluss eines sehr dichten Standes auf Pflanzen, welche aus Samen einer durch drei Generationen selectirten einjährigen Rasse (S. 192) aufgingen. Die beiden Beete waren gleich gross, hatten die- selbe Lage und denselben Boden und erhielten beide einen gleichen, ausgiebigen Zusatz von Guano als Düngung. Sie wurden Mitte Mai an demselben Tage bestellt, hatten aber Ende Juli 195 bezw. 638 Pflanzen (auf je 6-5 Quadratmeter). Dementsprechend hatte das Beet mit dem weiten Stande 162, dasjenige mit dem engen Stande aber nur 145 Schösslinge. In Procenten der ganzen Cultur ist der Unter- schied selbstverständlich ein viel bedeutenderer, 83 °/, gegenüber etwa 20°/,, Aber man sieht, dass pro Quadratmeter bei einer weiteren Saat absolut mehr einjährige Exemplare erhalten werden, als bei srösserem Quantum. Und in dieser Form enthält das Ergebniss eine wichtige Vorschrift für die Saatweite der Versuchsculturen überhaupt. Versuche über die Beschattung stossen auf die Schwierigkeit, dass die jungen Pflanzen diese nicht gut ertragen, auch wenn es sich nur, wie in meinem Versuche, um Baumschatten handelt. Der Ver- such wurde gleichzeitig mit dem obigen von 1890 und in ähnlicher Ausdehnung angestellt und gab bei sehr weitem Stande etwa 46°/, Schösslinge (gegen 72°/, im Controleversuch, wie erwähnt). 624 Nicht isolirbare Rassen. Weitaus das beste Mittel, um den Procentsatz an einjährigen Individuen zu erhöhen, ja um fast ausschliesslich solche Pflanzen zu bekommen, ist die Aussaat und die Cultur der jungen Pflanzen unter Glas. Man kann dann im März oder im April aussäen und die Keimpflanzen, welche bis dahin in ungedüngter sterilisirter Erde wachsen müssen, beim Erscheinen des dritten oder vierten Blattes einzeln in Töpfe mit stark gedüngter Erde übersetzen. Sie bleiben dann bis Ende Mai unter Glas, wenigstens des Nachts und an trüben Tagen, und werden dann, ohne die Töpfe, aber auch ohne Brechen des Erdballens, an Ort und Stelle versetzt. In dieser Weise behandelt werden gewöhnlich fast alle Exemplare einjährig, und meine meisten Culturen habe ich entweder so, oder mit geringen Abweichungen in der Behandlung ausgeführt. Versuche, um den Einfluss des Bodens auf das Aufschiessen zu ermitteln, habe ich theilweise auf gedüngten und ungedüngten Beeten des Gartens gemacht, theilweise aber durch eine Vergleichung des Wachsthums auf sterilem Sande mit demjenigen auf einem fruchtbaren Boden. Ich beschreibe zunächst den erstgenannten Versuch. Diesen stellte ich mit Oenothera laevifolia an und zwar mit Samen, den ich 1890 von der dritten einjährigen Generation meiner Familie gesammelt hatte (S. 192). Die Samen wurden Mitte Mai auf drei Beeten ausgesät, deren jedes drei und ein Viertel Quadratmeter um- fasste. Sie lagen neben einander, hatten denselben Boden und gleiche Lage in Bezug auf Besonnung u. s. w. Die Keimlinge wurden bald nach dem Aufgehen durch Ausjäten auf etwa 100 pro Beet, mit mög- lichst gleichförmigem Stande, gebracht. Die einzige Differenz lag in der Düngung, welche auf Nr. I unterblieb, auf Nr. 2 ein Viertel Kilo (Guano und auf Nr. 3 ein Viertel Kilo Hornmehl betrug. Auf dem zweiten Beete war die Düngung somit reich an Phosphaten, auf dem dritten aber an Stickstoff. Am 30. Juli zählte ich die Pflanzen und fand: Pflanzen Einjährig Nr. 1. Ohne Dünger 100 77 „ 2. Mit Guano 98 90 „ 83. Mit Hornmehl 108 94 Trotz der dreijährigen Selection der Rasse war also der Gehalt an einjährigen Pflanzen ohne Düngung nur 77 °/,, während er durch solche bedeutend erhöht wurde, und zwar etwas mehr durch Stickstoff- als durch Phosphat-Düngung. Weitere Versuche mit anderen Gaben derselben Düngemittel lehrten, dass die angewandten Mengen (etwa S0 Gramm pro Quadratmeter) maximale waren, d.h. dass durch er- heblich grössere Dosen das Resultat nicht merklich erhöht wurde. Facultative Ein- und Zweijährigkeit. 625 Für die Sandceultur habe ich in meinem Versuchsgarten ein Beet von 13 Quadratmetern einen halben Meter tief ausgraben und mit gewöhnlichem feinen Sand ausfüllen lassen. Auf diesem Beete und auf dem gleichgrossen benachbarten wurde im Sommer 1889 eine vergleichende Cultur mit Oenothera Lamarckiana ausgeführt. Das Controlebeet wurde nicht gedüngt, bestand aber aus sehr fruchtbarer Erde. Die Aussaat fand Mitte April statt. Der Sand des Beetes grenzte unmittelbar an die gute Erde des umgebenden Pfades.! Die Pflanzen, welche am Rande standen, konnten also ihre Seitenwurzeln theilweise in diese hineinschicken und sich somit besser ernähren als die mittleren Reihen. Dieser Umstand zeigte sich im Laufe des Juni als sehr wichtig, denn im Rande sah man viele, in der Mitte fast keine Stengel. Erst im Juli fing auch hier das Durchschiessen an, und zwar plötzlich, in nahezu allen Schösslingen zu gleicher Zeit. Mitte August waren von den Pflanzen des Randes (82 Ex.) etwa 60 °/, geschosst, während in der Mitte auf 203 Pflanzen 133 Rosetten von Wurzelblättern vorkamen. Also etwa 34°/, Einjährige. Wie man sieht, war der Stand in diesem Ver- suche ein äusserst weiter und günstiger, denn es gab auf 13 Quadrat- meter nur 285 Pflanzen. Diese berührten einander, auch am Ende des Sommers, so gut wie gar nicht. Im Controlversuche gab es bei nahezu gleichweitem Stande etwa ebenso viele Schösslinge wie am Rande des Sandbeetes, sogar noch etwas weniger (53 °/, auf 348 Ex.). Betrachten wir noch einmal diesen Versuch, so bildet der Gegen- satz zwischen den centralen Pflanzen des Sandbeetes einerseits und den Randpflanzen dieses Beetes mit der Controlcultur zusammen das Hauptergebniss (34°/, gegenüber 53—60°/, Schösslinge). Aber ebenso auffallend war die plötzliche Veränderung in dem Benehmen der centralen Pflanzen im Juli. Diese deutete auf eine bestimmte Ur- sache hin. Ich vermuthete, dass sie mit dem Längenwachsthum der Wurzeln zusammenhing und dass diese etwa um jene Zeit die Sand- schicht bis unten durchlaufen und in die fruchtbare Erde darunter sich verzweigt und ausgebreitet hatten. Als ich dann die Wurzeln am Schlusse des Versuches ausgrub, konnte ich mich überzeugen, dass sie thatsächlich länger als '/, Meter und unterhalb des Sandes reichlich verzweigt waren. Um nun zu erfahren, ob dieses wirklich die Ursache des Schossens war, habe ich 1891 einen Versuch angestellt mit einem Beete, dessen ! In späteren Jahren habe ich Sand und Erde durch eine Wand von Brettern getrennt. DE VBIES, Mutation. 1. 40 626 Nicht isolirbare Rassen. Sandschicht viel tiefer war, und zwar 1 Meter tief. Ein Theil des früheren Beetes mit einer Sandschicht von !/, Meter sowie ein Beet auf gewöhnlicher guter Gartenerde dienten als Controle. Die Sandbeete waren jetzt mit Brettern umgeben; demzufolge zeigte sich der frühere Unterschied zwischen den centralen und den Randpflanzen nicht wieder. Als Versuchspflanze benutzte ich Oenothera rubrinervis, und zwar Samen einer durch zwei Generationen einjährig cultivirten Familie (Samen von 1890, S.192; Aussaat am 13. Mai 1891). Ende Juli 1591 zählte ich die Pflanzen auf den drei gleich grossen, je 3 Quadratmeter umfassenden Beeten. Pflanzen Einjährig Sandbeet, 1 Meter tief 161 2.150% ” !la ” ” 226 50 ” Gartenerde 131 93m Auf dem Controlbeete standen die Pfianzen etwas weiter, da sie sich aber auf dem Sandbeete so gut wie gar nicht berührten, hat solches keine Bedeutung. Die gewählte Samensorte war reicher an einjährigen Individuen als diejenige des vorigen Versuches. Das Resultat lässt sich so fassen, dass durch Cultur auf !/, Meter Sand die Zahl der Schösslinge auf etwa die Hälfte, und durch Cultur auf 1 Meter Sand auf weniger als ein Viertel herabgesetzt wurde. Aus den mitgetheilten Versuchen ergiebt sich, dass zweijährige Arten, wenn in der betreffenden Rasse das Vermögen, einjährige Exem- plare hervorzubringen, im semilatenten Zustande vorhanden ist, durch bessere Ernährung zu stärkerer Ausbildung dieser Anomalie veranlasst werden. Dichter Stand, Beschattung, Mangel an Dünger oder gar Sandboden begünstigen die Zweijährigkeit; je mehr Raum, Licht und Bodennährstoffe den einzelnen Individuen zur Verfügung stehen, um so grösser wird die Zahl derjenigen, welche im ersten Sommer einen Stengel bilden und es zur Blüthe und zur Samenreife bringen. Der Reiz des Winters oder der Frühlungsnachtfröste, der sonst die jungen Pflanzen zum Schossen bringt, fällt hier ganz weg, denn bei entsprechender Öultur können die Mitte Mai auf dem Beete gesäten Samen noch alle oder doch fast alle zu einjährigen Individuen werden. Fortwährende Selection reinigt aber weder die zweijährige Rasse von Schösslingen, noch auch die einjährige von Trotzern, d. h. erst im zweiten Jahre blühenden Individuen. Gute Ernährung begünstigt die Anomalie. 627 VII. Ernährung und Zuchtwahl semilatenter Eigenschaften. $ 26. Gute Ernährung begünstigt die Anomalie. Die fluctuirende Variabilität ist eine Ernährungs- erscheinung, die Mutabilität wird von derzeit unbekannten Ursachen bedingt (S. 411). Diesen Ausspruch, der den Gegensatz zwischen der fluctuirenden oder continuirlichen Variabilität und den gelegentlichen stossweisen Uebergängen von der einen Art in eine andere neue wohl am schärfsten betont, habe ich im Laufe meiner Erörterungen bereits zu wiederholten Malen berührt. Er gilt ebenso gut für die Variabilität der semilatenten als für jene der normalen Eigenschaften. Auch hierauf habe ich schon mehrfach hingewiesen, und namentlich in diesem vierten Abschnitte manche Bei- spiele dafür besprochen. Ernährung und Variabilität hängen ja überall so innig zusammen, dass eine physiologische Behandlung der letzteren ohne gleichzeitige Berührung der ersteren kaum möglich erscheint. Die Zuchtwahl ist die Wahl der am besten ernährten Individuen, wenn man wenigstens nicht nach der negativen Seite, rückwärts, züchtet (S. 100). Ich habe für unsere erste Beweisführung über diesen Satz im ersten Abschnitt gerade einen Versuch mit einer semilatenten Eigenschaft angeführt. Die Anzahl der Nebencarpelle von Papaver somniferum polycephalum war einerseits von der Auslese, aber andererseits wenigstens ebenso deutlich von der Ernährung ab- hängig. Im dritten Abschnitt wurde dann für die Curve der Frucht- länge von Oenothera, sowie für die Strahlencurven einiger Umbelliferen und Compositen, die ganz gleichsinnige Wirkung der beiden fraglichen Factoren dargethan. Active und semilatente Eigenschaften verhalten sich ihnen gegenüber somit in derselben Weise. Da aber die ausserordentliche Variabilität semilatenter Eigen- schaften, wie in $ 2 dieses Abschnittes S. 416 aus einander gesetzt wurde, eine sehr wichtige Stütze der Selectionslehre ist, so scheint es mir keineswegs überflüssig, ihre Beziehung zur Ernährung noch ausführlicher klar zu legen. Ich werde deshalb in diesem letzten Kapitel eine Reihe von Thatsachen, theils aus der Literatur, theils aus meiner eigenen Erfahrung vorführen, welche alle mit geringerer oder grösserer Bestimmtheit die Abhängigkeit semilatenter Merkmale von der Lebenslage darthun. Aeussere Einflüsse wirken auf die Ausbildung der Organe wäh- rend deren Jugend, in der sogenannten empfindlichen Periode. Ist in dieser die Entscheidung getroffen, so ändert die spätere Entwickelung 40* 628 Ernährung und Zuchtwahl semilatenter Eigenschaften. daran nichts. Die Anzahl der Scheiben eines Kleeblattes, der Blumen- blätter von Ranunculus bulbosus, der Nebencarpelle von Papaver wird in dieser Periode endgültig bestimmt. Zu jener Zeit wirkt mit der Lebenslage des betreffenden Augenblickes auch der angehäufte Erfolg Fig. 175. Keimpflanze einer Kartoffel, aus Samen, unter ungünstigen Beleuchtungs- verhältnisen. Von 1—5 nimmt die Blattform an Dif- ferenzirung zu, von 6—12 aber wieder ab. Zimmer- eultur 1876. der vorhergehenden Einflüsse ein, welche zu- sammen die individuelle Kraft des Organes oder des Individuums bedingen. Auch dieser Factor entscheidet über die Ausbildung der fraglichen Eigenschaft, und zwar das eine Mal kräftiger, das andere Mal weniger kräftig, als die augenblickliche äussere Lebenslage. Am empfindlichsten scheint der junge Keim im reifenden Samen zu sein, denn die äusseren Einflüsse wirken auf Saatculturen am stärksten. Aber auch bei vegetativer Ver- mehrung wirken sie, und zwar in derselben Richtung, wenn auch meist mit geringerer Intensität. Zwischen den Anomalien und den activen normalen Eigenschaften bilden die normalen latenten Merkmale eine lange Reihe von all- mählichen Uebergängen. Auch diese hängen von der Lebenslage ab, und zwar in ähnlicher Weise wie die beiden anderen Gruppen. Ganz allgemein wird die Form eines Organes inner- halb des specifisch gegebenen Formenkreises von äusseren, physikalischen Einflüssen be- stimmt. ! Als Beispiel führe ich zunächst die Kei- mung der Kartoffelsamen an.” Die ersten Blätter der Keimpflanze sind einfach (Fig. 175); die folgenden nähern sich allmählich der eigen- thümlichen, unterbrochen gefiederten Gestalt der erwachsenen Pflanze. Findet die Keimung im Garten, an voller Sonne statt, so erstarkt die Pflanze rasch, und die verschiedenen Stufen der Blattform folgen schnell auf einander. Ist aber die Lebenslage eine ungünstige, wie bei der Cultur im Zimmer, so schreitet die Differenzirung nur langsam voran; die Internodien 1 Keimungsgeschichte der Kartoffelsamen in Landwirthsch. Jahrb. VII. Jahrg. 878. 19535: Gute Ernährung begünstigt die Anomalie. 629 zeigen Ueberverlängerung und zu geringes Holzwachsthum, die Blätter bilden nur kleine Fiederblättchen aus, und bei ganz ungünstigen Bedingungen beobachtete ich nicht selten eine Unterbrechung in der Blattformenreihe am Stengel; es wurden oberhalb von leierförmigen Blättern wieder einfache gebildet, und es fing die Reihe so zu sagen wieder von vorne an.! Viel schöner gestalten sich dieselben Verhältnisse in jenen Fällen, wo die ersten Blätter mehr zusammengesetzt sind als die späteren. So z.B. bei den phyllodientragenden Acacien, wo die wichtigen Unter- suchungen GOoEBEL’s uns ausführlich über die Beziehung der Jugend- formen zu der Lebenslage belehrt haben.” Ich habe hierauf schon oben hingewiesen, erinnere aber jetzt an die Figur einer Keimpflanze von Acacia verticillata, welche, nachdem sie bereits zur Phyllodien- bildung gelangt war, unter ungünstigen Bedingungen die doppelt- gefiederte Form der Jugendblätter wiederholte. Ebenso hängt die Ausbildung von linearen oder pfeilförmigen Blättern bei Sagittaria sagittifolia, die Ausbildung der durchlöcherten Blätter von Monstera deliciosa u. s. w. von der Lebenslage ab. Schlechte Ernährung erhöht dabei stets die Aussicht, zur Jugendform zurückzukehren, und es ist dabei Nebensache, ob diese die einfachere oder die complicirtere ist. Die von GOEBEL studirte Campanula rotundifolia, deren Blüthenstengel aus der schmalen zu der herzförmigen Blattgestalt zurückkehren, ® dürfte jetzt wohl das am allgemeinsten bekannte Beispiel sein. Für die Coniferen hat ferner BEISSNER gezeigt, dass sie bei schlechter Ernährung, z.B. bei Topfeultur, zeitlebens ihre Jugendformen behalten können.* Bei Hucalyptus Globulus und Acacia cornigera treiben die Stämme nach Beschneiden Sprosse, welche die Jugendform mit un- gestielten bezw. ungedornten und ameisenbrotlosen Blättern wieder- holen.° Genau so verhält es sich mit den Anomalien, d. h. jenen Eigen- schaften, welche sich im gewöhnlichen Leben nicht, oder nur aus- nahmsweise zeigen. Auch hier scheint es ganz gleichgültig, welcher Natur sie sind. Sowohl schädliche als unschädliche werden durch die gute Lebenslage in ihrer Ausbildung gefördert; von ersteren bilden ! Vergl. auch E. Rose, La transmission des formes ancestrales dans les vegelaux. Journ. d. Bot. Annde X. Nr. 1,2. 1896. ? K. GoEsEL, Organographie der Pflanzen. 1. S. 150 Fig. 105. ® GoeseEL, Flora. 1896. Bd. 62. Heft I. * L. Beissner, Handbuch der Nadelholzkunde. Vergl. auch Bot. Zeitung. 1890. S. 539. 5 F. Hırperrann, Botan. Zeitung. 1892. S. 5. 630 Era und Zuchtwahl semilatenter Kigenschaften. die bunten Blätter nd die Auren Füllung steril werdenden Blüthen und Blüthenköpfchen Beispiele (vergl. $ 19 und 24). Es gilt sogar genau dasselbe von den eigentlichen Monstrositäten, z. B. den Fas- ciationen und Zwangsdrehungen, wie wir im zweiten Bande sehen werden. Es gilt von neuen Eigenschaften wie von Rückschlags- erscheinungen, von in Bezug auf die Artmerkmale höheren oder ge- ringeren Differenzirungen, wie ich im nächsten Paragraphen an einer Reihe von Beispielen zeigen werde. Es gilt ferner sowohl für die Halbrassen als für die Mittelrassen. In beiden ist es das ältere „Art- merkmal“, das durch ungünstige Bedingungen, die Anomalie oder das jüngere Merkmal, welches durch günstige Bedingungen gefördert wird. Von diesen beiden, durch die Semilatenz des ersteren oder des zweiten Merkmales gekennzeichneten Rassen zu den echten elementaren Arten, in denen das Merkmal der Mutterart ganz latent geworden ist, ist (aan (er & Fig. 176. Zysimachia vulgaris. Querschnitte zweier Knospen, welche zu aufrechten Stengeln werden sollten, im Winter. A mit vier euere an und 2 mit dreigliederigen Kreisen. offenbar nur ein kleiner Schritt, denn hier gehorcht die neue Eigen- schaft selbstverständlich den allgemeinen Gesetzen der Variabilität. In unseren Studien über die Halbrassen Trifolium incarnatum quadrifolium und Ranunculus bulbosus semiplenus, namentlich aber für die echten Mittelrassen Trifolium pratense quwinquefolium und Chrysanthe- mum segetum plenum, sowie für die damit analogen Gruppen haben wir diese Beziehung der Variabilität zu der Ernährung von den ver- schiedensten Seiten kennen gelernt. Es ist dabei hervorzuheben, dass es sich in allen diesen Fällen um Variabilität im engeren Sinne und nicht um Mutabilität handelt. Wie die eine Rasse in die. andere übergeht, wissen wir nicht; die Erscheinung ist bis jetzt eine viel zu seltene; sie entzieht sich vor- läuig in dieser Beziehung der Forschung. Die Variabilität der Halb- und Mittelrassen ist zwar eine transgressive, zur Mutabilität führt sie aber in der Regel nicht. Gute Ernährung begünstigt die Anomalie. 631 Ich möchte zum Schlusse die Beziehung zwischen der Variabilität semilatenter Eigenschaften und der Lebenslage noch durch ein Schema erläutern, und wähle dazu als Beispiel die Blattstellung von Lysi- machia vulgaris (Fig. 176—178). Bekanntlich ist diese normal eine kreuzweise, wechselt aber vielfach mit dreigliederigen und viergliede- rigen Wirteln ab. In Bezug auf diese Eigenschaft verhält sich diese Art also, wenigstens in hiesiger Gegend, als eine Halbrasse. Untersucht man im Frühling das Rhizom, so findet man die Knospen für die Stengel aufrecht unter der Erdkruste, oder im Moos, und ganz fertig ausgebildet. Man überzeugt sich dann, dass sie sämmtlich am unteren Ende kreuzweis gestellte Blattschuppen tragen (Fig. 175. Aber oben, innerhalb der Knospen, ist die Blattstellung eine verschiedene; hier ist sie jene, welche der erwachsene Stengel b N Ö a | / DD 5 = SS Dal 2 Fig. 177. Schema für die Beziehung zwi- Fig. 178. Lysimachia vulgaris. Rhizom- schen Lebenslage und Anomalie. Verschie- bung des Gipfels der Curve. A Wirkung guter Ernährung. B Wirkung ungünstiger Einflüsse. a, 5b Curven der Blattstellung an den Stengeln von Zysimachia vulgaris, a nach guter, 5 nach schlechter Ernährung. knospen, welche zu Stengeln auswachsen würden. 4 Dick, mit viergliederiger End- knospe. B Dünner, mit dreizähligen Krän- zen im Inneren der Knospe. Die sicht- baren Schuppen sind in beiden kreuzweise gestellt. Vergl. die Zahlen auf S. 632. im Sommer zur Schau tragen wird. Je nach der Dicke des senk- rechten unterirdischen Sprosses wird auch der betreffende Stengel verschieden stark sein, und damit hängt wiederum die Blattstellung eng zusammen. Die schwächeren Triebe sind zweizählig, die stärkeren dreizählig, die stärksten aber haben die Blätter in vierzähligen Wirteln. Man kann an der Dicke des Sprosstheiles fast mit Sicherheit im Voraus bestimmen, was die mikroskopische Prüfung der Knospe er- geben wird. Genau so verhält es sich selbstverständlich im Sommer, wo die fraglichen Beziehungen Einem sofort auffallen. Dabei sieht man dann, dass die Seitenzweige auch der drei- und vierzähligen Stämme fast ausnahmslos zweizählig sind; sie sind ja viel schwächer als jene. Nimmt man die Pflanze in Cultur, so gelingt es leicht, durch ‚gute Behandlung das Verhältniss der verschiedenen Sorten von Stengeln bei rein vegetativer Vermehrung. Dabei ist aber zu beachten, dass die Knospen für das nächste Jahr bereits im October fertig angelegt, und ihre Blattstellung somit endgültig entschieden ist. Die Beobach- tung der Blattstellung in dem einen Jahre bezieht sich somit stets auf die Lebenslage im Vorjahre. Die Curven in Fig. 177 sind nach Zählungen entworfen, welche das Folgende ergaben. Im März 1890 pflanzte ich eine Gruppe von Rhizomen nach einer guten Stelle meines Gartens über und zählte im Juni die zwei-, drei- und viergliederigen Stengel, welche also unter dem Einflusse der schlechteren Lebenslage im Jahre 1889 an- gelest waren. Im nächsten Sommer wiederholte ich die Zählung und konnte somit ein Urtheil über die Versetzung unter besseren Be- dingungen (besserer Boden und bessere Besonnung) fällen. Ich fand: Zählung im Wirtel zwei- drei- viergliederig Summa Sommer 1890 35 21 2 58 legl 17 40 10 67 Der Gipfel war somit von den Stengeln mit zweigliederigen auf jenen mit dreigliederigen Wirteln hinübergeschoben (Fig. 177a und 5). Der Pfeil A deutet somit in unserer Figur 177 die Wirkung der besseren, der Pfeil B jene der schlechteren Lebenslage an. Diese Figur ist also, abgesehen von dem besonderen ihr zu Grunde gelegten Fall, einfach eine bildliche Darstellung unseres Satzes, dass gute Ernährung die Anomalie begünstigt. Dieses Schema lässt sich auf eine lange Reihe von Fällen an- wenden, theils von wildwachsenden Anomalien, theils von den höchst variablen Gartenvarietäten. Das bekannteste Beispiel bilden: wohl die dreifarbigen Veilchen (Viola tricolor maxima). Hier haben die Frühlings- und die ersten Sommerblumen grössere, merklich breitere und be- trächtlich stärker gefärbte Kronblätter als die Hochsommerblüthen, wie jeder Gärtner weiss.’ Die grössere Trockenheit und der all- mähliche Verbrauch des Düngers seitens der Pflanzen sind davon die bekannten Ursachen. Und so geht es in zahllosen Fällen, von denen wir im nächsten Paragraphen eine Reihe weiterer Beispiele zu be- sprechen haben. ı V. B. Wırrrock, Viola - Studier. Acta Horti Bergiani. Bd. II. 1897. Nr. 1 und 2. Vergl. auch Verror, ]. c. S: 46—47. wo Einfluss der Lebenslage und der Düngung. 63 $ 27. Einfluss der Lebenslage und der Düngung. J. Costantın hat in einem gediegenen Werke die Beziehungen zwischen der Pflanze und ihrer Umgebung ausführlich geschildert. ! Er hat dabei den Einfluss des Monde ambiant sowohl auf die normalen Eigenschaften der Pflanzen, als auch auf die Varietäten und Anomalien behandelt. Es ist ein unabsehbares Feld von Thatsachen und Be- obachtungen, welches sich dem Leser eröffnet. Wir beschränken uns hier auf die eigentlichen Anomalien, d.h. die semilatenten Eigenschaften,” und fangen mit einigen Beispielen an, welche sich auf vegetative Vermehrung, ohne Aussaaten, beziehen. Als erstes wählen wir die Durchwachsung der Blüthenstände des Weissklees (Fig. 179), eine in hiesiger Gegend ziemlich seltene Ano- malie, welche sich aber in meinem Garten durch gute Cultur erheb- lich steigern liess. Einzelne Beispiele aus dem grossen Formen- reichthum dieser Anomalie bietet uns die Fig. 179.? Verlängerung eines Blüthenköpfchens zu einem ährenförmigen Blüthenstand, Proli- fication oder Bildung zweier Köpfchen über einander an demselben Stiel und Auftreten von kleinen Träubchen an Stelle der Einzel- blüthen oft mit Vergrösserung der Bracteen sind die wichtigsten. Im Sommer 1890 fand ich unweit Hilversum ein Exemplar, welches an einem Schirme eine einzelne Blüthe auf durchwachsenem Stiele trug. Ich verpflanzte es in meinen Garten, säte im nächsten Jahre seine Samen, hatte einige wenige perumbellate Inflorescenzen, sammelte wiederum die besten Samen und säte 1891 noch einmal. Als nun die Pflanzen blühten, zeigten sie auf mehreren Tausend Schirmen etwa 2°/, durchwachsene, und darunter meist den Typus Fig. 179 B, theilweise auch die selteneren Formen A, C und D. Ich wählte jetzt die beste Pflanze aus, isolirte sie völlig und überzeugte mich genau, dass alle Zweige organisch zusammenhingen, zertheilte und verpflanzte sie und liess sie möglichst kräftig wachsen. Im Sommer 1892 hatte ich zwei Beete von je nahezu 2 Quadratmetern. Sie ergaben eine sehr deutliche halbe Curve, als ich Anfang August 1 J. Costantın, Les vegetaun et les milieuw cosmiques. Bibl. Seientif. inter- nationale. 1898. Die älteren Studien desselben Forschers wurden bereits in unserem ersten Abschnitte (S. 71) verwerthet. ? Auf die Culturmethoden, welche aus gefärbten Varietäten des Flieders (Syringa) im Winter rein weisse Blüthentrauben in den Handel bringen, sowie auf die bekannte Blaufärbung der Hortensien sei hier nur hingewiesen (vergl. u. A. Verıort, ]. c. S. 60—61). ® Die nämlichen Anomalien sind bereits in der Literatur erwähnt und von Penxzıc, Teratologie. I. S. 387 zusammengestellt worden. 634 Ernährung und Zuchtwahl semilatenter Eigenschaften. “ die Schirme nach der Anzahl der auf dem onen Theile der Achse befindlichen Blüthen ordnete. Diese Zahl wechselte von 0 bis 10 in folgender Vertheilung: Anzahl der Blüthen auf der Verlängerung der Achse Schirme OL DB Ts ee urama) auf dem 1. Beet 325 83 66 51 36 36 18 7 $ al ıl 0) 630 2.402 90 62.35 46 20 20 14 1130 oe Es waren jetzt also auf dieser Pflanze nahezu die Hälfte der Schirme durchwachsen, theils in Folge der Auslese, theils als Resultat der besseren Cultur. Dabei zeigten sich die meisten perunı- bellaten Schirme ım Juli, und zwar vor Juli 21°/,, im Juli 47°), im August 38°/,, letz- teres auf etwas über 500 Schirmen. Darauf habe ich aus einer Gruppe der kriechenden Sten- gel dieser Pflanze einen Theil auf zwei andere Beete versetzt; deren eines aus guter Garten- erde bestand, während das andere einen dürren Sand- boden hatte. In diesem Jahre war der Gehalt an Anomalien bei schlechterem Wachsthum B 5 überhaupt ein kleinerer. Es Fig. 179. Trifolium repens perumbellatum. Vier gab, auf etwas über 300 Schir- verschiedene Blüthenstände aus der nämlichen men auf jedem Beete, 6 on Cultur (1891). 4 mit dicker durchwachsener S Hauptachse; B der durchwachsene Theil dünn durchwachsene auf dem Sand- und arm an Blüthen; ©, D mit dreifacher Durch- hbeete und 12 Se auf dem wachsung. i nenne en a m Controlebeete. Auf ersterem waren die Pflanzen klein, mit kleineren, blasseren und weniger zahl- reichen Blättern. Wie man sieht, hängt der Gehalt an anomalen Schirmen, auch bei rein vegetativer Vermehrung, in diesem Versuche sehr wesentlich von der Lebenslage ab. Bisweilen begegnet man in der Literatur der Ansicht, dass Ano- malien deshalb durch die besseren Lebenslagen begünstigt werden, weil zu ihrer Ausbildung mehr Nährstoffe erforderlich seien, wie bei der Verbänderung, bei der Vermehrung der Anzahl der Blätter, Einfluss der Lebenslage und der Düngung. 635 Blattscheiben, Blüthentheile u. s. w. Aber auch wenn die Anomalie in einer Reduction besteht, waltet dieselbe Beziehung ob. Es geht dieses aus unserem zweiten Beispiele hervor. Ich wähle dazu die Potentilla anserina, von der ich 1889 unweit Hilversum Pflanzen mit einzelnen vierzähligen Blüthen zwischen den zahlreichen normalen mit fünf Kelch- und Kronblättern fand. Ich verpflanzte und ver- mehrte sie und suchte im Sommer 1891 das beste Exemplar aus, an welchem alle Stengel noch organisch zusammenhingen. Von diesem versetzte ich dann 1392 die eine Hälfte auf ein gedüngtes, die andere auf ein daneben liegendes ungedüngtes Beet. Von Mitte Juni bis Anfang August zählte ich die Kelchblätter aller Blüthen; es waren auf dem gedüngten Beete etwa 2500, auf dem ungedüngten etwa 1500 Blumen. Es gab deren viele mit 5 und 4, etwa 20 Stück mit 3, keine mit weniger als 3 oder mehr als 5 Sepalen. Also wiederum eine ausgesprochene halbe Curve. Ich habe für die einzelnen Zählungstage den Procentgehalt an 3- und 4zähligen Blüthen zusammen berechnet, und an jedem Zählungstage alles ab- gepflückt, was seit dem vorhergehenden geblüht hatte. Die Zählungen fanden wo möglich jeden vierten Tag statt, oder bei zu kleiner Blüthen- zahl in grösseren Intervallen. Ich fand: Procentgehalt an 3—4zähligen Blüthen Juni Juli August m nn nn —— —— — Tag: DIA: 12-78 ler. PAR Zee Gedüngt: 1. Alert 238 34 39 50 65 49 49 43 27 Sin Ungedünst: — — 7 — 20.383 39 — 42 49 46 44°), Der Gehalt’an Anomalien stieg somit auf beiden Beeten all- mählich heran, um im Hochsommer, in der zweiten Hälfte des Juli, sein Maximum zu erreichen und von da an wieder zu sinken. Er erreichte dabei auf dem gedüngten Beete 65 °/,, auf dem ungedüngten aber nur 49°/, aller Blüthen der betreffenden viertägigen Zählungs- periode (160 bezw. 224 Einzelblüthen). Sowohl die Periodicität wie die Beziehung zu der Lebenslage sind also hier im Wesentlichen dieselben wie beim Weissklee. Dort diente als Material ein Exemplar, das ich aus Samen erhalten hatte; bei der Potentilla aber direct ein im Freien gesammeltes Individuum. Ich werde jetzt eine Reihe von weiteren Beispielen möglichst kurz zusammenstellen, betone dabei aber nochmals, dass die äusseren Einwirkungen nur dann die fraglichen Folgen haben, wenn die be- treffenden Eigenschaften als Anlagen vorhanden sind. Sogar auf rein latente Eigenschaften kann man so gut wie keine Wirkung ausüben, Exemplaren aber ist dies offenbar nicht der Fall,“ sagt GOEBEL, „sie behalten auch im üppigsten Boden ihre normale Form; die üppige Ernährung wirkt auf das Auftreten der Missbildung nicht als ver- ursachender, sondern lediglich als auslösender Factor.“! Jedermann weiss, dass viele Gartenvarietäten zurückgehen, wenn sie lange Zeit an derselben Stelle stehen bleiben. Sie erschöpfen ihren Boden und müssen deshalb von Zeit zu Zeit versetzt werden. So z. B. die Pensees, die Anemonen,? Dahlia, Petunia,? die cristaten Varietäten vieler Farne,* u. s. w. MOorREN hat Sazxifraga deeipiens, welche bis dahin an steiniger Stelle normale Blüthen trug, in gute Gartenerde versetzen lassen; sie wuchsen dort äusserst kräftig, bildeten grössere Blumen als vorher, und zeigten dabei eine anfangs geringe, im Laufe des Sommers aber allmählich zunehmende Umwandlung der Staubfäden in Blumenblätter, bis die Blüthen ganz gefüllt wurden.° Auch bei Hedychium coronarium hängt der Blüthenbau von der Er- nährung ab. Wilde Aepfel und Mispeln verlieren in wenigen Jahren ihre Dornen, wenn sie in Gärten übergepflanzt werden’? und Carlina acaulis wird in üppigem Boden zur sogenannten Var. caulescens, wie bereits WOLFF in seiner Theoria generationis lehrte. Die Verzweigung der Aehren von Triticum turgidum compositum (S. 87) und die Carpello- manie von Papaver somniferum (S. 98) sind im höchsten Grade von der Lebenslage abhängig. Gefüllte Papaver sind bei schlechter Behandlung oft fast ungefüllt, wie z. B. das Papaver somniferum nanum album in meinen Oulturen. Sogar die stark gefüllte Saponaria offieinalis plena scheint nach Verpflanzen vorübergehend einfach zu werden, sich dann aber wieder zu erholen.® Die gewöhnliche Saponaria offieinalis bildet in hiesiger Gegend oft sechszählige Blü- then, diese waren aber in meinen Versuchen bei guter Cultur zahl- reicher als bei dürftiger Ernährung. Pryritsch’s Studien über den Einfluss des Umhauens von Waldungen auf pelorische Formen wurden oben ($ 21 S. 569) schon angeführt. An einem Lindenbaume in der I K. GoeBer, Organographie. 1. S. 159. Verschiedene Beispiele giebt auch Bvurxıı, Journ. Linn. Soc. Bot. Vol. 31. 1895. S. 218 u. s. w. ®2 VILMORIN-ANDRIEUX, Les fleurs de pleine terre. 8. 87. ® HILDEBRAND, Ber. d. d. bot. Ges. Bd. XIV. 1896. S. 327. * Löwe, eitirt bei GoEBEL, 1. c. Bull. Acad..R. Belg. T. XVII. 1. partie. S. 424. Fr. Mürzer, Flora. 1889. Heft III. S. 348-352. Taf. 16. DE CANDOLLE, Physiologie vegetale. 11. S. 721. Muntins, Waare Oeffeninge der Planten. 1671. S.588. Ebenso in meinem [0 -] {er} or Garten. Einfluss der Lebenslage und der Düngung. 637 Gegend von Baarn treten jährlich Becher auf (Fig. 106 S. 338), bis- weilen mehrere Hundert in demselben Jahre; ich sah sie aber stets nur auf der freien, besonnten Seite, nicht dort, wo die Aeste von den benachbarten Bäumen beschattet werden. Sehr abhängig von der Lebenslage ist bekanntlich die Farbe. Achillea Millefolium rosea bildet nur in sonniger Lage schön rothe Schirme aus, sonst ist die Farbe blass oder fehlend, wie ich bei viel- jähriger Cultur gesehen habe; im Dunkeln gewachsene Inflorescenzen blieben ganz weiss, auch wenn sie sonst roth geworden sein würden. Ebenso verhält sich Begonia semperflorens atropurpurea Vernon, deren braunrothe Belaubung so zu sagen den leisesten Schatten nicht er- trägt. Durch Vorsetzen eines Schirmes auf der Südseite in der Jugend konnte ich die Pflanzen fast rein grün machen. Auch die Farbe von Amarantus tricolor, welche nur ihres Farbenspieles halber beliebt ist, hängt sehr von der Lebenslage ab.! Zea Mays bildet mehr zweigeschlechtliche Rispen und Kolben, wenn man sie bei hoher Temperatur keimen lässt; Ranunculus bulbosus semiplenus (8 23 S. 593) bildet mehr Blumenblätter, wenn er im Sommer keimt, als im Frühjahr. Sommerweizen kann bekanntlich durch Herbstaussaat in Winterweizen umgewandelt werden, wenn auch, wie es scheint, stets nur in wenigen Exemplaren.? An den cultivirten Begonien begegnet man nicht selten Zwitter- blüthen, welche durch Auftreten von Staubfäden in den weiblichen Blü- then hervorgebracht werden, dabei werden dann die unterständigen Fruchtknoten mehr oder weniger vollkommen oberständig und treten auch andere Anomalien auf.” Ich besitze seit 12 Jahren ein solches Exemplar von Begonia Sedeni (B. boliviensis x B. Pearcei), welches ich durch Theilung der Knollen allmählich vermehrt habe. Im Sommer 1390 markirte ich die Knollen, welche die geringste Anzahl solcher umgewandelter Blüthen hatten und pflanzte sie 1891 an einer besseren Stelle und mit reichlicherer Düngung aus, als wie die übrigen. Dem- zufolge trugen sie nun (1891) verhältnissmässig bedeutend mehr ano- male Blüthen als die Controle-Exemplare. Lupinus luteus bildet bis- weilen zwangsgedrehte Inflorescenzen.* Samen von solchen, auf einem Acker gesammelt und im Garten cultivirt, wiederholten die Erscheinung ! Vırmorın-Anprieux, Les fleurs de pleine terre. 8. 64. 2 MoxnıEr, eitirt bei Darwın, Variations. 1. S. 333. ® P. Macnus, Sitzber. d. bot. Ver. d. Prov. Brandenburg. XXVI. 1884. S. 72. Tab. II, und Pexzıs, Teratologie. I. S. 500. * Monographie der Zwangsdrehungen im Jahrb. f. wiss. Bot. 1891. Bd. XXIL. S.1072 Ta IX. 638 Ernährung und Zuchtwahl semilatenter Eigenschaften. Düngung und besserer Behandlung (1590—1892) wieder. Hierher gehört endlich auch die bekannte Erscheinung, dass verschiedene Jahre in sehr verschiedenem Grade reich an Anomalien sind. Solches fand bereits Munrine für die Füllung von Likum cruentum plenum! und Kıckx erwähnt es für Ascidien, welche z. B. 1548 in der Umgebung von Gent in Belgien auf Tabakfeldern, 1851 auf Rosa gallica und R. centifolia fast epidemisch auftraten.” Um Freiburg war der Sommer 1866 auffallend reich an Blüthenmissbil- dungen? In Frankreich war der trockene und heisse Sommer von 1593 daran besonders reich, und GAGNEPAIN zählt eine lange Reihe damals beobachteter Anomalien auf.* Bekannt sind ferner die Jahre 1845 für Pelorien an Cnlceolaria, 1862 für centrale Schirme der Auri- cula (England) und andere. An Magnolia obovata beobachtete ich während zehn Jahren die Becherbildung, an einer Weide mit Zwitter- blüthen (Salix aurita) diese Missbildung; in beiden Fällen war die Häufigkeit stets nach den Jahren eine sehr verschiedene, obgleich es dieselben, in unserem Garten wachsenden Exemplare waren, welche jährlich genau durchmustert wurden. Ich schliesse hier diese Liste, welche Jeder leicht aus eigener Erfahrung und aus der sehr reichhaltigen Literatur wird vervollstän- digen können. $ 28. Die Periodieität semilatenter Eigenschaften. Ueber die grössere oder geringere Häufigkeit des Sichtbarwerdens semilatenter Eigenschaften entscheidet nicht nur die augenblickliche Lebenslage, d. h. die äusseren Einflüsse während der empfindlichen Periode der Entwickelung. Fast ebenso gross ist die Bedeutung der individuellen Kraft des jungen Pflanzentheiles, diese aber ist das Er- gebniss der Wirkung der äusseren Factoren in den vorhergehenden Zeitabschnitten, theils nach Wochen und Monaten, theils nach Jahren gerechnet. Je kräftiger eine Knospe, um so mehr ist sie zu Ano- malien „geneigt“. Diese Erscheinung tritt am deutlichsten zu Tage in der Periodici- tät der Anomalien auf der Pflanze und in ihrem Parallelismus mit der allmähligen Erstarkung und dem späteren Rückgang des ganzen Monring, 1. ce. S. 501. J. Kıckx, Bull. Acad. Roy. Belgique. T. XVIII. 1. partie. 1851. S. 591. HıLDEgrAND, Botan. Zeitung. 1866. 8.239. Bull. Soc. Bot. France. T. 40. 1893. S. 309— 312. "on - Die Periodicität semilatenter Eigenschaften. 639 Individuums sowie seiner einzelnen Sprosssysteme." Beim fünf- blätterigen Rothklee haben wir diese Periodieität ausführlich studirt, und in mehreren anderen Fällen haben wir Beispiele kennen gelernt. Es handelt sich jetzt aber darum, über das Wesen dieses Vorganges eine mehr allseitige Uebersicht zu entwerfen. Wählen wir dazu zunächst ein Beispiel. Von Chelidonium majus kommt in Gärten nicht selten eine gefüllte Form vor, deren Füllung in der Regel aber eine schwache bleibt und 16—20 Petalen pro Blüthe nur selten erreicht (Fig. 180). An diesen Pflanzen nimmt in meinen Culturen die Füllung regelmässig vom Frühling bis in den Sommer hinein zu, und zwar sowohl auf den Hauptstengeln der einjährigen Exem- plare, als namentlich auf den Seiten- stengeln der überwinterten Pflanzen. So waren z.B.im Mai alle Blüthen ein- fach, mit 4 Kronblättern (Fig. 180.4). Anfang Juni nahm die Zahl zu und gab es vorwiegend Blüthen mit © 6 bis CT, einzelne mit bis C10, wäh- rend in der zweiten Hälfte des Juni hauptsächlich © 12 bis C14 und einige mit C15 bis C16 gesehen wurden. In jedem Jahre kehrte dann die zunehmende Füllung in derselben Folge zurück. In seinem bekannten Werke Fig. 180. Ohelidonium majus plenum. 4 Einfache Blüthe mit 4 Kronblättern. über die Verjüngung der Pflan- und C Blüthen mit 5 Petalen. D Blüthe zen hat Braun die Periodieität in mit 8 gut ausgebildeten Petalen und 2 der Entwickelung für das normale an a Leben ausführlich und klar geschil- dert.” Sowohl an der ganzen Pflanze als an den einzelnen Spross- systemen schwankt das Leben auf und nieder. Nichts ist in Ruhe, alles schwankt, fortwährend heben und senken sich die Wellen. Es ist die individuelle Kraft, welche diese stetigen Wandlungen zeigt, 1 Over het periodisch optreden der anomalien op monstreuxze planten. Botan. Jaarb. Gent. T. XI. 1899. S. 46, und Ueber die Periodieität der partiellen Variationen. Ber. d. d. bot. Ges. Bd. XVII. 1899. 8. 45. ? A. Braun, Verjüngung. S. 23—55, 75—76, 90 u. s. w. Vergl. ferner HeisrıcHer, Biolog. Oentralblatt. Bd. XVI. Nr. 1. S. 13—14. Poxornv, Sitxber. d. Acad. d. Wiss. Wien. 1875. Bd. 72. 8. 527—547. 640 Ernährung und Zuchtwahl semilatenter Eigenschaften. und mit ihr die Grösse der Blätter, die Länge und Dicke der Inter- nodien, die Zahl der Blättchen an zusammengesetzten Blättern, der Strahlen in den Schirmen, der Verzweigungen der Inflorescenzen, der Einzelblüthen in den Körbchen der Compositen u. s. w. ‚Jeder Spross hat seine Periode, er fängt mit einfacheren oder atavistischen Ge- stalten an, um erst allmählich die typischen Merkmale zur vollen Ausbildung zu bringen und dann wieder nachzulassen. Vom Spross überträgt sich die Periode auf die Nebensprosse, von diesen auf die Zweige u. s. w. Dabei können diese in Bezug auf den Tragspross stärker oder schwächer, oder auch von gleicher Kraft sein. Gewöhn- lich sind die Zweige schwächer als der Tragspross; die übrigen nennt Bravx theils Erstarkungssprosse, theils Wiederholungssprosse.! Aehren und Trauben sind bekannte Beispiele erschwachender Sprosse; ihre Gipfelblüthe, wenn eine solche vorhanden ist, eilt allen übrigen in der Entwickelung voran, wie z. B. bei der pelorischen Digitalis. Beim Rothklee bleibt der Hauptspross ein kurzes senkrechtes Rhizom: die Seitenzweige erstarken in zunehmender Reihenfolge und werden zu blühenden Stengeln. Bei Teiragonia expansa ist der Hauptspross stets kurz, aufrechtstrebend, sich mit einer Blüthe abschliessend; die Neben- sprosse werden über meterlang und viel stärker. Wiederholungssprosse sind die Seitenzweige aus den Achseln der Wurzelblätter sehr vieler Pflanzen, und zwar in allen Graden (Ranunculus bulbosus, Ohrysanthe- mum segetum, Trifolium incarnatum), ferner die gabeligen Inflorescenzen, wie Saponaria officinalis. Sind die Wiederholungssprosse Ausläufer, so entstehen Braun’s Wiederholungsgenerationen, wie bei Valeriana offieinalis, Lysimachia vulgaris U. S. W. Es würde mich zu weit führen, dieses Bild weiter auszumalen.? Auch kommt es mir nur darauf an zu zeigen, dass es für die Ano- malien das Schema der Verbreitung auf der Pflanze bildet. Aller- dings ist das Schema in der Ausführung vielfach gestört, weil ja die jedesmaligen äusseren. Einflüsse entscheidend mit eingreifen. Jeder Spross und jedes Sprosssystem hat seine empfindliche Periode, wie eine Keimpflanze, in jedem Zweige begünstigen die augenblicklich herrschenden Factoren die Anomalie oder den Typus der Art. Aber abgesehen von diesen zahlreichen Schwankungen zeigt sich die Regel doch überall dort, wo das Material ausreicht, um Ausnahmen zu beseitigen. ı Vergl. $ 23 S. 591. ? Ueber die Periodieität bei der Bestockung des Getreides vergl. ScHRIBAUx im Journal d’Agrieulture pratique. 1899 und Rımpauv in den Landwirthseh. Jahr- büchern. Bd. XXIX. S. 589. Die Periodieität semilatenter Eigenschaften. 641 An Specularia Speculum fand ich in einer Cultur von 1892 die Blüthen theils vier-, theils fünfzählig. Die fünfzähligen standen am Gipfel des Stammes und der kräftigsten Sprosse zweiter Ordnung, alle übrigen Blüthen waren vierzählig. Einen ähnlichen Unterschied zwischen Gipfel- und Seitenblüthen zeigen bekanntlich als normale Eigen- schaft Adoxa Moschatellina und viele andere Pflanzen. Pinus sylvestris hat in der hiesigen Gegend sehr oft einzelne Nadeln in Gruppen von drei statt von zwei zusammengefügt, jede Gruppe bezeichnet bekanntlich einen kleinen Kurztrieb. Die dreigliederigen fand ich überall fast nur an den sehr starken Trieben, und an diesen fast nur am oberen Ende, dort aber oft zahlreich und dicht gehäuft. Es sind vorwiegend die Stämme selbst, welche sie führen, theils aber auch die kräftigsten Aeste. Es kamen bis 15 dreiblätterige Kurztriebe an einem Jahres- triebe eines Stammes vor, alle dicht um den Gipfel herum, zwischen zahlreichen zweiblätterigen gruppirt. Aehnliches zeigt auch Pinus Pinaster. In den einzelnen Jahren fand ich die Häufigkeit dieser Anomalie sehr wechselnd. Oamellia japonica mit gestreiften Blumen bildet solche im No- vember und December, aber, wenn sie im April blüht, bringt sie nur einfarbige Blumen hervor." Eine Form von Trifolium repens bildete in meinem Garten jährlich Ascidien in nicht unerheblicher Menge und in grosser Abwechselung der Gestalt. Aber stets nur im Früh- jahr,” ebenso wie die Linde ihre Becher vorwiegend aus den ersten Blättern der Triebe, und Saxifraga erassifolia die Ascidien (Fig. 16 S. 45) hauptsächlich am unteren kurzen beblätterten Theil der Blüthenschäfte trägt.” Ulmus campestris bildet seine Becher dagegen vorwiegend aus den kräftigsten Blättern im mittleren, und oberen Theil der Sprosse. In dieser mittleren Gegend der Sprosse findet man die Anomalien häufig, sei es ausschliesslich, sei es vorwiegend. So beschreibt FRITZ MÜLLER eine Begonia von Manneshöhe aus Brasilien, welche kleine Nebenblättchen am Grunde der Blattscheibe trug,* meist nur 1—3, bisweilen 5—50 mm lang. Sie fanden sich am 4.—10., in einem Falle am 2.—5. Blatte der senkrechten Stämme, und zwar an jedem anomalen Stengel, sowohl im Garten als im Freien, in derselben Höhe. Im Mai 1890 beobachtete ich eine Gruppe von Epilobium hirsutum, deren zahlreiche, noch junge Stengel zu einem grossen Theile gabelig ZVERLOTI CH 82367. ® J. C. Costerus, Bekertjes aan de eindblaadjes van Trifolium repens. Botan. Jaarboek Gent. 1892. S. 13 Taf. I. ® Diese Erscheinung wurde in meinem Institut näher untersucht von T. Tauues. * Fr. MüLter, Ber. d. d. bot.. Ges. T. V. S 44. DE VRIES, Mutation. I. 41 642 Ernährung und Zuchtwahl semilatenter Eigenschaften. gespalten waren. Die Spaltungen fanden sich alle in derselben Höhe und wiederholten sich auch nachher im Laufe des Sommers nicht. Es waren gespaltene Verbänderungen, die Spaltung jedoch tiefer ein- gerissen, wie an einzelnen Blättern zu sehen war, welche, von unten her aufgerissen, mit ihrer einen Hälfte auf dem einen, mit der anderen Hälfte auf dem anderen Gabelaste eingepflanzt waren. Solche gab es an mehreren Sprossen, aber stets nur in derselben, bereits erwähnten Höhe. Das untere Ende mancher traubigen Inflorescenzen ist für Ano- malien oft besonders günstig. So führen schwachgefüllte Gladiolus fast nur hier gefüllte Blumen, so: bilden die Trauben von Prunus Padus fast nur hier Seitentrauben, und in anderen Fällen ebenso nur hier vierzählige Blüthen aus. Manche gefüllte Varietäten bilden be- kanntlich oft am Ende der Blüthenperiode, bisweilen aber auch beim Anfang (Begonia) einfachere Blumen aus, welche Samen liefern, auch wenn die gefüllten steril sind. Es ist im Gartenbau eine sehr bekannte Erfahrung, dass beim Aussäen von Stauden- und Zwiebelgewächsen der Werth der Exemplare im ersten Blühjahre sich noch nicht richtig beurtheilen lässt. Erst im zweiten oder dritten Jahre des Blühens entfalten sie ihre Vorzüge in voller Pracht. Viele Exemplare von Ohrysanthemum indicum, welche, aus Samen gezogen, im ersten Jahre halbgefüllt blühen, werden im zweiten Jahre als Steckling gefüllte Blüthen entwickeln." Die drei- farbigen Blattvarietäten von Pelargonium zonale tricolor zeigen erst im zweiten Jahre nach der Aussaat ihre volle Farbenpracht.? Bei Tulpen, Hyacinthen und anderen Blumenzwiebeln ist die Regel jedem Züchter bekannt. Für die Fälle gewöhnlicher Verzweigung gilt die Regel, dass mit zunehmender Zweigordnung die Anomalie im All- gemeinen abnimmt. Dabei ist von Verstärkungs- und Wiederholungs- sprossen selbstverständlich abgesehen. Jedermann kennt das hübsche Beispiel der Myosotis azorica Victoria (M. alpestris var.). Diese seit Jahrzehnten im Handel befindliche, erbliche Anomalie, welche nament- lich Masxuvs beschrieben hat,? hat am Ende der Hauptachse eine stark verbreiterte Blüthe, welche oft weit über zehn, nicht selten 20 und mehr Kronblätter in einem Kreise trägt. Entsprechend hat die Zahl der Kelchblätter und der Staubfäden zugenommen. Die nächst- ! Katalog von Reıp und Bornemann. 1891. S. 20. ® Katalog von Surrox. 1891. 8. 77. 3 Verhandl. d. Bot. Ver. d. Prov. Brandenburg. XXIV. 1882. S.119. Taf. IV. Die Periodicität semilatenter Bigenschaften. 643 folgenden Blüthen der Intloresc sammengesetzt, und die Zahl der Kronblätter nimmt im Laufe des Blühens allmählich ab, bis schliesslich meist nur noch 5—6zählige Blumen gebildet werden. Chrysanthemum inodorum plenissimum zeigt eine ähnliche Periodicität, Ficaria ranunculoides und Centaurea Cyanus sind in derselben Weise in Bezug auf die Änzahl ihrer Petalen vom Ver- zweigungsgrade abhängig.! Veronica Buxbaumii trägt die zahlreichsten anomalen Blüthen, nach BArzson und PErTz, am Anfang der Blüthe- zeit, kurz vor der reichlichsten Blüthe.? Myosurus minimus hat um so einfachere Blüthen, je schwächer diese sind.” Zahlreiche solche Fälle sind bereits in alter Zeit von Munrtin@e und neuerlich nament- lich von BURKILL zusammengestellt worden.* Tagetes africana und T. signata zeigen oft auf derselben Pflanze anfangs nur einfache Körbchen, später aber in zunehmendem Grade sefüllte. Aehnliches sieht man auch bei Zinnia elegans und an Althaea rosea sieht man bisweilen an demselben Stamme die Blüthen bei zu- nehmenrder Höhe immer mehr gefüllt werden. Schwache Seitenknospen haben im Allgemeinen, bei variablen Rassen, eine besondere Neigung zu atavistischen Abweichungen. Es gilt solches von den Zweiglein höchster Ordnung, von den accessori- schen Knospen, welche neben der Achselknospe sich bilden, von den ruhenden Knospen u. s. w. Nur ist dabei zu berücksichtigen, dass gerade solche Knospen häufig zu sehr kräftigen Trieben, den so- genannten Wasserschösslingen werden, und dann die Anomalie und nicht den Typus der Art bevorzugen. Auf diese Ausnahme habe ich bereits oben hingewiesen. Cupsella Heegeri, die neue von Sonms beschriebene Art,? bildet an den schwachen Seitenzweigen Rückschläge zu der C. Bursa pastoris, aus der sie entstanden ist, und ähnliches zeigen die als Gattung Tetrapoma, zusammengefassten Varietäten von Nasturtium palustre nach demselben Autor. Papaver somniferum polycephalum bildet an den sehr schwachen Zweiglein, welche durch das Abschneiden der Seitenäste 1 J. Mac Leon, Botanisch Jaarboek, Gent. 1899. T. XI. 2 W. Bateson and Mıss Pertz, Notes on the inheritance of Variation in the Corolla of Veronica Buxbaumiü, Proceed. Cambridge Phil. Soc. X. P. 2. S. 78. (1898.) ® H. Müıter, Nature. Vol. 26. 1882. S. 81. * A. Muntıns, Waare Oeffeninge. 1671. J. H. Burkırr, Linnaean Soc. Journ. IBorEV01% 31522118957 387 216. 5 H. Grar zu Sorms-Laugacn, Oruciferenstudien. Botan. Zeitung. 1900. Heft X. S. 167. 41* 644 Ernährung umd Zuchtwahl semilatenter Eigenschaften. aus dem Hauptstamme im Spätjahr entstehen, fast nur Blüthen ohne Nebencarpelle. Die Pelorien von Digitalis purpurea sind am Stammes- gipfel und auf den stärksten Zweigen monströs, auf den schwächeren aber einfach und sehr regelmässig gebildet (Fig. 161 S. 568). Durch Beschneiden kann man solche Knospen vielfach zur Ent- wickelung zwingen und bekommt dann, wie namentlich GoEBEL gelehrt hat, sehr oft die entsprechenden Variationen, wenn nicht durch sehr kräftiges Wachsthum gerade die Anomalie begünstigt wird. $ 29. Die Wahl der Samen bei der Selection. Wechselt auf der Pflanze die Neigung, Anomalien zu bilden, periodisch, so wird man eine entsprechende Periodicität auch für die Samen erwarten dürfen." Die Samen der begünstigten Blüthen sollen im Allgemeinen mehr anomale, diejenigen der schwächeren Triebe mehr atavistische Individuen liefern. Diese Erwartung geht aber nur in sehr beschränkter Weise in Erfüllung, und es scheinen die Samen weit mehr von anderen Einflüssen, als von jener Periodicität auf der Mutterpflanze beherrscht zu werden. Auch sind unsere Kenntnisse auf diesem Gebiete noch erst in ihrem Anfange. Dennoch liegen eine Reihe von Erfahrungen vor, welche es sich lohnt, hier zusammenzustellen, da sie geeignet sind, zu weiterer For- schung anzuregen. Ich hebe dabei hervor, dass es sich bei der Wahl der Samen um Variabilität und nicht um Mutabilität handelt, und in den meisten Fällen um die starke fluctuirende Variabilität semi- latenter Eigenschaften. Nur ein kräftiger, gut entwickelter, mit starkem Keime aus- gestatteter und reichlich mit Nährstoffen beladener Same kann die allerstärkste Pflanze einer guten Öultur liefern. Ohne Zweifel werden sewöhnlich die Unterschiede zwischen den einzelnen Samen in den ersten Wochen nach der Aussaat grossentheils ausgeglichen, aber solches braucht nicht immer der Fall zu sein. Und eine maximal günstige Lebenslage wird offenbar nur in Verbindung mit höchster Keimentwickelung zur grösstmöglichen Leistung führen. Aus diesem Grunde wird in der Landwirthschaft, und zum Theil auch im Gartenbau, oft den einzelnen Samen eine besondere Auf- merksamkeit gewidmet. Es wird dabei im Allgemeinen einerseits die (srösse und das Gewicht der einzelnen Samen, andererseits der Ort ihrer Entstehung auf der Pflanze berücksichtigt. Das Selections- 1 C. Fruwirta, Die Züchtung der landwirthschaftlichen Culturpflanzen. 1901. S. 102. Die Wahl der Samen bei der Selection. 645 verfahren beiri Getreide beruht zu einem wesentlichen Theile auf der Auswahl der grössten und schwersten Körner, oder richtiger auf der Beseitigung der kleineren Samen, sei es durch Centrifugen, durch Trieur- oder durch Blaseeinrichtungen.” Wo es auf die Züchtung kleinerer Familien als Stämme für neue Rassen ankommt, empfehlen die besten Autoritäten das Messen und Wägen der einzelnen Körner, und sind namentlich Wagen zur Bestimmung ihres Gewichtes con- struirt worden.? Sehr wichtig sind für die Methode der Selection die Beziehungen zwischen der Grösse der Samen und der Geschwindigkeit der Keimung, welche in letzter Zeit namentlich von VAN DE VELDE gründlich studirt worden sind.? Im Allgemeinen keimen die grösseren Samen rascher als die kleineren, und begünstigt dadurch ihr Gewicht in doppelter Weise die Ent- wickelung kräftiger Pflanzen. Dazu kommt, dass die Erfahrung im Garten- hau seit alten Zeiten gelehrt hat, dass die erstkeimenden Samen die besten sind und die schönsten Pflanzen lie- fern. Bei der Ernte im Grossen auf den Blumenäckern fallen gar oft die ; ersten Samen vor der Ernte ab: sie Fig. 181. Knäuel der Zuckerrübe, halb- 5 : ? schematisch. A Zwei reife Knäuel an keimen leicht und vielfach sofort, und einem Stengel. B ein solcher, der Länge Jeder weiss, dass aus solchen Samen, nach durehschnitten, die drei Samen : Ri in den betreffenden Fruchthöhlungen wo sie zur Blüthe gelangen, gerade zeigend.* 5, die besten Exemplare aufgehen. Von manchen Arten empfehlen die Handbücher, die Samen von selbst ab- fallen zu lassen zum Zwecke der nächsten Generation; diese Selbstsaat giebt ganz allgemein bessere Resultate als die rechtzeitige und vor- schriftsmässige Saat geernteter Samen. \ 7 2 NL PR N KENN Z NS << = >> ! Vergl. v. Rümker, Getreidezüchtung. 1889 und v. Rümker, Der wirthschaft- liche Mehrwerth ‚guter Culturvarietäten und ausgelesenen Saatgutes. Arbeiten der D. Landw. Gesellsch. 1898. Heft 36. S. 127. 2 v. Rüuker, Journ. für Landwirthschaft. 39. Jahrg. Heft 2. S. 129. ® VAN DE VELDE, Invloed van de grootte der xaden op de kieming. Botanisch Jaarboek. Gent 1898. S. 109—131. * Das Material zu dieser Zeichnung verdanke ich der Güte der Herren Kinn & Co., Zuckerrübensamenzüchter in Naarden (Holland). Es stammt von einzelnen auserwählten Rüben mit dem sehr hohen Gehalt von 18-9—20-1°/, Zucker und 900—1100 Gramm Wurzelgewicht. 646 Ernährung und Zuchtwahl semilatenter Eigenschaften. Der Sitz des schwersten Kornes an der Pflanze ist eine vielfach ventilirte Frage. Betrachten wir als erstes Beispiel die Zuckerrübe. Hier sind je 2—5, bisweilen mehrere Früchtchen zu einem sogenannten Knäuel verwachsen (Fig. 181), an dem die obere Blüthe den grössten Samen bildet (Fig. 181 B), während die Seitenfrüchte derselben Knäuel weniger schön und bedeutend kleiner und unter sich sehr verschieden in der Ausbildung sind." Diese Erscheinung ist in der neuesten Zeit von BRIEMm sehr ausführlich untersucht worden.” Er säte die Knäuel aus und pflanzte ihre einzelnen Keime getrennt auf einer Reihe. Es konnten somit die Pflänzchen eines Knäuels während ihrer ganzen Entwickelung mit einander verglichen werden. Der grösste Same wird zur grössten Keimpflanze, diese zur grössten Rübe und eventuell zum reichsten Samenträger. Das Gewicht der fünf Keimpflanzen einer Rübe verhielt sich z. B. am Ende der Keimung wie folgt: 100:74:67:51:46. Der grösste Keimling wog dabei 5-8 Milligramm. Die erwachsenen Rüben eines Knäuels wogen in einem Falle z. B. 1156 — 859 — 574 — 344 — 310 Gramm und sie lieferten 241 — 167 — 202 — 239 — 104 Gramm Samen- ernte am Schlusse ihres zweiten Jahres. E. Schaar betrachtet es als einen wichtigen Vorzug der sogenannten Stecklingsculturen bei den Zuckerrüben, dass durch den engen Stand die Nebenkeime jedes Knäuels in ihrer Entwickelung gehemmt und so fast nur die grössten Samen jedes Knäuels keimfähig werden.® Beim Getreide ist die Sache am ausführlichsten untersucht und verweise ich auf die bereits mehrfach eitirte Literatur. Die schwersten Körner sitzen in der Mitte oder etwas unterhalb der Mitte der Aehren. FRuUwIRTH zeigte dieses für Gerste, Roggen, Weizen, Spelt und auch für den Mais;* es ergaben sich dabei je nach den verschiedenen Sorten und Unterarten auch untergeordnete Verschiedenheiten.” BRUYNING fand, dass beim Hafer die unteren Körner der einzelnen Aehrchen weit besser sind als die Oberkörner,° und ähnliches gilt auch in Bezug auf die anderen Getreidearten. Schliesslieh möchte ich auf jene Fälle aufmerksam machen, wo 1 Keimungsgeschichle der Zuekerrübe. Landw. Jahrb. Bd. VIII. 1879. S. 14. ? H. Bsıem, Studien über Samenrüben, einem Rübenknäuel entstammend. Öesterr.-Ungar. Zeitschr. f. Zuckerindustr. u. Landwirthsch. 1900. Heft II, IV u. VI. ® E. Scuaar, Blätter für Zuckerrübenbau. Jahrg. VII. Nr. 24. Dec. 1900. * ©. Fruwırta, Ueber den Sitz des schwersten Kornes in den Fruchtständen beim Getreide, in Worıny’s Forschungen auf d. Gebiete d. Agrie.-Physik. XV. 1892. S.49. 5 E. Noruwang, Unters. über die Vertheihung d. Körnergewichtes an Roggen- ähren. Diss. Leipzig 1893. Bot. Centralblatt 1895. II. S. 263. 6 F. F. Bruynıns, Proefnemingen met havervarieteiten, Wageningen 1900. Die Wahl der Samen bei der Selection. 647 einzelne Samen von der Natur dazu bestimmt sind, später zu keimen als andere, und ein oder mehrere Jahre im Boden ruhen, wie z. B. bei den Kleearten die kleinen Körner. Bei Xanthium canadense ent- hält jede Frucht zwei Samen und öffnet sich nicht. Der eine Same _ keimt nach dem ersten, der andere aber erst nach dem zweiten Winter.! Wo es sich um semilatente oder im Allgemeinen um stark variable Eigenschaften handelt, wird in vielen Fällen eine Auswahl der Samen, sei es nach Grösse und Gewicht, sei es nach dem Orte der Entstehung auf der Pflanze, empfohlen. Und es scheint dann wohl immer sich so zu verhalten, dass dort, wo die besten Samen entstehen, auch die grösste Aussicht auf die gewünschten Varianten vorhanden ist. Nur ist dabei von speciellen Anpassungen abzusehen, wie wir beim Trifolium incarnatum gesehen haben, wo gerade die kleinsten, trägkeimenden Samen die Erben der vierblätterigen Rasse enthalten. Bei Chelidonium majus plenum blühen, wie wir im vorigen Para- graphen gesehen haben, zuerst die einfachen und später die gefüllten Blüthen. Ich habe von beiden die Samen getrennt geerntet und gesät, fand aber in Bezug auf die Füllung der Nachkommen keinen Unter- schied. Ebenso wenig fanden BAarTEson und Mıss PERTZ einen Unter- schied in den Nachkommen? der normalen und der anomalen Blüthen derselben Pflanze von Veronica Buxbaumii. Bei Oenothera Lamarckiana erhielt ich aus den unteren und den oberen Früchten derselben Traube gleich viel Procente an ein- und an zweijährigen Individuen. Bei Viola tricolor maxima liefern die kleinen Sommerblüthen den meisten Samen; es fällt keinem Samenzüchter ein, sie für schlechter als die ersten Samen zu halten. Und bei manchen gefüllten Pflanzen, namentlich bei Begonien, liefern fast nur die allerspätesten Blüthen Pollen und Samen, und sät man von ihnen, ohne davon je einen Nachtheil zu erfahren. Dagegen wird allgemein empfohlen, vom Hahnenkamm, Celosia cristata, nur die unteren Samen der Inflorescenz zu ernten und sollen bei zerschlitzten Farnsorten (Varietates cristatae) die auf den zerschlitzten Blättern, sogar auf den zerschlitzten Blattzipfeln befindlichen Sporen die besten sein, wenn auch auf anderen Blättern die Sporen gleichfalls zu Erben auswachsen können.? Ein anderes von vielen Forschern stu- dirtes Beispiel liefern die Levkojen, deren gefüllte Varietäten bekannt- lich seit alten Zeiten, jedenfalls wohl seit einem Jahrhundert, in jeder 1 J. C. Artnur, Proceed. Ann. Meeting Soc. Agrie. Science. August 1895. ®? W. Bateson und Miss Pertz, ]l. c. 8. 79. ® Vergl.die ausgedehnte Literatur bei GoEBEL, Organographie. I. 8.158; VER- LOT, 1.6.8.97; CArRRIERE,1.c.8.67; KenceLy Bripemann, Ann. Sc.nat. 4°. Serie T.XVI. S. 367; C. T. Devery, Journ. Roy. Hort. Soc. Vol. XII. III. 1890. S. 517, u. s. w. Generation zur einen Hälfte aus gefüllten, zur anderen Hälfte aus einfachblühenden Individuen bestehen.! Die ersteren sind völlig steril, auch ohne Pollen, wegen der Petalomanie (vergl. S. 137), nur die letzteren dienen zur Fortsetzung der Rasse. Die Samen für die einfachen und gefüllten Exemplare unterscheiden sich von einander mehr oder we- niger; die letzteren sind schwerer und keimen rascher, ? auch sollen auf den Beeten die jungen Pflänzchen sortirt werden können, lange bevor sich die Knospen zeigen.” An der Pflanze liefern die unteren Schoten jeder Traube am Stengel und an den Hauptästen, sowie die unteren zwei Drittel einer jeden Schote im Mittel mehr gefüllte als einfache Keime; die oberen Theile und die Schoten schwächerer Zweiglein liefern mehr einfache. Man kann dadurch, sei es durch Beschränkung der Samenbildung durch Topfcultur, sei es durch Beschneiden, den Gehalt der Ernte an gefüllten bis etwa 60°/, steigern, und solches geschieht bei den feineren Sorten wohl auf jeder guten Gärtnerei. Beim Auf- bewahren der Samen nimmt der Gehalt an gefüllten Keimen allmählich zu, weil die einfacheren früher absterben. Von Balsaminen und vielen anderen gefülltblüthigen Varietäten wird angegeben, dass die Samen runder und voller, oft auch glätter sind als diejenigen der entsprechenden einfachen Sorten. Die gefüllten Samen von Petunia sollen später keimen als die einfachen, wie mir Erfurter Züchter versicherten; bei Compositen sollen die centralen Samen der Köpfchen bei den gefüllten Varietäten mehr Aussicht auf gute Erben bieten u. s. w. Doch bedürfen alle diese Angaben einer kritischen, auf genauen Versuchen gegründeten Sichtung sehr.* Jedenfalls steht es im Allgemeinen fest, dass die einzelnen Samen einer Pflanze, je nach dem Orte ihrer Entstehung und je nach ihrer Grösse und ihrem Gewichte zu Exemplaren von sehr verschiedener individueller Kraft werden können, und dass, den früher besprochenen Regeln entsprechend, bei stark variablen Sorten damit nicht selten eine geringere oder vollere Entfaltung des Sortenmerkmales zusammengeht. ! E. Cuars fils, Culture pratique des girofles, Paris. Biblioth. de l’horti- eulteur praticien. 2 NosgBE, Botan. Centralblatt. Bd. 32. 1887. 8. 253. ® Die Franzosen nennen diese von Kindern ausgeführte Manipulation esimpler, das Aussuchen der Einfachen. Doch bedarf die Sache gründlicher Untersuchung. * Eine Zusammenstellung älterer Angaben befindet sich bei Perkıtsch, Zur Aetiologie pelorischer Blüthenbildungen. Abhandl. k. k. Akad. Wien. 1877. S. 135 —136, DE VRIES, Mutation 7. Taf. 7. I —T Ns '4 AN N IN N De N Antirrhinum majus luteum rubro-striatum. Mit Knospenvariation. Verlag von Veit & Comp. in Leipzig. DE VRIES, Mutation 7. Taf. 8. D A @ A—C. Chrysanthemum segetum plenum. D. Chrysanthemum segetum. Verlag von Veit & Comp. in Leipzig. \ e Erste Liefern ng zu: x Hi: I’ E Erster Band. a: DIE MUTATIONSTHEORIE. VERSUCHE UND BEOBACHTUNGEN ®& ÜBER DIE Er ne | ENISTEHUNG VON ARTEN IM PFLANZENREICH. VON HUGO ve VRIES, PROFESSOR DER BOTANIK IN AMSTERDAM. ERSTER BAND. ERSTE LIEFERUNG. MIT ZAHLREICHEN ABBILDUNGEN UND DREI FARBIGEN TAFELN. LEIPZIG, VERLAG VON VEIT & COMP. 1901. Be Einzelne Lieferungen sind nicht verkäuflich. Die Ankümdigung findet sich auf der zweiten und dritten Seite des Umschlages. Ankündigung. „Die Mutationstheorie“ wird zwei Bände umfassen, die im Laufe der nächsten zwei Jahre in sechs Lieferungen zur Ausgabe gebracht werden sollen. Der erste Band behandelt „Die Entstehung der Arten durch Mutation“, der zweite „Die Prinzipien der Bastardlehre‘ Einzelne Lieferungen oder Bände sind nicht käuflich. Leipzig. Die Verlagsbuchhandlung. Aus dem Vorwort. Die Lehre von der Entstehung der Arten ist bis jetzt eine ver- gleichende Wissenschaft gewesen. Man glaubt allgemein, dass dieser wichtige Vorgang sich der directen Beobachtung und mindestens der experimentellen Behandlung entziehe. Diese Ueberzeugung hat ihren Grund in den herrschenden Vor- stellungen über den Artbegriff und in der Meinung, dass die Arten von Pflanzen und Thieren ganz allmählich aus einander hervorgegangen sind. Man denkt sich diese Umwandlungen so langsam, dass ein Menschenleben nicht genügen würde, um die Bildung einer neuen Form zu sehen. Aufgabe des vorliegenden Werkes ist es, dem gegenüber zu zeigen, dass die Arten stossweise entstehen, und dass die einzelnen Stösse Vorgänge sind, welche sich ebenso gut beobachten lassen, wie jeder andere physiologische Process. Die durch je einen solchen Stoss entstandenen Formen unterscheiden sich von einander ebenso scharf und in ebenso zahlreichen Punkten, wie die meisten soge- nannten kleinen Arten, und wie viele nahe verwandte Arten der besten Systematiker, selbst von Linnt£. Es eröffnet sich somit die Möglichkeit, durch die directe Be- obachtung, sowie durch Culturen und Versuche die Gesetze kennen zu lernen, welche die Entstehung neuer Arten beherrschen. Die Ergebnisse solcher Studien können dann mit den Folgerungen ver- glichen werden, welche bis jetzt hierüber aus systematischen, biolo- gischen und namentlich aus palaeontologischen Befunden abgeleitet worden sind. Es ergiebt sich dabei zwischen diesen Deductionen und den neuen Erfahrungen eine sehr befriedigende Uebereinstimmung. Diese Stösse oder Mutationen, von denen die Sprungvariationen die bekanntesten Beispiele sind, bilden eine besondere Abtheilung in der Lehre von der Variabilität. Sie geschehen ohne Uebergänge, und sind selten, während die gewöhnlichen Variationen kontinuirlich und stets vorhanden sind. Der Gegensatz zwischen beiden leuchtet (Fortsetzung auf der 3. Umschlagseite.) ' sofort ein, wenn man annimmt, dass die Eigenschaften der Organismen aus bestimmten, von einander scharf unterschiedenen Einheiten auf- gebaut sind. Die Entstehung einer neuen Einheit bedeutet eine Mutation; die Einheit selbst ist aber in ihren Aeusserungen nach denselben Gesetzen variabel, wie die übrigen bereits vorher vor- handenen Elemente der Art. Weit bequemer als auf dem Gebiete der Abstammungslehre lässt sich mit diesen Einheiten auf dem der Bastarde arbeiten. Denn hier führt‘ dieses Prinzip die anscheinend so überaus complicirten Erscheinungen der Bastardirung auf die einfachsten Fälle der Kreuzung nächstverwandter Formen zurück. Aus der Combination solcher elementarer Vorgänge ist dann umgekehrt. die Erklärung der gewöhnlichen Bastarde abzuleiten, und lässt sich sogar nicht selten ihr Verhalten in bestimmten Fällen vorhersagen. Aufgabe des zweiten Bandes ist daher die Anwendung der Mutationstheorie auf die Bastardlehre und die Behandlung der Frage, welche Rückschlüsse diese Anwendung auf die Entstehung der Arten gestattet. Die angedeuteten Ueberlegungen gelten offenbar in derselben Weise für die Thiere wie für die Pflanzen. Als Botaniker habe ich aber meine Studien auf die letzteren beschränkt. Doch hoffe ich zuversichtlich, dass meine Ergebnisse später auch auf das Thierreich Anwendung finden werden. Die Kenntniss der Gesetze des Mutirens wird voraussichtlich später einmal dazu führen, künstlich und willkürlich Mutationen hervorzurufen und so ganz neue Eigenschaften an Pflanzen und Thieren entstehen zu lassen. Und wie man durch das Selections- verfahren veredelte, ertragsreichere und schönere Rassen heranbilden kann, so wird man vielleicht auch dereinst im Stande sein, durch die Beherrschung der Mutationen dauernd bessere Arten von Oultur- pflanzen und von Thieren hervorzubringen. 4 Aus dem Inhaltsverzeichnisse. Der erste Band umfasst: I. Die Grundlage der heutigen Selectionstheorie, eine Revision der Thatsachen. II. Die Entstehung von elementaren Arten in der Gattung Oenothera. III. Die Constanz der elementaren Arten. IV. Die partielle Mutabilität und der Atavismus. Der zweite Band wird enthalten: I. Die elementare Bastardlehre. II. Die Anwendung der Bastardlehre auf die Lehre von der Entstehung der Arten. III. Die Theorie des Mutirens. Verlag von nn & COMP. in Leipzig. HANDBUCH DER MINERALOGIE. Von Dr. Carl Hintze, o. ö. Professor der Mineralogie an der Universität Breslau. In zwei Bänden Lex. 8-Format. Erster Band. Elemente, Sulfide, Oxyde, Haloide, Carbonate, Sulfate, Borate, Phosphate. Erste bis fünfte Lieferung & 5 %. (Schluß in Vorbereitung.) Zweiter Band. Silicate und Titanate. 1897. geh. 58 #, geb. in Halbfr. 61 #. “The work is an invaluable book of reference, since it contains all that is to be found in other descriptive treatises and a great deal more besides, and appears to be extraordinarly accuralte.’’ H. A. Miers. (The mineralogical Magazine. 1897. Vol. XT.) ELEKTROCHEMIE. Ihre Geschichte und Lehre. Von Dr. Wilhelm Ostwald, Professor der Chemie an der Universität Leipzig. Mit 260 Nachbildungen geschichtlicher Originalfiguren. Lex. 8. 1896. geh. 28 %, eleg. geb. 30 #%. GESCHICHTE DES GELEHRTEN UNTERRICHTS auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht, Von Dr. Friedrich Paulsen, 0. ö. Professor an der Universität Berlin. Zweite, umgearbeitete und sehr erweiterte Auflage. Zwrei Bände. Erster Band: Geschichte des gelehrten Unterrichts im Zeichen des alten Humanismus. 1450-1740. Zweiter Band: Der gelehrte Unterricht im Zeichen des Neuhumanismus. i740—1892. gr. 8. 1896 u. 1897. geh. 30 .%, eleg. geb. in Halbfranz 34 4. „Wenn diese Deutung der historischen Thatsachen nicht gänzlich fehl- geht, so wäre hieraus für die Zukunft zu folgern, dass der gelehrte Unterricht bei den modernen Völkern sich immer mehr einem Zustande annähern wird, in welchem er aus den Mitteln der eigenen Zrasmalals und Bildung dieser Völker bestritten wird.“ VORLESUNGEN ÜBER TIIERMODYNAMIK von Dr. Max Planck, 0. ö. Professor der theoretischen Physik an der Universität Berlin. Mit fünf Figuren im Text. gr. 8. 1897. In Ganzleinen kart. 7.4 50 2. Druck von Metzger & Wittig in Leipzig. Erster Band. Zweite Lieferung. ö FMUTATIONSTHEORIE. . VERSUCHE UND BEOBACHTUNGEN DIE ei ENTSTEHUNG VON ARTEN IM PFLANZENREICH. VON HUGO DE VRIES, PROFESSOR DER BOTANIK IN AMSTERDAM. ERSTER BAND. ZWEITE LIEFERUNG. MIT ZAHLREICHEN ABBILDUNGEN UND DREI FARBIGEN TAFELN. LEIPZIG, VERLAG VON VEIT & COMP. 1901. = TE Pinzelne Lieferungen sind nicht verkäuflich. Verlag von ' VEIT & COMP. in Leipzig. HANDBUCH DER MINERALOGIE. Von Dr. Carl Hintze, 0. ö. Professor der Mineralogie an der Universität Breslau. In zwei Bänden Lex. 8-Format. Erster Band. Elemente, Sulfide, Oxyde, Haloide, Carbonate, Sulfate, Borate, Phosphate. Erste bis sechste Lieferung & 5 4#. (Schluß in Vorbereitung.) Zweiter Band. Silieate und Titanate. 1897. geh. 53 4, geb. in Halbfr. 61 %. “The work is an invaluable book of reference, since it contains all that is to be found in other descriptive treatises and a great deal more besides, and appears to be extraordinarly accurale.” H. A. ME: (The enaleginal EMuguzine: 1897. Vol. XI.) _ ELEKTROCHEMIE. ThrerGesehi ehkter, unter pellaıne Von Dr. Wilhelm Ostwald, 0. ö. Professor der Chemie an der Universität Leipzig. Mit 260 Nachbildungen geschichtlicher Originalfiguren. Lex. 8. 1896. geh. 28 EL eleg. geb. 30 A. _ GESCHICHTE DES GELEHRTEN UNTERRICHTS auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht. Von Dr. Friedrich Paulsen, 0.,ö. Professor an der Universität Berlin. Zweite, umgearbeitete und sehr erweiterte Auflage. Zwei Bände. Erster Band: Der gelehrte Unterricht im Zeichen des alten Humanismus. 1450 —1740. Zweiter Band: Der gelehrte Unterricht im Zeichen des Neuhumanismus. 1740—1892. gr. 8. 1896 u. 1897. geh. 30 %, eleg. geb. in Halbfranz 34 4. „Wenn diese Deutung der historischen Thatsachen nicht Sänzlich fehl- geht, so wäre hieraus für die Zukunft zu folgern, dass der gelehrte Unterricht bei den modernen Völkern sich immer mehr einem Zustande annähern wird, in welchem er aus den Mitteln der eigenen Erkenntnis und Bildung dieser Völker bestritten wird.“ VORLESUNGEN ÜBER THERMODYNAMIK von Dr. Max Planck, 0. ö. Professor der theoretischen Physik an der Universität Berlin. Mit fünf Figuren im Text. gr. 8. 1897. In Ganzleinen kart. 7 # 50 2. j Be eg) Verlag v von ı VEIT & SoMP. in n Leipzig. PSYCHOLOGIE DER NATURVOLKER, ENTWICKLUNGSPSYCHOLOGISCHE CHARAKTERISTIK DES NATERMENSOHRN IN INTELLEKTUELLER, AESTHETISCHER, ETHISCHER UND RELIGIÖSER BEZIEHUNG. Eine natürliche Schöpfungsgeschichte des menschlichen Vorstellens, Wollens und Glaubens von Dr. Fritz Schultze, ' ordentl. Professor der Philosophie an der Technischen Hochschule zu Dresden. gr. 8. 1900. ‘geh. 10 %. „Im Sinne der evolutionistiseben Ethik wäre es ein Wahn, sich dem Glauben hinzugeben, als ob die heutigen Kulturvölker bereits den Gipfel und das Endziel der sittlichen Entwickelung erreicht hätten. Als ob es je erreicht würde! Man braucht bloß Probleme, wie die rechtlichen Beziehungen der Völker und Staaten unter einander, oder des Krieges im Verhältnis zur ethischen Idee des ewigen Friedens, oder das Streben nach einer gerechteren Verteilung des Lebensgenusses, ins Auge zu fassen, um zu begreifen, daß SUTHERLAND Recht hat, wenn er die Kultur der Gegen- wart nur als erste und niedrigste Anfangstsufe echter Kultur überhaupt bezeichnet. Auch in ethischer Beziehung ist jedes Zeitalter in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur ein Über- gang, d. h. ein Untergang zu einem neuen Aufgang. Es wird eine Zeit kommen, zu deren Kultur die unsrige in demselben Verhältnis stehen wird, wie die Unkultur der Wilden heute zu unserer Kultur steht, und von deren Kulturstufe der dann lebende Mensch mit demselben Be- dauern auf uns herabschauen wird, mit welchem wir heute auf die Wilden herabblieken.‘‘ ELEMENTARE MECHANIK als Einleitung in das Studium der theoretischen Physik. Von Dr. Woldemar Voigt, 0. ö. Professor der Physik an der Universität Göttingen. Mit 56 Figuren im Text. Zweite Auflage. 1901. gr..8. geh. 14 %#, geb. in Halbfranz 16 %. Auszug aus dem Vorwort des Professor Eugenio Beltrami zu Rom zur italienischen Übersetzung der ersten Auflage von Dr. A. Sella: Das ausgezeichnete Werk des Professor Voigt kommt einem Bedürfnis entgegen, welches sich unter den deutschen und englischen Studenten schon seit einiger Zeit fühlbar gemacht hat. Die elementare Mechanik wird im allgemeinen von zwei sehr verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet, entweder als die herkömmliche Vorschule für das rein technische Studium der In- genieure, in welchem Falle sie sich auf die elementarsten und trockensten Kapitel beschränkt, oder als eine Sammlung geometrischer und analytischer Übungen, wobei die eigentliche mecha- nische Grundlage verschwindet, um den ohne Zweifel sinnreichen Anwendungen der analytischen und projektiven Geometrie, der Theorie der Differential- Gleichungen und der Variationsreehnung Platz zu machen. Diese zwei, sich fast entgegenstehenden Ansichten haben in sehr hohem Maße das historische Ziel der Mechanik verwischt, das durch Galilei und Newton aufgestellt und von den Pbysikern ersten Ranges, wie Lagrange, Green, Kirchhoff, Maxwell und Helmholtz, unablässig weiter verfolgt worden ist. Das Buch des Professor Voigt bietet jetzt eine neue Anleitung dar, wie man sie sich gar nicht besser wünschen könnte, zu diesem Studium der Mechanik, als der rationellen Wissenschaft der materiellen Welt. Druck von Metzger & Wittig in Leipzig. \ | | | | | ANU e Erster Band. Dritte Lieferung. MUTATIONSTHEORIE. VERSUCHE UND BEOBACHTUNGEN ÜBER DIE ENTSTEHUNG DER ARTEN IM PFLANZENREICH VON HUGO De VRIES, PROFESSOR DER BOTANIK IN AMSTERDAM. ERSTER BAND. DRITTE LIEFERUNG. MIT ZAHLREICHEN ABBILDUNGEN UND ZWEI FARBIGEN TAFELN. LEIPZIG, VERLAG VON VEIT & COMP. 1901 BE Kinzelne Lieferungen sind nicht verkäuflich. Verlag von VEIT & COMP. in Leipzig. HANDBUCH DER MINERALOGIE. 2 Von Dr. Carl Hintze, 0. 6. Professor der Mineralogie an der Universität Breslau. In zwei Bänden Lex. 8-Format. Erster Band. Elemente, Sulfide, Oxyde, Haloide, Carbonate, Sulfate, Borate, Phosphate. Zrsie bis sechste Lieferung & 5 #. (Schluß in Vorbereitung.) Zweiter Band. Silicate und Titanate. 1897. geh. 58 #, geb. in Halbfr. 61 4%. “The work is an invaluable book of reference, since it contains all that is to be found in other desceriptive treatises and a great deal more besides, and appears to be extraordinarly accurate.” H. A. Miers. (The mineralogical Magazine. 1897. Vol. X1. ELEKTROCHEMIE. Ihre Geschiehte und Tehre Von Dr. Wilhelm Ostwald, o. ö. Professor der Chemie an der Universität Leipzig. Mit 260 Nachbildungen geschichtlicher Originalfiguren. Lex. 8. 1896. geh. 28 ‚#, eleg. geb. 30 #. GESCHICHTE DES GELEHRTEN UNTERRICHTS auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht. Von Dr. Friedrich Paulsen, o. 6. Professor an der Universität Berlin. Zweite, umgearbeitete und sehr erweiterte Auflage. Zwei Bände. Erster Band: Der gelehrte Unterricht im Zeichen des alten Humanismus. 1450—1740. Zweiter Band: Der gelehrte Unterricht im Zeichen des Neuhumanismus. 1740—1892. gr. 8. 1896 u. 1897. geh. 30 #, eleg. geb. in Halbfranz 34 . „Wenn diese Deutung der historischen Thatsachen nicht gänzlich fehl- geht, so wäre hieraus für die Zukunft zu folgern, dass der gelehrte Unterricht bei den modernen Völkern sich immer mehr einem Zustande annähern wird, in welchem er aus den Mitteln der eigenen Erkenntnis und Bildung dieser Völker bestritten wird.‘ VORLESUNGEN ÜBER THERMODYNAMIK von Dr. Max Planck, o. ö. Professor der theoretischen Physik an der Universität Berlin. Mit fünf Figuren im Text. gr. 8. 1897. In Ganzleinen kart. 7 .# 50 2. PSYCHOLOGIE DER NATURVÖLKER. ENTWICKLUNGSPSYCHOLOGISCHE CHARAKTERISTIK DES NATURMENSCHEN RR Verlag von VEIT & COMP. in Leipzig. 4 in IN R INTELLEKTUELLER, AESTHETISCHER, ETHISCHER | UND Ren RELIGIÖSER BEZIEHUNG. T Eine natürliche Schöpfungsgeschichte 6. d des menschlichen Vorstellens, Wollens und Glaubens von Dr. Fritz Schultze, ordentl. Professor der Philosophie an der Technischen Hochschule zu Dresden. gr. 8. 1900. geh. 10 % „lm Sinne der evolutionistischen Ethik wäre es ein Wahn, sich dem Glauben hinzugeben, als ob die heutigen Kulturvölker bereits den Gipfel und das Endziel der sittlichen Entwickelung erreicht hätten. Als ob es je erreicht würde! Man braucht bloß Probleme, wie die rechtlichen Beziehungen der Völker und Staaten unter einander, oder des Krieges im Verhältnis zur ethischen Idee des ewigen Friedens, oder das Streben nach einer gerechteren Verteilung des Lebensgenusses, _ ins Auge zu fassen, um zu begreifen, daß SUTHERLAND Recht hat, wenn er die Kultur der Gegen- wart nur als erste und niedrigste Anfangstsufe echter Kultur überhaupt bezeichnet. Auch in ethischer Beziehung ist jedes Zeitalter in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur ein Über- gang, d. h. ein Untergang zu einem neuen Aufgang. Es wird eine Zeit kommen, zu deren Kultur die unsrige in demselben Verhältnis stehen wird, wie die Unkultur der Wilden heute zu nnserer Kultur steht, und von deren Kulturstufe der dann lebende Mensch mit demselben Be- dauern auf uns herabschauen wird, mit welchem wir heute auf die Wilden herabblieken.‘‘ ELEMENTARE MECHANIK als Einleitung in das Studium der theoretischen Physik. Von Dr. Woldemar Voigt, 0. ö. Professor der Physik an der Universität Göttingen. : Mit 56 Figuren im Text. Zweite Auflage. 1901. gr. 8. geh. 14 %#, geb. in Halbfranz 16 %#. Auszug aus dem Vorwort des Professor Eugenio Beltrami zu Rom zur italienischen Übersetzung der ersten Auflage von Dr. A. Sella: Das ausgezeichnete Werk des Professor Voigt kommt einem Bedürfnis entgegen, welches sich unter den deutschen und englischen Studenten schon seit einiger Zeit fühlbar gemacht hat. Die elementare Mechanik wird im allgemeinen von zwei sehr verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet, entweder als die herkömmliche Vorschule für das rein technische Studium der In- genieure, in welchem Falle sie sich auf die elementarsten und trockensten Kapitel beschränkt, oder als eine Sammlung geometrischer und analytischer Ubungen, wobei die eigentliche mecha- nische Grundlage verschwindet, um den ohne Zweifel sinnreichen Anwendungen der analytischen und projektiven Geometrie, der Theorie der Differential- Gleichungen und der Variationsrechnung Platz zu machen. Diese zwei, sich fast entgegenstehenden Ansichten haben in sehr hohem Maße das historische Ziel der Mechanik verwischt, das durch Galilei und Newton aufgestellt und von den Physikern ersten Ranges, wie Lagrange, Green, Kirchhoff, Maxwell und Helmholtz, unablässig weiter verfolgt worden ist. Das Buch des Professor Voigt bietet jetzt eine neue Anleitung dar, wie man sie sich gar nicht besser wünschen könnte, zu diesem Studium der Mechanik, als der rationellen Wissenschaft der materiellen Welt. Druck von Metzger & Wittig in Leipzig. it A Bl Kell Ze NER 2 RAS te DE 1 U u Kat Benin. RR) EEG: RUE INNE I u A Au Bi NN IN 4 SMITHSONIAN INSTITUTION LIBRARIES | 88 00210481 nhbot QH406.V98 Die mutationstheorie. Wins nun Diem hoher dh en I ade up petibenaten m% deinemesinee m inen men ber inne EEE Inkl Dr har ir neriel ac ba tbepraN er EIERN N N UIYUK, jehit en 2a vn ei ro eg 2 a a Hal i ae EN AED s ERHRRN Kr h Kot Bi Aare HN either hun eh Bil “ Da neh iur it r FaReate Runen Auen u RR vr N N “he Ay Kl a Ban MEN ER N RRAREN “ ' Zur Oh Sa HEUER EHER I Keatzn ie N hat BL RIENIE RITA HAN hal Be ihFH He) KANMaTENN. 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