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930.6 277

Inhalt.

+ . / a u; Abel, vom...» 222000. 830 Anthropologie, Soztale. ..... . 146 Untwort. . 22.0. ... 168 Herzteftener, die... 2... .- 2370 Athos, auf dem . .. 2.2... 107 Babel, Bebel, Bibel... .. . 129

f. a. Goethes Gott, f. a. Notizbuch 367, 483, ſ. a. Epiitel, ſ. a. Glaube, |. a.

Hammurabt. BabelBihel . .... 2.2... 183 Bankdllanen . .... 2... 443 Banknoten...» 20000. 895 Dleihröter ... 2.20.2000 164

Blumenmebium, dad. , . . . . 489 Bodenſpekulation und Wohnung-

notb . 2.2. 2220000 235 Briefe, drei . . ». 2-2 2 00.0. 403 Brieflaften ... 2... 126, 447 Bülow, Graf |. Notizbud) 482. Buren und Briten... ... . 419

ſ. a. Transvaal. Chriſtenthum |. Kapitalismus. Crailsheim, Graf ſ. Notizbuch

864.

Creare in giloia. ... 2... 177 Deutihland und der Weltmarkt 249 Deutſchthum und Weltgefchichte . 277 Duncan, adora . .. 2... 231 Eifenbaßnzuftände |. Notizbuch 487. Epiitel, die, an Hollmannı . . . 369 Erdgeiſt, der ſ. Theaternotizen 205

Erotik, Weiblihe 2.2... 112

rau, die ale... 2.2220.

Frauen, bie, der Obrenowitih .

Fritzendenkmal ſ. Brieffaften 448

209

Geſetz, das, der@üterfonzentration 178

Giron, Lulfe. .. 22202. 49 Glaube, der, bes Kaifers.... . . 428 Goethes Gott...» . 2.2.2. . 329 Goethe ald Patbe ...... . 465 Großer Stern |. Notizbuch 368. Güterlonzentration j. Geſetz. Hammurabi . . 2 2220. . 449 Haufirer, ber. - . - 2 2 20 0. 187 Haufſe, Wer madt bie? .. . . 124 Hoffen und Haren ...... 86 Hälfen, von ſ. Theaternotizen 208. Hungernden, die... . 2... . 154 Hypnotismus, Therapeutiiher . 806 Jahrbuch der bildenden Kunft f. Robin. Kaffeehaus, im... .. 2... 281 Kaiſers Brief über den Offen- Barungsglauben |. Notizbuch 867, ſ. a. Epiitel. Kaifers Geburtötag |. Notiz- buch 288. Kaiſer, der, im Neihstag. . . . 169 Kampf, der, um den Brofpelt . 479 Kapitalismus und Chriftentbum 1%

ſ. a. Antwort. Rauflente ſ. Politiſche 514. König Georgs Erlaß ſ. Notiz- buch 487. Konkordat ſ. Vorgeſchichte.

BIT TE

> u nn BE

Kronprinz |. Notizbud 286.

Kronprinzeſſin, die, von Sachſen ſ. a. iron, ſ. a. Notizbuch 487.

Lieder auf einer alten Laute...

Lieder, bie, ber neuen Stau . .

Lieutenant, nur ein ... .. .

Loewe f. Rathenan.

Maria von Magdala ſ. Th eater-

I notizen 826.

Maeterlind |. Theaternotizen 207.

Mauthners Werl: .......

Mutterfhaftslaflen.. . ... . . Nachtaſyl ſ. Theaternotizen 319.

Notizbuch...... 286, 862, Obrenowitſch ſ. rauen.

Odrida . . 2: 220000. Barteimpral : . 2.2.2000. Bolitiihe Kaufleute ......

Podhielski, vonſ. Notizbuch367.

Politik, telegraphirte...... Poſen ſ. Notizbuch 365.

Pour le Morito ſ. Notizbuch 287. Brehgeleß, ein... 2.2.0... Promotionen |. Briefe 406, ſ. a. Notizbuch 485.

Proſpekt |. Kampf.

Pulver, das gelbe ....... Racine ſ. Shakeſpeare. Rathenau Loewe..... Er Neihsbankiorgen... . 2.2... Meichstag ſ. Kaiſer. ſ. Brief-

kaſten 447.

Rodin, Auguſte........ Salome. Theaternotizend23. Schleier, ber, der Beatrice . . . Schopenhauers Wille .....

Schopenhauers vierfadhe Wurzel

Schrein, der leere... 2...

294 260 115

Schuckert |. Siemens. Schwarz-Weiß... .. 2.2... 98 Schwindelhauffe ........ 360 Selbftanzeigen 41, 823, 122, 159,

199, 274, 314, 844, 402, 438,

476. Shafejpeare und Racine . . . . 506 Sezeſſion, Berliner ſ. Shwarz-

Weiß.

Siemens Schudert.. .... . 316

Soziale Anthropologie]. Anthro- pologie.

Soziologie |. Zufunft.

Sped von Sternburg, Freiherr von

ſ. Briefe 08. Swinemünder Depeſche |. Rotiy

bucd 362.

Zelegraphirte Politik ſ. Politik. Thal, das, des Lebens |. Theater

notiz en 827.

Transvaal, das britiſche .... 884

ſ. a. Buren.

Transvaalbahn, die ...... 01

Tſchaikowskij, Peter Iljitſch.. 57

Batilana ... 2220000. 409 ſ. a. Notizbud 482.

Benezuela .. . 2.222000. 289

f. a. Briefe 403. Borgeichichte, die, desffonkorbates 65 Wahlkreis, mein... 2.2... 89 Weibliche Erotik f. Erotit. Weltenfdidjal .... 2.2... 399 Weltgeſchichte ſ. Deutſchthum. Weltmarkt ſ. Deutſchland. Wertheim.... 284 Wohnungsnoth ſ. Bodenſpeku—

lation. Zangwill, Iſrael........ 471 Zeitungroman, der....... 6i2 Bufunft, die, der Soziologie . . 837

Die Bukunft=- mernuereter: Maximilian Barden, A

Zweiundvierzigſter Band,

Berlin, Derlag der Zukunft. 1903.

2

Berlin, den 5. Januar 1905. 77 u un

Die Rronprinzeffin von Sachſen.

‚Himmels willen nichts Sylvefterliches, hatte Ihre Excellenz tele— graphirt. Ihre Ercellen; telegraphirte immer; die gleichgiltigften, uneiligſten Dinge; und mit einer um Worttaren unbefümmerten Ausführ— lichkeit. Briefe fand fie vieux jeu; der moderne Menſch läßt den Draht arbeiten. Und modern wollte fie fein, um jeden Preis modern. ‘Der Preis war auch) ſchon bezahlt worden. Die Sucht Ihrer Excellenz, ftets im letzten Boot zu figen, Hatte den Mann dieMinifterftellung gefoftet ; an einem Regen- morgen war er, vor den fröhlid) funfelnden Augen einer unfchön alternden Prinzeifin, auf dem Parquetboden des Heinen Hofes ausgeglitten. Seine Erceltenz trug den Verluſt des Amtes mit der Würde, die Starke ziert; der Mann, deiien höchftes Glück Jahrzehnte lang geweſen war, die Schranzen— livree anziehen zur en, fand plöglich, er könne nicht das Hofgetriebe habe ihn von je her angewibdert und er jeifelig, fortan die Luft der Freiheit athmen zu fönnen, Am Stammtijc der Mißvergnügten undAbge— ſägten war er der angeftaunte Tyrann und die Neigung zu dreiundneungiger + Rauenthaler wurdezurtröftenden Leidenſchaft. Ihrer Ercelfenz wards ſchwe— rer, ſichin den Wechjeldes Irdiſchen zu ſchicken. Tauſendmal hatte ſie den höfs iſchen Zwang, die gräßliche Stuckpracht ihres Faſſadenlebens beſeufzt und ver mißte nun doch Mancherlei: die beiden Säle der Dienſtwohnung, den Portier mit dem Dreiſpitz, die beamtete Bittſtellerſchaar, die Cour in der Theeſtunde, Alles, wa chtigen ſelbſt in der Enge das arme Daſein ſüßt. Modern aber durfte ſie jetzt ſein; undwars mit der Wuth der Entwurzelten, die nicht zeigen möchten, daß ſie ihre Kaſte verloren haben. Nur das Radikalſte gefiel ihr,

1

Dte Zutunft, -

Kin der Kunſt. Berfönlichteiten müſſen wir werden, Weiber wie rjönlichfeiten mit einheitlicher Weltanjchanung; ung ausleben ; ben, Kinder unferer Zeit zufein. Raum für dieneue Frau! Rau dunft! Ihre Dienftmädchen durften jeden Sonntag um Zwölf für inden die Arbeit einſtellen. Ueberihrem Schreibtifch, der modern Ite, hing ein freches franzöfifches Plakat und rechts und linfs von ittenſchale lagen die Kreutzerſonate und der Fleine Zarathujtra ; da= m George und Lechter geſtickte Teppich des Lebens und Mirbeaus graphie. Frauenbewegung, foziale Frage, Sezeſſion, Strauß und iderreform, Monismus, Lyrik ohne Rhythmus und Reim, Men— me &ottesfurcht: Das waren die ihr liebſten Themata; und ihr nerz, daß Penſion und Zinjen zu „individuellen Möbeln“ neuſten reichten. Wer ſie zum erften Mal hörte, hieltjiefür eine Anarchiſtin Sorte ;fpäter merfte er daun, daß auch jie, wiefeit Clavigos Tagen todefarbigen, „der fich über-jo Vieles hinausſetzt“, doch an einer »fäden feftbanden. Radifalismus ohne Wurzel, angelefeneModer- nter dem dünnen Firniß die ängftliche Seele einer Hausfrau, die Stuhl finten ‚möchte, wenn der Diener anf der faljchen Seite lliſch läſterlich im Reden, doc) zaghaft vor jedem vom Weg der ıbführenden Schritt; auf der Yippe die unſtillbare Sehnsucht nach leben, im Herzen die Neizichent der Mimosa Pudiea. Der Ty— t mehr jelten, das bejondere Erempfar von Zeit zu Zeit aber eine 1; nur mußte man genan wiffen, wie weit man gehen dürfe: jonft jnelfzurfteifen Excellenz. Einmal wolttefieeinen „recht ordinären“ achen und lief dann, ganz verftört, aus der Yoge, als nebenan ein Trieotmädchen ſich auf den Schof des fetten Fleiſchpächters fette. ein Vierteljahr, weil ihr jo Unjanberes zugemuthet worden war, fe alſo an Metropol oder Philharmonie: die fünf Muſikcorps chneepolonaiſe hätten fie geärgert. Auch af fie gern gut, trog den Weſensanſtrich nie ausdem Maſſentrog: und Splvefterlicheswar erboten. Monna Vanna umd nachher Borchardt; Beſſeres ſchien innen. Die erſte Niſche hinter der Eingangsthür. Da iſts wenigſtens Tafelkonzert, keine Neujahr. berraſchnug undein ſicherer Tropfen.

geſchniegelter Wirth ihr mit einem Sträußchen gratulirte, würde

en Chriſtbaum duldete ſie höchſtens zu Hanſe, nicht in der Speiſe— dfiedelnde Zigeuner fand fie lächerlich unzeitgemäß. rallen Dingen eineCigarette! Nein: nur Melachrino oder Mor

Die Kronprinzeifin von Sachfen. 3

Der Taſchenkamm zog die Mittellocfe des weißen Tituskopfes in die Stirn. „Die Luft in Euren Theatern it einfach mörderifch. Ind Monna Vanna ein geſchminktes Schaf. Nach den Flitterwochen mit deren Prinzivalli wird fte fich wundern. Ich traue dem Kerl nicht. Sentimentale Bandenführer? Und bei diefer Kungfernzartheit erotischen Empfindens will er die Angcbetete Iplitternadt unter dem Mantel der Nächftenliebe? Pfui Deibel. Nennen Sie mid) einen Piepmaß, wenn eine Frau diefe Zumuthung je vergißt. Nee. Unmodern. Sie müßte alle.Beide jigen laſſen. Schließlich hat der fremde Herr aus Florenz ihr das Nachtkoſtüm doch nicht vorgejchrieben, um jich auszuweinen... Dante: Sofas find mir gräulic) und Zöpfe —, Der Dante der Ehrenplat‘ tragen wir nicht. Dame iſt dämlich; ; wir find zwei freie Deen- chen. Punſch? Die Nafe joll wohl an Neujahrswünfche erinnern? Dann \chon lieber gleich "ne Suppenterrine mit Urahnes Schöpflöffel. Heute wie immer, yenn man dieSeele mallüftet: Perrier-Souet Brut; nichts S üßes, das nach Brautpaarung ſchmeckt. Und leichte Sachen ; nidjt mehr als drei. Ungejalzenen Caviar vorher, meinetiwegen aux blinis; läßt an die Er emitage denfen. Seezungenfilet. Matelotte von Hühnchen mit Spargeltöpfen. En— divienjalat, ganz gemein, ohne Mayonnaije. Und natürlich Pückler-Muskau. Sie find doch) nicht etwa hungrig? Der würdige Gentleman, der hier Kellner jptelt, hält ung für mauvais genre, weil wir nicht nad) der Schnur eſſen.“ „Und Dasiftverdädhtiger —, ſichtlichohnegemeinſames Eheband, in diejer Nacht der legitimen Räufche en cabinet partieulier..." > „Unjinn! Glaubt höchſtens, daß Großmama ihren Tochterſohn ab- füttert. Ueber den Zauber bin ich glüdlich hinaus. Eine Wonne, Sie Herr der Schöpfung. Kein Gejchnupper mehr. Niemand fieht Einen mit dem ge— wiſſen Blid an (‚Na? Bin id) beraufchend?“) und zwirbelt mit der Sieger- pfote den Schnurrbart. Le sexe est mort, vive l’individu! Erträglichen Berfehr giebt3 erjt, wenn die Hündin nicht mehr hinter ung her iſt. In jedem Stragenbahnmagen genieße ichs. Keiner bemüht jich noch, auffochende Yei- denichaft zu marfiren. Früher rückten fie die Beine vor, dag man nicht ohne Rodzoll vorbeifam. Pit! ‚Schlamm ift auf dem Grund Eurer Scele; und wehe, wenn der Schlamm gar noch Beift hat.‘ Niegiche kannte Eure Keuſch— heit ;Habt ja nichts Anderes im Sinn, wenn Ihr was weiblich Junges ſeht. Ein wahrer Segen, daß es überſtanden iſt. Irgend Einer ſtieg immer nach; wer weiß: am Ende ſucht das Töpfchen den Deckel. Ich war froh, als der erſte Schnee auf meinen Krauskopf fiel; den Normalmile Ichreden werke Daare ab. Jetzt bin ich Menſch, jegt darf ichs jein, Profit, lester Zugenpritter!” 1*

4 Die Zufunft.

„Seine Excellenz iſt wohlauf?“

„Excelſior! Schon auf dem fonnigften Berg des Rauenthales ange- langt. Ich habe mir abgewöhnt, ihn eine nüchterne Natur zunennen. Uebri— gens geniren wir einander nit. Er iſt als Individualität janicht belältigend ſtark und im langen Hofleben fo polirt, daß man jid) an feiner Stante wund jtößt. Diesmal wollte er eigentlich mitfommen, blieb aber, weil ich zur remdenführung nicht Zeit hätte. Ich wollte „Feuersnoth“ hören, die Schwarz-Weiß-Ausftellung der Sezeifton jehen und habe zwei Situngen. Auch könnte die Tafelrunde ihn jet nicht enntbehren. Ahnen Sie, wies da zıı= geht? Wilder noch als bei Ihrer Wirthin, die vor grauen Jahren ein Paar Ladjtiefel mit Damenknöpfen und die fchriftliche Weifung, zwei Taſſen und etwas mehr Milch zu bringen, morgens vor Ihrer Zimmerthür fand. Die höhere Lakaienſchaft ift einfach aus dem Häuschen. Bei uns find ja alte Beziehungen zum dresdener Hof; und Franz war als Kabinetsrath in delifater Sendung mal in Salzburg bei der E. und k. tosfanifchen Hoheit.‘

„Wohl Jedem, den diefe Geichichte amufirt. Ich finde fie weder er- baulich nod) luſtig. Finde fogar, wir haben von dem Artikel nachgerade ge: nug. Der holländifche und der englifche Lärm, Cleopolds Witwerleid, Schei- dung in Hefjen, Scheidung in Anhalt, vLuiſe von Koburg eingefperrt, Mes⸗ alliancen Yonyay und Chotef, Skandale Galliera-Eulalia und Monaco-De Lara, auch des Kanonenkönigs Majeftät gehört ja beinahe Hierher: eine längere Raufe wäre jet nicht unerwünscht. Ludwig von Bayern, der fobur- ger Schügenherzog der Borleferinnen, Rudolf von Habsburg-Yothringen, Miſtreß Brown, Diilan und Georg jind auch noch feine Ewigfeit tot, Draga lebt in der Glorie und die jpanifche Iſabella fpuft noch irgendwo rum. Schluß, Allergroßmächtigfte! Auch wenn die Zeitungen mit ihrer ſchwarzen Suppe Einem die Dlahlzeit nicht fo verefelt hätten, müßte man allmählid) fragen, ob die Bölfer nicht nächſtens die Ehrfurd)t verlernen werden.“

„So? Khre bürgerliche Tugend wirft Alles in einen Topf? Unge— mein gerecht. Ungemeineinjichtig. Lüderliche Streiche eines Schürzenjägers, Verirrung kranker Gejchlechtstriebe und der Drang ſtarker Seelen insFreie: jchneil die Jelbe moralinfaure Sauce darüber. Kinder! Und fo was mäfte ich noch mit Zungenfilet! Oder wiſſen Ste von der Sache überhaupt nichts?“

„Was ınan draußen wiljen fanıı und was der Zufall mir aus Dres- den und Umgegend ins Ohr trug; alſo nicht viel. Aber an Komplizirtheit leidet die Aventiure ja nidyt. Ein Erzherzog, ältejter Sohn eines bis 1360 jonverainen Hauſes, deſſen Chef gegen die Vereinigung Toskanas mit Sar-

die Kronprinzeſſin von Sachſen. , 5

dinien proteſtirt hat, liebt eine kleine Schauſpielerin, die ungefähr eben ſo viel durchgemacht hat wie weiland Fatinitza, und will dieſes Juwel in einen Ehe— reiffajfen. Und fein Schwefterlein, während der Schlacht von Sedangeboren, immerhin aljo im fünfundjechzigiten Semeiter, nebenbei Kronprinzeffin von Sachſen und Mutter von fünf lebendigen Kindern, vergafft ſich in einen adjt Jahre jüngeren Hauslehrer, der nicht ihr Erſter zu fein Scheint, den ſie aber, weil nad) ihm vielleicht die Sintfluth käme, nicht loslaffen möchte. Die Ge⸗ ſchwiſter brennen durch, jegen fich mit ihren Trauten in ein genfer Hotel, führen die Illegitimität am Seegeftade ſpaziren, lafjen fich interviewen und ſchimpfen auf Gott und die Welt, namentlid) aber auf die nächſte Verwandt⸗ haft. Sobald esgeht, jollgeheirathet werden. Braucht man mehrzu willen? Es ift jo ziemlich der tollfte Skandal, den wir erlebt haben. Denn die öjter- reichiichen Sachen, Andraſſy, Betjera, die netten Scherze der Thronanwärter und Alles, was Lues und Alkohol im apoftoliichen Erzhaus wirkten, wurden vertujcht, Monaco ift Operette, Balkan bleibt Balkan, Draga Maihin ift ung faft Yo fern wie die ruſſſſche Dragonerdirne Peters und ſelbſt der Neibdiener mit dem Hochlandäherzen ift nie zum Greifen fichtbar geworden. Euer Er- celfenz fernen den Boden beifer als Dero Ergebenfter. Da ift unglaublich viel unglaublich leicht zu verjchleiern und abzuftreiten ; jogar die morgana— tiſche Ehe einer gefrönten Witwe hat man weggeleugnet, trogdem es Kinder: jpiel wäre, fie zu beweifen, und von allen Kanzeln gerufen, die Frau die ein Zugendedikt ins zweite Eheband gedrängt hatte habe nur einem Toten gelebt. Anrecherche delapaternite wirderjtrecht nicht gedacht ; ſie könnte perichiedenen Brinzen und Yandgrafen harte Prüfungen bringen. Wie mär- henhaftmuraufallenSeiten diesmalaljo die Ungeſchicklichkeit geweſen fein, die der Neugier des ſüßen Pöbels die Scham entblößte! Das dünkt mid) das wejentlichite Unterſcheidungmerkmal; ſonſt iſts diealte, ewig neue Geſchichte. Niedlich find noch die Namen der Helden und Holden. Als Berlobtceempfehlen fich Erzherzog Leopold Ferdinand Salvator Maria Joſeph Johann Baptijt Zenobius Rupert Yudwig Karl Jakob Bibiana, jetzt nomine Wölffing, und Wilhelmine Adamopic, zu Deutich: Adamsiprog ; und Luiſe Antoinette Ma- ria Therefia Joſepha Johanna Yeopolda Karolina Ferdinanda Alice Eren- trudis Stephana, Erzherzogin von Tosfana, Kronprinzeijindes Königreiches Sachſen, und Herr Spradjlehrer Andre Giron, zu Deutſch: Schoß, Nuder- griff, gefleckter Aronsſtab, Alles mit der Andreasnuance befonderer Männ— lichfeit, die Manches erklärt. Tas ijt aber auch das einzig Amuſante, das ic) ıntt unbewaffnetem Auge an dem Fall zu entdecken vermag.“

6 Die Zukunft.

„Euer Gnaden find fertig?“

„Bu Befehl. Bis auf Weiteres."

„Schön; alſo weder amuſant noch erbaulich. Und die Enkelkinder Leopolds des Erſten hätten doch die heilige Pflicht, Sie zu amuſiren; nicht wahr? Nun ſind dieſe Kinder aber ſo gewiſſenlos, zuerſt an ſich zu denken. An ihr eigenes Schickſal. Sid) als Perſönlichkeiten durchſetzen zu wollen. Schau- derhaft. Da iſt der Erzherzog. Wirft Alles hin, Rang, Erſtgeburtrecht, Schimmer, um unter Menſchen ein Menſch zu ſein. Kleinigkeit? Verſuchen Sies, wenn Sie als Kaiſerliche Hoheit aufgewachſen find. Im fünfunddreißig- ſten Jahr plötzlich Herr Leopold Wölfling und ganz auf ſich ſelbſt geſtellt...“

„Na, na! Einſtweilen fordert der bourgeois-archiduc ſtandesge— mäße Alimente. Ob er irgend was leiften wird, leiften fann, bleibt abzu⸗ warten. Wir verleidet die Adamsſproſſin die große Entfagungizene. Die Kleine mag beffer fein als ihr Auf; und ich habe fein Talent zum Keuſch⸗ heitfommijjar. Zu blinder Hervenbewunderung aber aud) nicht. Wie wars mit Johann Orth? og mit einer in Stürmen abgetafelten Operetten- fängerin los. Natürlich Schiffbrud). Und Der hatte wenigftend Etwas ge- wollt, über Artilleriefragen gejchrieben, ftatt des Drills Erziehung empfoh— len, nach dem Thron des Battenbergers gefchielt und, al er ſelbſt nicht hin- auf konnte, Freund Ferdinand über die Etufen geholfen. Der Neffe fopirt nur die zärtliche Schwachheit de8 Onkels. Sich durdjjegen: a la bonne heure! Aber müfjen folche Gigantenpläne immer erft entjtehen, wenn ein Heincs Mädel über den Weg gelaufen ift und man im Hermelinfittel der reizenden Witterung nicht Schnell genug folgen kann?“

„Sie... Mümmelgreis! Wie wars denn im soi-disant Paradies? Ohne uns läget Ihr eben im Stat; hättet noch heute feinen anftändigen Nod auf demYeibe. Wir beunruhigen, locken aufs Meer des Lebens hinaus, ent- wöhnen Eud) angeborener Trägheit. Haben Sie Punktmacher nie von Schopenhauers Brennpunft gehört? Aber id; ſchenke Ihnen den Erzherzog; trogdem id) Wilhelminchen nicht für jein Lebensziel halte. Nur laſſen Sie mir meine Kronprinzeljin. Da ift doch nicht zu rütteln. Morgen konnte fie Königin jein; lange hätte es ficher nicht gedauert und Königin ift was, No- turier. Wäre fürLuiſe, unter Anderem, diegroßeRevanchegeivorden. DennSie müßten diefen Hof und diefe Familie kennen, um zu ahnen, was die Zosfanerin auszuftehen hatte. Fromm bis in die Buppen ;unddabei findGeorgsSöhne,big aufMar mit den Weihen vielleicht, keine Kirchenlichte. Und Marhildchen mit den Männerjtiefeln und der Hundejuite: Mahlzeit! Die Hände falten, }pars

Die Krouprinzeſſin von Sachſen. 7

ſam fein, fein neues Buch leſen, den Kindern die Ohren ſeifen; und, zur Ab- wechfelung, an Feiertagen ein Fläſchchen Schieler, Sie wiffen doch: den Meißener, den man, der Farbe nad), weder zu den rothen noch zuden weißen und,dem Geſchmack nad, überhaupt nicht zu den Weinen zählen fann. Die Krönung hätte den Tag der Rache gebracht; für Antoinette Marie wie für Marie Antoinette. Erinnern Sie fi), wie Die aufathmete, als der Hofzwang fie nidyt mehr drückte? Wie fie im Schloß Komoedie fpielte, in fomifchen Opern die Rollen leichter Dämchen übernahm und dem Publikum erlaubte, fie auszuzifchen? Ihre Stüte war in der Dauphinenzeitder Abbe Vermond geweſen; und auch Herr Giron wurde in Dresden Abbe genannt.‘

„Ich erinnere mich. Sogar an die Säge, die Madam: Campan in ihrem allerliebften Buch über Hof und Hofgeiſtliche fpricht. Aber ift Marie Antoinette etiwa ein gutes, zur Nachfolge einladendes Beiſpiel?“

„Weil die Sache da fchiefging ? Lirum, Larum. Unferebraven Sächfer machen feinen Zuilerienfturm. Und Luiſe war im Volk rafend beliebt.‘

„Marie Antoinette auch; ein Weilchen. Ungefähr die felbe Geſchichte. Daß fie die Etiquette brach, ſich vom Geremonialgefeg nicht binden ließ, ger fiel. Samos, daß jie zu Fuß geht oder eine Drojchfe nimmt, ohne Gefolge nach Baris fährt, auf Mastenbällen Abenteuer jucht, feinen Spaß verdirbt - und dem tolljten Einfall folgt; ganz famos. Eine ‚Natur‘, fein dreffirtes Püppchen. Alles entzüct. Als Kaiſer Joſeph die Schweiter in Verjailles bes juchte, nannte er fie ein Windbeutelchen, das den Parifern jchmede. Man Ichrieb 1778. Nachher kams anders. Windbeutel halten ſich nicht mal auf Eis. Zuerft ein Geflüfter unter Kochgezogenen Brauen, dann die keckere Berleumdung, endlich offener Hat. Die Gährung lag in der Zeit; gewiß. Aber die Autrichienne wäre nicht zum Zielpunft geworden und das Hals: band hätte ihr nicht die Kehle zugefchnürt, wenn die Fremde nicht gar jo gern von der Yandftraße gewichen wäre. Seitenſprünge ergögen nicht lange. Wer auf dem Seil die Balancirftange wegwirft, kann leicht daS Genid brechen. A erown, golden inshow, isbuta wreath ofthorns, fagt Milton; und redet vom verlorenen Paradies. Wo jo viele Rechte gewährt find, müſſen wenigjteng die einfachiten Pflichten erfüllt werden. Genialität ift Fein den Maſſen geläufiger Begriff. Die juchen hinter dem Mäskchen verborgenen Sinn und rümpfen die Naſe, wenn da oben Eine ſich allzu menschlid) zeigt.“

„Das Allerneufte! Noch nie was davon gemerkt. Dann find die Zeute wohl gegen die ſpaniſche Elifabeth und Mariechen Stuart?”

„Scyaufpielhausoptif. Da wächſt eine bejondere Moralſorte. Da ge-

8 Die Zukuuft.

fallen die Gefallenen, denen man die Gute Stube verjchlöffe. Wer da eine Mitgift ausichlägt, ob auch dag Herz bricht, ift ein Held, für den alle Com- mis erglühen;; zu Haufe hielte man ihn für einen Idioten. Und ich bitte, zu bedenfen, daß die unerlaubten Leidenſchaften der Theaterköniginnen fast immer ein jchlechtes Ende nehmen. Klytaimneftra, Maria Stuart, Hugos Maria von Spanien, die, nebenbei, Ihr beites Beiipiel wäre. Ruy Blas ift Lakai, Andre Giron mindeſtens Hauslehrer. Dafür ift der Hof von Diadrid noch langmweiliger als der pillniger, der Zwang einer jungen Seele uner- träglicher und Friedrich Augujt kein Scheujal wie Don Sallujte. Trogdem ginge es nicht, wenns nicht tragifch-Ichlöffe und wenn Ruy Blas nicht nur im Nebenamt Lafai, fonjt aber eingrofartiger Staatsmann wäre ; oderichiene, Ruy Blas, c'est le peuple, fagte Victor Hugo. Eine rollende Phraſe. Der Mann in der Livree ift daS romantiſche Heldengefpenjt mit dem roten Kains— zeichen und dem Unheil zeugenden Geniefluch. Deshalb fliegen ihm heute noch Romanenthränen. Wenn Einer mal einen wirklichen Diener als Köni— ginlicbiten auf die Bühne ftellte, könnte er was erlchben. Viele trauens den hohen Damen ja zu; die alten Wige über dre Stammbaumpflanzungen hüb— ſcher Reitknechte und ftämmiger Kuticher. Aber fehen will mans nicht; auch nicht auf der Bühne. Das Thierweibehen würde den schönen Wahn ſchnell zerfegen. Das Alles, weil Sie davon anfingen. Weiter hilfts uns nicht; ge— malte Argumente. Theatermoral verträgt keinen Import ins Yeben.“ „as nennt Ihr hier Fürſt Pückler? Toppelt jo viel, bitte; es fann auch ein Bischen mehr jein... Alfo bleiben wir im Leben. Ihre Kuticherge- Ihichten, Werther, find unjauber und waren zu ſparen. Aberder Danptiag iſt eben falich. Gerade die Menſchlichkeiten gefallen; und befonders an gefrönten Weibern Hiſtorie iſt nicht mein Fall. Doch welche Negentinnen find ung die Icbendigjten? Die fich nicht an die Schnur hielten. Theodora, Elijabeth, Katharina, die ſchottiſche Maria und Manche ähnlichen Geblütes. Was ‘hr Euch als Frauenideal zurechtgemacht habt, paßt nur in Kinderſtube und Speifefammer. Staublappen, Wäjchebudy, Schlüffelbund. Initiative ver: beten. Wo die aber nöthig it, da jpringt auch der Öejchlechtswille mal aus der Bahn. Das Volk verftchts und fingt das Lob ftarfer Sünderinnen.“ „Wirklich? Dann habe ich die berühmte Stimme des Volkes nod) nie gehört. YaljenwirTheodora. Der war, jeitfieausdem Cirkus auf den Thron faın, nichts Schlimmes mehr nachzuſagen. Wenigſtens wiljen wir nichts Be- ftimmtes; was Profop in den Anecdota jhmagt, ift Hofklatich, wie dag Meifte in Geheimgeſchichten, nicht nachzuprüfen und deshalb unbrauchbar.

Die Kronprinzefiin von Sachſen. 9

Krumbacher findet Theodora nicht belaftet und bedauert, daß Juſtinian in Angelegenheiten des Staates und der Kirche nicht mehr auf den Rath feiner Frau horchte. Jedenfalls war fie fehr flug und ertergifch. Trotzdem: die bloße Thatfache, daß ein aus der Gunft gedrängter Höfling die Augusta verbotener Lüſte anklagte, hatgenügt, umihr Bild für immer zu ſchwärzen. In Byzanz giebts noch ein lehrreicheres Beifpiel: Theophano. Ich meine die erite, richtige, deren Töchter das griechische Chriſtenthum an den Dunjepr und das oft- römische Kaiſerrecht ins alte Sachjenreich trugen, die Schwiegermama Ottos de3 Zweiten. ‘Die war Excellenz Goethe hat das Wort falonfähig ge- macht wirklich ein Quder. Den böfen Genius der armenischen Dynaſtie ſieht Krumbacher inihr. Sicher eine ‚Berfönlichkeit‘. Eines Schänkwirthes Leicht» finnige Tochter und zweier Kaiſer Gemahl. Nicht etwa nur eine Buhlerin, . fondern von politiſchem Ehrgeiz getrieben. Der tüdjtigfte General ſollte ihr Bafileus fein; und als Nifephoros alterte, Tieß fie ihn von Zimiskes mor- den, führte den Neffen jelbft ans Ehebett, wo der Onfel auf der Tigerhaut arglos jchlief. Zimiskes war undankbar und jchidte die Frau, die gehofft hatte, den dritten Kailer zu umarmen, ins Klofter. Nod) undankbarer ıft das apofalyptijche Thier, das wir Nachwelt nennen. Die hat rau Theo— phano einfach ins Kontrolbuc) der großen Dirnen geichrieben. Und Stär- feren iſts nicht beijer ergangen. Daß Katharina ein ganzer Kerl und ein Regent eriten Ranges war, geht in die allerwenigften Köpfe ein; wer von ihr redet, denftan die Nymphomanic. Gefrönten Herren aber wird jeder Grad von Satyriajis verziehen. Und heutzutage, mit dem Segen unſerer Ocffent- fichkert! Wollen Sie meine Meinung: wenn der Kronprinz jich mit dem Ehebruch abgefumden hätte, wäre Ihre Luiſe dennoch unmöglich geweien.“ „Unmöglich! Als ob fie möglich fein wollte! Das gerade ilts ja: fie wollte heraus. Athmen. Leben. Heraus jelbft um den Preis ihres Rufes als Frau und Mutter. Nur ein Weib fanns, wie mir Scheint, nachfühlen. Dieſe Ehe war ihr einübertünchtes Grab, in dem fie verwejen oder aus demfie aufs erjtchen mußte. Der Dann ein Fremder, für den nichts in ihr ſprach ...“ „Gar nichts? Fünf Kinder in zehn Jahren und rein gar nichts?“ „Blödjinn! Darüber ift mit Männern nicht zu reden. Das ſpielt nur für Euch eine Rolle. Rinder hat Nora auc) und merkt dod), daß jte mit einem fremden Dann gehauft hat, legt den Maskenanzug ab und geht. Ge— nau fo Luiſe. Ein Yuderchen hätte ſich ein dreiecfiges Verhältniß eingerichtet und den Dritten, je nach Appetit, gewechjelt. Selbjtin Schlöſſern zumachen. Dann war Entjagung nicht nöthig; und Fürjten find durch Strafgefege gut

10 Die Zukunft.

geſchützt. Sie aber beſann ſich auf ihre Pflicht gegen ſich ſelbſt. Der Mann würde den Verluſt nicht allzu ſchwer nehmen. Die Kinder? Wer ſich noch nicht gefunden hat, iſt kein Erzieher. Und das Land braucht eine Königin, die abge— ſchloſſen hat, in deren Seele kein Windſtoß dringt, nicht eine Werdende. Die Rechnung ſtimmte: die Straße zur Freiheit lag offen vor ihrem Auge.“ „Die Rechnung würde ſtimmen, wenn das Gironkonto nicht wäre, Wegen dieſes Gironverkehres geht Ihr Exempel nicht rein auf. Keine Excel: lenzitarrheit: der Witz ift albern, die Sache aber ernft. Wartet auf Nora an der nächſten Straßenecke ein neues Männchen? Ich will artig ſein und Ihre Lehre vom Ausleben der Perſönlichkeit nicht unter dieXupe nehmen; trotzdem ich auch hier gefunden habe: wers thut, ſpricht nicht davon, und wer davon ſpricht, thuts nicht. Das Mißtrauen gegen die modiſche Auslebensluſt, die aus der Sehnſucht nach veränderter Paarung erwächſt, kann ich aber nicht bannen. Die Reife ins Wunderbare laſſe ich mir gefallen; doch wird die Ab⸗ fahrt erſt beichlofien, wenn ein gut gebauter und rüjtiger Herr mit in den Schlafmagen fteigt, dann paffeich ; zu ewig-animalifch. GlaubenSienur nicht, ich wolle den fenfchen Theſeusſohn mimen. Wahrhaftig: Nein. Unſere ganze Serualfittlichkeit ift mir eine einzige Riefenlüge, dieaufdem Trugſchlußruht, das Starke Geſchlecht ſeimonogamiſcher Zucht fähig. Die Damen hören es gern; und die Herren wahren den wilrdigjten Augurenernit. Öleich nebenan giebtsja Aphrodifiafa, die, unter Staatsgarantie, nicht mehr im Mindeſten ftinfen; und in Nothfällen iſt der Spezialarzt nicht weit. Wie der ganze ;jauber über: ſchätzt, durch die Ueberſchätzung erſt zum Myſterienzauber gemachtwird: Das kann ich hier nicht mal andeuten, ohne wieder Excellenzfalten zu riskiren. KennenSiedas von Pierre de Changy herausgegebene Livre de l'institution de la femme chrestienne ? Schade. Eins meiner liebſten Bücher. Sehen Sie: wir Europäer Stellen uns, als handelten wir, Jungfer und Jüngling, Mann und Frau, nach derBorjchrift diejes alten Tugendtraftates; und würden um Mitternacht plöglich alle Schlafzimmerthüren diaphan. . Ich ſchweige ja Schon. Tugendboldigkeit iſts bei mir alfo nicht. Die Zahl der ‚Sünden‘ wird auf dieſem dunflen Gebiet bald jehr Klein werden oder die Luſtſeuche frißt uns noch die Wehrfraft weg. Auch" Adultera fchiefe ich nicht unbeſehen ins Fegefeuer; vielleicht war fie, nad) dem Wort Ihres Philofophen, von der Ehe gebrochen, bevor fie die Ehe brach. Kein Kinderfpiel, mit zwanzig Jahren au geloben, daß man mit Vierzig noch den Selben, die Selbe lieben wird; oder doch Kinderjpiel? Eine neue Haut wächlt, das Knochengerüſt wandelt jich, ewiglich aber währet die VYiebe und Treue. Abjchrefung muß ſein, jonft

Die Kronprinzeffin von Sachen. 11

gerathen wir in den Kaninchenjtall? Meinetwegen; dann gebt dem Ding aud) den rechten Namen; nnd überlegt, ob die Menſchenmaſchinen nicht jchon jo Fomplizirt find, daß ſie nur in jeltenen Glücksfällen zuſammenarbeiten fönnen. Item, duldſam bis ins Südſeeinſulaniſche. Dentenicht daran, Ihren wilden Schüßling dent Verein zu überweiſen, den deutſche Fürſtinnen neulich zur Bekämpfung der Unzucht gegründet haben. Leugne nicht, daß der Ber: zicht auf eine fichere Krone zunächft etwas Impoſantes hat und der Muth des Entſchluſſes Anerkennung verdient. Nur keine falſche Firma, wenn id) bitten darf. Die Perjönlichfeit durchjeken wollen: jchön ; von Friedrich Auguft zu dein zwölf Jahre jüngeren Andre rennen: auch ſchön. DasEine hat aber mit dem Anderen nichts zu thun. Salz und Waifer fühlt nicht, was Jugend fühlt; doch erregte Sinne find nicht das Merkmal einer großen Individualität. Soft id) Ihre Prinzeſſin für ein Genie halten, weil fie die ganze Hofgeſell— Schaft in ein Zotengedicht nach jtudentifchen Muſter gepreßt hat? Stärfere Zalentproben find immerhin denkbar. Wer in brimftiger Wuth über eine Schranfe jpringt, hat damit noch nicht bewiejen, daß Titaniſches in ihm wohnt. Sie haben Monna Vanna geſcholten. Auch Ihre Luiſe würde ich höher achten, wenn ſie beiden Männern entlaufen und allein geblieben wäre.“

„Wem laufen wir denn aus dem Wege? Iſt es nicht den guten Sitten? Unſerer guten Geſellſchaft? Lieber, wahrlic), unter Einſiedlern und Ziegenhirten als mit unſerem vergoldeten, falſchen, überſchminkten Pöbel leben, ob er ſich ſchon gute Geſellſchaft, ob er ſich ſchon Adel heißt. Da iſt Alles falſch und faul, voran das Blut, dank alten ſchlechten Krank— heiten und ſchlechteren Heilkünſtlern. Niemand weiß mehr zu verehren: Dem gerade laufen wir davon. Es ſind zudringliche Hunde; ſie vergolden Pal— menblätter.‘ Alſo ſprach auf der rechten Seite vor Zarathuſtra der König, der auch eine Königin ſein könnte; und Ste reden von Giron!“

„Der jelbe König jprad) aber auch: ‚Wir find nicht die Erjten und müſſen e& doc) bedeuten: diejer Betrügerei find wir endlich jatt und ekel ge: worden. Es giebt fein härteres Unglück in allem Menſchenſchickſal, als wenn die Mächtigen der Erde nicht auch die eriten Menjchen find. Und wenn fie gar die fetten find und mehr Vieh als Menſch: da fteigt und fteigt der Pöbel im Preis und endlich jpricht gar die Pöbeltugend: Ich allein bin Zugend.' Hören Sie die Stimme diefer Monopoltugend noch nicht? Schlimm wirds nicht Jo bald werden. (Keine Pfannkuchen! Sorbet von Champagner jcheint mir das Gegebene. Nirgends ein Keimchen eines neuen Republikanerlenzes, der gebundene Kräfte befreien könnte. Und das Sachſenherz geborcht dem

—* 24 r . J R ". 1. Go. nn . y q. 3552 tt. * . \ r.

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12 Die Zukunft.

Hausordensſpruch: Providentiaememor. Die Borjehung wird Altes zum

Beften wenden. Geſtern wurde die geliebte Kronprinzeſſin befonderer Für— Jorge des preieinigen Sottesempfohlen, heute wird fie aus dem Stirchengebet radirt und man rechnetnach, warın der belgiſche Andreas den giron befruchtet haben könne. Ein Bischen Geduld: über ein Kleines wird man uns wieder das Eiapopeia von den Yandesmürtern fingen, die alleſammt jo grenzeulos tugendſam find. Nur dürfen die jichtbaren Ausnahmen nicht allzu Häufig werden. Mur darf auf heller Höhe die Hündin nicht ohne Maultorb und Marke umherſchweifen. Selbjt Vieux Saxe kann Sprüngebefommen. Die

. Banfterfran, der ein Dausichrer mit verrätherifchen Briefen Geld erpreßt,

verſchwindet; eine Kronprinzeſſin bleibt, auch wenn fie dem Haufe Wettin nicht einen neuen Bewohner, im Mat zu liefern, verheißt, ftet8 im Geſichtskreis. Und darum follte man dieSache nicht aus dem Erotiſchen insSozialethiſche he— ben, nicht von Weltanſ chauung reden, wo ae einſige Thierchen ein drittes...

„Zchweinigel! Ich habe genug. Das ſüße Zeug, das Eie da beſteilt haben, kann mich auch nicht halten. nane Sie nach der Rechnung.“

La douloureuse nennens die Pariſer. Die wird der jeparirten Luiſe von Tosfana nicht eripart werden. Konvenienz it ein wattirter Marz tel, in den fichs bebaglich lebt. Dramen geht ein Scharfer Wind; und die fiebe Mitmenſchheit Jorgt fiir die nöthigen Nadeljtiche. ‚Die Hat denken Sie! - - ihre Kinder verlaſſen‘, wimmert Eine, deren Bruft täglic) ein an: derer Ballſaal, mochte aber ein Säugling Jah. Spießruthenlaufen, König— liche Hoheit; und wer weiß, ob der Aronsftab jich tm Unwetter als Stütze bewährt. Bor dem Sprung ahnt Keine, wie weh der Fallthut. Biel bequemer iſts, gegen die Zwingburgen der Tyrannenmacht mit Stahlfedern Sturm au laufen und der modernen Weltanſchauung das Korſet zu opfern.“

„Jetzt iperden Ste unverſchämt!“

„Ser Excellenz kennen mein Derz. Ich will keine Mördergrube draug machen. Anweſende zwar jtets ausgenommen; aber Die hochnothpeinliche Frage läßt ſich nicht Länger verſchlucken: Hätten Ste jelbft es gethan?“

„In ihrer Yage beſtimmt. Das heißt . . . Ich bin nicht für coups de foudre. Nie geweſen. Immer til, wenn die Männlichkeitſich noch So ſehr abzappelte. Deshalb . . Undwas nachher faın, gemeinſames Schlafzimmer, Reporterempfang, Ausſtellung der Ehemiſere, nicht mein Geſchmack. Mög: lich, daß man ſie ins Kloſter oder Irrenhaus geſteckt hätte; da ſie nun über die Berge iſt, brauchte fie ſolche Möglichkeit nichtan die Hotelwandzu malen. Und trotzdem bleibt Etwas beſtehen. Der Muth, die rückſichtloſe Tapferkeit...“

Die Kronprinzeiſin von Sarhfen. 13

. „find auch bei Brantörnes bellesethonnestes dameszu findei, an die ich öfter- denfen muß als an Emanzipation, Kultur, Weltanjchauung etcetera pp. Brantome ift ja nichts für fenfche Ohren. Doc) von ihm fann man lernen, was in heißen Stunden eine Frau aufs furze Kitzelſpiel ſetzt, das Yeben jogar. Denn damals fa der Degen loder in der Scheide und mit Sühnetermin und Scheidungprozeß waren folche Scherze nicht abgethan. Glauben Sie mir: an der Gironde ift nichts Modernes, nicht ein Aederchen pomnew woman in Ihrervuiſe. DieälteftenlleraltenGejchichten. VorTroja und in Gerolſtein wars genan eben jo. Milieu ift da gleichgiltig.. Sind wir fo weit? Die Boa! Der Pelzmantel läßt den feuchten Nachtwind nicht durch.”

Die Friedrichſtraße ift noch lebendig. An jeder Edfe ein Schutzmann. „Proſt Neujahr!" Sinallerbjen und Zündhütchen find verpönt. In Zara: meterdrojchfen fahren verwaifte Sünderinnen die Strede ab; Sylveſter ohne Dandgeldbringtfürsganze Jahr Bed). Ein Swell mit brandrothent Stragen: ichoner hatjid) einer Maskenkönigin der Nacht anvertraut. Wir jtenern vor: ſichtig durchs Gedräng. Au der Stranfenftraße ein Menſchenknäuel und Zotenkonzert. Ein ehrbar ausſehender Mann will ſein Mädchen nach Hauſe zerren und prügelt, vor der freudig bewegten Menge, die Widerſpenſtige, die ſich an einen mageren Jüngling klammert. Der Begehrte, Sommerkellner⸗ typus, Mütze und Halstuch, lächelt im ſtolzen Bewußtſein unanfechtbarer Ueberlegenheit. „Wieder dem Bengel nachlanfen? AlleAbend? S Statt aufs Geſchäft zu jein? Braun und blau kann er Dir haben, Du.

„Ums Himmels willen weiter!” Zum eriten Mal hing Ihre Er— cellenz ſich an den Arm eines fremden Herrn. Dann ſiegte die Selbſtdis— ziplin; ſie lachte. „Nichts Sylveſterliches, hatte ich doch gebeten!“

„Iſt auch nichts. Können wir in jeder anderen Nacht erleben, überall, in Irkutsk und Caracas, in Feſtſälen und engen Gäßchen. Hier ſahs nur gerade beſonders häßlich aus; nicht ſo edel, ſauber und fein wie das Bild in Ihrem Sachſenſpiegel. Aeußerlich, ſteht auf der Medizinflaſche. Ein Weibchen hungert nach einem Männchen. Warum? Der Anthropologemagantworten. Trotzdem zu Hauſe das Futter nicht knapp iſt, hungert Evchen. .Mal was Andres!‘ Der in weiteren Kreiſen bekannte Erdenreft, zu tragen peinlich. Und darum das Lied vom Ausleben und Durchjegen, darum die Renommiſterei mit der Rerjönlichfeit und den romantischen Nechten der Yeidenfchaft ?“

Sehnſüchtig wiehert ein Droſchkengaul.

„Es iſt jpät geworden. Ich denke, wir fahren.”

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14 Die Zukunft.

Rapitalismus und Ehriftenthum.

DD Sozialdemokratie hat doch von ihrer Doktrin ſchon fo mandes Stüd preiögegeben. Auch die Gefchichtkonftruftion der Mare und Engels hält fie ſchon lange nicht mehr unbedingt aufrecht. Am fechzehnten Jantıar 1897 Eritiitrte ein Genofle im „Vorwärts“ das Werk „Wirtbichaft und Recht“ von Stammler, das er treffend ſcharfſinnig, aber unfruchtbar nannte, und er gab zu, daß das Gleichniß vom Ueberbau hinkt. Die Delonomie beftimme freilich die übrigen Lebensformen: Familie, Staat, geiftiges Leben, erleive aber von bdiefen Mächten, denen eine eigene, auf ökonomische Antriebe wicht zurücführbare Bewegung zulomme, eine fehr bedeutende und folgen: fchwere Einwirkung; das Leben verlaufe alfo in einer Wechſelwirkung zwifchen ben wirthichaftlihen und den übrigen Kräften. So ifts; nur die Koordi- nation des geiftigen Lebens mit Familie und Staat ıft falſch. Diefe Beiden find der Wirthfchaft koordintrt, der Geift aber ift der Inhalt diefer Formen; in Wechſelwirkung ftehen Inhalt und Form und wiederum jede Yorm mit allen übrigen. Wer behaupten wollte, irgend’eine Wirthichaftform erzeuge den Gerechtigkeitiinn oder die Familie, würde ſich nur lächerlich machen, fintemal das Europäerkind und der Negerjunge in gleicher Weife auffchreien, wenn ihnen Unrecht geichieht, und die Ehe des heutigen berliner Bourgeoi3 von der eines türkiſchen Bauern, eines altrömifchen Bürgers, eines altegyptifchen Handwerker oder Pharao in feinen wefentlihen Etüd verjchieden ift. Aber was ſich an Bild- ungen um die Örundbeftandtheile des geiftigen Lebens und um die fozialen Grund: formen herumlagert, Das wird allerding3 von jeder ölfonomifchen Ummälzung mit umgewälzt; und fo hat natürlich unfer fapitaliftifche8 Mafchinenzeitalter feine eigene Soziale Struftur, feine eigene Staatsform, Kriegführung, Jugenderzieh- ung, Öefelligfeit, jeinen eigenen Lebensſtil und vor Alleın fein eigenes Recht oder, wenn man lieber will, Unrecht.

Der Menſch bleibt immer und überall der felbe; aber wer nicht glauben will, daß unſere heutigen Lebensformen etwas völlig Neues, von denen aller

früheren Zeiten Grundverſchiedenes find, Der lefe Werner Sombarts groß ange-

legtes und bis zur Hälfte des Plancs glänzend durcchgeführtes Werk „Der moderne Kapitalismus“ und er wird lich gezwungen fehen, feinen Irrthum zu befennen. Sombart hat einmal die Kühnheit gehabt, den Kampf um die Futterplätze und den Kanıpf um die Vertheilung des Futters als den Inhalt der Politik zu bezeichnen; die Gier nach Glüd, die ſich der politifchen wie aller anderen Lebensformen bedient, denft wohl ‚jeder ergänzend hinzu. Hier aber zeigt er ung, wie ſich den perföns lichen Kraften die unperfönliche Macht des Kapitals gejellt, jene jich unterwirft und ste in ihren Dienft nimmt. Er zeigt ung, wie da3 Stapital vor fehshundert „Jahren geboren wurde in dem Renteien der Päpſte, der Stönige, der Grund:

Kapitalismus und Ehriftentbumt. 15

herren, wie e8 Ausbeutung und Wucher genährt haben, wie es, größer geworden, fid mit Inder-, Indianer: und Negerblut vollgefogen, dann fich, ein wahn⸗ finniger Riefe, in dynaftifhen und Kolonialfriegen ſelbſt zerfleifcht, zerftüdt, verftümmelt hat; wie e8, endlich zu fich gelommen und vom neuen, vom edjt fapitaliftifchen Geift erfüllt, von der Raubmwirthichaft ſich abgewandt und auf die Broduftion geworfen, die Wiffenfchaft zu feiner Magd gemacht, mit ihrer Hilfe die neue Technik gefchaffen und bei uns in Deutfchland feit fünfzig Jahren eine Ummälzung vollbracht hat, wie fie ehedem nicht ein halbes, ein ganzes Jahrtaufend zu vollbringen vermocht hatte. Eine Ummwälzudg, deren Ergebniß wir flaunend ſchauen: entwurzelt die Maflen, die taufend Jahre lang an der Scholle geklebt hatten, haltlos Hin und her fluthend und über alle fünf Erdtheile verfireut. Verſchwunden ber ftadtbeherrichende Hand: werker im Sammetbarett, den und Richard Wagner in den Meifterlingern kaum verfchönernd und übertreibend vorführt; feine dem Handwerk treu gebliebenen verfümmerten Nachkommen aus ber Hauptftraße, die des Händlers Schaufenfter ſchmückt, in dumpfe SKellerlöcher, ſchmutzige Hinter: bäufer, öde Dachkammern zurüdgedrängt; der ſelbſtbewußte Eunftfertige Meiſier zum Knechte des Kapitald herabgewürdigt, der die Mufchine bedienen muß, die feine Arbeit übernommen bat. Was an Menfchentdum verloren ift, durch die Fülle der Güter verdeckt, deren Glanz alle Märcenfchlöffer über: ſtrahlt; der Menfch aber in fieberhafter, nimmer raftender Thätigfeit, das Süd in der Geftalt von Geld zu erraffen oder wenigftens die Fufbreite feiten Bodens zu behaupten, von dem ihn Hundert Konkurrenten in ben Abgrund oder in den Sumpf zu ftopen drohen. Wie lange wird e8 noch dauern, fo wird ſich auch den findlichiten Verehrern der Majeſtät das Ge— heimniß entichleiern, das für die Sehenden ſchon lange keins mehr ift: daR alle Herrfcher nur noch von Kapitald Gnaden regiren.

Fragen wir nun, was die Umwälzung dem Menfchenherzen gebracht babe, fo liegt die Antwort eigentlich fchon im der verfuchten fleinen Skizze des heutigen Zuſtandes. Was das Glüd betrifft, jo will ih nicht oft Ge: ſagtes wiederholen, fondern erinnere nur an eine Korreſpondenz der Franf: furter Zeitung aus dem ſächſiſchen Strifegebiet; der Verfaffer meint, wer heute das Gruſeln lernen wolle, brauche nicht in ein Verwunſchenes Schloß, fondern nur in die ſächſiſchen Weberbezirfe zu gehen. (Eben leſe ich die abfchredende Schilderung eines parifer Profetarierviertel3; Käthe Schirmacher ntwirft fie in einem Bericht über den au von Sombart erwähnten Möbel—

arft, der in Frankreich La Tröle heißt). Und wie fteht es um die Ethik 3 Kapitalismus? Nachdem Sombart erzählt hat, wie die eriten Mapitalıen ntftanden ſind, jagt er: „Man ſieht, fo arg blutig, wie Marx annahm, ıft 3 Kapital nicht auf die Melt gefommen; es war eine leiſe, allmählıche,

Ir Die Zufunft.

für die werfihätige Bevölkerung unmerkliche Abzapfung Kleiner Arbeitertrag- partifelchen, die im Lauf der Zeit die Fonds für Fapitaliftifche Wirthichaft zu bilden beitimmt waren.” Aber dann beichreibt er die Kolonialwirthſchaft, die an Blutigkeit nichts zu wünſchen übrig läßt, zuerft die Ausraubung der Levante durch die Italiener (die meines Wiffend vor Sombart noch fein Nationalökonom gebührend gewürdigt hat), dann die Ausplünderung nnd Aus: faugung von Indien und „Inſulinde“ und die Ausrottung ganzer Bölfer unter den rothen und den fchwarzen Menfchen. Wer, der noch ein Menſch ift, würde ſich nicht ergriffen fühlen, wenn er lieft, wie ein Indianerſtamm beichließt, auf das Kinderzeugen zu verzichten, um der von den Europäern . bereiteten Hölle fein Material mehr zu liefern, oder daß fich die Indianer eines Pflanzers aufhängen wollen, davon aber Abftand nehmen, weil ihr Herr erflärt, dann müffe er jih mit aufhängen; wenn jie der Herr ind Jenſeits begleite, argumentirten diefe Kinder, würden jie drüben die felbe Dual er- le:den. Dan aber Kapital im Sinne Sombarts, alfo eine Geldfumme, bie durch den Produftionprozef vergrößert wird, gar nicht entitehen fünnte, wenn nicht Menschen vorhanden wären, die ih ihm als Xohnarbeiter zur Ver: fügung Stellen müjfen, dat alfo der Kapitalismus Noth und den Willen, von der Noth Gewinn zu ziehen, vorausfegt, wird ausdrüdlich hervorgehoben. Eben jo, dar das mittelalterliche Wirthfchaftleben von dem fittlichen Grunde ſatz beherricht wurde, e3 dürfe anderen Erwerb als den Lohn für geleiitete Arbeit nicht g:ben. Tier Handwerksmeiſter durfte weder Gefellen und Lehr— linge ausbeuten den Vehrlingen war er wirklicher Xehrmeifter und den Geſellen mit ıhnen gleich gelohnter primus inter pares nod aus den Materialien durd Preiszuſchlag Handelögewinn erzielen. Daß die damaligen Menschen nicht aus übermenjhlicher Güte und Geredtigfeit fo hanbelten, jondern, weil es ihnen die wirthfchaftlihen Verhältniffe möglich und leicht machten, ändert nicht3 an der Thatſache, dan die Pflicht, auch das Wirth— ſchaftleben nach ſittlichen Grundſätzen zu regeln, allgemein anerkannt wurde. Die heutige Wirthichaft ift, weil fie nicht die Bedarfsdeckung, ſondern die Verwerthung des Stapitales zum Zwed bat, von Haus aus unſittlich. Sie iſt e8 auch infofern, als fie die Mafchinenarbeit an die Stelle der Kunft- arbeit fegt: ein Geiſt ſchafft die Maſchine, ein Geift fchafft das Muſter; die Tauſende von Menfchen, die ihre nad) dem Muſter arbeitende Maſchine be dienen, brauchen feinen Geift und dürfen ihn, wenn fie welchen haben, bei der Arbeit nicht bethätigen. Geiſt, Perfönlichkeit, wenigftens jo weit ſich Beides in der Arbeit bethätigt, wird das Privilegium Weniger. Und da da8 Kapital eben fo unperfönlich ıft wie fein eiferner Arbeiter, jo ift der Erwerb von den Feſſeln ſittlicher Nüdiichten befreit. „Ein Handwerker von echtem Schrot und Korn würde verhungern, ehe er feine von den Vätern

Kapitalismus und Chriſtenthum. 17

überkommene Produktionweiſe im ſchlimmen Sinn veränderte; er mag keine Schleuderwaare liefern. Man braucht die Wirkung des alten Handwerker⸗ ftolzes nicht übermäßig hoch anzufchlagen und Tann doch zu dem Ergebnif kommen, daß es mit dem Prinzip handwerkmäßiger Produktion unvereinbar ift, aus der foftematifchen Qualitätverſchlechterung ein Gewerbe zu maden. Diefe ift in den meiften Fällen mit einer Täufhung des Publitums ver— bunden und dazu bedarf es einer Unperfönlichkeit- des Produzenten, mie fie die fapitaliftifche Organifation mit fi bringt. Kaufe ich die Schundivaare im Laden beim Herrn Cohn, fo kann ich Diefen nicht in dem felben Mafe verantwortlich machen, wie ich e3 thue, wenn mir der Schuhmachermeiſter Schmidt oder der Tifchlermeifter Müller als PVerfertiger des Schmwinbel- jtüdes befannt find.” Die Verehrer des Kapitalismus befämpfen eifrig die Behauptung, der Mittelftand ſchwinde; und es ift wahr: die Steuerrollen beweifen, daß der Mittelftand wählt und sich hebt, in feiner Steuer: leiſtung nämlich; mit dem wachjenden Nationalreihthum wächſt die Zahl und die Höhe der mittleren Einkommen. Über die Perfonen, die den heutigen Mittelftand bilden, find von denen des alten Mittelftandes verfchieden; es find nicht mehr vorherrfchend Bauern und Handwerker, alfo felbftändige feine Produzenten, fondern zum größten Theil Beamte, höhere Induſtrie⸗ arbeiter, Literaten, Agenten, Händler der verfchiedenften Art, Rentner. Alfo erſtens zu einem großen Theil Abhängige: Söldlinge entweder eined Gemein: weſens oder des Kapital, zweitens im beften Fall nur mittelbar produktiv; und wenn nicht das Erſte, jo beeinträchtigt das Zweite die ethifche Qualität. Die mittelbare Produktivität ſchwindet überdies vielfach in Unproduftivität und in negative Produktivität, in Schmarogertfum Hin. Daß fi) die Zahl der Händler in ungehenerlicder Weife vermehrt, daß viele Händler nur Schmaroger jind, daß aber trogdem der einft verachtete Handel, dag PBrofit- machen aus bloßem Staufen und Wiederverfaufen, heutzutage als ehrenhaft gilt, dar alfo die fittliche Empfindung in diefer Beziehung gejchwächt ober gefälfcht worden ift, wird ausdrüdlich zugeftanden. (Zwei Arten des Handels erfordern perfönliche Arbeit, wirkliche, nicht Scheinarbeit und verrichten volf8- wirthichaftlich nothiwendige Dienfte, find daher nach beiden Seiten hin fitt: {ih unanfechtbar: der Handel, der die Erzeugniffe anderer Zonen einführt, und der Detailhandel, der die produzirten Güter unter die SConfumenten ver- teilt, vorausgefegt, daß die Zahl der Detailliften nicht übermäßig groß ilt). Und Sombart beweilt fogar, daß der moderne Kaufmann ſchon feinem Be: griff nad) eigentlich ein unſittliches Weſen itt. Sein Wefen fei Kalfulation und Spekulation, feine Aufgabe: die Waare an den Mann zu bringen, Märkte ausfindig zu machen, zu erobern und zu behaupten. Wo der Handel den Bedarf einer feiten Kundſchaft befriedige, da exiſtire Das noch gar nicht,

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18 Die Zuhmft.

was heute Kaufmann heißt; nur auf dem überfegten Markt könne der moderne Kaufmann entitehen, alfo da, wo er eigentlich gar nicht nöthig if. Mit anderen Worten: die Aufgabe des Kaufmannes ift heute nicht fomwohl, dem Bolfe zuzuführen, was es braucht, al3 vielmehr, ihm in Aermelausreißer⸗ manier Waaren aufzudrängen, bie es weder braucht noch will, und dem Kon⸗ kurrenten die Kunden abzujagen. In der Kunft und Willenfchaft der Reklame proftituirt fich der moderne Handel.

Kurz: wenn wir den modernen Verkehr des Glanzes entlleiden, mit dem er prunft, fo finden wir König Mammon, wie ihn Saſcha Schneider gemalt hat. Die Art, wie er heute regiert, ift von ber in älteren Zeiten, wo er noh nicht Kapital hieß, grundverfchieden, aber Antlig und Leibes⸗ geſtalt jind die felben geblieben. Sombart ift fehr weit entfernt davon, ihn malen zu wollen; als Yortfchrittsenthuftaft, der er iſt, malt er nur fein Prunfgewand und erflärt er beſſer und volltändiger ald Marx darin beiteht die mwiflenfchaftliche Bedeutung des Werkes feine heutige Wirkung⸗ reife; aber er kann nicht hindern, daß fi) die Konturen bes Dämons in der Umhüllung abzeichnen. Natürlich bin ich nicht fo kindiſch, zu wünfcen, die Entwidelung möchte ander8 verlaufen fein. Sie war nothwendig. Wenn es gelang, die todbringenden Seuchen zu bannen, wenn dadurch die Des völferung auf ihre heutige Zahl vermehrt wurde, fo konnte fie nur bei er: höhter Produktivität der Arbeit ernährt werden; und daß nur der Kapitalis⸗ mus die Produktivität in dem erforderliden Maße zu fteigern vermag, kann Jeder, der es noch nicht weis, aus Sombarts Werk lernen. Außerdem leiftet der Kapitalismus der Kulturwelt den Dienft, fie in unaufhörlicher Bewegung, alfo geiftig am Leben zu erhalten, und wenn er manche Partien des ethifchen Lebens anfrigt umd zeritört, fo ftärft er dafür andere, nament: ih die Energie; auch die gefchlechtlicden Erzefle vermindert er durch ben Zwang zu ſtrammer Arbeit und durch das vieljeitige geiftige Intereſſe, das feine Meafchinerie die foziale wie die technifhe weckt, wie denn über- haupt der Werth des modernen Reichthums nicht in den Gebrauchs- und Genußgütern liegt, mit denen er ung überfchüttet, Tondern in dem geijtigen Reichtum an Erkenntniffen, Gegenftänden der Betrachtung und Forſchung, Anregungen und ZTriebfedern zum Handeln, den er erzeugt. Daß ich aber der Weltmechanismus bei diefer großen Umwälzung tie bei jeder früheren der Selbftiucht feiner Geſchöpfe als Triebfraft und Schwungrad bedient, darum dürfen wir uns nicht erfühnen, mit ihm zu rechten; fpricht denn der Topf zum Töpfer: Warum haft Du mid fo gemaht? Das Geheimnik des Weltplanes können wir nicht entjchleiern. Eins nur fagt uns die Ver- nunft: dag wir die Verpflichtung und das Bedürfniß haben, bei jeder äußeren Geſtalt des fozialen und Wirthfchaftlebend uns und unferen Brüdern den

Kapitalismus und Ehriftenthumt. 19

ethifchen Kern der Berfönlichkeit zu erhalten und fo viel Glüd wie möglich zu verſchaffen; dann erft recht, wenn die den fozialen Körper beherrichenden Kräfte Beides zu rauben und zu zerftören drohen. Aus diefen Grunde wird fich eine der Hoffnungen der Fortfchrittsfreunde nicht erfüllen: die Ent- widelung wird das Chriftenthum nicht überflüffig machen, daher auch nicht vernichten. Wenigftens vorläufig nicht. Sollte das Ziel der Entwidelung jo ausfehen, wie e8 die Sozialdemokraten und die Sozialliberalen, wahrjchein- ih auch Sombart, ſich vorftellen, follte der Menfch die Herrfchaft über jeinen Knecht, da3 Kapital, wiedergewinnen, das fein Herr geworden ift und ihn verleitet hat, das Allerweltmittel, da8 Geld, zum Zweck zu erheben, follte er dahin gelangen, fein Reben in Eintracht mit allen feinen Brüdern hier liegt eine der großen Schwierigfeiten ganz nah Wunſch zu geftalten, auch die Krankheiten, die Elementarkataftrophen, den Tod aus der Welt zu Ichaffen oder wenigftens Jedermann die Euthanajie zu fichern, dann brauchte die Menschheit keinen Herrgott mehr. So lange dieſes Ziel nicht erreicht ift, brauchen die Millionen Unglüdlicden einen Herrgott, und zwar den chriſt⸗ lichen, der aus Liebe zu ihnen einen Menfchenleib angenommen hat, Hunger litt, fich geikeln, anfpeien und kreuzigen ließ und den Mammon verdammte; ohne den Glauben an diefen Herrgott, deſſen Auge und ftarfer Arm in den finfter- ften Abgrund und in den graufigftien Sumpf reihen und der durch feine Menfchwerdung den Willen, zu helfen, bewieſen hat, iit für Millionen das Erdenleben die Hölle, eine Hölle, deren Dualen heute, im Zeitalter bes Kapitalismus, um fo ftärler empfunden werden, weil fie auf jedem Punkte der civilifieten Welt unmittelbar an den Himmel des Luxus und Komforts grenzt. Diefe Unentbehrlichkeit und Unausrottbarkeit des. Chriſtenthumes ift

ed, was feine Gegner zur Wuth entflammt und neuerdings den Krieg „gegen den Klerikalismus“ auf der ganzen Linie entfelfelt hat. Der Liberalismus hat drei Gründe, das Chriftenthum, und vor Allem das entjchiedenite, das fatholifche Chriſtenthum zu befämpfen. Der erfte ift politifcher Natur und geht uns hier nicht an: der Kiberalismus hat feinen politifchen Inhalt zum Theil durch den Wandel der Zeiten eingebüßt, zum Theil an. die Sozial: demofratie abgetreten und muß fih an die Junker und Pfaffen Halten, um durch ihre Bekämpfung das Recht feiner Organifationen auf das Beimort Liberal zu beweiſen. Aber die anderen beiden Gründe find kapitaliſtiſcher tatur. Den einen hat der Herausgeber der „Zukunft“ einmal mit Bes dung auf Frankreich beleuchtet: die Roture ſucht ſich der Canaille dadurd erwehren, daß fie fie gegen die Pfaffen heut, Jener Haß. von jich auf Yiefe ablenft. Der andere Grund ift, daß die moderne Technik den Kapitaliften b ihren Söldlingen den Himmel auf Erden zu fichern fehien und daß fie r jede Störung bes endlich errungenen Glückes ergrimmt jind. Diefe

20 Die Zunft.

Stimmung gehört zum Grundcharafter des Nationalliberalismus, wie ich ihn in Baden Eennen gelernt habe; Baden und Nationalliberalismus find ia beinahe identifche Begriffe. Seitdem find am blauen Himmel finftere Wolfen aufgeftiegen: die wirthichaftliche Kriſis, die zwar fchon eingetreten war, an beren Permanenz man aber noch nicht glaubte, und die Sozial- demofratie, die damals noch feine Macht war; aber die Empörung über die drohenden Männerflöfter beweilt, daß ber nationalliberale Geift in Baden noch lebt. Die Nationalliberalen freundliche und liebenswürdige Herren, mit denen fich Sehe angenehm Lebt haben die Tragif aus der Welt hinweg befretirt; e8 giebt feine Hölle, weder im Jenſeits noch im Diesſeits; es giebt Feine Armuth, kein Elend, feine Noth, Feine Sünde, feine Proftitution, und wo immer aus der Proletarierwelt ein ſchmutziger Zipfel in die reinliche bitrger- liche Welt hereinhängt, da muß ihn die Polizei fchleunigft verbergen. Kutten erinnern nun an allerlei Tragik, darum find fie den Herren ein ©räuel. Die Herren find zu ihrer Weltanjicht und Stimmung dadurch gelommen, daß fie niemals gezwungen waren, auf die dunkle Seite der Wirklichkeit den Blick zu richten; mir felbft würde es in ihrer Welt ganz gut gefallen, wenn fie die wirkliche Welt wäre; leider ift fie e8 nicht. Uebrigens kann es unter Umftänden auch für Einen, der die Wirklichleit beffer kennt, Pflicht werben, ih am Kampf gegen den Klerikalismus zu betheiligen, dann nämlid, wenn diefer den Troft der Armen als Opiat fürs ganze Volk migbraudt und e8 fo, durch Lähmung und Betäubung, unfähig macht, an der Beflerung feiner wirth: Ihaftlihen und fozialen Huftände zu arbeiten. Weil diefe ‚Gefahr vielfach vorhanden war, mußte bie Sozialdemokratie kommen. Mit den Gründen, die fie jegt beftimmen, fich dem Feldzuge gegen den Klerikalismus anzufchließen, verhält es fich (im Deutfchen Reich wenigftens; in Defterreich und den romani: chen Ländern liegen die Dinge vielfach anders) nicht fo wie bei den Liberalen; zwei find politifcher Natur: daß das Centrum nicht mehr Oppofition, alfo nicht mehr natürlicher Bundesgenofje ift und daß es der Sozialdemokratie den Zugang zu den Fatholifchen Arbeitermafjen fperrt. Nur einer geht uns bier an; er ift mutatis mutandis der ſpezifiſch nationalliberale. Die Arbeiter erjtreben den Himmel, den der Bourgeois bejigt, und müffen bie Kirche, die den Himmel ins Jenfeit3 verlegt und den Eroberungsfrieg des Proletariates für ausfichtlo8 und für gottld8 erklärt, als Todfeindin haffen.

Die Sünden der Kirche, die den Feinden als Angriffspunkte dienen und ihnen zugleich das wohlfeile Vergnügen jittlicher Entrüftung verfchaffen, find wirklich vorhanden. Wie viel von den Klofter-, Cölibat- und Yinanz- ſkandalen erlogen fein mag, darauf fommt nichts an. Die BVerfaflung der Tatholifchen Kirche in niederem Grade auch die jeder anderen Kirche bringt es mit ji, dar die Wirklichkeit dem deal widerfprechen muß. Das

2

Kapitalismus und Chriſtenthum. 2

einzige Wort „Kirchenfürft“ genügt für ſich allein fchon dem Logiker, um zu beweifen, daß die Papſtkirche nicht die Braut Chrifti, fondern die babylonijche Hure ſei. Und daß nicht all die taufend Cölibatäre keuſch Teben künnen, fteht a priori feft. Es giebt fittlichen Heroismus, aber wenn aus der Öott- feligfeit und dem Heroismus ein Handwerk und ein Broterwerb gemacht wird, dann können Beide beim beiten Willen nicht allgemein echt fein. Heroen find Ausnahmemenfchen; und der katholifche Glaube, daß ein Wunder der Gnade gewöhnliche Menfchen in Heroen umſchaffe, wenn fie die Weihen eınpfangen, fann vor der Erfahrung nicht beftehen. Das Chriftenthum wirkt nicht jenes Wunder, thut aber dafür etwas Anderes und Beſſeres: es ftellt den Heroen Kebensaufgaben und macht fie dadurch fürs Gemeinmohl nüglic. Das ift eine fehr dankenswerthe Leiftung. Die Kirche nun, der Leib des hriftlichen Geiftes, ift "eben fo wie der Kapitalismus ein nothmwendiges Produft der gefhichtlihen Entwidelung, für deffen Dafein und DBeichaffen- heit feined Einzelnen bewußte Abjicht verantwortlich gemacht werden fann. Was die Zeit gefchaffen hat, zerftört die Zeit; und die Macht und Pracht des Bapftthumes fehen wir feit vier Sahrhunderten langſam zerfallen. Mit dem legten Reit wird das legte einer gewiſſen Art von Aergernifien ſchwinden und andere Aergerniſſe werden durch Aufhebung des erzwungenen Priefter- cölibates- befeitigt werden. Nur wirb es mit Alledem nicht ſehr vafch gehen, denn die Schwierigfeiten folcher Aenderungen find nicht weniger groß als die vis inertiae der Maflen. Die weltliche Herrlichfeit der Papſtkirche wird einft zerfallen, aber der Geift, als deflen Schughülle, Werkftatt und Werkzeug die Kirche gebildet ward, wird fortleben, jo lange ihn der Hinmel auf Erden nicht überfläffig macht. Er wird fortleben in der Geftalt einer Humanität, die ſich an den Stügen des chriftlichen Glaubens und der chrift- lichen Hoffnung aufrecht erhält, fortleben auch in Mönchen, wie fie Shakeſpeare und Aleſſandro Manzoni gemalt haben. Daß die Klofterorden durch Volks— bedürfniffe gefordert werden, beweiſt die Blüthe ber evangelifchen. Die evan- geliſchen Kirchen Haben von den katholiſchen das früher gehaßte und aus— gerottete Kloſterweſen übernommen, die fkatholifche Kirche wird von ber evangelifchen lernen, durch Aufhebung der lebenslänglich bindenden Gelübde das Klofterwejen den Forderungen der Zeit anzupaffen. Und die aufrichtig Frommen beider Belenntniffe werden natürlih nur bis zur Herftellung de3 Himmel auf Erden fortfahren, die Wunden zu heilen, die, zu den alten Gottesgeißeln gefellt, der junge Kapitalismus fchlägt; denn daß er, wie auch Sombart glaubt, felbft alle Wunden zu heilen vermöge, die er fchlägt, hat er bis jegt wenigſtens noch nicht bewiefen. Neiſſe. Karl Jentſch.

*

22 Die Zukuuft.

Die alte Frau.

ft ſchon habe ich für die Nechte der Frau gefämpft, fir die Rechte des

* jungen Mädchens, der Gattin, der Mutter. Die alte Frau babe ich faum bier und da geftreift. Bon ihr will ich jegt reden; von dem armen alten Weibe, das einem Schatten gleicht, den die Schöpfung zum Miß- vergnügen der Menjchheit wirft. ft oder war bie Frau im Allge— meinen bis vor Kurzem der Paria des Menfchengefchlechtes, fo wars die alte Frau dreifach; und jie ift e8 auch heute noch. Die junge und jüngere ſchon unter glüdlicheren Sternen geborene Generation hat eben noch nicht Zeit gehabt, alt zu werden.

Ich will von des alten Weibes Leiden fprechen und fagen, wie ihm abzuhelfen ift.

Ä Daß man bis in die neufte Zeit hinein dem Weib num einen gejchlecdht-

lichen Werth zubilligte, ift oft genug gejagt und bellagt worden. ch fage es noch einmal, denn diefer MWertheinfchägung entipringt die Mißachtung, ber die alte Frau verfällt. War das Weib untauglich geworben zur Ge: bärerin, Kinderpflegerin und Geliebten, fo hörte ihre Eriftenzberechtigung auf. Alle Ansprüche, die fie fürder noh an die Geſellſchaft zu erheben gemillt war, ſchienen mehr oder weniger lächerlich; von milder und gütiger Geſinnten wurden ſie wenigſtens ignorirt.

Geichlechtlicher Neiz und Nutzen de$ Weibes Werthmeſſer! Eine anti: maliſche Auffaffung ihrer Wefenheit, eine naive Schamloſigkeit, die einem früheren Zeitalter entiprochen haben mag, der Reife und Höhe des jegigen aber Hohn Spricht; denn: Nie entmenfcht dus Weib. Daß bei der Verurthei— lung tiefer Anfchauungweife die finnliche und äjthetifche Freude an Jugend und Schönheit, die Wonne genichender Liebe unangetaftet bleibt, ift felbit- veritändfich.

Es giebt Totengrüfte für Lebendige: Siechthum, unheilbaren Gram. Auch dag Greiſenthum der Frau ift foldy eine Totengruft. Sie wird bei Lebzeiten darin beigefegt.

Arme Alte! Alles geht mählich von Dir. Anfangs verfolgen Deine fehnfüchtigen Blice die Dir Enteilenden: die Kinder, die Freunde, die Ge: fellfhaft; doch weiter und weiter entfernen fie ſich, ſie entfchiwinden. Ein ſamkeit hüllt Dich wie in ein Keichentuch, Vergeſſenheit ift die Anfchrift über Deinen Haufe, da8 Rabenlied der Hoffnunglofigfeit krächzt über Deinem Lager. Schweigen iſt um Dich; und aud Du felbft fchweigft, weil Nie: mand Dich hören will. Arme Alte! Dir ift, als müßteſt Du Ti ſchämen, dar Du, nun fo unnüß und fo alt ſchon, noch lebſt. Das Alter laftet wie

Die alte Frau. 93

eine Schuld auf Dir, al8 ufurpirteft Du einen Plag, der Anderen gebührt. Du fühlt um Dich ber eine Gelinnung, die Dich aus dem Leben fortdrängt.

Ein berühmter Künftler fagte mir einmal (dabei ſaß ich ihm zu einem Bilde und ich war über vierzig Jahre alt), daß Frauen, die das vierzigfte Lebensjahr überfchritten haben, Ballaft für die Gefellichaft feien und am Beiten thäten, fich zu ihren Vätern zu verfammeln. Die frühere Sitte bar- barifcher Völker, die überflüffige weibliche Kinder gleich nach der Geburt be jeitigte, erfcheint mir milder, da Neugeborene, mit der fchönen Gewohnheit des Dafeins noch nicht vertraut, weniger empfindlich gegen eine beſchleunigte Beförderung ind Jenſeits fein dürften als reichlich Erwachſene.

Bon guten und wohlwollenden Menſchen habe ich aussprechen hören, alte Frauen feien „etwas Gräßliches“. Ich hörte diefen Ausfpruch auch aus den Munde einer jungen rau, die eine Mutter hatte.

Ich will hier nicht der furchtbaren Tragif gedenten fie ift nicht fo felten, w!e man meint —, die entiteht, wenn die Alten den Angehörigen zu lange leben. So graufame Regungen werden in den gebildeten Ständen in des Buſens tieffte Tiefe verfchloffen. Im Volk dagegen kommt der fromme Wunſch, Gott möge die Alten abrufen, oft genug zu offenem Ausdrud. Die Greiſin oder auh der Greis auf dem AltentHeil ift ein tragifcher Stoff, der in ber Literatur genug Bearbeiter gefunden hat. ch erinnere an König Rear, an Zolas „La terre“, an Turgeniews „Lear der Steppe“, an Balzac „Pere Goriot“.

Wehe der Greilin, die einen folhen Wunſch auf der Stirn eines Menfchen Lieft! Der Deliguent, dem man auf der Richtftätte ein naſſes Tuch un den Hals fchlang, ftarb an der Vorftellung, daß e8 das Richtbeil fei.

Nichts fcheint mir für die alte Frau lähmender, abftumpfender als dad von der Gejellichaft ihr aufgeziwungene Bewußtfein: Du warft, Du bift nicht mehr. Sie erfchauert darunter, al3 hörte jie die rufende Glocke, die der Tod läutet.

Ich Tenne Alte ſenſitive Naturen —, die am Liebſten fern von ihren Augehörigen leben, in fremden Städten, fremden Ländern, in der inftinftiven Furcht, den Ihren zur Laft zu fallen, gleich dem kranken Thier, das fih ind Didicht des Waldes verkriecht.

Ich aber: ich liebe Euch, Ihr alten Frauen. Gern klopfe ich au die fhon halb zugefperrten Thüren Eurer Seelen, und wird mir aufgethan, fo erlebe ich oft lebendige Stunden, aus denen es mir Klingt wie von Abend- jebeten unter ftilen Sternen. Einige unter Euch verftehen die Stimmen, die aus Gräbern kommen; bei Anderen hat man die Empfindung (wenn man nämlich Theofoph ift), dar ihr ätherifcher, ihr Aftralleib ſich Halb ſchon aus dem Gefängniß befreit hat, in da8 der grobe, materielle Leib ihn ein-

24 Die Zukunft.

ſchloß; es iſt, als ſuchten fie, gelöft von der alten Heimath, eine neue, von dunklem Geheimmig ummobene. Das, was in näcfter Nähe um fie her vorgeht, fehen und Hören fie nur noch unvollkommen. Sie fehen und hören ins Ferne, ins Weite hinaus oder tief in fih hinein. Myſtiſches haftet ihnen an. Die Gärten der Greiſe grenzen an ein Jenſeits.

Dean follte meinen, wenn eine Frau aufgehört hat, durch ihren ge- Ichlechtlichen Reiz zu wirken, müfje die Gefellfchaft fie einfach als Menſchen, je nad) ihrem individuellen Werth, abichägen und würdigen. Das geidhicht nit. Der Begriff „Altes Weib“ ſchließt ein Vorurteil ein, bie gerechte Würdigung aus. Wenn einem Jäger morgens zuerft ein altes Weib be= gegnet, jo bedeutet e8 Ungläd. Tas Grufeln vor der Here, die immer eine alte, alte Here ift, lernen fchon die Meinen Kinder. Der Teufel it gar bös. Den Gipfel der Bösheit aber erflimmt feine Großmutter. Hut Des Teufels Großmutter! Bon des Teufel Mutter ſchweigt die Geichichte.

Tas Gefammtgefühl der Geſellſchaft ift gegen die Alte,

Zürnende Rufe höre ih: Oho! Das gilt doch nicht für Alle:

Nein. Es giebt Ausnahmen. Ich kannte folde. Sie gehörten ber Bühne oder der hohen Ariftofratie an. Es waren Frauen, die in einem reihen, bewegten Leben Schäge von Erfahrung gefammelt, originelle, mit Humor begabte Frauen, die fich bis ins Hohe Alter Geiftesfrifche und die Gabe, zu amujiren, bewahrt hatten. Zu diefen Ausnahmen gehören aud) die Greiſinnen von unausfprechlicher Herzensgüte, die eine lieblich weiche Atmojphäre um uns fchaffen, die wir wie Veilhenduft atmen. Auch Be: rühmtheit, Reichthum, Bornehmheit find mildernde Umstände für „das alte Weib“. Diefe Eigenfhaften müſſen aber in hoher Potenz vorhanden fein, um das Vergehen ded Alters zu fühnen; ihre Abendfonne muß ber ganzen Umgebung -leuchten. Bon diefen Ausnahmen abgefehen, hatte die alte Frau bisher Bedeutung und Einfluß nur als Gattin oder Mutter eines berühmten oder hochgeitellten Mannes. Wäre, zum Beifpiel, je ein Wort von der Frau Nath, trog ihrer urmwüchligen, geiftfprühenden Drolerie, auf die Nachwelt gelommen, wenn ſie nicht Goethes Mutter gewefen wäre?

Die alte Frau mirft ihren Schatten voraus in der ältlichen Frau. Die ältlihe datirt man etwa vom Ende der PVierziger bis zum fechzigften Jahr, die Alte vom fechzigften, bis jie das Zeitliche ſegnet. Die Aeltliche denft man jich mit Vorliebe im Bilde der Schwiegermutter, die Alte im Bilde der Großmutter; obwohl e3 noch ganz junge Großmütter giebt. Von der Schwiegermutter habe ich fchon gefprochen. Ich bemerfe hier nur, daß die Deutter, wenn jie von zarter Seelenkonftruftion ift, felbft der eigenen verheiratheten Tochter gegenüber leicht unter. einem fchwiegermütterlichen Be: wußtſein leidet; immer muß fie auf der Hut fein, um nicht in die Macht—

Die alte Frau. 25

und Willensiphäre von Tochter und Schwiegerfohn einzugreifen und zurüd: gewiefen zu werden. Doc ich will von der Großmutter reden.

Zange, lange fchon fteht die Kinderftube ihr Teer, das Reich, in dem fie einft unumſchränkte Herrfcherrechte übte, in dem ihr Herz Orgien der Luft und Zärtlichkeit feierte, wo ein gefchäftiges Sorgen und Thun ihre Zeit und ihr Denken ausfüllte.

Ah, Großmutterlein, Großmütterlein: willft Du etwa in der Kinder: ftube Deiner Tochter unterkriechen? Bleib draußen! Nicht mehr Herrfcherin bift Du dort, nicht einmal Viceherrſcherin; nur eine höhere Kinderfrau, niit weniger Autorität als die eigentliche Kinderfrau, die durch Strenge und Keifen fich behauptet, während Großmütterlein als Angftmeier bei den Kindern verſchrien ill.

Mir fagte einmal ein fünfjähriges Enkelchen, als ich e8 wegen einer Unart fhalt: „Aber Großmutter, Du haft hier gar nichts zu bedeuten!“ Und e8 war ein berzig ſüßes Kind,

Und die Hauptfache fehlt: die KXiebe des Kindes. Enkelliebe ift ein feerer Wahn, ein Luxus im fparfamen Haushalt der Natur, und fommt nur in Ausnahmen vor. Der Inftinft des Kindes ift gegen das Wite. Und die Liebe der Großmutter für die Enkel ift auch mehr eine faute de mieux- Liebe, in Crmangelung anderer ergiebiger Anklammerungen.

Und will Großmütterlein durchaus bei den Enkeln einen Stein im Brett haben, fo muß fie durch allerlei Leitungen, etwa als Chofoladen: oder Spielfachenlieferantin, um ihre Gunft buhlen. Liebkoſungen gehören in dieſes Reſſort nicht. |

Die Großmutter in der KHinderftube der Tochter: ewig fließender Duell für Konflikte zwiſchen Mutter und Tochter.

Und die Ehrfurcht vor dem Alter? In allen Tonarten, mündlich und ſchriftlich, in Kirche, Schule und Haus wird fie gepredigt. Mit Recht? Nein. Ehrfurcht heifcht, ma3 aufwärts zu Höhen führt, wo Tempel itehen, in denen Götter wohnen. Nicht aber heiſcht Ehrfurcht das Verfallende, Rückwärtsweiſende.

Pietätvolle Sympathie, Verſtändniß für ihre Bedürfniſſe, Nachſicht für ihre Schwächen, in einzelnen Fällen Dankbarkeit dürfen die Alten von uns fordern; mehr nicht. Der Menſch wird doch nicht alt aus Moral, um einer hohen ethiſchen Verpflichtung nachzukommen: er wirds ganz von ſelbſt und fehr gern. Und aus purer Selbſtliebe will er meiſt, wenn er auch noch ſo alt ift, noch immer älter werden.

Im Volksſprichwort heißt es: „Neunzig Jahr ift Kinder Spott.“ Ach, der Spott fett ſchon früher ein; er beginnt, fobald fich die Schwächen des Alters bemerkbar machen, und wären es auch nur Gedächtnißſchwächen

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26 Die Zukunft.

oder körperliche Ungeſchicklichkeiten. Die Weußerungen der Spottluft kann eine gute Erziehung im Zaum halten; an ihre Stelle Ehrfurcht fegen: Das fann fie nicht. Die Ehrfurcht vor dem Alter gehört zu den Worten, Die E hal und Rauch find.

Und der Salon, die Gefelligteit? Sonberbar: wenn bie Menfchen nicht immer lögen, auch da, wo Jeder merkt, daß fie lügen, fo mürden ſie zugeben (mündlich geben fie e8 ja auch zu, aber bei Leibe nicht gedrudt), daß die alte Frau im Salon, in Gejellichaften unwilllommen if. Im der Regel gerathen die Saftgeber bei ihrer Placirung in Berlegenheit, da doc der männ: liche Saft, je älter er ift, um fo ftärfere Abneigung gegen die Nachbarfchaft einer gleichaltrigen Dame hat; oft nimmt er diefe Tiſchnachbarſchaft geradezu übel. Und tie alte Frau neben einen jungen Herren zu fegen: Das ijt des Landes nicht der Brauch.

Ich kenne eine alte, ſehr muntere und lebensluſtige Dame, die außer: ordentlich gern in Gefellfchaften ginge. Sie lehnt aber jede Einladung ab. Als nad dem Grund ihrer Ablehnungen gefragt wurde, antwortete jie in ihrer ſchleſiſchen Mundart: „Man i$ fo ibrig.*

Ya, fie hat Recht. Die Alte ift fa „ibrig“. Wenn die Frau als Geſchlechtsweſen nicht mehr in Betracht kommt, interefiirt auch ihre Unter- haltung nicht mehr. Was ſie denkt, fühlt, urtheilt, ift „ibrig*.

Für den alten Mann ijt die Geſelligkeit keineswegs ausgefchloffen. Iſt er im vorgerüdten Greifenalter auch nicht mehr fchaffensfräftig, fo iſt er doch durch feine Stenntniffe, Erfahrungen, ducch feine fozialen oder politi- fchen Bezi:hungen zur Welt immer noch reich gemug, um rende an fi felbft haben und Anderen. fchenfen zu können. Und außerdem hat er den ungeheuren Vorzug, fein „altes Weib“ zu fein.

Und Hat diefe Zurüd: und Beifegung der alten Frau keinerlei Be— rechtigung ? Ä

Sie hat eine Berechtigung, wenn auch fein Verftändiger den brutalen Ausfprüchen des befannten leipziger Arztes, der dag alte Weib als ein Scheufal [hildert, zuftimmen wird. Die Berechtigung liegt in ihrer Lleberflüfiigkeit. Die iſt unbeftreitbar, wenn man die heutige Gefellfchaftordnung in Bezug auf die Frau als die für alle Ewigkeit einzig normale gelten läßt. Iſt der Daleinszwed des Weibes wie die Majorität annimmt —, Sindergebären und Kinderaufziehen, fo hat fie, wenn die Kinder erwachfen find, ihren Zweck erfüllt. Der Mohr Hat feine Arbeit gethan, der Mohr kann gehen. In vielen Füllen läßt die Ueberflüfiigkeit noch eine Steigerung zu: fie wird zur Läſtigkeit, wenn wie e8 häufig gefchieht die Alte für jih Rüchſichten und Aufmerffamfeiten beanfprucht, die ihren Angehörigen Opfer auferlegen, jei e8 an Zeit, Behagen, Geld. Die alte Frau giebt dann nicht mehr: fie nimmt nur.

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Die alte Frau— 37

Freilich: dem unabwendbaren Menſchenſchickſal, im höchſten Greifen: alter zu verfallen, entgehen Wenige. Und da Nieniand den Volksgebrauch der alten Inder, die ihre reife auf dem Ganges ind Schattenreich ent: jandten, wieder einführen wird, fo muß den Altersfchwachen die Hilfbereit: Tchaft der Familie, und wo feine vorhanden ift, des Staates beiltehen. Diele Hilfe wird ja aud einmal der heute Helfende in Anfpruch nehmen, wenn das Alter ihn gebrochen hat. Und damit wäre dann doch ein Ausgleich zwifchen Geben und Nehmen hergeftellt.

Bei der erwähnten Läfligkeit fällt die Finanzfrage ſchwer ins Gewidt. In den höheren, gebildeten Ständen kommt e8 vor, daß ein junger Mann feine eigene Familie begründen kann, weil er weibliche Angehörige unterftägen oder erhalten muß. Furchtbar laſtet diefe finanzielle Pfliht auf dem Boll. Die Vedienfteten, die von ihrem fargen Kohn die alte Mutter erhalten müſſen, thun es fchweren Herzens, fat immer vol Groll und Bitterkeit.

Ich traf eines Tages mein Mädchen ein gute, treues Geſchöpf in der Küche faſſunglos ſchluchzend. Auf meine Fragen erfuhr ich, daR ihre Mutter (fie wohnte in einem kleinen ojtpreufifchen Neſt) eine Neife unter- nommen habe, um einen verheiratheten Sohn, den tie feit vielen Jahren nicht fah, zu beſuchen. Die Neije Loftete fünfzehn Mark. Um dirjer fünf: zehn Mark willen heulte da8 Mädchen. Sie unterftügte die Mutter mit zehn Mark monatlich, der Hälfte ihres Lohnes.

Zu den allgemeinen unerfreulihen Begleiterſcheinungen des Alters gehört der Berluft der Schönheit, wenn folche vorhanden war, was gar nicht fo Häufig der Fall iſt, wie man bei der Gegenüberjtelung von Jugend und Alter anzunehmen pflegt. In den höheren Ständen tritt die Häßlichkeit des Alter bei den Frauen auffäliger hervor al3 bei den Männern. Im Bolt, bei den Bauern it der Greis nicht hübfcher als die Gretin.

Ich ſchalte hier ein, dat die deutfche alte Frau im Allgemeinen häß— ticher ift als alte Engländerinnen, Amerikanerinnen, Normwegerinnen. Es iſt eine für deutfch-patriotifche Gemüther unliebfame Wahrnehmung auf Reifen hat man Öelegenheit, fie zu machen —, wie die charaftervollen, inter: effanten Köpfe, die ſchlanken, hohen Geſtalten diefer Ausländerinnen die unterfegteren, fetteren deutfchen alten Damen mit den verſchwommenen Zügen in den Schatten ftellen. Die Urfache diefer Erfcheinung fehe ich weniger

einer National: und Raffenverfchiedenheit als darin, daR in den genannten ationen die Hausmütter (in den höheren Klaſſen) felten ind, Frauen, die, venn ihnen die Objekte ihrer Thätigkeit entzogen find und ihr enger Inter— ſſenkreis geſprengt ift, leicht träg, ftumpf und die werden. Das geiſtige Weſen Schafft ich die Phyſiognomie. Wir lefen in den Gelichtern gewiſſer— ‚Ken zwifchen den Zeilen; durch alle Runzeln hindurd leuchtet die Schrift,

28 Die Zukunft.

die eine Seele in die Züge fchrieb. Ich wiederhole ein Citat, das ich ſchon einmal anwandte: „ES ift eine Gerechtigkeit auf Erden, daß die Gefichter wie die Dienfchen werben.“

Das Alter zerftört die Schönheit der Formen und Linien. Die Wirkungen diefer Zerftörung fünnen gemildert, in nicht feltenen Fällen aufges hoben werden. Alte Frauen pflegen ihre äußere Erfcheinung zu vernachläffigen, weil fie glauben, es ſei ja ganz gleichgiltig, wie fie ausfehen. Sie zählen nicht mehr mit. Wer achtet ihrer? So machen fie fih8 wenigſtens bequem.

Sie haben Unrecht.

Sch möchte, daß die alte Frau ſich wei kleide. Sch meine, ihr gebührt die Farbe, die dem Licht verwandt if. Etwas Priefterliches, Erbentrüdtes, Lichtfuchendes möchte ih an ihr fehen. Aber nit nur em faum nod moderner Symbolismus, auch äfthetifche Gründe fprechen für da8 weiße Kleid. Niemand ſollte mehr die Regeln der Aeſthetik beobachten als die alte Frau. Peinlichite Sauberkeit und Sorgfalt in der Körperpflege, in der Kleidung fei ihr Geſetz. Zur Körperpflege gehört jede Art hygieniſcher Vorforge, ge: hört Alles, was zur Erhaltung der Kraft und Gefchmeidigkeit, zur Ber: meidung von Schwerfälligleit und Fettleibigkeit dient.

Man wird einwenden, daß die alte Frau den Spott herausfordert, menn lie Dinge thut, die ihrem Alter nicht angemeffen find. Nicht ange: meſſen find oder nicht für angemefien gelten? Diefer Unterfchied ift wichtig. Von Dem, was für unangenteffen gilt, beruht das Meifte auf Gewohnheit und Zeitvorurtheil. Ein Beweis dafür ift, dag ein Thun, das die alte Frau läherlih macht, bei dem gleichaltrigen Mann Beifall, oft den aller lebhafteften, findet. Eine a'te Frau mit Schlittſchuhen an den Füßen, auf dem Fahrrad, auf dem Pferd: lächerlich; der achtzigjährige Moltke auf dem Pferd wurde als eine bewundernswerthe Erſcheinung angeftaunt; und den’ weigbärtigen ES chlittjchuhläufer folgen nur wohlmwollende Blide.

Meine Kindheit fällt noch in die Zeit, wo ein weibliches Wefen auf 4 dem Eis Staunen und Entrüftung erregte. Hätte ich in meinem fünfund- | | vierzigften Jahr einen runden Hut mit Blumen getragen, die Straßen: jugend hätte hinter mir hergejubelt. Heute trägt die Vierzigerin den ſelben Hut wie ihre Tochter; und man findet es in der Ordnung. |

Eine fechzigjährige Dame meiner Bekanntſchaft wollte auf Anrathen | ihres Arztes, einer Blutjtofung wegen, reiten; natürlih nur in der Bahn. , | Sie gab es wieder auf, weil fie die Witz- und Spottreden ihres Belannten- | freies nicht ertrug. Cine andere, mir verwandte alte Dame brannte darauf, j den Vortrag eines beſtimmten Univerfitätprofeflord zu hören. Sie hatte nicht den Muth, Sich den verwunderten Bliden der Jünglinge auszulegen.

Die alte Frau. 2)

Höre, alte Frau, was eine andere alte Frau Dir fagt: Stemme Dich on! Habe Muth zum Leben! Denke feinen Augendblid an Dein Alter, Du bift fechzig Jahre alte. Du kannſt fiebenzig werben, achtzig, fogar neunzig. Die Jüngften können vor Dir ins Grab fteigen. Den Tod vor- ausdenten, vorausfühlen, heißt, ihm entgegeneilen, heißt, die Gegenwart entrechten. Wenn Du nur noch einen einzigen Tag lebſt, haft Du eine Zu— funft vor Dir. Das Leben ift ein Kampf. Alle fagen ee. Man kämpft gegen Feinde. Das Alter ift ein Feind. Kämpfe!

Thu, was Dir Freude ift, fo weit Deine Geiftess und Körperkräfte reichen. Gerade, weil Du nicht mehr lange Beit vor Dir haft, fchöpfe jede Minute aus. Die theofophifche Borftellung: je reicher an Hirn und Herz wir ind Grab fteigen, um fo glorreicher wird unfere Wiederkehr fein, iſt von feierlicher Vornehmheit.

Spotte de3 Spottes, mit dem man Dich einfchüchtern, Dir die Thüren zur Freude fperren will. Das Net, zu leben, hat das Kind wie die Greiſin. Werde immerhin alt für die Anderen: nicht aber für Dich.

Was habt Ihr Alten denn nach der Geſellſchaft bie längit über Euch hinweggegangen ift zu fragen? Wer non ber Gefellfchaft nichts mehr will, hat nicht mehr von ihr zu fürchten. Das Grab günnt Jeder und. Dudmäufer Ihr! Was horcht Ihr noch immer auf Beifall und Ziſchen der Gefellfchaft?

Wenn Ihr Luft und Kraft dazu habt, fo radelt, reitet, ſchwimmt, entdedt auf Reifen neue Schönheiten, neue Welten. Ein ſechsundſiebenzig⸗ jähriger berühmter englifcher Arzt erzählt von feinen langen Kamelritten durch die Wüfte. Vielleicht könnt Ihr ftark wie diefer Arzt werden und, wie er, auf Kamelen durch die Wülte reiten. Laßt Euer weißes Haar, wenn

Ihr es Habt und es Euch bequem ift, frei um das Haupt wallen. Mifcht

Euch unter die Lernenden. Beinahe fommt es mir lächerlich vor, daß Ihr Euch ſchämt, noh nah Willen zu trachten, al3 wäre dag Abfterben ein lieblih ernftes Gefchäft, das zu hemmen indezent wäre. Ein Baunt, aud wenn er all feine Früchte hergab, lebt fort, prangend in der neuen Schöns heit herbſtlichen Laubes, bi er am Winterfroft ftirbt.

Ich kenne cine dreiundiiebenzigjährige Greiſin, die anfängt, Lateiniſch zu lernen; freilih nimmt fie den Unterricht in einem entlegenen Papillon ihre8 Parkes, damit Fein Laufcher ihren Frevel erfpähe. Eine Andere fenne id: als Die merkte, daß Worte und Ausdrüde für Das, was jie fagen "wollte, ihe zu fehlen anfingen, geftattete fie den Gehirnnerven dieſes Er: fehlaffen nicht ohne Weiteres. Wie ein Kind ſich übt, Sprechen zu lernen, fo übte fie fich, e3 nicht zur verlernen. Sie hielt ih Monologe, Vorträge; mit feiner Kunſt feffelte jie ihr fliehendes Gedächtniß, erſetzte es zum Theil

30 Die Zutimit.

dur eine mufterhafte Ordnung. Sie fchrieb ein Tagebud, um sich über ihre Geiftesverfaffung Rechenfchaft zu geben. Und fie brachte e8 zu erftaun- lichen Erfolgen.

Klagſt Du, Alte, daß die Menfchen nicht8 mehr von Dir willen wollen? Und wollen die Irdiſchen, meift Allzuicdifchen nichts mehr von Dir wifien: e8 giebt Ueberſinnliches. Bade die Seele im Mondlicht der Geilter. Sind nur lebendige Menſchen Freudenbringer? Da ift die ganze holde und wilde Natur mit ihren Geheimnifien und Offenbarungen. Da find die Thiere. Die wiflen nichts von Alter und Häßlichkeit. Die lieben Dich um Deſſen willen, was Du an ihnen thuſt. Da find vor Allem die Toten. Mit ihnen redet man oft befjer als mit den LXebendigen. Durch ihre Werte (eben fie uns. Unerſchöpflich find die Schäge an Geift und Gemüth, die fie bergen. So rede nicht von Einfamleit.

Man hat Di die Zauberſprüche nicht gelehrt, mit denen man dieſe Schäge hebt? Ja: Das ifts.

Die Zukunft wird diefe Rathichläge, die der Gegenwart gelten, nicht brauchen. Glich bisher das Los der alten Frau dem des Abgebrannten, der trauernd auf dem Grabe feiner Habe fauert: muß es fo bleiben? Nein. Die Ueberflüfligteit der gealterten und alten Frau auf die von der Natur gelegten, unüberfchreitbaren Grenzen zu befchränfen, wird eine der Konſe— quenzen der Frauenbewegung fein. Gegen den Zod ift fein Kraut gewachfen; aber gegen den zu frühen Tod des Weibes find viele Kräutlein gewachſen. Das trüftigfte heißt: bedingunglofe Emanzipation der Frau und damit die Erlöfung von dem brutalen Aberglauben, daß ihr Dafeinsreht nur auf dem Geſchlecht beruhe. Gebt der Frau einen reicheren Lebensinhalt, einen Veruf, praftifche oder geiftige Intereſſen, die über bie engere Familie hinausragen, die fie, wenn ſie alt wird, in die große Menfchheitfamilie einreihen, fie durch die Gemeinſamkeit jolcher Intereflen mit dem allgemeinen fozialen Leben verbinden. Stellt tie auf ſich felbft, ftatt immer nur auf Andere Gind die Anderen von ihr gegangen: fie bleibt immer übrig; und ift fich nicht „ibrig.“

Andauerndes Schaffen, fei e8 mit Hand oder Kopf, wird, wie dag Del die Mafchine, ihre Nerven: und Gehirnfräfte elaftifch erhalten und ihr eine geiftige Tanglebigfeit verbürgen weit über die Jahre hinaus, die bisher für fie den Abfchied vom Leben bedeuteten. Unthätigkeit ift der Schlaftrunk, den man Dir, alte Frau, reiht. Trink ihn nicht! Sei Etwas! Schaffen it Freude. Und Freude ift faſt Jugend. Hebwig Dohm.

*

Fur ein Lieutenant. sl

ur ein Sieutenant.

.„ Der Borgefette foll nicht nur durch Be- fehl auf die ihm Untergebenen wirken, fondern auch durch fein Beispiel in Blichterfüllung und Ausdauer bei Anftrengung und Eutbehrung.

Borfchrift der Bengalifchen Armee.

Ep Bid mußte fein Eramen in Sandhurft madjen. Er war ein Genile- man fchon, ehe er im Miilitärwochenblatt ftand; und als die Kaiſerin ver- fündete, daß der Herr Kadett Mobert Hans Wid bei den Tail: Twifter-Hegiment in Krab-Bofhar als Unterlieutenant angeftellt fei, war er Offizier und Gentleman zu: glei, ficher alfo fehr beneidenswerth. In der ganzen Familie Wid war große Freude. Mama Wi und alle Heinen Wicks fielen vor Bobby auf die Knie und ftreuten dem Helden Weihraud).

Papa Wil war einft oberfter Verwaltungbeamter im Diftrift der Chota- Buldana-Divifion gewefen; durch viele zwedmäßige Einrichtungen batte er für das Wohl des Landes und feiner drei Millionen Einwohner geforgt und fein Beftes ge- tan, um überall da zwei Grashälmden wachen zu laffen, wo früher nur eins Hand. Davon wußte in dem Heinen englischen Städtchen freilich fein Menſch Etwas; er war eben nur der „alte Dir. Wick“ und Niemand dachte daran, daß er neben- bei auch Inhaber eines indischen Ordensfterns war. Er Hopfte Bobby auf die Schulter und fagte: „Das haft Du gut gemacht, mein Sohn!“

Da die Uniform ſchon vorher beftellt war, fo folgten jetst Tage der reinften Treude, denn Bobby nahm in den von Damen überflutheten Tennispartien und Theeſchlachten des Städtchens feinen verbrieften Rang als wirklicher „Herr” ein; und ich darf wohl fagen: hätte fein Equipirung-Urlaub noch länger gedauert, dann hätte er fich in mehrere junge Mädchen zugleich verliebt. Kleine Yandftädtchen find immer voll von niedlichen Mädchen und die jungen Yeute fahren gern aufs Land, um dort ihr LTebensglüd zu juchen.

„sn Indien“, fagte Papa Wid, „iſt noch Etwas zu holen. Ich war dreißig Jahre lang drüben und würde, weiß Gott, ganz gern noch einmal wieder hingehen. Wenn Du zu den Tail-Zwilters fommft, bift Du wie zu Haufe, denn den alten Wick von Chota-Buldana hat noch Keiner vergeffen und deshalb werden mohl alle Leute freundlich zu Dir fein. Die Mutter fann Tir noch mehr darüber erzählen als ih; aber Eins vergiß nicht: Halte feft am Regiment, BobEy, -- bleib beim Regiment! Du wirft nod) fennen lernen, wie fid) Alle nad) dem Generalftab drängen, wo fie Gott weiß welchen Dienſt erlernen, nur feinen Frontdienſt. Dich wird eg vieleicht auc) reizen, den Anderen zu folgen. Aber fo lange e8 nad) Deinem eigenen Willen geht und ich habe ihn Dir ja jetzt Mar gemacht —: bleib in der Front, ur in der Front und immer im der Front. Sieh Dich vor und laß Dich nicht

- Duerfchreiben mit anderen dummen ungen ein und fomme mir nicht eines hönen Tages mit der Meldung, Du habeft Tich in eine Frau verliebt, die zwanzig Yahre älter ift al8 Du. So. Das ift Alles.“

Dit diefen Nathichlägen und mehreren anderen von gleicher Wichtigkeit jtärfte

a Wid feinen Bobby, bis fchlieglich die leßte, ſchreckliche Nacht in Portsmouth

1, wo die Offiziersquartiere viel mehr Bewohner hatten, als nad) den Beftimmungen

32 Die Zukunft.

erlaubt war, und wo die Scifisleute fih vor der Maſſe von Transportmann- haften gar nicht retten fonnten; e8 war ein wildes und lautes Hin und Her vom Werft:Thor bi8 zu den Gafjen von Fongport; das Weibervolt von Fratton kam zum lleberfluß auch nod) dazu, um den Offizieren der Königin das Geficht zu zerfragen.

Bobby Wid kam aud nicht ohne eine gehörige Schmarre auf feiner fommer- iproffigen Nafe davon und mußte nun feine fhon im Voraus feefrante Mannſchaft ins Schiff manöpriren, wobei er als Zugabe fünfzig höhnende Frauenzimmer um fih verfammelt ſah; Zeit zum Heimweh hatte er dabei nicht, bis die „Malabar” die Mitte bes Kanals erreicht hatte, und auch dann noch beftanden feine Regungen darin, ein Bischen bie Poften zu revidiren und einen Anfall von Seekrankheit zu ertragen.

Die Tail⸗Twiſters waren ein ganz befondered Regiment. Wer fie nur von Weitem kannte, fagte, daß mit ihren. nicht gut Kirfchen effen fei. Ihre inneren Verhältniſſe beruften zum größten Theil auf Gunftwirthichaft. Bor etiva fieben Jahren hatte der damalige Oberft einmal in vierzehn furdhtlofe Augen von fieben ſtrammen Lieutenants geblidt, die gerade wie die Kirchenlichter daftanden und ſämmt⸗ lih in den Generalftab wollten. Da hatte er ihnen aber geantwortet, er fei ein Oberft von ber Truppe und wolle in des Dreiteufels Namen feine verflirte Kinder- fube von zweimal verflirten Diilchflafchenlutfchern fommandiren, die doch nur Blei- joldaten-Sporen trügen. Er war ein rauher Mann. Deshalb griffen die Abgeblitzten zur Lift und nahmen den Spott der Öffentlichen Meinung zu ihrem Werkzeug gegen ben Oberften; fie fetten das Gerücht in Umlauf, junge Leute, die das Tail-Tmwifter- Regiment als Sprungbrett zum Generalftab benußen wollten, hätten manche harte Prüfung zu erdulden. Und dabei hat doc ein Regiment eben fo viel Recht auf Mahrung feiner Geheimniffe wie eine Frau.

Als Bobby von Deolali aus bei den Tail:Tmwifters angefommen war und fich nothdürftig eingerichtet hatte, wurde ihm zunächſt, höflich, aber beſtimmt, klar gemacht, daß fortan das Regiment fein Vater, feine Mutter und fein unlöslich an- getrantes Eheweib fei und daß es kein fchmereres Unrecht unter dem weiten HimmelS- zelt gebe als das: dem Negiment Schande zu bereiten; dem Megiment, das beffer- als alle anderen jchieße und firammıer ererjire, das flottefte, tapferfte, berühmitefte und überhaupt in jeder Beziehung das befte Regiment in allen vier Himmels— rihtungen des Kompaſſes fei. Sämmtliche Raritäten des Kaſinos wurden ihm er⸗ klärt, von den großen, grinſenden goldenen Götzen aus dem Sommerpalaſt von Peking bis zu der mit Silber verzierten Schnupftabakdoſe aus Horn, einem Ge- ichent des letzten Kommandeurs, des felben, der mit den fieben Lieutenants die Ausfprache hatte. Und jede der Gefchichten erzählte ihm von Kämpfen ohne Furdıt und fremde Hilfe, von Freundſchaft zu Katholiten und Wrabern, tief wie bie See und feft wie der Tritt der Refervecompagnie, von Auszeichnungen, um die hart ge. rungen werden mußte, und von dem völligen Aufgehen im Regiment, das von jedem Einzelnen daS Yeben fordern kann und das ewig leben möge, Hurrah!

Er fam mandmal aud) in dienftliche Berührung mit der Negimentsfahne, die auf ihrer abgelauten Stange ausjah wie das Hutfurter eines Maurers. Bobby fniete nicht vor ihr nieder und betete fie auch nicht an, weil engliſche Fientenants dazu feine Anlage haben. Wenn fie ihn aud mit Ehrfurcht und anderen edlen Empfindungen erfüllte, fhimpfte er innerlich doch über ihr Gewicht.

Das Schönfte war aber doch, wenn die Tail⸗Twiſters an einem frifchen

ur ein Lientenant. 33

Novembermorgen zu einer Uebung ausrüdten. Chne die Ablommandirten und Kranken war das Regiment 1080 Mann ſtark; und Bobby war Einer davon. Denn jetzt gehörte er doch als Lieutenant der Front an, nur der Front und immer der Front, wie das Stampfen von zweitauſendeinhundertundſechzig feften, Friegsbraud- baren Stiefeln bezeugte. Er würde nicht mit Deighton von der reitenden Batterie getaufcht haben, der dod nur immer mit Hüh! und Hott! in einem Haufen Staub herumguirhie; auch nicht mit Hogan-Yale von den Weißen Bufaren, der feine Schwadron felbft auf Koften einiger Hufeiſen gegen Alles führte, ‚was ji) nur einigermaßen lobnte; auch nicht mitt Tick Boileau, der nur jeinen abicheulich bfauen und goldenen Turban zeigen wollte, wenn die Bengalifch n Reiter auf ihren Wespen hinter den trägen Walers der Weißen Huſaren herfegten.

Tas Gefecht 309 fid) faft den ganzen falten und klaren Tag über hin und Bobby fühlte eine Meine Gänfehaut den Rüden berimterlaufen, wenn er das Krachen der Salven und das Tinkel-Tinkel Tinfel der leeren Patronenhüljen börte, die aus. dem Schloß jprangen; denn er wußte, daß er dieſes Geräufch eines Tages im Ernft hören würde. Zum Schluß kam ein glorreiher Angriff quer über den Platz, die Batterien fnallten zur größten Wuth der weißen Hufaren auf die Kavallerie und die Tail-Twifters jagten ein Sikh Regiment vor ſich ber, bis die langen, dürren Singh3 vor Ermüdung umfielen. Bobby) war fhon lange vor der Dlittags- zeit hungrig und durflig geworden; aber die Schlacht hatte ihm doch begeijtert.

Nach der Rückkehr hieß es wieder zu Füßen jenes Gebieters des Herrn Compagniechefs fien und dem dunkelften aller dunklen Geheimniſſe lauſchen: der Kunft, die Leute zu behandeln.

„Wenn Sie dafür nicht das richtige Gefühl haben“, fire Revere zwiſchen den Wolfen feiner Pfeife hervor, „werden Sie auch nichts erreihen. Denn über Eins müffen Sie ſich Har werden, Bobly; wenn auch der Drill beinahe Alles aus» macht: bis zur Hölle, an einem Ende rein, am anderen Ende wieder raus, folgt ein Regiment doc nur einen Manne, der die einzelnen Kerls von der richtigen Seite anzufajjen verfteht, je nachdem es Hundelerls, Schafsferld oder Schweinekerls find,

„Na, Dormer, zum Beifpiel, gebört dody zu den Schafsferis“, meinte Bobby; „er ſtiert immer wie eine franfe Eule.“

„Da irren Ste, mein Sohn; Tormer ıft fein eigentlicher Schafskopf, aber ein gräßlich ſchmieriger Soldat und vor jeder Yumpenparade reicht der Stuben» ältefte Dormers Strümpfe zum öffenſlichen Gaudium herum. Dormer, zu drei Vierteln Ihrer, verfriccht id) danır in cine Ede und heult.“

„Woher wiſſen Sie das Alles?” fragte Bobby bewundernd.

„Ein Compagniehef muß ſich um folche Sachen kümmern; wenn ers nidt thut, paffırı IKord und Totſchlag vor feiner Naſe, ohne daß er es weiß. Dormer wird ja gebänielt, aber er fühlt es durd) jein dickes Fell nicht hindurch; er hat ſich ganz aufs Trinken gelegt. Bobby, wenn Einer fo weit ift, daß er nur noch an das Trinken denft und fid) dadurch ſelbſt abftumpit, dann ift es Zeit zum Eins jreifen, um ihn aufzurütteln.“ \

„aber mie foll man denn eingreifen? Man kann ded) nicht fortwährend den Yeuten auf dem Fell ſitzen.“

„ein; die Yeute würden Ihnen auch riefig ſchnell begreiflich machen, wie “enig fie jo was lieben.”

31 Die Zuknnft.

Der Tyahrıen- Sergeant trat mit einigen Schrififtücen ein. Während Revere die Sachen durchlas, hatte Bobby Zeit, nachzudenken.

Dann fragte er, mit dem Geſicht eines Menſchen, der eine unterbrodhene Unterhaltung fortjegen möchte, den Sergeanten: „Iſt Dormer ein fchlechter Kerl?“

„Rein, Herr Lieutenant; er thut ftetS feinen Dienft,“ antwortete der Eer- geant; und da er gern viel redete, fuhr er fort: „Ein ſchmutziger Kerl iſt er und für neue Sachen von der Kammer der ıeine Berderb. Er ift ganz voll Schuppen.”

„Schuppen? Was für Schuppen?“ |

„Fiſchſchuppen, Herr Lieutenant; er mwatfchelt immer im Moraſt am Fluß herum und fchabt den Fifchen, die er fängt, die Schuppen mit dem Daumennagel ab.” Revere war immer nod bei den Compagnie- Papieren und der Sergeant, der fid) gern mit Bobby unterhielt, fuhr fort: „Für gewöhnlich geht er zum Angeln, wenn er ſich Einen gefauft bat, und e8 heißt, je betrunfener er it, um fo mehr Fiſche fängt er. In der Compagnie nennen jie ihn den Dredfifcher.“

Revere unterfchrieb das letzte Blatt und der Sergeant ging.

„Iſt Das ein ſchmutziges Vergnügen!” meinte Bobby bei ſich ſelbſt; und dann fagte er laut zu Revere: „Haben Sie wirklich fo viel Plage mit Tormer?”

„Es geht. Sehen Sie mal, er ift nie fo krank, daß er ins Lazareth geſchickt werden könnte, und nie fo betrunfen, daß er von ſelbſt hinläuft. Meift ift er mürriſch und brütet vor fid, hin. Er ift immer mißtrauiſch, wenn man fi) mit ihm abgiebt; ich habe ihn nur einmal mit zum Schießen herausgenommen, er hat aber nichts getroffen; nur mich Hat er angefchoffen.”

„sh werde fiichen gehen,” fagte Bobby; „ich miethe mir ein Boot und fahre den Fluß herunter, von Donnerftag bis Sonntag, und der liebenswürdige Dormer fonımt mit, wenn Sie ung Beide beurlauben wollen?“

„Was doch diefe jungen Yeute für komiſche Einfälle haben,” fagte Revere; aber fein Herz war eigentlich voll freundlicher Anerkennung.

Donnerftag früh fuhr Bobby als Kapitän einer Dhoni mit dem Gemeinen Dormer als Matrofen flußabwärts. Der Gemeine vorn am Bug, der Herr Lieutenant am Steuer. Dormer ftierte etwas ängftlih auf den Vorgefebten, der wiederum der Zurückhaltung des Gemeinen die gebührende Achtung zollte.

ad) ſechs Stunden ging Dormer auf den Steuerfig zu und ftand ſtramm: „Derzeihen Herr Yieutenant: waren Herr Fieutenant ſchon mal am Durham-Kanal?“

„Rein,“ Tagte Bobby Wid; „kommen Ste mal ber: bier haben Sie mas zu Inabbern.“ Cie aßen fchweigend. Als es Abend wurde, fing der Gemeine wieder an; vor sich hin fprad er: „a, am Durham-Kanal wars, gerade fo eine Nacht; nächſte Woche werden es zwölf Donate.“ Er ftedte ſich feine Pfeife an und fagte bis zur Scjlafenszeit nichts mehr.

ALS die Morgendänmerung wieder aufleuchtete, verzauberte jie das Grau der Uferfirihe in Purpur, Gold und Opal; und felbft die rumplige Dhont, die mitten in den Herrlidhfeiten herumſchaukelte, fonnie den Zauber nicht ftören.

Der Gemeine Dormer ftedte den Kopf aus der Scjlafdede und fah fich die Pracht ringgum an. „Don—ner—mwet—ter!” fagte er in ehrfurchtvollem Flüfterton.

Fir den Neft des Tages war er ſtumm, aber um fo eifriger bei dem ſchmutzigen Handwerk des Fiſche Ausnehmens.

Das Boot kehrte Sonnabend in der Dunkelheit zurück. Von Mittag ab

Nur ein Lieutenant, 35

auälte fih Dormer mit Etwas, das er fagen wollte. Aber erſt, als fie die Angeln und den Fang aus dem Boot geholt Hatten, fand er Worte, "

„Verzeihen Herr Lieutenant“, fagte er: „könnte ih Herrn Lieutenant nicht mal zum Dank die Hand geben?”

„Warum denn nicht?“ fagte Bobby und fehüttelte ihm die Rechte. Dormer ging nad) den Baraden zurüd, Bobby in die Meſſe.

„Er braudt nur etwas Ruhe und Wifche, denke ich,“ fagte Bobby; „aber ein gräßlich fchmieriger Kerl ift er do. Haben Sie ihn ſchon einmal die Fiſche mit dem Daumennagel abjchaben jehen?” .

„Weiß der Henker,“ fagte Revere drei Wochen fpäter: „Dormer thut jetst fein Beftes, um feine Sachen rein zu halten.“

Als der Frühling zu Ende war, betheiligte fi) Bobby aud an ber allge- meinen Jagd nad) Gebirgsurlaub; und zu feinem Erftaunen und Entzüden befam er drei Monate.

„Sp einen Jungen kann man gebrauchen“, fagte fein Compagniechef von ihm.

„Ber Befte von der ganzen Weihe”, fagte der Adjutant zum Oberſten. „Porkiß, diefer junge Tagedieb, follte zurücbleiben und Nevere müßte ihn einmal ordentlich hochnehmen.“

Bobby reifte fröhlich nah Simla Pahar und nahm einen großen Koffer voll neuer Kleider mit.

„Der Sohn von Bid, vom alten Wid von Chota-Buldana? Frauchen, dann mußt Du ihn mal zu Tiſch einladen“, fagten die alten Herren.

„Ein netter Junge”, fagten die Mütter und die Töchter.

„Erftllaffig, diefes Simla, ganz reizend“, fagte Bobby Wick und beftelfte ſich ſchnell ein neues Paar Hofen.

„Hier geht es fehlecht”, fchrieb Revere nad zwei Monaten an Bobby. „Seit Ste auf Urlaub find, haben wir das Fieber bekommen und das Regiment ift reinweg durcdhfeucht davon. Zweihundert Kerle im Lazareth, über hundert in den Zelten. Alles trinkt, um fein Fieber zu kriegen. Zum Ererziren kommen die Compagnien zu fünfzehn Rotten. Ich kann kaum mehr für alle meine Kranken in den Außen- dörfern forgen. Am Liebſten möchte ich mich felbft aufhängen. Was iſt denn an dem Gerücht, daß Sie einer Miß Haverley den Hof machen? Hoffentlich nicht Ernft. Sie find ja viel zu jung, um fidh fo ſchwere Ketten anzulegen, und der Oberft würde Sie fchleunigft von dort zurüdholen, wern Sie es verſuchen wollten.“

Nicht der Oberft, ſondern ein viel höher zu refpeltirender Kommandant brachte Bobby von Simla zurüd, Die Krankheit hatte in den Außendörfern um fich ge- griffen, das Bazarfeft mußte aufgefdhoben werden; und dann fam die Nachricht, daß die Tail⸗Twiſters ins Lager gehen müßten. Befehle ſchwirrten nad) den Gebirgs- ftationen: „Cholera!” „Urlaub aufgehoben!” „Offiziere zurüdfehren!” Ach, die Glaceehandſchuhe in dem niedlich geftidten Käſtchen, die Spazirritte, die Bälle un die Picknicks, die noch alle auf dem Programm ftanden, die halb erklärte Liebe und die ganz umbezahlten Rechnungen! Ohne Murren und ohne Tragen, fchnell wie die Tonga-Poft fuhr oder ein Pony galoppirte, eilten die Offiziere zu ihren Regi— mentern und Batterien zurüd, als ob es zur Hochzeit ginge.

Bobby erhielt den Befehl, als er gerade von einem Ball in der Billa des Bicelönigs zurückkehrte, wo er. .. Doc nur das Haverley: Mädchen weiß, mas Bobby

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36 Die Zukunft.

geiagt und um wie viele Walzer er für den nädften Ball gebeten hatte Der nächſie Morgen ſah unferen Bobby ſchon, troß firdimendem Regen, bei ber Tonga⸗ Poſt, die wirbeinde Dlelodie des letzten Walzer noh im Chr und im Sinn die Schmerzen Iindernde Pflicht, nicht weinen und nicht walzen zu dürfen.

„Alter Junge“, rief Deighton von der reitenden Batterie durd; die Dämmerung, „fahren Sie auch mit diefer Pott? Dann fahren wir ja zufammen. Oh weh! Ich glaube, ich habe anderthalb Köpfe! Die Situng hat die ganze Nacht über gedauert. Es wurde mir erzählt, mit meiner Batterie flehe es äußerft ſchlecht. Steigen Sie ein, Bobby! Vorwärts, Kutfcher!“

Bei der Umballa-Station warteten Offiziere, die fich über die letzten Nach⸗ richten von der betroffenen Garnifon unterhielten, und Bobby erfubr hier den wirk⸗ lichen Zuftand feiner TailTwiſters.

„Sie find ins Lager gegangen“, fagte ein alter Diajor, der von den Whift- tiichen in Muſſoorie zu einen Franken Eingeborenen-Regiment gerufen war; „fie find ing Lager mit 210 Kranken auf Wagen gegangen; 210 Fieberfälle allein. Sie fehen aus wie die Geifter mit hohlen Augen. Die fchlanfen Kerls eines Madras⸗ Regimentes hätten durch fie hindurch marſchiren können.“

„Aber fie waren dod Alle noch jo munter und lebendig, ols ich wegging!”

„Beſſer wärs, fie wären munter und lebendig, wenn Sie wiederlommen“, fagte der Major grob.

Bobby preßte die Stirn gegen die vollgeregnete Fenſterſcheibe, als der Wagen anfuhr, und betete für die Gefundheit der Tail-Twiſters. Auch die Naini-Tal⸗ Station hatte in aller Eile ihr Ilrlauberfontingent zu Thal gefdhidt; die ſchaum— bededten Ponies von Dalhouſie-Road trappelten mit ihren letten Kräften nad Pathankot hinein, während vom nebeligen Darjiling die Kalkutta-Boft die Iegten Nachzügler der Heinen Armee aufwirbelte. Sie jollte nun einen Strauß ausfechten, bei dem weder Medaillen noch Ehren zu holen waren, gegen einen tummen Feind: - die fchredliche Krankheit.

In der Garnifon war jedes Regiment und jede Batterie auf der Flucht, denn Seuche iſt ein jchlimmer Gefelle, und Jeder kümmerte fi) nur um fi, fo dag Bobby feinen Weg allein gehen mußte.

Er kämpfte fi) durch den Negen zu der provtforiihen Meſſe der Tail- Twiſters; und Nevere wäre vor Freude, das liebe Geſicht mit den Sommerfproffen wiederzufeßen, dem Jungen beinahe um den Hals gefallen.

„Sie müſſen die Yeute wieder aufinuntern,“ faate Revere; „die Armen baben ſich nach den eriten beiden Fällen in ihrer Dummheit aufs Irinten gelegt. Tas it ihnen nicht ausjureden. Gut, daß wir Sie wiederbaben, Bobby. Mit Porkiß iſt nicht viel anzufangen.”

Teigbton kam vom Artillerielager herüber und madjte ein trauriges Mittags— maol in der Meſſe mit; zur allgemeinen Niedergeſchlagenheit ſteuerte er dadurch bet, daß er fait über den traurigen Zujtand feiner geliebten Batterie weinte. Porkiß leiſtete ſich die Erklärung, die Offiziere könnten dabei doch nidyt3 ausrichten und es ſei das Vernünftigſte, das ganze Regiment ins Lazareth zu ſchicken und die Doktoren nach den Leuten ſehen zu laſſen. Porkiß ſtarb faſt vor Angſt und ſein Geiſteszuſtand wurde auch nicht beſſer, als Revere ganz kalt ſagte: „Wiſſen Sie, wenn Sie ſo denken, dann iſt es beſſer, Sie gehen möglichſt bald fort. Irgend

Nur em Lieutenant. 37

eine Schule könnte uns fünfzig gute Leute für Sie fchiden; aber es fordert Zeit, Geld und einen gewilfen Aufwand von Arbeit, ein Regiment auszubilden. Wir find wohl nur Ihretwegen ins Lager gegangen?“

Trotzdem blieb Porkiß von feiner Furcht weiter befeffen; und der ſtrömende Regen konnte fie auch nicht verringern. Zwei Tage fpäter ging er von diefer Welt in eine andere über, wo nad) Menfchenhoffen auf die Schwächen des Fleiſches Rüdfiht genommen wird.

Mürriſch blidte der Feldwebel des Regiments durch das Sergeanten⸗-Meß- zeit, af8 die Nachricht kam.

„Da geht der fchlechtefte von ihnen,“ fagte er; „nun holt e8 noch den beiten: dann iſts aus mit der Krankheit.“

Die Sergeanten fchriegen; dann fagte einer: „Nein, Er darfs nicht fein“; und Alle wußten, wen Travis mit „dem beiten” gemeint hatte.

Bobby lief durch die Zelte feiner Compagnie, tröftete und ſchalt (jedod) unr in den Grenzen der Vorſchrift) und munterte die Zaghaften auf; jeine Stimme war wie dad Sonnenlicht, das manchmal, allerdings nur verbfiftert, durch den Regen ftrahlte, wenn er fic bat, guten Muths zu fein: ihre Leiden würden nun bald enden. Auf feinem dunflen Bony zudelte er rings um das Aufßengatter des Lagers, um die Leute aufzuhalten, die mit dem angeborenen Unverftand bes britifchen Soldaten immer gerade in die verfeuchten Dörfer fpazirten oder fih aus den überſchwemmten Moräften fatt trinken wollten; die Geängfteten rüttelte er mit energifchen Worten auf und mehr als einmal faß er bei einem Sterbenden, der ohne Freund war und feinen Landsmann Hatte; er organifirte mit der Hilfe von Kaffern-Banjos und angebrannten Korlen einen Neger-Sing-Sang, wobei die Talente des Regimentes ſich zeigen fonnten und gewöhnlich die neuften Gaffenhauer verzapft wurden.

„Ste find fo viel werth wie ein halbes Dutend von uns, Bobby“, fagte fein Chef, als ihm einmal feine anerlennende Freude überlief; „wie, zum Teufel, machen Sie Das eigentlich?“

Bobby antwortete nicht; aber wenn Revere in die Brufttafche ſeines Lieute— nants gejehen hätte, würde er dort ein Päckchen undeutlich gekrigelter Briefe ge- funden Haben, die ihm von der Macht des jugendlichen Herzens erzählt hätten. Bobby, befam jeden zweiten Tag einen Brief; die Rechtſchreibung war zwar nicht ohne Tadel, der Inhalt aber muß wohl immer recht zufriedenftellend geweſen fein, denn Bobbys Augen leuchteten über jedem Brief und er verfiel, wenn einer kam, immer für eine Weile in ein füßes Träumen. Dann fchüttelte er feine geftugten Loden und madıte ſich von Neuem an die Arbeit.

Woher er die Macht nahm, mit der er die Herzen der rauheflen Krieger und die Tail⸗Twiſters hatten wirklich recht ungefchliffene Diamanten in ihren Reihen beberrichen Lonnte, war fomwohl für feinen Hauptmann als auch für den Herrn Dberiten ein Räthſel. Der Regimentspfarrer fagte ihnen nur, daß in den Lazareth- zeiten fehr viel häufiger nach Bobby gefragt werde als nad Sr. Ehrwürden Herrn Sohn Emmery.

„Die Leute fcheinen Sie gern zu haben. Sind Sie viel bei den Kranken?“ fragte der Oberft, der feinen täglichen Rundgang machte und dabei in einem grim: migen Ton, der aber jeine innere Betrübniß nicht ganz verbergen konnte, die Yeute anſchnauzte: fie follten ſichs gut geben laſſen.

38 Tie Zufunft.

„Ich gehe nur manchmal zu den Kranken“, fagte Bobby.

„Würde an Ihrer Stelle nicht zu oft dahin gehen. Soll ja nit anfledend fein; aber es hat feinen Zweck, fi unnüt einer Gefahr auszufeken. Und was follen wir machen, wenn Sie fid) legen? Berftanden?!”

Sechs Tage fpäter watete dev Poftbeamte nur unter den äußerften Schwierig- feiten mit den Poftfäden nad) dem Lager hinaus, denn ber Regen fiel in Strömen. Bobby bekam einen Brief und nahm ihn mit in fein Belt; und ba das Programm für den Sing-Sang der nächften Woche ſchon ziemlich fertig war, machte er ſich dran, zu antivorten. Cine ganze Stunde lang kritzelte die Feder ungeſchickt über das Papier, und wenn einmal feine innerfien Gefühle über Normal-Nul ftiegen, ſteckte Bobby die Zungenſpitze heraus und ftöhnte heftig. Er war an das Briefichreiben nicht recht gewöhnt.

„Berzeihen Sie, Herr Pieutenant“, fagte eine Stimme am Zeltausgang: „Tem Dormer gehts fehr fchleht und die Doktor haben ihn aufgegeben.”

„Laß mic mit Deinem Dormer zufrieden“, fchalt Bobby, fuhr aber mit dem Löſchblatt über den halb vollendeten Brief. „Sag’ ihm, ich würde morgen kommen.“

„Herr Lieutenant, es geht ihm aber wirklich furchtbar ſchlecht“, fagte eine zögernde Stimme, während ein Paar ſchwerer Stiefel unentfchieden hin- und hertrampte.

„Na ja, und?“ fragte Bobby ungeduldig.

„Herr Lientenant nehmen es hoffentlich nicht übel: aber er fagt, e8 würde beifer, wenn der Herr Lieutenant mal zu ihm kämen.“

„Na, dann kommen Sie mal erft aus dem Regen heraus und warten Sie hier drin, bis id) fertig bin. Was Ihr Einem für Scherereien macht! Hier ift Prandy, trinten Sie; Sie könnens braudien. So, nun faffen Sie bier an den Steigbügel, und wenn der Pony zu ſchnell geht, dann fagen Sies.“

Geſtärkt durch einen Vier- Finger: Nipp, den fie ohne Augenzwinlern bemältigt hatte, konnte die Ordonnanz mit dem glitfchenden, von Schmutz bededten und äußerft verärgerten Pony Schritt halten, der fi) zum Lazarethzelt ſchleppte.

Dem Gemeinen Tormer ging e8 wirflih „furchtbar ſchlecht“. Er war dicht vor dem Zuſammenbruch der Lebenskräfte und fein Landsmann war da, der fid) um ihn kümmerte. 5

„Aber Dormer, was madyen Sie denn?” fagte Bobby und beugte fich über den Dann. „Gehen Sie gar nicht mehr filhen? Ich dachte, wir wollten noch öfter3 zufammen angeln.“

‚Dorner bewegte die blauen Pippen und flüfterte mie ein Geiſt: „Ich bitte Herrn Yieutenant um Verzeihung, wenn id) Sie jet ftöre, aber fünnte ich Herrn Lieutenant nicht einmal die Hand geben?‘

Bobby jette fi neben das Bett. Eine eisfalte Hand legte ſich wie ein Schraubftod in die feine und drüdte dabei am Heinen Finger einen Damenring tief in das Fleiſch. Bobby biß ſich auf die Tippen und wartete, während das Waſſer von feiner durchregneten Kleidung heruntertropfte. Eine Stunde verrann, aber der Drud der Hand ließ nicht nad) und der Ausdrud in dem verzerrten Ge» ſicht des Kranken änderte ſich nicht. Bobby ſteckte fich einen Leuchter mit der linken Hand an, da der rechte Arm bis zum Ellenbogen abgeftorben war, und bereitete fid) auf eine ſchmerzvolle Nacht vor.

Die Morgendämmerung zeigte das fehr weiße Geficht eines Lieutenants, der

Nur ein Lieutenant. | 39

am Bette eines Franken Soldaten faß, und einen Poltor, der in der Thür fteben geblieben war und deſſen Ausdrücke eigentlich nicht veröffentlicht werden bürften.

„Sind Sie die ganze Nacht hiergeblieben, Sie junger Efel?“ fragte er.

„Hier oder hier ſo herum“, antwortete Bobby Häglich, „er ift an mich angefroren.“

Dormers Mund fhloß jich mit einem Ruck; er drehte den Kopf und blidte fi um. Die Hand öffnete fih und Yobbys Arm fiel fehlaff an die Seite.

„Er wird wieder werden“, fante der Poltor ruhig, „die Nacht hat ihn noch eiumal hoch gebradt. Zu dem Fall kann man Ihnen gratuliren.”

„Aber ich bitte Sie!“ fagte Bobby. „Ich dachte, mit dem Mann wäre es fchon lange vorbei; ich wollte nur nicht meine Hand fortnehmen. Können Sie mir nicht mal den Arm etwas einreiben? Was der Kerl für einen Griff hat. Ich friere bis ıns Mark hinein”; und fröftelnd ging er aus dem Belt.

Der Gemeine Dormer durfte feine Rettung vom Tode mit Branntwein feiern. Bier Tage fpäter faß er neben feinem Bett und fagte mitleidig zu den anderen Patienten: „For ſolltet auch zu ihm fchiden; ich würde e8 wenigſtens thun.“

Aber Bobby las gerade wieder einen Brief er hatte die regelmäßigfte Korrefpondenz im ganzen Lager und wollte eben antworten, die Krankheit habe nachgelaffen und werde in einer Woche wohl ganz verichwunden fein. Er wollte nicht fagen, daß die Kälte aus eines Franken Diannes Hand ihm durch die Glieder bi8 ang Herz gedrumgen fei, von deſſen Glühhitze er fo oft gefprochen Hatte. Er beabfihtigte, das illuftrirte Programm des nädjften Sing Sangs mitzufchicden, auf das er nicht wenig ftolz war. Er wollte auch noch viele andere Dinge fhreiben, die uns nichts angehen; und fider hätte er3 auch gethan, wenn nicht das abidyeu- liche Kopfiveh und Fieber gemwejen wäre, das ihn mürrifd) machte.

„Sie überanftrengen fi”, fagte der Hauptmann; „überlafien Sie uns jett nur den.feichten Reit, der noch zu thun if. Sie treibın es ja, als ob fie die ganze Meſſe, zu einer Perfon zufammengewidelt, wären. Sie müſſen es fich nicht fo ſchwer machen.“ j

„Sa, ja“, fagte Yobby, „ich werde mid) jet? etwas fchonen“. Revere bfidte ihn ängſtlich an und fagte nichts.

Sn der Nadıt hujchten Yaternen dur das Yager und eine meifmürdige Unruhe trieb die Yeute aus den Zelten. Nadte Füße von Bahrenträgern hörte man patichen und gar ein Pferd galoppiren.

„Bas giebts?“ fragte es aus zwanzig Zelten; und durd) zwanzig Zelte Tief die Antwort: „Bobby Wick liegt krank.“

Auch Revere erhielt die Nachricht und ſeufzte. „Tan es gerade Bobby treffen muß! Der Feldwebel hat ſchon Recht gehabt.”

„Neun ba'te ich doch nicht b18 zu Ende aus“, jammerte Bobby, als er von der Yahre geboben wurde; „mun halte ich doch nicht bis zu Ende aus!“ Dann, mit dem Ausdrud innerjter lleberzeugung: „Ich kann aber wirklich keinen Dienſt mehrthun.“

„Sollen Sie vorläufig auch gar nicht“, ſagte der Oberarzt, der ſchleunigſt aus der Meſſe herüber gekommen war.

Er und der Regiments-Chirurg kämpften zuſammen um das Leben von Bobby Wick. Ihre Anordnungen wurden von einer ſtruppigen Geſtalt in einem blau⸗weiß geſtreiften Lazarethmantel geſtört: der Mann ſtarrte mit ängſtlich auf— geriſſenen Augen auf das Bett und ſchrie: „Mein Gott, laß ihn nicht ſterben!“ Bis eine Lazareth Ordonnanz ihn bit Seite ſcheb.

40 I Die Zukunft.

Wenn Menſchenſorgen und Menſchenwünſche irgend Etwas vermocht hätten, wäre Bobby geſund geworden. Er kämpfte drei lange Tage hindurch, bis des Oberarztes Stirn ſich glättete. „Jetzt wird er wieder geſund“, ſagte er; und der Chirurg wurde, obwohl er fi mit feinem Vorgefegten gezankt hatte, frohen Muthes, ging nad; diefen Worten hinaus und ftoßzirte freudig dur den Schmutz.

„Ich hätte doch fo gern bis zu Ende durchgehalten,“ wisperte der artige Bobby Wid am Ende des dritten Tages.

„Bravo!“ fagte der Oberarzt; „fo mülfen Sie das Ding anfehn.” Aber als der Abend Lam, legie fi ein grauer Echaiten um Bobby8 Tippen und er drehte den Kopf müde nad) der Zeltwand. Der Cberarzt runzelte die Stirn.

„Ich bin fchrediid; müde”, fagte Bobby fehr ſchwach; „warum quälen Sie mid) mit der Medizin? Ich kann ſie dody nidyt mehr gebrauchen. Laſſen Sie mich allein,“ Der Wunſch, zu leben, war plötzlich verſchwunden. Bobby war zufrieden, in die ruhigen Gefilde des Todes zu reiſen.

„Das iſt nicht gut“, ſagte der Oberarzt; „er will nicht mehr leben, er kommt dem Tode entgegen, armer Junge!“

In einer Entfernung von fünf Minuten ſpielte die Regimentekapelle die Duverture des Sing- Gang; denn den Yeuten hatte der Chirurg gelagt, Bobby fet außer G.fahr. Tas Brummen des Baſſes und das Stlagen der Hörner erreichte Bobbys Ohr: Sie fpielten einen Walzer. Der Ausdrud hoffnunglofem Wehgefühls zeigte fi auf Bobbys Geficht. Er verfuchte, den Kopf zu ſchütteln.

Der Oberarzt beugte fid) über ihn. „Was denn, Bobby?“

„Richt diefen Walzer! Das war unfer letter, unfer allerletzter ... Mutterchen!“

Mit dieſen dem Oberarzt unverſtändlichen Worten ſank er zurück und ver⸗ fiel in Theilnahmloſigkeit. Am nächſten Morgen war er tot.

Revere ging mit rothen Augen und weißer Naſe in Bobbys Zelt und ſchrieb dort an Papa Wick einen Brief, der dein weißen Haupt des ehemaligen Verwaltung- beamten von Cho’a. Buldana den bitterften Schmerz feines Lebens bringen follte, Bobbys Heiner Papiervorrath lag auf dem Tifch verftreut, mitten dazwifchen ein halb vollendeter Brief, defien letter Sat lautete: „Du fiehit alfo, wir brauden nichts zu fürchten, Liebling, weil mir nichts paffiren kann, jo lange id) weiß, daß Zu Did) um mid) forgft und ich mich um Dich jorge.”

Mevere blieb eine Stunde lang in dem Zelt; als er heraustrat, waren feine Augen noch röther als vorher.

. Der Geineine Conklin faß auf einem umgeftülpten Eimer, als wieder einmal eine Todesnachricht fam. Er war Rekonvaleſzent und nicht fehr ſchlimm frank gewefen. „Ho!“ jagte er. „Wieder einer von den verfludten Tifizieren tot!“

Sofort flog der Eimer unter ihm fort und er fühlte in feinem Auge Funken wie in einer Schmiede fprühen. Ein großer Kerl in blau-weiß geftreifteın Yazareth- mantel ftand vor ihm und fah ihn voll tiefer Verachtung an.

„Schämft Du Did nicht, Konty? Offiziere, verfludhte Offiziere fagit Du? Ich will Dich lehren, Seinesgieichen zu befhimpfen, Du Lümmel, Zu verfludhter Yümmel!“

Und die Pazareth Ordonnanz war jo einverftanden mit der nun folgenden Strafjuftiz, daß fie zunächft eine Werle wartete und dann erft, um die Ruhe wieder herzuftellen, denn Gemeinen Tormer ins Bett zurückſchickte.

Ariz"ton. 3 Rudyard Kipling.

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Anzeigen. 4l

Anzeigen.

Wilhelm Hauff. Eine nad neuen Quellen bearbeitete Darftellung feines Werdeganges. Mit einer Sanımlung feiner Briefe und einer Auswahl aus dem umveröffentlichten Nachlaß des Dichter. Nebft vier Bildniffen. Scanfiurt a. M., Morig Dieftermeg.

Hauff, als Dichter jo weithin befannt und nod) immer geliebt, hat noch feine eingehende Darftellung gefunden, die den Menjchen alljeitig würdigte und das Werben des Dichters genetiih zeigte. Als Landsmann des Dichters und

Sohn der Stadt, die Hauff in feinem Hauptwerf fo unübertrefflich ſchildert, habe

ich mich berufen gefühlt, ihm eine ſolche Darftellung zu widinen, die num zur

hundertſten Wiederkehr feines Geburtstages erjchienen ift. Nicht nur habe id}

den Schwaben jeinen Schwaben noc näher zu bringen geſucht: es galt mir,

den als Satirifer in feinem erften ernitgemeinten Werk mit einem Deine wett« eifernden Dichter, deſſen Bedeutung mit der Bezeihnung „Jugendſchriſtſteller“ nicht erfhäpft ift und der für E. Th. U. Hoffmanns bedeutenditen Schüler in

Deutichland gelten kann, auch außerhalb feiner engeren Heimath den Deutjichen

aller Stämme menſchlich näher zu rüden und zugleich fein Wirken im literarijchen

Bujammenhang zu zeigen. Ein Dauptverdienft Hauffs bleibt die Kropaganda,

die er für englifche Literatur in Dentichland machte. Ich Habe viel neues Material

zu des Dichters eben herbeibringen und verwerthen können; ich wollte aber fein eigentlich gelehrtes Buch fchreiben, ſondern eins, das jeder Hauffverehter genießen kann. Ich gebe aud die erite Sammlung von Hauffs Briefen und habe ſechs⸗ unddreißig Briefe und Brieffragmente zuſammengebracht. Reich an Ertrag war ferner des Dichters Nachlaß, den Buftav Schwab aus zeitlichen Nüdjichten und aus Unterfhägung der als Do'umente der Entwidelung des Dichters werthvollen

Stüde liegen ließ. Gedichte intimeren Charafterd, Barianten zu den in die

Werke aufgenommenen, insbejondere aber eine Reihe Töftlich humorvoller oder

Harmlos ſatiriſcher Stammbuchblätter Habe ich ans Licht gefördert. Das Humoriftijche

Stubdentenepos ‚Die Seniade” folgt in harafteriftiichen Auszügen. Eine ınerf-

mürdige Ditgattung find die Zukunftphantaſien, in denen der bellfeheriiche

Boet wie als Ergänzung feines allzu kurzen Qebenslaufes die Zukunft bis ins

Jahr 1902 vorausnimmt und einen merkwürdigen Spürfinn auf dem Gebiet

der Politik und Kulturentwidelung bekundet. Den Kritiker und Meithetifer Hauff

zeigen eine Studie über Walter Scotts Nomane und eine Reihe von Kunt- berichten und Rezenſionen. Dauff war übrigens nah Schiller meines Willens wieder der Erite, der Selbftanzeigen geichrieben hat.

Ulın. Dr. Hans Hofmann.

marck the Founder of Evolution. His Life and work with

anslations of his writings on organic evolution. By Alpheus >». Packard, M. D. LLD. With Portraits and Illustrations pp. XIV—451. Longmans, Green & Co. London and New-Vork.

In zwanzig Kapiteln giebt mein Freund Dr. Packard einen Ichrreichen berbli ither Leben und Thätigfeit Yamards, unter Benutzung von Doku—

49 Die Zukunft.

menten, bie er in Paris geſammelt hat. Padard meint, die allgemeine Anſicht ojzillire noh zwiihen Yamard und Darwin, das Pendel nähere ſich aber jchon Lamarck. Tie Idee der Evolution ſcheint fo alt wie die Kultur zu jein, Uns beitreitbar find ihre modernen Träger Yamard und Darwin. Ein prinzipieller Unterjchied zwijchen ihre Theorien dürfte bei näherer Beleuchtung und in lebter Inſtanz nicht beitehen. Darwins Theorie der natürliden Ausleſe oder Zucht⸗ wahl, verbunden mit dem beitehenden Kampf ums Dafein, ift von Yamard un entdect geblichru und Lamarcks Ideen über den Tyortgang und modus operandi der organischen Evolution fanden damals (1801) feinen Anklang. Es ſcheint vielmehr, dag Yamard dur Euvier (1812) und deſſen Schüler zu Grabe getragen wide, um erit dur Darwin (1858) als jcheintot wieder ans Licht befördert zu werben. Seitdem beherrſchen dieje beiden Geiſter, mit wechſelndem Erfolg, die Meinungen der Anhänger ber Deſzendenztheorie. Darwin ſelbſt erfcheint uns als der größte Sritifer des neunzchnten Jahrhunderts, denn in ruhiger und bejonnener Weije hat er ung eine neue Weltanſchauung beigebradt. Eine Er- Elärung der größeren Erfolge Darwing liegt offenbar zum Theil darin, daß jeine Auffafjung und Lehre auf die Anthropologie im weitelten Sinn belebend gewirkt hat und noch wirkt. Thatſächlich beeinflußt fie jchon in nicht geringem Map unjere ſoziale Anfchauung und fogar unfere Geſetzgebung. Denen, die Lamard richtig Ichägen lernen wollen, jet das Werk Packards empfohlen. Hildesheim. U. Radeliffe Grote. $ Gedichte von Margarethe Beutler. M. Lilienthal, Berlin. Der Aufgabe, dieſem Bud hier ein Geleitwort zu geben, unterziche ic) mid um fo lieber, als aus diefen Gedid ten Wahrhaftigkeit, reiches Erleben, tiefe empfaundene Weibheit, jtolzes Menjchenbewußtjein und ftarfes Formgefühl zu uns ſpricht. Die Gedichte jpicgeln die Entwidelung eines fraftvollen und freien Frauencharakters, vom erjten Mädchenjehnen, duch alle Dual und alles Glück einer großen Liebe Hindurch zur Mutterſchaft. Sie Jind hervorgegangen aus dem perjönlidhen Erleben eines Weibes, das die Feſſeln der Konvention abjchüttelte, um, der Stimme der Schnfucht folgend, unerfchroden den eigenen Weg zu gehen. Die fozialen „Bilder aus dem Norden Berlins“ find Probufte mitempfindenden Beobachtens; und der abjchliegende Cyklus „Schweitern‘‘ ift der Wedruf zur Selbftbefretung, den eine moderne Frau ihren ringenten Schweſtern zuwirft. Für Margarethe Beutlers Geftaltungfähigfeit mag eine Probe jpredjen: Das Ende.

Nun badet ſich in Mittagsgluth die Haide

und athmet faum.

Ich lieg’ im Kraut, die Augen feit gejchloffen,

am grauen Meidenbaum .. . Es hat ein Traum,

ein weißer Traum fi mir ins Herz ergoffen.

Ich träume, träume träume an der Weide '

und jeh’ ein Licht

jo göttlich gut und leschtend niederichweben

urd feh’ ein heimathitilles Angeficht

ich niederbengen zu drm fchlaffen Yeben.

Anzeigen. 43

Da geht ein Klingen durch die Weltenlande, ein Heimathlaut.

Das Leben zittert wie im Frühlingsrauſche

und aus dem ſehnſuchtkranken Auge thaut

ihn eine Thräne, und ich laufche, lauide . .

„Run fei getroft: ich Löfe Deine Bande, Ä

die Flügel Dir, . die mächtigen, die ih Dir einft gegeben,

und nchme Did nun wieder bin zu mir.”

So ſprach der Gott zu dem erlöjten Leben.

Ein Fittigraufchen ſchlug zur ewigen Sonne; und unten, tief, da 309, von grauen Nebeln rings ummoben, die Erde ihre Bahn; und Alles fchlief auf ihr und fchlief und ſchwieg und war geitorben. Friedrichshagen. Erich Mühſam. *

Suchende Seelen. Hermann Seemann Nachfolger, Leipzig 1902.

In jeder dieſer drei Novellen iſt eine „Suchende Seele“ geſchildert, die

im verwirrenden Chaos dieſes Lebens mit bangem Flügelſchlag angſtvoll das Freie, das Lichte ſucht. „Wohin ſoll ich mich wenden, wenn Gram und Noth mich drücken?“ fingt ein altes geiftliches Lied. Wo führt der Weg aus all der Bethörung? Führt er zum jonnigen Sieg oder in den Abgrumd hinunter? Das Leid, das Fleine, armjälige Menfchenleid, ein Nichts im großen Weltenſchmerze, es kann uns doch überwältigen und zu Boden werfen; wie es mit den arınen Seelen der erften Novelle gefchieht, die.den Weg zum Licht nicht mehr finden. Oder die Komoedie ded Lebens, die Burlesfe ſtellt und ein Bein und verführt uns zur läderlichen Poje, zur verlogenen Nolle, die wir in gutem Glauben ipielen, um uns mit tiefer Scham cine Tages bewußt zu werden, wie fehr wir die Wahrheit, das heilig Echte, das in den Dingen ruht, mit unferem cigenen Leib parodirten. Das ift der rafende Ajax, der mit feurigem Kriegeifinn Kälber und Kühe erjchlägt, in denen er jeine Feinde ficht, und den Edred und Scham übermannen, als ihm die Götter den Wahnfinn nehmen. Das ift Don Quixote, der traurige Ritter, dejjen Helden- und Minnegluth am Grotesken verpufft. Und Das find im modernen Leben wir Alle mindefteng einmal geweien. Das Yächer: liche lauer: uns auf, es hängt fi an unfere Ferſen, e8 verführt ung zu ſchmach— vollem Selbftbetrug. Bei meinem kleinen Mädchen, das ih in der „Lüge“ zu Hildern verſuchte, ergiebt fih der Ausweg aus der beängftigenden Poſe, in die h das Kind verjtridt Hat, aus jeinen gejunden Inſtinkten und aus dem rich» jen Wort zur richtigen Zeit, dag die ſuchende Seele auf den graden Weg führt. ud der junge Tichter, der in heiger Kriſis an einem enticheidenden Wende— “net jeined Lebens fteht, findet den Weg des Heiles: durch die Tiefe feines ‚lebens, die chen das Merkmal des Dichters iſt. Sucende Seelen: Das jind

= Alle. Und der große Dichter der Lebensangſt, Macterlind, hut cs uns am

44 Die Zukunft.

Beſten gezeigt: da ftehen wir vor düfteren Thoren, in jeltfamen Gängen, in verzauberten Gärten; und mit blaſſen, bebenden Fingern taften wir andentäthjeln... Wien. 5 Grete Meiſel⸗Heß.

Meine Geſangskunſt. Von Lilli Lehmann. Verlag der Zukunft, Berlin.

Ich habe beim Leſen dieſes Buches an Lionardo von Vinci denken müſſen: wie bei ihm hinter dem immer ſieghaften Geſtalter, der, „des Gottes voll“, nur zu ſchenken fcheint, der tiefernfte Denker fteht, der dem philoſophiſchen und tech⸗ niſchen Mechanismus feiner ſtunſt fein ganzes Leben lang nachgrübelt, ſo deckt hier die in Threr Kunſt immer wie zu ſpielendem Sieg ſchreitende Lilli Lehmann das Geheimniß ihres Fünftlerifhen Gottesgnadenthumes auf, und es heikt, wie bei Lionardo, Arbeit, Urbeit an fich felbit und wiederum Arbeit. Ein guter Erfolg des Buches, neben dem bejjeren, den es haben wird, kann der fein, daß e3 recht Viele enttäuscht und entmüthigt. Alle hoffentlich, denen Die Bühne das leicht zu erkletternde Sprungbrett deucht, von dems ins jchillernde Reid Amphi⸗ trites, zu wohligem Scaufeln auf ben Wellen des Erfolges nur ein Schritt tft. Acht lange Jahre Tehrfeit fordert die Meifterin, davon mindeſtens ſechs ohne die Kojthappen der Eitelkeit, die Erfolge zur Ermunterung, „bis der Schüler fih richtig felbit beurtheilen gelernt hat.“ „Die fehler follen in der Schule zu Tage treten und ausgebeflert werden” ; und an die großen Geftalten unjerer Ton- meijter, an Wotans Tochter, an Floreſtans Satiin, ſoll die dramatiſche Sängerin vor ihrem fünfunddreißigiten Jahre nicht rühren. Wie werben die gejchäftigen Geſangslehrer und Lehrerinnen zetern! Wer ſoll uns jo lange Lehrgeld zahlen? Und wozu au? In zwei, höchſtens drei Jahren kann Alles gelernt werden, wenn nur ber richtige Anſatz erit da ilt. Dann noch raſch ſechs Wochen zum dramatifden Einpaufer für dag leider unentbehrliche Spiel, bei dem man fi nur recht ſchonen muß nur nidt etwa innerli fich aufregen: Das fchadet der Stimme! —, und die Zwanzigtauſendmark-Gage kann verlangt werden... Köjtlich aber wird das Buch für Den fein, der ernftlich ein Meijterfänger und Meifterfpieler auch Meiſterſprecher! werden will; ihn wird es fürs Tech— niſche und für die Moral ein Ichrfamer, zuverläffiger Freund fein, denn neben der höchſt jachverjtändigen Anleitung zur Ausbildung und Sräftigung der die Stimme erzeugenden Organe wird die fittliche Kraft, die in dieſen Befenntniffen von nie ermüdender Selbſtzucht liegt, dein ſtark Gewachſenen ein Sporn fein. Und wirklich: nur Solche dürften heute noch Künſtler werben.

Scmargendorf. Mar Marteriteig. D

Rathenau⸗-Koewe.

und Rathenau Fürſtenberg haben ſich zuſammengefunde DRS Zwilden der A. E.G. und der Union iſt ein Vertrag geſchloſſen word: der auf „ausgerechnet“, jagen die Börſenleute fünfunddreißig Jahre ei Intereſſengemeinſchaft zwilchen den beiden Eleftrizitätgejellfchaften Herftellt. werden auch Fünftig getreunt marſchiren, aber vereint ſchlagen. Die Direktorie werden verjchmolzen und die Auffichträthe, die für beide Gejellfchaften bejtehe: bleiben, vereinen fi) zu einem Delegationrath, an deſſen Beſchlüſſe die Gejell ſchaften gebunden find. Die einzeln erzielten Gewinne merden nad) beftimmten Bri

Rathenau Loewe. | 45

zentfägen vertheilt und natürlich fällt der A. E. G. der Löowenantheil des Mächtis geren zu. Der erite Schritt auf dem Wege zum Elektrizitättruſt ift gethau.“ Jeder Sachkenner weiß, daß die Entwidelung der elektriſchen Induſtrie Zur

ftände gefchaffen hat, die zu einem Truſt aller Gefelliaften brängen. Die Konkur— renz ift von Jahr zu Jahr wilder geworben und jelbft der Laie fonnte merken, wie unwirthſchaftlich, bejonders bei der Ausarbeitung von Projekten, die Kraft ver» ſchwendet wurde. In deutſchen Provinzitädten fieht man oft in ciner Straße Filialbureaux jämmtlicher Eleftrizitätgefellichaften; jedes Bureau hat ein eigrnes Perjonal und alle bearbeiten Pläne, die vielfach das felbe Biel haben und für die, bei jo irrationell zeriplitteiter Arbeit, Hunderttaufende ausgegeben werben. Eine feite Abgrenzung der Arbeitgebitte war länaft nöthig geworden. Auch moraliſche Schäden hatte der Zuftand bewirkt. Die Konfurrenzwuth kannte feine Sfrupel mehr; haftig fuchten namentlich die kleinen Gefellfehaften, denen die Ge— Ichäfte nicht entgegengebracdht werden, die vielmehr mit Lift und Schlauheit danach birſchen müſſen, überall Aufträge; und fo entitanden ſchlicßlich Geſchäftsſitten, die dem Auf unſerer eleftrifhen Induſtrie Ichaden mrßten. Schon vor einem Jahr jagte ein Eingeweihter: „Die eleftriihe Induſtrie iſt ungemein raſch reich geworden und big vor furzer Zeit famen die Geſchäfte den Elektrikern förmlich ins Haus geflogen. Die fieben fetten jahre find aber vorüber und nun bes ginnen die mageren mit allen Fehlern und Laftern der Armuth: Mangel an Selbitbewußtjein, Bettelei, Korruption in den widerwärtigſten Formen. Die Elite der techniſchen Induſtrie ift auf den Hauſirhandel angewieſen. Der Ges winn wird immer geringer, da für das bloße ‚Nennen‘ (Auskundſchaften) eines Geſchäftes 5 und 10 Prozent des Fakturenwerthes gezahlt wird; große Summen werden für Neflame und Acquiſition ausgegeben und Häuſer mit eleftrijchen Spezialartifeln arbeiten in legter Zeit in der Dynamomaldinen-Abtheilung one Fabrikationgewinn, nur, um Arbeiterentlajjungen zu vermeiden und den Umfag zu vergrößern. Nicht nur in Defterreich, wo der Niedergang mitgemecht wird, troßden die deutsche Dochfonjunftur bier nicht zu ſpüren war: auch in Deutjchland wird eine wahre Jagd nad den kleinſten Geſchäften veranjtaltet und alle Bezichungen der Banfgruppen und Direktoren müſſen herhalten, um einen Auftrag von 4000 bis 5000 Mark zu erhajchen. Die Beſtechung der Fabrik— direftoren, Berwaltungräthe, Semeinderäthe und anderer Funktionäre bis zum angeblich unparteiiichen Experten tjt auf der Tagesordnung; und nicht nur in Ungarı und Galizien. Auch in Deutichland haben wir in diefen Dingen eine Skrupelloſigkeit erreicht, über die ein raffinirter Tſhinownik erröthen könnte.“ Längſt alſo jehnte man fid nad dem Truſt. Io zwei Männer ber Elektrizität einander begegneten, jprachen fie über die Möglichkeit gemeinſamen Borgehens. Wenn id) nicht irre, wurde der Gedanke offiziell zum eriten Mal testen Gejchäftsbericht der züricher Eleftro-Banf, einer Gründung der I. E.-5,, sgeſprochen; man durjte aljo annehmen, daß via Zürich Emil Rathenau ſelbſt im Volke jprad. Die dee, die ohne Nathenaus Zuftimmung nicht ans Licht "ommen wäre, wurde damals lebhaft erörtert, mit befonderem Eifer, jeit im tober ein berliner Börſenblatt einen offenbar aud) aus dem Hanſe Rathenau mmenden Artifel bradite, der den Grundriß des Truſtgebäudes der Öffentlichen itik unterbreitete. Man erinnerte fich wieder der Nerhandlungen, die Dr. Walter athenau mit der bedrängten Schudert Geſellſchaft aeführt Hatte, und zweifelte

46 Tie Zuktunft.

nicht mehr, daß der Leiter der U. E.:. mit ber ihm eigenen Zähigkeit und Energie ans Biel kommen werde.

So einfach aber, wie die Kärrner in den Redaktionen und an der Börſe glaubten, wır die Sache leider nicht. Einem Truſt ſämmtlicher Fabriken nad amerikaniſchem Mufter thürmten ſich einftweilen unüberwindliche Hinderniſſe entgegen. Zunächſt mußte man damit rechten, daß unfer Publilum die Trufts nicht liebt. Dieje Abneigung, bie von den Handelsredakteuren unjerer Mandeiter: blätter fünftlich genährt wird, ift zum groben Theil unfinnig. Erftens kommts auf die Männer an, die an der Spite folches Truſts fteßen, und zweitens auf das Gebiet, das er umfaljen fol. Beides ift weientlih. Wird ber Truft, wie in Amerika jeher oft, mißbraudt, um Pſeudowerthe für die Börfe zu Schaffen und im Sinlande die Preife zu Gunjten eines Maflenerportes hoch zu Halten, dann ift er mit Recht zu verurtheilen, weil ex Finanzen und Volkswirthſchaft mit ernfter Gefahr bedroht, die jeder Windſtoß Heraufführen kann. Als Ding an fich aber bedeutet der Truft einen werthvollen Yortichritt in der Crganifation des Groß- gewerbed. Der Truft vereinfacht und verbilligt die Arbeit. Deutfchland kennt ihn bis heute noch nicht; wir haben nur Sartelle verfchiedener Formen. Den Seartellen fehlt aber meift gerade das weientlihe Moment der Betrichserjparniß; fie müffen die Kleinen und Schmaden mitjchleppen und denken viel mehr an die Hechhaltung ber Preife als an die Herabjegung der Produftionkoften. Die als Folge folder Braftifen gegen alle Unternehmerverbände entjtandene Miß- ſtimmung die Bedenken, die das Broletariat gegen fie hat, gehören in ein bejonderes Kapitel hätte Nathenaus an der Durchführung ihrer Pläne aber nicht zu hindern vermodt. Das eigentlihe Hinderniß war die Uneinigfeit ber Männer, die an der Spige der Elektrizitätgruppen ſtehen: und damit war die Nothwendigkeit vorfichtigfter Taktik gegeben. Yangfanı mußte der Gedanke reifen. Zunächſt mußte man ftarke Gruppen bilden, die dann durch Verträge verbunden werden konnten. Und die Gruppenführer mußten möglichſt lange in dem Wahn leben, ſie ſeien im eigenen Haus noch die Herren.

Der für die Kriſtalliſation günſtigſte Punkt war die A. E⸗.G. Das ſah, wers bis dahin nicht gewußt hatte, aus der letzten Bilanz, die, bei allen Mängeln in Einzelheiten, als Ganzes der Lebenskraft der U. E.G. das beſte Beugniß ausjtellte. Der Geheime Baurath Rathenau rüdte bie kraftvolle Selb: ftändigfeit feiner Gefellfchaft ins Hellfte Licht. Er, der den Altionären oft genug PBitterniffe vorzuenthalten verjtanden hatte, eritattete nun einen Bericht, der ben Aktionär in ben felig madenden Glauben verjeßte, er verftehe und durchſchaue die Dinge genau jo gut wie Einer, der die Hauptbücher der A. E.-&. ſtudirt hat. Wie vermochte Nathenau mitten im Sturm als der Einzige fi) ungebeugt zu behaupten? Daß er ein ausgezeichneter Gejchäftsmann tft, genügt nicht zur Erflärung. Sein ältefter Sohn, Dr. Walter Rathenau, der jet Direktor de Handelsgejellichaft ift, deutet einen der Sründe an, die das Unternehmen be: Vaters zu ſolchem Gedeihen brachten, wenn er in feinen „Impreſſionen“ jagt „Die größte gefchäftlihe Stärfe und eigentlich die einzige ift der Vorſprun Im Gegenftand, in Beziehungen, in techniſchen Erfahrungen, in Organijatto in Arbeitweife. Befaſſe Dich heute mit den Gejchäften, die Andere in einem Fehr machen werden, und Du bedarfit feiner Kunftgriffe, Feiner Diplomattı

Rathenau⸗Loewe. 47

und keiner Verhandlungskunſt.“ Dieſe Weisheit hat der Sohn im Hauſe des Vaters gelernt. Emil Rathenau hat ſeine Geſchäfte ſtets früher gemacht als Anbere; deshalb Hatte er die Wahl und die Geſchäfte kamen zu ihn, ohne daß er ihnen nachzulaufen braudte. Als einer ber Eriten in Deutichland ging er an den Bau ftädtifcher Centralen. Gr ınag lächeln, wenn er fid) des Schüttelng ber Köpfe erinnert, das feine Gründung ber Berliner Sleftrizitätwerfe begrüßte. Ein Techniker, den er fih zum Direftor erkoren Batte, ging zum alten Siemens, um zu fragen, ob er die Stellung annehmen folle; Siemens antwortete: „Ned: men Sie an; in ein paar Jahren werden die Qeute zwar ihr Gelb verwirth- ichaftet haben, aber Sie fünnen dort viel lernen.” Wenige Jahre |päter bauten Alle ſtädtiſche Kentralen, fuchte jede Firma jolde Gründung an ſich zu reißen. Ta machte Rathenau nicht mehr mit, weil die Anderen, zu ihrem eigenen Sıha- den, bie Bedingungen drücten, um nur überhaupt Arbeit zu haben. Rathenau it auch der Erfinder des Schachtelſyſtems; die Todtergejellihafien follten feiner Fabrikation guten und dauernden Abſatz fidern. Bald gründeten Alle Tochter: geſellſchaften und lieferten ihnen die Waaren mit unjinnigen Preisauffdlägen. Dieſe Möglichkeit, auf allen Gebieten der Erjte fein zu fünnen, dankt Rathenau zum Theil immerhin, dem Glüd; fein ungewößnliches Finanztalent aber wird aud vom Feind anerkannt. Als überall junge Aktien ans Licht kamen, erhöhte auch er mehrmals fein Aktienkapital; nicht der Geldbedarf der Tochtergefells ſchaften aber zwang ihn dazu: er häufte Baarmittel, konnte mit diefer Geld- madt der Bankier jeiner Bankiers werden und hielt fi) nad Beute gierige, unwiſſende Borſenleute mit ihren Rathſchlägen vom Leibe. Wie jih Berbienit und Glück verfetten: Das fällt dem Thoren niemals ein; aber e3 erflärt Die überragende Madtitellung der U. E.G.

Wichtig find für die Gruppenbildung in der eleftrifchen Induſtrie noch zwei Gefellichaften, die aus dem Troß der Kleinen hervorleuchten. Erſtens die Schudert-Gejellichaft, die au al Wrad noch immer ein Kolop bleibt. Mit ihr hat Rathenau verhandelt. Wielleiht dachte er nicht an eine Angliederung im übliden Stil, fondern an einen Pool oder, wie manche Lauſcher hinter ber- Liner und nürnberger Thüren erhorcht haben wollten, an die Bachtung des glänzen» ven Fabrikationgeſchäftes. Einerlei; der Plan jcheiterte, und jeit Herr Wader wieder Schuderts wirklicher Generaldirektor ift, kann von einer Fuſion fürs Erfte faum noch die Nede jein; ſchon, weil Herr Wader eigene Buchführungmaximen zu haben ſcheint, die nicht “Jeder und gewiß nicht Rathenau billigen könnte. Anders liegen die Dinge bei Siemens & Halsfe. Zwiſchen der U. E.G. und Siemens ift eine Einigung ſchwer denkbar; die Geſchäfte find zum Theil identiich, die leitenden Perjönlichkeiten paflen nicht zu einander daher in den Gejchäfts- berichten des Hauſes Siemens die faum verhüllte Polemik gegen tie A. E.G. und die Deutihe Bank wird, feit fie zur neu gegründeten Siemens Gefellichaft abſchwenkte, von Rathenau wohl nicht mehr zu den innigjten Freunden gezählt. Siemens lehnt den Truſtgedanken einjtweilen denn auch fchroff ab; im neujten Gejchäftsbericht wird Rathenaus Peſſimismus jehr von oben herab getadelt.

An dem jelben Tage, wo diejer Bericht veröffentlicht wurde, lafen wir von der Fuſion Rathenau-Loewe. Mit der Angliederung der hannoverſchen Firma Körting hatte die U. E.G. den erjten Schritt zu jtrafferer Konzentration ge: .

48 Tie Zukunft.

than; jetzt kam der zweite Streich. Zwiſchen der Nathenau- und der Loewe— Gruppe beftand bisher ein leifer, aber fühlbarer Antagonigmus. Bon einem zum anderen Tage können dieje Widerftände nicht überwunden worden fein; troß den Leuten, die fi) Stellen, als entjchleierten fie dem Frager bes Herzens Innerſtes, müſſen die Verhandlungen eine Weile gedauert haben. Ganz; freiwillig wird der Loeweconcern nicht zugeltimmt "Haben; duch die Noth der Zeit ift eine harte Breflerin. Die Spagen pfeifen vom Dach, daß die Finanzen der Loewegruppe in üblem Zuſtande find; feine anderedeutiche Elektrizitätgeſellſchaft Hatte während der legten Jahre jo viele Fehlſchläge zu verzeihnen. Die Maidinenfabrifen in Afchergleben und Benrath, der Zuſammenbruch der Motorwagen Geſellſchaft, die vorausſichtliche Dividendenlofigfeit der Geſellſchaft für elektriſche luternehmungen: Das will verſchmerzt ſein. Im November ſagte ich hier: „Es wird intereſſant ſein, im nächſten Jahr zu beobachten, wie die verſchiedenen Geſellſchaften der Loewegruppe ſich mit ihren Aktionären abzufinden verſtehen“. Jetzt können ſie eine Zukunftchance in ihre Bilanz einſtellen und die Aktionäre mit der Hoffnung auf den Gewinn tröften, den die Zufion mit der U. E.G. bringen werde. Noch ein anderes Motiv mag mitgewirkt haben. Als der Kommerzienrath Iſidor Loewe 1899 aus Amerifa zurüdfam, war er von den Methoden amcrifanifcher Pro— duktion begeiltert und warb amerikaniſche Urganifatoren, die den Geſchäftsbetrieb umwandeln jollten. Sie hatten aber feinen Erfolg und verriethen jchließlich die Geſellſchaft jfrupellos an das Ausland. Wielleicht hat gerade diejer miß- glücte Verſuch Herrn Yoewe und feine Leute entmuthigt. Dürfte man annehmen, daß fentimentale Regungen in Sejchäftstransaftionen eine Nolle jpielen, dann könnte man glauben, ein Gefühl der Dankbarkeit habe Xoemwe den Plänen Rathenaus günftig geftimmt. Denn Nathenaus Anregung führte Herrn Iſidor Yoewe auf den Weg zur Elektrifizirung der Straßenbahnen, aljo auf das Gebiet, wo der Union die größten Erfolge blühten. Das Bündniß mit fer A. E.G. war jedenfalls das Klütafte, was der Union einfallen fonnte.

Die Einzelheiten des Bündnißvertrages ſind bejonders deshalb interejfant, weil ſie deutlidy zeigen, welche Hinderniſſe bei der Truſtbildung zu überwinden jein werden. Wie in den Verhandlungen mit Edjudert, hat Rathenau fi auch bier weislich achütet, die franfen Iiheile des fremden Organismus jeinem Ges jellfcyaftförper einzuverleiben; Yoewes finanziellen Truſtgeſellſchaften bleibt er fern. Noch im lebten Gejchäftsberichte Jagte die U. E-&., die Frage, ob die - Bilanzwerthe der Elefrizitätgejellichaften jekt auf ihren wirklichen inneren Werth herimtergelchrieben jeien, bediürfe noch der Aufklärung. Dieſer Zweifel verbot die Verſchmelzung der Aktienfapitalien, deren Werth nicht leicht zu beredinen wäre. Auch über eine andere Echwierigfeit balf Rathenau ji) durch die von ihm gewählte FJorm der Fuſion hinweg Ber der üblichen Verſchmelzung wäre die Uebernahme der arofen Chligationenfapitaltien zu Pari nöthig geworden: ſolche Schätzung hätte aber dem inneren Werth diefer Kapitalien vielfach wol nicht entiprochen und es war Flug, die Frage der Bewerthung zu umgehen Ti Form, die gefunden wurde, ſichert die Möglichkeit neuer Fuſionen und kann, beſſer als eine andere, zum Selingen des Planes beitragen, d: fen noch ziemlich fernes Endziel der Truft aller deutſchen Gruppen der elektriſchen Induſtrie ift

Herausgeber und verantwortlicher Redakfteur: M. Harden in Berfin. Verlag der Zukunft in Berli Trud von Albert Tamcke ın Berlin Schonehera

Berlin, den 10. Januar 1905. em —— n ——

Luiſe Giron.

Fe und Autenil wohnten fie; dicht am boulogner Wäldchen. Ein grüner Fleck gehörte ihnen, zwei Bierbeete und dünnes Gebüſch Hinter hohen Nebensbäumen, die der Neugier den Sehweg ſperrten. Im Haus Alles eng, im parifer Spielſchachtelſtil. Kleine, warme Käfige für Wellen: fittiche, die einander ſtets fühlen, bei jeder Bewegung mit dem Gefieder ftreich- ein wollen. Kein großer Raum; im Eßzimmer fönnen zwanzig Berfonen figen, wenn fie zufammenrüden. Die Frau hatte ſich in das Häuschen verliebt. So ſtill, fo zärtlich, fo einfach; gute Luft für das Püppchen und doch nurein furzer Weg bis in die Herzkammer der Riefenftadt. An geräuſchvolle Gefellig- keit dachte man janicht. Später vielleicht, wenn alles Häßliche vergefjen war "und Andre ſich eine Stellung gemacht hatte. Einftweilen ſollten nureinpaar zuverläffige Freunde ins Neftguden; und dafür war Blaggenug. Der Mann war nicht leicht zu überreden. Er hätte lieber in einer großen Avenue ge- wohnt und verjucht, fich einen Salon zu ſchaffen. Wer ſich zurückzieht, iftbald allein, ſagte er und quältediegrau mit dem Beweis, daßſie in ungewohnter Enge verkümmern müſſe. Am Ende gab er nad). Er wollte korrekt ſein und nicht da den Herrn fpielen, woer Wohlthaten empfing. Noch waren ſie auf Luiſes Rente agewieſen. Trotz dem Gerichtsſpruch, Ihre Kaiſerliche und Königliche Hoheit be durch unſittliches Verhalten eine fo tiefe Zerrüttung des ehelichen Ver—⸗ „ultniſſes verjhuldet daß dem Ehegatten die Fortfegung der Ehe nicht zu= zemuthet werden fönne (81568 B. G. B.) hatte der Schwiegervater für ihren !ebensunterhalt gejorgt. Der Schmud fonnte eingelöft, das Häuschen ge- «auft werden. Und Andre bejtand darauf, daß die Frau, als die Erhalterin, 4

50 Die! Zukunft.

auch die Herrin des Hauſes ſei; jo gehörte ſichs. Lange würde dieſer Zu—⸗ ſtand ja nicht dauern. Nur ein Bischen Ruhe brauchte er, um feine literari— Ichen Pläne außreifen zu laffen: dann fam der Erfolg und die Verleumder würden erkennen, daß die Brinzeffin nicht eines Abenteurers Beute gewor⸗ den war. Bis dahin aber follte fie Alles nad) ihrem Belieben einrichten; „nur feine ſchmutzigen Geldfadjen zwifchen ung”. Sie war glüdlid). ‘Das gemein: ſame Schlafzimmer, die helle Kinderftube und Andres Allerheiligftes wurden neu möblirt; in den anderen Räumen genügten moderne Tapeten, billige Li⸗ berty- Eleganz aus dem Louvre und recht viele frijche Blumen, täglich ganz frifche. Keinen Dienftbotentroß ; der Bortier mußte die winzige Gartenarbeit . beforgen und mit zwei Mädchen, Koch, Diener und Kinderfrau fam man be- quem aus. Wohlthaten? Wie er nur fo reden konnte! Inder Schweiz hatten fie ja von feinem Gelde gelebt; fie mußte fich, nur fie, als Schuldnerin fühlen, noch lange, ſelbſt wenn fie vergeffen könnte, wem fie das große, das erſte Glücksgefühl zu danken hatte. Er war wohl auf ein Luxusthierchen gefaßt, das den Werth des Geldes nicht feune? Er würde ſich wundern. Eine ri: tige, praftifche Hausfrau ; ein Drache, der jeden Heller bewacht. Und gar fo ſchmal hatten fie nicht; die Frommen zu Haufe waren im Örunde fehr an- ftändig geweſen. Ihn dürfe die Alltäglichkeit, der Kleinfram des Haushaltes nicht erreichen. Er ließ fich8 gefallen. Sein Portemonnaie war nie leer, fein Tiſch ſtets gut beftellt ; und wenn er fragte, hieß e8: Pit! Die Heinzelmänn- chen, die für Verliebte forgen, ärgert neugieriges Forſchen. Die böhmiſche Kinderfrau hörte manchmal freilich einen Seufzer. Wenn die Blumen, die An: drejoliebt, nur weniger fofteten ; und die Früchte, der auf Stunden gemiethete Wagen, die Kleider. Zu dumm, daß man als Mädchen nicht wirthichaften gelernt hat. Doch die Uebergangszeit währt ja nicht lange. Schon wird der Liebſte von Nedafteuren und Berlegern bedrängt. Und welche Wonne, ohne einjchnürenden Zwang nur ihm und feinem Kind leben zu fönnen!

Herr iron war wirklich umworben; man bot ihm hohes Honorar. Aber er follte immer über den ſächſiſchen Hof Schreiben. Wie er hinkam; ſein erſtes längeres Geſpräch mit der Kronprinzeſſin; Schilderungen des höfiſchen Lebens, der Hauptperfonen; und jo weiter. Das paßte ihm nicht. War er et- wa nur interejjant, weil Luiſe ihn liebte? Anfangs hatte man ihm ein Ge- dichtbändchen gut bezahlt; der Verleger hatte nur die Bedingung geitellt, daß der Titellaute: Erosälacour. Die Kritiker nahınen die Verſe nichternſt und auf Dontmartre fang man ein Spottlied: C’etait rosse A la cour| Ein kleines Drama im Stil Verhaerend wurde von den großen Theatern

Luiſe Giron. 51

höflich abgelehnt und, als es bei den Mathurins angebracht war, nur vier⸗ mal aufgeführt. Und Paris lebt ſo ſchnell, verbraucht in einem Halbjahr ſo viele Senſationen. Allmählich wurden die Angebote ſeltener; die alte Geſchichte von der Kronprinzeſſin und dem Hauslehrer zog eben nicht mehr. Gott ſei Dank, ſagte Andre; endlich wird man mid) nach meiner literariſchen Leiſtung beurtheilen, wie jeden Anderen. Er werde ihnen ſchon zeigen, daß Maeter⸗ linck nicht der einzige Belgier iſt, der ſich im pariſer Lärm Gehör ſchaffen

fönne. Freilich dürfe man nicht Tag vor Tag zwifchen feiner vier Wänden

jigen, Jondern müſſe ſich ſehen laſſen, wo Tout-Paris fi) verfammle. Das begriff die grau. Gewiß: werfchaffen will, braucht Eindrüde und darf nicht verjfauern. Nur mitgehen mochte fie nicht. Alle Leute ftarrten fie an; und fie fühlte das Flüſtern: Vous savez? Die fönnte jet Königin fein ; das ganze Lied wurde dann heruntergeleiert. Und einmal... Sie wurden einer alten Dame aus dem adeligen Faubourg vorgejtellt. „Herr und Frau iron.” Die Vicomteſſe lächelte; nur eine Vierteljefunde lang; aber das huſchende Lächeln ſchien höhniſch zu fragen: Frau?.. Das konnte Luife nicht vergefjen. Zwar behaupteten die Freunde, Paris kenne feine Pruderie, und nannten Damen, die ohne Zraufchein überall willfommen jeien. Möglich. ‘Doch wer fommt von der Kinderftubengewohnheitvöllig los? Man ift eben verzärtelt. Früher wars ein Hauptipaß, boheme zu fpieleun; man wars ja doch nicht. Sezeſſioniſtiſche Künftler in der Werkſtatt befuchen, verbotene Bücher leſen, während der Hoffirchenzeit in heller Bloufe und Canotierhut aufs Rad ftei- gen, boshafte Epigramme drechſeln, die Schwägerin mit Korylopfisduftärgern und, unter ehrwürdigen Courſchleppen, Cocottenkleider von Paquin tragen: die rothen Köpfe der Allerhöchſten und Höchſten waren zum Totlachen. Der Rang blieb Einem; Niemand wagte ſich je über die Schranken hinaus, ſelbſt wenn eine Kecheit als Köder hingemworfen war. Set... Alles ift anders. Nicht etwa häßlicher im Gegentheil: zchntaufendmal ſchöner —; nur eben anders. Man wird von den Menjchen Hafjirt. Man hat „eine Bergan- genheit“. Sehr intereffant; aber die Frauen werden nie recht warm und bie Herren ftets allzu warm. Deshalb wars indem Gartenhäuschen auch nie zu 'ntimer Gejelligfeit gefommen. Die vornehmen Damen, die fie auf Andres Vunſch zum Thee oder Yuncheon lud, hatten merfwürdig oft ihre Migräne und mußten im leisten Augenblie „auf das ſo lange erjehnte Vergnügen ver: zichten”. Und die Herren wurden nach dein zweiten Glas um eine Tonſchwin— gung zu laut, warfen ſchmachtende Blicke und erzählten Geſchichtchen, Sie noch nicht mauvaisgenre, aber nicht mehr ganz jauber waren. Unbehaglich. 4*

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52 . Die Zuhmft.

Der gute, argloje Andre merkte nichts. Ein wahres Glück. Fühlte nicht einmal, warum fie nad) dem zweiten Aft von Le Demi-Monde plöglich nach Haufe wollte. Seit dieſem Abend Hang die Nede über die verjchiedenen Pfirfichjorten in ihr nach; nur nicht zu der wurmftichigen, das Stüd fünf zehn Sous, gehören! An Einladungen fehlte es dem jungen Paar nicht; auch nicht an Gäften. DerFigaro wollte fie für jeden Five o’clock unddie Horde ber rastacoueres drängte fi an fie. Nein. Lieber allein bleiben. Eines Abends hatte ein Radſcha ihr dreimal die Hand gefüßt; ſchließlich mußte fie dem dunklen Herrnihre Fingergewaltfam entziehen. Merkwürdig. Sie forderte die Männer doch nicht zu dreiften Galanterien heraus, ging im Wortgefecht lange nicht mehr jo weit vor wie früher; und trogdem ringsum die Sucht, ſich als Don Yuan, als Verfluchten Kerl geneigter Beachtung zu empfehlen. Eigentlih .... Wenn man nadydadhte, wars nur natürlich. Man ift einmal vom Weg abgewichen und hat den Ruf der grande amou- reuse erworben. Alle fahen, Alle wiſſen es. Dasreizt. Was einmal geſchah, fann wieder gejchehen. Jeder bildet fich ein, e8 mit dem dürftigen Herrn Gi— ron am Ende nod) mühelos aufnehmen zu fünnen. Hübjch abwarten, big die richtige Stunde und Stimmung ficheinjtellt; Hauptfache: immer da und be⸗ reit zu fein. Einer von Andres Freunden hatte es brutal herausgelagt. Sie galt al8 gute Beute; und wer ihren Erften auszuftechen vermochte, hatte als Nabatt eine Bombenreflame. Alfo mußte ſie fich doppelt vorfehen, ſtets korrekt fein und ausgelaffene Yuftigfeit meiden. Kein Glück ohne Leid; und ihr blieb ja noch ein ganzer Himmel. Damit tröftete fie ji). Aber wie wuns berlich das Leben ift! Da hat man ſich über jo Vieles hinausgefegt, um frei zu fein, an fein enges Vorurtheil, fein Hofphilifterium gebunden, und muß nun Ängftlicher jede Silbe auf der Zunge wägen als einft im Schloß. Allein durd) die Straßen radeln? Sie hätte bald Begleiter gefunden. Kein auffallendes Kleid, feinen phantajtiichen Hut durfte jie fich gönnen. Stille Weiblichkeit; font hielt man fie für eine Abenteurerin. Sogar Korylopſis war nicht mehr möglich, mußte durd) chrbareren Duft erjegt werden.

Das war auch ein Grund, der fie im Haug hielt. Fünf Kinder leben im Königsſchloß, zwei find früh geftorben, eins hat fie ſich gerettet. Ach“ Schwangerjchaften in elf Kahren: jünger wird eine Frau davon nicht. Un. darf jie jich obendrein nicht nach perjönlichen Geſchmack Heiden, ein Bischen ertravagant, anders, al3 die Diode den Zittjamen vorjchreibt, dann droht ihr die Gefahr, neben dem Zwanziger welf auszuſehen. „Dir, armes Ha: jcherl, jchaut ein Blinder an, was Du durchgemacht haft”, hatte Bruder

Luiſe Giron. 53

Leopold gerufen, als er, nad) langer Pauſe, wieder einmal zu ihnen fam, „ins Paradies”. hr jagte er damit nichts Neues. Sic jah den Verfall ihres Leibes, die Krähenfußipur um Augen und Mund, die gilbende Ueberreife des weichen Fleiſches. Eineganze Weile noch konnte man mit Tonies, fosmeti- jchen Mitteln, Zoilettenfünften nachhelfen. Aber gerade fie durfte nicht auf: falten, jich nicht ſchminken, nichtallzu ſüßen Wohlgeruch verbreiten. So blieb fie lieber bei dem Kleinen und begnügte fich mitdem Vergnügen, ihren Andre für die Pariſer zu putzen. „Du: eigentlich wohl für die Pariſerinnen?“ Er [achte leife; es follte Geringſchätzung ausdrücden und verrieth, dag Männchen an der richtigen Stelle gefigelt war.. Er! Als ob er einen Fuß über die Schwelle jegen würde, wenn er nicht müßte; feiner Arbeit, feiner Pläne, jei- ner Beziehungen wegen. Galcere, mein Herz; jei froh, daß Dir das Rudern erſpart ift. Dabei ftreichelte er fie mit der weißen, Ichmalen, foignirten Hand, diezuerftihr Augeaufihn gelenkt hatte—diegraziösgefrümmten Nägel glänz- ten immer fo unheimlich —, und warf einen legten Blid in den Stehipiegel. „Warte heute nur nicht; es kann ſpät werden und Dufiehft abgejpannt aus.“ Dann ſaß fie und träumte. Was joll Unſereins thun, das nicht ar: beiten gelernt hat und faft nie allein war? Leſen ftrengt an. Stlavierfpiel ftimmt abends leichttraurig. Die Hofberichte durchjtöbern ; überall Bekannte, Verwandte; und doch: wie weit! Neulich war der Balfanfürjt, den jie als Mädchen gern gehabt hatte, ins Haus gefchneit. Inkognito; ; aber jehr artig und jehr herzlich. Und hatte einen ganzen Korb voll Klatſch mitgebracht ; neufte und allerneufte Sfandale. So munter war Yutjelange nicht gemejen. Dian hat eben den felben Ton in der Kehle. Das verlernt jich nicht. Weine Antpielung; fie fonnte glauben, ein gefrönter Better befuche ſie an der Elbe. Und als fie von Bergangenem anfing undfic) nichtichonte, tröftete er. „Schr verftändigundtapfer, daß Sie den Wunsch geopfert haben, die Kinder wieder: aufehen. Iſt gewiß jchiver geworden. Wäre aber höchſtens eine halbe Sache; die Dberhofmeifterin ſäße ſtockſteif daneben, jedes Wort würde zehnmal im Mund umgedrchtund es käme zu feiner Intimität. Wichtigſte Yebensregel: Konjequenzenauffichnehmen. Dass die Heine Geſellſchaft gut verforgt ijt und rt Kronprinz wie der ſtrammſte Nefrut exerzirt, willen Sie ja. Schä— gung des monardiichen Prinzips? Laſſen Ste fich nur nicht von ſolchen „tillen plagen, liebwerthe Frau Bate, Alles geht feinen Gang. Ihre Ihat hatte, wie die meiften Dinge, auch, eine nützliche Seite, für ung, meine ich; für Sie natürlich) nur ſolche. Seitdem fchleicht nämlich das Gericht umher, wir Yandesväter, Yandesmütter und jo weiter rührten ein Jammer

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OHR 54 Die Zuhmft.

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leben, hätten weniger Freiheitals unfere Lakaien nad) Feierabend und blieben nur aus Pflichtgefühl im goldenen Bauer. Das ſchmeckt den getreuen Unter: - thanen wie frischer Käſekuchen. Unter ung fönnen wir ja gejtehen, daß es nicht immer ganz fo ſchlimm ift und Mancher von Gottes Gnaden fich amu— firt, als hätte er fiebenmal in der Woche Geburtstag. Jedenfalls brauchen Site ſich nach diefer Richtung feinen Vorwurf zu machen. Sämmtliche Throne

. und Thrönchen ſtehen noch; und Friedrich Auguſt fonnte das Bischen Mär—

tyrergloriebrauchen.“ ... Ein paar behagliche Stunden, an diefie gern zurück⸗ dachte. Schade, daß Andre eine Andeutung gemacht hatte, die wie Sehnfucht nach einem Orden fang. Der Fürſt war fein drüber hinweggeglitten, hatteam nächſten Deorgen aber gejcehrieben, leider müſſe er jelbjt ſich die Erfüllung eines Wunſches verfagen, die nahen Verwandten eine demonftrativelinfreundlich: feit ſcheinen könnte, Wieder artig und herzlich; doch fie fühlte: er würde ihr Haus nicht mehr betreten... Der Yiebjte tier ein Nauchwöltchen durch die Naſe, lieg die Nägelfront im Sonnenlicht funfeln und fagte: „Der Herr Couſin tft ein Eretin; wäre übrigens der Erfteaus der edlen Verwandtſchaft, der Für mid) einen „Finger rührt. Die ließen Einen ficher verhungern.“ Bon dem böfen Wort blieb eine Narbe. Die brannte, wenn die Ein: ſame vor Jich hinſann. Ihn hatte ſie Schnell entichuldet. Mußte er nicht mehr von dieſem Herzensbund erwarten? Matte fie ſelbſt nicht mit an den Quft: jchlöffern gebaut, - - damals, un Schulzimmer der Kinder, wenn Die Kleinen fic) nebenan austollen durften und ſie Beide, zwiſchen zwei Küſſen, einander zärtlich den Cigarettenrauch in den Mund hlieſen? Da war ſie das Wunder in ſeinem armen Hofmeiſterleben. Nicht im frechſten Traum hätte er ſolche Umarmung zu boffen gewagt. Hinderniſſe? Sie lachten. Eine Kaiſerliche und Königliche Hoheit bleibt, auch wenn ſie der Feſſel entlaufen iſt, eine Groß— macht und iſt im Exil noch ſtark genug, um den Mann ihrer Wahl über die Heerde zu erhöhen. Jetzt? Erjagtdem Erfolgnac und fannıhn nicht hajchen. Die Männer rümpfer die Naſe. Monsieur Alphonse. Daudets aller: liebſt ruchlojer strugsgleforlifeur. Geſchlechtsneid? Ganz ficher; eben jo aber auch, dar er die große Yerftung immer nur anfindete, nie vollbrachte, trotzdenſes ihm an ‚Beziehungen“ und, Eindrücken“ nicht mehr fehlen konnte, Auf die Frauen wirkte er mit dem Nimbus des homme A femmes. Es giebt hübſchere Männer; wer aber ſehnt ſich nicht in den Arm Deſſen, dem eine Königskrone geopfert wurde? „Sehen Sie nur dieſe Augen! Ich werde jedesmal roth, als fönnten Blicke entkleiden.“ Das Alles wußte Luiſe. Der Eitle kann die Triumpheſeiner Mäännlichkeit nicht verſchweigen; undſchwiege

Zuffe Biron. 55

er: letztexiebe hat icharfe Witterung. Sie zwang fich zu nüchternem Rechnen. Höher hinauf konnte ihn nur die Hand einer Frau führen. Er fonnte der beguin einer Nana werden, die ihre Freunde für ihn alarmirte, ihn von ihrem Deputirten für die Ehrenlegion empfehlen ließ und in Schäferjtünd: chen die Preßtyrannen für das neue Talent gewann. Oder der Mann einer Millionärin von drüben, die in der fünften Avenue mit den Entführer einer Kronprinzefjin aus kaijerlichem Blut prunfen möchte. Das waren jeine Chancen; welchen anderen lief er denn aud) jo haftig nach, durch Salons, Theater, Reftaurants? Stewar ihm längft die Alltäglicjfeit. Eine alternde Frau, deren Leib die Male der Weutterichaft trägt und deren Zärtlichkeit leicht zur Zaft wird. Die Anderen ſehen beſſer aus, duften exotiſcher, haben die flinfe Zunge, den behenden Geiſt, die raſche Neplif der Pariferin ; und den Weiz des Unerforjchten, das neue Senjationen verſpricht. Was er von ihr haben konnte, hatergehabt. Klaſſe nennt mans bei Rennpferden. Das war aber aud) der einzige Gewinn. Die Kuftfchlöfier lagen in Trümmern. Und wer einmal bis zu ſolcher Hoffnung geflettert iſt, fühlt jic) im Erdgeichoß eines Garten: häuschens nicht mehr lange wohl. Wenn fie jich wenigjtens als Sehens: würdigfeit verwenden ließe! Aber fiehattehunderttaufend uralte Vorurtheile. Keine Geſellſchaft papte ihr. „Lieber Himmel: in unſerer Page darf man nicht jo wähleriſch fein!“ Kein Stil in diefen Prinzejiinnen aus mediati- firten Häufern; werden, wenn das Bischen Hofitaat fehlt, gleich bourgeois und pofiren ehrbare Hausfranlichkeit. Ob es einen Sinn habe, jeden Sonn: abend die Ziffern zu addiren, die der tod) in das Wirthichaftbuch Schreibt. Die Einfaufspreije keine fie ja doch nicht und der Kerl zicht ihnen täglid) das Fell über die Ohren. Und die Yeute laſſen ſich nichts Jagen. Behutſam, wie mitrohen Eiern, müſſe man mit der Sippſchaft umgehen. Sonſt fommts wie nit der Kinderfrau, die auf eine Rüge antwortete: „Bin ich ehrlich ge: traute Frau!“ Herunterſchlucken; denn das Kind iſt „an die Therefegewöhnt”. Nach dieſem Geſpräch hatte es einen Sturm gegeben; den erſten, den die Frau ausbrechen, australien ließ. Eine von den graufigen Stunden, wo zwei an die ſelbe Planfe Geklammerte einander alten roll ins Geſicht ſpeien, zwei Rajende den Verband von den Wunden reißen und mit den blutigen Fetzen einander peitichen, bis Weide ganz morich find, entgeifert, vom Blut: verluſt erjchöpft und nur, mit zitternden Nerven, noch vöcheln können. „Leideſt Dur etwa darunter? Du ſiehſt die Alte ja nicht”. „Unter der ſchiefen Situation leide ich, Komme nicht zur Arbeit”, „Jeder muß die Folgen feiner Dandlungen tragen“.

56 Die Zukunft.

„Nicht Alles Täßt ich vorausjehen. Und... Handlungen?”

„sa. Oder warft Dur vielleicht willenlojes Opfer?“

„Der Küngere jedenfalls; und der Unerfahrenere.“

„Ab? Dann Habe id) Did) wohl aug dem Glanz gelodt? Und ge: träumt, als ich das?ied von dem Märchenglücd vernahın, das unſer harre?”

„Keine Seneralabrechnung, bitte. Du warſt nicht mein einziger Trumpf, ich nicht Deine erſte Entgleiſung. Irrenhaus tft ſchlimmer.“

„Willſt Du dieſe Spukgeſchichte jetzt mir erzählen? Der alte Kaiſer hatte mir ſein Wort verpfändet. Alles ſollte ſtill beigelegt werden. Das paßte Dir nicht. Nun weiß ich, warum ich all dieſen Zeitungmenſchen Rede ſtehen und meineSchande auf den Markt ſchleppen mußte. Die Verwandten ſollten eingejchiichtert werden. Darumı die Parole: OhneSfandal gehts nicht. Ich war jo verwirrt im fünften Dionat! —, jo ganz aus den Wurzeln geriffen und in meiner fpäten Liebe fo blind, daß ich Alles gefchehen ließ, Alles richtig fand, was Du fagteft und thateft. Ich belog mich ſelbſt, wollte mir ſelbſt nicht befennen, daß ich dem Trieb folgte, und ſchobs auf Hofintriguen, Familien: knechtſchaft, unerträglichen Zwang. Und das Alles fagte ich fremden Leuten, die nur daran dachten, Pikantes zu drucken. Du konnteſt mirs erfparen“.

„Dante, Irre ich: oder flohft Du allein?“

„Weil id) nicht lügen mochte. Weil ich Dein Kind...”

„Nein Kind? Sn... Daßdie kronprinzliche Familie einem freudigen Ereigniß entgegenſehe, hatte ich ſchon recht lange vorher in Amtsblättern ge— fejen. Solche Notizen werden vor der Veröffentlichung dein Hausherrn dod) wohl vorgelegt. Ich habe nie zu jeinen Bewunderern gehört, beziweifleaber, daß jein Ehemannsglaube big zu unbefleckter Empfängniß reicht; auch wet: tiner Frömmigkeit hat ihre Grenze. Alſo muß er&ründegehabt haben, über die Verkündung nener Vaterschaft nicht erftaunt zu fein. Sch war nur ein klei— ner Sehilfeim Dienft Seiner Königlichen Hoheit. Keine majeftätifchen Blide, Louiſon; bift ja nicht mitgefrönt worden. ‚Unfittliches Verhalten‘ !”

„Das jagit Du mir?"

„. . . War ichs nicht, wars eben ein Anderer!“

Aus dem Zierbeet hinter den Yebensbäumen ſchauten Primelköpfchen ans Licht. Am See muß es heute ſchön fein. In der Zeitung fteht: „Der König von Sachſen iſt mit ſeinen Kindern in Salzburg zum Befud) einge: troffen.“ Frohe Oſtern für die fleine Gefellichaft . . Ztehen Sie das Kind warm an, Thereje; wir wollen ausfahren.” „Wohin befehlen?” „Ans Freie. Zum Pavillon d'Armenonville zuerſt; ich will Iuftige Menſchen ſehen.“

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Beter Iljitſch Tſchaikowskij. 57 Peter Iljitſch Tſchaikowskij.

Kin befannte Thatfache ift, daß fich die Maſſe der Kritifer und der Laien © niemal3 fo gründlich blamirt wie dann, wenn es gilt, zu neuen Er⸗ fcheinungen Stellung zu nehmen und ihre wirkliche kunftgefchichtliche Bedeu⸗ tung feſtzuſtellen. Eben ſo ſicher iſt aber, daß ſich ſelbſt Muſiker von Fach, wenn oder beſſer noch: weil ihnen meiſt die umfaſſende Vorbildung fehlt, die ſtärkſten Blößen geben, wenn ſie für „Novitäten“ eintreten und durch Aufnahme in ihre Programme neue Werke ſanktioniren wollen. Ich brauche nur daran zu erinnern, daß ſo maßlos ſchlechte Muſik, wie ſie Auguſt Klughardt zu einen fo hoffnunglos dürftigen Text wie der „Zerſtörung Jeruſalems“ gejchrieben hat, in zwei Jahren im Triumph durch die deutjchen Städte zog und daß tich felbft ganz bedeutende Muſiker nicht jchämten, mit folcher Gefchäftswaare den Geſchmack ihrer Chöre und ihres Bublitums vollend8 herunterzubringen. Daß unfähige Kritiker und fchlecht berathene Dirigenten trog der Fläglichen Deinderwerthigkeit des erſten Werkes auch noch . zum ob und zur Aufführung des neuen Oratoriums „Judith“ fehreiten, beweiit nur, daß der Muth, einmal: geliebtes Schlechtes nicyt fallen zu laſſen, reichlih vorhanden if. Das fachliche Urtheil hat in dem Fall Klughardt faft überall verfagt. Es hat auch nur fpärlih und ſchüchtern fich hervor: gewagt bei einer nicht gleich tollen, aber ähnlich charakteriftiihen Sache, bei bem Zichailowstij- Rummel der legten Jahre. Dan ed den gab und giebt, ift nicht zu leugnen. Die zahlreichen Aufführungen jeiner Werke und die Art, wie die Kritik fie aufnahm, die Nangordnung, die man aufftellte, d:e Einmüthigfeit, mit der man Tſchaikowskij neben unjere Großen und Größten ftellte, find die beiten Beweiſe dafür.

Tſchaikowskij gehört heute zu den Herrſchern im deutichen Konzert— faal. Die meiften Referenten verhimmeln ihn, da er bei Dirigenten und beim Publifum beliebt iſt. Wollen wir nicht, daß alle Abftände verloren gehen und dag man in die Öefellfchaft unferer erſten Meiſter wenigftens auf einige Jahre oder Jahrzehnte diefen Ruſſen einſchmuggelt, fo dürfte eine fach: liche Beurtheilung des politiven Werthes feiner Kunſt alfo gerade jegt jehr am Plage fein. Diefe Beurtheilung gilt ſelbſtverſtändlich für deutſche Verhältniffe. Sie ſoll feftftellen, wa3 für uns Deutiche Tſchaikowskij bedeuten fan. Um das Refultat vorwegzuncehmen: Für die Weiterentwidelung der deutfchen Kunſt iſt Zichaifowsfij ohne jede Bedeutung. Er muß ohne Bedeutung fein, weil die Kulturſtuſe, mit der der größte Theil feiner Werke rechnet, in den großen Reiftungen unferer Kunſt längft, ſeit Jahrhunderten fchon, überwunden ift. E3 iſt ja an fich ganz unmöglid), dar eine in ihrer Geſammtheit noch kul— turell jo wenig enimidelte Nation in der jubtilften Kunſt plöglid nicht nur

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Die Zukunft.

thiges, fondern fogar für die alten Kulturnationen Vorbildliches nnte. Schon Das ift ein Nonfens. Auch ift Tſchaikowskij felbft Bedeutung für Rußland durchaus fein Genie. Dazu if er viel ıbhängig don der weiteuropäifchen Kultur. Er ift ein Herborragend Mufiter, der außerordentlich viel gelernt hat, einen ganz außer— ch entroidelten Klangfinn und großes Geſchick befigt, Hingende, padende ſchreiben, und der in aller Technik zu Haufe it. Der Grundmangel zeſens ift der Mangel an Kultur des Gefchmades, an geiftiger Tiefe ige, an Fähigkeit, große Formen wirklich zu füllen, thematifch im Jeeihovens zu arbeiten, feine Gedanken muñilaliſch-logiſch zu ent: Die Gedanken jelbft aber ftehen faſt ſtets auf Empfindungftufen, die großen, ſymphoniſchen Formen zu niedrig find: Wie bei Anton in, begegnen wir ganz außgezeichneten Einfällen. Uber es fehlt t, die großen Augenblicke feitzuhalten, das Gefühl dafür, daß ſolche te Umgebung brauchen, daß ſie fomoedienhaft wirken, wenn fie zwifchen efpräcen trivialfter Art aufleuchten. Das ift eben feine vollendete, Kunft in unferm Sinne, \ m Tſchaikowskij gerecht werden zu Können, muß man faft alle For— vergefien, die man an moderne Kunft zu ftellen gewöhnt if. Das ement seines Wefens ift die naive Freude an Klang und Rhythmus ipielende Beihäftigung mit diefen Elementen. Wagt fih aber mit folchen Vorausfegungen und ohne die nöthige Schulung des und Geſchmades an die höchſten Aufgaben einer Kunſt, fo muß ſich endigfeit ein Riß, ein Mißverhäftniß ergeben. Kleine Kinder reden Zeug, wenn fie Schopenhauer plappern wollen. Ich muß immer Standpunft des Kindes denen, wenn ich Tſchaikowskij höre. Wie ich unbändig freuen, wenn fie mit beiden Armen aufs Klavier patſchen wie fie einen großen Farbenklecss aufs Papier machen und über ihr zanz glüdlich find, wie fie mit einem enblofen „Tüh, Tüh, Tüh“! im herumziehen fönnen, ftolz auf ihren „Gefang“, fo ift Tſchai— vielfach, ja, meift von einer Genügfamteit und Anſpruchsloſigkeit in Dingen und hat eine Luft am bloßen Muſik- und Lärmmaden, tftändlich wäre, wenn man nicht an die Kinderſchuhe dächte, in denen ſiſche Muſik eben noch fiedt. Ran ſehe ſich Werke wie Tempote, op. 18, den Slaviſchen Marſch, die Duverture „1812“, op. 49, das Caprievio italien, op. 45, a denfe an die Allegro: Säge feiner Symphonien, die Kraftftellen mphonifchen Dichtungen. Sinds hier nur unfere defadenten Nerven, gegen diefe Kraftmeicrei auflepnen? Iſt Das wirklich Urkraft oder Imehr Unfähigteit, Kraft innerlich auszudrüden? Solche Apotheofen

Peter Iljitſch Tſchaikowstij. 59

des Rhythmus und der Klangſtärke pflegen wir uns für Schützenfeſte und Induſtrieausſtellungskneipenviertel aufzuheben. Oder follen wir Denen Recht geben, bie die Banalität ber dabei zu Tage gefürderten Melodien als glüd- fiche Anzeichen gefunden, urwüchſigen Empfindens bezeichnen? Ich bin gewiß der Teste, der eine einfache Melodie, felbft wenn fie zum Trivialen neigt, am rechten Pla nicht ‚gelten ließe. Aber welcher gewaltige Unterfchied zwifchen der melodifchen Simplizität der Italiener und diefen ruffifchen Im⸗ porten, die fih dann noch in ein fymphonifches Mäntelchen hüllen, um „kunſt⸗ leriſch“ zu werden. Nichts ift Tächerlicher al8 der Berfuch, zum Schub der ruſſiſchen Banalität die reiche melodifche Gewalt der Italiener anzuführen. Dem gerade hier ift Tſchaikowskij Nachempfinder fremder Gefühle. Anklänge find ja bei ihm überhaupt leicht zu finden; er holt überall, wo es mas „Slingendes“ giebt, bei Händel wie bei Gonnod, bei Schumann und Bizet. Das Schlimmfte aber tft, daß er mit fimplen Melodien, die Allerwelteigenthum find und eigentlich gar fein Geſicht haben, anfängt, ſymphoniſch zu arbeiten.

Seine eigenen thematiſchen Gebilde gehören in der Hauptfache in zwei Familien. Die einen find hbandgreifliche, etwas plumpe, mit Blech gepanzerte Rhythmen, die in Kraftmeierei das Möglichfte leiten. Die anderen find fentimental, oft bis zum Salonftädton hinunter. Bei ihrem Mangel an Tiefe und Gefhmad wird man oft an den Typus des liebenden Dienft- mäbchens erinnert. Das ift eben die Poefie und Empfindungfähigfeit einer tieferen Kulturſtufe. Unter diefem Mangel an höherer, größerer Lebens— ftimmung leiden auch Tſchaikowskijs Lieder, die meift in der Mitte zwiſchen Raivetät und Poſe, zwifchen Theater und Bolton zu fchweben verfuchen. Das ift eine Unnatur, die wir den Schreiben unferer fchlechteren Salon- muſik zu überlaflen pflegen.

Sch ſprach vorhin von der kindlichen Spielfreude an der Mufil und muß darauf noch einmal zurüdkommen. Dan wird beobachten können, daß ein Kind auf einem Klavier mit Vorliebe entweder in den kraftvollen Bäſſen Lärm fchlägt oder im höchſten Disfant Spieldofenmufil macht, entweber Frafiproben feiner Kehle zu geben oder im Ylüfterton zu reden liebt, dem SHarlelin prügelt und auf den Boden wirft und dafür die geliebte Puppe mit umendlider Zärtlichkeit behandelt, beim Kaufmannſpielen für ein paar Rofinen entweder zehn Mark oder gar nichtS verlangt, am Liebiten aus einer ganz großen oder aber einer ganz winzigen Taſſe feine Milch trinkt. Das Extreme auf beiden Seiten macht ihm mehr Eindrud, intereflirt mehr, ift ihm verftändlicher, fagt ihm mehr als die unauffällige Mittellinie Haben wir in Tſchaikowskijs Kindermuſik nicht die felben Sprünge von einem Extrem zum anderen? Des „Züh, Tüh, Tüh-Lärmes“ gedachte ich ſchon. Dicht daneben aber fteht die Spieldofe. Hat der Gewaltmufifer genug Blut ver-

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60 Die Zulımft. -

goffen, genug in der Hölle gewüthet, jo wird er zur Abwechſelung „Himperig”. Das Wort ift hart, aber e8 ift fo. In den Suiten Tſchaikowskijs fteden die beiten Beifpiele für diefe Art Muſik. Ich denke dabei nicht an die recht überflüfjige Berinftrumentirung mozartifcher Kunftwerke in der Suite „Mos zartiana“; ich verurtheile auch nicht an jich die Zufammenftellung von Ballet- tüdchen zu einer Nuplnader: Suite. ch Habe gegen die billigen Echerze folder Werke nichts einzuwenden. Hat ein erniter Komponift Sinn und Zeit dafür, fo mag er Sie fchreiben. Aber man laffe die Muſik ba, wo die Balleteuschen als Blumen, als Arabermädchen oder Ehinelinnen ihre Pas machen. Bringt man, wie e8 jegt Mode wird, den chinefifchen Tanz für - Flöte, Pillelflöte, Fagotte, Glockenſpiel und Etreichorchefter in den Rahmen eines erniten Konzerts und fpekulirt damit und mit der Marche Miniature aus der erſten Suite auf ben Dacaporuf bei der blöden Menge, dann ver— wifcht man eben gänzlich die Unterfchiede zwifchen Kunftpflege und Bierkonzert. Und ein großer Theil der Muſik Tſchaikowskijs ift eben nichts als fehr gut gemachte Muſik für Garten: und Bierkonzerte. Warum veranftaltet man denn nicht einmal, wie ich nun ſchon oft genug empfahl, einen Sonzert- abend, der dieſem leichten Genre gewidmet ift und folche inftrumentalen Brettl: fünfte in vollendeter Weife vorführt? Da jind ſolche Stüde am Platz. Nur vergeffe man dann nicht, daß man, zum Beifpiel, in der Serenade und dem Alt Wiener Reigen für Streich: Orchefter (bei Schott in Mainz erſchienen) von Oskar Strauß, der bei den Pächtern der höheren Kunſt geru mit einem fi done! abgethan wird, Stüde ganz ähnlicher Art hat, die nicht mit den plumpen Effekten des Ruſſen arbeiten.

Tſchaikowskij hat ja auch viel Sinn für Tanzmuſik. Leider benft er aber oft, wenn er einen Walzer in ein Werk höherer Stilordnung einflict, er müffe um der „Kunft“ willen etwas funftvoller jchreiben und den armen Walzer rhythmiſch und harmoniſch recht Fomplizirt madhen. So kommen denn Kurioſa zu Etande, bei denen man fich alle Glieder verrenfen kann und bei denen alle Walgerfeligfeit dahin geht. Als ob nicht der Walzer gerade dann eine höchſte Kunftleiftung in feiner Art bedeutet, wenn er ein echter Walzer iſt! Freilich: viele Kunſtwalzerdrechsler von heutzutage bringen nur darum fo edige, fantige Monftra aus ihren Drehbänfen, weil fie weder den Kopf noh das Herz noch den Griff für einen richtigen Walzer haben.

Natürlich it mit diefer Charafteriftif das Weſen Tſchaikowskijs nicht erſchöpft. Er hat fehr viel gelernt, hat fogar die deutfchen Einflüſſe fo ftarf auf ich wirken laffen, daj die echten Auflen in der Muſik ihm feinen Abfall von der Nationalmufil vorwarfen. Sie haben Recht, wenn fie unter Nationalmuſik die Verwendung volfsthümlicher Elemente verftehen. Sonſt aber iſt in feinem ganzen Kulturſtandpunkt auch Tſchaikowskij noch ruſſiſch genug.

Peter Jijitſch Tſchattowsttj. 6l

Sehr viel merkt man von dem Einfluß Schumannd. In feinem Stil, nur um einige ruffifhe Nuancen bereichert und etwas von der Haus⸗ zur Salonmufif neigend, find die feinen Klavierſachen gefchrieben. Hier haben wir die beften Gaben Tſchaikowskijs -zu fuchen, hier deden fih Inhalt und Form, bier reichen die feelifchen Kräfte zur Beherrſchung des Mufikalifchen aus. Aehnliches gilt von feinen Kammermuſikwerken. Auch bier find die weiteuropäifchen Einfläffe nüglich verwerthet; die BZufammenfegung des Inſtrumentalkorpers bewahrt vor den Ertremen im Klaugfpielerifchen und die gediegene Arbeit des Komponiften im Berein mit feinem Sinn für Klang läßt eine ungeträhte Freude an diefen Werken auflommen.

Meberhaupt ift ja bei Tſchaikowskij das leichte Schaffen, der Reich: thum jeiner Einfälle, die Sicherheit feiner Geftaltung, die außerordentliche Geſchicklichkeit im Sag fehr zu rühmen. Ein befonderer Vorzug ift feine Inftrumentation, die wirkfam ift wie die ganz weniger Mufiler. Natürlich giebt8 auch hier, wenn man näher zufieht, inpifche Manieren; man denke an ben beliebten Wechſel zwiichen der Streider- und der Holzbläfergruppe, an die Vorliebe für tiefe Klarinetten und Fagotte, die Sechzehntelpaffagen des ganzen Streichorchefters, die ja ſtets mit tötlicher Sicherheit zünden, dann ar die fchon gefchilderten Lärmfzenen. Das Alles erlaubt uns nicht, von einer durchgeiftigten, funftvollen, fondern nur, von einer äußerſt brillanten, für die Zwecke der Augenblickswirkung allerdings geradezu mufterhaften Inſtru— mentatiom zu reden.

Der geiftige Gehalt der großen Orcheſterwerke iſt oft bedenklich ſchwach oder rückſtändig. In der ſymphoniſchen Dichtung oder Duverture „Romeo und Jülia“ wird der Komponift dem Dichter durchaus nicht gerecht, weder im Kampf der feindlihen Häufer noch in der Liebeſzene. Er giebt eine neue Variante: Romeo und Yulia in Rußland. Die Manfred-Symphonie beweift in dem Aeuferlichen ihres Aufbaues, daß fie den Fortfchritt, der feit Berlioz durch Liſzt gemacht war, nicht benugen will, daß die moderne Auf: faffung der Programmmufif für fie nicht vorhanden oder nicht verftanden ift.

In feinen Programmmufilen jind e8 beſonders Fehler poetifcher Natur, die Tſchaikowskij nicht zur befriedigenden Löfung des Problemes gelangen laſſen. In feinen Symphonien und Suiten fällt ein anderer, techniſcher Mangel fchwer ind Gewicht, die Art der thematifchen Arbeit. Tſchaikowskij ift es meiſt verfagt geblieben, feine Gedanken organiſch zu entwideln, feine Themen wirklich in einander zu arbeiten, alfo mufifalifh zu geitalten. Das echt fumphonifche Element fehlt. Er liebt das Variiren, auch wo er nicht mödrüdlich fchreibt: Tema con Variazioni, und zwar nicht das Variiren im Geift von Beethoven oder Brahms, das Neufchaffen, das Umgeſtalten, ondern das Farbewechſeln, das Neu-Anftreihen. Die Themen werden nicht

62 Die Zukunft.

entwidelt und motivifch verarbeitet, fondern aufgeftellt, dann in immer neue Farben getaucht und dem Zufchauer wieder und wieder gezeigt. Die frifche Farbe glänzt natürlich und den Kindern im Publikum machts viel Spaß. Die ftrahlen und Hatfchen in die Hände: immer wieder ber felbe Holzmann mit den böfen Augen, bald fchwarz, bald roth, oder das felbe fteife Mädchen, bald blau, bald grün. Das ift ganz im Sinn einer ımentwidelten Kultur: nur Flangliche, oft kaum rhythmifche Nengeftaltung, feine wirkliche Bartation. Wohlgemerkt: ich rede von Sägen, die nicht als Variationen bezeichnet jind. Auch die umbarmherzige Länge der meiften Stücke erklärt fih aus diefer Art des Aufbaues, die, ähnlich den Permutationen mit Zahlen, nicht leicht zu erſchöpfen if. Doch endlih muß ich auf die Frage Rede ftehen: Warum aber ift denn biefer Tſchaikowskij, von dem bier jo viel Böfes fteht, fo beliebt? Ich habe manche Gründe fchon nebenbei erwähnt und wieberhole vor allen Dingen: Tſchaikowskij ift ein in feiner Art durchaus echter Muſiler mit außerorbentlich viel Temperament, leichter und, wenn mans äußerlich nimmt, reicher Erfindung, einer, der was lann und gut verwerthet, was er kann; in Heinen Formen, und wenn er ſich mal konzentrirt, fogar ein Poet. Ein großer Vorzug ift weiter: feine Sachen Mingen. Er giebt den Ohren, was der Ohren ift, gönnt ihnen neben ein paar eingänglichen Melodien, die ohne befondere Gefühlstiefe find, alfo nur äuferlich wohlthun, eine orbent- liche Doſis elementarfter Nervenreizungen. Erft ftreichelt er und miegt in fpießbürgerliche Behaglichkeit, dann reift er plögli mit fi fort. Er wählt feine Tiefen auf, bringt Feine inneren Lebensmächte in Bewegung, aber er bietet frifches, ermunterndes Leben. Mit ein paar Xäufen, einer Theater- ftretta, einem tüchtigen Fortiſſimo brennt er ein Feuerwerk ab, das blendet und den guten Konzertſpießer glauben macht, er habe eine Leidenfchaft gehört. Daß Alles klingt, hilft zur Anerlennung Wir Deutfchen denken angeblich oft zu viel in der Mufil. Es kommt zwar immer noch darauf an, wann, wo und wie. Aber Tſchaikowskijs Erfolge lehren uns, daß das Volt auch Mingende Muſik braudt. Trogdem follten wir uns biefe Weisheit nicht erft von einem Ruſſen predigen laffen. Wir haben beſſere Vorbilder bei den göttlichen Stalienern, bei Franzoſen und bei uns felbft. Ein weiterer Vorzug der Muſik Tſchaikowskijs, der ihr raſch Boden gewann, ift ihre Genügjamleit in den Anforderungen an den Geiit der Zu- hörer. Er geht faft nie in die legten Tiefen der feelifchen Regungen hinab, in die nur Wenige zu dringen vermögen; die Geheimnifje der Kunſt und bes Lebens bleiben unberührt liegen. Ex bleibt in einer mittleren Sphäre und giebt Leicht verftändlichen Empfindungen, wie Freude, Trauer, Liebe, Stolz, Sehnſucht, Hoffnung, in ihren allgemeinften Abftufungen deutlich greifbaren

Peter Iljitſch Tſchaikowskij. 63

Ausdruck, vermeidet Konflikte und Verſchlingungen, feine Beziehungen und innerliche Entwickelungen, giebt Eins nach dem Anderen und wiederholts oft genug, um verſtanden zu werden. Das gefällt. Das hat auch feine Bes rechtigung und ift verdienftlich. Beſonders, wenns mit fo echtem muſikaliſchen Empfinden und fo viel Lebenswärme ausgeſprochen wird wie bei Tſchai⸗ kowstij. Aber man ſoll den Künftler, der in diefen Bahnen mandelt, nicht neben den Großen im Reich des Geiftes der Muſik nennen, foll den Ab- ftand wahren, der ihn von ihrer einfamen Höhe trennt, trogdem er in ver⸗ fchiedenen Werken den Anlauf zur höchften Kunft genommen hat. Wir haben thatſächlich, wenn auch kaum ganze Werke, fo doch einzelne Säge von ihm, auf die die bisher gemachten Ausftellungen nicht anwendbar find, im denen er weder brutal noch Irivial noch Eihmperig ift, im denen er all die fchönen Kräfte feiner Mufikernatur feit zufammenfaßt und eine wirklich geſchloſſene Kunftleiftung giebt. Schon bei den Quartetten das berühmte A-moll- Trio hat auch feine ſchwachen Aeuperlichfeiten ift Das rüdhaltlo8 anzu: ertennen. Auch das PViolinfonzert und das Klavierkonzert in B-moll das in G-dur ift fürchterlich! werden in der Gattung, der fie angehören, immer zu den beiten Leiftungen gehören. Das Höchite aber find die eriten Säge von Werken wie der Manfred:Symphonie, die ald Ganzes abzufehnen tft, der E-moll- und H-moll-Symphonie. Dar man Tſchaikowskij überhaupt unter bie Götter ber Muſik verfegt hat, dankt er ja diefer H-moll-Symphonie. - Ich kann nur den erften Sag bewundern, den allerdings uneingefchräntt. Er ift eine Leiftung erſten Ranges, die zeigt, daß der Ruſſe eine aufer: ordentliche mufifalifche Kraft befag, wenn er jich einmal an eine große Idee hingab. Aber er war eben ein Kind einer unentwidelten Kultur. Cr konnte nicht fange auf der Höhe bleiben. Und fo find fchon die beiden Mittelſätze wieder ein Rückfall, der eine eine niebliche, nur zu lang gerathene Spielerei im 5/e Talt, der andere eine Volls- und Soldatenizene, bei der Bizet Pathe ge: ftanden und den Gevatterbrief in ein paar Seiten Carmenpartitur einge= widelt hat. Auch der legte Satz ift lange nicht fo bedeutend, wie die An: beter des Werkes behaupten. Trotzdem iſts recht und billig, daß unfere großen Dirigenten, denen das Werk aud wegen feiner ganz enormen Wirk⸗ famteit fehr lieb ift, der Symphonie einen feften Blag im deutjchen Konzert— leben gejichert haben. Wenn fich die Kritik niederer Gattung, die überall der Trabant des Erfolges ift, fo weit vergigt, daß fie die Symphonie als die bedeutendfte Leiftung feit der „Neunten“ hinftellt, fo ift Das freilich eine Blamage für fie und die vielen Nachbeter diefer Anfchauung, die wieder zeigt, in welcher Berfaflung das fünftlerifche Allgemeinurtheil fich heute befindet. Wir haben nicht nur auf Liſzts Fauſt-Symphonie und auf Brahms, fondern noch auf manches Andere hinzumeilen, ehe die Pathetique von Peter Iljitſch

64 Die Zukuuft. | &

Tſchaikowslij in Betracht käme. Und wenn man vollends in den felben feieenden Jubelton auch die Salon-Orcheftermufit, die nichts ift als beflere, fehr effeftoolle Unterhaltungmufil, als Dffenbarungen eine Genius preift, dann hört doch Alles auf. Und das Publikum, das natürlich folche angenehm bübfche Stüdchen gern hört, verliert da8 Bischen Kunftverftand, das ihm durd) die Erziehung zu Beethoven, Rifzt, Brahms und Brudner beigebradjt wird, gleich wieder, wenn man ihm Tſchaikowskij als Geift der felben hohen Sphäre vorfegt.

Zum Schluß aber nehme man noch den Verſuch einer pfychologifchen Erklärung dieſes Gefammtbildes. Abgefehen von der niedrigen Kulturftufe feines Volkes, ſcheint mir Eins Außerft wichtig für die Beurtheilung Tſchai⸗ kowskijs: fein Verhältniß zum Theater. Seine Opern und Ballete find mohl biß auf „Eugen Onegin“ und „Jolanthe“ in Deutfchland ganz unbefannt geblieben. Dennoch jind fiewichtig, vielleicht Ausfchlag gebend für die Beurtheilung des Unter- grundes, aufdem Tſchaikowskijs Schaffen erwuchs. Iſt nicht vielleicht da3 Theater, die Oper alten Stiles das Elenıent, aus deffen geiftiger Atmofphäre fich die Wefens- eigenthümlichkeit auch der Konzertmuſik des Komponiſten herleiten läßt ? Iſt nicht bei ihm in Allem das Arbeiten mit ftarken Effekten, die bei Rampenlicht wirken, mit Gefühlen, die an Eouliffenpatho8 erinnern, mit deforativem Prunf und Zlitter ein höchſt charakteriftiiches Moment? Iſt nit auch in den Konzertwerfen viel Theatralif, da ein Bischen Komoedie, da ein Bischen Tragoedie, dort ein milder Mörder, dort eine ſchmachtende Donna, Blut und Zärtlichkeit, hochgefteigerte Gefühle, blendende Effekte? Das Alles iſt Oper alten Stil8.

Als Konzertmuſik drüden folche Beftandtheile nieder; fie verflachen, vergröbern.

Was man einem Troubadour, einer Amelia, einer Santuzza nachjfieht, weil fie eben Theaterfiguren ohne die tiefe, cchte Menſchlichkeit find, wirkt platt und trivial ohne die Szene. In feinen Bühnenwerken konnte Tſchaikowskij jo fchreiben, aber er mußte ihre Welt von der abfoluter Muſik ſcheiden. Doch er blieb Theatralifer auch, wo Couliſſen und Schminke fehlen follten.

Mir Deutfchen follen nur nicht vergeffen, dag der KHulturftandpuntt, für den Tſchaikowskij Bedeutung hat, von ung überwunden tft und daß wir uns an den Bellen unferer eigenen Geifter verfündigen, wenn wir um des lieben, bequemen Meaffenerfolges willen allzu viel Zeit an Werke verfchwenven, die zur angenehmen Zerftreuungsfunft gehören. Wenigftend follen wir dann einfehen, was fie jind, und uns nicht noch brüften, wenn unfere vornehmen Konzerte ihren Bedarf an Zugſtückchen aus den Garten: und Bierlonzerten beziehen, al3 ob wir „moderne Novitäten“ gebracht hätten. Wir ind Beethoven

und Denen, die feines Geiſtes iind, fchuldig, dar mir die Kluft refpektirem, '

die jie von dem tüchtigen ouvrier Tſchaikowskij trennt. Dan fegt nicht Goethe und Geibel, Bödlin und Ihumann auf einen Denfmalsfodel. Leipzig. Dr. Georg Göhler. *

Die Borgeichichte des Konkordates. 65

Die Dorgefchichte des Ronfordates.

Sr dürfte in diefen Tagen der „Eulturfämpferifchen” Borgänge in Frank— reih nicht unangebradt jein, die Aufmerkſamkeit auf ein im Verlage Plon erſchienenes Bud: „Rome, Naples et le Directoire. Armistices et traites 1796—1797° von Joſeph du Teil zu lenken. Es ift eine Darftellung der mit den Feldzügen Bonapartes in Italien verknüpften diplomatiſchen Ge- ſchichte; und das Hauptthema bietet das Verhältniß zwiſchen der franzöfifchen Republik und dem Heiligen Stuhl.

Der Verfaſſer giebt zunächſt eine orientirende Darftellung der mantid- fahen Zerwidelungen und Phaſen im diplomatifchen Verkehr Frankreichs mit dem Bontififat und dem Stönigreich Beider Sizilien nad) dem Ausbruch der Revolution. In Neapel wurden regelmäßige diplomatijche Verbindungen mit Frankreich bis zum Sturz des Königthumes unterhalten; und der Vertreter des Nachbarſtaates wurde erit dann ausgewiejen, als fi Beide Sizilien der Koalition anichlofien, die fih nad der Hinrichtung Ludwigs des Sechzehnten bildete. Rom dagegen brach offiziell mit Frankreich jchon bei dem aus der Revolution hervor- gegangenen Schisma innerhalb der gallifanischen Kirche, obgleich die Gefchäfts- verbindungen bis zur Ermordung Baflevilles fortdauerten. Während aljo der Brud zwifden Paris und dem Hof von Weapel durch politifche und dynaſtiſche Gründe hervorgerufen wurde, ließ ſich Rom in feiner Haltung Frankreich gegen- über von den höchſten religidjen Tragen bejtinnmen. Auf diefem Standpunft blicb Pius VI. fonfequent jtehen.

Durch die bürgerliche Neuordnung des franzöfiichen Klerus und beſonders dur den allen Geiſtlichen auferlegten Bürgereid ſah fich der Papit genöthigt, Stellung zu nehmen und fih auszujpreden. Er that es denn aud. Die Folge war, daß der franzöfiiche Geſandte, Kardinal de Bernis, feinen Abfchied nahm. Seitdem gab es Feine offizielle Bertretung Frankreichs am päpftlihen Hof. Der Sefretär Bernis’, Bernard, der als interimijtiicher Geichäftsträger fungirte, wurde nur ala agent avou& mais non reconnu geduldet; und als Ludwig XVI. einen neuen Botjchafter, den Grafen de Ségur, ernannt hatte, weigerte fih Pius, ihn zu empfangen, weil er den Bürgereid geleiftet habe. Der Bruch wurde durch einen revolutionären Streih in Paris verſchärft und beichleunigt, da eine Puppe, die den Bapit darftellte, durch die Straßen in ſchimpflicher Weije herum: getragen und im Garten bes Palais Royal verbrannt wurde. Der Nuntius forderte feine Päſſe und verließ Paris. Der Staatsjekretär Kardinal Zelada unterhielt, nachdem auch dem Uditor der Nuntiatur befohlen war, fi) zurüd: zuziehen, dur Abbe Salamon, einen ehemaligen geiſtlichen PBarlamentsrath, noch offiziöfe Beziehungen am parifer Hof und ftand mit ihm in einen fleißigen und werthvollen Briefwechjel vom Auguft 1791 bis Mai 1792. Abbe Salamon wurde einige Donate |päter verhaftet und ſaß lange im Gefängniß. Franzöſiſcher Botſchafter in Neapel war feit Ende April 1792 Madau. Bei der Nachricht von der Abjeßung des Königs und der Proflamirung der Republik erklärte ihm Terdinand IV., er wolle feine meiteren Berbindungen mit ihm, aber zehn fran- zöfiſche Kriegsichiffe, Die unter dem ſtontreadmiral 2a Touche- Treville im Golf von Neapel erichienen, veranlaßten bald den König, nachzugeben und ſchließ—

66 oo. Die Zukunft.

li aud Ende Januar 1792 den diplomatijchen Vertreter ber Republik anguer- fennen. Der Abmiral war zugleich der Ueberbringer eines Auftrages des Marine⸗ minijters an die franzöfifhen Konfuln, das königliche Wappen über ihren Thüren durch die Embleme der Republif zu erjegen. In Rom wurde biefe Anweijung dem Botjchaftsfelretär Madaus, Bafleville, zugeftellt, der ſchon vorher zu diplo⸗ matijcher Orientirung dorthin geſchickt war. Er erſuchte in ſchroffer Form ben Batifan, dafür zu forgen, daß diefe Maßregel von der Bevölkerung reipeftirt werde. Das Stantsfekretariat lehnte jelbftverftändlich diefes Geſuch ab. Diele und andere unbedachte unb beleidigende Handlungen von franzbſiſcher Seite . riefen am dreizehnten Januar 1793 einen Auflauf auf dem Korfo hervor, wobei Baſſeville tötlich verlegt wurde; er ftarb am folgenden Tag. Nach dieſem Er- eignig und einem zweiten Auflauf am elften Februar verließen alle Franzoſen Rom, mit Ausnahme der Emigranten, die nicht nad) Frankreich zurüdfehren fonnten, und derer, die ſchon naturalijirte Römer geworden waren. Bon da ab und bis zum Kriege 1796 war jede regelmäßige und zuverläffige Verbindung zwiſchen Rom und Paris abgebroden.

Die Ermordung Bafjevilles machte im Nationallonvent viel Lärm; das Minifterium des Auswärtigen beurtheilte ab:r die Angelegenheit ruhiger. Der ehemalige Sekretär an der franzöfiihen Gefandtichaft in Neapel, Cacault, der Ion am neungzehnten Jannar zum Agenten der Republit am päpftlien Hof ernannt worden, teilte Anfang Februar ab, mit einem befonnenen Schreiben an das Staat$jefretariat und einem Ultimatum, bei deren Annahme er feine Be- glaubigungbriefe überreichen könnte. Er fam jedoch nie jo weit; in Tusfana erhielt er die Antwort des Papſtes, die einem non-recevoir gleihfam: und Cacault zog es vor, von Florenz aus das Terrain um den Heiligen Vater näher zu jondiren. Die republifanifche Regirung jann freilich weiter auf NRade; ein offizieller Erlaß des Kardinal Zelada, worin das Staatsjefretariat den Mord mißbilligte und ſich jelbjt von jeder Verantwortung freiſprach, wurde von ihr für ungenügend befunden; nachdem fie ihren erjten Plan von einem Einfall in

das Gebiet des Kirchenftaates aufgegeben hatte, ging fie mit dem Gedanken um, eine‘

große italienische Koalition zur Vernichtung der weltlichen Macht des Papftes zu bilden; in Neapel, wo fie in diefem Sinn anklopfte, wurde ihr aber abgewinft.

Es war nicht nur die revolutionäre Propaganda in Paris, die zum ge» waltiamen Vorgehen trieb; auf, der anderen Eeite fuchten die royaliftiichen Emigranten und ihre Verbündeten Pius den Sechsten nah Kräften zu be» wegen, den Bannftrahl gegen die Republik zu jchleudern. Ihre Sade am Vatikan führte Abb Mauri, der Ende 1791 den Bla des Kardinals Bernis eingenommen Hatte. Dan erzähle in Rom, theilt Cacault feiner Regirung mit, Abbe Mauri Habe, als er dem Papit fein Memorandum vorlas und nachdem er jich über das Ungläd des fchönften Königreiches der Welt ausgelaffen, das er dem Janſenismus, den reiheiten der gallifanifchen Kirche und beſonders der auszurottenden Philojophie zufchrieb, zulett dem greifen Pius zugerufen: Je vons somme de fulminer l’exconmunication; worauf der Bapft ihm geant- wortet habe: Je vous somme, je vous somme! ... Me prenez-vous, mon- sieur l’abbe, pour Valenciennes ou Cond&e? Als der Papſt feinem Prinzip, felbft nie Feindjäligfeiten zu eröffnen, treu blieb und die republikaniſche Re:

Die Torgefchichte des Konkordates. 67

girung die ſchon getroffenen antikirchlichen Maßregeln nicht weiter verichärfte, blieb denn auch auf dem religiöfen Gebiet Alles in statu quo.

Der Hof Beider Sizilien brach am erften September 1793 offiziell mit der Republik, nachdem lange nad einer günftigen Gelegenheit gejucht worden war. Mackau und der franzöfiihe Konful erhielten Befehl, abzureifen; bie Bapiere bed Geſandten ließ Acton, nad einem Bericht Cacaults, in defjen Haufe ftehlen; und alle Franzofen wurden mit einer Friſt von zwanzig Tagen aus dem Lande gewiefen. Der neuernannte Botfchafter Dlaret, der ſchon unter- weg3 war, wurde in Novala von den Defterreichern aufgegriffen und in Mantua ins Gefängniß geitedt.. Die Inſtruktionen, die Maret erhalten Hatte, geben eine genaue Vorjtellung von der im parijer Auswärtigen Amt herrſchenden Auf- faflung. „Der Einfluß des Königs“, Heißt es darin, „ilt fait Null, denn er bat weder Grundſätze noch Charakter noch Geltung.” Bon der Königin Marie Karoline, der Schweiter Marie Untoinettes und ber beiden Kaiſer Joſeph und Leopold, wird gefagt, ihr Geift neige zur Intrigue, ihre Übertriebene Leiden: jchaftlichteit aber verhindere fie, ihre Gefühle zu verheimlichen. Leber ihren Sünftling Acton Heißt ed: „Der General Acton genicht die größte Intimität der Königin. Obgleich er ein wenig einnehmendes Aeußere und Feine Qichens- würdigleit, weder der Formen noc des Geiltes, befißt, ſteht er ſchon lange in ihrer Gunſt. Als Minifter taugt er nicht viel. Seine ganze Politik befteht im Haß, den er mit der Königin gegen Spanien theilt, und in der Ergebenbeit, die er England bezeugt. Diefer Ealte, mißtrauiſche Dann erwedt fein Vertrauen.“

Als Generaliſſimus in Italien batte ſich Bonaparte zwei Hauptziele geſtellt: die Sprengung der Koalition und die Regelung des Verhältniſſes zwiſchen der Republik und dem Pontifikat. Sein Plan war, alle Kräfte gegen Oeſter⸗ reich zu konzentriren; und er verfolgte unter vielen anjcheinenden Umfchlägen und allerlei Verkleidungen die Idee vom Einvernehmen zwiſchen Staat und Kirche, die er fpäter als Erſter Konſul durch das Konkordat verwirklichen jollte. „Wir brauchen”, ſchrieb er dem Direktorium, „bie Einheitlichfeit des militärifchen, diplomatifchen und finanziellen Gedankens“. Deshalb wünſchte er Waffenftill: jtände und Berträge mit den verfchiedenen Lleinen italienijchen Fürſten, um es allein mit den Defterreichern zu thun zu haben, fie aus dem Lande verjagen zu können und dann mit feinem Heer den Weg nad Wien einzufchlagen. Sein Feldzugsplan war, fi} der Tirolerpäſſe zu bemächtigen, in das Innere Tirots

einzubringen, fich mit der Rheinarmee zu vereinigen, den Kaiſer in jeinen eigenen

Erbländern anzugreifen und ihn zum Frieden zu zwingen. Durd die Trennung Oeſterreichs von Eugland würde die Koalition in nichtS zerfallen.

Mit diejer Politik waren aber die Machthaber in Paris dburdaus nicht einverjtanden. Oberſter Machthaber war das Direftorium; und die Majorität innerhalb des Direktoriums hatte ihr Hauptaugenmerk auf die Eleinen italieni- ſchen Staaten und fuchte Bonaparte gegen Neapel und ganz bejonders gegen den Bapft zu beten. Sie befahl ihm immer wieder, fein Heer in zwei Hälften zu theilen, durch die eine das eroberte Norditalien befegt zu halten und an ber

Spitze der anderen und größeren Hälfte nad) Mittel» und Süditalien zu marjchiren.

Rewbell Hatte die Leitung der ausmärtigen Angelegenheiten an ji) gerifien; Barras und Ta Revelliere- Lepeaur waren einig mit ihm; Delacroix, der Mi-

68 Die Zukunft.

niſter, beſchränkte ſich darauf, jein erfter Handlanger zu fein; und die $ der Armee, Garrau und Saliceti, follten zufehen, daß die Machtbefi Ordres bed Direftoriums von Bonaparte rejpeftirt würben,

Bonaparte field aber gar nicht ein, fi in die fopflofen und Vorſchriften zu fügen. Wenn er Sieger geworben, fchreibt er ſelbſt Sankt Helena, fo „ift es troß und duch Beratung der Inſtrul Regirung“ geſchehen. Er nahm den Kampf gegen Rewbell und B indem er fi mit Carnot verband, der ja felbjt militärifcher Sadır war und fi zufammen mit Le Tourneur in offenem Zwieſpalt z übrigen Kollegen befand. Die feindlide Gruppe der Direktoren mu volens nadgeben und lieferte dem Befehlshaber die eine Machtvolll nach der anderen ſtillſchweigend aus, fi) darauf beſchränkend, den gut, wie es ging, zu deden. „1796 und 1797 wurde das Belt bei toınmandanten ber italienifhen Urmce das Burcau der ausmwärtiger des Direktoriums.“ Die Kommiffare wurben von Bonaparte immer m ftellt; er gewößnte fich, Über fie Hinmweg zu verhandeln und Verträge ab; es fam bald zu einem Kampf, worin die Kommiſſare den Kürzeren

Carnot war der eine Mitwiſſer und Mitgelfer Bonapartes. ! war ber in ber Geſchichte weniger befannte Cacault. Francois 1743 zu Nantes geboren und wurde 1764 Lehrer der Befeftigungsku töniglihen Militärſchule. 1766 wurde er außerdem zum Stubieninfpeft verließ aber nad) drei Jahren diefe Stellung, ald eine Reform des 1 weſens vorgenommen wurbe. Zugleid zwang ihn ein Duell, Fram läufig zu verlaffen. Mit Hilfe einer Venfion von 100 Piftolen, d Militärfcjule gewägtte, machte er nun größere, mehrjährige Reifen i der Schweiz, Deutſchland, Holland und England und ſtudirte die frı raturen. Er überjegte dann auch ſpäter Ramlers Gedichte und Leſſings D ins Franzöfifche. 1775 Lehrte er nach Frankreich zurüd und war zehn Staatsjefretär des damaligen Gouverneurs der Bretagne und jpäteren M France, Marquis b’Aubereree. Dieler, der felbit viele Jahre hindurd in Wien, Madrid und Rom geweſen war, nahm die große Veranlag Schüglings für die diplomatiſche Laufbahn wahr und verichaffte ihm Poften als Legationfefretär in Neapel unter Talleyrand. Nach der Talleyrands im Auguft 1791 wurde er interimiftiiher charge d’af übernahm im April 1792 unter dem neuen Gefandten Mackau wiede des Sekretärs. Am erften Oftober verlieh er Neapel und murde, erwähnt, im Januar 1793 zum Agenten der Republit am päpftl ernannt. Erft im Sommer 1796 follte er das Ziel feiner Reife er: die ſchwierigen Gefchäfte in Rom übernehmen.

Während dieſer langen Zwiſchenzeit war er zuerſt interimif ſandter in Florenz, vom Oftober 1793 bis zur Ankunft Miots im und dann feit Februar 1796 im felben Amt in Genua. Hier wu befreundet mit Joſeph Bonaparte, der fich dort in den Geſchäftsange des Haufes Clary aufhielt. Er bürfte in feiner Gejellihaft Genu haben und wurde von ihm mit den wärmften Empfehlungen Napoleon

Bonaparte und Cacault verftanden einander fofort. Cacau

Die Vorgefchichte des Konkordates. 69

genauer Kenner der italienifchen Verhältnifie für den General ein unſchätzbarer Berather, „le meilleur dietionnaire qu’il put consulter“ ; und bie Bolitit’Bona- partes war gerade die jelbe, die Cacault feit drei Jahren in feinen nad Paris geſchickten Berichten unermüdlich befürwortet hatte. „Wären wir”, fchreibt er don 1793, „Sieger in der Lombardei und könnten wir uns ber Päſſe nad Tirol bemädtigen, jo wäre ganz Italien unfer.” Ein Jahr jpäter wiederholt er: „Es ijt klar bewieſen, daß der wichtigfte Gegenstand der italienischen Er- - oberung Piemont und die Öfterreichifche Lombardei iſt. Das Eine, weil c3 Herr der Berbindungpäfle mit frankreich, das Andere, weil es Herr der Verbindung. päfle mit Deutichland iſt.“ Am neunten Mai 1795 lehnt er fih in einem Brief an Delacroiz gegen die vom Direktorium gewünſchte Theilung des Heeres energiich auf: „Dan ristirt, Alles zu verlieren, wenn bie franzöjifhe Armee in Stalien, die weder ſtark noch zahlreich genug ilt,... fich in italien zerfplittert und zerftreut.” Sacault hat in jeinen zahlreihen Eingaben an das Auswärtige Umt in Paris alle Phafen und Refultate des Feldzuges 1796 mit einer Genauigfeit und Hlar- beit vorausgejehen, die faft divinatoriich wirft. Die Uebereinjtimmung diejer Ausführungen Cacaults mit den Plänen Bonapartes tft auffällig. Nachdem Cacault mehrere Zufammenkfünfte mit dem General gehabt hatte, befam er im Juli 1796 Ordre, fi nah Rom zu begeben, um dort die Erfüllung der Be dingungen bes Waffenftillftandes von Bologna zu überwachen.

Durch diefe Aufgabe wurde Cacault die eigentlide Mittelperfon in den Ihwicrigen Verhandlungen zwiſchen der Republik und dem Oberhaupt der Kirche. Bei derAnbahnung des Konkordates jtand er von Anfang an auf Bonapartes Seite als jein hauptjädlicher Mitarbeiter. Napoleon vergaß ſpäter nicht, was er ihm ihuldete. 1801 fchrieb er an Talleyrand, er wünjde, daß Cacault ſich fofort als bevollmächtigter Minifter und chargs d’affaires nah Rom begebe, mit einer doppelten Vollmacht: die eine für das Geiftliche, die andere für das Yeitliche, und daB der Vertrag durch ihn und eine vom Papft erſehene Perjon unterzeichnet werde. Cacault blieb in Rom bis 1803 und ftarb zwei Jahre jpäter in der Madelaine bei Clijjon.

„Zu Gunften des Heiligen Stuhles,“ jchreibt Du Teil, „der troß ber großen Mäßigung und der Kaltblütigkeit des Papſtes ſich allein nicht genügend vertheidigen fonnte, muß mit Barrad angenommen werden, daß eine unfichtbare Hand eingriff, die zu ihren Werkzeugen Bonaparte in der Armee und Carnot in Paris erwählte.“ Der Dritte im Bunde war Cacault. Das Bud enthält ſehr charakteriſtiſche Portraits von diefen drei Männern. Der junge General auf dem in Milano von Aleffi „nach der Natur gezeichneten” Profilbildniß hat ein langes, hageres Geficht mit langer, fcharfer Nafe und langgezogenem Kinn. Die ſchwarze Haarmähne ijt über die Stim und die Ohren heruntergefämmt; der Mund mit den dünnen Lippen ftcht Halb offen; und die etwas ſchläfrige Miene, womit der junge Mann vor ſich hinausblidt, verrät Aufmerkſamkeit und Schlauheit. Der Direktor iſt ein älterer, äußerſt joignirter Mann mit einem bartlojen, verfeinerten, zugleid) milden und ffeptiichen Geſicht; das weiße, üppige, ihöngepflegte Haar faßt wie ein Kranz die hohe Stirn und den fahlen Vorder- topf ein. Das Bild portrait du temps, ecole de Boilly wirft mit der lederen Behandlung und dem großen, weißen Epigenfragen beinahe wie ein Yan

070 Die Zutunft.

Dhck aus der Zeit ber Stuarts. Der politifche Agent dagegen, wie ihn das Portrait von Sablet aus der Gemäldegalerie zu Nantes uns vorftellt, ift ein ganz anderer Typus: in dem nad der Mode der Zeit eng gefnöpften Rod mit doppelter Knopfreihe und großen Auffchlägen und mit bem verbaltenen, gut- launigen Lachen auf dem breiten, grobzügigen Keltengeficht fieht er halb wie ein Bauer, halb wie ein Geiftlicher aus.

Der im Juli 1795 zwiſchen Frankreich und Spanien abgeſchloſſene Vertrag hatte ſowohl in Neapel wie in Rom eine der in Paris erwarteten völlig ent- gegengejeßte Wirkung. Statt bem Beiſpiel Spaniens zu folgen, näberten ſich die beiden italieniihden Staaten ber Koalition. Der neapolitanifhe Botjchafter in Madrid, der jelbe Belmonte-PBignatelli, ber in den fommenden Verhandlungen zwiſchen Neapel und der franzöfifchen Republik eine fo große Rolle fpielen ſollte, wurde abberufen und Acton verfprach im Februar 1796 der öſterreichiſchen Regirung, die in Norditalien befindlichen Kavallerieregimenter mit Infanterie und Artillerie zu veritärfen. Der Papft dachte weniger als je daran, fih in Verhandlungen einzulafien; al3 ber fpanifche Botſchafter am Batifan, Azara, ihm feine Ber- mittlung anbot, wurde er abgewieſen.

Der Umfdlag folgte aber raſch. Der erfte Anftoß ging von der Regirung der Republik Benedig aus, die im April 1796 plößlid den fih in Berona auf- baltenden Grafen von Lille ben „König“ Ludwig den Adhtzehnten aufforberte, das venezianiſche Gebiet augenblidlich zu verlaſſen; er reifte am einundzwanzigften April ab und gelangte acht Tage [päter in das Hauptquartier Condés in Riegel bei Tsreiburg. In die felbe Zeit fielen die rafchen und entſcheidenden Erfolge der franzöfifden Armee unter Bonaparte: am neumundzwanzigften April zivang er den König von Sardinien zum Waffenftillftand von Cherasco, woburd ihm die Hauptpläße Picmonts ausgeliefert wurden, am neunten Mai den Herzog von Parma zum Waffenitillftand von Biacenza und am fiebenzehnten Mai den Herzog von Modena zu dem von Mailand. Mit folden Beijpielen vor den Augen bereiteten fh aud Rom und Neapel vor, den Weg der Verhandlungen einzufchlagen. Die von Acton wahrfcheinlich nie aufrichtig verfprochenen Truppenverftärfungen wurden nicht abgejandt, und als der neapolitanijche Gefandte in Rom über frieb- lihe Sefinnungen des Bapftes gegen Frankreich zu berichten weiß, bejchließt Ferdinand IV. „die alte Freundichaft, das gute Verftändniß und die Harmonie mit der franzöjiihen Nation wieberzubeleben“, und beauftragt den Fürſten Belmonte-Pignatelli, Das dem General Bonaparte als feine Allerhödjfte Abficht auszudrüden. In Rom, wo fi) zwei Parteien in den Haaren lagen, befam die franzojenfreundliche die Oberhand; der Papft nahm jebt das früher abge: wiejene Angebot der jpanifchen Vermittlung an und ernannte Azara zu feinem Bevollmächtigten bei Bonaparte. Ihm beigejellt wurde ein Abbe Evangelifti, der Jich eine farbige Tracht machen lich und eine militärifche Haarfrifur anlegte, um in der franzöfiichen Armee erfcheinen zu fünnen. Azaras Inſtruktion lautete fahin, „Für das Jeitliche eine möglichjt günjtige Verhandlung mit den Neprä- dentanten Frankreichs einzuleiten, ohne in irgend einem Punkt, bie Religion betreifend, jene Gefühle zu berühren, die Seine Heiligkeit jeit dem Beginn der Revolution bezeugt hatte“.

Die beiden Bevollmächtigten begaben fich fofort auf den Weg über Florenz

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Die. Vorgeſchichte des Kontordates. 71

nach dem Kriegsſchauplatz. In Lodi war Azara nah daran, von einigen taufend aufrühreriſchen Bauern, „die die Franzoſen und ihre Anhänger erwürgen wollten“, ermordet zu werden; Geld, Kleider und Alles, was ſich in ſeinem Wagen befand, wurde ihm weggenommen. Am achtundzwanzigſten Mai kam er in Mailand an; und in der folgenden Nackt traf dort auch der franzöfifche Kommiljar Saliceti ein. „Die Pradt eines Königs kann fich mit der diefes Mannes nicht meflen“, - berichtet Azara an den Staatsfelretär; auf den Straßen Mailands verkaufe er feine Kriegsbeute bis zu den Kelchen und den mit Hoftien gefüllten Ciborien. Evangelifti vervollftändigt das Bild: Saliceti ſei mit feiner Frau und feinen Sefretären im Palaft des Grafen Greppi abgeitiegen, wo er täglid Mahlzeiten zu dreißig bis vierzig Gededen gebe, und zwar auf Koſten des Grafen. Die eigentlichen Verhandlungen fingen aber erft mit der Ankunft Bonapartes am fiebenten uni an; der General hatte ſchon über den Kommifjar hinweg und auf eigene Fauſt mit Neapel einen Waffenftillftand geichlofien.

Belmonte hatte ji von Florenz, wo er ein paar Tage nach Azara eintraf, direft ind Hauptquartier Bonapartes begeben. Er fuhr von Ort zu Ort, um dei ®eneral fo raſch wie möglich zu treffen. Der aber eilte gerade in diefen Tagen von Schlacht zu Schladt, von Sieg zu Sieg. Am breißigiten Mai fchlug er die öfterreichifche Armee bei Borghetto; als fi aber Belmonte wieder durch die Leichen der Gefallenen feinen Weg gebahnt hatte, war der General auf und davon, auf der Jagd nach dem fliehenden Feind. Nachdem Belmonte einen ganzen Tag ge- bungert hatte alle Lebensmittel der Gegend waren vom Heer aufgegeilen und ſelbſt da3 Brot fehlte —, erfuhr er die neuen Kriegsereigniſſe und, daß dag Haupt» guartier nad) Peſchiera verlegt worden war.

Am eriten Juni traf Belmonte danı endlich Bonaparte. Die Umftände waren ja für den neapolitanifchen Bevollmädtigten fo ungänftig wie nur möglich geworden. Der General, der ihn um neun Uhr morgens in feinem Belt er: wartete, empfing ihn mit einem „Ion von Ueberlegenheit“. Belmonte feßte ihm in kurzen Worten den Zwed feiner Mifjion auseinander: er wolle ihm einen Waffenſtillſtand vorfchlagen, um den Weg zu einem Friedensvertrag anzubahnen, worin auch der Papit einbegriffen werden könnte. Bonaparte ermwiderte, der Waffenftillftand dürfe fi nur auf Neapel beziehen und die Friedensverhand—

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lungen müßten in Paris geführt werden. Bei einer zweiten Konferenz war auch 3 der für einen Frieden mit Neapel bejonders günftig gefonnene franzöfiicde Ge— * ſandte in Florenz, Miot, anweſend, der ſowohl Azara wie Belmonte auf ihrer Br Durchreiſe empfangen hatte und ihnen nad dem SKriegsfchauplag gefolgt war; ER dabei wurde eine dritte Begegnung in Breccia verabredet. Am vierten Juni 3

waren alle Drei dort verfammelt.e Sowohl Saliceti wie Miot hatten Briefe .an das Direktorium gefchidt, die Antiworten konnten aber erjt nad einer Woche kommen; WAzara arbeitete, wie jebt verlautete, darauf hin, eine ohne ſpaniſche Vermittelung getroffene Uebereinfunft zu verhindern; und die fißelige ‘Frage von der Schließung der neapolitaniihen Häfen für die engliiden Sciffe war "immer da, um die Erledigung der Angelegenheit nah Belieben in die Länge zu ziehen. Bonaparte madte den Prozeß furz: die Frage gehe nur die Diplo: maten an; für den Augenblid handle es fi) vor Allem darum, die neapolitaniichen Truppen von den öjterreichtichen zu trennen. „Laſſen Sie mir Herrn de Belmonte

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fommen,“ entſchied er kurz und gut; „dann wird der Vertrag bald geſchloſſen fein“. Die am fünften Juni folg nde Verhandlung zwiſchen Bonaparte und Belmonte nahm einen dem Ausfehen nad; ftürmijchen Verlauf; der General hatte ihon jeinen Hut genommen und das Zelt verlajlen; Belmonte ließ ihn aber durh Miot zurüdrufen und man einigte fi vollftändig.e Die Antwort des Direktoriums traf erit am achtzehnten Juni ein; fie enthielt Bedingungen, die der Bertreter Neapel nicht hätte annehmen Tönen.

Nach diefem Waffenftillftand war der Papſt ijolirt. Die erfte Konferenz zwilchen feinen Bevollmächtigten Azara und Bonaparte in Milano ift von Ber deutung, weil der General dabei feinen erjten offiziellen Schritt zu Gunſten des religiöjen riedens that. Während das Direktorium ihm auferlegt hatte, dem Bapft öffentlide Fürbitten für den Erfolg der franzöfiihen Waffen abzufordern, erjuchte er nur den päpftlichen Bevollmächtigten um ein Breve der Verſöhnung. Im Uebrigen ſah er ſich genöthigt, durch ein anfcheinend ftrenges und energijches Vorgehen gegen den Sirchenitaat die Wuth des Kommiſſars Saliceti und den

Argwohn des Direltoriums zu beſchwichtigen. Die aus Paris eingetroffenen

Ordres waren auch von möglichjter Schärfe gegen den Papſt. Am folgenden Tage ließ Bonaparte feine Truppen in das Gebiet des Kirchenſtaates einrüden, obgleich feine Kriegserflärung erlaflen worden war und jowohl er felbit wie Saliceti den vom Papſt abgefandten Vermittler Azara in Milano damit be- rubigt hatten, die friedliche Uebereinkunft fei geſichert. Der plöglicde Einfall, wodurd Bologna, Ferrara und Romagna in wenigen Tagen bejegt wurden und

‚wobei der General die ftrengfte Kriegszucht befohlen hatte, um nicht die religiöjen

Gefühle der Einwohner zu Verlegen ein Örenadier, der einen Kelch geitohlen batte, wurde vor der Front erſchoſſen —, hatte einen doppelten Zweck: es war eine finanzielle Operation, um Geld für die Soldaten aufzutreiben, die feit einem Monat feine Löhnung erhalten hatten, und ein militäriiches Scheinmanöver für das raſche Gelingen des Waffenftillftandes. Der General wünſchte nur, alle feine Streitfräfte gegen die Dejterreicher, die fid) in beunruhigender Weiſe ver- | jtärften, jo rajcd) wie möglid verfammeln zu können. Am dreiundzmwanzigiten Juni wurden ſämmtliche Bedingungen des Direftoriums rundweg angenommen; | nur wurden die Statuen Apollos und Laokoons gegen die mehr republifanifchen | von Junius und Marcus Brutus ausgetauscht. Nach Rom, mo die päpftliche Re— | girung und die ganze Stadt Tage lang zwilchen der äußerften Zuverficht und der änkerjten Muthlofigfeit hin= und hergejchwanft hatte, gelangte die Friedensnach— richt gerade, als die Bährung ihren Höhepunkt erreichte, die Neichen ſich zu flüchten und das Volk ich zu pliindern bereiteten; die Kunde wurde mit allgemeiner Freude ' aufgenommen. Der ſpaniſche Botſchaftſekretär Diendizabal erzählt von dem greifen Papſt, er habe bei einer Audienz dreimal die Worte worin der Schelm zu dentlich jtedt an ihn gerichtet: „Enfin, nous respirons done!*

Der zweite Aft jpielt in ‘Paris, wohin den Beſtimmungen der Ver— träge von Brescia und Bologna gemäß Neapel und Nom Bevollmädtigte ſchickte, um über den endgiltigen Frieden mit dem Direktorium zu verhandeln.

Die Stellungnahme des Direftoriums gegen das Papſtthum während der Verhandlungen wurde von den Beridten und Vorſchlägen beitimmt, die ihm. von den Kommiſſaren Garrau und Saliceti zufamen. Der Kern diefer Mit:

I)

Die Vorgeſchichte des Kontordates. 73

theilungen beſtand in der vollſtändig irrigen Angabe, Pius VI. würde in geiſt— licher Hinſicht alles Mögliche aufopfern, um ſein zeitliches Gut behalten zu dürfen. Die Gruppe Carnot, die vor Allem eine Einigung aller Franzoſen wiederherzu⸗ ſtellen ſuchte, wollte jetzt, um dies Ziel zu erreichen, den Papſt im Vertrag dazu verpflichten, „die Breve, die jo viel Böſes angerichtet”, zu desavouiren, was ja nad den Mittheilungen der Kommiſſare leicht auszumirken ſchien. Die Gruppe Rembell dagegen nahın aus dieſen Mlittheilungen Anlaß, zu erklären, fie fümmere fich wenig um die geiftliche Seite der Angelegenheit, es gelte, den Papſt in Refpeft zu halten, um ven ihm Geld auszupreſſen; die Beitrebungen diefer Gruppe gingen darauf aus, mehr zu fordern, als zu erhalten war, um die Verhandlungen zum Scheitern zu bringen und einen Vorwand zur Ber: nichtung der weltlihen Macht des Papſtes zu finden. Später als die Auf: fafjung der Kommiſſare fid) als faljch erwiejen hatte und man auf die unerfchütter- liche Szeitigkeit des Papſtes in religiöjer Hinficht ſtieß trat eine volljtändige Berichiebung in diefer Figur der Meinungen und des Verhaltens der beiden direftorifchen Gruppen ein: die jet von der Gruppe Carnot aufgegebene Idee von einem Breve des Widerrufens wurde von der Gruppe Rewbell aufgenominen und mit Zähigfeit fejtgehalten, während die Gruppe Carnot über die Kommiſſare hinweg und gegen die Majorität im Direktorium mit Bonaparte zujammtenarbreitete, um jene Einigung mit Rom durchzufegen, die durd) das Konkordat erfolgen ſollte. Die Bertreter des Papjtes, Abbe Pieracchi und der früher ermähnte Evangelifti, reiten ſchon Ende Juni ab, famen aber erft Ende Juli in Paris an. Der Abbe Hatte weltliche Kleidung und den Titel eincs Grafen. angelegt, da fein Geiltlicher in Paris empfangen worden wäre. Delacroix entwarf einen Bertrag, der in der Sigung des Direftoriums am festen Auguft zur Die: kuffion fam. Der Editein, der zugleid; der Stein. des Anſtoßes murde, war ein Paragraph, worin Seine Heiligkeit fid) verpflidten follte, alle jeit 1789 aus: gefertigten und die franzöfiihen Angelegenheiten betreffenden Bullen und Preves zu entfräften, zu widerrufen und zu annulliren. Pieracchi, dem feine Inſtruk— tionen rundiweg verboten, Vorjchläge überhaupt anzuhören, die Angriffe gegen die Religion enthielten, verweigerte, jih in diefem Punft in Verhandlungen ein- zulaſſen, ließ aber Delacroix ein Schriftftüd übergeben, worin anheimgeitellt wurde, den fraglichen Paragraphen zu ftreichen oder in eine von ihn entworfene, beigefügte Faſſung umzuändern, eine Faſſung, die ſchon die Idee des Kon— fordates zum Ausdrud bringt: der Bapft bedaure die falſchen Auzlegungen jeiner Sntentionen durch die gemeinfamen Feinde; er fei weit entfernt gewelen, zu den Unruhen gegen die Republik und die Negirung in Frankteich beitragen zu wollen; um dieje Gejinnung zu bezeugen, fei er bereit, alle katholiſchen fran— zöfifchen Bürger zur Unterwerfung und zum Gehorfam gegen die Nepublif und die Negirung aufzufordern und zufammen mit dem Direktorium die geeigneten Mapßregeln zu ergreifen. Die Antwort des Direktorium war ein Befehl an den päpſtlichen Bevollmächtigten, jofort abzureilen, und zwar auf einer fixirten Route (über Mont Cenis oder über Baſel). Unterwegs wurde ihm und ſeinen Gefährten außerdem alles baare Geld weggenommen, wie es hieß, weil das Geſetz die Ausfuhr von Gold- und Silbermünzen aus dem Gebiet der Republik unterjagte. Pierachi mußte ſich an den Spanischen Sefandten in Paris, Marquis 6 .

74 . Die Zutunft.

del Campo, der ihm bei den Berhandlungen beigeftanden hatte, mit um eine Anleihe wenden, um feine Heimreife fortjegen zu fönnen. Delacroig in Kenntniß von dem Borfall, der dann auch die Rüdgı fiszirten Gegenftände anordnete. . Zur felben Beit, da der Vertreter des Bapites nach plögliche der Verhandlungen Baris verlafien mußte, Ende Auguſt 1796, erhie von Cacault ein Exemplar eines päpftlichen Breves, worin der H den franzöfiihen Katgolifen Gehorfam allen beftchenden Autoritäte auferlegte, aljo genau in Uebereinftimmung mit dem von Pierach vom Direktorium aber fo brutal abgewieſenen Vorſchlag zur Einigı Staat und Kirche auf dem geiftlichen Gebiet. Die bee diefes | von Bonaparte aus, der ſchon am fiebenten Zuni Azara aufgeforde foldes vom Vatikan auszumwirken, und das Direktorium aud wife es bevorftehe. Pieracchi follte es nach Paris mitbringen; das Breve exit fertig, al3 er ſchon adgereift war, und der Bevollmächtigte je erhalten zu haben. Als Delacroig es in die Hände befam, war handlungen ſchon abgebroden und Pieracchi adgereift; das Breve ı Tanglo8 geworden und hatte jegt feine weiteren Folgen als die, daB ı Öffentlihung eine Heftige Polemik über feine Authentizität entitand. der es veranlaft Hatte, gab feinen Plan eines Friedensbreves aber niı Belmonte-Pignatelli, der Vertreter Neapels, war ungefähr zu wie der Bertreter Roms in Paris angefommen. Noch am zwanzig war er aber in feiner Miffion nicht weiter gelangt und mußte in eine Delacroig darauf aufmerkſam machen, er fei jegt jeit zwanzig Tagı ohne daß eine einzige offizielle Konferenz abgehalten worben wäre. torium, das durch Roms unerwarteten und feiten Widerſtand endlich lernt Hatte, daß die Berichte der Kommiſſare über die italienifchen nichts taugten, war nachdenklich und vorfitig geworden und wollt fi zum zweiten Mal auf falice Fährte Hinauszubegeben. Es | Bormände, um Zeit zu gewinnen und fich beffer orientiren zu fönnen beitand es darauf, daß der Friedensvertrag und der Hanbelsvertra berathen werden follten, wogegen Belmonte Einjprud erhob. Um drehten fich die Verhandlungen, ohne daß man von der Stelle fa Direktorium feinen eigenen, bisher fo hartnädig gehaltenen Standpı verließ und ſich bereit erklärte, über den Friedensvertrag allein zu verl Urſachen des Umſchlages waren die von Bonaparte eingelaufenen über ein eventuelles Vorgehen Neapels und Englands gegen Frankteic ein definitiver Brud; mit Ferdinand dem Vierten im jelben Augenb Papſt ein Ultimatum geftellt worden, wäre ja auch ein politife gewefen. Am zwölften September theilte Rebell Belmonte mündl Direktorium habe joeben einen Friedensvertrag entworfen und De geben mit dem Erſuchen, die Verhandlungen fofort einzuleiten. 3 enthielt die übertriebenften Forderungen; aber während der Verhar fi über einen ganzen Monat hinauszogen, verftand es Belmonte, | zu Stufe hinunterzubrüden, um fie zulegt auf Null zu reduziren in feinen Manipulationen bei den Miniftern und den Direktoren

y Die Vorgejchichte des Konkordates. 75

Hilfe in Carnot, der, auf die Auffaſſung Bonapartes geſtützt, den Frieden mit Neapel zu jedem Preiſe wünſchte. Am zehnten Oktober wurde er unterzeichnet.

Um die Erfüllung ber im Bertrage von Bologna ſtipulirten Bedingungen zu überwachen, hatte Bonaparte, der einen biplomatifchen Ugenten der Republif in Rom für nöthig hielt, zuerft den Minifter in Toskang, Miot, ernannt und ihm am zweiten Juli feine Inſtruktionen Überfandt, mit dem Befehl, fich ſofort nah Rom zu brgeben. Aus verjchiedenen Gründen ſchob aber Miot die Abreiſe von Tag zu Tag auf, jo daß er erft am einundzwanzigften Juli in Rom an⸗ am; inzwiſchen ‚hatte ihn Bonaparte, dem dieje Zögerung nicht gefiel, durch Cacault erſetzt, in dem er zugleich einen zuverläffigeren Mithelfer in feinen In⸗— tentionen dem Papſtthum gegenüber befam als in dem gegen Rom feindlich gefinnten Miot. Cacault wurde dem Heiligen Bater in der felben Audienz vorgeftellt, wo fih Miot nach dem Aufenthalt von nur einer Woche verabfcie- dete, um nach Florenz zurüdzufehren.

Die Lage Cacaults in Rom war anfangs fchwierig genug. Einige Miß- erfolge der franzöfiiden Waffen ermuthigten die Gemüther, die fih durch die Ablieferung der großen Geldjummen und der vielen Kunſtwerke erhigten; es tam zu einem Bolfsauflauf gegen zwei Sekretäre der franzöſiſchen Kımftlom- miſſion und Kacault ftand jogar im Begriff, die Stadt zu verlaffen. Der Sieg bei Kajtiglione bewirkte aber einen vollftändigen Umfchlag.

Nachdem fich die Verhandlungen mit Pieracchi in Paris zerichlagen hatten, ließ das Direktorium durch Delacroiz ihren Bertragsentwurf den Kommiflaren zuitellen; in dem Begleitbrief hieß es, es handle ſich hierbei nicht um Verhand- Iungen oder Konferenzen, fondern der Papft habe diefe Bedingungen mit Ein: ſchluß des Paragraphen 4 über die Bullen und Breve anzunehmen oder abzu: weijen. Die Kommiljare forderten den Staatsjefretär auf, einen Bevollmächtigten nach Florenz zu ſchicken, wohin fie fich felbit begeben würden; und der Staats: jefretär beauftragte mit diefer Miffton einen jehr erfahrenen Diplomaten, Mon- fignore Caleppi, der am achten September in der toskaniſchen Hauptftadt ein- traf. Gacault bemühte fi, den Kommiſſaren begreiflich zu machen, daß der Bapft den Paragraphen 4 unmöglich unterjchreiben könne, daß die Erfüllung der Bedingungen des Waffenftillftandes von Bologna der franzöfiihen Regirung eine Mäßigung in ihrem Vorgehen gegen Rom auferlege und daß Frankreich unter allen Umftänden mehr von Neapel als von Rom zu befürchten habe. Auch Azara richtete in einem Schreiben an fie beberzigendwertde Worte: man könne wohl die weltliche Macht des Papſtes, aber nicht das Papſtthum ſelbſt zeritören; und einen wehrlojen hreiundachtzigjährigen Greis verjagt und verfolgt zu jehen, würde auch Andersgläubige empören und bie franzöfiihe Negirung überall ver- baßt machen. Alles war aber vergebens; die Kommiſſare hielten fih ſtramm an die Drdres des Direftoriums. Da die Inſtruktionen Caleppis ihm vor: fchrieben, dem Paragraph 4 gegenüber die felbe Haltung einzunehmen mie Pieracchi in Paris, mußte ja, wie Azara fih ausdrüdte, die Angelegenheit in fünf Minuten erledigt fein. Schon am zwölften September war denn aud Saleppi wieder in Rom; ein paar Stunden vor ihm war ein Courier von Ylorenz eingetroffen, der dem Bapft den zu ımterzeichnenden Vertrag überbradhte; und zugleich verbreiteten fich Gerlichte über neue und glänzende Erfolge der franzdji-

176 Die Zukunft.

jhen Armee. Das Kardinalfollegium fowohl wie das Stantsjefretariat be- barrten aber in ihren Antworten mit kurzen und klaren Worten auf der Weigerung, den Paragraphen 4 zu unterzeichnen; der Staatsfefretär theilte in einem Rund⸗ ſchreiben fämmtliden am Vatikan beglaubigten Gejandten den Verlauf der Ber- bandlungen in Florenz mit und rief die verfchiedenen Höfe um Schuß für die Kiche und die Religion an; die Volksſtimmung in ganz Italien fing an, dro- bend zu werben; ein in ber Romagna verbreitete Manifeſt, worin’ dag Volk aufgefordert wurde, die Tyranzofen hinauszujagen, war wie das Staatsſekre⸗ tariat offen geftand mit der Einwilligung der päpftliden Regirung veröffents licht worden; und bie zweite Geldfontribution, die jchon unterwegs und mit dem Siegel der Republik verfehen war, wurde nad) Rom zurüdbefördert. Die eifrigen Berhanblungen, die zwifchen Rom und den Höfen von Neapel, Madrid, Wien und London gepflogen wurden, ließen auf bie Neubilbung einer großen Liga gegen die Republik fchließen.

Die Kommillare ſaßen in der Klemme; ſowohl Bonaparte wie Cacault verurtheilten in ihren Berichten die vom Direktorium verfolgte Politif gegen Rom; Carnot ergriff immer aufs Neue das Wort, um -- auf die Thatjachen geftügt die Unvermeidlichkeit eines Vertrages mit Rom nachzumweilen; die Majorität, die nach ihrer frechen Aufgeblajenheit jetzt blamirt war, fand feinen anderen Rüdweg als den: den General und die Agenten in einem milden und maßvollen Schreiben von Mitte Oktober aufzufordern, den in Florenz abgerifienen Taden der Verhandlungen wieder anzufnüpfen; und einige Tage ſpäter ſetzte Carnot gegen Rewbell und Barras dur, daß das Direktorium dem Generab ausſchließliche Vollmacht ertheilte, mit Rom über Waffenftilitand und Frieden zu verhandeln. Bonaparte Hatte jein Ziel erreiht; in der eifrigen Korre— ſpondenz, die er mit dem in diefer Sade mit ihm gleichdenfenden Cacault unterhielt, erſuchte er ihn wiederholt, in feiner ſchwierigen Lage nur mit Geduld auszubarren. Aber die Gruppe Rewbell gab ihre doch längjt als verfehlt erwiejene italienifche Politik, befonders mas Rom anging, nit auf. Rewbell und Barrag hatten fich nur deshalb in den mit Belmonte abgejchloffenen Vertrag gefügt, weil fie Hofften, dadurch gründlicher gegen Rom vorgehen zu können; in ber Sitzung vom vierten November forderten fie geradezu, daß Bonaparte nad) der Ratifizirung des Vertrages mit Neapel ſich ſofort Noms bemädtigen und die weltliche Macht des Papſtes vernichten folle, eine Forderung, die auch dadurch völlig belanglos wurde, daß ein paar Tage fpäter zufammen mit dem ratifizirten Bertrag ein bejonderes Schreiben des Königs Ferdinand ankam, worin er ein großes Intereſſe für Rom bezeugte. Der Bertrag mit Frankreich ftärkte ihn nur in feinem Entſchluß, bei dem Direktorium für den Heiligen Stuhl energiſch zu interveniren; er ſandte Belmonte entjprechende Inſtruktionen, bie der Bevoll- mächtigte zu ſehr fategorijchen Eingaben an dag Direktorium vermerthete.

Nachdem Bonaparte die Vollmacht des Direktoriums erhalten Hatte, „warf er die Maske völlig ab und glaubte fich nicht länger verpflichtet, den Souverain, mit dem er Frieden zu machen wünjchte, als alten Fuchs zu behandeln.” Neben den offiziellen Weifungen, worin Cacault autorifirt wurde, neue Verhandlungen mit der päpftlihen Regirung anzubahnen, jchrieb ihm der General unter feiner perjönlichen Verantwortung: „Sie können ihn (den Papft) mündlich verfichern,

Die Vorgeſchichte des Konkordates. 77 -

daß ih immer dem Vertrag entgegen gewefen, ben man ihm vorgeichlagen, und beſonders noch der Art, wie verhandelt wurde; und daß auf meine befonderen und wiederholten Borftellungen das Direktorium mic) beauftragt hat, den Weg einer neuen Verhandlung zu eröffnen. Mein Ehrgeiz geht viel mehr dahin, den Namen des Netterd als den des Zerſtörers des Heiligen Stuhles zu erhalten.” Leider verlodten die Erfolge Alvinzis und die Schmeicheleien bes neapolitanifchen Botjchafters Del Vaſto den Vatikan, wo bie ftreitlüfternen Heißfporne wieder Oberhand befamen, diejes Angebot abzulehnen. Statt dem Entgegentommen bes Generals nachzugeben, fing Rom an, nad) allen Sräften zu rüften, unb zwar in herausforbernder Weile. Als der Papſt eines Morgens den Offizieren ber neu⸗ gebildeten Bürgergarde begegnete, ertheilte er ihnen feierlich den Segen; „man jah nichts“, jchrieb Cacault an Delacroix am Anfang des neuen Jahres, „als päpftliche Uniformen und Kofarden. Die Spiele der Kinder wiederholten überall die militärifchen Lebungen”; am Dreifönigstage beging man, nad Azara, „in der Peteräfirche das Feſt der Fahnenweihe mit großartigem Pomp unb Tyeiers lichfeiten. Diele ahnen tragen das Kreuz oder das Labarum Konftanting mit der Devije: In hoc signo vinces”; und am neunzehnten Januar traf der öfter reichijche General Colli in Rom ein, um ben Oberbefehl über ſämmtliche päpft- life Truppen zu übernehmen. Diefe feindliche Haltung des Vatikans bewirkte Ihliehlich aych einen Umſchlag in dem Verhalten Bonapartes gegen Rom. Als Ende November der General Clarke, Bevollmächtigter des Direktoriums für die Verhandlungen mit Oejterreih und Träger eines geheimen Auftrages Carnots, im Hauptquartier erſchien, um fih mit Bonaparte zu berathen, hatte Diefer . ion befchloffen, gegen Rom ins Feld zu ziehen. Clarke ließ fich bald von ber Richtigkeit der Auffafjung Bonapartes Überzeugen und jeßte in einem Brief an Carnot die Gründe auseinander, die ihn dazu bewogen. In den erften Tagen des ncuen Jahres entmwicelt Bonaparte dem Direktorium feinen ſchon längft ent- mworfenen Operationplan gegen Rom; am zwanzigiten Januar fängt er Briefe auf, die die zwiſchen Defterreih und Rom geführten Verhandlungen bezeugen; er beordert jet eine Truppendbtheilung, jofort auf Rom zu marjchiren und weift Cacault an, die Stadt binnen ſechs Stunden zu verlaffen.

Aus den Anftruftionen Bonapartes an die Generale ſowohl wie aus feinen zwei Broflamationen an das Volk und an die Regirungen, womit er feinen Einfall in den Kirchenſtaat begleitete, geht deutlich hervor, daß er ihn nur als eine Dedung brauchen wollte, um die römijche Angelegenheit nad jeinem Sinn zu ordnen. Als er die Inſtruktionen Clarkes befämpfte und aljo angeblich gegen feinen Freund im Direktorium, Carnot, ging, jcheint er die Abficht gehegt zu haben, wie Du Teil jchreibt, „Dejterreich die Ehre zu entziehen, Rom zur retten, weil er fie fich jelbft referviren wollte.” Seine wahren Empfindungen bei dieſem Feldzug dürften in den Worten enthalten fein, die er in einen Brief an Jo— jephine jchrieb: „Ich Habe mich nie jo gelangweilt wie in diefem elenden Krieg.“ Er hatte in feinen Orbres und Erlaflen dem Volk, den Prieftern und ber Religion jeinen Schuß feierlich zugefichert; die Truppen vergingen ſich aber mehrfach in diefer Dinficht, und zwar nad dem Beilpiel der Offiziere; und Bonaparte ſprach ihnen Öffentlich feine Migbilligung aus. Den franzöfiichen Prieſtern, die gegen den Bürgereid proteftirt und fich nach dem Kirchenſtaat ge-

Die Zukunft.

hatten, gab er bie Erlaubniß, dort unangetaftet zu verbleiben, und ver- diefe Maßregel vor den Direktorium. Die einheimifche Bevölkerung : burd) milde Behandlung zu freimilliger Waffenſtreckung zu bewegen. Des weltlichen Machtgebietes des Papſtes hatte Bonaparte fid) raſch be- Am ſechzehnten Februar ſchlug er fein Hauptquartier in Tolentino er bie Bevollmächtigten des Papſtes vorfand. Clarke und Cacault td bei den Verhandlungen anmejend, auf deren Ausgang auch Bel- ‚er fi auf dem Ruckweg von Paris befand, einen nicht zu unterfhägenden geübt Haben dürfte, durch die Borftellungen, die er dem Auftrag feiner 9 gemäß in mehreren Konferenzen mit dem General während der näcjit« enden Tage gemacht hatte. Der Friedensvertrag wurde am neun. Februar unterzeichnet. Cacault kehrte auf feinen Poſten zurüd und tte befahl ber Armee, das Gebiet des Kirchenftaates zu räumen. Die märe Partei in Rom und die Gruppe Rembell-Barras in Paris waren Mäßigung Bonapartes wenig erbaut; man hatte die völlige Vernichtung. lichen Macht des Papftes und feine Verjagung erwartet oder gewünſcht. Ein halbes Jahr fpäter griff Bonaparte wieder auf den Plan eines ungbreves zurüd. Am neunten Auguſt erfuhr das Direktorium mit 1, daß der General ohne irgend welde Autorifation oder Inſtruktion den in einem Schreiben dazu aufgefordert hatte. Er wohnte zu dieſer Zeit im Mombello bei Mailand und Hatte feinen Bruder Joſeph bei fi. Diejer Mai zum Gefandten in Rom an Stelle Cacaults ernannt worben und trat uguft feinen neuen Poften an. Schon am zweiten September jchrieb ı Bruder Napoleon: „Es wäre, glaube ich, ſehr weientlich für das Wohl ichs und der Religion felbft, dafs der Papſt ein beftimmtes Breve er- n den Brälaten den Gehorfam gegen die Gefege der Republik anzubefehlen. nit vom Minifter des Auswärtigen zu diefem Schritt ermächtigt find, n Sie nur Das, mad meine Note bereit begonnen hat, weiter verfolgen, was Sie thun, nur davon die Fortſetzung iſt.“ In die felben Tage fiel Staatsſtreich vom achtzehnten Fructidor. Die Gruppe Carnot, worin emy im Mai Le Tourneur erfet hatte, wurde aus dem Direktorium ent» ıd die Gruppe Rewbell-Barras alleiniger Herr der Regirung. Der Kon- ebanfe war für lange Zeit bei Seite geihoben. Das neue Direktorium neue Minijter des Auswärtigen, Talleyrand, wollten von Verhand⸗ mit Rom auf dem religiöfen Gebiet nichts wiffen. Die revolutionäre „deren ſchlimme Wirkungen durch die Anftrengungen Bonapartes und ' aufgehalten worden waren“, fiegte während der nächſten Jahre über salien. Sie fing fi damit aber nur in ihrem eigenen Neg, fhlicht I fein Bud, „denn die zweite Koalition rief den Staatsftreid vom acht- Brumaire hervor, der bie Auflöfung der Regirung herbeiführte mit hebung der Konftitution vom Jahre IIT und dur den Renirung- des Erſten Konſuls dem Konkordat diesmal endgiltig die Wege öffnete.“

hen. Dla Hanfion.

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Parteimoral. 79

Parteimoral.

9 er Lärm, ber dem Tode des Kanonenkdnigs folgte, iſt verhallt, wäre ohne 8 des Kaiſers ftreitbare Totenklage ſchon früher verhallt. Nun aber kamen alle Stützen der Geſellſchaft in Bewegung, Alle, die, wo ein Wille des Monarchen fich auch nur andeutet, mit einem Blick auf ihr Knopfloch bereit ſind, Eifer zu zeigen. Huldigungtelegramme trafen aus Potemkinſchen Arbeiterdörfeͤrn ein und der Kaiſer konnte glauben, jede Dankdepeſche fünde ihm neue Mehrung der Volks⸗ liebe, obwohl gerade die beiten Monarchiſten jein temperamentvolles Thun dies» mal nicht ohne Sorge betradtet hatten. Während des Qärmes wurde die Frage auf- geworfen: Iſt es erlaubt, die perjönliche Ehre des politiſchen Gegners anzugreifen? Der Redafteur des „Tag“, Herr Marx, hat geantwortet: Nein; und hinzugefügt: „Im eigenen Lager jei vervehmt, wer die perjönliche Ehre des Gegners antaftet. Das wäre das Ende der Berrohung des Barteilampfes; es wäre allerdings aud) das Ende unjerer jeßigen Parteien.“ Herr Heinrich Hart, der Apojtel des neuen Meuſch⸗ heitbundes, ging noch einen Schritt weiter; nicht nur die jegigen Parteten: die Partei überhaupt Hagt er an, die „die Einzelperjönlichkeit wieder zum Mafjen: weſen herabdrüdt, den Mafjengeilt in ihm nährt und den Einzelgeift erdrückt.“ Nicht nur zwei einjam ihres Weges zichende Idealiſten ſind es, diefo zu uns ſprechen. Was fie fagen, denkteine jtetig wachſende Schaar, die, vom Parteibetrieb angewibdert, dem politijchen Kampf überhaupt den Rüden gekehrt hat. Mich treibt eine andere Stimmung, die Anſicht beider Aufer im Streit, gerade weil ich ihnen perjönliche Hochachtung entgegenbringe, zu befämpfen. Ich halte die von ihnen bejubelten Symptome nit für Zeichen wachſender Kultur, fondern für Merkmale neurafthe- niſcher Ueberkultur. Die Barteilojigkeit, die mit dem Abſcheu gegen jede Bartei als joldye bemäntelt wird, ift für mich nichts Anderes als Furcht vor dem Kampf.

Denn wer den Kampf will, muß, gern oder ungern, auch die Partei wollen. Daß fie ein Uebel ift, wiflen wir. Aber e3 giebt eben nothiwendige Uebel, über die man ſchimpfen und wettern fann, die man ſich aber gefallen laffen muß. Wer freilich der Kultur höchſtes Ziel darin fieht, daß ein paar Sonntagskinder ji über das profanum vulgus erheben und alle Reize intimfter Lebenskunſt

ausichleden können, braucht feinen Kampf und feine Partei. Wo aber ein Glück

eritrebt wird, da8 auch nur im ſchwächſten Widerfchein der geſammten Menſch— heit erglängen joll, da dräut der Kampf. Denn der Jubel Derer, die zu einer neuen Lehre ſchwören, wedt das Mißtrauen der Anderen, die fi in ihrem geiltigen oder materiellen Befitftand gefährdet glauben. Die feindlichen Heere ftoßen auf einander. Im wilden Kampf freuzen fich die Waffen. Nicht jeder Soldat kann ſich vorher den auf dem heimijchen Fechtboden eingelernten Come ment ins Gedächtniß zurüdrufen. Hieb und Stid iſt audy erlaubt, wenn die Paukſitte verlegt wird; die Hauptſache ift, daß der Dieb fißt, der Stich trifft. Wenn Landsknechte, denen das Kämpfen zum Handwerk ward, raufen, iſts ein gemeiner, efelhafter Tumult; ftehen im Kampf aber Maffen, benen die Sehn- ſucht nad hohen Bielen die Waffen in die Hard drüdte, dann hat das Ringen andere Bedeutung, dann kann der Barteifampf durch jein Ziel geadelt werden.

Der Zwed Heiligt die Mittel. Ich weiß: dieſe „Jeſuitenmoral“ weiſt

heute jeder Menſch, der feinen guten Ruf bewahren will, weit von fi. Und .

80 Die Zukunft.

doch gilt das Wort, ſeit wir eine Menſchenwelt haben; und doch wird es erſt mit dieſer Welt untergehen. Hart tabelt, daß Parteiführer im engen Kreis „objektive Urtheile über die Vorgänge des Tages, Über die Maßnahmen der eigenen Partei” fällen und öffentlih dann ganz anders ſprechen. Die That- ſache ijt unbejtreitbar richtig. Aber Hart irrt, wenn er annimnıt, Das gejchehe um der Maſſe willen; es gejchieht um des Zieles willen. Kein denfender Menjch verfauft fih einer ‘Partei mit Haut und Haaren. Einzelne Programmjäge hält Jeder für. nebenfächlich, vielleicht jogar für falih. Aber Höher als das Wort fteht ihm der Beift. ‚sit ſolche reservatio mentalis ſchon Lüge? Ich glaube: Kein. Und nun ftehen die Freunde im Kampf. Ich ſehe: fie haben einen Fehler gemacht, und mißbillige diefen Fehler. Soll ich deshalb verjuchen, ihre Reihen ins Wanken zu bringen, ihnen die frohe Zuverficht zu nehmen? Einen Uugen- blick zweifle ich vielleicht. Aber ich weiß, daß ber Gegner vorbringen wird, daß ich weiter denn je vom erjtrebten Ziel entfernt fein werde: und da ich ans Ziel will, muß ic) vorwärts, darf ich weder zurüdbleiben noch die Genoffen ſchwächen.

Die Sucher neuer Gemeinichaft im Geiſt des Monismus verbammen joldes Handeln und fie Haben den ganzen Wortſchatz der Entrüftung bes fonft auch von ihnen verhöhnten Maſſenphiliſterthums für ſich „Du follft nicht lägen“, jagen, wie es ihnen in der Schule eingedrillt ift, die Philifter. „Du follit Dein eigenes Ich nit im Schlamm der Maſſe erfäufen“, jagen die ſchwär⸗ menden Bropheten. „Maſſe“ wird tier mit „Partei“ identifizirt. Und doch bedeuten die beiden Worte verfchiedene Dinge. Wer eine Partei gründet, will ja gerade mög- lichſt Viele aus der ſtumpf dahintrabenden Maſſe löſen. Bon der Heerde zweigen fich die Parteigenoflen ab. Sie bringen noch die alten Lebensgewohnheiten, den alten Heerdeninſtinkt mit, aber in ihrem Hirn hatfich ein Fünkchen entzündet, dasihnen, in weiter Ferne vielleicht, des Strebens lohnendes Ziel zeigt. Wer Partei von Mafje unterjcheidet, kann nicht, wie Hart, jagen, der Barteiführer „eritide um der Maſſe willen, im Bann der Partei, unbewußt in ji dag Eigenempfinden und die Eigen- meinung, er ftreiche gleichjam die eine Hälfte feines Wefeng zu Gunften der anderen‘. Nein: er erſtickt und ftreicht gar nichts von ſeinem Wefen, jondern bedenft nur, daß die Barteigänger eben erjt aus der Maſſe famen und die Spur folder Her- £unft noch an fich tragen; mit vollem Bemwußtfein richtet er danach fein Reden und fein Verſchweigen. Auch unreifen Kindern verjchweigen Eltern und Lehrer Mandjes, jhildern fie, Schon um es zu vereinfachen, Manches anders, als fie es in der Wirklichkeit jehen, und Niemand fchilt fie deshalb Lügner. “Der politiihe Pädagoge muß damit rechnen, daß die Mehrheit feiner Warteiheerde noch in den vom Maffenempfinden geichaffener Vorſtellungen lebt, in einem Kindheititadium, und daß dieſe Mehrheit für den Kampf nicht zu entbehren iſt. Die treibenden Faktoren in der Geſchichte find vom menſchlichen Willen unab— bängige Kräfte und ihr Werkzeug find die Maflen. Dunkle Triebe zwingen jie, zu thun, was dem bewußteren Sinn die Entwidelunglinie vorzeichnet. In diefe wogenden Mafien fallen die Saatkörner der Ideen aug den Köpfen einzelner In— dividuen. Nur wenn der Boden bereitet ift und der Stand der Entwidelung

es erlaubt, geht die Saat auf und die Mafje nimmt die Einzelnen als Lenker

ihrer Geſchicke hin. Sind diefe Bedingungen nod nicht erfüllt, dann verichlingt die Maſſe das Individuum, dag fie noch nicht begreifen fan. Nur da, wo im Maſſenſchoß cine Idee zu keimen beginnt, fann eine Partei entitchen.

Parteimoral. 81 u

Und ift fie entitanden, bat jedes ihr angehörende Individuum eine mehr '

oder weniger beſtimmte Vorjtellung von feinem Tebenszwed und Biel erhalten: follen dann die Führer diefes Glücksgefühl mit Skrupeln und Zweifeln zerftören und Menſchen, deren Leben Inhalt zu erhalten begann, wieder in das dumpfe Majjendafein zurüditoßen, nur, weil fie die Unlujtgefühle nicht ertragen fönnen, die ihre Rulturjeele empfindet, wenn fie nicht immer die volle Wahrheit jagen dürfen und Manches verſchweigen müſſen? Nicht nur die Einzelnen würben unter foldem Handeln leiden; nein: die Idee jelbjt, die nur durch die Maſſe zu lebendiger Wirklichleit werden kann, würde getötet, ehe fie noch zu vollem Leben erwachte. Nicht eine Schwärmeräfthetif, jondern der Blid auf das Ziel bat die Wahl der Kriegstaktik zu beftimmen; das Ziel, die dee Heiligt bie Mittel. Freilich: nur aus Großem kommt beiligende Kraft. Wer für ein fleines Sonderinterefje ficht, darf fich nicht einbilden, er fämpfe für heilige Güter.

St nun der Angriff auf die perjönliche Ehre des Gegners ein im Partei» fampf crlaubtes Mittel? Immer und überall ift es benußt worden, von allen Parteien, au von denen, die jeßt fo ungemein ehrbar thaten. Hundert Beis fpiele, der widrigften Art fogar, wären aus der Gefchichte der Ordnungparteien leicht anzuführen. Den Berleumber, der wider befleres Willen die Ehre ab: ſpricht, wird Niemand loben; die Berleumdung, die ftet3 furze Beine bat, ſchädigt auf die Dauer Idee und Anjehen ber Partei und kann fchon deshalb, nicht nur aus moralifchen Gründen, nie als eine gute Waffe empfohlen werden. Die Ans» tajtung der perjönlichen Ehre aber ift ein altcd, vom Kriegsrecht zugelafienes Mittel und oft gar nicht zu vermeiden. Beſonders da nicht, wo den vorwärts Drängenden eine nur dur die Perjönlichkeit des Führers zu einer gewiflen Macht gelangte Schaar entgegentritt. Diefe Fälle find felten. Starke Parteien wachſen aus Slafjenintereflen, nicht aus Berjönlichfeiten hervor; und biefe Intereſſen bleiben, auch wenn die Führer diefreditirt und befeitigt werden. Doc jelbft hier ijt der Kampf gegen Perfonen nicht nußlos, wenn er binter den Phrajen- ichleiern das nadte Intereſſe erkennen lehrt. Niemand darf mir verargen, daß ich zeige, wie viel ein für hohen Kornzoll fämpfender Sroßgrumdbefiger, ein für Hlottenvermehrung agitirender Panzerplattenlieferant an ſolchem Thun für bie eigene Taſche verdient. Niemand darf mich jchelten, wenn ich jage: Diejer Mann, ber den großen Patrioten ipielt, Hat unjeren Feinden Waffen verfauft oder unſeren Konkurrenten die Rohſtoffe billiger gegeben alö der heimilchen Induſtrie; und er hats gethan, weil er damit jeine Einnahmen erhöhte. Solcher Kampf ift nicht ficbli zu jchauen. Der Zweck politiicher Kämpfe ift aber auch nicht, der Schau- luft ein äſthetiſches Vergnügen zu bereiten. Beweiſe ich meine Behauptung, jo fchade ich der feindlichen Idee und nüße der, die mich ans Ziel führen joll. Das Gewimmer, man jolle die Berfon von der Sade trennen, gehört in die Kinder: ftube; Erwachſene willen, daß ſolche Trennung nur felten möglich ift.

Und wenn mwirflid im Kampfgetümmel gegen die Salonanftandsregel gefündigt wird: muß man dann alles Barteiwelen verfluden und thun, als nahe der Weltuntergang? Schwerer und in ihren Folgen gefährlicher fcheint mir die Sünde Derer, die ſich nicht ſchämen, über die wichtigfte Kulturbewegung unjerer Tage dem höchſten Vertreter de3 Staates dreifte Yügen ins Ohr zu flültern.

Georg Bernhard. *

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Die Zukunft.

Selbitanzeigen.

Bottfhen-salle. Bierteljahrsjchrift der Gottſched-Geſellſchaft. Erfter Fahr: gang, Heft 1 bis A. Berlin 1902, Gottſched-Verlag.

Während die Sottihed-Gejellihaft mit einem Beitande von. 115 Mit- gliedern (die nit nur auf eine Neihe von Städten des Neiches, ſondern aud auf das Ausland, bis nad Aften und Aujtralien bin, vertheilt find) in ihr zweites Lebensjahr eingetreten it, ſchloß die „Gottſched Halle” ihren erſten Jahrgang ab. Bier Hefte find in vornehmfter Ausftattung erihienen, die im Dienſte der Gotticheb- Bewegung ihre Schuldigkeit gethan und fich zugleich als einen begehrten Artikel für Bücherfreunde erwieſen haben. Bon Aufiägen über Gottfched hat diefer. erjte Jahrgang enthalten: Gottſcheds Lyrik; Die Gottiched: Bewegung; Gottiched als Shakeſpeare Srititer. Ihnen gejellen fich ferner ſieben Sruppen „Gottſched-⸗Worte“, muchtig geprägte Säße aus den Schriften Gott-

Icheds, die weder im „Sottjched : Denkmal” nod) im „Kleinen GottſchedDenkmal“

no in dem Werke „Gottſched der Deutjche” enthalten find und deren in jedem Sahrgang etwa ſechs bis acht Gruppen veröffentlicht werden jollen. Die Ab- theilung „Deutſches Schrifttum im ficbenzehnten und achtzehnten Jahrhundert“ bietet eine der großen Satiren Gottſcheds und Charafteriftifen des „Patrioten“, Kaspar Zieglerd und Adam Tlearius’, die zugleich dem Lefer mit reichen Eitaten nah gebracht werden. Die Gottfched:Halle wird, zugleih mit dem alljährlich ericheinenden Bande der Gottſched Schriften, an alle Mitglieder der Gottſched⸗ Bejellichaft geliefett, die einen Jahresbeitrag von mindeftens ſechs Mark leiften. Anmeldungen find zu richten nach Berlin W. 35, Schöneberger Ufer 36a, an den umterzeichneten Erſten Vorfigenden der Gottſched Geſellſchaft

Eugen Reidel. $

Augufte Rodin. Eine Studie. Heig & Mündel, Straßburg.

Mein neues Bud ift in gewillem Sinn eine Yortfegung meiner Klinger: Biographie. Wurde in dem älteren Buch hauptſächlich der Kultur: und Welt- anſchauungwerth der bildenden Kunſt betont, fo foll fie Hier von der Seite des rein Sinnlichen betrachtet werden. In letzter Zeit bat es nicht an Berfuchen gefehlt, Rodin dadurch in Deutjchland zu popularifiren, daß man ihn als eine gerinanifche Natur für uns in Anſpruch nahın. Dieſer durchaus irrigen und unberechtigten Anſchauung bin ich nach beſtem Willen entgegengetreten und habe nad) beſter Kraft verjucht, cin klares und knappes Bild von der reichen Wirt. ſamkeit des franzöfiichen Bildhauer zu geben.

Lothar Brieger-Wajlervogel. [ :

Kihard Wagner und die Homojerualität. H. Barsdorf, Berlin. Mein Bud will um Mitleid werben für einen Großen, der, weil er in der Sinnlicfeit die Sünde fah, mehr als irgend ein anderer Menſch am Leben gelitten Hat. Aber näher als Wagner ftchen mir die Menfchen unferer Tage, die glei ihm unter ihrem Xriebleben leiden. Ind von ihnen jtehen mir am Nächſten bie Homoſexuellen, deren Leiden noch durch falſche Beurtheilung ibres

wie ihm der Autor dabei feine Kenntniſſe aufpadt. Mag fein, daß diefe Methode

YRyHeER Le ; J u —— Bar ! ae Le 7 . Selbftanzetgen - 88...’ Bu 2 —F *

Trieblebens oft vergrößert werden. Und jo möchte mein Buch auch in beſchei— dener Weife dazu beitragen, die richtige, wiſſenſchaftliche Anficht über die Homo» ferualität und die Homojeruellen zu verbreiten. Stadthagen. - Dans Fuchs. 3 Richard Dehmel. Verlag von Goſe & Tetzlaff, Berlin. Preis: 1 Mart. Die Abſicht dieſer Schrift iſt, Denen, die in Dehmels Kunſt eine Ber ſtätigung ihrer tiefſten Narr erlebt haben, ein paar deutende Worte für dieſes Erlebniß zu reihen. Das Kulturziel, um das in Dehmels Kunft gerungen wird, und die Mittel, mit denen diefer Kampf ung finnlich:feeliih fühlbar gemacht wird, habe ich darzuftellen verſucht. Eine eigentliche „Erklärung“ feiner Were und des Berbältniffes von Dichter und Dichtung in feinen Werfen bleibe den Philologen der Zukunft vorbehalten; denn ſchon Heute darf man wohl als gewiß anjchen, daß die Nachwelt (und aljo wel auch igre Sermaniftenzunft) gezwungen jein wird, fi mit Richard Dehmel zu befafien. Julius Bab. $ Durch Indien ins verfchloffene Land Repal. Mit 277 Abbildungen nad) Aufnahmen des PVerfafjers. Leipzig, F. Hirt & Sohn. 10 Marf. Durch die Bezeihnung „Ethnographiſche und photographifhe Stubien- blätter” wollte ich dies Werk in Gegenfag zu meinen früheren „Indiſchen Gletſcherfahrten“ ftellen, die eine fortfaufende Schilderung meiner Erlebniſſe im DHimalajagebirge geboten hatten. Die Mehrzahl der Leſer muß fi) aber die Beit zur Lecture und noch dazu oft in beträchtlichen Pauſen förmlich ftehlen und deshalb ſcheinen mir abgegrenzte Kapitel mit in das beftimmte Ge: biet hineinfpielenden, bezeichnenden Neijebegebenheiten dem Bedürfniß mehr entgegenzulommen als langathmige, endloje Reiſeberichte, zumal, wenn es ſich, wie bei mir, gar um Beobaditungen auf vier Indienreiſen handelt. Daß troß- dem ein ımterhaltendes und fein Lehrbuch daraus wurde, dafür jorgte der Dramatiker und der Schalf in mir. Wenn ich Anefdötlein und Scerze, ja, jelbft galante Abenteuer zwifchen die ernfthaften Thatſachen und die daraus gefolgerten Schlüffe ftreute, jo ift Das ganz einfach Kochkunft, nicht Yrivolität; Reistnddel können nur durch Curry: Gewürze verdaulich gemacht werden. Welcher Laie hätte wohl Neigung, fi) für das Brahmanenthum zu intereffiren? Lugt aber die Haushälterin des indiſch frifirten Herrn Pfarrers durd) die Thürklinge, dann erwadt in Manchem der Wiffensdurft und er tritt der braımen Hekuba behutſam näher; dann find alle Theile zufrieden: der Leſer ergößt ih und merkt faum,

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dilettantifch genannt wird; und ficherlich fchrumpft manches Pedantennäschen datob zu einer Morchel zuſammen; aber mein Verfahren ſcheint mir zweckmäßig und zeitgemäß. „Sprenfeln für die Droſſeln!“ Wenn ich die Tricks der indiſchen Zauberer, die Geheimniffe der Teinpeltänzerinnen oder disfrete Vorgänge in den Plantagen ausplaudere, jo thue ichs, damit die erniten Wahrheiten der Welt: r

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geſchichte, die Kulturthatſachen und die Schilderung indiſcher Zuſtände mit ihrer

Fülle inhaltſchwerer Fragen ein leſemuthiges Publikum finden; freilich konnte ich viele dieſer Fragen, die, wie die Frauenbewegung in Indien oder das Ver—

8 Die Zutuuft.

Hältmiß der Engländer zu den Indern, ganze Bände zu ihrer Erſchöpfung er- fordern, nur ftreifen, aber felbit eine Skizze will Heutzutage mundgerecht gemacht fein. Der Bücher mit leiter Koft giebt es zu viele, ernfthafter Leſer nur wenige. Immerhin, To Hoffe.id, wird ber Kenner auch Hier beftätigt finden, daß Nie mand fo heiter fein fann wie der Ernfte und daß Freude nicht Humor wird ohne ein Körnlein von Wehmuth, von Schmerz und Entfagung. Ganz ſicherlich ift mir wehmüthig zu Sinn, wenn id, die delikate Feinfügligkeit der Hindus ſchildernd, leife flüftere: Wie wohl thut es dem aus dem modernen Deutſchland Kommenden, Takt und Rückſſichtnahme zu finden! Auch die Gerchtigfeit hätte ich anführen Fönnen. Wenn mein Bud; einen Borzug hat, fo iſts der, daß es Keinem zu Liebe und Keinem zu Leibe gefchricben ift, nur der Wahrheit zu Tiebe. Ein kurzes Pröbchen der Darftellung:

„In Tſchitlong traf ich ein ungeheures Getümmel. Auf die Harems- damen, Treiber und Glefanten folgte hier die Meute mit den Hunbemärtern und Bücjenfpannern, die in Tſchitlong ihr Nachtlager beziehen jollten. Meine Augen waren aber von der blendenden Sonne fo entzündet, baß fie ſchmerzten und ih fchleunigit das Raſthaus aufjuchen mußte. Ich kletterte die Stiege zu bem unfauberen, durch Fenſterladen verdunfelten oberen Stockwerk empor und fegte mich eriöpft in eine Wandnifche, um die Ankunft der Kulis abzuwarten, die mi nun fon fo oft durch ihr Zurückbleiben verftimmt und geſchädigt hatten; ich fühlte mi ernſtlich unwohl und wußte, wie wenig mit jolhen Zuftänden in dieſem Klima zu jpaßen ift. Plöglic Mlirrten Ketten in dem unteren Treppen zaum, Hunde kläfften und ic hörte, wie ein paar auf der Treppe zurüdbleibende Jäger, die mich in dem herrſchenden Dämmerlicht nicht bemerften, ihren auf Leoparden dreſſirten Bluthunden die Ketten löften; fofort ftürmten bie Köter die Treppe volfends herauf und auf mich los. Die Hundewärter kreiſchten entjegt auf, als fie durch meinen Zuruf meine Anweſenheit erfuhren, und fprangen auch fogleih an meine Seite, um mit ihren Drahtpeitfchen wie unfinnig auf die Rüben Loszudref—hen, die fie aud) glüdlich in eine Ede zu prügeln und wieber an bie Kette zu legen vermochten. Ich hatte ſchon früher einmal genug von Wolfs- bunden in den ſiebenbürgiſchen Karpathen zu leiden gehabt und war gar nicht begicrig, mit Kötern, die mit Tigern und Rhinozeroſſen verkehrten, in nähere Berührung zu fommen. Die gewaltige Aufregung hatte aber wenigſtens das Gute gehabt, mich gründlich in Schweiß zu bringen, worauf ich mich weſentlich wohler fühlte und auf einem Bettgeftel, das die Hunbewäcter herbeiſchleppten, in Schlaf ſank. Als ich aufwachte, ftand mein Tragftuhl neben meinem Lager und gierig ficl ih über die TCrangen her, während ein Ortailragout und andere Leckerbiſſen aus meiner Konferventijte warın gemadjt wurden. In der Hoffnung, daß id in der ftaubigen Paua voll Spinngeweben und Ungeziefer die Nacht zubringen würde, jchleppten die Kulis mein ganzes Gepäck bie Treppen herauf, erichrafen aber nicht wenig, als ic) ihnen rundweg erklärte, daß ich ihr beftändiges Burüdbleiben mit den für mich nöthigften Sachen fatt hätte und noch am felben Abend über den Tſchaudragiripaß bis nad Thankot wolle. Ganz abgejehen von der Unſauberkeit des Ortes, hätte mir auch das unaufhörliche Gefläff aus Hunderten von Hundefchlen feine angenehme Nachtruhe vergönnt.“

Neu Rochriß bei Desten. Dr. Kurt Boeck

Hoffen und Harren, 85 \ I

Hoffen und Darren.

So eriten Börjentage de3 neuen Jahres brachten gute, zuverfichtliche Stimmung

und fat allen Gebieten Stursfteigerungen. Man that, als leide man

nicht einmal mehr an den Nachwehen einer Strifis, als fei at einem neuen, nahen

Aufſchwung nicht länger zu zweifeln. Ein wichtiges Ereigniß hat der Neujahrs—

tag freilich der Börfenmenfchheit beichert: den wirthichaftlichen Ausgleich zwiſchen

Defterreich und Ungarn, den beiden von einem Herricher regirten, doch im Weſen

grundverſchiedenen Ländern. Wenn biejes Heft ericheint, werden die Einzelheiten des Ausgleiches wohl bekannt fein. Ungarn wird fich nicht mit winzigen Konzeſſionen

abfinden laſſen; daß die ungarische Staatsrente in Oeſterreich nicht mehr bes

jteuert wird, ift ſchon ein wejentlicher Vortheil für Translcithanien. Herr von

Koerber mußte ah nachgeben, wenn er die Wirthichaftbafis des Reiches

nicht gefährden wollte. Die Trennung der Bollgebiete wird iiber: fur, oder lang

aus wirtbichaftlichen Gründen unvermeidlich werden Die zwilchen Oefterreid) und

Ungarn beitehenden Gegenſätze haben eine gewiſſe Aehnlichkeit mit den Oftelbien

von Weftelbien fcheidenden; nur jtreben die Ungarn mit einer wahren Wut

nad Stärkung und Erweiterung ihrer jungen Snduftriefultur. Sie fordern für

ihren Agrarerport große Konzeſſionen von Defterreich, wollen der öſterreichiſchen

Induſtrie aber ihr Land nicht als bequem zugängliches Abſatzgebiet überlalien,

fonbern es, hinter Schußzollmauern, zu verftärkter induftrieller Leiſtung erziehen;

und natürlich fehen fie in der Nachbarinbuftrie den gefährlichiten Konkurrenten.

Diefer Gegenſatz ift auf die Dauer nicht zu überbrüden und bei der Wirrniß aller Öfterreichiichen Berhältniffe wird im günftigften Fall der Friede nicht länger währen

ala das Leben des Kaifers Franz Joſeph. Doc ſolche Zufunftjorgen liegen der

Börfe fern; ihr genügt die Thatſache, daß der Ausgleich3hader einftweilen zur Ruhe gelommen ift. Die Folge war, daß der Kurs der Kreditaktien um etliche

Prozent ftieg; und dadurd) wurde die Aufmerkſamkeit unferes Börſenpublikums

wieder einmal auf diefes Papier gelenkt, das, troßdem e3 nur fchmale Dividende

giebt und auf ein rüdjtändiges Land angewieſen ift, dicht an 220 jteht,. höher

alfo als die beften deutfchen Bankaktien, die doch auf viel fichererer und moder-

nerer Grundlage ruhen. Der Uneingeweihte fteht vor einem Näthjel; er weiß nicht, daß die Kreditaftie ihre Höhe nicht etwa befonderer Werthiehägung, fondern

börjentehniichen Gründen verdankt. Ein beträcdhtlicher Theil diejer Aktien ift im

Beſitz der Familie Rothjchild, große Mengen find als feite Anlagen namentlid)

in Süddeutſchland und Oeſterreich untergebracht, effeftive Stücke fehlen und die Spekulation in Streditaftien bewegt jich alfo ftet3 auf einer ſchwanken Bafie. Die Contremine aber iſt gelähmt; jeder Fleinjte Erfolg kann dazu führen, daß fie in

einer ungerreißbaren Schlinge erdrojjelt wird.

Der Kurs mancher unferer führenden Induftriepapiere ruht auf nicht minder unfiherem Grund; nur ift, wenn man von dem großen Poften Yaura-Aftien abficht, den die Zamilie Hendel-Donnersmard befigt, der Mangel an Stüden hier nicht durch die gute Placirung der Papiere gewillermaßen natürlich entftanden, ſondern Finftlich durch die Börjengejfeßgebung herbeigeführt worden. Der Yaurahütte, dem Bochumer Gußſtahl⸗Verein und unjeren großen Kohlenwerken mag man Aus nahmeftellungen einräumen, bie einen hohen Kurs rechtfertigen; doch jelbit den

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Die Zukunft.

2 der Engländer zu den Indern, ganze Bände zu ihrer Erſchöpfung er: i R: fordern, nur ftreifen, aber jelbit eine Skizze will heutzutage mundgeredht gemacht B:. fein. Der Bücher mit leichter Koft giebt es zu viele, ernfthafter Leſer nur wenige. ee. immerhin, fo hoffe. ich, wird der Kenner auch hier beftätigt finden, daß Nie- mand fo Beiter jein fann wie der Ernjte und daß Freude nicht Humor wird

ohne ein Körnlein von Wehmuth, von Schmerz und Entjfagung. Ganz ficherlich

=. ft mir wehmüthig zu Sinn, wenn ich, die belifate Yeinfühligkeit der Hindus ſchildernd, leife flüftere: Wie wohl ıhut es dem aus dem modernen Deutichland . Kommenden, Takt und Rüdjichtnahme zu finden! Aucd bie Gerckhtigfeit hätte

ich anführen können. Wenn mein Buch einen Vorzug hat, fo iſts der, baß es Keinem zu Liebe und Seinem zu Leibe gefchrieben ift, nur der Wahrheit zu Liebe. Ein kurzes Pröbchen der Darftellung:

| „sn Tichitlong traf ich ein ungeheures Getümmel. Auf die Harems⸗ damen, Treiber und Elefanten folgte hier die Meute mit den Hundewärtern

| ‚und Büchſenſpannern, die in Tichitlong ihr Nachtlager bezichen jollten. Meine Augen waren aber von der blendenden Sonne jo entzündet, daß jie ſchmerzten

und ich fchleunigit das Rafthıus aufjuchen mußte. ch Fletterte die Stiege zu dem unfauberen, durd Fenſterladen verdunfelten oberen Stodwerf empor und ſetzte mich erihöpft in eine Wandnifche, um die Ankunft der Kulis abzumarten, die mich nun ſchon jo oft durch ihr Zurückbleiben verftimmt und geichädigt hatten; ih fühlte mich ernſtlich unwohl und wußte, wie wenig mit jolcden Zuftänden in diejem Klima zu jpaßen iſt. Plöglich klirrten Ketten in bem unteren Treppen: raum, Hunde Eläfften und ich hörte, wie ein paar auf der Treppe zurüdbleibende Jäger, die mich in dem herrichenden Dämmerlicht nicht bemerften, ihren auf Leoparden drejfirten Bluthunden die Ketten löften; fofort ftürmten die Köter die Treppe vollends herauf und auf mich los. Die Hundewärter kreiſchten entfegt auf, als fie durch meinen Zuruf meine Anmwefenheit erfuhren, und jprangen aud) ſogleich an meine Seite, um mit ihren Drahtpeitfchen wie unfinnig auf die Rüden loszudreſchen, die fie auch glüdlih in eine Ede zu prügeln und wieder an die Kette zu legen vermochten. Ich hatte jchon früher einmal genug von Wolfs- bunden in den fiebenbürgiichen Starpathen zu leiden gehabt und war gar nicht begicrig, mit Kötern, die mit Tigern und Nhinozeroffen verkehrten, in nähere Berührung zu kommen. Die gewaltige Aufregung hatte aber wenigſtens das Gute gehabt, mich gründlich in Schweiß zu bringen, worauf ich mich wejentlich wohler fühlte und auf einem Bettgeftell, das die Hundewächter herbeifchleppten, in Schlaf ſank. Als ich aufwadte, Stand mein Tragftuhl neben meinem Lager und gierig ficl ich über die Trangen ber, während ein Ortailragout und andere Lederbiljen aus meiner Konfervenfijte warm gemacht wurden. In der Hoffnung, daß ich in der ftaubigen Paua voll Spinngeweben und Ungeziefer die Nacht zubringen würde, fchleppten die Kulis mein ganzes Gepäd die Treppen herauf, erichrafen aber nicht wenig, als ich ihnen rundweg erklärte, daß ich ihr beitändiges Zurüdbleiben mit den für mid nöthigften Sachen fatt hätte und noch am jelben Abend über den Tichandragiripaß bis nach Thankot wolle. Ganz abgejehen von der IInjauberfeit des Ortes, hätte mir auch das unaufhörliche Gekläff aus Hunderten von Hundefchlen feine angenchine Nachtruhe vergönnt.” Neu⸗Rochwitz bei Dresden. Dr. Kurt Boed. ð

Hoffen und Harren. 85

Hoffen und Darren.

SD: eriten Börfentage des neuen Jahres brachten gute, zuverfichtliche Stimmung und faſt allen Gebieten SKursfteigerungen. Man that, als leide man nicht einmal mehr an den Nachwehen einer Krifis, als fei an einem neuen, nahen Aufſchwung nicht länger zu zweifeln. Ein wichtiges Creigniß Hat der Neujahrs— tag freilich der Börjenmenfchheit beichert: den wirthichaftligen Ausgleich zwiichen Defterreich und Ungarn, den beiden von einem Herricher regirten, doch im Weſen grundverjchicdenen Lündern. Wenn biejes Heft erjcheint, werden die Einzelheiten des Ausgleiches wohl bekannt fein. Ungarn wird fich nicht mit winzigen Konzeflionen abfinden laſſen; daß die ungariſche Staatsrente in Oeſterreich nicht mehr be« fteuert wird, ift Schon ein wejentlicher Wortheil für Translcithanien. Herr von Koerber mußte * nachgeben, wenn er die Wirthſchaftbaſis des Reiches nicht gefährden wollte. Die Trennung der Zollgebiete wird über kurz oder lang aus wirthſchaftlichen Gründen unvermeidlich werden Die zwiſchen Oeſterreich und Ungarn beſtehenden Gegenſätze haben eine gewiſſe Aehnlichkeit mit den Oſtelbien von Weſtelbien ſcheidenden; nur ſtreben die Ungarn mit einer wahren Wuth nach Stärkung und Erweiterung ihrer jungen Induſtriekultur. Sie fordern für ihren Agrarexport große Konzeſſionen von Oeſterreich, wollen der öſterreichiſchen Induſtrie aber ihr Land nicht als bequem zugängliches Abſatzgebiet überlaſſen, ſondern es, hinter Schutzzollmauern, zu verſtärkter induſtrieller Leiſtung erziehen; und natürlich ſehen fie in der Nachbarinduſtrie den gefährlichſten Konkurrenten. Dieſer Gegenſatz iſt auf die Dauer nicht zu überbrücken und bei der Wirrniß aller oſterreichiſchen Berhältniſſe wird im günſtigſten Fall der Friede nicht länger währen als das Leben des Kaiſers Franz Joſeph. Doc ſolche Zukunftſorgen liegen der Börfe fern; ihr genügt die Thatſache, daß der Ausgleihshader einftweilen zur Ruhe gekommen ift. Die Folge war, daß der Kurs der Krebitaftien um etliche Prozent ftieg; und dadurch wurde die Aufmerkſamkeit unſeres Börſenpublikums wieder einmal auf biefes Papier gelenkt, das, troßdem es nur ſchmale Dividende giebt und auf ein rüdftändiges Land angemiejen ift, dicht an 220 fteht,. höher aljo als bie beiten deutfchen Bankaktien, die doch auf viel fichererer und moder- nerer Grundlage ruhen. Der Uneingeweihte fteht vor einem Näthfel; er weiß nicht, daß die Kreditaftie ihre Höhe nicht etwa befonderer Werthſchätzung, fondern börjentechnifchen Gründen verdankt. Ein beträchtlicher Theil diefer Aktien ift im Befi ber Familie Rothicild, große Mengen find als feſte Anlagen namentlid) in Süddeutſchland und Oeſterreich untergebracht, effektive Stüde fehlen und die Spekulation in Kreditaktien bewegt ſich alfo ſtets auf einer ſchwanken Baſis. Die Eontremine aber ift gelähmt; jeder kleinſte Erfolg kann bazu führen, daß fie in einer unzerreißbaren Schlinge erdrofjelt wird.

Der Kurs mancher unjerer führenden Xnduftriepapiere ruht auf nicht minder unfiherem Grund; nur ift, wenn man von dem großen Poſten Laura⸗Aktien abjieht, den die Familie Hendel-Donnergmard befißt, der Dlangel an Stüden hier nicht durch die gute Placirung der Bapierc gewiſſermaßen natürlich entjtanben, fondern Minftlich durch die Börjengefeßgebung herbeigeführt worden. Der Laurahütte, dem Bohumer Gußitahl-Verein und unjeren großen Kohlenwerken mag man Aus— nahmeftellungen einräumen, die einen hohen Kurs rechtfertigen; doch jelbit den

3 86 Die Zukunft.

Optimilten muB ein geheime3 Grauen anwandeln, wenn er fieht, weldye Kurs fprünge all die Eleinen Induſtriewerthe täglih auf dem Kaſſamarkt maden. Wie aın Ende des alten, jo iſt au im neuen Jahr aber die Börſe froher Hoffnungen voll und rühmt fi, von je Her jei eine ihrer ſchönſten Aufgaben getvejen, die wirthichaftlichen Konjunkturen vorauszuahnen. Das ift an ſich richtig; nur pflegte die Börſe fi früher an beitimmte Thatſachen zu Halten, die auch dem erniteren Beobachter als wejentlihe Symptome gelten konnten. Wo aber find heute ſolche Merkmale nahender Befjerung ? Nicht einmal auf eine ungewöhnliche Geldflüſſigkeit, die ja ftetsS al& der Vorbote eines neuen Lenzes begrüßt wird, barf man hinweiſen; am Jahresſchluß war Geld jogar recht theuer und der lebte Aus- \ weis der Reichsbank lehrt deutlich, wie ſchwierig unfere Yinanzlage noch immer ift.

Auch der Blid auf die industrielle Entwidelung bietet unbefangenen Augen noch | fein tröftendes Bild. Dürre ringsum. Stolz erzählt man, in einigen Bezirken der | ZTertilindujtrie gehe e8 beijer; wer genau hinſieht, wird bald merken, daß nur | ein dünner Strichregen Befruchtung gebradt hat. Einzelne ſächſiſche Fabriken haben ausreichende Arbeit, aber. am Rhein Flagen die Fabrikanten; und die Lohn⸗ berabjeßung, mit der die Arbeiter der Trefelder Sammetfabrifen zu Neujahr

befchenft wurden, ift ein unzweideutiges Zeichen der Zeit. Gerade der Segen,

der vereinzelten Xheilen der Textilbranche zugefallen ift, jollte zum Nachdenken

anregen. Sieht man von ber nicht unbebeutenden Nachfrage für amerifanifche

Rechnung ab, jo findet man leicht, daß auch Hier die Entwidelung nicht für

eine allgemeine Gefundung bes deutichen Wirthſchaftorganismus ſpricht. Zu⸗

nächſt iſt zu bebenfen, daß Herbſt und Winter bie Konfektioninduſtrie endlich für

ſchlechte Jahre entſchädigt haben; und ferner hat die Modethorheit den greizer

dx > Webereien einen Theil der Kundſchaft nah Sachſen vertragen. In der Gunft

des Publikums find die bisher beliebten einfarbigen englifchen Stoffe von bunteren | abgeldft worden. Diejer Modewechſel hat den ſächſiſchen Fabriken zu thun ge- | geben; einzelnen Fabriken wenigitens, die nun im Schein neuer Ueppigfeit prangen, | weil fie zufällig liefern Fünnen, was die Diode verlangt.

Auf allen anderen Gebieten ſieht es nocd immer grau und Tabl aus. Die legte, enthufiaftiih begrüßte Preiserhöhung der fchlefiichen Werfe entpuppt fidh immer mehr als ein gejchidter Schachzug im Kampf gegen die Händler. Die einzige Hoffnung bleibt Amerika, deflen Riejenbedarf gar fein Ende zu nehmen ſcheint und deflen Wirthfchafthimmel ſchon wieder von dem Geſpenſt eines Maflen- ftrifes der Kohlengräber beſchattet wird. Die europäiſchen Börfen glauben offen- bar an die Dauer der amerilanifchen Hochkonjunftur; oder fie ftellen ſich wenig. ſtens gläubig und preifen mit viel ſchönen Reden den leuchtenden Stern. Und doch Fang die erjte Nachricht, die im neuen Jahr über den Ozean kam, nicht ſehr erbaulih: der Stahltruft will 25000 feiner Vorzugsaftien zum Kurs von 82!/, feinen Ungeftellten zum Bezug anbieten. Das find die jelben Aftien, die Morgans Agenten mit Aufbietung aller Beredfamfeit in Europa nicht loswerden fonnten und für bie der Truftalitofrat, wie er jet wohl einfieht, jelbft weit unter Pari auch in Amerika feine Liebhaber zu finden vermag. Ein gutes Zeichen jheint mir nicht, daß die Geldkönige der Vereinigten Staaten plößlid bas Bedürfniß eınpfinden, ihre Hörigen am Herrentiich mitellen zu lafien.

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Telegrapbirte Politit. 87

Telegraphirte Politik.

m dem Fürſten Bismard eine Kabeldepefche vorgelegt wurde, deren Inhalt ihm nicht ſehr beträchtlich fchien, pflegte er mit dem Riefenbleiftift an den Rand zu fchreiben: „Was Eoftet da8 Telegramm?“ Der Betragmurde gemeldet; und dann hieß e3 oft: „Kann der Abjender jelbft bezahlen; ich habe fein Geld für Depefchen, deren Inhalt mid auch auf dem Wege der Briefpoft frith genug erreicht.“ Der Kanzler liebte die Diplomaten nicht, diewegen jeder Kleinigkeit den elektrifchen Draht bemübten; der Depejchenftil, meinte er, verwiſcht alle feineren Nuancirungen und joflte nur in Nothfällen angewandt werden. Bald nad Bismarcks Entlaffung zeigte der Etat des Auswärtigen Umtes eine auffällige Erhöhung der Depejchenfoften. Die Zahl der diplomatiichen Berichte wenigftens der offiziellen hatte fich verringert; dafür telegraphirte man mehr als früher. Das war für Diplomaten, die aus der Armee und vom Landgericht faınen, bequem, weil es ihnen die fubtile Wiedergabe entftandener Stimmungen er|parte. Auch war, wo dieRoutine fehlte, raſcher Rath in diskreten Angelegenheiten manchmalnöthig; ein Beilpiel: als der Kolonialdirektor Kauſer an einen der Kleinen Negerkönige zu jchreiben hatte, fragte er telegraphiſch eine hamburger Firma, ober den ſchwarzen Herrn als eine Majeftät oder nur als eine Königliche Hoheit anzureden habe. Jetzt hören wir häufig, der vierte Kanzler halte ſich ſtreng an die bismärdilche Tradition. Mag jein; trogdem der Einfall, dem Präfidenten der Bereinigten Staaten zugumutben, er ſolle ſich als Schiedsrichter im Benezuelaftrett dem Süden verhaßt machen, dem erften Kanzler wohl eben fo wenig wie mancher andere gekommen wäre, der in den Staat3lanzleten ein Schütteln der Köpfe bewirkte. In einem Punkt iſt das Auswärtige Amt jedenfalls der Mode des Caprivismus treu geblieben: eg wird forttelegraphirt; eifriger noch als einft nad) dem März bes “Jahres 1890. Derfeichstag hat fidy mit den Etatsüberſchreitungen des Nechnungsjahres 1901 zu beihäftigen. Aus dem Abichluß geht hervor, daß falls nicht etwa ein Drudfchler die Ziffer fälſcht das Auswärtige Amt eine Mehr: ausgabe von 698000 Mark gehabt hat: „in Folge des ſtarken, durch die Wirren in Ehina bedingten Depeichenverfehres mit den kaiſerlichen Bertretungen in Oſtaſien, ſpe⸗ ziell mit der Geſandtſchaft in Peking." Natürlich, denkt der Leſer; inStriegszeiten wachjen eben bie Koſten auf allen Gebieten der politiſch militäriſchen Organiſation. Ganz ihön. Erftend aber wurbe für den geſammten Depejchendienft des Auswärtigen Amtes früher noch nicht einmal die Hälfte des jet nachgeforderten Betrages in den Etat eingejebt. Zweitens fann ſichs nur um diplomatilche Telegramme handeln, denn die milttärifchen find zu den Kriegskoſten gerechnet worden und jollen ung einft von den Chineſen bezahlt werden, die ja vielleicht die Güte Haben, die leichteren Bertrags- pflichten zu erfüllen. Und drittens darf man wohl fragen, ob es durchaus nöthig war, an jedem Tag durchichnittlich 2000 Mark für Depejchen von und nad China auszugeben. Einzelne diefer Depeichen find ja in der Prefje veröffentlicht worden. Als Beling befreit und unjerem dortigen Gejchäftsträger auf dem nicht mehr unge- wöhnlichen Drahtwege angezeigt war, ihm und feinen Beamten ſeien Orden ver: lieben, lafen wir die folgenden Säge: „Erhalte jochen Allerhöcjtes Telegramm und beehre mich, gehorſamſt zu bitten, meinen alleruntertbänigiten Dank für die mir

Die Zukumft.

in Gnaden zu Theil gewordene hohe und ungewöhnliche Auszeichnung Seiner Dia-

jeftät dem Kaifer und König hochgeneigteft zu Füßen legen zu wollen. Sämmtlide

- Mitglieder der Gefandtichaft ſchließen fid meinem unterthänigften Dank für die

huldreihen Worte £aiferlicher Anerkennung unferes Verhaltens in Zeiten erufter Gefahr an und Jeder ift von freudigem Stolz erfüllt, feinen Boften halten und ver: theidigen zu können“. Die ftiliftifche Leiftung braucht ung hier nicht zu kümmern. Kam diefe nervöſe Seligfeit aber nicht in einem Briefverfchluß noch zur rechten Seit an ihre Udreffe? Im Verfehr mit China beträgt die Worttare ſechs Markt. Tas Danftelegramm hat alfo ungefähr 500 Mark gekoftet. Schon am nächſten Tag aber lafen wir einen neuen Dantbericht, deſſen erfter Theil nach der Angabe der Zeitungen lautete: „Die Dlitglieder der Geſandtſchaft danken Euer Excellenz ehrerbietigit für die gütigen Glückwünſche und für die hohe Anerkennung, die ihrem Verhalten in erniten Zeiten feitens der Kaiferlichen Negirung zu Theil geworden iſt“. 31 Wörter 186 Marf. Graf Bülow, der Empfänger dieſer Depejchen, wußte, daß wichtige Telegramme, weil das afiatijche Kabel überlaftet war, damals Tage lang in Tientfin liegen blieben. Dennoch ſcheint er an der koftfpieligen Phrafeologie nichtg zu tadeln gefunden zu haben; jonft hätte er fie und ähnliche nicht der Kritif zugänglid) gemacht, jondern in den Aktenſchränken verborgen und unfere Afiaten gebeten, thren Bedarf an Ausdrücden dankbarer Ergebenheit künftig nicht auf Reichskoſten zu deden. Bor ber Anſchuldigung, fie hätten durd) Wortlargheit die feineren Nuancirungen verwifcht, find Telegraphiiten diefer Sorte ja fiher; unter Bismard aber wäre ihnen wohl die Luft an der Phraje ausgetrichben worden. Wenn jo gewirthjchaftet wird, darf man fich über die Steigerung der Ausgaben nicht wundern. Die Budgrifom- milfion des Neichstages und der Rechnunghof aber jollten diefen Dingen verjchärfte Aufmerkſamkeit Senken. Im Reichstag ſitzen ja ein paar frühere Diplomaten; viel- leicht geftattet ihnen, auf deren Diskretion er fich verlaffen fann, der Kanzler, den De— peſchenwechſel durchzuſehen, der die Nachforderung von 698000 Mark nöthig gemacht hat. Wahrjcheinlich fänden die Herren dann, daß erftens zu viele Depeſchen abge— ſchickt und zweitens in denen, die nicht zu vermeiden waren, zu viele Kurialien an⸗ gewandt wurden. So ſparſam wie das alte Preußen braudt das Deutjche Reich ja nicht zu fein. Da früher aber die winzigiten Beträge, ſelbſt wenn es fih um Schnupftabaf für den Marſchall Moltfe handelte, beanftandet wurden, follte man jebt das Geld nicht zum Fenſter hinauswerfen. Allzu reich find wir gerade heute nicht; und auch im Intereſſe des Dienftes iſt es nicht wünſchenswerth, daß jeder Geſchäftsträger feine eriten Impreſſionen ſchnell dem Draht anvertraut. Ein Diplo- mat ſoll willen, was er zu jchreiben, was zu telegraphiren hat, und alle Entbehr- liche in jeinen Berichten jparen. Wenn der Reichstag fi der Sache raſch annimmt, fann er neues Unheil verhüten. Noch iſt janicht abzufehen, wie lange vor Benezucla das Kriegsipiel dauern wird; vielleicht, bis John Bull und Bruder Jonathan ſich geeinigt haben und jid) die Südftaaten in ber dankbaren Rolle bes peacemaker prä« fentiren, derdem Erobererdrang der böfen Deutjchen den Ruftraum nimmt. Einftweiten lefen wir täglid) von neuen Erfolgen, vonneuen Schlägen, dieden Handel, die Sdiff: fahrt des verjchuldeten Landes treffen; offenbarhofftman, aufdiefem Wege zu feinem Geld zu kommen. Undjedestelegraphirte Wort koſtet ſieben Mark und achtzig Pfennige.

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Herausgeber und verantwortlicher Redalteur: M. Harden in Berlin. Verlag der Zukunft ir Berlin

Drud don Albert Damde in Berlin Schöneberg.

90 Die Zukunft.

ich für die ſchutzzöllneriſche Großinduſtrie arbeite, halte ich mich ganz objektiv. Geſchäft iſt Geſchäft. Mit den Blättern, wo Sie bete noire find, habe ich faſt gar feine Verbindung mehr; werde alſo nur referiren. Sachlich; unperſön— lich, wie die Barteilofen es wünſchen. Sie wijfen doch, warum id) komme?“

„Noch nicht; aber Sie werden mirs jicher jagen.“

„Sie follen dod) Neichstagsfandidat ſein?“

„Kein übler Spaß.”

„Spaß? Spaß! Alle Zeitungen bringens. Bitte!” Und er gab mir ein Blatt, worin wirklich zu lefen war, ich jet von den „Agrarfonjervativen“ für einen pommerſchen Wahlfreis als Kandidat auserjehen.

„Agrarfonfervativ und Pommern iſt viel auf einen Schlag. Wahr: ſcheinlich Ahlwardts Kreis; oder nebenan. Haben S:es geglaubt?”

„Ob ich ... Solche Notiz kommt doch nicht von jelbft in die Preife. Entweder iſts wahr oder ein ballon d’essaivon Ihnen. Warum auch nicht ? Sie haben den Leuten Dienfte geleiftet, und wenn jeßt die ſchärfere Tonart probirt werden ſoll, kann man Sie gegen Bülow brauchen.“

„Schr freundlidh. Erjtens aber werden die Herren vom Bunde der Landwirthe nicht finden, daß ich ihnen Dienfte geleitet habe. Trotzdem id) oft fürihre Forderungen eintrat, trennt ung doc) Vieles. Auch würden fie fid) ‚oben‘ fchaden, wenn jie fic mit mir einließen. Und da fie nach politischer Macht ftreben, muß ihr nächſtes Ziel ein feiter Parteiverband fein, der die Einheit des Wollens jichert. Ich Fönnte mirs anders denfen. VBernünftige Menjchen, die nicht rückwärts marſchiren, unjere bunt bepinjelte Unkultur in Kultur wandeln möchten, all das Gerede über Zölle und HandelSverträge für die Bagatelle hielten, die c8 tft, und dennoch entichlojfen wären, für den auf Ichlechtem Boden wirthichaftenden Yandmann alles Mögliche zu thun. Ganz einfach, weil Preugen dieſe Schicht noch) eine hübſche Weile braucht; weil ſonſt die Slavifirung nod) ſchneller kommt, al3 wir jegt ahnen ; und weil die Yankees uns die Erportwunderträume bald austreiben werden. Soldye wenn mans sonennen mtl agrariiche Grundftimmung ohne fraftionels len Zwang wäre am Ende nützlich. Jetzt haben die Agrarier die weit überwie— gende Mehrheit der Gebildeten gegen fich, und wer fürſie jpricht, wird im beſten Fall für einen Wirrkopf gehalten. Daß ſelbſt Marx gejagt hat, er fei nur Freihändler, weil ‚der Freihandel die joziale Revolution befördert‘, daß er in ſchlechten Yandfrucht: und Bichpreijen das jicherjte Deittel ſah, die Lebens— haltung der Maſſen, auch der in Induſtrie und Handel thätigen, herabzu= drüden: daran wird längjt nicht mehr gedacht. Die Agrarier hauſen mit den

Mein Wahlkreis. 91

Konfervativen zufammen und die Konjervativen find von der Intelligenz verlajfen. Mit Recht; denn fie leiften nichts, enthülfen in den Barlamenten die Schnfucht nach einer rafchen Nebarbarijirung und haben in den ent— Scheidenden Stunden nicht einmal den Muth eigener Meinung. Kampf ge- gen den Umfturz (den Niemand plant), hohe Zölle (die nie bewilligt werden) und Strenggläubigfeit (die im Gemüth feine Wurzel hat): Das ift ihre Li— tanei. Nicht die geringjte Witterung für moderne Bedürfniffe. Daher die ungünftige Bofition. Kein Mac Kinley, kein Balfour, faumein Grafde Dun; es ıft, als jet das Sperma ganzer Gencrationen verbraud)t worden, um den einen Bismard zu fchaffen. Deshalb hüten ſchlaue Herren wie Bülom ſich weifevor dem Auf altkonfervativer Gejinnung und putzen jich Lieber modern auf. Und id) wüßte nicht, wie es in abjehbarer Zeit weſentlich anders wer- den fol. Iſt die Regirung fo unflug, die Handelsverträge mit Rußland, Amerika, Ocfterreich über die Wahlzeit hinzufchleppen geichiefte Unter- händler aus der Praxis könnten bei genügendem Dampf bis zum erften April damit fertig fein —, dann dürften die Konfervativen mand)es Mans dat an den Bund verlieren. Das wäre aber auch nur ein Perſonenwechſel. Auf alle politiichen Fragen hätten die Herren, die Ihre Preſſe, Bündler‘ nennt, keine andere Antwort als die Gouvernementalen von heute; ſie wären höchſtens zäher in der Vertretung ihrer eigenſten Intereſſen. Die Geſchichte von der ſchärferen Tonart wird in jedem Karneval erzählt; obs je dazu kommt, müſſen wir abwarten. Bis zum Abſchluß neuer Handelsverträge gewiß nicht; Schroffheit könnte die Maßgebenden ja noch ungnädiger ſtim— men. Und iſt die Zollpolitik wieder für zehn oder zwölf Jahre feſtgelegt: was bleibt dem Bunde der Landwirthe dann überhaupt noch zu thun? Ob die kleinen Beſitzer abermals zehn Jahre hoffen und Beiträge zahlen werden, iſt mindeſtens zweifelhaft; die Erde dreht ſich weiter. Heute ſiehts ſchon ganz an- ders aus als 1892; damals konnte man ohne Handelsverträge ausfommen ; jegt wäreein Bollfrieg, den der Gegner aud) nur ſechs Donate aushielte, eine Kataftrophe. Das weiß man drangen, troßden schönen Neden des Kanzlers, der fich Stolz als einen Volkswirth fühlt, wenn er die Ziffern der Ein- und Ausfuhr vom Blatt ablieft. Die Situation iſt ungemein ſchwierig, weil unjere Geichäftsführer nichts vorausgejehen haben. Die fanden ſich in einem ‚ewigen Ölanze. Den Aufjchwung haben wir, rechneten fie, anneuen Märkten . kanns nicht fehlen, denn wir bauen ja Schiffe; und in ein paar Yährchen be- erben wir Oroßbritanien, das facht brödelt. Veider hatte die Nechnung ein Loch. Das Sternenbanner war vergefjen. Wir haben gehandelt wieein Pri—⸗

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Die Zukunft.

der über feine Verhältniffe lebt, immer auf ein rettendes Wunder titten in feinen Riejenplänen den Athem verliert. Gold iſt feine Die Enttäufhung hat erſt angefangen; das dicke Ende fommt, ereinigten Staaten fatt find undihr Eiiennad) Europa verfradhten. böfe Sadgaffe. Dem Export find unüberfteigbare Grenzen ge- ren Hauptproduften droht der gefährlichite Wettbewerb un) bie U die reine Agrarwirthſchaft ift nicht möglich... Meinen Sie, daß chen Anſichten dieStimmen pommerſcher Bauern gewinnt? Denen in Rezept zeigen, das ſichere Heilung verheißt. Meine Partei, muß verſchafft Euch hohe Preiſe, hält Euch die ausländiſche Konkurrenz ringt gehorſame Arbeiter aufsLand zurück, drückt den Sozialdemo⸗ Daumen aufs Auge und lehrt die Börſenſippe Mores. Das zieht. lt werden will, muß Freibillets zum Paradies in der Taſche tragen.“ d woran liegts? Es war doch nicht immer fo. Als der Liberalis⸗ ſerrſchte, kannten wir ſolche Intereſſenpolitik nicht.” is muß ich ſchon irgendwo geleſen haben. Nur hat bei uns der us nie geherrſcht; offiziell: denn hinter der Faſſade hat er die yt ja längſt an ſich geriſſen. Die Mär von der agrariſchen Tyran⸗ der wir ſchmachten, wird durch ewige Wiederholungen nicht wahrer. cht werden kann, machen die Induſtriekapitäne und ihre Bank⸗ doch wirtlichnicht reaftionär* ſind und denen Junker und Bauern ir weichen müjjen. Wovon friſten die ‚entjdicden liberalen‘ Grup⸗ od) ihr armes Leben? Sie möchten indiewärmften Staatsftelfen, len zur Verforgung des Adels und zur Züchtung guter Geſin— bt werden. Sie führen gegen den Schußzoll einen Kampf, der, cifpiel anderer Länder beweift, mit Liberalismus gar nichts zu Ind trogdem nirgends die Kraft noch auch nurder Muth zueinem ı Berfajfung jihtbar ift, oben noch weniger als unten, ſchreien ſie: neine Wahlrecht ift in Gefahr! Mit diejen Ladenhütern Haufiren Zafıren. Leſen Sie die Leitartikel: Agrarier, Kanal, Börſengeſetz, e Oberpräjidenten, Wahlrecht, Berufung in Strafjahen und Etändiger Unjinn; fein Dämmern fchöpferijcher Gedanken. Auch Verſuch mehr, die Demokratiſirung weiterzuführen; mit der Age» e fänden Sie feinen Nepubtifaner. Um Richter, in dem noch der tengrolf gegen ‚die Soldatcsfa‘ Lebt, wirdsvon Jahr zu Jahr ein⸗ T zu behaglichem Wohlitand emporgeftiegene Händler hat kein nehr daran, gegen Monardjie, Heer und Flotte zu wettern. Das

Mein Wahlkreis. 93

Heer hält die armen Leute im Zaum und wäre eine wunderjchöne Sache, wenn Schulzes und Levys Söhne nur leichter Stabsoffizier werden könnten. An den Edhiffen wird viel verdient und ihre Kanonen follen dem Handel ja neue Märkte erobern. Und was würde aus dem Gofchäft, wenn der rocher de bronze der Monarchie in die Luft flöge? Das ift, fieht mans in grelfem Tageslicht, auch Intereſſenpolitik. Die war eben immer, wird immer fein; Intereſſenpolitik trieben die Gracchen, die Führer im Bauernkrieg, der tiers Stat, unſere Achtundvierziger und die chineſiſchen Boxer; Jaczo von Köpenick und Jacques Bonhomme, Cromwell und Robespierre waren von dieſer Sünde nicht freier als Marx und Wangenheim. In den Schickſale ſtunden wirkten ideologiſche Zwangsvorſtellungen mit; doch unter der Bewußtſeins⸗ ſchwelle wühlte ſtets Noth oder Gier. Wenn die Dupirung des aufwärts drängenden Gefühlesgelungen war, kam dannirgenbein Herr Homais Sie fennen dod) Flauberts prachtvoll typiſchen Fiberalen? Natürlich und bewies im Modejargon, daß es ſich um einen Kampf für die Aufklärung, die Befreiung der Menſchheit handle. Ficken Sie, geehrter Herr, ſich etwa nicht vom Intereſſe treiben, alsfic den Plantagen des berliner Freifinns ent liefen? In ein paar Jahren werden Sie ſchwören, ein ſittliches Prinzip, ein aus der Seelentiefe herauftönender Bflichtbefehl habe Sie gezwungen, ‚fich jelbftändig zu machen.“ Was heutefo häßlich jcheint, ift uralt ; nur ficht mans eben deutlicher, feit die Eoliftenpolitif aufgehört hat. Wie im Kriege, den perfönlicher Heroismus nur felten noch adeln Tann. Der Zweck moderner Kriege ift, dem Feind möglichft fühlbaren Materialichaden zuzufügen, ihm Millionen, Billionen wegzufchießen und weg;ujengen ; und politifche Kämpfe werden unternommen, wenn eine Klafje die andere von den Quellen der Macht und des Neichthumes wegftoßen will. Da ift für Perfönlichkeiten, die ſich nicht feft an ein Barteipropramm binden wolfen, fein Raum. Denken Sie ſich ein Häuflein, das ſich auf dem Schlachtfeld zwifchen die Heere würfe und erklärte, auf beiden Seiten ſei Recht und Unrecht; ihm aber fei die Auf— gabegeftellt, fürdasabjolute Recht gegen Wahn und Verblendung zu fechten: von den erften Schwadronen würde es überritten. In alfen Ländern hört man jegt Hagen, die Heroenzeit des Parlamentarismus fei dahin, und wo früher Adler horfteten, pfiffen nun Spagen. Das iſt kin Zufall. Statt die berühmten Namen der Entjhwundenen aufzuzählen, follte man lieber den Großthaten diejer Korpphäen nachforſchen. Aus den Parlamenten haben die Mommſen, Sybel, Treitichfe, Virchow, Freytag ſich feine Kränze geholt; und fie brachten fämmtlid) dod) das Opfer des Intellektes, das beim Eintritt in

ESF)

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94 Die Zukunft.

eine Fraktion von Jedem verlangt wird. Wer allein bliebe, würde noch weni- ger erreichen, wenn ihn nicht politiſches Genie befähigt, ſelbſt wieder eine Partei um ſich zu ſammeln. Dann aber muß er auf die Autonomie der Per⸗ ſoͤnlichkeit verzichten; denn nur als Ausdruck eines Klaſſenbedürfniſſes kann eine Partei in ruhigen Zeiten leben. Auch heute ſitzen in den Parlamenten ja nicht nur Tröpfe. Doch die Starkſten ſind mit dünnen Fäden angebunden und dürfen ihr Beftes nicht von fid) geben. Ein paar intellectuels nidjt von der Sorte, die aus ihrem Elfenbeinthürmchen verädhtlich auf alles poli- tische Zreiben herabficht könnten nicht ſchaden, wären ein angenchmes, den gebildeten Sinn tröſtendes Ornament. Aber fie hätten nicht$ hinter ſich als die Heine Schaar der Künftler, Gelehrten, Dilettanten und Deflaffirten und wären zur Ohnmacht, manchmal zurlächerlichkeit verdammt. Freytag und Treitjchfe, der Bicomte de Bogüe und Maurice Barr&s, ſogar die Her⸗

J ren Dernburg und Conrad überragten als geiſtige Potenzen ſicher den Durch⸗ Ar. Schnitt der Parlamentsgenoffen und konnten fich dennoch nicht im Vorder» B- grund der Bühne behaupten. Deinofratie, mein Herr. Kleon ift immer

mächtiger als ein Nikias und Sokrates, Jack Lade ftärker als Ruskin; nicht, weil er die frechere Zunge hat, fondern, weil er ein Maſſenintereſſe ver» tritt. Das macht ihn jo furchtbar und ſchützt ihn, wenn nicht geradeein Ari- ftophancs aufiteht, vor offenem Hohn. Wir würden die alte Erfahrung er= neuen. Die Frage, ob zwanzigtaufend literati mitihren Xebensbedingungen zufrieden find, bringt fünfzig Diillionen Dienfchen, die in eigenerNoth oder Gier keuchen, nicht in Bewegung. Ind da wir fein Oberhaus haben, feinen Senat, in den die von Geiftes Gnaden Gekrönten berufen werden, fönnte nur eine Organifation nad) dem Muſter der Fabian Society unferen In⸗ telleftuellen die Diöglichfeit jchnellen politischen Wirfens gewähren. Den Geduldigen bleibt die Feder, der Pflugfchar der größten Kulturbereiter, die Waffe der nüßlichiten Xrugzerftörer. Barlamenteaber find nun einmalnicht | Gymnaſien, wo Sophroniſten den feinften Geiſtern Preiſe zufprechen, ſon⸗ dern Geſchäftsſtuben, in denen um Krippenkonzeſſionen gefeilſcht und nach dem Machtmaß das Klaſſenſchickſal des nächſten Tages beſtimmt wird.“

„Ku... Und trotz Alledem möchten Sie hinein. Man merkts doch!”

„Jeder hat Stunden, wo er ſichs wünſcht. Immunität: Das iſt die gewaltige Lockung. In Deutſchland ſind ſo viele Dinge unausgeſprochen; die wichtigſten. ‘Die offene Aussprache würde weithin widerhallen. Da ift die Feder machtlos. Unfer Strafgejeg aud) ein Produkt der Intereſſen⸗ politif ſperrt den Weg zu fühner Bubliziftif. ‘Dem befonders, den feine

Mein Wahltreis. 95

Bartei ſtützt und deſſen Schickſal Fein Wuthgeheul weckt. Der Stärkſte wird durch gehäufte Prozeſſe mürb gemacht. Die Sozialdemokraten ſelbſt finden taum noch Märtyrer‘, trotzdem der Handarbeiter unter der Unfreiheit nicht fo leidet wie der entwurzelte Gerebrafthenifer; und die Bonzen aller Bar- teien ſchütteln die weifen Häupter über den Thoren, der eine Kate laut eine Katze nennt. Nur im Parlament ließe ſich Manches jagen; gerade von einem nicht fraftionell Gebundenen. Das Empfinden der zur Revolu— tionirung der Geifter berufenen Minderheit fommt da faft nie zum Wort. Und ein Gebiet ift ganz vernachlaſſigt: felten nur wird über internationale Politik ernfthaft geredet. Die Sozialdemokraten rümpfen über den Diplo- matenkrimskrams dieNafeundfindfroh, daderalteSchwärmer Liebfnechtfie nicht mehr mit Urquharts vergilbtem Portfolio fompromittirt; vielleicht er⸗ fahren fie auch nicht genug Interna und ſcheuen ein Gelände, dag fie nicht genau kennen. Die anderen Parteien aber beugen ſich in blinder Demuth vor dem dipfomatijchen Geniedes Herrn Grafen von Bülow. ‚Jr der inneren Politit ift er ſehr ſterblich; die feinen Schachzüge des Bismarckſchülers aber muß Jeder bewundern.‘ Wenn der Bismarchſchüler, der das Mögliche er- kennt und das Nothwendige thut, nur endlich) fichtbar würde! Mir fcheint: auf diefem coupirten Terrain werden die ſchlimmſten Fehler gemacht. Na— türlich wird Alles vertufcht wozu hat man ein Preßbureau, daS Nach— richten fpenden oder weigern kann? —, Denen aber, die draußen Bolitit machen, bleibtaufdie Dauer nichtö verborgen. Unangenehme Sachen kommen auch ohne Nachhilfe ang gefährliche Licht; ‚ich verlaffe mid) aufs Stinfen‘, pflegte der alte Bleichröder zu jagen, wenn er eine faule Geſchichte nicht ſelbſt lanciren wolfte.Und wir kommen ausden faulen Geſchichten nicht mehr heraus. Da ift jetzt wieder Venezuela. Ein Märchengipfel der Ungeſchicklichkeit. Zuerft das haſtige Werben um die Gunſt der Yankees, das die PiychologieeinesSefun- daners als unklug empfinden mußte. Nur raſchSteine ins Brett; übermorgen werden wir drüben mehr gelten als England. Wir, heißts, waren für Euch, als Ihr mit den Spaniern zu ſchaffen hattet; die Briten wollten Euch Knüppel zwi⸗ ſchen die Beinewerfen. Den Botſchafter hören ſie, doch der Glaubefehlt;natürs lich: ſie erinnern ſich zu gut noch der Schimpfreden, die den Feinden edler Kaſtilianer übers Weltmeer gerufen wurden. Das Ziel iſt Südamerika. Wenn wir in den Vereinigten Staaten als zärtliche Vettern beliebt geworden find, dürfen wir daran denfen, ung im Süden die befte aller vorhandenen Kolonien zu ſuchen. Wer ſolche Pläne befinnt, müßte jeden Schritt und jedes Wort zehnmal überlegen. AlteSchule! Das machen wir anders; viel forſcher.

Die Zukunft.

wilf feine Schulden nicht bezahlen und der Präfident Caftro wird frech? Denen werden wir die Flötentöne beibringen. Eduard Salisburys feftem Halfter befreite Majeftät wird leicht überredet. ndniß gegen ben böfen Zahler. Das befte Mittel, Deutiche und eder zu Freunden zu machen. Blut ift dider als Waſſer. Die er haben fein Geld? Gut: blofiren wir ihnen die Häfen (und hin⸗ öchft ſchlau, durch den Ueberſeehandel Geld zu verdienen) und boh- reihbaren Schiffe in den Grund. Waffengewalt joll entfcheiden. ge: ganz Amerifa eint ji) im Zorn gegen den europäiichen ‚Er= ingland, fagt Onkel Sam, macht nur zum Schein mit, vielleicht, " ngeftümen Partner zur Mäßigung zu zwingen; die Deutjchen n nicht nur Schulden einfafiren, fondern im Süden, auf den fie u bliden, Fuß faſſen. Darf nicht geduldet werden. Der Fall ift ffen für die Erledigung durch ein Schiedsgericht. Auf nach dem as haager Gericht fteht in Berlin, wie Alles, was mit Nifolais talitäten zufanmenhängt, in üblen Geruch. Schön, wird geant- fo nicht Waffengewalt, jondern Schiedegericht. Aber nicht im idern in Wafhington. Wir wünfchen den Präfidenten Roojevelt dsrichter. Fein ausgefonnen, nicht wahr? Vergeffen wird nur, Roofevelt ein eitler Narr fein müßte, wenn er fic) daS onus auf: n liche. Und wäre ers, fo bliebe der Vorſchlag noch immer bedei : Südamerifa würde jagen: Welche ungeheure Uebermacht müſſen nigten Staaten erlangt haben, da ihrem Schiedsſpruch ſich die Sroßmächte Europas unterwerfen! Wie der Kurzfichtigfte aber en mußte, lehnt Rooſevelt das Richteramt höflich ab; und nun bfeibt : bie Forderung abermals um etliche Pflöcke zurückzuſtecken oder Haag zu gehen. An diefem Punkt der Tragifomoedie halten wir f dem amerifanijchen Kontinent ift das Mißtrauen gegen deutfche Hläne erftarftundnicht nur die Gelbe Preſſe predigt den Krieg wider ntüdfe. Die Engländer find wüthend, weil ihr König, ohne auf den erer Bolitifer zu hören, fid) in ein Abenteuer locken ließ, von dem ünftigen Traditionen britijcher Erbweisheit abmahnen mußten. das, weil der Fetifchglaube an Dreibiinde nicht auszuroden ſcheint, gezogen worden war, benußt das erjte freundlichere Wörtchen des Taſtro, um zu erflären, nun ſei Alles gut und die Blokade zwecklos . In Petersburg, Paris, Wien ficht man vergnügt dem Speftafel Hoffnung auf füdamerifanifche Kolonien muß mindefteng für eine

Mein Wahltreis. 97

lange Weile vertagt werden und kluge hanſeatiſche Kaufleute ſeufzen, die Hauptzeche werde auch diesmal der deutſche Handel zu zahlen haben, den die Südſtaaten nur noch als ein nothwendiges Uebel hinnehmen werden. Und damit gar kein Zweifel an der erlittenen Schlappe aufkomme, wird mitten in den Verhandlungen der Botſchafter Holleben abberufen, weil er die Lage nicht richtig geſchildert, Rooſevelt nicht zu der Richterrolle überredet hat. Jahre lang ließ man ihn Fehler auf Fehler häufen; jetzt iſts unmöglich, ihn noch ein paar Monate auf dem Poſten zu halten, deſſen wichtigſte Pflichten man ihm doch geräuſchlos abnehmen fonnte... Ungefähr fo endets jedesmal. Die großbourgeoije Preife jagt nad), was irgend ein Hammann ihr vorges fagt hat, und bewundert den neuften Markſtein‘. Das Parlament jchweigt und ift zufrieden, wenn nad) alter Ehinejenfitte ‚das Geficht gewahrt wird‘, Die Wenigen, die hinter die Couliſſen gegucft haben, wiſſen aber, wie jchr unfere Bofition fich verjchlechtert hat. Da zieht ein ingewitter herauf, das der - Rede werther iſt al3 Bolltarif und Wejtfalenfanal. Jede Ernennung müßte fontrolirt, jede Abberufung Eritifirt, nach jedem auffallenden Schritt der Kanzler interpellirt und das Aeußerſte rückjichtlog gejagt werden ; der Nach— barfchaft würde dadurch nicht3 verrathen: die weiß ſchon jett befier Be- ſcheid, als ung lieb fein kann, und nur zu Haufe glaubt man nod) an den Glanz der Phrajenbilanzen. DerMinijter des Auswärtigen hat heutzutage das bequemfte Leben; an feine Geheimwiſſenſchaft wagt jelbjt der Kechſte fich nicht. Auf diefem Gebiet könnte vielleicht auch ein Einzelner nügen.”

„Die Sache wird. Ich werdealfo fchreiben: Siefandidiren, wenn...”

„... der richtige Wahlfreis gefunden ift. Der müßte mic) aber nehmen, wie ich bin. Mir erlauben, immer die Partei der armen Yeute zu ergreifen deren ‚Begehrlicdjfeit‘, wenn die Exrporthoffnung welft, der Produzent nod) fchäßen lernen wird und doch nicht fraftionell gedrillter Sozialdemo: frat zu fein. Schußzölle für ein berechtigtes Nothwehrmittel zu halten und doch nur fehr felten mit den Agrariern zu ftinmen. Die Zufunft weder auf dem Weltmeer noch im Kanal zu fuchen. Im Weddingbezirk, in derWeichel- niederung und dem Elendsland hinter Bentjchen wichtigere Kolonialgebiete zu fehen als in den Karolinen. Nie die Intereſſenpolitiker zu ſchelten und dennoch, ohne Rückſicht auf ein Klaſſenintereſſe, auszufprechen, was ift. Glauben Sie, daß folcher Wahlkreis zu finden ift? Ich aud) nicht.“

„Alſo Soll ich nichtS bringen?“

„Bringen Sie: Kein Politiker hat den Mann je ernft genommen; die Kandidatur war ein ſchlechter Scherz. Das wird ficher gedrudt.“

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Die Zukunft. Schwarz; Weiß.

‚m Eingang jeder umfafjenden Sammlung von Kunftwerfen unferer I Zeit follıe ein Vorzimmer fein, in dem Portnaits moderner Sünftler zu fehen find. Der Eintretende würde dann durch die Phyſiognomik auf das Weſen der neuen Kunft vorbereitet und durch folche Anſchauunglehre beſſer orientirt werden als durch gelehrte Kataloge. Die Portraits müßten in zwei Gruppen getheilt werden. Diefe Scheidung könnte praftifch fo leicht vorges nommen werden, wie jie theoretijch weitläufig zu rechtfertigen ift; eine Frau, die nicht das Geringfte von Kunft verfteht, dürfte die Wahl treffen und würde, wenn fie nur ihren Weibinftinkten folgt, eine richtige Gruppirung, im Sinn ber herrfchenden artiftifchen Tendenzen, zu Stande bringen. Rechts fänden bie fchönen Männer ihren Plag, links die häßlichen. So würde fich zeigen, daß die Kulturkraft eine fein charakterijirende Geſichtskunde treibt und das Menſchenmaterial mit dem Prägeftod ihres Willens deutlich zu zeichnen weiß. Man höre die Namen: Böcklins und Klinger männlich bedeutende Bildnner- bäupter eröffnen die Reihe auf der rechten Seite; danır folgen Greiners edles Schülergefiht, Hofmanns ftiler Ausdrud mit den blauen Romantikeraugen

und Thomas herzliche Baterzüge; der feminine Moſeskopf Reinholds Begas,

Adolf Hildebrands kluge Bürgerphyliognomie, das fein modellirte Dichterhaupt Wilhelms Kreis, Stoevings blonde Lyriferzüge, Segantini mit dem herben und Burne: one mit dem weichlich myſtiſchen Chriftusprofil, Roffettis hek⸗ tifche Nenaiffancenasfe und das in kräftig maskuliner Vornehmheit blickende Bild Buvis’ de Chavanned. Links aber würde man andere Künftler finden: Rodin, mit dem genialbrutalen Gnomenkopf, Lautrec, den Zwerg mit der hämiſch Eugen Hofnarrenmaske, Liebermann, aus deifen forgenvollem Hebräer- gelicht forfchende, wifjende Augen bliden, Manet, der in zerfnitterten Zügen eine nerodfe Willenskraft offenbart, Ban de Velde mit fchmalem fin de race- Kopf, Endell, den engbrüftigen Riefen mit der aufmerfenden Vogelphyſiognomie, Mund, Leiſtikow, Minne, Heine und Beardsley.

Es ift der Geiſt, der fi) den Körper baut. Zur erften Gruppe ge bören Kunſtler aus den alten Adelögefchlechtern der Romantifer und Humaniften. In langen Artiſten- und Gelehrtengenerationen ift eine edle Reinheit der Profile erzeugt worden und nun fegt fich der Familienzug in den Geiftes- enfeln beftändig fort, felbft wenn die Perfönlichleit die Form nicht mehr zu füllen vermag. Der harmonifchen Erſcheinung entfpricht eine harmonifche Seele. Der große Gedanke, in dem die Welt jich fpiegelt, wird feiner felbft

wegen geliebt, wie etwas Göttliches; mo die Gedankenkraft verfagt, deflamirt

der ſchwärmende Enkel die Berfe eines Ahnen. Die Begeifterung, der Rauſch, da8 Glück gehören zur Konftitution diefer Künftler, diefer Frauenlieblinge

Schwarz Weiß. 99

mit den ſchönen, milden, bärtigen Gelichtern. Die der anderen Gruppe bliden mit überlegen ſich dünkender Weltklugheit drein. Hier giebt e8 nur Demofraten, Emporlönmlinge, die jäh aus ben leidenfchaftlichen Kämpfen ber Zeit auftauchen und mit allen Merkmalen pathologifcher Determinationen grotesk behaftet find, ſpröde Deifchgeifter, in denen der Wille haftig nach einer Seite drängt, ſich ein arbeithungriges Talent zum Werkzeug fchafft und wie eine Stihflamme heiß nach außen Tchlägt, eigenfinnige Revolutionäre, die auf bäumenden Tendenzen durchs Leben reiten, von idealen Rüdjichten nicht gefeflelte Intelligenzen, die nach den geiftigen Ummälzungen die Macht ufurpiren und zu Anſehen gelangen, weil fie durchaus Produft der Zeit und darum zum Erfolg prädeftinirt find, Yanatifer, die alle Wahrheit immer in einer Richtung fuchen und dabei zur firen dee gelangen.

So lehrreich e8 in diefer imaginären Portraitgalerie ift: zu erfreulichen Refultaten gelangt man dort nicht. Die Frage lautet: Auf welcher Seite ift die Fruchtbarkeit und Gebärtüchtigleit? Die fchönen Männer find offenbar fon ein fpätes Gefchleht; aus ihren Lenden kann ein kräftiger Stamm faum mehr hervorgehen. Im beften Fall mögen noch fanfte blonde Knaben fommen, die fhwärmend mit dem Dafein fpielen und vom Erbe der Väter in Schönheit leben. Doc auch dem neuen Künftlergefchlecht traut man die Bähigkeit, tüchtige Söhne zu zeugen, nicht zu. Die bartlofen, ſcharfknochigen, heftiichen Gejichter mit den Eugen, ſchmalen oder finnlich dien Xippen, Die in fieberifch nervöfer Willenskraft leuchtenden Augen, die unruhigen, fehnigen Hände: das Alles ift ſchon Entartung. Die intelleftuelle Reizbarkeit dieſer Nervöfen ift ficher nicht immer ein Höhe- und Reifepunkt, fondern oft das fchrille Ende einer Familienkurve, die von der Bahn des Geſetzes entgleiit iſt. Angſt vor der Zukunft der Kunft könnte Einem werden, wenn man fi) nicht fagte, daß die Natur, immer unerfchöpflih, einen zwedmäßigen Weg finden wird, um fich felbft im Menfchen zu erneuen.

Heute mollen wir nur raſch das Portraitlabinet durchfchreiten und gute Kunſt befichtigen. Die Berliner Sezefiion hat zu einer Ausftellung ber zeichnenden Künfte geladen. Es giebt intime Genüſſe, die ganz nur zu verftehen find, wenn man vorher die Schaffenden anfieht. Denn es ift ja auch wieder der Koͤrper, der fich den Geift baut. Vom unbedingten Dualismus, von dem Glauben, den Heyfe in einer Novelle dadurch anbeutet, dag er den kranken Körper vom Geiſt l’autre nennen läßt, find wir abgelommen. Der „Undere* beterminirt alles Geiftige eben fo, wie er pfychifch beeinflußbar ift: Wechſel⸗ wirkungen gehen herüber und hinüber, wenn man mit foldhen Raum: begrifien überhaupt operiren darf. Die antike, ganz ornamentale Kunft konnte nur von den fchönen, gefunden Menfchen ber griechifchen Welt gemacht werden; bie problematifche und zur Hälfte charakteriftifche Gegenwartlunſt fegt ben 9—

u 2 te, % . Ktoäu (1. Die Zukunft. n N FR) .

disfonixenden Nervenapparat moderner Menſchen voraus. Das Ornamentale,

alfo das Architektoniſche, das alle aus dem Lebensgefühl fließenden Kunft-

inftinfte umfaßt, ift nicht ein Produft von Schepenhauers Erfenntniß, fondern

geht unmittelbar von dem Willen, als artiftifch ſich kriſtalliſirende Bejahung

des eigenen Dafeins, aus. Für die ormamentalen Bilder der Kunft ift «8

entfcheidend, wie die Gefee des Organismus in ben Nerven widerfchwingen,

* wie die Muſik der eigenen Körperarchiteltir vom Individuum empfunden

E wird. Der phyſiſch vollkommene Menſch liebt die reine, harmoniſche Linie, dem

begenerirenden Organismus fagt dad Grotesle zu. Natürlich kann ein Buckeliger

J ſehr wohl als Künftler Hellene fein. Die zufällige Deformirung ſtört das ur:

Bi . - Sprüngliche Verhältniß, den Grundcharafter der organifchen Architeltur nicht;

aber die langfam fortfchreitende, biologifch oder fozial erfiärliche Deformirung

ändert die Grundbedingungen der ornamental bildenden Inſtinkte. Immer

vorausgelegt, daR es fih um ein urfprängfiches Erfinden handelt, um

originale Schaffen; denn nachempfinden Täßt lich Alles, weil die ganze menſch⸗

liche Schöpfungsgefchichte als Univerfalinftinkt in Nedem ruht und allen An⸗ '

. rufen zu antworten vermag. | > In den graphifchen Künften fpielt diefes phyſiſch beflimmte Orna-

3—

| 3 mentale eine bedeutende Rolle in feiner urfprünglichiten Form: als Hand: ſchrift. Die Graphologie giebt hier Kunde vom inſtinktiv ſich entladenden F: Temperament des Künſtlers und die geiſtige Erfaffung des Stoffes zeigt das Verhältnig der perfönlihen Exfenntnig zur Welt an. Aus diefen Elementen: * dem Begrifflichen und dem Ornamentalen, beſteht das Weſen aller graphiſchen J— | Kunft. Zeichnungen guter Künftler find fo intereflant, weil fie gebanflich 3 Epigramme, Aphorismen, alfo perfönliche Erkenntnißnotizen und formal orna- EB mentale Schriftproben find. Wie man aus Scriftlinien Schlußiolgerungen r auf den Charakter zieht, ſo und noch fiherer kann man aus den orna-

mentalen Temperamentslinien einer Zeihnung auf die Art der Künftlerindis vidualität fchliegen. Diefe offenbart in den graphifchen Künften Ziorierlei: die | Welt ihrer Erlenntniß und das autofratifche Wirken ihrer Lebenskraft. Der | Betrachter hat Beides zu fuchen und die dazwiſchen beftehenden Wechjel- wirfungen, die auf tiefe Zufammenbänge des Sittlichen und Artiftifchen bin- weifen, zu erkennen.

Arbeiten von Greiner füllen in der Ausftellung einen ganzen Saal. Die Natur diefes Künftlers, der zur Gruppe der fchönen Männer gehört, fhwingt in weichem Wohlflang; wenn er den Etift anfegt, drängt es bie Hand, Linienmufif zu machen. Die Striche liegen in reinen Kurven neben einander und verbinden weich die Theile; das Spiel dir Muskeln, die ſtolzen Umriffe einer heroifhen Stellung, die Vielheiten körperlicher Diynamis: u Alles wird diefem SKlingerfchüler zum Ornament, im Sinn antik reiner

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Schwarz⸗Weiß. 101

Formenſchönheit. Die Handſchrift iſt kalligraphiſch. Greiner malt, „wie ſich die plaſtiſche Natur das Bild dachte“, und überläßt feinen Kunit- antipoden jenen Mugen Zweifel, den Conti ein Windelmannfchüler, dem Boltaire doch auch nicht unbefannt war hinzufügt: „wenn es eine giebt”. Diefe Kunft ift durchaus auf Form gefiellt, weil fie ornamental nicht Tas Pſychologiſche umfchreibt, fondern das Plaftiiche; der Cinn ift ganz wie. in Singers Graphik zur Hälfte auf das Stulpturale gerichtet. Da Diefes aber an fich ſchon eine auf den menfchlichen Körper angemandte Art des Drmmamentalen ift, fo #t Form und Stoff im Grunde das Selbe. Für bie Idee bleibt wenig Platz und den Kann, fo anfpruchsvoller Form gegenüber, mit der nöthigen Würde nur die ideale Allegerie füllen. Klinger weiß der technifchen Linienluf Schranken zu fegen, weil in ihm ein Dichter lebt, der Großes zu fagen hat; auch ift bei ihm der Weg vom inneren Schauen durch Hand und Werkzeug ohne Hinderniß. Dem Zeichner Greiner liegt aber „ber Sinn in der Spige des Werkzeugs“ und gerade darum ift ihm nur ein Brud- theil von der Bedeutung feines Lehrers zuzufprechen. Er kommt von ber Studie nicht 108, das Handwerk erftidt den Geiſt. Die poetiſche Diktion ift, wo da8 Herz nicht wärmer fpricht, wie in dem Klinger gewidmeten Blatt, troden, die Phantalie nicht urfprünglid. In diefem fleißigen Künftler lebt die Kultur eines Klafiiziftifchen Jahrhunderts; aber ausſchließlich in graphifche Technik umgefegt. Ein Idealiſt der Etrihführung, ein Hero8 in den Lehr: lingdg bieten der Lithographie und ein Poet des Handgelentes.

Künftler feiner Art jind in der Berliner Sezeſſion feltene Säfte. Sie fterben langfam aus. Und dann ftören fie bier auch den Demofraten die Einpeitlichkeit ihrer Ausftelungen, durch die unbequemen Heldengelüfte. Denn das Heroifche ahnt man immer, troß aller Unzulänglichfeit. Etwas fhatefpearifchen Geift in eine Gre nernatur gemijcht: und ein Hebbel der Malerei entftünde. Auf den Gegenſatz der Gruppen wird der Befucdher der Sezeſſion aber immer wieder hingewiefen. Das Erlebniß ift jedesmal fo: zu— erjt eine Regung der unveräußerlichen, gedankenreihen Schönheitempfindungen vor den Arbeiten der modernen SHelleniiten, Neuromantifer, Formaliften, Fdealiften, wie man fie nun nennen will; dann ein Umfchlag vor den Werken Rodins, Manets, Lautrecs oder Liebermanns. Dieſe Künftler, fagt man fi, geben doc unendlich viel mehr; ihr Detail ift umfaflender als jenes nicht gefüllte Allgemeine. Zuletzt aber, beim Berlaflen des Haufe, vermigt man doch wieder fchmerzlich den hohen poetischen Aufichwung, das Große, das heroiſch Geniale. Klinger ift am Nädften daran. Getauft find alle Künjtler feiner Art mit Waſſer der Hippofrene; aber fie find Hörige, die fi im Dienſte der alleinfeligmahenden Griechenchönheit edler fühlen als die freien Barbaren. Klinger allein ift ein YFreigelafjener.

102 Die Zutunft.

Es kann nicht flärkere Gegenfäge gebe Greiner und Lautrec. Nichts unterfcheidet ſich talen Handſchriften. Beide jind Typen ihrer als Perfönlickeit und als könnender Künftler Prinzip, dem Greiner dient, unterliegen. Lebenden von biefer ſchrillen, zifchenden Therj zofen hypnotiſirt werden? Klinger ift Geni Talent; und doch greifen wir zuerft mach der Es zeigt ſich, daß das Talent unter Umftä als da8 Genie. Nur erlifcht fein Auf mit | Kenner überfchägen Lautrec; doch mit einem Arbeiten werden auf die Dauer unbequem, e japanifchen Zeichnungen und Farbendrude. ſcheidend. Lautrec fieht das Leben mit bosh Beltie im Menſchen, giebt Momentbilder, die Wiederfehrende find, öffnet dem Blick eine ! liebt die krante Eleganz, die parfumirte Ver Zwergenpſyche antwortet Etwas im Betrach eben nach heroiſcher Kunſt ſehnte!

Die nervöfen Finger ſchreiben die 8 nieder; jede Linie ift graphologifh zu verfteh: liebe für das Gebrochene, Differenzirte, Dief angewandten Drnamentif. Wie Ban de Bel den Grundgeſetzen im Spiel der Kräfte abſieh der Laſt der Blume einfach) gebogenen Steng wenn dieſe Kurve durch einen Widerftanb unter grotesk abgelenkt iſt, fo fucht Lautrec Linien auf gefnidte Lebensäuferungen hinweiſen. Div fteht über dem Geſetz, deffen Theil fie doch nu auf die Künftler diefer Art ift fo ftark, weil tuelle, imprefiioniftiiche Nuancenfunft treiben. peramentäwerth der Linien und Töne it en fann nur Produkt fein; und es zeigt ih auı in den reichen Ueberlieferungen der graphifche Aber der Satiriker überfteigert jede Anregung. das Erhabene, aber er führt aud) bas Erhal ift weltblind und nur unendlich fharfäugig für Form des Lebens. Dan glaube doch nic, urtheilt, wa8 er verhöhnt. Die franzöſiſchen K lieben, was fie lächerlid machen, fiehen nid)

Schwarz⸗Weiß. 103

Verderbniß, ſondern erlebend nitten darin. Der Cynismus ſozialer Er— ſcheinungen, den zu enthüllen fie aufgehen, infizirt langſam ihr ganzes Weſen und das Milieu der genießenden Sünde wird den überreizten Nerven bald unentbehrlich. Je beſſer dem Können die Echilderung der großftädtifchen Lebenslarikatur gelingt, defto mehr ftunpft das verurtheilende Gefühl in der . eingehenden Beobadhtungarbeit ab. Die Skepfs erjtidt die Ethik. Die Dar- ftellung unerhörter Obfzönitäten, die jede Art von Deffentlichfeit fcheuen müffen, Heine Meifterwerfe jicherfter Darſtellungskunſt, gehen in engen Künftler- zirfeln von Hand zu Hand. Mit bemunderungswerthen Linien werden ent: jegliche Gemeinheiten umichrieben und es ift ein feltfames Gefühl, vor folchen Dokumenten artiftifcher Unwürde die Höhe der Technif bewundern zu müſſen.

Nur Sreinlen, ein Edyweizer, und Die feiner Schule gehen andere Wege. Als Kunſtler beanfprucht diefer Illuſtrator weniger Beachtung als Zautrec; feine Bedeutung gehört mehr der Tagestendenz. Er giebt die Kampf— fatire, ift ein tüchtiger Könner, aber nicht ein ganz Eigener. Auf die Menge ‚wirkt er mehr als Lautrec, weil er ihr im Empfinden näher fteht. Doch ift es nöthig, ihn ſehr zu fhägen. Er kann eigentlid Alles und ift dabei ge— ihmadvoll wie ein Vollblutfranzofe. Seltſam mag es fcheinen, dag von Geihmad gefprochen wird, wo e8 jih um Karikatur, um Verzerrungen handelt. Die Gelegenheit ift gut, ſich Klar zu machen, wa3 dieſes Wort in jedem Fall bedeutet. Geſchmack ift der Sinn für den organifchen Verband einander noth- wendiger und für die Erkenntniß widerftrebender Theile, inncıhalb der finn: fihen Welt einer Idee. Das Geihmadvolle bei Steinlen befteht darin, daß die vielen Nichtungen der Anſchauung einander nie ftören, daß er immer nur den gerade nothwendigen Etrom einzuschalten weiß. Dieſer Pielfeitige ift der Mann verblüffender Augenblidsftudien und ffizzenhafter Tendenz: fompolitionen. Zur Hälfte wirken die Slluftrationen durch den aggrefliven Gedanken; vom fatiriichen Wochenblatt find fie nicht zu trennen. Geiſtig ift der Künftler viel abfoluter als Lautrec, demofratiich abfolut; und während Diefer mit der Piychologie vollitändig auskommt, braucht Jener in manden Fällen das poetifhe Eymbol. Steinlens Natur nähert ih auch darin der Zolas, während Lautrec mehr dem fpirituelleren Balzac verwandt if. Das eigentlich Pſychiſche in Steinlens Arbeiten ijt die Situation, die einzelnen Perfonen iind gute Typen und al3 ſolche auch lebendig dargeftellt; der Stern des Kon— flifte liegt aber immer auferhalb der Schilderung und die Kenntniß des Nothmwendigen wird beim ſozialpolitiſch Intereſſirten vorausgefegt. Dem entfpricht «8, day die ornamentale Handſchrift nicht ſehr perfönlich ift, daß bie eigen'innigen Züge der Originalität fehlen; der politifch Radikale ift als Artift Eonfercativ, ift ein Akademifer in der Bloufe.

Die deutfchen ſatiriſchen Zeichner haben ihr Beſtes von den Franzofen

104 Die Zutmnft.

gelernt. Nur Thomas Theodor Heine ift eine Perſön

möglichen Beitandtheilen ein Ganzes zu machen gewußt

man das vollfommene Gleichgewicht von jittlihem I, eo: Stepiis, woraus die Satire entſteht. Was "er verhöhnt, it des Hohnes würdig und er weiß fo zu treffen, daß ber innerfte Punkt ohne unnöthige Roheit gezeigt wird. Im Gegenfag zu anderen Zeichnern, wie Bruno Paul und Wilke, die vom Modell ausgehen und mit ihm anthropologiihen UL treiben, leitet ihn die Idee. Jenen kommt der Gedanfe ald etwas Sekun— däres; eine Förperliche Mißbildung, die freilich oft fozial begründet ift, regt fie an, das Animalifche im Menfchen zu erkennen, und dann öffnet fi das weite Gebiet der Gegenfäge von Eein und Schein. Heine aber wird von einem ſittlichen Wilen geführt. Ein untrügbares Auge für die Erſcheinung bedient feine Abjichen, fo daß jene unlösliche Wechſelwirkung de Objıktiven und Subjeftiven eintritt, die ein Kunſtwerk organisch erſcheinen läßt. Er giebt Typen. Infarnationen fozialer Lebensformen, nothwendige Zuchtprobufte der Zeit. Indem er feelifche Krüppel als fanatifche Bertreter ihrer befonderen, ſcharf umgrenzten Welt agiren läßt, ſchafft er durch unge dramatifche Gegen- fäge die Reibung, woraus die Flamme des Wiges emporſchlägt, das Kächers liche, wofür es feine befreiende humoriſtiſche Kö’ung giebt: die Satire. Die Suggeſtion gelingt dieſem ifraelitifch fpefulativen Künſtler, weil jeine Sunft: mittel vom grellften Naturalismus bis zum Ornament reihen und immer der Idee angepaft werden. So meiftert er den Stil der Idee. Diefer Stil entipringt aber nicht dem Temperament die Naturftudien beweifen es —, fondern mehr der Ueberlegung; und fo kommt es, daß die Abjicht nie verdeckt werben kann, daß die Handfchrift unperfönlich bleibt, trogdem bie ganze Art der Produktion fo ſehr perfönlih if. Im einer Zeit, wo jede Empfindung tendenzids gefärbt if, merft man biefen Mangel nicht leicht; fonft würde man deutlicher fehen, daß Heine dem Xeben im Jnnerften etwas theil- nahmlos gegenüber fteht, mehr Künftlerintelligenz als Künftlertemperament ift. Er fchreibt, wie er will, nicht, wie er muß, und beflätigt damit, daß ganz tiefe Naturen nie Berufsfaticifer fein Fünnen.

Manchmal unterjoht eins der Elemente, die in der graphiſchen Kunſt wirfen, das andere. Das Handſchriftliche wird dann entweder Selbſtzweck, reines dekoratives Ornament oder es verfümmert unter der Herricaft des Begrifflihen. In den übrigens nicht eben guten Zeichnungen von. Marcus Behmer, Chriſtoph und den viel werthoolleren Arbeiten des ſchrulligen Strath— mann ift der Gedanke Nebenſache; im Wefenilichen Herricht eine mehr ober minder geiftoolle Ornamentipielerei und die deforative Grotesle. Beifpiele rein begrifflicher Graphit bietet Kubin, der in der Aueſtellung nicht vertreten ift, aber eben ein Mappenwert herausgegeben hat. Diefer junge, merkwurdig

Schwarz Reif. 105

frühreife Phantaft denkt fich feine graufen Situationen bei der Lecture, im Bett und überall, nur nicht in der Anfchauung aus. Tas Refultat ift, tar man fich viel verfpricht, wenn die Motion literarifch befchrieben worden, und nachher vor manden Zeichnungen enttäufcht if. Lernt Kubin erft einmal zehn Jahre das Handwerk, fo kann er ticher Hervorragendes leiſten; dann wird ſich auch die jest ungefunde Phantaftit von felbft poetifch erhöhen. Ein ‚Gegenpol zu folder Art ift Liebermann, der im anderer Weiſe des Guten faft zu viel thut. Er verlucht, reine, objektive Anfchauung zu geben und die Örenzen des graphifch Möglichen nad) einer Seite zu erweitern. Auf Meinem Raum notirt er imprefjioniftifche Landſchaftſtimmungen, arbeitet nur mit Richtwerthen und fest in der Zeichnung fo feine Malerei fort. Das harakterifitt auch diefe Malerei, in der die Farben immer mehr Richt: als Tonvaleurs find. Wo ein Naturbild im Weſentlichen auf Hell und Dunkel geſtimmt ift, gelingt die Nachfchrift mit dem Streideftift; wo aber die Farbe Stimmungfaftor ift, wird die Veberfegung des Bielfarbigen ind Einfarbige immer Erperiment bleiben. Komplementäre Farben, die flimmernd auf gleicher Höhe ſtehen und eben dadurch charakteriftiih find, müſſen bei ber Uebertragung ins Graphiſche unterfchieden werden und Das fann nur fo ge ſchehen, daß die logiſch wichtigere betont wird. Damit ift die rein imprefjion- iftifche Anfchauung aufgehoben oder doch mit der begrifflichen vermifcht. Der Pinſel giebt den Gegenſtand in der Atmofphäre des Lebens; der Stift fchildert ihn im Iuftleeren Raum des Begriffes. Die Farbe betont die Stimmung und jegt damit die Dinge an zweite Stelle; im Graphifchen wird dagegen Alles abjoluter. Die Malerei verflärt, das Zeichnen erflärt. Nur das ornamental Handichriftlicde übernimmt in der Graphik einige Funktionen der Yarbe, in: dem es die zur Kunſtwirkung fo nöthige Relativität herjtellt, die unendliche Berfpektive fchafft. Liebermanns malerifhe Art ift nur im Landfchaftlichen erfolgreich und er wendet jie aud nur hier fonfequent an. Seine Heinen Zeich- nungen find zum Theil von großer Eindringlichfeit. Die Vorzüge feiner Bilder wiederholen ſich: fchöne Raumempfindung, gute Anordnung und feinfter Sinn für Tonwerthe. Uber die Blätter find ungleichwerthig und der Zufall fpielt eine gewifle Rolle; denn über das Gelingen entjcheidet eine Nuance. Die Ummerthung der Farbe in Licht ift oft Nefultat des Probirens. Kleinere Zeichner leiten ja aus technischen Ergebniffen ganze Stimmungen ab; ein förniges Papier, ein meicher Stift: und der fo entjtehende Ton ruft Er: wägungen hervor, was man damit wohl machen könne. So arbeitet Lieber— mann natürlid nicht. Aber ganz herrjchend ftcht er auch nicht über diefen Beichnungen. Einige Blätter find wundervoll, andere müffen als mißlungen bezeichnet werden; kaum fpürt man darin noch die Abjiht. Intereſſant ift es, wie die Betrachtung von den Zeichnungen zu den farbigen Paſtellſkizzen

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AL Sg riet Sy AUGE B —— Die Zukunft.

hinübergleitet, faſt ohne dag man ſich Deſſen bewußt wird; ein prinzipieller Wechſel der Darſtellung iſt nicht merkbar. Hierin offenbaren ſich die Grenzen dieſer prägnanten Begabung, denn die höchſte Stufe iſt es nicht, wenn ein Künſtler in verſchiedenen Techniken das Selbe will. Liebermann iſt ein emi— nenter Maler, doch er iſt es auch als Zeichner; Klinger iſt ein vollkommener Zeichner, doch bleibt ers auch als Maler. Man betrachte dagegen Rembrandt. Der war in jeder Technik ein Anderer; als Maler erſchöpfte er die Mittel der Malerei, als Zeichner die der graphiſchen Kunſt.

Wie ſehr Rembrandt einer Gruppe moderner Maler Erzieher geworden iſt, ſieht man in dieſer Ausſtellung. Liebermann iſt von ihm abzuleiten, Iſraels ein Enkel, Zorn, als Radirer, ſein Doppelgänger und auch vor den. Zeichnungen Whiſtlers denkt man an dieſe Univerſalnatur, die auch, wie die Köpfe unſeres Portraitkabinets, den inneren Reichthum phyſiognomiſch nach außen ſpiegelte. Als Jüngling war er ſchön wie Raffael, als Mann herb charakter— vol wie Michelangelo und als Greis zeigte er große Soethezüge. Von den genannten Künſtlern vertritt jeder einen Zug der Nembrandtnatur. Iſraels ift ganz vollgefogen mit Zradition; daneben etwas weihlid, fogar etwas illuftrativ genrehaft. Zorn wirft als Radirer faft wie der auferftandene Meifter. Seine Kraft der Auffaffung, Energie der malerifchen Dispofition, Behandlung der Materie, freie Kraft der Technik: das Alles ift vollendet. Man dürfte von Offenbarungen reden, wenn diefe Arbeiten ohne Rembrandt möglich gewefen wären. Auch fo find es Dofumente hoher KFünftlerfchaft. Was Zorn von dem Niederländer, hat Whiſtler von allen Meiftern jener Zeit gelernt. Er hat Kultur. Eine Kultur, die nicht über den Bilderfüal, über den Freundeskreis hinaus zu wirfen vermag, innerhalb diefer Zirkel aber- eine höhere Lebensform illuftrirt. Die „Frau. mit dem Shleier* enthält den ganzen Ludwig von Hofmann deu Zeichner und dann noch Etwas, das Hofmann nie hıben wird.

Das alte Kuünftlergeichlecht ftirbt langfum aus. Der Nachwuchs kann den Verluft nicht erfegen. Die Ausitellung zeigt ein beachtensmwerthes Niveau des mittleren Könnens; Arbeiten von Baum, Gorinth, Georgi, Hübner, Leiſtikow, geben eine vortreffliche Meinung von den Erzicehungrejultaten der Sezeſſionſchulen. Aber für Perfönlichfetien, die, von der Tendenz befreit, die Welt von vielen Seiten zu begreifen willen, ijt der Boden der Zeit uns günſtig. Wie Jene fih auf Nembrandt jtügen, bezichen ich viele der Neueren auf Manet. Und fo weit, wie das intenſive Handwerksgenie de3 Franzofen von der Poetenkraft Rembrandts überragt wird, bleiben auch die Schüler moderner Tendenzen ſeien es nun impreſſioniſtiſche oder ſtiliſtifche hinter den beſonnenen Epigonen des großen Renaiſſancekunſtlers zurück.

Friedenau. Karl Scheffler. *

Auf dem Athos. 107

Auf dem Athos.

eit bald acht Tagen hauſe ich nun bei den Griechen und fühle mich da jehr

wohl. So fehr uns die Froͤmmigkeit, der Ernſt und der Thatendrang der Ruſſen imponiren: auf die Dauer ift e8 unbehaglich, jein Fleiſch mit viel Pflanzen- oft und wenig Fiſch kreuzigen zu müflen. Ich habe die Sehnſucht der durch die Wüſte pilgernden Söhne Iſraels nad den Tyleilchtöpfen Egyptens begreifen lernen. Dieje meine Sehnfucht wurde denn aud in Swirdn geftiflt.

Am achtundzwanzigſten Auguft ritten wir von Banteleimon ab; ein ent- züdender Ritt über den Kamm des Gebirges, erft mit den Blid auf das Weft- meer, dann, als wir einen Urwald pradtvolliter Steineichen inter uns Hatten, mit der Ausſicht auf das Oftmeer und die Inſeln Thaſos und Lemnos. Nach zwei Stunden langten wir in Karyaes an, dem Centrum des Athos; bier refidirt der türfifche Kaimaham; Hier ift auch das Konaki, der Sig der mönchiſchen Centralregirung. Jedes der zwanzig Klöfter entjendet hierher einen Deputirten, der,in einem dem betreffenden Kloſter gehörigen, meiſt fehr anſehnlichen Haufe wohnt. Diefe Zwanzig bilden den Rath und entfcheiden alle gemeinfamen An—⸗ gelegenheiten. Dorthin hatte ich zu gehen, um das Empfehlungjchreiben des Patriarchen abzuliefern und dafür ein Rundſchreiben einzutaujchen, das mir die Thore und Bibliothefen aller Klöfter öffnen ſollte. Da ih am Abend eines Feſttages ankam, mußte ich diejen Befuch auf den folgenden Tag verjparen. Wir ftiegen in der geradezu mufterhaft eingerichteten Sfiti de8 Heiligen Andreas ab. Der ehrwürdige Stellvertreter des Abtes erklärte mir alle Bilder des ftatt« lihen Empfangsfalons und wies darauf Hin, daß fie die Bilder von Sadi Carnot, Caſimir-Perier, Felix Faure und Cambon, nicht aber das des Deutjchen Kaiferz befigen. Ich made ſonſt nidt in Chauvinismus Aber hier erforderten bie Umftände gebieterifch eine Ausnahme. So erklärte ich denn, daß ed mir eine Ehre fein werde, der Skiti dad Bild unferes Kaijers zu ſchenken.

Am folgenden Nahmittag wurde ih zur Audienz vor das Protaton be- ſchieden. Da ih aus Erfahrung weiß, daß die Kanadier es und hoch anrechnen, wenn wir aud) ihnen gegenüber Europens übertündte Höflichkeit hervorkehren, erihien ih in rad und Orden, was fowohl im Menſchengewühl des Bazars an die Banigiris ſchließt ſich ein achttägiger Jahrmarkt wie im Konak felbit den richtigen Effeft machte. Am Thor des Konak halten zwei pradhtvoll ge» wachſene Albaneſen in der Fuſtanella Wacht und weiſen ung eine hödhjft gebrech lihe Hühnerleiter Hinauf nah dem recht befcheidene aufgeftatteten Eentralbureau der Athosregirung. ch begann meine Rede an den Protos (Präfidenten) P. Sophronio8 von Iwiron genau nad) der Vorſchrift der Kanzleiordnung bes Patriarchen Neilos vom Jahr 1383: „Hochwohlehrwürdiger Protos des gött— lien und Heilignamigen Berges Athos! Ich empfing aus den heiligen und ehrwürdigen Händen umjeres allerheiligiten Gebieters, des ökumeniſchen Patriarchen, den Empfehlungbrief, den ich hiermit Eurer Heiligkeit überlicfere.“ Doc) weiter ließ mich der gute Protos nicht kommen; er mochte dunfel ahnen, daß er dann auch in wohlgeſetzter Rede antworten mülle. Das wollte er offenbar nidt. „Bitte, ſetzen Sie fi“, war Alles, was er vorbrachte. Und nun wurde in aller Gemüthlichfeit bei Kaffee, Glyko und Gigaretten die Sade erledigt und mir der

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108 Die Zukunft.

Empfehlungbrief für den nädjiten Morgen verjproden. Dann machte ich den Anſtandsbeſuch beim Kaimaham, einem feingebildeten jungen Türken aus Sa- lonifi, der jehr geläufig franzöfifch und griechiſch ſpricht.

Wir ſtehen ſchon unter Kloſterzucht. Das ift für mid; ſehr nöthig. Bei allem Eifer, mid anzupaffen und namentlich jedes Skandalon zu vermeiden, begehe ich doch täglich unbewußt taufend Sünden. Da ich an einiger Zerjtreut- heit leide, paffirt es mir öfter während ber Arbeit, daß ich pfeife. Dann jtürzte regelmäßig der gute Andronif in Panteleimon mit gerungenen Händen ins Zimmer, um mir zu bemerfen, daß Pfeifen im gebeiligten Klofterfrieden jtreng verboten jei. Einmal wohnte ich mit auf dem Rüden gefreuzten Händen dem Gottesdienſt in der unteren Kirche des Ruſſikon bei Da fam ein fchmugiger Raſophore mit verwildertem Bart auf mich zu und jagte: „In der Kirche faltet man die Hände auf der Bruft und hält fie nicht auf dem Rüden.“ Dann wieder ging ich rauchend dur den Kloſterhof und zog mir von einem armen Bettel« mönc einen Berweis zu. Die Dieropresbyteri find viel gebildeter und darum auch toleranter; aber e3 Hat feinen Zweck, diefe einfachen und, wenn aud.be- ſchränkten, doch aufrichtig frommen Leute zu ärgern, und jo befleißigte ich mich nach Kräften möndijcher Ehrbarkeit. Aber aud die toleranten Patres von Sankt Andreas nahmen an ung Aergerniß. Sie fanden, daß wir die Welt doch recht lieb hätten, dieweil wir mit fo viel Gepäd reiften, und fagten, wir follten uns einrichten, daß zwei Maulthiere dafür genügten. So mußte denn mein guter Jannis den ganzen Morgen umpaden und drei Thiere zurüdlaflen, um ben Vorfchriften der frommen Bäter zu genügen.

Nachmittags ritten wir am Mees entlang durch ſchönen Wald und wohl: gepflegte Olivenhaine nad) Iwiron, dem Ibererkloſter. Zwiſchen Wein: und Delgärten ragt ed wie eine Feſtung empor. Im Hintergrund fieht man die reich bewaldeten Bergrüden des Athos. Treten wir durch den geräumigen Thor. eingang in den Hof, jo trifft unjer erjter Blid ein fchönes Brunnenhaus und die alterthümliche Kirche, deren Thurm die Bibliothefihäße birgt. In der Por: halle der Kirche find die Bilder der Sailer Nikephoros und Romanos, Alexis des Komnenen und feiner Gattin Irene und anderer Wohlthäter des Klofters an die Langwand gemalt. Außerdem ſchmücken die Wände apokalyptiſche Darftellungen, die aber einen verdächtig abendländifchen Eindrud maden und nad europäiichen Polzſchnitten angefertigt ſcheinen. Die Kahreszahlen 1794 und 1888 (der Er- neuerung) fprechen deutlich genug. Im Innern der Kirche aber, dor ihren reich geſchmückten Reliquienaltären, empfängt uns byzantinifcher Ernſt; in der Mitte der Kuppel der ftrenge Chriftustypus, umgeben von Apoſteln und Evangeliften. „sch wohnte Sonntag der Diorgenliturgie bei. Der Gottesdienft ift nicht, wie bei den Rufjen, durch herrlichen Gejang verjhönt; bafür bat aber der Weit: europäer wenigftens den Genuß, mit vollem Berftändniß dem Gang ber Heiligen Handlung folgen zu können. Eigenthümlid ift, daß zum Schluß die Diakonen die Kerzen mit Pfauenwedeln löjchen; gewiß ein uralter Braud).

Iwiron ijt eins der älteften Stlöfter der Halbinfel. 961 gründete Atha— nafiog die Heilige Yawra und 1030 wurde der Grundftein zum Sbererflofter gelegt. Johannes Jornikios, ber berühmte byzantinifche General, war der Gründer und Wohlthäter des Gofteshaufes, das urfprünglich nur von iberifchen

Auf dem Athos. 109

(georgiſchen) Mönden bewohnt war. 1259 wurde es durch fränkiſche Seeräuber arg ausgeplündert, fpäter noch einmal durch die wüften ſpaniſchen Katalanen. In dieſen Ichlimmen Zeiten verminderte fich die Zahl der georgiihen Mönche. Griechen traten an ihre Stelle. Um 1350 verordnete der ökumeniſche Patriurd) Stalliitos, „daß die Kirche des Gotteshaufes der Iberer von griechiſchen Mönchen bejegt werden jolle, die nicht nur an Zahl die Iberer überträfen, fondern auch) - in allen geiftlichen Werfen zebntaufendfach den Iberern überlegen feien und wohl vermöchten, bie den Mönchen geziemende Wohlanftändigkeit und Sittjamteit im Alofter durchzuführen.“ Wenige Pläge wurden den Iberern, den rechtmäßigen Herren, reſervirt. Heute ift das Klofter ganz griehifh. Nur in einer hundert Schritt entfernten armfäligen Skiti haufen noch ein paar Georgier. Aber bie 550 Jahre alte Gewaltthat ift unvergefjen. Mein Agogiate, ein jchlichter Bul- gare, den bie erjte Cigarre jeines Lebens geiprädig machte, theilte mir mit, daß das Kloſter eigentlich den Srufiniern gehöre und daß die jchlauen Griechen fid) nur eingefchlichen hätten. So zäh leben im Orient die Trabitionen fort.

Häufig erhalte ich Bejuch von den Papades; dann rauchen wir und trinken Chotolade, die Jannis höchſt Funftfertig braut. Unjere Geſpräche drehen ſich nicht etwa um die Trage nad dem Ausgang der dritten Perjon der Gottheit aus dem Vater oder aus dem Bater und Sohn zugleih. Noch weniger unter- halten wir uns über unjer Sündenelend oder unjeren Gnadenſtand, jondern über das Verhältniß der Griehen und Ruſſen, über die Stellung der freien zu ben türfijhen Griehen auf dem Athos, Über die deutjchen Liniverfitäten u. f. w. Unfere freien Hochſchuleinrichtungen, namentlid die Sitte, daß der Wahl der Profefforen durch die Regirung ein Dreiervorjchlag des Kollegiums vorangeht, finden das. höchſte XYob der Mönche. Dafür haben die Iwiriten Verftändniß. Iwiron gehört nämlich zu den idiorrhythmiſchen Klöjtern. Im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert vollzog fi) in vielen Athoskiditern eine höchſt wohl: thätige Reaktion. Sie Hatten das ewige Falten und die überjtrenge Zucht unter einem deſpotiſchen Igumen jatt und konjtituirten fich als Mönchrepubliken. Sie mwählen jährlich einen oder zwei Epitropi (Vorſtände), die cigentlih nur die finanziellen Angelegenheiten bejorgen. Jeder Mönch lebt für fich auf feine Kojten un» erhält eine beftimmte Summe vom Klojter, außerdem Brot und Wein ge- tiefer. Dan faltet nur Mittwoch und Freitag; fonjt ißt man Fleiſch. Ge⸗ zade die reichiten und wichtigiten Klöſter haben dieſe freiere Verfaſſung. Und Iwiron iſt ein reiches Klofter. Der ganze Zulchnitt des Lebens verräth bie Behaglichkeit des wohlfituirten Mannes. „Hier laßt ung Hütten bauen!’ Wäre ich nicht verheirathet: was hielte mich ad, meine Bibliothek von Rena nad Iwiron zu befördern und hier meinen Lebensabend zuzubringen ?

Bon Iwiron gings nad) Lawra. Was ih mir gedacht hatte, wurde be- ftätigt: wenn man ein Klofter fennen gelernt bat, fennt man jo ziemlich alle. Die Fahrt mit der Barfe war ſehr unterhaltiam. Ach bin mit Sciffern faft aller europäiſchen Nationen gefahren; aber drei Mönche als Bootsleute: Das war mir ein neues Schaujpiel. Und welche Seetüchtigkeit und Geſchicklichkeit im Segeln und Rudern entwidelten dieje geijtlihen Matrojen! Da müflen meine guten Freunde vom Goldenen Horn fi) beihämt zurüdziehen. In der Lawra glaubt man, in die Sreuzfahrerzeit und unter die Komnenen zurüdverjest

110 Die Zukunft.

zu jein. Am zweiten Eingangsthor ſehen wir bie lebensgroßen Bilder der Kaijer Nikephoros Phokas und Fohannes Tzimiskes, der großen Donatoren der Lawra. Drinnen ijt Alles altertbümlid. Die Gebäude find byzantiniſch. In die Fremdenwohnungen fteigen wir durch eine offene, von Bogen getragene Halle empor, die ſich nad) dem Hofe öffnet. Große Pritſchen find bier ange— bracht, auf denen, in Deden eingehüllt, arme Reifende übernadten. Solide Bogengänge mit hölzernen Pritſchen, auf die man im Winter Matten und Deden legte, Hatte Erzbiihof Johannes der Mitleidige von Alerandrien im Kaefarion errichtet. Heute lebt hier der uralte Brauch noch fort. Kirche und Kapellen find mit den Bildern ernfter byzantiniſchen Heiligen geihmüdt. Tin der Vor- halle der Kirche find die fieben öfumenifchen Konzilien abgebildet, ſehr caefaro- papiftiih. In der Mitte thront, von der Taube des Heiligen Geiltes über— ichattet, der Sailer in höchſteigener PBerfon, beim ſiebenten Konzil Irene mit dem kleinen Konftantin, links und rechts vom Saiferthron figen die Prälaten; im Bordergrunde jtehen ein paar unglüdliche Steger oder man verbrennt häre- tifhe Bücher auf einem Roft. Beim fünften Konzil bliden wir in den Höllen- ſchlund und fehen dort, nadt und gefeflelt, den „wahnſchaffenen“ Origenes. Die Bilder find fo ganz von gouvernementalem Geift eingegeben, daß felbit auf dem dritten Konzil zu Ephejus Kaifer Theodofius perjünlich präfidirt, während in Wirklichkeit Erzbiſchof Cyrill von Alexandrien etwas brüst den Vorfig führte. Der Kaiſer dagegen fa höchſt mißvergnügt in Konftantinopel, rang bie Hände und jammerte thatenlos über diefe ewigen kirchlichen Aufregungen, ungefähr wie unfere heutigen Bureaufraten.

Den größten Gegenfag zu dem ganz mittelalterliden Qamraflofter bietet das hochelegante moderne Vatopaedi inmitten jeiner reihen Oel- und Nußplan- tagen; es ift ein mit allem Stomfort der Neuzeit ausgeſtatteter Prachtbau. Eine Biertelftunde davon fehen wir die Ruinen von Eugenios Bulgari8 Schule, de? edeln Hellenen, ber jo eifrig an der Wiedergeburt feiner Nation gearbeitet dat und als ruſſiſcher Erzbiichof von Cherjon ftarb. Er wollte den Athos zum Mittele punkt der griedischen Bildung machen, fand aber nur ſchnöden Undank. Die Mönde wollten weder Schule noch Bildung. In Schaaren eilten fie herbei, zerjtörten den Bau und riffen das Dad) ein; noch jeßt find die Reſte ein trau= riges Denkmal pfäffiiher Dummheit und möndiicher Bornirtheit.

Alle vornehmen Klöfter find idiorrhythma. Das Heißt: fie haben feinen Abt, jondern wählen alle drei Jahre einen fünf- bis zehngliedrigen Vorſtand (Epitropi), der die konomiſchen Gefchäfte bejorgt. Jeder Mönch Iebt auf eigne Fauſt, kocht jelbft und beforgt feine Angelegenheiten. Bon der Kloftergemein= ichaft erhält er Wein, Käſe, Gemüſe und Brot, außerdem jährlid 300 Piaſter (57 Franc); davon muß er feine Bedürfniffe an Kaffee, Tabak, Kleidung u. |. ww beftreiten. Gelegenheit zur Ueppigfeit ift da nicht gegeben. Mir fcheint die Idiorrhythmie eine gejunde Reaktion des altrepublifanifchen hellenifchen Geiſtes gegen das Autokratenthum der Oberäbte oder Igumene. Die Gründer des Mönchthums find Antonius, ein egypthifcher Pharaonenknecht, und Baſilius vor Caeſarea, ein Abkömmling des afiatifhen Bedientenvolfes ber Stappadozier. Ihr orientalifchen Defpotenbegriffe verpflanzten fie in die Kirche und den autofratild regirten Ruſſen find fie fongenial. Doch der griedhiiche Treiheitfinn empör

Auf dem Athos. 111

ſich gegen dieſes aſiatiſche Deſpotenſyſtem und ſchuf die republikaniſche Organi⸗ ſation der Idiorrhythmie. Der althelleniſche Bürger lebt überhaupt noch Heute im Mönd fort. Wie einft Athener und Lakedämonier jo lange mit einander ftritten, bis fie den Mafedoniern den Weg bereitet hatten, fo ftreiten fich auch heute in den Athosklöftern freie Sriehen und Söhne ber Türkei. Der tertius gaudens ift der Ruſſe. Doch aud die jchönen Seiten des helleniſchen Mikrokosmos leben im Möndthum fort. An einem Brunnen der Lawra ſteht die Inſchrift: „Diefes Waſſer wurde auf Koften des hochgeiligen Mönches und ehrwürdigen Greijes Herrn Matthaeos nad) der großen Lawra geführt 1801, am zwanzigiten Mai.“ Zu einer Zeit aljo, wo unfere biederen Borfahren noch mit Begeifterung das verſeuchte und vergiftete Getränk ihrer Stadtbrunnen tranken, forgte diefer Mönch ſchon für eine vorzügliche Waſſerleitung. Kein Weib darf den Heiligen Berg betreten. Dieſes Geſetz erſtreckt ſich auch auf das Thierreich. Es iſt keine Er- findung der Athosmönche. Das hochberühmte Kloſter Studion in Konſtantinopel, defien Anregungen die erſten Athoniten viel verdankten, hatte dieſen Grundſatz durchgeführt. Der Transport wird auf dem ganzen Athos durch Hengite und männliche Maulthiere beforgt. Sehr zahlreich und zahm, weil nie von Kindern und unnützen Sclingeln verfolgt, find die mwohlgenädrten Kloſterkater, die zu meiner Berwunderung im Auguft fi) zahlreichen Nachwuchſes erfreuten. Die frommen Väter verfiherten hoch und theuer, diefe Zungen würden alle von den Tſchifliks importirt, während ein franzöfifcher Mineningenieur behauptete, er babe jich unmwiderleglich von der Exiſtenz weiblicher tagen auf dem Heiligen Berg überzeugt. Allah weiß die Wahrheit.

Bahlreich find die Taubenſchläge. Ta Hilft fein noch jo ftrenges Klojter- gejeß. Ueber die Vögel Haben die Väter feine Macht. Nur Hühner werden nicht geduldet, aber der Hahngockel wird in Maſſen importirt, um nad} feinem Tode den ſchwachen Magen der geiftlichen Herren zu ſtärken.

Sn den alten Gejegen und Borjchriftbüchern der Klöfter wird ftreng ver- Boten, daß ein Bartlofer Tüngling die Klöfter betrete. Die Unfchuld eines protejtantijchen Beijtlicden vermuthete, man babe manchmal verkleidete Mädchen einzufhmuggeln verfudht. Natürlich jollten homoſexuelle Verhältnifle verhindert werden. Heute verfchren und übernachten ganz harmlos viele jehr jugendliche Agogiaten in den Klöftern. Ach kann darin nur einen entſchiedenen Fortſchritt der Gittlichfeit erkennen. Solde Maßregeln afiatifhen Mißtrauens jind eben unnöthig geworden. Jeder Stenner Griechenlands und der Türkei weiß, daß der fittliche Zuſtand der Griechen in ſexueller Hinficht jet ſehr gut ift, beſſer als in Deutichland vder Frankreich. Ich rede natürlid) von den Yandvolfe und den Bewohnern der dem Weltverfehr entrüdten Yandestheile. In den großen Sce- ftädten lebt daS felbe Geſindel wie überall. Frömmigkeit Icheinen die griechiſchen Mönche nicht gerade im Uebermaß zu bejigen. Der Ruſſe erſcheint uns oft fanatijch; aber er iſt ganz erfüllt von feinem heiligen Beruf. Beim Heflenen ift e8 mehr ein Äußeres Gewand. Er bleibt ein Weltmenſch und intereffirt ſich nur für weltliche, nicht für geiltliche Dinge. Die Unterhaltung dreht fih um Politif, um den Unterfchied zwifchen dem biefigen und dem deutichen Weinbau und ähnliche Gegenitände. Mit bejonderer Andacht werden Bejig- und Geld verhältnifle erörtert. Auch der Mönch fragt bei allen Dingen immer nad dem

112 Die Zukunft.

Preife. Und entjeglich viel wurde ich über alle neuen Erfindungen: Röntgen- ſtrahlen, Marconis drabtlofe Telegraphie u. |. w. gefragt, bis ich einem befonders fraglujtigen Smyrnioten einft rund erflärte, mein Fach fei: Tote Griechen und verijhimmelte, von Würmern zerfrefiene Handfchriften; die erhabenen Erfindungen uneres Jahrhunderts vermöchte ich nicht fo jauber zu erklären; auch feien fie mir fo gleichgiltig wie ein Nelkenſtock. Er fand diefe Bemerkung etwas roh nnd ungebildet, ließ mich aber ſeitdem mit feinem phyſikaliſchen Eraminatorium in Ruhe. Einmal jedoch fchüttete mir ein mir beſonders anhänglicher junger Triphylier fein Herz aus. Er hatte Gewifjensbedenfen. „Die Hieromonaden eſſen abends Fleiſch und Halten morgens die Liturgie. Was fagen Sie dazu?“ Ich erwiderte kalt, es jei jehr vernünftig, daß die alten Mönche ſich nicht durch) übermäßige Faſten zu Grunde richteten. Auch Paulus jchreibe an Timotheus, er wolle wegen feines ſchwachen Magens Wein trinken. Chriſtus habe nie ver: langt, daß man, um ein Gebot Gottes zn erfüllen, feinen Körper zerjiöre. Mein Abept Ichien von meinem Gutachten nur halb befriedigt.

Im Ganzen find und bleiben die Griechen aber aud) im Mönchsgewand eine profane Nation, und wenn fie auch heute große Energie gegenüber dein ruſſiſchen Anſturm entfalten: auf die Dauer werden fie ſchwerlich im Kampf gegen dieje jugendfriiche, fieghaft vordringende Nation ihre Stellung behaupten fönnen. Sie fühlen es felbft und feufzen.

Berg Athos. Profeſſor Dr. I. Heinrich Gelzer.

Weibliche Erotik.

3 die Frauen angefangen haben, auch in der Liebe ſelbſtändig zu empfinden, find fie ſich der tiefen Tragik im Verhältniß der Geſchlechter immer be— wußter geworden. Und Keiner ſollte lächeln über die ernſten, heißen, verzweifelten Bemühungen der Frauen, dieſe Tragik in Freude zu verwandeln, wenigſtens Keiner, der die Liebe in all ihren tauſendfachen Verkleidungen als eine ſtarke Macht im Leben anerkennt, der weder roh noch philiitrös von ihr denkt. Ge: wiß: es iſt nicht unjer „Verdienſt“, daß unfer Frauenbegriff von Yiebe jo viel tiefer und ernjter, fo viel durchjeelter und harmoniſcher it als der des Mannes. Und es ift gewiß nicht die „Schuld“ des Mannes, daß der feine fo viel derber und einfacher, jo viel gröber und mehr auf augenblidlihen Genuß bejchränft it. Wenn wir durchaus einen „Schuldigen“ brauchen, jo müßte es die Natur ſelbſt fein, Die eben die zwei Geſchlechter mit ihren verjchiedenen Gejchledtsauf- gaben ſchuf. „Seht, hr jeid der Frauen nicht wert! Wir tragen die Kinder unter dem Herzen, und jo tragen die Treue wir aud. Aber Ihr Männer, Ihr ſchüttet mit Eurer Kraft und Begierde aud) die Tiebe zugleich in den Um: arınungen aus. Diefe alte Klage der Römiſchen Elegien ijt die Klage der Frau überhaupt. Sie ift gewiß hörbar gewejen, jo lange ein Mann und eine Frau in Liebe und um Liebe mit einander fämpften und rangen. Der Unter ichied ijt heute nur, daß im der Frau die Hoffnung erwacht ijt, ihre vertieite Auffaſſung der Liebe auch dem Marne fuggeriven zu können. Die Erfüllung

Weibliche Erotik. 113

diejer Hoffnung würde die Freude und das Glück der rau nicht nur, fondern in eben jo hohem Grade das des Mannes und nicht in legter Linie das der Kinder erhöhen. Mir jcheint, wenn biejes Ziel erreicht werden könnte, wäre etwas viel Wefentlicheres, Dauernderes gewonnen als mit allen äußeren Reformen, jo nothwendig fie auch jein mögen. Doch freitich: jolche jeelifchen Beeinfluffungen und Veränderungen gehen unendlich viel langjamer und mühjäliger vor ſich, erfordern weit mehr Geduld und Beharren als die Einführung eines neuen, die Abſchaffung eines veralteten Geſetzes. Und doch wirh die Entwidelung in diefer Richtung vorwärts führen. Nicht darin, daß die rau alles Das thun lernt, was bisher der Mann fich allein vorbehielt an intelleftueller Leitung, nicht darin, daß fie verjteht, durch eigene Arbeit jich peluniäre Unabhängigkeit zu Ichaffen, liegt am legten Ende die wahre Befreiung. Das ſind Vorftufen, nothwendige Vorftufen; aber es wäre troftlos, wenn wir nie darüber hinaus gelangen jollten. In Bezug auf intellektuelle Leiſtungen, auf pekuniäre Unab- bängigfeit fönnen wir dem Dann vielleicht mit der Zeit gleichkommen, ſchwerlich ihn übertreffen. Aber auf dem Gebiet des verfeinerten Seclenlebens, bes ge- fchärfteren Verantwortungsgefühles als Frau und Mutter hat die Frau ihr Eigenftes zu geben, einen werthvollen Kultureinfaß, den der Mann nie jo geben fann. In der Wechjelwirkung der Geſchlechter auf einander mit den Bejten, was jedes zu geben vermag, ruht die Steigerung und Bereicherung unſeres Lebens, unjerer Kultur. Nur ganz rohe und plumpe Menſchen können es daher einfach als eine „Lächerlichkeit“ abthun, wenn die rau verfudhen möchte, den Mann bie Liebe in ihrem Sinn zu lehren. Es fommt nur darauf an, daB diefe Lehr: meifterinnen immer Liebende bleiben und nicht zu ftreitfüchtigen, rechthaberifchen Souvernanten werden, daß fie immer mehr rauen als Richtende find. Bei ung Frauen liegt, in Folge einer anderen phyjiologifchen Veranlagung und einer Erziehung, die bei der Frau Sinne nicht fannte, die Gefahr nah, daß wir allzu ſehr nur in Iuftige Höhen bauen, in begeifterten Schwärmereien den phylilchen Grund, auf dem wir ftehen, unterjhägen. So haben wir nun erft, mit ex wacender Erfenntniß, die Sinne alg ein neues Gebiet aufzunehmen und mit unferen tdealiftiichen Träumereien zu verjchmelzen. Während umgefehrt für den Mann Liebe mit Sinnlichkeit faft identijch ift, Fo daß ihm jede Durchfeelung, Vergeiftigung der Sinnlidfeit leicht ald unmännliche Schwärmerei und Ueberſpanntheit erjcheint. Die Gedichte jaft jeder Tiebe und Ehe wird von diefem ſchmerzlichen Zuſammen— ſtoß zweier entgegengejegten Empfindungen zu erzählen haben; und glüdlich nenne ich alle Ehebündnilje, wo der Mann roch fähig und willens ift, von der Frau feiner Wahl „lieben zu lernen”. Aber wie wenige Männer bejigen Geduld und Ein- ſicht, beiigen jchon „Seele“ genug dazu! Daß fie fi jo jelbit um einen werth— vollen Theil des Lebens, um ein föftliches, auserlefenes Glück betrügen, ahnen fie nidt. So bleiben denn viele koſtbare Dinge ungenoſſen, Glücksmöglichkeiten, unygerwirklicht, wie fie ung jeßt am Ende einer langen Entwidelungreihe, einer hohen jeeliihen Kultur, wo uns die „Natur nicht mehr etwas Riedriges und Berächtliches ſcheint in vorher ungeahnter Weife zu Gebot ftehen. Und nur die Frauen willen Etwas von diefen Glüdsmöglichkeiten, an denen der Mann in kurzſichtigem Augenblicksgenuß noch ftumpf und ahnunglos vorübergeht. So gilt denn gerade für die reichiten, tiefſten Frauenſeelen heute oft das bittere Wort der „Corinna“, dag zugleich das Refultat von Frau von Stacls eigener

114 Die Zuhmft. .

ER Lebenserfahrung ift: „Von allen meinen Fähigkeiten ift die des Schmerzes die einzige, die ich ganz erichöpft habe.“

Wer aber nit ſchon am Ende feines Lebens und Wirkens angelangt üt, um mit fchmerzlicher Entfagung auf das Vergangene zurüdzubliden, wer Jugend und Straft genug in fih ſpürt, für Gegenwart und Zufunft zu wirken, Der legt nicht trauernd die Hände in den Schoß. Da wird im Gegentheil da3 Bewußt- jein diejer unverwirklichten Schönheiten, die das Leben zu bieten hätte und noch zu bieten hat, ein Anſporn fein zu heigeren Bemühen um deren Verwirklichung. Und wir freuen uns jeder Mithilfe zu diefer Lebenserhöhung und Verfeinerung. Daß da freilih auch oft Verſuche mit untaugliden Mitteln gemacht werden, ift leicht zu begreifen. So muß man wohl aud die Bücher bezeichnen, die ale „Zera-Piteratur” Auffehen erregt haben. „Bera” felbft hat fchon die neunte Auflage erreiht. Man mag die Heldin des Tagebuches, bie fi das Leben nimmt, weil jie die „Vergangenheit“ ihres Verlobten nicht zu ertragen vermag, ein überjpanntes Weſen nennen; und von einem Kunſtwerk ift gar nicht die Rede. Aber das Eleine Bud) hat doch da3 Verdienſt, eine der brennendften ragen für die Beziehungen der Gefchlechter wieder einmal in ben Vordergrund des Intereſſes gerüdt zu haben. Wieder; nicht zum erften Mal. We guten und nothwendigen Dinge müfjen immer von Neuem bervorgeholt und von einer Berfönlichkeit, die fie ganz mit ihrer Empfindung erfüllt, als eine neu erlebte Wahrheit ausgefprodhen werden. Wenn aljo ein künſtleriſch unbedeutendes Bud eine fo ftarfe Wirkung hervorbringen fonnte, jo muß doch wohl auch das all: gemeine Empfinden reif fein für die Diskuſſion dieſer Frage. Daran vermag

auch die thörichte Einmifchung vieler Unberufenen nichts zu ändern. Seünftleriich höher und menschlich reifer ilt Ichon das Jung-Frauenbuch von Grete Meiſel-Heß: „Fanny Roth.“ Da handelt cs fih um das Bewußt⸗ werden eines Eünjtleriich veranlagten Weibes, das durch die Che von den „Leiden der Jungfräulichkeit erlöft” wird und damit auch erſt die Fähigkeit, als Künft- terin zu jchaffen und als Weib zu wählen, gewinnt. Aber da zeigt fi, daß der Mann, den fie liebte, al8 noch der rothe Nebel vor ihren Augen wogte, nur die Sinnenliebe fennt und in ihr feinen ganzen „Lebensinhalt‘‘ fieht, während Fanny nun begreift, daß Das ja nur einen Theil des Lebens und der Liebe bedeutet; jo müſſen die Beiden von einander gehen. Daß fie die Kraft hat, als ein reifer, verftehender Menſch die Konfequenzen diefer Erfenntniß zu zichen und " jich ein neues Leben aufzubauen: Das ift dag Gute, Verheißende an dem Bud). Nirgends wird vielleicht die Nelativität aller Dinge, die Unmöglichkeit, mit ein paar engen Formeln die bunte Fülle des Lebens zu meiftern, fo klar wie auf dieſem perjönlichiten menschlichen Gebiet. Die Liebe iſt das Inkommen— jurable, Das, was bejtändig das Chaos ſchaffen würde, wenn die Ehe nicht da wäre, „Ordnung“ zu fchaffen, wie der alte Fontane ed nannte. Nur ein Pedant den jelbjt nie das heiße, verwirrende Drängen und „Reigen von Herz zu Herzen“ durchſtrömte, könnte fih anmaßen, bier abſolute Sejege, untrügliche Allheil- mittel geben zu wollen. Die Schmerzen und Enttäuſchungen der Liebe werder wir fo wenig aus der Welt Schaffen wie die Liebe jelbjt. Aber wir können die Beziehungen zwiſchen den Geſchlechtern auf eine reichere, tiefere Bafis gründen.

Wilmersdorf. Dr. Helene Stöder. s

Ter Icere Schrein. 115

Der leere Schrein.

ld Spannenderes weiß ich mir für die trüben Nächte, als durch alter- u thümlihe Stadttheile einem Menſchen zu folgen, deſſen abjonderliches Ausjehen’oder unheimliches Gehaben in den überfüllten Gaſſen die Aufmerkſam— feit auf fich gezogen bat. Selten verjagen mir folche Wejen den Troft, den ich in ihrer Bekanntſchaft ſuche, denn das ſchwere Leben felbft hat fie zu Dem gemacht, was fie find; und fei noch fo elend: immer wirſt Du Menden finden, die no um einen Grad elender find. Darum Hefte ich mich gern alten Sonder: lingen mit heimlich glühenden Augen und Litaneien vor ſich hinmurmelnden Lippen an die Ferſen und laſſe mich mitjchleppen von ihnen, wohin es ihnen beliebt. Ihr Trübſinn nimmt dann den meinen ins Schlepptau; und vorwärts gehts nach wunderliden Unferplägen. Es paſſirt mir, daß ich eine Stadt ab- grafe nach ſolchen Exiſtenzen, denn die Eleinfte birgt ihrer zwei, drei, und mid) anderen Städten zumwende, wenn ich vermuthe, daß feine mehr zu finden jei. Denn haft Du einem Menjchen diejer Art jein Geheimniß entlodt, das er mal bütet wie einen heimlichen Schaß, mal offen mit fi Herumführt wie jein redjtes Kind, jo kannſt Du ihn auch wegwerfen wie eine entfernte Nuß, denn viel mehr wirft Du aus ihm nicht fchöpfen können.

Geſtern begegnete mir ein Mann; und hier will ih berichten, was ich mit ihm erlebt habe. Es war ein kleiner, höflicher Menſch mit grauem, lodigem Haar, das unter einem betrübten Cylinderhut von veralteter Form in wahrhaft gewinnendem ®eringel hervorquoll und jeinem alten bartlofen Geficht das Aug» jehen eines zufriedenen Kindsfopfes verlieh; auch fein Gang war leicht und leiſe wiegend; er hielt die Arme feſt an die Seiten geprebt und die Hände tief in die Taſchen des graugrünen PaletotS gebohrt; nur die Gigarre zwijchen ven Zähnen fehlte noch zum Bilde eines in völligem Glücksbewußtſein durch Die Stadt fchlendernden Philofophen. Die blafjen, verfniffenen Lippen aber ſprachen diefer Ruhe und Friedlichkeit Hohn; fie preßten fid) auf einander, ald Habe der Mund, zu dem fie gehörten, ſich Schon längſt alle Zähne an dem Leben ausgebilien.

Sch traf den Dann in der Theatinerjtraße; cs regnete ein Wenig; alle Läden waren geichlojien; es ging auf Elf; ein Samftagabend. Ich folgte ihm etliche Schritte weit. Plößlich und bis dahin hatte ich ihn nicht bemerft, was ja ausdrüdlid betont werden muß! —, plößlich jteht mein Mann itill und es giebt mir einen Ruck, fo daß auch ich im (Sehen innehalten und ihn anbliden muß. Wir ftehen einen Augenblid da: id in der Mitte der Straße, er vor einer <tufe, einer ganz gewöhnlichen Steinftufe unter einem Rollladen. Was ınag da zu jehen fein? ch ſchaue auf die Firmatafel: es ift ein Wurſt geſchäft, das ſich anſpruchvoll Charcuterie nennt. Mein Dann betrachtet den Stein mit peinlicjer Genauigkeit, beugt jich, jpreizt Daumen und ‘Zeigefinger, wie etiva, um einen Schmetterling zu fangen, erfaßt dann blißjchnell einen mir unfichtbaren Gegenſtand und ftedt ihn eben jo jchnell in die Taiche. Im Galopp jagt er von dannen. Sch ihm nad. Er bemerkt mich nicht. Ich weiß es einzurichten, daß ich ihm durch cin Seitengäßchen entgegentomme und fein Geſicht im Yicht einer Laterne fehen kann. Mein Gott: diefer Menſch bat Hunger!

Nun habe ich mir eine gewiſſe Schlauheit erworben durd; die Uebung,

116 Die Zukunft.

mid mit ähnlichen Menſchen in Berührung zu feßen, frame baher raſch in meinen Taſchen, während der Alte an mir vorübergehen will. Kalt und höflich ziehe ih den Hut und halte ein Markſtück vor mi Hin. Es ſchluchzt und weint in mir, daß ich nicht mehr bei mir habe, denn nun fehe ich genau, daß diefer arnı- fälige Alte mit feinem runzlichen Kindergeficht nichts zu Mittag gegeflen hat: Gott verzeihb es und Menſchen: vielleiht auch geftern zu Abend nichts. Er bleibt ſtehen, zieht eritaunt den Eylinder vom Kopf, preßt die Hutfrempe mit beiden Händen an die Bruft. „Verzeihen Sie“, fage ich unbefangen, „Sie haben vor dem Laden in der Iheatineritraße, ald Sie fi zur Erde büdten bitte: erinnern Sie fi —, dieſes Geldſtück fallen laſſen. Sch jah es genau, es fiel Ihnen aus der Nodtafche und rollte vom Trottoir in den Rinnſtein; ich babe es auf- gehoben: hier ijt es.” Und ich reihe ihm die Mark. |

Wir ftehen einander gegenüber, allein in ber dunklen Straße. &8 regnet; wir haben noch Beide unfere Hüte in der Hand und ich jehe, wie das bünne graue Haar des alten Mannes feudht wird und etliche flatternde Härchen fich glatt legen. Eine Weile vergeht jo; er ſucht nad) Worten, die ſich nicht melden wollen, ift verblüfft, vielleicht beängitigt; ich wiederhole meine Yabel mit größerer Energie, am ihn von ihrer Wahrheit überzeugen.

„Kein, Das ift ganz unmöglid, mein Herr! Bitte, thun Sie das Gelb weg, ich habe es nicht verloren, ich kanns fiher fagen, denn ic habe... .“

Was halt Du, mas halt Du? fage ih zu mir jelbft und fühle zornig, wie weich mir wird, von der hilflofen, fchüchternen Stimne. „Sehen Sie, mein Herr... . bier, bitte, hier verwahre ich mein Geld, ſehen Sie nur”: er zieht einen großen geſtrickten Beutel aus der Tafche, ich ehe, es ift fein Pfennig drin... „Alfo es ift ganz unmöglich! Derzliden Dank!“ Damit verneigt er fi, zweimal, madt ein paar Schritte und feßt erjt dann feinen Hut wieder auf den Kopf. -

Nein, jo leicht entwiſchſt Du mir nicht, ſage ich mir und ſetze ihm nad. Welche Unvernunft! Tiefer alte Mann fanır doch nicht hungrig zu Bett geben. Aber nad einigen Schritten halte ich ein. Vielleicht Hat er Krebit, ift auf dem Wege nad) einem Lokal, wo die Kellnerin ihm feinen Teller binjchiebt, unwirſch und höhniſch vielleicht, aber es ift doch ein Billen Fleiſch, ein Stückchen warınes Fleiſch oder Gemüſe drauf... Aber jogleich fühle ih mit Sicherheit, daß es nicht jo ift, nein, und jchreite aus, den Alten einzuholen.

Ich weiß nicht, weshalb, aber ich fühle mich verjucht, ihn roh und laut anzufahren, ihn, der doch jo ſchüchtern und höflich ift wie ein Kind und fich licher hinlegt und ftirbt als einen Menjchen um Ctwas bittet oder gar willentlich Unrecht thut. „Sie unvernünftiger alter Mann!" fahre ih auf, „wollen Sie mir etwa weismaden, Sie feien jatt und pfeifen auf meine Marl? Glauben Sie, ih wüßte nicht, was hungern heißt? Sie haben heute nichts gegeflen. Nun, wollen Sie oder wollen Sie nicht? Ich hoffe, Sie haben nicht vor, ſich über mid) luftig zu maden, mein Herr?“

(GGrauſam weide id) mich an der erihrodenen Hilflofigkeit des Alten, Nein, niemals babe id Hunger gelitten. Steine T.ual ift mir fremd geblieben, außer diejer. Und darum fühlte ich noch nie ähnliches Mitleid mit einem Menſchen. Er jicht mich To zaghaft an. Ein Leidensgefährte, denkt er ji. Jetzt hat ers

Der leere Schrein. 117

im Ueberfluß, morgen treibts ihn durch die Gaſſen, wie mid. Und immer roch ſchüchtern, ergreift er meine Hand, lächelt, zwinfert mit ben Augen, behält das Geldſtück zwiſchen jeinen Fingern und fagt fein Wort dazu.

Im Wirthshaus muß ichs leiden, daß er mein Bier bezahlt. ch habe feinen Pfennig mehr in der Taſche. Ich fehe zu, wie er ißt und trintt. Er thut3 ohne Haft, mit Mäßigung, obwohl ihm bein Yampenlidt Hunger und Koth aus allen Runzeln ftarren. Er gebraudt Meſſer und, Gabel wie «in Gentleman, wilht jich den Mund vor und nach dem Trunk mit ber Sernictte, unterläßt da3 triviale Zutrinfen, ſcheint im Uebrigen den Zweck meines ($e» bahrens nicht im Geringiten zu beargwöhnen. Ich kann gar nicht jagen, wie dieje Sicherheit mid) aujbringt. Wehnliches tft mir noch nicht vorgekommen. Wie Ichuldbeladen oder wie raffinirte Lügner geberdeten fi all die Yeute, denen

ih ihr Gcheinftes anfzujpüren unternahm: Der da thut, als gebe es für ihn '

auf diejer Welt nichts al3 das Bishen Hungern und wieder Sattſein. Brüs— fire ich ihn jeßt, fo fanır ich über das Abenteuer ein Kreuz machen. „Ich finde es bei Alleden“, jo jage ih nad langem Schweigen, „geradezu unerflärlich, wie ein Weltmann Ihres Schlages ſich darauf verlegen kann, nächtlicher Weile Cigarrenſtummel in den Straßen aufzulejen. Bitte: leugnen Cie nit. Ich babe es genau gejegen. In der Theatinerftraße. Auf der Stufe eines Wurfts ladend. Das trübt mir das Bild, offen gejtanden, leider!”

Mein Mann jchludt gewaltig an dem Biflen, den er im Mund hat, und betheuert dann mit Innigkeit, daß ich auf falſcher Fährte jei.

„So, jo! Wohl eine Art mittelalterlicden Troubadonrtgums in dem Falle? Die ftaubige Fußſpur der Herrin auf dem Stein?“

Wo ich denn hindächte, lacht der Alte und zeigt auf feinen grauen Hopf. Sn feinen Jahren! Welche Zumuthung! Nun fpiele ich den Beleidigten. Setze mich anders herum, fage, daß ich nicht liebe, myftifizirt zu werben; ich nehme ſelbſt alle Qeute ernit und erwarte baher, daß mir mit Gleichen vergolten werde. Mebrigens gut. Und ich greife nach dem Hut.

„D, was thun Sie mir an!" ruft mein Tijchgenoffe aus und drüdt mid auf meinen Stuhl nieder. Er bittet, bettelt, fleht: ich laſſe mich endlich erweichen und bleibe, doch nur unter der Bedingung, dab ich erfahre, melde Bewandtniß es mit der Stufe habe, und den Segenftand jehe, den er da in die Taſche ſteckte. Das, meint er, gehe wahrhaftig nicht an. Der Gegenjtand müſſe erft präparirt werden, ehe er für fremde Blicke präfentabel jei. Im Uebrigen fei es ein und, ein Ding, ein Objekt, das der Sammlung einver- leibt werden jolle.

Ich ftelle mich pfiffig: Et, wohl eine Sammlung von gefundenen Gegen— jtänden höchſt unzmweifelhafter Provenienz, eine Strumpfbandichnalleniammtung wohl? Noch Uergeres? Man hat jhon von ganz merkwürdigen Kollektionen gehört; e3 gab Menſchen, die wahre Muſeen von Korſets oder auch von alten ſchiefgetretenen und ſonſt durchaus reizlofen Damenſchuhen anlegten.

Solche Ungeheuerlidykeiten feien ihm nie in den Kopf gefonımen. Gehört batte er ja von Aehnlichem, aber er ſelbſt ... Nein, man thue ihnen Beiden unrecht, ihm und feiner Sammlung, wenn man denkt, fie jei nichts weiter...

Na, na, man hat fchon gejehen, daß hinter ganz harmlojen Masken hochſt

118 Die Zutunft.

gefährliche Grimaſſen fi) verbargen, und in unferes Vaters Haus gabs ſchon ganz abjonderliche Kabinete. So fahre ich fort und lächle fuffilant vor mich bin. Endlich gelingts mir, meinen Mann in Harniſch zu bringen. Er fpringt auf, jchlägt auf den Tiſch, ſchwört bei Gott, daß ich ihm Unrecht thue, ſchwört bei Bott, daß ich zu ihm fommen werde, jet, fofort, auf der Stelle, bei Nacht und Nebel, und feine Sanımlung jehen. Nach einigem Widerftreben bin ich dazu bereit.

Wir Haben feinen langen Weg. Doc die Gaſſen bes alten Viertels find ſehr winfelig und wirr, jo daß mein Begleiter Zeit genug bat, mir fein Leben zu erzählen, bis wir vor feinem Thor Halt maden.

Die alte Geihichte. Kein Glüd gehabt. Na, was ift da zu Klagen? Und er klagt auch nicht. Nein, er ſpricht von diejem verdorbenen Neben fogar wie von etwas ganz Erfreulichem, denn ſchließlich ift es ja gelebt worden unb die Sammlung läßt mid ahnen, daß es Etwas wie ein Biel gehabt bat, daß das Schidjal irgend cine verborgene Abjicht bekundet Haben müſſe, dadurch, daß diejer höflicdje und gebildete Menſch bis zum Bettler heruntergekommen ilt.

Wir find angelangt und winden ung nun durd den jchier endlofen Korri= dor, um vom Thor zum Hinterhaug zu gelangen. Das ift eine uralte Jammer- barade in der Gegend um die Hundsfugel herum. In wenigen Jahren wird ein neues, jtußerhaftes, verlogen proßiges Häuſergeſchlecht mit diefem vor Alter mwadeligen Stadttheil aufgeräumt haben. Wir gehen und gehen dur den Korridor, der nicht höher noch breiter ift als ein Bergwerfsihadt, ala ein Maul: wurfsgang. Irgendwo wird Brot gebaden; man rieht den öligen Teig und fühlt die DBiße dur die Wand ftrömen. Wir gehen, gehen, und ber Alte fpricht noch immer. Wir find in der Kammer angefommen; er verjtummt plöß- lih und zündet umftändlich und faft feterlicd eine SKerze an. Da nur ein Stuhl da iſt, auf dem Wajchgeräth fteht, jege ich mich aufs Bett und fehe mich um. Hier ift ein Koffer, ein Tiſch mit Tintenzeug und Xöjchblättern und an der Wand, gegenüber der Thür, ein Schrein, ein, wies fcheint, ziemlich dürftiger und abaenußter Schrein. Für einen Sammler nidht befondere. Doch ver- muthe ich ſchon, daß diefe Sammlung nicht mit dem Maßſtab zu meſſen fein wird, den man anlegt, wenn man durch eine Flucht koftbarer Gemächer nad dem Heiligthum geleitet wird. And ich darf fagen, da meine Neugier aufs Höchſte gereizt ift, al3 der Alte in dem feierlichen Schweigen ernft und gemefjen

einen Schlüſſel aus einem ing Hemd genähten Täſchchen hervorholt und an den

Schrein tritt. Ich erhebe mid vom Bett und fomme näher. Die Thür bes Schreins freijcht und thut ſich langſam ſperrangelweit auf. Der Schrein ilt Icer.

Im erſten Moment fühle ih mich verfucht, dem Mann ins Gejicht zu laden; ich weiß nicht recht, vb aus Aerger oder aus Spott. Aber ich unter» laſſe es, als ich ſein Geſicht ſehe. Es ſtrahlt. Seine Blide, warm vor Glück wie Mutteraugen über einem fchlafenden Kind, find auf den hohlen Raum ge: richtet, in dem ich nur ein paar hölzerne Dafen zu entdecken vermag, an denen nichts hängt. Nach einer Weile wage ich eine Bewequng; ich hole die Kerze vom Tiſch, um in den Kaſten zu leuchten. Aber mit einem Schrei erfaßt der Alte meinen Arm amd reißt ihn zurück:

„Sehen Sie Acht, um Dimmels willen! Wie leicht ift ein Unglüd ge ſchehen!“ Und als habe der Yuftzug Unordnung in den Schrein gebradjt, neig'

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Der leere Schrein. 119

er ji vorfihtig und mit halb geöffnetem Mund nad porn und betaftet, glättet, jtreichelt vol Angft die Quft von oben bis unten. Dann fest er bie Kerze auf den Tiſch zurück und winkt mich mit geheimnißvollem Blick heran, den ich in dem guten, runzeligen Sindergeficht ſchon geliehen habe, als es fich auf die Stufe unterm Fenſterladen geneigt bat.

„Der Schrein darf nicht lange offen bleiben. Sie verftehen, mein Herr? Die Motten, der Staub, die Luft! Er jchließt auch nicht dicht genug; es tft entſetzlich, doch kann ich nicht abhelfen, denn mir mangelt3 ja am Nöthigſten. Nun kommen Sie noch näher, bitte, und jehen fich die Dingerden an. Sind Das Korjete? Strumpfbänder, wie?” Und mit vorjichtigen Yingern langt er in den Kajten und läßt jeine Blicke entzüdt über die Luft gleiten, die er jorgjam ausgebreitet auf den Handflächen vor mich hinhält. „Ein Pradtitüd, wie?"

sch jehe ihn an. Sein Zweifel: der Dann ift nicht mwahnjinnig; feine Pupillen find in der norınalen Weije geöffnet, er fieht einen Gegenitand auf jeinen Händen liegen und es ift ein Gegenitand, ben er jchon oft jo vor ſich ausgebreitet geſehen haben muß, denn es iſt Liebe .und Erfenntlichkeit in der Art, wie er ihn anblidt. ch gebe mir Mühe, ganz unbefangen zu jcheinen, und wage eine jchlichterne Frage, was wohl diefen Gegenjtand würdig genug gemadt Habe, in der Sammlung feinen Platz zu finden. Der Alte läßt ein leifes Zachen hören. „Weil er jo altmodiſch ijt? Man trägt fie jet anders ge- ſchnitten, damals aber Hatten fie die fyorm von Schwalbenihwänzen und waren mit brauner Seide gefüttert. Ein Prachtſtück; und id} darf wohl jagen: das widtigite der Sammlung. Sehen Sie, es war im Jahr 64, id war damals dreiundzwanzig Jahre alt und lebte in London. Es ging mir ſchon damals ziemlich jchlecht. Nun, mit einem Schlag, hätte es anders werden fünnen. Ich erfuhr, daß ein einflußreicher Mann fi für mich interejjire. Er brauchte einen Sefretär, der ihı nad) Indien und Japan begleiten follte. An dem Abend bei der rau F. einer Deutschen, jollte ich dem Lord vorgeftellt werden. Ich konnte nit hin, denn ich Hatte feinen rad, Am nächſten Tag war der Yord nad: Indien gereift!" Seufzend, aber mit einem Blid voll Liche hängt ber alte Dann das Phantom in den Schrein zurüd und holt ein anderes hervor. Dies— mal ſcheint er einen Hleineren Gegenſtand in der Hand zu halten. „Was denken Sie von diefem Opernglas? Es iſt ein feines Ding; ſehen Sie: fo wird es gehandhabt. Und wenn man Eurzfichtig ift, Leiftet es aute Dienfte. Dann läuft man nicht Gefahr, eines ſchönen Tages aus einem Norzimmer, einen parfu— mirten Vorzimmer von einer Dienftmagd hinausgewieſen zu werden, mit dem Bemerken, das Fräulein liebe es nicht, mit Leuten zu verfehren, die fie au öffentlichen Orten zu ignoriren pflegen!” Ein anderes Stüd. „Wenn man einem deren, der auf gutes Ausſehen Hält, im Winter ohne Winterrod begegnet, fo darf man ſich nicht verwundern, wenn er Emen mit einem erjtaunten Blid nißt und danı weitergeht. der?”

„Gewiß!“ antworte ich überzeugt und bewundere die feinen Paſſepoils des Winterrockphantomes, das der Alte ächzend in den Kaſten zurückhängt. Und rad) einander kommen fie aus dem leeren Schrein zum Worichein: die Taſche nit den Manujfeipten, der Regenſchirm, der ein jo tragifomtiches Erlebniß ver: uldet hat, das Hemd mit dem glänzenden, fledenlojen Plaſtron, alle; und

120 Die Zukunft.

eine Unmenge Eleinerer Gegenjtände von geringerer Wichtigkeit, die darum, in einen fleineren Haufen gejchichtet, den unterjten Winkel des Schreines ausfüllen und die ich nicht zu unterjcheiden vermag, weil der Alte fie nur berzeigt, ohne jeden einzelnen zu bezeichnen und feine Rolle zu erläutern; body find ihrer gar viele, denn dies Leben war lang und fein ganzes Scidjal fließt durch die alten Hände, die fommen und geben, aus dem Schrein herausholen und wieder hin- einlangen. Und fo ausdrudsvoll ift dies Geberdenfpiel, jo innig und über- zeugend der Ausdrud des Geſichtes, daß mir fehließlich ift, als jähe ich einzelne Segenftände in feinen Händen zum zweiten Mal erfcheinen. „Diefes“, jage ich und zeige auf feine Hände, „haben Sie mir ſchon gezeigt. ch glaube, ich. fenne nun Ihre ganze Sammlung. Iſts nicht jo?“

Ich babe geſprochen und weiß, daß meine Stimme ganz ruhig, meine Worte völlig glaubwürdig geflungen haben. Der Alte läßt au kein Beichen der Berwunderung merken, ja, er würde mic mißtrauifch anjehen, fragte id) ihn, was er denn eigentlich zwijchen den Fingern babe. Er lächelt nur und fneift die Augen zu: „Alles? Sie glauben, Alles gejehen zu haben? Run, glauben macht felig. Aber Site glauben wenigſtens. Einmal hatte ich einen Menſchen Hier in meiner Stube, der glaubte nicht an die Dingerchen. Es war ein weitläufiger Verwandter, ein Diann in Ihren Jahren, ein Narr. Ganz wild fragte er mich, ob ich ihn etwa zum Beften habe; auch war er betrunfen, ja. Schließlich ftieß er mit dem Fuß nad dem Kajten; ih dachte ſchon, er jtieße mir Alles kurz und Klein. Eine ganze Woche hatte ich zu thun, bis ich die Kothjpuren von meinen Dingerchen mwegbefam. Er flog aber auch hinaus. Einen Fußtritt, denken Sie fi nur,. hier, mitten in Alles! Sie aber haben Lebensart bewieſen. Wollen Sie fi noch einen Augenblick gedulden?“

Damit kniet er nieder und fchließt ein kleines Zach auf, das unter dem Boden des Schreins voll von Kleinen, ſorgſam verforkten und mit Papierftreifen beflebten Medizinfläſchchen, Pillenſchächtelchen, Blech- und Holzdojen ift. Eine nad der anderen wird vorgeholt. Fläſchchen und Schächtelchen find ſehr ſchwer zu handhaben: mande müffen gefchüttelt werden, damit der Bodenſatz ſich auf löje, andere wollen gar zart behandelt werden, fonjt bleibt ihr inhalt unſichtbar. Der Alte hält eine von den Kleinen Flaſchen gegen das Licht. Ich ehe, fie iſt leer; er jchüttelt fie und blidt fie neugierig an: „Sehen Sie, das Kleine Un- geheuer, den kleinen koſtbaren Unglüdsbringer: ſehen Sie ihn jet? Es ift ein verjpätetes Bonmot, ein Treppenwig. Wie er jchillert, ganz treffend fchillert er, man möchte jagen, ſchlagend!“ Eine Schadjtel, die einft Brompillen ent⸗ hielt, beherbergt eine griechiſche Vofabel, eine Blechbüchſe, länglih und flach wie ein Kicjelftein, enthält ein paar verwechſelte Konfonanten. Es iſt ſchwer, mit dem Wort „Individualität“ fertig zu werden, wenn man zwei Tage nichts Warmes genofjen hat und dann zwei Bläjer Malaga trinken muß. Sorgfältig, als fönnte eine allzu heftige Bewegung die Buchftaben wieder durch einander bringen, ftellt er die Büchſe zurüd; und fort geht die Nede des Alten. Ich höre zu, höre biejer ftillen, faft vergnügten Stimme zu, die jo ohne Wuth it, nur voll vom Nachklang einft vergofjener Thränen.

Plöglich aber fpringt mein Mann auf, daß die Gläſer und Büchſen flirren, und ſchaut mir ftarr ing Geſicht. Seine Hände haben ihre Muhe, ihre

Der leere Schrein. 121

ftreihelnde Zärtlichkeit verloren, fie taften wild am Nod entlang, greifen in alle Taſchen, fommen aus allen wieder mit einer Geberde der Verzweiflung zum Borichein. „Können Sies begreifen? ch Habe ihn nicht mehr!” Sein Mund bleibt halb offen, in feine Züge mengt ſich ein entitellender Zug von Schmerz und Zorn. „Und ich hatte ihm doch, ganz jiher, in der Theatinerſtraße, auf einer Stufe. Sie haben ja felbit gejegen, wie ich ihn aufhob und einftedte!”

„Ja, was läßt fi) da machen?“ frage ich beſorgt. „Wollen wir zurüd- gehen und ſuchen? Den Weg in die Kneipe zurüd?” Schon greife ih nad Hut und Stod; da pflanzt der Alte fih vor mir auf.

„In der Kneipe, jawohl! Und Sie find Schuld daran, mein Herr!”

„Ich?“ Hajtig tafte ih an den Taſchen meines Mantels entlang. „Sie wollen doch nicht etwa ſagen ...“

„Sewiß will ih! Haben Ste etwa nicht die inte mit dem Gelde ge- braucht? Haben Sie mir nicht zu eſſen gegeben, damit ic meinen Hunger ftille?*

„Das habe ich; und?”

„Und das Ding, das auf der Stufe lag, war eine Wurft. Irgend Jemand von den Hunderten, die dort den Tag über aus: und eingehen, hätte fie ja ganz gut verlieren fönnen; und ich war fo... hungrig!”

„Sie haben jet ja gegeſſen!“ wage ich fchüchtern einzuwenden. Aber der Alte hört mid nit. Wild und mit feindfäliger Miene rennt er auf und ab, jchlägt, jo oft er an dem Schrein vorüberfommt, mit der Fauſt auf feine Thür, dab es wie ein Kanonenſchuß dröhnt. „Sch alter Ejel, alter Hallunfe! Ein Leben hat mir nicht genügt, Das zu erlernen. Das hat man davon, wenn man fih mit ihren einläßt! Ganz demüthig kommen fie an Einen heran, mit zuderfüßer Miene, wie die Gerechten, und beitehlen Einen dann um fein Biſtes! Wiſſen fie etwa, wo mans verjtedt hat? Nein, fie willen c8 nit. Aber ihr Inſtinkt jagt ihnen: Da, da geht Einer, ber nod) was fein Eigen nennt auf Erden. Nimm, jo nimms ihm do! Iſts nicht fein Glüd, jo wirds wohl jein Unglüd jein!” Immer lauter wird die Rede des Alten; jchließlich jchreit er mir feine Worte ind Geſicht.

„Sie müſſen verzeihen“, fage ich Kleinlaut; „ich wollte ja Ihr Beites, id habe nad) beitem Gewiſſen gehandelt... .*

„So, mein Beftes!” fchreit der Alte auf und im Nu werde ich ſammt

Hut und Stod zur Thür hinauggeworfen... Da ftche ih nun in der ſtockfinſteren Flur und fann meine Sicbenfahen zufammenlejen. „Mein Beſtes!“ höre ich den Alten noch im Zimmer ſprechen. Dann knarrt die Thür des Screind und das Licht der Kerze, die drin auf den Fußboden geftellt wird, dringt durch die Rige und beleuchtet meine Schuhe. a + Eine Diinute lang ftehe ich noch horchend. Dann Höre ich ein unter drücktes Schluchzen aug dein Zimmer tönen. Und id fann mid) faum trennen von diejer Schwelle, über die ich wie ein Dieb nefchlihen bin und wie cin Be» trüger geftoßen wurde. Schweren Herzens, mit dem Schluchzen des alten Mannes beladen, fchleiche ich durch den endlojen Korridor zum Thor hin. Bald ftche ich auf der Straße. Es regnet noh immer. Ganz ftill und beflommen ftche id) da... Dies ijt mein legtes Abenteuer. Das traurigjte, das ich ericht habe.

Münden. Arthur Holiticher. 3 9

Die Zutuntt.

Selbftanzeigen. Mer Abende. Gedichte. Mit Originalholzſchnitten von Adolf Verlegt bei Schufter & Loeffler, Berlin. adorffiſche Natur: und Gefühlsromantik, untermifcht mit den Lieb- 3 zarten Rofofo. Doch ift das ganze Bud dem Titel entſprechend faft auf bie Gefahr hin, eintönig zu werben. Ich habe Beabfichtigt, it einer Iyrifchen Seele“ zu geben, und barum die Reihenfolge der geordnet, daß ein innerer Prozch angedeutet iſt. Doc; blich den sdichten ihre Abgeſchloſſenheit und Unabhängigkeit vom Ganzen ger kleines zur Probe:

Aus dem Trecento.

tofenhag. Biel Englein mufiziren

n weiß nichts vom Leibe. Auf braungoldenen Geigen,

Lift wie Seide; Drum ift ein ftaunende® Schweigen we nur lächeln mag. | Unter des Waldes Thieren.

Lämmlein, die fid) verirrten, Schlummern auf glattem Rafen. Irgendwo ferne blajen Abwechſelnd zwei Hirten. s Camill Hoffmann. Ausgerählte Erzählungen. Bon Leonid Andrejew. Verlag rich Minden, Dresden. Preis 2 Mark.

d Andrejew erregtin Rußland berechtigtes Auffchen. Seine Erzählungen arfammten Kritit ald hervorragende Talentprobe begrüßt worden.

!ichter verftcht der gewöhnlichſten Alltagsgı fhichte einen tiefen Sinn und wird fiher aud in Deinſchland das Imereſſe finden, das er

:onid Andrejew ift Altersgenoſſe und Freund Gorkijs, dem er auch

ungen gewibmet hat.

Blaſewitz. Heinrih Minden. Gefchichte eines jungen Mädchens. Pierſons Verlag, Dresden. fich mal, wenn Du jedes Kapitel dieſer Geſchichte eines jungen

8 felbftändige Novelle hinftellen wollteft, liehe ichs gelten“ ſchrieb

einer beſten Freunde nad Durchleſen des Manujfriptes: ‚aber daß

Nädchen (betone ‚ein‘, Bitte, recht fharf!) all dieſe Tragordien an

jacht Haken fol: Das ſcheint unnatürlich.“ Und doch ift es möge

tade wegen des unmöglich Scheinenden habe ih dicfe Geſchichte ger

0 „unnatürlih‘ fie gefunden warb: meine Aſta ſpricht für viele

mlid) viele Mädchen und Frauen, deren tiefes Sehnen nad) Liche fand. Mädchen mit verzweifelten Lachen und Bitterkeiten in allen

auen mit refignirtem Lächeln und auf dem Ungeficht die Maske der

t und Genußfucht, zu der hungernde Augen ſchlecht paffen. Ich

wenn folde Grauen und Mädchen den tiefen Ton der Sehnſucht

Ahlen, ber uns zu Schweſtern madt.

n. u Alta Maria Roland.

Selbftanzeigen. 123

Der Knote, unmodernes Ueberwitzblatt, erfcheint monatlih. Halbjährlich 50, Einzelnummer 10 Pfennige. „Der Knote“ zieht vielfah im Arizonafiderton alle öffentlichen Intereſſen in den reis feiner Betrachtung, hauptſächlich jedoch das Webiet ber Sozialpotitif. Die flafjifche Literatur iſt ihm Lieber als die moderne. Beitung- weſen und Politikerthum werden in harmloſer Weije parodirt. Der Knote“ verböhnt nicht Perfönlichkeiten, fondern Inſtitutionen. Er bringt nur felten „Altuelles” und gar nichts „Pikantes“. Leipzig. Askan Schmitt.

Dirnen⸗ und Gaſſenlieder. Mit Beiträgen von Zoozmann, von Pren- fen, Salus, Stangen, Dolorofa, Wiener, Wimmer, Von Stern, Heller, Schreiber und Anderen. C. Schmidt, Zürich.

Als ich die Straßenmweisheit fanımelte, wußte ich, das eine Wet werde von fittenftrengen und altmodiſchen Provinzlern ohne Weiteres ungelefen weg⸗ gelegt werben. Ich wußte ferner, daß Leute, die zufällig einmal meine „Lieder für Kinderherzen“ zu Geficht befommen, die Köpfe fchiitteln werden. Doc jene Lieder entitanden in irgend einem weltenfernen ſüddeutſchen Krähwinkel im Kreis Heiner Weltbürger; biefe find die Blürhen der Großitadt. Leider find die Illuſtrationen, jehr gegen meinen Wunſch, fo ausgefallen, daß die ernite Kunſt⸗ abfiht des Buches gröhlich entitellt ward. Manches Lieb, hoffe ih, wird auch in dieſem fchlechten Seid aber gern begrüßt werden.

. Egon Straßburger. Avalun. Ein Yahrbuch neuer deutſcher Iyriicher Wortkunft, herausgegeben von Richard Scheid. Berlag Avalun, München. Preis des in Maler: leinen gebundenen Jahrbuches: 10 Mark.

„Avalun“ wurbe von mir von Anfang an nur nad dem Herzen des Bibliomanen erdacht und entworfen. Um profanerer Erwerbung vorzubeugen, galt es, ein Format zu erfinden, das ein Unterbringen des Buches in einem teutihen Bücherbrett mit Erfolg verhindern konnte. Es gelang. Verwandtem bdjen Willen entiprangen auch die vielen anderen Sonderlichkeiten. Das Bud bedurfte jedod, zur Vervollftändigung eines ficheren vepräfentatisen Charakters, der Einfügung zahlreicher Blätter zwiſchen den bildneriihen Darftellungen; und um bieje großen Flächen wiederum gefällig aufzulöfen, griff ich in meiner jpefu- lativen Berlegenheit zu „Gedichten“, weil fie diefen Zweck durch ihre wechjelnde Länge und durch die verfchiebene Breite der einzelnen Verſe befonders reizvoll erfüllen und nebenbei auch fehr billig find, da fie ja in größeren Abjtänden von einander ſtehen und auch nad) der Breite Hin die Seiten nit vollitändig be» deden. Das ift jegt meine Meinung über „Avalun“. Gin guter Herausgeber muß fich aber auch über Vorzüge feiner Werke erfreut geberden, die von Anderen da gefunden werden, wo er feine beabfichtigt zu Haben ſich bewußt ijt, und er beeile jich, ihnen ben Stempel der Abfichtlichkeit noch nachträglich aufzuprägen. So erzähle ich noch, daß ich das Buch zu meiner Ueberraſchung in der Bücherei einiger Perfonen angetroffen habe, die vorgeben, es der Gedichte wegen zu befiten.

Dlünden. Richard Seid. 3 g*

124 Die Zutunft.

Wer macht die Hauffe?

ie Hauffe, die in den Iegten Tagen bes alten Jahres begann, immer das Herz der Börfianer. Die lange verddeten Bänke di märfte find wieder dit von Maflern umringt. Man prophszeit, wie Jahr, fo werde auch diesmal erſt die junge Frählingsjonne dem Iebhı treiben ein Ende machen. Eigentlich fol man nicht prophezeien, benn der Börfe find unberechenbar; aber die allgemeine Begeifterung zwingt , Lofer Kritit der Grundlagen, auf denen das Kursgebäude ruht, Bon ſchaf lichen Vorwanden ſprach ich in ber vorigen Woche; Heute wolle die Perſonen anfehen, die dieje Vorwände erfinnen oder geſchickt grup In dem Theil der Preſſe, der für die Börfenberegungen wich während der legten Tage ein intereffanter Widerſpruch fühlbar. Wenn lauer Zeitung über ben ſchleſiſchen Eiſenmarkt fühl und vorſichtig, d Zeitung dagegen über den rheinifhen Eiſenmarkt ſehr zuverſichtlich ift folcher Gegenfag immerhin nod zu erflären; denn bie Lage kann land eben wirkli anders fein als in Schleſien und nicht nur d brauchen von einander abzuweichen. Wie aber fönnen in der felben Blätter, die Kolniſche Zeitung und die Kölnische Volkszeitung, fo m andergehen, daß bie eine vor dem Optimismus ber anderen warnt? wir neulich erlebt. Eines Abends ftand in fämmtlichen berliner V Telegramm aus ber Kölnifhen Zeitung, deren Eiſenmarktbericht Bi fiaftifch Taute und das Morgenroth einer neuen Aera des Aufſchwang Der Artikel felbft Mang etwas gebämpfter als der telegraphirte Aus ſprach aber mit feinem zuverfichtliden Ton doch Allem, wıs man die Marktlage im Rheinland gehört hatte. Da furz vor dem Erf Artitels bekannte rheiniſche Induſtrieſpekulanten an der Börfe gıdi gekauft hatten, glaubte man, vieleicht nicht ganz ohne Grund, es um eine Auffriihung ber früher fo belichten rheiniihen Tendenzm hat ein Intereſſe an folder Made? Das große Publifum ift, namen es fein Geld an der Börfe verloren hat, ftet3 bereit, auf die Jobber z und alle Schuld den ruchloſen Börfenleuten aufzuprden. Ein Mufter | faffung war die während der Agitation gegen das Börſengeſetz erfchienen deren Verfaffer fe und munter behauptete, die Tagesſchwankungen märden von den Börfiancrn willfürlid gemacht, um das ahnungioſe beffer rupfen zu können. Die Roıte der Börſenſpieler foll immer alle ſchuldet Haben. Veelleicht wars früher wirklich einmal fo; in der f wo ftarfe Börfenipekulanten die Kurebewegung beherrſchten. Längſt Börje aber ein Juſtrument geworden, deſſen Saiten die Vörſenleute mehr zum Tönen zu bringen verinögen. Dept kommen die treibenden außen. Biele rheiniſche Induſtrieherren finden, nach des Tages Laf fei das Börfenipiel eine angenchme und Gewinn b-ingende Zerſire begreiflich iſts ja nicht, daß der Fabrikant, der die Verhältniffe feir genau fenn: oder zu fernen glaubt, dieie Kenntniß benupt, um fi Sp-tulation in Iuduftrieafiien einen Nebenverbienft zu ſchaffen. B G:oBunternehmer ift das Spefuliren nad) und nad aber zur daupib

Wer macht die Haufje? 125

geworden. Solde Herren benugen nicht nur bie ihnen entichleierten Berufs- geheimnijfe zum Kaufen oder Fixen von Aktien: fie verwenden auch fehr geichickt die mehr oder minder große Dividendendeflarirung, um ihren Ipelulativen Blänen die Tendenz günftig zu ftimmen. Ihren Rundgebungen laujcht die Börje gläubig; und fo richten fie ihre Darftellungen nad der Lage ihrer Bö:fenengagements. Diefe rheiniichen Kapitaliſten, halb Großinduſtrielle, Halb Börſenſpekulanten, find heute die Herren der Börfe. Die Ausführung ihrer Spekulantenaufträge liefert dein an Hunger gewöhnten Geldmarkt jet fo ziemlich die einzige Nahrung. Sie zichen die Drähte der Puppen, die den Börfenfaal bevölfern und auf deren Rüden die Öffentliche Meinung ihre Wuth austobt,; die Drahtzieher felbit find ja unfidtbar. Das muß gejagt werden, damit, wenn nächſtens dag Strohfeuer wieder erlischt, die Schuld nicht abermals Denen zugeihoben wird, die im Ihlimmjten Fall betrogene Betrüger, meift aber dupirte Narren find. Geht es der Börje fchlecht und entlädt fich gegen fie der Volkshaß, jo jtchen die eigentlich Schuldigen Hinter den Couliſſen und laden fid ing Fäuſtchen; treten fie dann bervor, fo rufen gerade fie noch lauter als Andere: „Haltet den Dieb!’ Sie ſchüren eifrig das Teuer der Feindſchaft, die in Deutſchland zwiihen Waarenfaufleuten und Börjenhändlern beftcht, und bliden von der Höhe ihres Induſtriefeudalismus verächtlich auf die Nachbarn herab, die nur Bankier jind. Ihr Geſchäft geht jeßt ſchlecht, der Profit der Majchinen, Gruben und Oefen ſchrumpft zuſammen und fo fuchen fie an der Börfe die Zuwachsrente. Lange haben fies mit der Schwarzmalerei verfucht; täglich lafen wir in rheiniſchen Blättern Jeremiaden. Als diefe Hiobspoften nicht mehr wirkten und bie Börje jo abgehärtet war, daß felbſt die ſchlimmſte Meldung fie falt ließ, ging man zur Abmechjelung auf die andere Seite: man dedte die vergeblich gefizten Aktien mißmuthig ein und faufte fih ein Eleines Böjtchen dazu. Plötzlich kamen nun günftige Berichte vom Ahrin.

Die Berichterftatter find gewiß nicht dur Elingenden Lohn veranlaßt werden, wider beijeres Willen Stimmung zu maden. Der Bufammenbang tit auch ohne ſolche Verdächtigung Har. Der Berichterſtatter muß irgendwo feine Kenntniß ſchöpfen; er geht alfo zu den Induſtriellen der Nachbarfchaft, die für ihn, wie es einem frommen Redakteur ziemt, die höchſten Autoritäten find. Diefe Herren, blajen ihn nun ein, was fie zu verbr.iten für nöthig halten; natürlih auch nicht wider befferes Wilfen: corriger la fortune, nannte es einft Zefjings Hochſtapler. Rechtfertigen läßt fich Ichliehlich jede Anfiht. Da wird von neuen großen Aufträgen erzählt. Tiefe Aufträge find wirklich vorhanden; nur verſchweigt man dem neugierigen Frager, welchen Nuten fie bringen und welder Beitelfunft der ausländiſchen Ag nten fie zu danten find. Das braudt man ja nicht jedem Fremden auf die Nafe zu binden; wozu gichts denn das Ge: Ihäjtsgeheimnig? Der Journaliſt aber jet fi) ſehr befriedigt, an den Schreib: tiſch und meldet, was er jah und hörte, dem verehrlichen Bublifum. Am nädjften Morgen jtchts in der Zeitung, wird in alle Winde telegraphirt und bringt den Souffleuren Höheren Lohn als Tenen, die für mäßige Jahresgage auf ber Preßbühne agiren. Nicht nur das berühmte „ahnunglofe Publikum“, fondern gerade auch der Börſenmenſch bat, mag er noch jo oft in die Preßküche gequdt haben, die ticfjte Eyrfurcht vor dem gedrudten Wort und denft gar nicht daran, daß felbft der klügſte und ehrlichfte Beitungjchreiber leicht irren farın. Der

126 Die Zutunft.

Journaliſt aber wagt weil er weiß, baß fein Artikel V gelium gelten wird nur felten ben Ausdruck eigener Mein ade recht gut machen und Elettert zu ben Quellen hinauf, aus Wahrheit zu ſchopfen glaubt. Gerade dem Bewiffenhaften droh von Induſtrieſpekulanten auegenüßt zu werben. Die gefährlic find die Herren, die Stunden lang mit den Zournalijten plauder als hätten fie nicht das winzigſte Gcheimniß vor ihren. „I willen, Verehrtefter? Aber mit dem größten Vergnügen! Ich meine Karten auf. Diefen Drahtziehern find die Beitungfe Börfenpuppen, nur Prügellnaben. Die Preffe ift ihnen die D fie ungeftört „arbeiten“. Und fie verachten den Journaliſten nc Bankier. Unter vier Augen find fie mit Beiden intim, Unter wollen fie nicht gegrüßt fein. Nur natürlich ifts, daß nad gerade die anftändigiten Zournaliften überhaupt feine Luft t Anſicht der Induftrietyrannen zu hören, oder von vorn herein das Gegentheil Deffen zu glauben, was bie „Autoritäten“ ihnen fie ſich ber, lolche Ketzergedanken auszuſprechen, dann gehts ihne: Wozu haben wir das Börjengefeg? Noch giebt es Ehrenrichter

+ Brieffaften.

Bormermen in Luxe m burg: Ob die zweijährige Di übung des „neuen Griffes“ ausreicht ? Sicher. Die Compog poralfchaftführer werben ein Bischen ftöhnen und der Parademarſch anders ausfehen wird als bisher, wird manden Schweihtropfen ke wirds, Nur die Garte-Infanterie Hat ja den neuen Griff zu lerneı AbtHeilungen und auf bem Paradefeld, feit dem fünften Dezembe „angejogenem Gewehr“ Kolben in der linken Hand, rechte an grüßen. Welchen Zwed die Aenderung des Reglemenis Hat? Ind ſteht: „Zum Andenken an die ruhmreiche Infanterie König Friedi an diefe fleine, todesmuthige Schaar, die das Fundament ber preu' worden ift.“ Zum erften Mal wird im Reglement zwiſchen Garde ſchieden, zum erften Dal für den höchſten deutfchen Offizier ein befe geführt, auf den fein Kontingentsherr, fein Feldmarſchall Anſpruch das Regiment Garbe zu Fuß ſich bei Leuthen tapfer gehalten Hat. heute fagen, bad preußifche Heer fei auf Friedrichs Lorbern eingefc

Slottenfreund in Schwerte: Ja, ber Neubau des Re ſoll ſich wirklich in ber Bellevueftraße erheben. Und richtig ift auch diefe Straße habe fo ziemlich die höchſten Grundſtückspreiſe in gan weilen werden ſechs Milionen gefordert. Einftweilen; benn vielfa für den Neubau auserfehene Grundſtüc werde fich Bald als zu fein Reich gezwungen fein, die Miltionäre ber Nachbarſchaft auszufaufer rade die Bellevucftraße fein muß, weiß ih nit. Symbol? Merkwin

Brieftaften. 127

daß die Forderung im Bundesrath feinen Widerfpruch gefunden hat, troßdem na⸗ mentlich die Regirungen der kleineren Staaten vor den Matrilularbeiträgen zittern, die das Neichsdefizit nöthig machen wird. Vielleicht fragt im Reichstag jemand, ob das Marineamt nicht billiger unterzubringen wäre. Freilich: das geſchmackloſe Haus, das die Verbündeten Regirungen dem Reihstagsprälidenten gebaut haben, fojtet auch drei Millionen; und da der Brmohner eincs ſolchen Palaftes n’cht aus eigener Taſche Ichen fann, wird auch wieder ein neues Gehalt gefordert werden. Wo⸗ zu benn fnaufern? ine Biertelmillion für die Einrihtung der Kanzlermohnung (die guten alten Bilder aus dem Muſeum find nicht miteingerechnet), drei Millionen für den NReichstagspräjidenten, jech8 fürs Marineamt, fiebenhunderttaufend Mark für phrafiiche Diplomatendepeichen, an denen die engliſchen Kabelgejcllichaften ein ihönes Stüd Gelb verdienen: wir habens ja. Allen Reſſorts, jagen die Cffiziöſen, tit in diefem Etatsjahr äußerſte Sparſamkeit zur Pflicht gemacht worben. Lejerdes Berliner Tageblattes: Die Nachricht ift falfch. Die Daınpf- yacht „KRaiferadler” ift vom Kaifer zwar früher benußt worden, aber Reichseigen⸗ thum geblichen urd kann deshalb vom Saifer nicht verschenkt werden. Die Mannes- feelen ber Jeruſalemerſtraße hätten gewiß nichts dagegen, wenn das Schiff, wie fie behaupten, dem Kronprinzen geſchenkt worden wäre; aber Eugen Icht auch noch. Ob Abrigeng die Reifen des Kronprinzen jet auch fchon zu politifhen Ereignifjen auf- gebauſcht werden jollen? Natürlid. Paſſen Sie mal auf, was wir über die welt» geichichtliche Bedeutung des Befuches lefen werben, den er dem Zarenhof macht. Ihre dritte Frage, wie viele Tage ber Kronprinz Etudirens halber in Bonn zu- gchradht habe, kann ich nicht brantworten, weil mir das nöıhige Dtaterial fehlt. Leſer der Voſſiſchen Zeitung: Im Snferatentheil Ihrer Zeitung wird „ein vom Kaiſer Kwangh ſelbſt gemaltes Bild, mit eigenhändiger Aufſchrift und genaueſter Ueberſetzung aller Stempel und Inſchriften“ jür ſechshundert Dark zum Kauf angeboten. Ch der Kailer von China malt, weiß ich nicht; daß er, um ſechshundert Mark zu verdienen, feine Bilder losjchlägt, iſt unwahrſcheinlich. Ent- weder iſts Schwindel oder dos Bild ift in China geftohlen worden. In beiden Fällen follte die Expedition der Vojiiichen Zeitung jich nicht gegen Entgelt zu Vermittler⸗ bienften hergeben, die noch ſchlechter riechen als die einfache Alltagskuppelei. German in Liverpool: Nein; Kiplings antideutfches Gedicht ift wenig beachtet worden. Es war ſchlecht und wurdenid tbefler dadurch, daß Herr von Wilden- b ud in einem not ſchlechteren Truglied antwortete. Die meilten Deutfchen waren gerecht genug, fich zu jasen: Wir haben Jahre lang, in gebundener und fehr unge- bundener Rede, den Briten die Schande der Dienichheit genannt; fein Wunder alfo, daß auch einmal ein Brite herüberihimpft In hamburger Blättern wird eine Bofle „Das große Schwein“ angezeigt, die der Direktor des Ernſt Druder- Theaters mıt dem Sag empfichlt: „Am kölner Rolfstheaterüber fünfhundertmal unterdem Titel ‚Chamberlain‘ aufgeführt. Ungeheuerſter Lacherfolg.“ Das geht beinahe noch über bie Batriotentpudnäpfe hinaus. Kipling (die Ueberſetzung feines Gedichtes war, wie Sie mit Recht erwähnen, nicht wortgetreu und der Schimpf, der die englijche Regi— zung treffen jollte, auf uns bezogen) nennt die beutjchen Seeleute immerhin nur Gothen und Hunnen. Höflich tits nicht; um fo weniger, als ihm vor drei Jahıen der Deutſche Kaijer, der fi als „entäufiaftifchen Verehrer feiner unvergleichlichen Werke" bekannte, in einer Depefche „für die herzerhebende Art“ gedankt hatte, „in der er die

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128 Die Zutunſt

Thaten unferer großen gemeinjamen Raſſe bejungen hat.“ Schon damals war Kip⸗ ling einer der hitzigſten Chauvins im Vereinigten Königreih. Wenn er über Kleift- iſchen Zorn geböte, könnte mans hinnehmen; doch diesmal hat cr nur fraftlos ge- iholten. Der Mann braudt uns nicht zu fümmern; der feine Dichter gehört der Weltliteratur und Goethe hätte ihn, troß den Gothen und Hunnen, bewundert.

v. Y. in Berlin: Der jelbe Name, aber nicht die felbe Perſon. Der Fyrei- herr Sped von Sternburg, den Sie meinen, ift 1894 dadurch befanıt geworden, daß er erftend bei einer Hofjagd ins Waſſer ſprang und einen vom Kaijer gejchoflenen Hecht herausholte und sneitens eine lange Reife machte, um dem Kaiſer einen Hirſch zu bringen, den die Kugel des Monarchen getroffen hatte. Der junge Herr bekam damals einen Orden und überfprang ein paar Sproffen auf der Ehrenleiter. Er wird wohl noch in der sForitfartiere fein. Der Freiherr Speed von Sternburg, der jest Herrn von Holleben in Amerika ablöft, ift Diplomat und war eben für Kalkutta zum Generalfonfulernanntworden. Auch ein hübicher Sprung. Wirder, trogdem feine Frau Amerikanerin ift und nad) alter Sitte Diplomaten nie bei dem Staat alfre ditirt werden follen, dem ihre Frauen durch Geburt angehören, Botichafter in den Bereinigten Staaten, dann hält man ihn in Berlin ficher für fähig, eben jo große Opfer zu bringen wie fein früher berühmt gemordener Namensveiter.

Hiftriomaftirin Wien: Natürlich ijt der Generalintendant Graf Hod- berg freiwillig gegangen. Ganz wie Caprivi, Dohenlohe, Eulenburg, Holleben u. | w. jeder Würdenträger geht fieimillig. Ind Graf Hocberg hat es ja ſelbſt gelogt. Haben Sie feine Abſchiedsrede nicht gelefen? Er jei zwar in der Vollkraft der Leiſtung— fähigkeit, müſſe aber bedenken, daß er eines Tages weniger vollfräftig fein könne. Des» halb mußte ihn am ficbenundzwangzigften zum neunundzwanzigſten Dezember die „wiederholt erbetene“ Entlajlung gewährt und fofort ein Vertreter beftellt werden. Koch einen Monat, eine Woche länger den aufreibenden Dienft des Gencralinten- danten: und der Bollfiäftige wäre ins Grab gejunfen. Morig war gut informi:t, als er acht Tage vorher an Rina ſchrieb Hechbergs Zeit fei um und der Herr aus Wiesbaden werde bald einrüden. Nun muß ji Alles, Ulles wenden.

Hallermundsfopf Burgberg: „Das erjte Jagen dauerte fünfzig, das zweite vierzig Minuten. Der Kaiſer ſchoß im eriten Jagen 35 Grobe Sauen und fing einige angefchoflene Heiler mit der Saufeder ab; nach dem zweiten Jagen lagen vor feinem Stand 34 Grobe Sauen und neun ftarfe Scaufler; einige beſonders ſtarke Keiler hatte er wiederum mit der Saufeder abgefangen. Graf Walderſee ſchoß elf, Herr von Podbielski acht Grobe Sauen. Selbſt der beſte Jäger kann in vierzig Minuten nicht dreiundvierzig Stück Schwarzwild erlegen, wenn die Thiere nicht direkt vor den Lauf getrieben werden.“ Ich war nie auf Hofjagden. a u: i

Hidigeigeiin Hamburg: Bismarchk, ſoll der Kaiſer gejagt haben, gab dem Volk, das Bouillon brauchte, Champagner? In der Beitung ſtehts: auch, daß mit dem Champagner das allgemeinen Wahlrecht gemeint jet. Obs wahr ift? Und was man ji) unter der Bouillon zu denken habe? Sie müjfen fid) an einen Hofınann wenden. Ich weiß nur, daß Biemard an den Nährwerih der Bonillon nicht geglaubt hat und daß fein Arzt zu fügen pflegt, es fei nicht unvernünftiger nur unappetit⸗ licher —, Urin zu trinken, ale ſichm mit Thierfleiſchbrühe den Magen vollzupumpen.

Herausgeber undı deruntworti.cger odat. car: u Dardın in Dr, n. Verlag der r Zutunit in Berlin. Trud von Albert Dande in Berlin Schöneberg,

Berlin, den 24. Januar 1905. —— ——

Babel, Bebel, Bibel.

berliner Konzertſaal. Auf den Ehrenplatzen der Deutſche Kaiſer mit feiner Frau, der Kanzler des Reiches, der preußiſche Kultusmis nifter, die befannteften Hofprediger. Auf der Katheder ein Afiyriologe und Direktor der Königlichen Muſeen, der beweifen will, daß die zum Kranz der altjüdifchen Mythen gemundenen Blätter und Blumen in Babylonien ge» wachen find, daß der Monotheismus nicht etwa von Iſraels Genius erfonnen ward, fondern, jehr lange vor Moſes, in der frommen Vorftellung nordſemit ifcher Beduinen entftand und dag nur Aberglaube in der Bibel eine perfönliche Offenbarung Gottes jehen kann. Haben wir foldhe „unmittelbare Gottes⸗ offenbarung“ denn verdient? Nein, antwortet ber Redner: „benn gerader zu frivol Hat die Menfchheit die zehn Worte auf den Gefegestafeln vom Sinai bis auf biefen Tag behandelt". Und auch diefer Delalog, fügt er hinzu, and) das moſaiſche Geſetz ſtammt nicht aus bem von neuem Sehnen befruchteten Schoß Iſraels, fondern ift, wie wir jegt wiffen, nur eine Wie- derholung babylonifcher Legenden; Hammurabi ſchon, der faft neunhundert Jahre vor Mofes König von Babylon war, empfing, wie die Schrift unter einem uralten Steinbild uns lehrt, vom Sonnengott feine Geſetze. Nur im wachen Gewiffen des Menſchen fpricht Bott. Das Alte Teftament ift eine Sammlung importirter, von ſemitiſcher Bhantafie bearbeiteter Mären, iſt Menjchenwert, das der nachprüfenden Kritik morſch erſcheint und ſchon deshalb nicht als unverrückbar fefte Grundlage unſeres Glaubens betrachtet werden darf. Die Reformation hat Manches überwunden ; doch fie war nur eine Etape und wir müffen weiter. „Das große Wort von ber Nothwendig- 10

Die Zutuuft.

ntwidelung der Religion ift (von

; ber Nebner mahnt, dieſes Wortı

fer Verneigung vor dem, Adlerbli

eis gelungen, dann find bie Wurz

Glauben an die „Heilige Schrift"

‚tes ſtürzt das ganze ehrwürdige

ſcheint der Beweis gelungen; fi

rubelik ihr Ohr erfreut. Auch von d

fein Echo zorniger Inbrunſt. Die

Rultusminiftergebenfich Mühe, in

ie erbaut hat. Der Kaifer ſchüttelt

edrich Delitzſch, und ſtellt ihn feiner?

‚ie an den Affyriologen huldvolle

ham dreizehnten Januar 1903. ©

yen Jahr Herr Profeſſor Delitzſch

il ſchon einmal gefprochen. Auch

Alterhöchften Befehl“ wurde der Ve

ern und Fraun am Hof ihm lauſch

dt, der zweite einſtweilen nur au

dner nicht genügen. Seine Abficht

1" uns erfennen. Er fteht ſtaun

iund der Keilſchriftforſchungen.“

Belt für fi"; mit Babylonien und Aſſyrien ſchon war

erthum „von Anfang bis zu Ende verfettet“. Geitalten,

fer des alten Legendenkreiſes werden unferem Blick leben:

estypus des Elamiten, Babylonier, Zudäer, Iſraeliten,

räthfelte Steinbilder uns. Und auf Schritt und Tritt uch, das zum hebräifchen Mythenkranz die Blätter und haben muß. An die Ausfegung Mofis erinnert die Les

idheit Sargons des Eriten. Wie Jeſaias die aſſyriſchen fo ſchauen wir fie auf den Alabafterreliefs der Paläfte

ıheribs, auf den Bronzethoren Salmanafjars. Die Form

Ipferwejen, das Münz⸗, Maß- und Gewichts-Syftem

tämme Iſraels ſich aus der Alles beherrfchenden babylo-

naans. Vom Euphrat und Tigris ftammt die Sabbath. Jahre vor Eprifti, ſechshundert Jahr vor Mofis Geburt

die Geſchichte einer Sintfluth aufgezeichnet, deren Noah

Babel, Bebel, Bibel. 181

Xiſuthros hieß; und die zehn Könige, die vor der Fluth in Babylonien herrich- ten, rufen ung die zehn vorfintfiuthlichen Urväter des Alten Zeftamentesing Gedächtniß. Weltichöpfung, Schlangenmythos, verbotene Frucht, Sünden- fall, Scheol mit Paradies und Wüfte, Kerubim und Seraphim: das Alles fand Iſrael im babylonischen Kulturkreis. Und dieje Kultur wirkt in ung fort, wenn wir die Stunde in fechzig Deinuten, die Minute in jechzig Se- kunden theilen und am Himmel die zwölf Thierbilder unterfcheiden. Sogar Spuren monotheiftifcher Regungen hat man am Euphrat ausgegraben und drei Thontäfelchen aus ber Zeit Sinmubalits und feines Sohnes Hammurabi tragen die Inſchrift: „Jahwe ift Gott." Selbft Jahwe alſo „ist ein uraltes Erbtheil jener fanaanäifchen Stämme, die um 2500 vor Chriſti Geburt in Babylonien jeßhaft wurden und aus benen daun nad) Sahrhunderten die zwölf Stämme Iſraels hervorgehen follten”. Leider war Babylons Volk inreligiöfen Dingen fo indolent, daß es, trotzdem freie Geifter mahnten, in Marduk, dem Lichtgott, alle anderen Götter zu ehren, dreiJahr⸗ taufenbe lang den Polytheismus als Staatsreligion erhielt. Das Beifpiel ſollte ung warnen, uns nicht ruhen lafjen, bis die Neligion der Propheten und des Galiläers von den babylonifch-affyrifchen Vorftellungen befreit ift.

Nicht jo weit ins dunkle Land der Theologie wagt fich ein anderer Orientalift vor, der berliner Privatdozent Dr. Hugo Winckler, deffen Schrift „Die babylonifche Kultur in ihren Beziehungen zur unjerigen” mic) lehr⸗ reicher dünkt als Delitzſchs zwiſchen Schwärmerelftafe und Feuilletonſtil ſchwankende Darftellung. Windler jpricht als Affyriologe; er will Nefultate feiner Wiſſenſchaft ind Volk tragen, nicht irrende Seelen zum Heil führen. Die neuen Entdeckungen find ihm wichtig, weil fie ben Begriff der ges Ihichtlichen Zeit erweitern; die „Weltgejchichte” begann uns bisher im fiebenten, eigentlich erft im fechsten Jahrhundert und jest haben wir alt- orientalifche Urkunden, die bis ins Jahr 3000 vor Ehriftt Geburt zurüd- reichen. „Was früher der Anfang war, ift jett in die Mitte getreten“ ; und diefe Erweiterung des Sehvermögens Ichafft ein völlig verändertes Bild der Menfchheitentwidelung. Die älteften Urkunden find in fumerifcher Sprache geichrieben, der Sprache der Gelehrten und Priefter, die für den Orient un gefähr die felbe Bedeutung hatte wie für den Occident das Latein; nur hat das Volk, das fie ſprach, ung kein Lebenszeichen, fein Denkmal hinterlaffen. Nicht nad) ihm nennen wir die Kultur, auch nicht nach den Affyrern, die zu- let mit ftraffer militärticher und bureaufratiicher Zucht am Euphrat und Tigris, in Syrien und Baläjtina herrichten, wie Preußen heute in Deutfch-

10*

182 Die Zukunft.

land herrfcht; wir reden von babyloniſcher Weltanfchauung, babylonifcher Götterlehre. „Eine Geftirnreligion. Zahlloſe Götter, die aber nur Offen- barungformen ber einen großen göttlichen ®ewaltfind. DerSternenhimmelift das große Buch, in dem die Geichichten von Himmel und Erde verzeichnet find und aus dem man fie ablefen kann. Dem Babylonter offenbart fich aller göttliche Wille in den Sternen und alle irdiſchen Einrichtungen müſſen des⸗ halb ein Abbild der himmlischen fein; das Bild eines geordneten Staats- weſens muß genau bem himmliſchen Vorbild entiprechen.“ Die Babylonier waren die Zehrmeifter der Dienfchheit in der Aftronomie, die den Sterngläu- bigen auch Aftrologte werden mußte. Bon ihnen lommt das Seragefimal- jyftem, das inunferer Kalendereintheilung fortwirtt. Aus ihrem Kulturkreis holte Pythagoras feine Lehre. Unfer Karneval hat ein Vorbild in einer Zeit übermüthigen Mummenfchanzes, die in Babylonien nad) unferer Rech⸗ nung im Februar ben Beginn eines neuen Jahres feierte. Wenn wir von einer Ausdrudsform fagen, fie gehe über das Bohnenlieb hinaus, fo kehrt in folddem Wort die Erinnerung an die im babylonijchen Karneval gewählte Bohnenkönigin wieder, der robufte Lebensluft derbe Lieder fang. Marduk, der Thör ber Germanen, ißt gern Erbfenbrei und fein Thier tft der Eber: noch heute wird in manchen Gegenden Norbdentichlands am Donnerftag (Thors Tag) Erbjenbrei mit Schweinefleifch gegeffen. Die Zwillinge des Thierkreifes, in deren Zeichen am Anfang der babyloni- chen Kultur die Frühlingstagesgleiche fiel, wurden uriprünglich als zwei Biegenböde dargeftellt. „Das find die beiden Thiere Thors, die er vor einen Wagen fpannt. Sie find uns in ihrer Symbolik als Zeichen des Frühjahrs fehr vertraut im Bocbier, deſſen Erklärung jo lange räthjelhaft war; es ift das Frühjahrsbier, und wenn die Pyramiden die Meberlieferung von fünf Jahrtauſenden darftellen, fo fpricht aus dem Zeichen des Bodes zu ung ein Altertfum von fiebentaufend Jahren.” Die Vorftellung von ben fieben Himmeln ift der babylonifchen Anfchauung entlehnt, die den Thierkreis als ein fiebenftufiges Amphitheater ſah. Aus Babylon hallte der Fluch, Staub frefien zu müffen, der Schlange nah. Aus Babylon kam den Ptolemäern, Seleuziden und Caefaren der Anſpruch, als Götter geehrt zu werden. In Babylon fand Campanella das Muſter feinesSolarierftaates. Dem babyloni⸗ ſchen Neujahrsmythos entwuchs die Märchengeſtalt des Däumlings. Und fo weiter... In der Schätzung der hohen, durch die Jahrtauſende wirkenden Kultur der Babylonier ftimmen beide Affyriologen überein. Winckler bleibt nüchtern, auch wenn er die ungeheure Geiftesarbeit bes alten Volles preift,

Babel, Webel, Bibel. 188

das ſich eine einheitliche Weltanſchauung zu fchaffen vermochte. Delitzſch aber ruft, die Summe diefer neuen Erkenntniſſe werde „das Leben der Menichen und Völker tiefererregen und bedeutfameren Fortſchritten zuführen als alle modernen Entdeckungen der Naturwiſſenſchaften zufammen”. Wirklich?.. Der Laie kann die Ergebniffe ber Spezialiftenarbeit nicht nachprüfen, nicht entjcheiden, ob die Keilichriftforichung fernen Enteln nicht eben jo wunderlich jcheinen wird wie uns das Mühen der Aftrologen. Wohl aber darf er fragen, ob die gerühmten Reſultate denn gar fo neu find; und diefer Frage kaun ber leiblich Gebildete die Antwort finden. Giebt es feit geftern, feit vorgeftern erft eine wiſſenſchaftliche Bibelkritik? Delitzſch er- innert felbft an Jean Aftruc, den Leibchirurgen Ludwigs des Vierzehnten, als an den Mann, der vor hundertundfünfzig Jahren, nach Goethes Wort zuerft „Meſſer und Sonde an den Pentateuch legte” und erfennen lie, daß die fünf Bücher Mofis „ans jehr verjchiebenartigen Quellenfchriften zufammengeftelli find”. Und feitdem find bie Orientaliften beider Erbtheile nicht müßig gewefen. Daß aſſyriſche und egyptiſche Leberlieferungen in<Yiras els Inftitutionen fortwirkten, hatte ſchon Montesquieu geahnt. Vor fünfzig Jahren fchrieb Paul de Lagarde, der gelehrte Sammler der „Materialien zur Geſchichte und Kritik des Pentateuchs“: „Das, was wir heute Altes Zeftament nennen, bat mit der jüdijchen Neligton herzlich wenig zu thun. Der Monotheismus ift nichts ſpezifiſch Judiſches: Chinefen, In⸗ der, Griechen, vermuthlich auch Egypter haben ihn gehabt; er ift das noth- wendige Ergebnißdes Denkens und an fich ohne jeden ethiichen Werth. Mo⸗ notheismus ift jo wenig Religion, wie das Willen um die Einwohnerzahl Deutichlands deutjcher Patriotismus, und das Wiſſen, daß man nur eine Mutter hat, kindliche Liebe iſt.“ Ein Vierteljahrhundert danach fagte er, ber egpptifche Stamm der Leviten habe, als Erbe und Träger alter Kultur und höherer Bildung, die femitifchen Horden unterjocht, nannte das Volk Iſrael „eine Mifchung ganz verichiedener Beftandtheile” und erinnerte an bie fteten Beziehungen der Oftjordanländer zu den Beduinen der Wüfte, an den von dort fommenden Einfluß und an die „arabijche Seelenftimmung” ‚ber Propheten. ALS fein Freund Renan die Histoire du peuple d’Israöl ſchrieb, konnte er ſich ſchon anf diefritifche Vorarbeitder Reuß, Graf, Kuenen, Nöldeke, Wellhauſen, Stade ſtützen und im Vorwort für das Licht danken, das aus Masperos egyptologiichen und Schraders afiyriologiichen For⸗ Ichungen auf feinen Weg gefallen jei. Im erften Band - - wo die Bibel die ſchlimmſte Feindin der Wifjenfchaft genannt wird füllt die Schilderung

184 Die Zukunft.

des altbabylonifchen Einfluffes ein ganzes Kapitel, das ſch

der jegt von Delitzſch popularifirten Entdedungen meldetu

fließt: „Nicht erfunden hat das Volt wandernder Hirte

digen Gefchichten, aber ihren Erfolg gefichert. Nur in de

die der femitifche Genius wirkte, konnte die Schöpfungle

die Welt erobern.“ Der Name Jahwe, hören wir, fei den

lehnt; auch die in Ninive gefundene Biegelfteintafel, auf der

Sintfluth erzählt ift, erwähnt Renan ſchon. Andere Bern

Achnlichkeiten der Hauptreligionen des Orients mag man nem, von Nietzſche gern gelefenen Bu Manou,Moise,Mahı

weil nun weitergegraben und weiterentziffert, weil nach de

manche neue ansLicht gebracht iſt: deshalb ſoll der Menſchheit

dämmern, ſollen moderne Völker in brünſtiger Wonne ru!

lux? Das iſt der Traum eines Spezialiſten, der ſich in

ſponnen und gar nicht gemerkt hat, daß die Fäden, die ihn

an die Gefühlsiphäre der Maſſe hinreichen. Die Menfcher

noch heute nicht Menſchenwerk, fondern perfönliche Offenb

werden auf Delitzſchs Wort nicht andächtiger Taufchen c

ftärferer Vorarbeiter. Und die Anderen find nicht von den

fehrt worden, fondern von den Naturforjchern, deren „E

von ber Gnadenſonne beftrahlte Brofeffor fo gering ſchät

die Frage, in welchem Umfang der babylonifche Mythos in

nachgewirft hat, unendlich wichtiger war die Erfenntniß,daß unjere Erde nicht der Wittelpunft der Schöpfung ift, fondern ein Heiner Planet; denn der Mor⸗ genwind diefer Erfenntniß wehte alle Kosmogonien der Mythentage hinweg. Primus in orbe deos fecit timor. Diefe von der Furcht gefchaffenen Götter leben, fo lange fie den Zitternden ein Hort find, und fterben, wenn neue Gefahr auftaucht, gegen die ihre Macht ſich unwirkjam erweift. Die Enthüllung feiner Herkunft hat nie einen Gott getötet.

Der Yärm, der den Neben des Profeſſors Delitzſch nachhallte, wäre unbegreiflich, wenn er der Neuheit der Verfündung gölte. Doch felbft der fteptifche Beurtheiler neudeutſcher Kultur kann nicht glauben, erft daS über „Babel und Bibel“ Gefagte habe die Mehrheit der gebildeten Laien bie „Heilige Schrift” richtig ſchätzen gelehrt. Ein Zeitungichreiber, derfein Leben lang auf den Gemeinplägen des Parlamentarismus und der Parteipolitik das Zutter gefunden hat, mag die Behauptung, die Bibel ei aus babylo— nifchen Ueberlieferungen entftanden, „neu und fühn“ nennen: die Thats

\ Babel, Bebel, Bibel. 185

Sache ift längft fogar in foztaldemofrattichen Volksſchriften ſchon erwähnt worden, und mer nte davon hörte, konnte ſich dennoch denken, daß Iſraels Ge- fegbücher von fremden Elementen eben fo wenig frei geblieben find wie irgend eine moderne Staatsverfaffungoder Sittenlehre. Das Alte Teftament, gegen deifen Moral antifemitifche Gelehrte und Demagogen fo oft zum Kampf ge- rufen haben, ift ung eine Sammlung wundervoller Sinngedichte und pen, deren Werth die größere oder geringere Undurchſichtigkeit ihres Urfprunges nicht mindern kann. Daß dieOrthodoren, Katholiken, Proteftanten, Juden, in Bewegung kamen, hat einen anderen Grund; nicht der Nedner hat fie aufgeſcheucht, fondern der Beifall, der ihm von dem an Rang höchften Hörer geipendet wurde. Und ihr Bangen, ihr zaghaft nur ausgejprochener Groll ift Teicht zu verftehen. Der Glaube an die perfönliche Offenbarung Gottes, der wir die Heilige Schrift danken, war bis jest Staatsreligion; wer im Staat warm gebettet jein wollte, mußte diefen Glauben bekennen. Weh Jedem, der an der moſaiſchen Genefis zu zweifeln wagte! Viertauſend Jahre nach Babels großer Zeit lebten wir in babylonifchen Borftellungen, follten wenigjtens nach offizieller Weifung jo leben. Nicht vom gejtirnten Himmel zwar lafen wir die alles Handeln und Wandeln der Einzelnen und ganzer Völker bindenden Regeln ab; doch wir hatten ein Buch, aus dem Gott zu uns ſprach, der freie Schöpfer des Himmels und der Erde. Er hat Alles vorausbejtimmt, die Bahnen allen Gejchehens vorgezeichnet; und die Aufgabe des Staates, der Kirche, der Wiffenfchaft ift, zu beweiſen, daß die menfchlichen Einrichtungen dem göttlichen Willen angepaßt find, der fich in dem Heiligen Buch offenbart hat. Nicht neue Lehre follte gefun» den, jondern die alte vor VBerdunfelung bewahrt werben. Die Aufgabe war manchmal recht ſchwer zu bewältigen. Der neuere widerjprad) dem älteren Bibeltheil und follte doch der Verheißung Erfüllung bringen. Die Weisheit der Propheten, Evangeliften, Apoftel bot feine im Kampf ums Dafein braud)- bare Waffe. An allen Ecken riß die AlltagSarbeit, der Alltagsſchacher Köcher in das Drientalengemwebe. Man half fich, jo gut e8 ging, trug das Prunfge- wand nur noch an Feiertagen und war fchon zufrieden, wenn die Kippe die vorgejchriebene Satzung ſprach. An der durfte nicht gerüttelt werden; denn nur am feiten Dogmenfpalier reift eine Staatsreligion. Und nun? Nun fol die Religion „weiterentwidelt” werden. Nun giebt es keine „Gottes⸗ offenbarung außer der, die Jeder in feinem Gemiffen trägt”. Das jagt nicht nur ein unbeträchlicher Profelfor: Das billigt der Deutjche Kaiſer, der jelbe Kaijer, der im Juli 1900 feiner Schiffsmannſchaft in einer ganz

186 Die Zukunft,

dem altteftamentarifhen Miythentreis entnommenen Pre als Vorbild gezeigt und noch vor ein paar Monaten in ! Beide hriftliche Konfeffionen müfjen das eine große, halten, bie Gottesfurcht und die Ehrfurcht vor der Religit zu ftärfen. Ob wir moderne Menſchen find, ob wir auf Gebiet wirken, ift einerlei: Wer fein Leben nicht auf die L ſtellt, Der ift verloren.“ Wo aber ift die haltbare Bafis e nicht mit ſtarlen Wurzeln im Heiligen Lande der Träume ihren älteften Faſern gelöft und „weiterentwidelt“ werbe Teftament ſcheint als Grundlage janicht mehr zu brauchen litzſchs Vortrag, hat Masperounserzählt,in Suſa ſei das & rabis gefunden worden. Der große König von Babylon maı nicht im Menſchenſinn, ſprach er zu feinem Volk, wuchs fol ein Königkonnte ſie nur vom Höheren Herrn des. Himmels e befahl, im Steinbild den König zu zeigen, der nach dem Di das Gejegniederfchreibt. Vielleicht Hat fich fein Koderdeshall Die Unruhe der Orthodogen ift nicht grumdlos. frommen Joſeph de Maiftre gelernt, daß die Gefahr der bebroßt, berdie Fundamenteeines alten Baues aufgräbt. 2 zittern fie, nicht vor babylonifchen Ausgrabungen; denn c die Enthüllung feiner Herkunft nie einen Gott zu töten x Gemeinde ift nicht Meiner geworden, feit der Rationalisr Jungfrau verbannt und, ftatt dem Himmelsbeherrfcher, 1 die Ehrender Vaterſchaft zuerkannt hat. Doch derinlanger Briefterinftinkt wehrt ihnen die Hoffnung, unfere an Leide bildnerifchen Kräften arme Zeit könne einen neuen Glaul einen fehen fie; und der freut ihr Auge nicht. Der findet, Menfchheit Habe die zehn Worte vom Sinai bisher „gera beit.“ Der will auch, auf feine befondere Weiſe, die Religio Und die in die Hofmode gefommene Wahrheit, daß nur in wiſſen Gott ſpricht, hat er Längft in den Sag gefaßt: Relig

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Ein Preßgeſetz. 137

Ein Preßgefeb

ar” hundertundliebenzehn Fahren jchrieb der Engländer George Crabbe, SL der zuerft Chirurg und dann Theologe war, ein fatirifhes Gedicht, The News-papers, da3 jich gegen die wachſende Fluth der Zeitungen richtete. Hier einige zierliche Berfe daraus, die zeigen, wie damals die fchulmeifternde gelehrte Dichtung in der Furcht, von den jungen Riefen des Journalismus verdrängt zu werden, die ephemere Art feiner Erzeugniffe geißelte und gegen die Gefahr einer Berödung des geiftigen Lebens Front machen zu müſſen glaubte: „Ad, Euer Zauber hat gelockt die ſchwanke Menge! Des Leſers Auge bannt ein buhleriſch Gedränge, Ein täglich neuer Schwarm von Blättern fonder Zahl. Der Sterbliche benennt die Törlihen: Journal. Und ungelefen liegt der edlen Geilter Banb Und unbemühet ftirbt, was der Olymp gejandt“. „Der Zeitung wendet ſich der Blid des Leſers zu: Wem es vor Büchern graut, bei Blättern bat er Ruh!“ Des Schickſals Güte mweiht Sie eines Tages Ruhm und eines Tages Zeit. Sorglos ſchreibt, wer fie jchreibt, jo Vieles grad’ zuſammen, Wie viele Worte ihm die Beile fertig rammen, Wie viele Beilen ihm die Spalte abjolviren, Wie viele Spalten ihm das Ganze ausmöbliren”.

Freilich: das Leben des Journaliften war damal3 eben fo wenig von Sorgen und Dornen frei wie heute und felbft im freien England ftanden Geld⸗ und Gefängnifftrafen, ftand fogar der Pranger für ihn in Bereitfchaft. Bedeutende StaatSmänner wie Burke und Pitt erflärten fih im Allgemeinen für Preßfreiheit, wurden aber höchſt empfindlich, wenn die Preffe jich gegen ihre eigene werthe Perfon wandte, wie ja auch der felbe preußiſche Herrfcher, defien Wort von den „Gazetten, die nicht genirt werden müſſen“ geflügelt ward, fi, wo fein Intereſſe ins Spiel kam, durchaus nicht befann, einen widerfpenftigen gazettier mit einer Tracht Prügel zu der wünfchenswerthen Parität in der Zeitungberichterftattung bririgen zu laflen. Wie anders alfo die Stellungnahme zur Preſſe in der Arena der politischen Antagonismen als in ber poetiſchen Spiegelung bes Pfarrerd von Townbridge! In der That war politifch der maßgebliche Geſichtspunkt, von dem aus Preßfreiheit gefordert wurde, ſtets die mit einem ungemefienen Glauben an bie Wirlens- fraft des freien Wortes gepaarte Ueberzeugung, wenn nur jede Feſſel gelöft fei, werde das geiftige Leben fich in der Preſſe fräftig regen; und der Wider: ftand gegen dieſe Forderung entfprang dem felben Glauben der Gewalthaber,

11

188 Die Zukunft.

denen eben an Erwedung, Aufklärung, eigenem Urtheil und Selbftändigfeit der Maflen nicht? gelegen war; mit anderen Worten: die felbe Prämiffe bei Preibeförderern und Befehdern, eine Auffaſſung, die an der Bedeutung der Preffe für eine flarfe Intenſifikation des geiftigen Lebens nicht zweifelt.

Iſt die Prämiffe überhaupt oder doch für gegebene Zeit und gegebenen Drt falſch und vielmehr die Lontradiftoriihe Gegenprämiſſe richtig, dam müſſen politifch Preßbeförderer und Preßbefehder ihre Rollen taufchen; und fo erflärt e8 fich, daß bei der fliegenden Beichaffenheit des Zeitungweſens und in dem Wandel der Anfichten über feine Konkrete Wirkung dern auch gelegentlich die Rollen ausgetaufcht worden find. Zwei hervorragende Bei⸗ fpiele aus dem Kampf der Meinungen in Deutfchland mögen Das beftätigen. „Haß und Verachtung, Tod und Untergang der heutigen Preſſe!“ rief Laſſalle im Jahr 1863 den deutfchen Arbeitern zu. Das Annoncengefchäft fei die Ur— fache des Verderbens: werde e8 den Zeitungen gefeglich unterfagt, dann müſſe „von Stund an der Beitungfchreiber von Metier aufhören und an feine Stelle der Beitungjchreiber von Beruf treten.” War das in der Weißgluth des höchſten Pathos flamnıende Berdammungurtheil des beredten Agitator8 nun doch nur eine ungeheuerliche Lebertreibung, fo war fein Allheilmittel ungefähr dem VBor- fchlag vergleichbar, den Anbruch des Frühlings durch Staatsgeſetze zu dekre— tiren. Cr überſah oder wollte nicht fehen, daß feit dem erſten Inſeraten⸗ blatt, der Feuille du bureau d’adresses des franzöjifchen Arztes Renaudot von 1633, ſich Zeitungen und Annoncen überhaupt pari passu entwidelt haben. Und wie fteht e8 um die von ihm vorausgefagte Degeneration? Weder ift, ohne daß jich die Grundlagen des Zeitungweſens inzwifchen ver⸗ ändert hätten, feit feiner Prophezeiung der Volksgeiſt fchlechter geworden noh auh nur unter Anderem die Entftehung einer Arbeiterprefie unmöglich gewefen, der er felbit, wenn er fie erlebt hätte, den ehrlichen Willen nicht beftreiten würde, mit den idealen Intereſſen des Volles, wie fie dieſe verfteht, Ernft zu machen, und auch fie eriftirt mit und von dem Annoncen= gefchäft. Dagegen wurzelt heute fo mande üble Eigenjchaft der Preſſe be- fonder8 ſtark in den annoncenlofen „Urzeitungen“, jenen nicht für die Oeffentlichkeit direft, fondern für die Redaktionen beftimmten mechanifch ver: vielfältigten Storrefpondenzen, deren Abklatſch die Zeitungen in gemiffen Theilen find. Und etliche zwanzig Jahre nach Laſſalle war es der wunder⸗ lihe Konfervative Böttcher De Lagarde, der die volle Schale apofalyptifchen Zornes über die gefammte deutfche Prefie ergoß. „Deutſchland“, fchrieb er, „er= fäuft nachgerade in den ebbelofen Wogen des Holzpapieres*, „durch die Preife iſt Deumfchland ein großer Sumpf geworden“; und fo weiter. Der leib— haftige D:8 Effeintes in der deutfchen Publiziftif, der verzmeifelnd fein „Croule donc, vieux monde!“ ftöhnt; die Menfchheit aber will und fann felbit dem geiftreichften & rebours nicht Gehör fchenfen.

Ein Preßgeſetz. 189

Nebenbei darf erwähnt werden, daß 1867 eine auf Wuttkes Arbeit „Die deutfchen Zeitfchriften und die Entftehung der öffentlichen Meinung“ (1866) geftügte Schrift von Joſef Lukas „Die Preffe ein Stüd moderner Berfimpelung” erfchien und im felben Jahr zum zweiten Mal aufgelegt wurde. Der logifche Ausgangspunkt diefer Leidenfchaftlichen Anklagen gegen die Prefie ift, was Wuttke in feinem Beitrag zur Geſchichte des Zeitung: wefens nüchtern und präzis fo ausdrüdt: „Wenn Jedem, der etwas Rechtes zu fagen weiß, Etwas nämlich, da8 werth ift, von Anderen gekannt zu fein, die Öffentliche Miittheilung feiner Gedanken und Erfahrungen auch wirklich freifteht, Das heißt denn im Leben Handelt e3 fi) wenig um reine Möglichkeiten —, falls ihm Solches möglich ift, ohne daf er ein Opfer zu bringen nöthig hat, und ferner, wenn die Stimmen, bie in der Prefle laut werben, auch wirklih Das hören laffen, was Die, welche ſich ‘in ihr ver- nehmbar machen, gerade fo willen und genau fo meinen, dann allerdings ift

in der Preffe eine mächtige Bürgſchaft fortfchreitender Entwidelung vorhanden.

Allein die bloße Freiheit der Prefje enthält noch Lange nicht diefe nothwendig vorauszufegenden Bedingungen. Ob und wie weit fie da jind, hängt viels mehr an der Beichaffenheit des Zeitungweſens. An der großen Gewalt der Preſſe ift durchaus nicht zu zweifeln; man unterfchägt fie fogar noch gemein- bin und fieht darum 'die Zeitungichreiber zu gering an. ft jedoch das Zeitungwefen in einen verkehrten Zuftand Hineingerathen, fo fchlägt es viel- mehr einem Volke zum Unheil aus, befördert Verkehrtes, unterbrüdt heil fame Beftrebungen und zieht den Sinn der Nation in der ſchädlichſten Weife herab.“ Wuttle glaubt aber trog den Schattenfeiten, die er felbft rüdjichtlos aufdedt, an eine Sanirung und gemeinnügige Weiterentwidelung der Preſſe aus ihrer eigenen Natur heraus, weil bei allen Kräften und Mitteln, die die Menfchheit neu gewonnen habe, ſich die nachtheilige Wirkungskraft erft erichöpfen müſſe, ehe fie ihren vollen Segen verbreiten könne. Dabei ftreift er das Problem, wie man heute Zeitungen lefen folle, und empfiehlt: man leſe gegenjägliche Zeitungen; man halte fi) an da8 nadt Thatſächliche, Tege aber auf die meiften Betrachtungen leinen Werth; man leſe ungläubigen Sinne.

Wenn man der heizen politifchen Hoffnungen, die bis zur Mitte des Jahrhunderts von den Beten im Boll auf die Gewährung der Preffreiheit geſetzt wurden, des Ringens der liberalen Demokratie und des Gegendruckes des Metternichigftemes gedenft und vergleichend erwägt, wie die Gegenwart zur Prefle und die Preſſe zur Gegenwart fteht, jo muß man allerdings einen ftarfen Wandel Tonftatiren. Wahr ift, daß die periodifche Preffe uns in einer früher ungeahnten Weife zum „unentbehrlichen Lebensmöbel“ geworden ift; daß fie, überall und um ein Geringes erhältlich, fich jeder anders nicht aus⸗ zufüllenden Viertelftunde des Kulturmenfchen als geifliger Lückenbüßer bes

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F 2 a mächtigt bat; daß die Mehrheit aller Zeitunglefer fich eher ſämmtlicher

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Idealismen entfchlagen würde, für die ihre Zeitung eintritt, als daß fie fich

. der Zeitungen felbft berauben ober ſich die Lecture auch nur verfümment

ließe; wahr ift, daß die äußere Verbreitung, Macht und Fülle der Zeitungen ungeheuerlich gewachſen ift und daß fie mit ihrem Heer von Angeftellten und Affilüirten, ihren Schnellpreffen und Setzmaſchinen, ihrem Telegraphen- und Poftdienft, ihren Abbildungen und Interviews, ihren Inſeraten und Rekla—

- men wie ein Riefenpolyp die Erdkugel umfpannt halten: ja, wahr ift nicht

nur, daß das Beſte, was fie an geiftigen Leiftungen aufmeifen, für fi und frei von dem überwuchernden Geſtrüpp des Schlechten gedacht, den höchfien bisher erreichten Stand der Journaliftif zeigen würde, fondern auch, daß fie eine dortreffliche und unvergleichlich reiche Thatfachenmofait von bedeutenden: Werth bieten. Wahr ift aber au, daß dieſe Thatſachenmoſaik weit davon entfernt ift, ein zufammenhängendes Thatjachenbild zu fein; daß ein fehr großer Theil des Haftig aufgegriffenen Stoffes nur der oberflächlichen Be: friedigung gedankenlofer Neugier und werthlofem Senfationenbedärfnig dient und daß im miodernen Preßbetrieb neben dem Guten das fi ſchamlos fpreizende Schlechte und Schlechtefte wohlgemuth in aller Breite fchaltet. Der proto= typifche Begründer de8 „New Nork Herald“ fand ein Mittel, die Aufmerffam: feit auf fein Blatt zu lenken, darin, daß er mit großen Lettern affichirte: „Der. James Gordon Bennett öffentlich durchgepeitfcht“; bald danach konnte er fih vor feinen Xefern rühmen, fogar zum zweiten Male durchgepeitfcht worden zu fein. Und der wiener „Figaro“ durfte fi im Jahre 1878 mit Recht die Perfiflage erlauben: „Die hiefigen Revolverjournaliften wollen in Gemeinschaft mit den Obrfeigenjournaliften einen Berein zur Wahrung der Standeöverunehrung gründen“. Wahr ift, daß die heutige Preſſe, von un- zähligen Handlangern für die Augenblickswirkung bedient, ſtets das Geftern über das Heute vergeflend, „ſtets neu, ſtets intereflant, ſtets wachſam, wichtig und alarmirend“, wie fie fein will, mit allen Liften und Sclichen des be trügerifch drapirten Sonderinterefjes arbeitend, im faltiöfen Berfchweigen eben jo gefchidt wie im entftellenden Hervorheben, in ihren fonfurrirenden Organen jich gelegentlich bis in die telegraphifchen Meldungen hinein wibderfprechend, da, wo fie e8 auf die größte Diafjenverbreitung abfieht, um feinen möglichen Käufer, Abonnenten oder Inſerenten einzubüren, in wäfferigiter Chawafter- lofigfeit und Mittelmäßigteit plätfchernd, als Lehrer und geiftiger Führer im Bölferleben nicht mehr gelten Tann. Daher mag Heute der in den Regirungen verkörperte und um fich felbft beforgte Staat, der ſich noch dazu aller Fertig⸗ feiten und Künſte der Zeitungpreſſe längft bemächtigt hat, unter Umftänden die überlieferte politifche Gegnerſchaft fallen Iafjen und einem ungefährlichen Popularitätbebürfnig Rechnung tragen, wenn er felbit alte Schranken zum

Ein Preßgefeg. 141

Theil niederreißt. Die Zeiten find vorüber, da „Viele, die Degen trugen, ich vor Gänfelielen fürchteten“. |

So hat ſich jest denn auch die Öfterreichifche Negirung beivogen ge= funden, dem Reichsrath einen Entwurf vorzulegen, der die Preſſe von alten Ketten zu befreien verheißt. Sie hat dabei nicht nur den einft innerhalb der ſchwarzgelben Grenzpfähle fo verpönten eilt der Zeit, der „ſich gegen die verbliebenen Fundamente des alten Gefeges auflehne“, zur Pathenſchaft gebeten, fondern fi außerdem zur fchmeichelhafteften Anerkennung der be: deutenden Stellung, die der Preffe im fozialen Leben zuzugeftehen fei, ent: fchloffen. In der Begründung des Entwurfes heißt e8 wenigftens: „Wenn auch viele Materien, welche die Zeitungen behandeln, vom Streite der Par: teten fo weit beeinflußt werden, daß von mancher Seite vielleicht auch jest noch der Wunſch gehegt wird, den Verbreitungskreis der Journale thunlichſt einzuengen, fo ift e8 doch wohl richtiger, einzelne Widrigkeiten mit in den Kauf zu nehmen, um den Gewinn zu fichern, der in der geiftigen ort: bildung der breiten Schichten der Bevölkerung liegt”; und: „Eine Gefahr kann darin nicht erblidt werden, weil eine öffentlich geführte Diskuſſion eine natürliche Entladung der Meinungen und Abjichten darftellt, die weniger Un- h:il ftiftet al8 jede geheime Anftauung oder die Unterdrüdung von Gejinn- ungen und Beftrebungen, die an ihre Berechtigung glauben, daneben aber in der fich ftetS vermehrenden allgemeinen Bildung und der fih daraus er- gebenden Selbftändigfeit der eigenen Ueberzeugung eine wirffame Abwehr auch gegen Erzeffe von Zeitungen gegeben ift.“ Das Klingt fehr gut, beinahe fo gut, wie es der Weife von Frankfurt ausdrüdte, als er 1851 fchrieb: „Für die StaatSmafchine ift die Preßfreiheit Das, was für die Dampfmaſchine die Sicherheifvalve: denn durch fie macht jede Unzufriedenheit fich alsbald dur Worte Luft, ja, wird fi, wenn fie nicht fehr viel Stoff hat, an ihnen erfhöpfen. Hat fie jedoch diefen, fo ift e8 gut, daß man ihn bei Zeiten er⸗ kenne, um abzuhelfen. So geht es fehr viel befier, al3 wenn die Unzu— friedenheit eingezwängt bleibt, brütet, gährt, kocht und erwächlt, biß fie endlich zur Erplofion gelangt.” Wen folche Lehren nicht erfreun, verdienet nicht, ein Menſch zu fein, möchte Mancher mit Saraftro rufen. Nur paßt der Gedankengang, der vor einem halben Yahrhundert noch richtig war, auf die heutige Prefje eben nicht mehr. So kann man nur bedauern, daß zur rechten Zeit, zur Zeit ber Freiligrath und Herwegh, der Glasbrenner und Prutz ſolche Anfchauungweife nicht in den Minifterien zu Haufe war. Wie viel geiftige Sräftevergeudung durch gegenmwirkende Neibungwiderftände, wie viel an gemeinfchädlicher Hemmung des Fortſchrittes und vielleicht ſogar an ſchweren Erfchütterungen hätte dem Staatsleben erfpart bleiben können! Heute aber? Man muß an Ibhſens Volksfeind denken, unter deſſen Maske der

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DE "142 Die Zukunft. | nordifche Dichter gegen die „überjährigen“ Wahrheiten zu Felde zieht. „Eine

normal gebaute Wahrheit Icht, nun, fügen wir: in der Negel fünfzehn, fechzehn, höchitens zwanzig Jahre; felten länger. Wahrheiten, die hoch zu

Jahren gelommen find, haben fich bereits abgelebt. ft jedoch eine Wahr

beit fo alt geworden, dann ift fie auf dem beiten Wege, eine Lüge zu werben. * Und wie jede unklare oder fchiefe Grundanficht auch die richtige Wahl ber

_ anzumendenden Mittel gefährdet, fo fcheint der Weg, ben ber Geſetzesvor⸗

ſchlag mit feinen Neuerungen betritt, keineswegs fiher zu der proflamirien

Abrüſtung zu führen. Auch ift, wer lange gefargt hat, geneigt, jede Frei—

giebigfeit, zu ber er fich entfchließt, zu überfchägen. Oder ift die ganze libe— rale Pofe nur Schein oder Selbfttäufhung und der berühmte Warnungruf des Laokoon wieder einmal für ein Danaergefhen? am Pia?

Allerdings giebt der Entwurf die Kolportage der periodifchen Drud- Thriften frei; und daß die Freiheit des Straßenverfaufes für die Verbreitung und Rentabilität der Zeitungen vortheilhaft ift, Liegt auf der Hand. Wie viel diefer Vortheil bedeutet, lehrt freilich Feine Erfahrung. Das wird natür- (ich erft der gefeßlich nicht verbriefte Abfagumfang und zwar vielleicht als nicht ſehr erheblich herausftellen. Immerhin handelt es fich hier um das Begräbniß einer überlebten Polizeimaßregel. Eben fo bei ber mefentlichen Beſchränkung der Zuläfjigkeit einer nichtrichterlichen vorläufigen Beichlag- nahnıe. Bweifelhafter aber find die weiteren Vorfchläge: zunächſt die Reform de8 fogenannten objektiven Verfahrens. Diefe juriftifche Wunderlichfeit und ſpezifiſch öfterreichifche Einrichtung befteht darin, daß das nach Anficht. der Staatsanwaltſchaft ftrafbare. Preferzeugnit, ohne daß nad Berfafler und Verbreiter gefragt wird, alſo ohne Berfahren gegen eine beftimmte Perſon, vor Gericht geftellt und entweder freigegeben oder endgiltig verboten wird. Erleichtert eine ſolche Gepflogenheit fie ift zutreffend eine Nachcenſur ge= nannt worden das Einfchreiten gegen die Prefle um fo mehr, als dicfer im fubjeltiven Verfahren für Verbrechen und Vergehen der fchwerfällige SchwurgerichtSapparat durch die Verfaflung garantirt ifl, fo vermindeit fie doch zugleich die Stonfequenzen des Einſchreitens; und die Gewöhnung, e8 regel: mäßig dabei bewenden zu lafjen, bedeutet eine trog den läftigen Präventiv- befchlagnahmen angenehm empfundene Herabfegung der perfönlichen Gefahr für die der Preſſe Angehörigen. Diefes Verfahren fol, abgefehen von Kriegs— zeiten, nur noch in der Begrenzung, wie fie auch Paragraph 42 des deutſchen Reichsſtrafgeſetzbuches vorfchreibt; wenn nämlid die Verfolgung oder Ver: uriheilung einer beftimmten Perfon nicht ausführbar ift, zuläfiig fein. Nun fagt der Entwurf, fowohl bie Auffaffung, daß mit dem bisherigen Verfahren den Sournalen eine Wohlihat erwiefen werde, weil die Verfolgung der be= theiligten Perſonen unterbleibe, als aud die Anfiht der Prefie, daß fie

Ein Preßgefck. 145

Dadurch häufiger zit Schaden komme, als wenn eine perfönliche Verfolgung eingeleitet werden müßte, drängten zur Aenderung des herrichenden Zuftandes. Keine Wahrnehmung der Vergangenheit diene zum Belege feiner Nüglichkeit, man fönne vielleicht im Gegentheil fagen, daß die häufigen Beichlagnahmen „die Öffentliche Meinung mehr aufreizten, als der größte Theil der Tonfis- zirten Artikel es vermocht Hätte.“ Aus dieſer Begründung entnimmmt ber früher öfterreichifche Dberlandesgerichtsprälident von Krall, daß die Befei- tigung des Verfahrens im bejtchenden Umfang „nicht als eine Konzeffion an bie Preſſe, fondern als eine Staat3nothwendigkeit anzufehen fei”; und un- leugbar ift die Ausdrudsmweife der Zeitungen in Deiterreich unter dem gel: tenden Regime freier al8 im Deutichen Reich, wo der $ournalift, der Stel: lung gegen Regirung, Behörden oder behördlich gut alfreditirte Private nimmt, ſteis da8 Damoklesſchwert einer Strafverfolgung über feinem Haupt ſchweben fieht. Während ferner, abgefehen von der Friminellen Haftung für den In— balt einer Drudjchrift nach den allgemeinen Strafgefegen, das Preßgeſetz bisher zwar den Redakteur und den Berleger für die Vernachläſſigung pflicht- gemäßer Aufmerkſamkeit in Bezug auf den Inhalt den Verleger, fofern er nicht einen inländifchen Berfafler oder Herausgeber zu nennen vermag —, den Druder dagegen nur für den Bereich der prefpolizeilichen Beſtimmungen bei der Drudlegung und den Verbreiter nur im Fall einer ungefeglichen Ber: breitungweife verantwortlich macht, nähert ſich der Entwurf der gleichmäßigen Berantwortlichkeit von Redakteur, Verleger, Druder und Verbreiter für den Inhalt, wie fie im Paragraphen 21 des deutichen Reichöprefigefeged normirt ift, und fteigert damit die Fahrläfiigfeithaftuug des Druckers und Verbreiters. Eine Annäherung an die Nechtöverhältniffe des Deutfchen Reiches Kompetenz der Echöffengerichte fir Privatklagcſachen bedeutet endlih im Reſultot die vom Entwurf gewollte Umtaufe der Bergehensitrafen für Beleidigungen, die durch die Preſſe begangen werden, in blore Uebertretungftrafen, womit alle Injurien, außer den dem öffentlichen Ankläger vorbehaltenen, der ſchwur— gerichtlichen Kompetenz entzogen und an den Einzelrichter gelangen würden. Auch diefe Maßregel ift geeignet, die Preſſe mit häufigeren Berfolgungen zu bedrohen; und ift von der Indikatur der deutfchen Schöffengerichte in Prefi- beleidigungprozefien nicht viel Gutes zu fagen, fo wird man in Oeſterreich mit dem Einzelrichter wohl auch feine befjeren Erfahrungen machen. Immer- Bin ift zuzugeben, daß die Reaftion gegen die einft jo populären Schwur= gerichte al3 ein nicht nur auf Defterreich befchränftes Zeitphänomen auftrit’. Selbit die Sozialdemokratie hat hüben und drüben Anlaß, ſich gelegentlich den Berufsrichter ftatt des Bourgeoiß:Gefchworenen zu wünſchen. Das Be: richtigungverfahren fol dadurch verbeflert werden, daß der verantwortliche Redakteur die Aufnahme einer Berichtigung verweigern darf, wenn er die

144 Die Zuknuft.

gänzliche oder einen wefentlichen Theil des Inhaltes betreffende Unwahrheit der Berichtigung nachweiſen kann. Praftifch dürfte diefe Beitimmung kaum von Belang fein: ift der Nedalteur in der bezeichneten Rage, fo wird er fich gewiß gern einer formellen Berichtigungpflicht unterziehen, die ihm unter gleichzeitiger Führung des Gegenbeweifes ermöglicht, den Gegner coram publico als Lügner zu ftäupen. Auch iſt e8 eine wunderliche „Senugthuung“, die den Zeitungen gegen den Mißbrauch der Berichtigungbefugnig angeboten wird, wenn der wiffentlich falfcher Angaben überführte Berichtiger einer Geld: ſtrafe ausgefegt fein fol. Zu Ungunften der Parlamentsmitglieder, die zu— gleich Journaliften find, will der Entwurf den Zeitraum des Ruhens der Strafverfolgung wegen geſetzlicher Immunität der Abgeordneten in die Ter- jährungzeit der Prefdelifte nicht miteingerechnet willen; und dem in Defter: reich vielfach hervorgetretenen Miſbrauch, daß beſchlagnahmte Drudichriften in ‚uterpellationen aufgenommen wurden und auf diefe Weife unter dem Schutz der Parlamentsberichte zur nachträglichen öffentlichen Verbreitung gelangte, will eine Vorſchrift fterern, die den Neichgrath, die Delegation des Reichsrathes und die Landtage zu befchlichen ermächtigt, daß gewiſſe Mittheilungen aus

befchlagnahmten Druckſchriften nicht zu veröffentlichen find. Schließlich ſchafft

der Entwurf noch allerlei neue llebertretungthatbeitände, um muthmwillige Ent: hüllungen aus dem Privatleben, unſittliche Anfündigungen, Anzeigen behörb- lic) verbotener Heilmittel und nicht zugelaflener Loſe und XoSpapiere, end: lic) Boyfottaufforderungen gegen „beſtimmte Kreife von Induſtriellen, Ge: werbetreibenden, Advofaten, Aerzten, Upothefern, Hebammen und Anderen“ in Drudichriften zu verhindern: eine wenig anmuthende Sammlung von poli= zeilihen Quißquilien. Desinit in pisceem mulier formosa superne. Iſt nah allem Gefagten die fo pomphaft eingeleitete Geſetzgebung— aktion der Mühe werty? Ich glaube: Nein. Iſt überhaupt von einer Zpezialgefeßgebung für die Preſſe noch Erfpriekliches zu erwarten? ch glaube, auch diefe Frage verneinen zu follen. Und zur Unterftügung diefer Anfcht darf ih eine Etimme aus den Jahr 1874 anführen. Als den vetfchen Wählern damals der Entwurf des Reichspreßgeſetzes vorlag, las man in der demofratifchen „Wage“: „Wozu überhaupt ein Prefgefeg? Der (Sedanfe ift weder fo neu noch jo radikal, wie man glaubt.” Das Blatt erinnerte an das geflügelte Wort des Reichskanzlers, man Fünne den Parla- nentarismus durch die Parlamente felbft töten. „Die Bewegungen im Leben der Nationen bereiten und vollziehen ſich jet auf anderem Wege als nur dent literariſchen. Hat Fürft Bismard nicht felbft eine ausreichende Erfahrung gemacht, als er troß feinen Preßordonnanzen und obwohl er damit in der That die oppofitionelle Preffe in Preußen lahmlegte, doch in den Konflifts= jahren die ungeheure Majorttät im Lande gegen ſich hatte und al3 er hin-

Ein Preßgeſetz. 145

wiederum ohne Beihilfe diefer Ordonnanzen 1866 durch die That von fieben Tagen diefe Majorität zu fich herüberzog?“ „Habt Ihr ein gut Gewiſſen und gelunde Nerven, wa3 in der Regel zufammiengehört, fo gebt die Preſſe frei; und habt Ihr Euren Machiavell mit Nugen gelefen, fo gebt jie erft recht frei!“ Die Auswüchſe und Schädlinge der Prifje werden weder durch grimmige Ergüffe über ihre Korruption noch durch Staatsgefege, am Wenig- ften duch) Strafparagraphen befeitigt, jondern müſſen ihr Gegengewicht um mich der Worte Macaulays über die englifche Preſſe in einer zuläfiigen Berallgemeinerung zu bedienen in dem lrtheil des großen Körpers ge= bildeter Leſer finden, dem die freie Wahl zwiichen dem ihm vorgelegten Guten und Schlechten gelaflen wird. Ottomar Rofenbad) meint gelegentlich, heute fetten die Leiftungen der Preffe jeden Lefer in den Stand, durch eigenes Denken und Bergleihen Stellung zu allen Tageöfragen zu nehmen; leider ziehe e8 aber die Mehrzahl noch vor, die gegebenen Anregungen gleichſam als dogmatifche Er- gebniffe zu acceptiren. Ich gehe einen Schritt weiter. Die innmanente Entwidelung der Dinge weilt die Tagespreſſe aller Länder darauf hin, ein immer vollftändigeres und werthoolleres Nohmaterial zu produziren und zu reproduziren, das den jelb- ftändigen Zefergünftigerftellt als felbit diebeftpräparirte vorverbautegeiftige Nahr⸗ ungder Blätter alten Schlages, während die feilgebotenen Ganz: und Halbfabrifate in Meinungwaare, auch wo fie nicht da8 Motto „Billig und Schlecht * ahnen laſſen, mehr und mehr nur für den geiftig zurüdgebliebenen und den trägen Leſer mit: geführt werden. Der Zeitunglefer, wie er fein follte, ift aber doch Schon heute nicht felten zu finden: der Leſer, der wefentlich nur auf Nachrichten, nicht auf Urtheile und Ueberzeugungen fahndet und fi) zwar Thatfachen, aber nicht fremden un- tontrolicbaren Meinungen beugen will; dem das Meifteder Zeitungargumentation fo gleichgiltig ift, als feier eine „mit Heu ausgepoliterte Menfchenhaut“, und der dem vulgum pecus unter ben Beitungfchreibern ſelbſt überlägt, „prügelnde Hände an einander zu legen, damit dod) Einer da fei, der den Anderen beftrafe“, wie e8 in dem Letzten Willen des Armenadvokaten Siebenfäs dem Schuft von Blaife und dem Schuft von Meyern verordnet wird. Die Zahl dieſer fkeptifchen, diefer klaſſi— chen Leſer wird ftetig zunehmen, und aud) die intelleftuell minderwerthige und moralisch Schlechte Preſſe thut fortwährend das Ihrige dazu. Denn was fönnen ihre täglichen fauftdiden Lügen, ihre leichtfertige Schnellarbeit, ihre Gedankenloſig⸗ teiten wirffamer propagiren al3 Das, was Rabruydre als das Seltenfte und Werth: vollfte bezeichnete, l’esprit de discernement: après lequel „ce qu’ily a au ;nonde de plus rare ce sont les diamants et les perles“ ?

Charlottenburg. Dr. Arthur Berthold.

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146 Die Zukunft. Soziale Anthropologie.

Mer Ideen, mir bangt um Euch! Bezahlte und unbezahlt umfreifen Eud) lechzend. Ihr werdet, feit Hundert Jahren, eifervollften Freunden verrathen, um Silberlinge und Schäbigeres. lehrten Eulen Europas verkünden, ohne bei Tage zu blinzeln, täglid Euren Untergang. Und wüßte man nicht, daß Ihr vor neunzehnhund aus dem Schoße menfchenverbrüdernder Liebe auf dem Kalvarienberg von den erlefenften Beiftern des greifenden Abendlandes naderzeugt, ternden Kämpfen der beto humaine abgerungen, ja, aufgezwungen w nit untergehen fönnet, nicht untergehen dürfet, man müßte Euc geben. Euch, denen man doch, wenn man fo fagen darf, feinen aufreı und das Bischen Ozon feiner bürgerliden Exiſtenz bantt.

Seit hundert Jahren, fagte ih. Ich date an Napoleon, ber einleitete; an Nietzſche, der ihn philoſophiſch abſchloß; an die großen ı Napoleoniden, die fie, bald mit euer und Eifen, bald mit Papier ı vom Wege ihrer gradlinigen Entwidelung abdrängten. An Napole Riefendamm aus wetterfeftem Granit; den Erften, der mit Erfolg ı die blutroth gefärbte Fluth moderner Ideen zurüdzuftauen; den gi aber ſeelenblinden Verächter aller Ausgebutten des „reinen“ Geiftes. der dieſem Bertrümmerer Gedanken, Seele, Zwede gab; wie vor ſchämt und unter moraliſchen Martern, der Puritaner Carlyle, offene leuchtender der transfzendentale Amerifaner Ralph Waldo Emerjon weiß es noch, der große deutſche Immoraliſt Wolfgang Goethe. A 3ählbare Heer politifher Quatſalber und literarifcer Eunuden, die modernen Ideen als Feigenblätter für ihre Ohnmacht mißbrauchten. fi an die drohend verbündeten Mächte biologiiher, anthropologi hiſtoriſcher Wiljenfdaften, die ihnen dieſem Chor trunfener Begriffe: $ Aufklärung, Fortſchritt, Freiheit, Gleichheit, Gercchtigkeit für Alle, ! viele Einf—ränkungen anhefteten, ihre Geltungmögligjteit an fo viele Be nüpften, daß fie all ihre binreißende, einft fo einleuchtende Selbſtv feit einbüßten. Aber diefer Wiſſenſchaften großes Abftraftum, die fi thropologie, ift eigentlich noch nicht fertig; faum angefangen, heißt © Anfäge kaum hinausgewachſen; ein unorganifces Gemengſel von Dar der als lückenloſe Erkenntniß angeiproden wird, und Hiftorismus, d „egakteren" Schweſter fo gern anfdmiegt, ja, unterorbnet; nicht entfe Einheit heranreichend, durch die Ariftoteles’ Politik und Hobbes' De heute gefangen nchmen. (Wie ſchal und Icer, wie zufammengelefe nad} biefer Koft die Brougham, Rocher, Droyfen, Treitſchte felbit!) mid. Aber mander Achtung gebietende Forſcher und Schreiber meir gab feinem Meinen lauten Ausdrud und wies, um zu zeigen, weld) ſchen Bundes „exakte“ Naturwiſſenſchaft und Hiftoriihe Erfahrung | auf die Bemühungen des angeſehenen badenſiſchen Statiſtikers Ott bin, der feine „Geſellſchaftordnung und ihre natürlichen Grundlage bei Guſtav Fiiger) allen Gebildeten, die fi mit jozialen Fragen bi gewidmet hat. Auch Ammon ſpricht, nad} berühmten Muftern, von den

Soziale Anthropologie. 147

Ideen nur in Gänfefüßchen; er ift alfo up to date. Auch er hegt eine fait bis zu ihrer völligen Unkenntniß reichende Verachtung der Geiſteswiſſenſchaften; es gehört alfo, um ihm folgen zu können, nicht Bildung (e8 wäre VBerbildung), ſondern nur der geſunde Menfchenverftand zur Ausrüftung des ihm vorſchweben⸗ den idealen Leſers. Das nüchternſte aller Mittel, die Zahl (Statiftik, Kombi— natorik), ift da3 Baubermittel, mit dem diefer geachtete Statiftifer in feinen: „Entwurf einer Sozialauthropologie" die Aufllärung Über die krauſeſten ſozio— logiſchen Probleme ſich Herbeizuführen getraut. Und da fein Buch in Furzer Zeit drei Auflagen erlebt bat, fo darf man annehmen, daß die Gebildeten cin großes Bedürfniß verjpüren, ihren foztalen und politiihden Anſchauungen eine anthropologifche und biologische Srumdlage zu geben. Auch andere Symptome bezeugen, daß diefe naturaliftiiche Strömung dag politifhe Denten der bürger- lihen Kreife umzugeftalten beginnt; vor Allem jene mit ihrem bramarbajiren- den Getöſe ganz Europa erfüllende Raffenmäfelei, die, von einer vorjchnell ver- alfgemeinernden Pſeudowiſſenſchaft genährt, jede Form der politiichen und ſozialen Ideologie, jede Erinnerung an die Ideale des humanen adjtzehnten Jahrhun— dert3 als Merkmal einer entnationalifirenden Denkweiſe bloszuftellen trachtet. Dieſe pjeudo-naturaliftiiche Richtung ift von Gobineau und Houfton Stewart Chamberlain mächtig befruchtet wurden; denn nachdem dieſe geijtreichen, aber Aperçus mit fruchtbaren wiffenschaftlichen Gedanken verwechſelnden Männer ver: ſucht Haben, die Geſchichte vom Begriff der Rafje aus neu zu fonftruiren und au die Stelle transſzendenter Werthe antbropologifche zu jegen, brüjtet fi) der rohe Naturalisnus enger Köpfe, dem nicht einmal das ABC der wiſſenſchaftlichen Soziologie geläufig ift, mit dem Necht eben diefer Wiſſenſchaft. Es wäre Fein geringes Verbienft, die Gebildeten durch wahre Aufklärung über die fonjtanten und dte veränderliden Grundlagen unferer Gejellfhaftordnung vor den Verirrungen jenes turbulenten Naturaliemus zu ſchützen. Gcbührt e8 Otto Ammon? Sein Buch hat die Abficht, die Wahnvorftellung-zu verſcheuchen, als ob durch die fortichreitende Sozialifirung der Gefellfchaft eine Vermiſchung der Stände und Berufstlaffen, ein Aufhören jeder hierarchifchen Geſellſchaftordnung, ein Ver: jagen aller differenzirenden Kräfte in ber Gemeinfchaft angezeigt würde. Durch dieſe Tendenz Stellt ji Ammons Buch zu jener Abwehrliteratur gegen dei Marrismus, die im Anjchwellen begriffen ift. Seine Kampfmittel find der Dar: winismus (Biologie), die Sozialöfonomie,-fo weit fie auf Statiftif beruht, und die Sozialpfychologie, von ber befanntlich, da fie als Wiſſenſchaft nicht oder noch nicht exiftirt, jeder nach feinen angeborenen oder anerzogenen Inſtinkten den ihm pafjenden Gebrauch madt. Ueberall wird der größte Nachdruck auf die rangſcheidenden Faktoren in der menſchlichen Natur gelegt und man fühlt fich nicht felten an Nichche erinnert; aber was Ammons Standpunkt von Nietzſches Kampf gegen die „modernen Ideen“ unterfcheidet (Freiheit, Gleichheit, Gerechtig— keit für Alle, Altruismus, rauenemanzipation, Demokratie), ift erſtens der Verſuch, die Nothwendigfeit der fozialen Differenzirung ftreng wiſſenſchaftlich zu begründen, dann aber die Bemühung, die vorhandenen fozialen Ausleſemechanismen oder, wie Ammon fid) ausdrüdt, die eben wirkſamen „Geſellſchaftmechanismen zur natürlichen Ausleſe ber Individuen“ im Allgemeinen zu rechtfertigen; ein Unternehmen, das Nietzſche geradezır verabfcheut hätte. Es wird aljo voran:

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* 48 Die Zukunft.

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geſetzt, daß die als Thatſache, wie es fcheint, von Niemandem beftrittene fortfchreitende Sozialijirung der Geſellſchaft widernatürlid und antibiologiich et, daß hier plöglich der Naturzwang durchbrochen und der Wille ſich wirklich, mie Metaphyiifer glauben und Ichren, ein von ihm entbundenes Reich der Freiheit ihaffen fünne. Mearg, den der Verfaſſer ziemlich jummarijch auf einundzwanzig Geiten abthut, meinte: In dem Ablauf der wirthichaftliden Entwidelung fet, lagen wir, feit Einführung der arbeitiparenden Maſchine und der Trennung des Arbeiterd vom Grund und Boden und den Produftionmitteln, der Sapita- lismus erreicht; ſei nicht gewollt, fondern eingtreten; vder fei eingetreten, weil wir ihn wollen mußten, Die moderner Ideen ſeien der ideologijche Ausdrud für die erften Symptome des verfallenden Kapitalismus und befagen, daß der ſozialen Differenzirung durch Privatbefi (an Produftionmitteln) in abichbarer Zeit ein Ende geſetzt fcheint. So wenigitens Lieft fi) der von aller politijchen Tendenz geläuberte Marx. Er ſucht einfach die mwirtdichaftliche Entwidelung- ridtung zu regiſtriren. Verfällt nun thatſächlich der Kapitalismus oder ändert er feine ötonowmifch -foziale Struftur und juriſtiſche Zorm, fo ift damit bewiefen, daß er antibiologilch ift oder zu fein anfängt, daß andere Formen der jozialen Differenzirung begannen, fid) geltend zu machen. Nicht: daß überhanpt die ſoziale Differenzirung aus dem gejchichtlichen Leben ſich abzuſchwächen oder zu ſchwinden anfängt. Und noch weniger: daß fie zu verfhwinden habe. In feinem Fall darf man Ammon thut e8 jagen: Marrens Denken fei antibiologiih. Er hat nur behauptet: daß die auf fapitaliftiicher Bajis ruhende foziale Differenzirung nicht in alle Ewigkeit fortbeftehen werde; nur bejtritten, daß die von ihm gejchaffenen jozialen Auslefemehanisınen die jozialen Ausleſemechanismen ſchlechthin feien. Nach diefer eriten Drientirung muß id jagen, daß in Ammons Bud mir Richtiges mit Falſchem ſtark vermengt jcheint, fo weit feine Interpretation und Stonftruftion der biologiſchen und ftatiftifchen Ihatjachen zum Zwecke der „Beruhigung“ der bürgerlichen Gefellihaft reicht. Für jehr richtig halte ich feinen Widermillen, in der „Sozialen Frage” das willenschaftlihe Problem zu ichen, das Leben der unteren Klaffen günftiger zu geftalten. (Mehr Lohn! Mehr Muße! Mehr Bildung!) Das wilfenjchaftlide Problem reicht. weiter; reicht bis zur Kritif der vorhandenen Auslefemechanismen heran und darüber hinaus. Ihre Aufgabe definiert Ammon dahin, die Individuen nach ihrer Befähigung auszulefen und an die ihren Anlagen, am Beſten entjprechende Stelle zu bringen. Er rechnet zu ihnen die Schulen aller Art, die als Siebe für die Befähigung wirken jollen, die Prüfungen für die Beamtenftellungen, das Disziplinarverfahren gegen Beamte, die Konkurrenz unter Handwerfern, Arbeitern, Gemwerbetreibenden, Kaufleuten und Induſtriellen, in Kunjt, Wiſſenſchaft und Erfindungmwefen; auch die Erblichfeit der oberjten Stellen in der Geſellſchaft. Nach Ammon beſitzen die Monarden mit feltenen Ausnahmen, in Folge der außerordentlich lange wirkenden natürlichen Ausleje, eine das Mittelmaß überragende Begabung, eine mit Yiebe vertretene Anſchauung, die, fürchte ich, wenig Gegenliebe finden wird. „Mir ſcheint nun, daß die gejchilderten Auslefemechanismen, wenn fie auch nicht immer tadellos funftioniren, dod) im Großen und Ganzen dahin führen, tüchtige Männer empor. zubringen. Vielleicht kommen an die erften Pläße nicht immer die Allertüchtigiten, aber in der Regel Solde, deren Begabung genügt.” Inter den Spigen der

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Soziale Anthropologie. 118

Behörden viele charakternolle Männer und wiſſenſchaftlich geichulte, einſichtige Köpfe; unter den Großinduftriellen viele bedeutende organijatorifche Talente: im ftädtiichen Bürgerftand großer Bildungdrang und eine erfreuliche Regſam⸗ keit des „gejunden Menjchenverftandes” —: fo ungefähr cdharafterifirt Ammon die herrſchenden fozialen Schichten. Dean ficht: cs ift jo ziemlich Alles in Ord— nung; um fo mehr, als die Begabung in den unteren Ständen den mittleren Durchſchnitt nicht oft überfchreitet, Häufig ihm nicht erreicht. „Die Meinung, daß die Zahl ber Individuen, die troß höherer Begabung in engen Verhält⸗ niffen verſchmachten müſſen, eine erhebliche fei, halte ich für irrig.“ Und da die humantären Einrihtungen der Geſellſchaft (Stiftungen, Stipendien u. ſ. w. ih der unbemittelten Talente annehmen und ihr Auffteigen in höhere Berufe Elaffen beförbern, fo folgt, daß die große Maſſe der Zurückbleibenden aeiftig und auch fozial auf der unterften Stufe ftehen müſſe. Die Kritik der Geſell— ihaftmechanismen fällt, wie man fieht, ſehr mild aus; fic wird geſtützt durd einen darminiftifchen Exkurs über die Scelenanlagen, die über den Platz des Menſchen im Sozialen Körper entjcheiden, und die Berechnung der Begabung mit Hilfe der Kombinationrehnung. Danad müßten bie Deutſchen unter ihren 6!/, Millionen Männern von vierzig Jahren und darüber etwa 6 bis 7 Genies, 32 Hocdbegabte und 1538 fehr begabte Perjünlichkeiten, 3Y/, Millionen beſſeres und 2!/, Millionen gewöhnliches Deittelgut befiten. Es beftände alfo die Mög— lichkeit, einen ganz hervorragenden Reichstag zu bilden, da für die Auswahl von 400 Mitgliedern 3000 talentreiche Perjönlichfeiten zur Verfügung ftehen, wenn die Wähler nur die richtigen Kandidaten herauszufinden wüßten, Flagt Ammon; er vergibt, daß die bürgerlichen Parteien im Reichstag in der Mehr- heit find, alfo doch wohl der „gelunde Menjchenverftand“ des Bürgerthumes, dem die Fähigkeit nadhgerühmt wird, fonft den Nagel auf den Kopf zu treffe, in dem Fall diejes Auslefemehanismus Die richtigen Köpfe nicht auszufpüren vermag. Diele Zahlenwiljenichaft ift, mit Verlaub, doch die gräßlichfte Pijeudo- wiffenfhaft Sie fpuft bejonders unangenehin in dein der Erblichfeit des Genies und Talentes gewidmeten Kapital: Thon die Terminologie ift unwiſſenſchaftlich, da die Regeln der Kombinationlehre eine ſoziale Erſcheinung nicht erflären, fondern regiftriren und die Aufgabe ftellen, fie aus biologischen und ſozialökonomiſchen Urfachen Herzuleiten. Und ob wirklich das kombinatoriſche Spiel mit den vier Anlagerichtungen des Menſchen (den intellektuellen, den moralilhen mit Aus⸗ ichluß der meift hemmenden altruiftifchen Regungen —, den wirthichaftlichen und den körperlichen) die Wirkſamkeit der jchaffenden Naturkräfte kauſal enthüllt? Erfreulicder lefen fich die Ausführungen über die Bedeutung der Ständebildung für das Gefellichaftleben; nur würde auch bier der „brologiich denkende“ Sozial⸗ ökonom und Hiltorifer (um ben verpönten Bhilojophen zu übergehen) fie anders begründen als Ammon. Diefer rühmt ihr vier Tortheile nadj: 1. die Stände- bildung befchränft die Panmirie und bewirkt dadurch die vicl häufigere Er- zeugung hochbegabter Individuen, ſtellt alfo die natürliche Züchtung beim Menfchen dar; 2. die Abfonderung der Stinder der bevorzugten Stände von der großen Maſſe ermöglicht ihre jorgfältigere Erziehung; 3. bie befjere Ernährung und die forgenlofere ZQebensweije der ben bevorzugten Ständen angehörigen Individuen wirken fteigernd auf die Wirkfamkeit der Seelenanlagen; die günftigeren Lebens»

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bedingungen der Höheren Stände ſpornen die dei unteren Stän an, ihre beiten Kräfte im Wettbewerb einzufegen, um dieſer g ungen theilhaftig zu werben. Der Refrain ift immer wieder, ſchaftordnung unter dieſen Verhältniſſen eine harmoniſche & mußte. Die heutige Ständebildung iſt die wohlthätige Folge eir Ausleſeprozeſſes. Neu ift diefer fozialpolitiihe Optimismus ı mäßig neıt find nur bie anthropologifchen Urfahen, die Amınon ; macht. Die Stände, meint er, unterſcheiden fi nicht nur bu Charatter, fondern aud) durd) äußere Rafſenmerkmale, bie während Lebens unveränderlih find und vererbt werden. Wenn in de die Langköpfigkeit, in dem anderen die Rundkdpfigleit vorher Urſache hiervon nur in einem den einzelnen, von ihm betroff unbewußten Auslefeprozeß liegen. Das foll heißen: Die Ei und Befonderheiten, die die Mitglieder eines Standes auszeid ander unbewußt annähern, fie ſich zu einander gefellen, ſich ver und Wefen vererben läßt, find Eigenjchaften des Blutes, der I eigenthümlichkeiten find Raſſeneigenthümlichkeiten; verſchiedene daher auf verfchiedene Raſſen. Wir rühren an die Wurzel d Auslefe beim Menſchen beherrſchenden Prozefies und kommer Punkt, der dem Bud) des Anthropologen Ammon feine befoni Um die heutige Ständebildung in Deutichland zu erklär die bekannte Eintheilung in höheren und niederen Abel, Gem freie zurüdt. Der hohe Adel des Mittelalters ift aus dem fr abel entftanden. Obwohl Hoher Adel und Gemeinfreie urfprüng Raſſe waren, fonderte fi ber Abel durch Inzucht ab: Kinde folgten der „ärgeren Hand’. Die Maffe der Gemeinfreien, al Abel, der durch einen fozialen Ausleſeprozeß aus ihm abgefo fpäter dur Inzucht (mie die Zamilien ber führenden Zürften) ariſch. Ihr gegenüber ftand die Maſſe der Unfreien aus Kriegsgt ad fremder Raffe, wie aus Mifglingen beider. Diefe Unfr äugige und dunkelhaarige Rundlöpfe, in vorgeſchichtlicher Zeit n Aſien eingewandert und als Raſſe von den helläugigen, blon föpfigen, ſiegreichen Ariern deutlich unterfhieden; auch inne inferioren Scelenanlagen (find fie doch bejiegt worden!), verſchie linge Beider für deren hohlreiches Vorkommen Schalt Ano ftegen ſeeliſch und körperlich unter den beiden Stammrafien. Ehegemeinfhaft mit Unfreien und Mifchlingen war daher v des Rafjenadels eine Notwendigkeit. Es ift klar, daß die ver ſich in verſchiedenen Ständen frijtallifitten. Im fpäteren Mittel ſich die rechtlichen Schranten zwiſchen Freien und Unfreien ı und fozial zwiſchen beiden ftehenden Hörigen; fie verſchmolzen „Bolt“. Der niedere Adel ift urfprünglid aus den Dienftmanne der Edlen und Fürften hervorgegangen, alſo hauptjädlic mit N. Schröder, 3. F. von Schulte und U. Schulte ann freien: die Raſſe hinderte alfo nicht am fozialen Aufitieg. Du der Ehegemeinſchaft auf Seinesgleichen befeftigte fi) der urlprü

Soziale Authropologie. 151

vewußte natürliche Ausleſe entftandene nicdere Abel immer mehr als befondere BDarietät. Ich kann all diefe anthropologiichen Hypotheſen bier nur andceuten; der Stenner weiß, wie faft jeder Schritt auf diefem jchlüpfrigen Gebiet zu Be- denfen Anlaß giebt. Einerlei. Halten wir feit, daß unjere wenigen edlen und fürſtlichen Gejchledhter der Gegenwart, die in Syolge von Kriegen und Ausſterben der Nachkommenſchaft an Zahl und Mitgliedern fid) im Laufe der Zeiten ftarf vermindert haben, und der hohe Adel aus fränkiſcher Beit rein arifch find oder fein müßten; die Vermifhung mit „Adelsfamilien dunkler Raſſe“ zerftört frei- Lich den mechanischen Raſſenkalkul. Yerner: daß der nicdere Abel vorzugsweiſe eine Ausleje aus nicht arifcher Raffe darjtellt. Endlich: daß das Heutige deutfche Volk aus einer Miſchung arifch-germanifcher und nicht arifcher Beftandtheile hervorgegangen, alfo eigentlich doch wohl eine Baftardirung ift. Daß im nie: deren Adel heute vielfah in ftärferem Maße als in der übrigen Bevölkerung die Förperliden Merkmale der Germanen zu finden find, daß er den germani— ſchen Charakter vielfach am Reinſten ausgeprägt zeigt, muß freilich nah Among Prämiſſen als anthropologiſches Wunder betrachtet werden: da eine unbewußte Ausleje doch die Raſſe in hiltorifcher Zeit nicht zu ändern, alfo aus Turaniern (wie man die vorgejhichtlichen, nicht ariihen Bewohner Europas oft nennt) nicht arifche Germanen zu machen vermag. Ob die brünetten, brachykephalen Bewohner Europas, die gegenüber den vorausgejeßtermaßen blonden dolicho- tepbalen Ariern befanutli immer mehr an Boden gewinnen, wirklich aus Aſien eingewandert find oder, wie nad Virchow die Iberer und Ligurer, Reſte der vorarifchen Bevölkerungen unjeres Erdtheils darftellen, ift wiſſenſchaftlich unentjchieden und wahrjcheinlich endgiltig nie zu entjcheiden. Auch widerftreitet Ammon ganz unbegründete Behauptung, die Arier ſeien die norbeuropätjche Urbevölferung und von hier aus nad) dem Süden Europas wie nad Afien aus gewandert, fo jehr dem die umſtändlich disfutirte Frage zufammenfafjenden Aus: ſpruch Rankes (Der Menſch, 11? 581): „Alle aus arifcher Wurzel hervorgegan- genen Stämme ſcheinen von Often her nad) Europa eingewandert zu fein, ein Sab, ben auch die modernite Kritik nicht umzuftoßen vermocht hat,” daß ich mich begnüge, diefen Widerſpruch einfach zu fonftatiren. Weiß Ammon nidt, daß die kühnſte Behauptung willenjchaftlicher Unthropologen dahin geht: daß ein großer Theil der Völker, die in neolithiicher Periode Mittel: und Nordeuropa bewohnten, wahrjcheinlich ariich gewefen ift? All Das aber mag noch hingehen: wichtiger iſt die Berwerthung diefer anthropologischen „Reſultate“ für die Er- kenntniß der heutigen Ständegliederung.

Ammon unterjcheidet vier Stände: 1. den Stand ber Gebildeten, wozu Gelehrte, Beamte, überhaupt „alle Berfonen von hervorragender Bedeutung ges hören”, zum Beilpiel Sroßgrumdbejiger, Großinpduftrielle, Handeltreibende, Sapi« taliften und Rentner, mögen fie fich „von“ fchreiben oder nicht. Zwiſchenheirathen unter den Zugehörigen dieſes höchſten Standes ſollen äußert wirkſam fein können, troßdem fie doc, follte man meinen, der fonft fo befürdhteten, antijozial thätigen Panmixie in bedenkflihen Umfang Vorſchub leiften müſſen, da die vor« ausgeſetzte afademijhe Bildung diefer Standesperfonen nicht auch ihr Blut uniformiren kann. Anthropologiich ſcheinen fie doch auch vder gerade nah Ammon ein Railenbabel (zwei „reine” Raſſen, die dolichofephale und brachykephale, nebſt

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ihren Baftarden verjchiedenfter Potenz) darzuſtellen. .. 2. Der Mittelftand (eigentliches Bürgerthum; gebildeter Dlittelitand). Er umfaßt Gewerbetreibende, Dandeleleute, Subalternbeamte u. |. wm. Auch fie haben ein Bildungmerfmal: die Berechtigung zum einjährigen Militärbienft. Durch Zwiſchenheirathen bei denen „mit vollem Recht” auf die beiderjeitige Vermögenslage Rückſicht ge= nommen wird wird auch diefe Barictät feit. Iſt fie es ſchon? So dürfen wir angefichts des Miſchlingscharakters ihrer Entftehung fragen. 3. Die Arbeiter aller Grade und Alle, die nur Volksſchulbildung genofjen Haben. Sie bilden den unteren Stand. Noch meiter nach unten zweigt fi das Proletariat ab. 4. Die Bauern, die zwar ihrer Bildung nad zum dritten Stande gehören, aber wirthſchaftlich und raſſenhygieniſch ſich deutlih von den ftädtifchen Arbeitern unterjcheiden. ch beſchränke much bier wieder auf Berichterftattung, da eine Kritik des lächerlich Ichwanfenden Eintheilungprinzipes (Bildung an erfter, Beſitz an zweiter Stelle) fait einer Bevormundung des Lefers gleichzufommen fchiene. Nicht einmal die Art der Arbeit, die Art der Bildung, die Art und der Umfang des Beſitzes ift berüdfichtigt. Die deutiche Berufsftatiftit von 1895 unterjchieb im Ganzen 10298 verfchicdene Berufsbezeihnnungen. Und dabei bilden fich, wie Bücher in „Die Entftehiung der Volkewirthſchaft“ zeigt, neue Berufsipezialitäten, die fich die ganze Perſönlichkeit des Menjchen unterwerfen und fortwährend neue Varietäten erzeugen; denn wirthichaftliche Berufsbildung find Anpafjungvorgänge. Das bedeutet do, dab die anthropologiihe und foziale Differenzirung unter der Herrſchaft des Kapitalismus noch fortichreitet, ein Punkt, dejlen fich Ammon bei feinem Eintheilungverfuh nicht entfinnt, obwohl er in feiner Polemik a la Julius Wolf gegen Marx an der Hand der bekannten Einkommenſtatiſtiken jih zu beweiſen müht, daß die goldene Brüde zwifchen Arm und Rei, zwiſchen Rapitaliften und SProletariern fehr ſtark begangen wird, aljo gegen die Arm⸗ fäligfeit einer Eintheilung der wirthichaftenden Menſchen nad Befigquote zu Felde zieht. Womit nicht gelagt fein foll, daß Marx fein Prognojtilon der zufünftigen Wirthichaftentwidelung jo armjälig motivirt ...

Doch zurüd zum Anthropologifhen. Die meijten Yangföpfe hatte nad Ammon in Baden der „ſtudirte“ Stand; die Nundtöpfe überwiegen in dem ge—⸗ werblichen Mittelftand; je weiter nach unten, dejto zahlreicher werden die Mijch- lingtypen; doch find die unteren Stände in den Städten an Langköpfen reicher als die Bauern. Der Langkopf wirb ohne Weiteres als Zeichen kulturell höditer Raſſe angeſprochen, obwohl er weder an ſich ein definitives Naflenmerfmal ift noch gar einen Maßſtab für die geiftige Begabung abgicbt: die Neger find Yang» töpfe! Wie Dem aud fei: Ammon glaubt, fi) auf „exakt“ wiſſenſchaftlichem Boden zu bewegen, wenn er die vorhandenen Wirthfchaft- und Gefellfchaftklaflen, die übrigens heute noch keineswegs ſcharf gejondert find, anthropologifd, in dem angedeuteten Sinn berleitet, obwohl, was allein feititcht, gleiche wirthichaft- liche Stellung und Gewöhnung, nicht das Blut und die Raſſe zu neuen fozialen ®ruppenbildungen geführt haben. Aber ich Ipreche jchon gar nicht vom Pro« blematiichen feiner Prämien: die geringite Forderung an eine ernfte Darjtellung _ wäre doch, diefe Prämien überall rejpektirt zu ſehen. Das aber gejchieht nidt. Ammon verwerthet, wo er von ber fo wichtigen Bluterneuerung der Stände fpricht, die viel beachtete Xehre Gcorg Hanjens vom Bevölkerungitrom (in „Die

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drei Bevölferungftufen”, 1889). Danach ergieht fi fortwährend ein Bevölferung- jtrom vom Lande in die Anduftriecentren, die Städte, den fein Nüdjtrom wieder ausgleiht. Grund der Erſcheinung: der große Geburtenüberſchuß auf dem jlachen Lande kann dur die Landwirthichaft nicht mehr verforgt werden. Die Ein« wanderer unterliegen einer fortwährenden Ausleje. Die erite Generation gehört dem unteren Stande (T5abrifarbeiter, ungelernte Arbeiter u. |. w ) und darunter an. Die tüchtigſten Kräfte diefer Generation bringen ihre Nachkommenſchaft eine Stufe höher hinauf, in den Mittelftand hinein. Und aus ihr gehen in ber dritten Generation viele Studirte hervor. Alſo nit nur ftrömt vom Lande den Städten fortwährend Bevölferung zu, fondern bieje fteigt fortwährend auf; und in den Städten jchafft der Tod unter den höheren Ständen Raum für den Nachſchub. Ammons Zujäge und Erläuterung zu diefer Lehre find dankens⸗ und beachtenswerth, da fie den Prozeß der Ständebildung als einen Auslefeprozch bar: zuftellenjuden. Er hat, jcheint mir, zu erfennen gegeben, 1. daß die Ständebildung fortwährend im Yluß ift, und zwar mehr als zu irgend einer Zeit hiftorifchen Ge⸗ denfens; 2. dab neue Barictäten in naturwiljenfchaftlidem Sinn, alſo Varictäten mit ſcharf differenzirten Dierfmalen, während der fapitaliftifchen Wirthichaftent- widelung ſich hochſtens nad unten hin (Bauern, Tinduftriearbeiter, Proletariat) haben bilden können; 3. daß, da die Bluterneuerung der befonders in Folge ‘der hygieniſch untergrabenden Stadteinfläfle fortwährend ausfterbenden oberen Stände von ımten (den Bauern) her gefchieht, die Raflenzugehörigfeit keineswegs über die jozialen Eigenjchaften unterrichtet, die „‚ausgelejen’ werden. Anders Ammon: er behauptet, daß „äußere Raſſenmerkmale“ fih in den verfchiedenen Ständen ausprägen, womit er bei feinem Verſuch, den fozialen I ptimismus anthropologiſch zu begründen, urſprünglich durchaus nicht jagen will, daß auf allen Stufen der Bevölkerung der Mifchling vorberricht, daß die Bevölkerung Deutſchlands Hoffnunglos Baftardirt iſt. Aber diefer Schluß ift unvermeidlich: in Baden fand er an echten ariſchen Rundköpfen etwa 1,45 Prozent; und er muß ferner befennen, daß die günftigen Kombinationen unter den Mijchlingen an Zahl ſehr gering jeien (132). Es findet aljo anthropologifch eine rückſchritt⸗ liche Ausleſe in Deutjchland jtatt: die rundföpfige Menge wird immer mehr oder ift Ichon der maßgebende Faktor. Sie ſcheint aljo dod vor dem Leben Recht zu behalten, alfo „erleſene“ Kräfte zu bergen...

An diejer Kippe fcheitert fchließlich die mit gefchwellten Hoffnungen unter» nommene Fahrt ind Anthropologie. ‚Aber das Alles Hilft nichts. Ob die höheren Klaſſen urjprünglih von fremder Abftammung find oder nicht, ift für die Beurtheilung ihrer jozialen Pflichten einerlei. Sie find Heute mit dem Volke durch taujend Bande des Blutes und der Geſchichte verbunden und ſchulden ihm Nächftenliebe, Führung und Schub. Ihre edlere Abkunft kann fih nur auf eine einzige Weife, nämlich durch das reinere Walten gemeinnügiger Gefinnung, Achtung gebietend bemerkbar machen.“ Alfo doch wieder Humanität? Doch wieder achtzehntes Jahrhundert? Erft galt es, die ideologiſchen (transfzendenten) Werth- maßftäbe durch anthropologifche zu verdrängen, dieRafjean die Stelle des humanes Handeln begründenden „idealbegriffes der Menjchheit zu jeßen, anthropologijche - Differenzen zu verewigen, das Chriſtenthum als ben geſchichtlich mädtigiten Faktor, einen fittlihen Univerjalismus herbeizuführen, zu verbädtigen; und das Mittel

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dazu waren, wie der Biologe Ernit von Baer höhnt, zoologifhe Gründe. Und nun, wie bei Chamberlain deflen Darjtellung freilich unvergleichlich blenden⸗ der, deſſen Argumentation aber auch fehr viel verworrener ift —, dieſes Tamm- fromme Ergebniß, diefed Stranden am Sande der „modernen Ideen“. Dieſes Rejultat war faft vorauszujehen; denn die wiſſenſchaftliche Soziologie iſt zu einer aud) nur einigermaßen definitiven Syntheſe noch nicht gerüſtet, jo bedent— fam ihre Einzelforfhungen aud find. WUnmons Verſuch einer Syntheſe muß daher als gejcheitert angefehen und der Zejer vor dem verhängnißvallen Irrthum gewarnt werden, als ob er, im Beliß des „Entwurfes einer Sozialanthropo- logie”, von nun an das Stubium der Meifter Comte, J. St. Mill, Herbert Spencer, Karl Marr, ZTocqueville und ihrer Schüler, Ausleger, Uindeuter, Fortentwickler entbehren könne. Dr. Samuel Saenger.

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Die Hungernden.

[5 einem Augenblid, da Detleff fih von dem Gefühl jeiner Ueberflüſſig— feit ergriffen fühlte, ließ er, wie unverjeheng, fi von dem feltlichen Ge— wühl Hinwegtragen und entſchwand ohne Abjchied den Blicken der beiden Menjchen: finder. Er überlich fi) einer Strömung, die ihn an der einen Längswand des üppigen Theaterfaales Hinführte; und erft, als er fi weit von Lili und dem feinen Maler entfernt wußte, leiftete er Widerftand und faßte feiten Fuß: nah der Bühne, an die mit Gold überladene Wölbung einer Projzeniumsloge ge: lehnt, zwiichen einer bärtigen Barod:Karyatide mit tragend gebeugtem Nacken und ihrem weiblichen Gegenftüd, das ein Baar fchwellender Brüfte in den Saal hinausfhob. So gut und fchledht es ging, gab er fich die Haltung bebaglichen Schauens, indem er hier und da dad Opernglad zu den Uugen bob, und fein umbergleitender Blick mied in der ftrahlenden Runde nur einen Punkt.

Das Feſt war auf jeiner Höhe. In den Hintergründen der baudigen Yogen ward au gededten Tijchen gejpeift und getrunfen, während anden Brüftungen fihh Herren in ſchwarzen und farbigen Fräcken, riefige Blumen im Knopfloch, zu den gepuderten Schultern phantajtilch gewandeter und Eoiffirter Damen nieder- beugten und plaudernd hinabwieſen auf das bunte Gewimmel im Saal, das fih in Gruppen jonderte, fich ſtrömend dahinſchob, fi ftaute, in Wirbeln zu- fammenguirlte und fih in raſchem Farbenſpiel wieder lichtete. .. Die Frauen, in fließenden Roben, die jehutenartigen Hüte mit grotesfen Schleifen unterm Kinn befeftigt und gejtüßt auf hohe Stöde, hielten langgeftielte Yorgnons vor die Augen und der Männer gepuffte Mermel ragten faft bis zu den Krämpen ihrer grauen, niedrigen Gylinderhüte empor. Laute Scerze flogen zu den Rängen hinauf und Bier: und Sektgläſer wurden grüßend erhoben. Man drängte fich, zurückgebeugten Hauptes, vor der offenen Bühne, wo ſich bunt und freifchenn irgend etwas Ercentrifches vollzog. Dann, als der Vorhang zufammenraufchte, ſtob unter Gelächter Alles zurüd. Das Orcheſter erbraujte. Man drängte fich luſtwandelnd an cinander vorbei. Und das goldgelbe Licht, das den Prunkraum

Die Hungernden. 155

erfüllte, gab den Augen all der heißen Menſchen einen blanlen Schein, während Alle in befchleunigten, ziellos begehrlicden Athemzügen den erregenden Dunft von Blumen und Wein, von Speijen, Staub, Puder, Parfum und feftli erhitzten Körpern einfogen .... .

Das Orcheiter brad) ab. Arm in Arın blieb man ftehen und blickte lächelnd auf die Bühne, wo ſich quäfend und jeufzend etwas Neues begab. Bier oder fünf Berfonen in Bauernkoftüm parodirten auf Klarinetten und nie erhörten näjelnden Streidinftrumenten das chromatifche Ringen ber Triftan-Mufif ... . Detleff ſchloß einen Augenblick jeine Xider, die brannten. Sem Sinn war fo geartet, daß er bie leidende Einheitfehnfucht vernehmen mußte, die aus dieſen Tönen auch no in ihrer muthwilligen Entjtellung fprad; und plötzlich ftieg auf3 Neue die erftidende Wehmuth des Einjamen in ihm auf, der fi in Neid und Liebe an ein lichtes und gewöhnliches Kind des Lebens verlor.

Lili... Seine Seele bildete den Namen aus Flehen und Zärtlichkeit; und nun konnte er doch feinem Bli nicht länger wehren, heimlich zu jenem fernen Punkt zu gleiten... . Sa, fie war noch da, ftand nod dort hinten an der jelben Stelle, wo er fie vorhin verlaffen hatte, und manchmal, wenn das Gedräng fich theilte, jah er fie ganz, wie fie in ihrem mildhweißen, mit Silber bejegten Seide, den blonden Kopf ein Wenig fchief geneigt und die Hände auf dem Rüden, an der Wand lehnte und plaudernd dem Heinen Maler in die Augen blickte, fchelmijch und unverwandt in feine Augen, die eben fo blau, eben fo freiltegend und ungetrübt waren wie ihre eigenen.

Wovon ſprachen fie, wovon ſprachen fie nur noch immer? Ach, dies Ge- plaubder, das jo leicht und mühelos aus dem unerjchöpflichen Born der Harm- Iofigeit, der Anſpruchloſigkeit, Unjchuld und Munterkeit flo und an bem er, ernft und langjam gemacht durch ein Leben der Träumerei und Erkenntniß, duch lähmende Einfichten und die Drangfal des Schaffens, nicht theilzunehmen verstand! Er war gegangen, hatte ji in einem Anfall von Trotz, Verzweiflung und Großmuth davongeftohlen und die beiden Menſchenkinder allein gelafjen, um dann no, aus der Ferne, mit dieſer würgenden Eiferſucht in der Stehle das Lädeln der Erleichterung zu jehen, mit dem fie ſich, voll Einverftändniß, feiner drüctenden Gegenwart ledig fahen.

Warum doch war er heute nur wieder geflommen? Welches perverje Ber- langen trieb ihn, fih zu feiner Qual unter die Menge der Unbefangenen zu miichen, die ihn umdrängte und erregte, ohne ihn je in Wirklichkeit in ſich auf- zunehmen? Ach, er fannte e3 wohl, dies Verlangen! „Wir Einjamen“, fo hatte er irgendwo einmal in einer jtillen Bekenntnißſtunde gefchrieben, „wir abgejchiebenen Träumer und Enterbten des Lebens, die wir in einem künſtlichen und eifigen Abſeits und Außerhalb unfere grüblerifchen Tage verbringen, wir, die wir einen falten Hauch unbefiegbarer Befremdung um uns verbreiten, jo bald wir unjere mit dem Mal der Erfenntniß und der Muthlofigkeit gezeichneten Stirnen unter ebendigen Weſen jehen laffen, wir armen Gefpenfter de8 Dafjeins, denen man nit einer jcheuen Achtung begegnet und die man fobald wie möglich wieder rich felbjt überläßt, damit unjer hohler und wiflender Blid die Freude nicht länger ſtöre, wir Alle hegen eine verjtohlene und zehrende Sehnfucht in ung ah dem Harmlojen, Einfachen und Xebendigen, nad) Freundſchaft, Hingebung,

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156 Die Zukunft.

Vertraulichkeit und menſchlichem Glück. Das ‚Leben‘, von dem wir ausge⸗ ſchloſſen find, nicht als eine Viſion von blutiger Größe und wilder Schönheit, nicht al8 das Ungemwöhnliche ftellt e8 uns Ungewöhnlichen fi) dar; jondern das Normale, Wohlanftändige und Liebenswürbige ift das Reich unferer Sehnſucht, ift das Leben in feiner verführeriichen Banalität.“

Er blickte hinüber zu den Plaudernden, während durch ben ganzen Saal ein gutmütbiges Gelächter das Spiel der Klarinette unterbrach, die das ſchwere und jüße Melos der Liebe zu gellender Sentimentalität verzerrte. Ihr feib es, empfand er. Ihr feib das warme, holde, thörichte Leben, wie es als ewiger Gegenfab dem Geiſt gegenüber ſteht. Glaubt nicht, daß er Euch veradtet. Glaubt ihm nicht feine Miene der Geringſchätzung. Wir ſchleichen Euch nad, wir ftummen Unholde, wir ftehen fern und in unjeren Augen brennt eine gierig ihauende Sehnſucht, Euch gleich zu fein.

Negt fi der Stolz? Möchte er leugnen, daß wir einfam find? Prahlt er, daß bes Geiftes Werk der Liebe eine höhere Vereinigung fichert mit Xebenden an allen Orten und zu aller Zeit? Ad, mit wem? Mit wen? Immer doch nur mit Unjereögleichen, mit Leidenden und Sehnfüchtigen und Armen und nie- mals mit Eu, Ihr Blauäugigen, die Ihr den Geiſt nicht nöthig habt!

... Nun tanzten fie. Die Produktionen auf der Bühne waren beendet. Das Orchefter ſchmetterte und fang. Auf dem glatten Boden fdleiften, drehten und wiegten die Paare. Und Lili tanzte mit dem Kleinen Maler. Wie zterlich ihr boldes Köpfchen aus dem Kelch des geſtickten fteifen Kragens erwuchs! In einem gelafjenen und elaſtiſchen Schreiten und Wenden bewegten fie ſich auf engem Raume umber; fein Geſicht war dem ihren zugewandt; und lädhelnd, in beherrfchter Hingabe an die ſüße Trivialität der Rhythmen, fuhren fie fort, zu plaudern.

Eine Bewegung wie von greifenden und formenden Hänben entitand plöß- lih in dem Einfamen. hr feid dennod mein, empfand er, und ich bin über Euch. Durchſchaue ich nicht lächelnd Eure einfachen Seelen? Merke und be- wahre ich nicht mit fpöttifcher Liebe jede naive Regung Eurer Körper? Spannen fih nicht angefihts Eures unbewußten Treibens in mir die Kräfte bes Wortes und der Ironie, daß mir das Herz pocht vor Begier und luſtvollem Macht⸗ gefühl, Euch ſpielend nachzubilden und im Licht meiner Kunft Euer thörichtes Glück der Rührung der Welt preiszugeben?... Und dann ſank matt und fehn- ſüchtig Alles wieder in ihm zuſammen, was fi jo troßig aufgerichtet Hatte. Einmal, nur eine Nacht wie bieje, fein Künftler fein, ſondern ein Menſch! Einmal dem Fluch entfliehn, der da unverbrüchlich lautete: Du darfft nicht fein, Du folft Schauen; Du darfſt nicht leben, Du ſollſt ſchaffen; Du darfft nicht lieben, Du ſollſt wiflen! Einmal in treuherzigem und ſchlichtem Gefühl leben, lieben und loben! Cinmal unter Each fein, in Eud jein, hr fein, Ihr Lebendigen! Einmal Euch in entzüdten Zügen fehlürfen, Ihr Wonnen der Gewöhnlichkeit!

Er zuckte zuſammen und wandte ſich ab. Ihm war, als ob in alle dieſe hübſchen, erhitzten Geſichter, wenn ſie ihn anblickten, ein kalter und forſchender Ausdruck träte. Der Wunſch, das Feld zu räumen, die Stille und Dunkel⸗ heit zu ſuchen, wurde plötzlich fo ſtark in ihm, daß er nicht widerſtand. Fort:

Die Hungernden. 157

gehen, ohne Abſchied fi) ganz zurüdziehen, wie er fi) vorhin von Lilis Sette zurädgezogen hatte, und daheim ben heißen, unfelig beraufchten Kopf auf ein fühles Kiffen legen... Er jchritt zum Ausgang.

Würde fie es bemerfen? Er kannte es jo wohl, dies Fortgehen, died

fehweigende, ftolze und verzweifelte Entweichen aus einem Saal, einem Garten, von irgend einem Ort fröhlicher Gefelligkeit, mit der verhehlten Hoffnung, dem lichten Wefen, zu dem ınan fich hinüberſehnt, einen kurzen Augenblid des Schatteng, bes Nachdentens, des Mitleidens zu bereiten! Er blieb ftehen und jchaute noch einmal hinüber. Ein Flehen entitand in ihm. Dableiben, ausharren, bei ihr verweilen, wenn auch von fern, und irgend ein unvorhergejehenes Glück erwarten ? Umſonſt. Es gab feine Unnäherung, feine Verftändigung, feine Hoffnung. Geh, geh ins Dunkel, ftüge den Kopf in bie Hände und weine, wenn Du kannſt, wenn es Tihränen giebt in Deiner Welt der Erftarrung, der Ironie, des Eijes, des Geiftes und der Kunſt! Er verlich den Saal.

Ein brennender, ſtill bohrender Schmerz war in feiner Bruft und zugleich eine unfinnige, unvernünftige Erwartung. Sie müßte es ſehen, müßte begreifen, müßte fommen, ihm folgen, wenn audy nur aus Mitleid, müßte ihn aufhalten auf halbem Wege und zu ihm jagen: Bleib da, fei froh, ic liebe Di. Und er ging ganz langjam, obgleid, er wußte, jo zum Lachen gewiß mußte, daß fie feines Weges kommen werde, die kleine tanzende, plaudernde Lili. |

Es war zwei Uhr morgend. Die Korridore lagern verddet und hinter den langen Tifchen der Garderoben nidten jchläfrig die Aufjeherinnen. Sein Menſch außer ihm dachte ans Heimgehen. Cr hüllte fi in feinen Mantel, nahm Hut und Stod und verlieh das Theater.

Auf dem Platz, in dem weiblich durcdhleuchteten Nebel der Winternacht ftanden Drofchfen in langer Reihe. Mit hängenden Köpfen, Deden über den Nüden, hielten die Pferde vor den Wagen; die vermummten Kutſcher ftampften in Gruppen den harten Schnee. Detlef winkte einem von ihnen, und während der Mann fein Thier bereitete, harrte er am Ausgang des erleudhteten Beftibuls und ließ die kalte, herbe Luft feine pochenden Scläfen umipielen.

Der fade Nachgejhmad des Echaummeines machte ihm Luft, zu rauchen. Mechaniſch zog er eine Cigarette hervor, entzündete ein Streichholz und ſetzte fie in Brand. Und da, in dieſem Augenblick, als das Flämmchen erloſch, be: gegnete ihm Etwas, das er zunächſt nicht begriff, wovor er rathlos und entiebt mit hängenden Armen jtand...

Aus dem Dunkel tauchte, wie feine Sehfraft fi von der Blendung durd das kleine Feuer erholte, ein vermwildertes, ausgehöhltes, rothbärtiges Antlik auf, defjen entzündete und elend umränderte Augen mit einem Ausdrud von wüſtem Hohn und einem gewiſſen gierigen Forſchen in die feinen ftarrten. Zwei oder drei Schritte von ihm entfernt, die Fäuſte in die tief ſitzenden Taſchen jeiner Hofe vergraben, den Kragen feiner zerlumpten Jacke emporgeflappt, lehnte an einem Laternenpfahl der Menſch, dem dies leidvolle Geficht gehörte. Sein Blid glitt über Detleffs ganze Geftalt, über feinen Pelzmantel, auf dem das Opernglas hing, hinab bis auf ſeine Lackſchuhe, und bohrte fi) dann wieder mit lüfternem und gierigem Prüfen in feinen; ein einziges Mal ftieß der Menſch fur, und veräcdtlich die Luft durch die Nafe aus ... und dann fchauerte fein

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160 Die Zutunft.

zu jegen wiüßte.‘’ Uber diefe Bewunderung hinderte ihn nicht, in der Zeichnung der GSharaltere, in der Geftaltung der Syabel, in der Auffaflung des im Stoff enthaltenen tragiichen Problemd ganz und gar feine eigenen Wege zu gehen. Selbft der genaufte Vergleich beider Dichtungen (A. Yarinelli in feinem Buch itber Yope und Grillparzer) mußte zu dem Schluß kommen, daß Lopes Stüd für unferen Dichter nichts mehr als eine Yabelquelle und feineswegs Borbild war und daß in beiden Werfen der ganze große Unterjchied der Nationen und Heitalter, der die Dichter angehören, Har zu Tage trete.

Bei Lope belaufcht der an die kalte Engländerin Leonora jung vermählte König Alfonfo bie ſchöne Jüdin Raquel im Bade und verliebt ſich jo leiden: ichaftlich in fie, daß er ihr fieben Jahre lang anhängt. Raquel ift feine leicht - finnige Perfon: fie licht den König ganz aufrichtig und mit Eiferjudt; er wiederum hat nicht3 weniger als Gewiſſensbiſſe über feine Untreue, hört nicht auf vor feiner Gattin den fcheinbar guten Gatten zu fpielen, und das Xer- bältıi mit der temperamentvollen und ſympathiſchen Jüdin würde gewiß noch weitere fieben Jahre dauern, wenn fie nicht von den Spanischen Granden er: nıordet würde. Alfonjos Wuth darüber wird nur durch das Dazwiſchentreten eines Engel bejänftigt. Und die Verföhnung der Gatten gejchieht ſchließlich in der von Grillparzer alfo befchriebenen Szene: „Der König, der an den Hof zurüd will, und die Königin, die ihrem Gatten entgegenreift, treffen, ohne von einander zu willen, in einer Kapelle zuſammen, in der cin wunderthätiges Bild der Mutter Gottes zur Verehrung aufgeftellt ift. Sie Inien, von einander ent« fernt, nieder und fangen an, in lauten, fi durchkreuzenden Worten ihr Herz vor der Snadenmutter auszujchütten. Der König, der fi dadurd in jeiner Andacht gejtört findet, ſchickt ſeinen Kämmerling, die frende Dame um Mäßigung ihres lauten Gebetes zu erfuchen. Die Königin lehnt die Botſchaft ab. Sie babe ihren Satten verloren und fei in ihrem Redt, zu flagen. Indeſſen ift ihr Nammerfräulein zu dem Kammerherrn des Königs bingefniet, die Erfennungen taufchen fid} aus und das fürftlihe Ehepaar feiert feine Perjöhnung vor bem Altar der Gebenedeiten." Bon Alledem hat Grillparzer, der weder jenes Ein— reifen des Erzengels noch diefe Schlußizene verwenden Fonnte, kaum mehr als das nadte Gerippe der Handlung beibehalten, daß der König, unbefriedigt von der Kälte und Aeußerlichkeit feiner Gemahlin, der Engländerin, fi in die Jüdin verlicht, die aber von den Granden, doch nicht erſt nad) ſieben Jahren, erinordet wird. Bei Srillparzer Iernt Alfonfo die Schöne Rasel nicht wider ihren Willen kennen, fondern das überaus Fofette Mädchen legt es in feiner naiven Schlau⸗ heit geradezu darauf an, ihn zu erobern. Rahel denkt in ihrer Thorheit, der man mit dem König nur darum nicht zürnen kann, weil fie jo licbenswärdig und jinnlich beraufchend ſich geberbet, an nichts weiter als daran, im König ben denkbar vornehmften Liebhaber ihrer Schönheit zu befigen; fie ahnt in ihrer Fitelfeit nicht die Berwidelungen, die fie heraufbeichwört, fie Hat gar fein Ge- willen der Ehefrau des zu erobernden Mannes gegenüber, fie iſt eine Rhilinen- Natur ohne den Eiprit des goethifchen Mädchens. Der eigentliche Held des Stüdes ift aber nicht ſie, die Jüdin von Toledo, jondern er, der von ihr ver- führte König, der auch im VBordergrunde der Handlung Ttcht. „Was er |pricht, it Weisheit, aber erlernte Bücherweisheit. Die Welt Hat ihn noch nit im ihre

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Selbftanzeigen. 161

Strenge Lehre genommen“, heißt es jchon in ber Skizze vom Jahr 1824, wo Grillparzer ſich noch mit dem goethiſchen Yauftproblem bejchäftigte, und jo ifts auch im fertigen Stück. Unbekannt mit der Liebe, ohne Kenntniß der rauen, ift Alfonjo aus Staatsraifon in eine fonventionelle Ehe getreten, die ihn nicht befriedigt. Seine Frau ift mehr Königin als Weib; fie vergibt nie ihre Würde und verleugnet die Natur, auch wenn fie ihre ehelichen Pflichten erfüllt. Rahel aber ift nur Weib, gar nichts Anderes als Geſchlechtsweſen, Inſtinkt, Natur in reizendfter Verkörperung. Das mochte Alfonfo geabnt, aber nie gejehen, nie gefählt, nie erlebt haben: darum zündet ex beim Feuer, das Rahel entfachte. Aber er ift infofern fein echter Spanier vom Holze der Geſtalten Lopes, als er fich nicht widerftandlo8 der Leidenſchaft überläßt, die ihn jet ergreift, fondern, al3 naher poetifcher Verwandter des deutſchen Kauft, mit ihr lämpft, Schritt . vor Schritt nur der Verſuchung erliegt. Selbſt im Taumel des Genufjes bleibt er fich des Unrechtes bewußt, das er als Ehemann begeht, und bewußt auch der liebenswärdigen Unwürdigkeit Rahels, der er erlegen ift. Diefen ſeeliſchen Kampf Alfonſos dat Grillparzer mit wunderfamer Seinheit und Tiefe gezeichnet; er ift der eigentliche inhalt und Mittelpunkt des Trauerjpiels. Daher fonnte es Alfred von Berger mit Recht ein „Erziehungſtück“ nennen. Wie die Welt, das Leben felbjt den mit fo viel angelernter Weisheit erfüllten jungen König in die Schule nimmt und durch mehr Leiden als Freuden zum ganzen Mann erzieht, durch die Sünde hinauf zur wahren Tugend, zur echten Freiheit führt: Das zu ver» anſchaulichen, ift Zweck der Dichtung; und ben bat fie auch thatfächlich erreicht: Alfonjo reift vor unferen Augen. Die tiefjinnige Anſchauung vom Weſen der Tugend, die bier zu Grunde Liegt, al$ einem Gut, da8 erworben werben muß, damit man es befiße: Befiegter Fehl tft all bes Menfchen Tugend, Und wo fein Stampf, da tft auch feine Macht

diefe Lehre hat Konrad total verfannt, als er bem Dichter „moralifhe Urtheils- ichwäche” zum Vorwurf made.

Die Bedenken gegen das Stüd, zumal gegen bie „Grauſamkeit“ des Schluſſes, haben einen anderen Grund. Das Thema der „Jüdin von Toledo“ iſt nah verwandt mit dem der ‚Agnes Bernauer’ von Hebbel: hier wie dort wird ein Einzelweſen der Staatsraiſon zum Opfer gebradt. König Alfonjo ift fih bewußt, daß, wenn Könige fündigen, das ganze Volk darunter zu leiden hat: „Was Andern Laune, ift beim Yürlt.n Schuld." Dieſes Thema ift Grillparzer dur den Sfandal, den die Tänzerin Lola Montez dem König Ludwig von Bayern madte, jo zwar, daß er gezwungen ward, 1848 dem Throne zu entfagen, um dieje Zeit nah gelegt worden, und Uuguft Sauer vermuthet daher, daß der Dichter eben deshalb damals den alten Plan feines Stüdes wieder aufgenommen unb es vollendet habe. Im Gedicht „Lola Montez“ (1847) Heißt es, ganz im Beilte der „Jüdin von Toledo‘, am Schluß: „Drum kehrt Euch nicht verachtend von dem Weib, in deren Arm ein König ward zum Mann: fie gab dem befjeren Gedanken Leib, verlor fich ſelbſt, allein die Welt gewann.“ Aber jo wenig wie Hebbel gelang es Grillparzer, die gefährliche Härte dieſes außerordentlichen tragifchen Motivs dichterifch zu überwinden. So viel ſich auch Srillparzer bemüht hat, für feine von Yaune, Uebermuth, Sinnlichkeit und harm⸗

182 Die Zutunft.

loſer Thorheit Iprühende Nadel feine volle tragiihe Sympathie lafen, wie viel Schuld auch auf Rahel durch die Charatteriftik it Baters gehäuft wird, jo daß ihr Tod als nur zu fehr verdient e man fommt ſchließlich dennoch nicht darüber hinweg, daß ſich Alfo raſch von der Liebe zur ſchönen Jüdin ernächtert fühlt, daß ihn d Leiche fo fehr anwidert und daß er zwar fid) felbit mit ber 3 ftraft, aber den Mörbern feiner Liebe auch jo raſch verzeiht. Hie jene Herbheit Grillparzers ald Tragifer, die Bolfelt mit Nahdı die in feltfamem Bunde mit jeiner Weichheit in jo vielen anderer fteht. Berger meint, ber Fehler des Stüdes liege darin, daß d der Jüdin, die ſpaniſchen Granden mit Don Manriquez an be männlid) bedeutend genug gezeichnet feien, um den Staatsgeban fih Rahel verjündigt und den fie vertreten, mit genügender Sr lichen zu konnen. Und wir wiſſen aus eigener Erfahrung (im daß die Darftellerinnen der Königin, einer ſchauſpieleriſch freili Rolle, weil Leonore eine uniynpathifche Figur fein fol, ein Ueb herbe Poeſie des Stüdes zu verwirren, indem fie dieſe Königin der Ehe verwandeln; dann verfteßt man Alfonjos Handlungen Wien. Dr. Moı

Zwiſchen zwölf und vierzehn Uhr. Dresden 1903, Diven In Inhalt und Form find meine anſpruchloſen Erzählu ſchieden. Sie find ſämmtlich während meiner Univerfitätzeit « noch Alles, ſelbſt das Beſcheidenſte und Unbedeutendſte, fi mit meiner Seele einzeichnete. Damals ſchrieb ich fie nieder, wie

hatte. Das fihert ihnen eine gemwifle fubjeftive Wahrheit. Brünn. Dr. Wibert

®

Hochzeitnacht. Geſchichten in Mol und Dur. Breslau, lagsanftalt von ©. Schottlaender.

Diefes Buch foll mit jeinen achtundzwanzig Geſchichten tosmos des menſchlichen Lebens bieten, wo Schmerz und Frei vertheilt find. Darum ertönt Hier das erjchütternde Klagen der leii das befreiende Lachen des Humors und das ſcharfe Hogngelädi

Weißenſee. Mar! ® Starte Liebe. Verlag von G. Müller-Mann in Leipzig.

Es ift eine allgemein verbreitete Anſicht, daß eine Gouve glücliches, graufam unterdrüctes Wefen iit, und es gehört ein dazu, das Gegentheil zu behaupten. Nun: ich habe ihn; denn erfahrung hat mid; gelehrt, daß aud; die Gouvernantenfrage ih hat, und ich erlaube mir, die zweite, wenig bekannte oder vor Seite diejer Frag: in meinem Roman zu zeigen, deſſen Hauptp Leben gezeichnet ift.

Düffeldorf. Annan *

Antwort. 163

Antwort.

ERS inem Stritifer ſeines im erſten Jauuarheft veröffentlichten Auffages „Ehrijten- ON thum und Kapitalismus“ wünfcht Herr Karl Jeniſch öffentlic} zu antworten. Bier ijt fein Brief:

„Sie lefen meine Aufjäge gern, aud) wenn Sie den darin au:gejprochenen Anſichten nicht beizupflichten vermögen, fühlen fid aber dunch meine Behauptung, daß die Menſchen den chriftlichen Herrgott brauchen, zu heftigem Wideripruch heraus⸗ gejorbert. ‚Welchen Standpunkt man aud) einnehinen möge: von jeden aus müjlen Sie darin als Utilitarier erfcheinen. Wie? Gott muß fein, weil er nüßlich oder unentbehrlich ift? Ch der Blitz r.üglich oder ſchädlich iſt: er iſt. Zur Erklärung des Weſens der Elektrizität braucht man Hypotheſen; an ihrer Exr’ften; zweifelt Nie- mand.‘ Geftatten Sie mir zunädft, dem legten Saß bie forrefte Form zu geben: ‚An der Wirklichkeit der Erfcheinung, die wir Blitz nennen, zweifelt Niemand; zu ihrer Erklärung brauchen wir cine Hypotheſe, die Hypotheſe der elektrifchen Welle, mit der wir zugleich auch viele andere Erjcheinungen erklären.“ Elektrizität ijt die gemeiniame Bezeichnung für eine Dienge verwandter Naturerjcheinungen und für ihre hypotbetifche Urfadhe. Der Weltgrund gehört weder in das Bebiet der Er- ſcheinungen nod in das der mathematischen und logifchen Säße; er ift weder unferen Sinnen noch unferem Berftand zugänglich. Uber unjere Vernunft muß ihn denten. Die Form nun, die man ihm giebt, ift die Univerſalhypotheſe. Je nach ber verjchie- denen Struktur feines Denkorgans giebt ihn ber Eine die Form des chriſtlichen Bottes, dir Anbere die der abſoluten Idee oder des Unbewußten (das cine ſehr form= lofe Form ift) oder der Naturfaufalität. Etwas Anderes als eine Hypotheſe kann Gott fürden Denkgeiſt, für die Philoſophie, niemals fein; wäre es anders, jo würden die Denker über fein Dajein oder Nichtfein fo wenig ftretten wie über den Pytha⸗ goräcr oder über die Ludolfſche Zahl oder über das Dafein des Balfens, an den fie ſich im Finſteren ftoßen. Sie, gechrter Herr, entrüften fi nun gerade darüber, daß ih Gott zur Hypotheſe made. ‚Wenn Sie fagen: Millionen Unglüdliche brauchen einen Herrgott, jo ftellen Sie damit die wirkliche Exiſtenz Gottes in Frage, jo machen Ste die Exiſtenz Gottes abhängig von ihrer vorar sgeſetzten Nüßlichfeit ober Unent⸗ bebrlichkeit. Damit ift Bott ein bypothetifcher Gott, kein fchlechthin criftirender.‘ Seitdem e8 Denker und eine Philofopbie giebt, ſteht Gott in Frage; ich brauche ihn alfo nicht erft in Frage zu itellen. Den falſchen Schluß: die Menſchen brauden den Glauben an Bott, aljo exiſtirt Gott, habe ich nirgendS gezogen; ohne danach zu fragen, ob dieſer Glaube begründet ijt oder nicht, erinnere ich nur an die Thatſache, daß Millionen ihn brauchen und daß daher die Anjtrengungen Derer, die ihnen di: jen Glauben entreißen wollen, vergeblich find. Ihre dann folgende Philippifa gegen die ‚Mittelparteiler‘, die aus felbjtiüchtigen Beweggründen Religioſität heucheln, fteht zu dem Thema in gar feinerBeziehung. Sie kommen mit ihr zu einem Schluß, ten ich nicht verftehe ‚Wer die Wahrhaftigkeit, die Grundlage alles Guten und Sitt- lien, befördern will, muß fi) auf einen der beiden Standpuntte ftellen: entweder er muß wirfli und wahrhaftig aus Gewiſſensdrang an einen jchlechthin exiſtiren⸗ den, perfönliden, allmächtigen und allwiffenden, für jeden Menjchen im geiftigen Rapport des Gebetes zugänglichen Gott glauben oder er muß offen und ehrlich an cimen ſolchen Gott nicht glauben, weil es ihm fein Gewiſſen verbietet. Was da—

164 Die Zutunfe.

zwiſchen Liegt, ift Unwahrhaftigkeit und Heucelei.‘ Hier find wieder zum einige Unklarheiten zu bejeitigen. Nicht aus Gewiſſensdrang glaubt man, ſond weil man als Kind den Glauben empfangen hat, oder aus perfönlicher Leb erfahrung. Glauben, Nictglauben und Schwanken zwiſchen Beidem find ni Wilfürlihes; deshalb fan man weder dazu verpflichtet no fann Eins von verboten werben. Es hat alfo feinen Sinn, zu fagen: Die Wahrhaftig fordert, daß Du glaubft oder nicht glaubft. Die Wahrhaftigkeit fordert nur, man fi nit zu einem Glauben befenne, den man nicht hat Unerfüllbar, d unbillig, ift au Ihre Forderung, daß ſich Jeder für oder wiber das Dafein Ge entfcheiden fol. Was wollen Sie denn mit einem Menfchen machen, der nicht ſich ins Reine tommt? Wenn Sie ihm ben Kopf nicht abichlagen: mit Sche bringen Sie ihn aus feinen Zweifeln nicht heraus. Die Entſchiedenen aber deren Zahl ift nicht Hein erfüllen ja Ihre Forderung; bie Einen glauben an C die Anderen glauben nicht an ihn. Was wollen Sie alfo noh? Wollen Sie, Jedermann ein Öffentliches Bekenntniß ablege? Das geichieht ja aud alle 2 von beiden Seiten. Wollen Sie, daß ich Farbe befenne? Das habe id ja ſ ſehr oft gethan: ich Habe mich für den chriſtlichen Bott entſchieden. Wenn Sie fa wer fi nicht für den chriſtlichen Theismus ober für den Atheismus eutſcheide, letze bie Wahrhaftigkeit, jo ift Das ungefähr jo, wie wen Sie fagten, wer fi ı für den Atomismus oder für den Dynamismus entfcheidet, ift unfittlich. Das w dann die Vertreter der neuften Hypotheſe, des Energismus, treffen. Ober me " Sie die Hypothefen ganz verbieten? Dann verbieten Sie nur gleich die Phyſi der man feinen Schritt tun kann ohne eine Hypotheſe, eine Borausfegung; Borı ſetzungloſigkeit ift und bleibt eben in jedem Sinn Unfinn und Lüge. Nun iftja lid die Gottesidee nicht blos Hypotheſe, ſondern zugleich auch Kraft, weil fie n gleich den phyſikaliſchen Hypothefen, nur der intellektuellen Sphäre angehört, fon auch der äftgetifchen, ber moralischen und der Sphäre der Begehrungen. Un diefen Regionen der Pſyche nun hat fie ſich feit Jahrtauſenden nützlich und un behrlich erwiefen. Wenn ih Das von Zeit zu Zeit fonftatire, bin ich weder ein tarier noch fonft ein ‚arier‘, fondern nur nüchterner Thatſachenmenſch. Utilitari der Religion wäre ic, wenn ic, als Geiſtlicher fo Etwas ſoll ja hier und da ve tommen fein —, den Leuten gerade den Gott predigte, den fie für ihre Leidenſcha brauchen, etwa ein Goldenes Kalb oder eine Venus oder einen Kriegsgott, unt durch diefe Leute für meine eigene Zwede einfinge. Indem ich nun das Hocjgela und höchſt aufgeflärte Publitum ab und zu an eine ihm unbequeme Thatſach innere, glaube ih, Nügliches zu tun, denn es kommt alle Tage vor, daß fich geld Leute an Balken, die fie nicht fchen wollen, ben Schädel einrennen; Thatſachen unverfhämt harte Balfen. Iujoiern bin ich ja wirklich Utilitarier, aber diefen LI tarismus werden Sie hoffentlic) verzeihen; Sie müßten es denn licher jehen, n die Menſchen Unnüges und Schädliches thun, etwa aus kantiſchem Rigorismus dem Rezept von Schillers Diftihon”. Neiffe. * Karl Jentſd

Bleichröder.

eulich verfündete uns eine kleine Notiz, im Januar dieſes Jahres f das Bankhaus S. Bleihröder das Jubiläum feines hundertjährigen

Bleichröder. 188

jtehend. Mehr haben wir bis zu der Stunde, wo ich dieſe Zeilen jchreibe, nicht gehört; unbefannt tft der Inbiläumstag, unbekannt find aud die Ubjichten der Geſchäftsinhaber. Bielleiht ijt auf eine geräufchvolle eier verzichtet worden, weil erft vor Eurzer Zeit ber junge Grorg von Bleichröder auf einer Automobil» fahrt jähen Tod fand. Hoffentlich merken wenigftend die Beamten des Haufes mehr von bem für bie Firma wichtigen Gedenktag, als Hanſemanns Spartrieb die Beamten der Disfontogefellichaft von deren Jubiläum merken ließ; nicht einmal die Denkichrift, die doch wenigftens einen Buchhändlerwerth von fünf Mark Hatte, wurde allen Beamten bejchert: die meilten durften fih an dem Be⸗ trag ſatt jehen, der in der Gewinn und Verluſt-Rechnung auf das PBenfion- fondskonto gebucht war. Die Firma Bleichröder Hätte eigentlih allen Grund zu lauter eier; denn kaum jemals ift eine Privatficma in ber kurzen Beit- ſpanne eines Jahrhunderts zu fo unbedingt herrfchender Stellung gelangt. Als der Abſchluß des fünfundfiebenzigiten Gefchäftsjahres gefeiert wurde, gab der Sozius Gerfons von Bleichröder, der inzwiſchen auch verftorbene Geheimrath Schwabad, eine Erklärung des rajchen Erfolges; drei Sonnen, fagte er, haben dem Haufe Bleichröder geleudhtet: die Gunſt Rothſchilds, Bismarcks und des erften Deutichen Kaiſers. Diele drei Sonnen ſchufen den Glanz. Nur durch ſolche Berbindung glüdlider Umftände fonnte das Geſchäft, das der Kleine MWechöler Samuel Bleichröber 1803 in Berlin gründete, zum Welthaus werden. Vorfahren der Familie Bleichröder lebten ſchon lange in Berlin; kluge Leute fcheinen darunter geweſen zu fein. Moſes Mendelsfohn erzählt, vom ber- liner Armenverwejer fei ein junger Jude aus dem Weichbild gewieſen worden, weil er ein deutſches Buch bei fich trug und dadurch ftrafbarer Emanzipationbeitreb: ungen verdächtig wurde. Dieſer Bildungjucher war der Ahnherr der Bleichröder. Das Gefhäft Samuel! mag anfangs recht und ſchlecht gegangen fein, wie andere aud. Uber ſchon Samuel verjtand, wie jpäter fein Sohn Gerſon, fih wertd- volle „Beziehungen“ zu fihern. Der Präfident der preußiſchen Seehandlung, der allerdings den nicht ganz ariichen Namen Bloch trug, gehörte zu den Pro- teftoren des jungen Geſchäftes. Gegen Ende der zwanziger Jahre fam der Frei⸗ herr Anfelm von Rothſchild nach Berlin, um einen Vertreter zu juchen, der ihm namentli das in der Familie Rothſchild ſchon damals traditionelle Diskont: geihäft in Preußens Hauptſtadt bejorgen follte. Präfident Bloch empfahl Bleich⸗ röder; und Rothſchild nahm den Vorſchlag vielleiht um. fo lieber an, als er in dem Kleinen Juden nicht einen künftigen Konkurrenten wittern konnte. Er Hatte die Wahl nicht zu bereuen. Auch Gerſon Bleichröder blieb, ald er nad des Vaters Tod Chef geworden war, ben franffurter Herren ein ergebener Diener. Das wird manchmal wohl nicht leicht geweien fein; am Schwerjten gewiß in der legten Beit, als der eigenfinnig bizarre Willy von Rothſchild das deutſche Geſchäft mehr und mehr einengte und fchließlih ganz verfumpfen ließ. Nie aber vergaß Gerfon Bleichröder, daß er dem Haufe Rothſchild das Anſehen zu danken Hatte, ohne dag die Entwidelimg feiner Firma unmöglich geworben wäre. Eine Weile war er wohl nur Rothſchilds Vermittler. Dadurch aber, daß bie größten Bankhäufer, wein ihnen am erjten Fälligkeitstage ihre Accepte vorge- legt wurden, ftet3 vor dem jtolzen Giro M. U. von Rothſchild & Söhne bie

Unterfhrift S. Bleichröder jahen, wuchs natürlih das Preftige der Firma, die .

immer zufammen mit dem beften Namen der deutichen Finanzwelt genannt

166 Die Zukunft.

wurde. Mit dem Nimbus wuchs aud) der Kundenkreis; und als der Kapitalig- mus fiegreich nad) Deutfchland vordrang und von dem franzöfiicden Börſenkaiſer- thum Louis Napoleons der wirthfchaftliche Wagemuth fich über die Nachbarländer verbreitete, war Bleichröder ſchon eine Macht.

Noch leuchtete ihm Rothſchilds Sonne im hellitem Mittagsglanz, und ſchon ftieg an feinem Himmel ein neues Taggeſtirn auf: in ſtürmiſcher Zeitwar Otto von Big- mard an die Spite der preußiichen Regirung getreten. Als Diplomat, vielleihtdurd) Rothſchild in Baris oder frankfurt, mager mit Bleichröder befanntgemorden fein und ſchon nad} kurzer Zeit tufchelte man an der berliner Börje, Gerfon Bleichröder fei der finanzielle Bertrauensmann bes neuen Minifterpräfidenten. Bismards Auf: gabe war, mit eijerner Willensfraft den Konflift mit dem liberalen Abgeord: netenhaus durchzufehten. Bald erfannte er die Nothwendigkeit einer friegerifchen Auseinanderjegung mit Oeſterreich, mußte aber noch nicht, woher er das Geld zum Krieg nehmen follte, da die Volksvertreter für Bewilligungen nit zu haben waren. Er rief Bleichröder zum König nach Karlsbad. Eine heifle Situation für Gerjon. Er durfte dem König nicht verſchweigen, daß Rothſchild eben fo wenig wie ein anderer deuticher Bankier daran denken konnte, einer Regirung zu pumpen, der die Steuern verweigert wurden und die ein unglüdlicher Krieg über Nacht ind Grab fegen fonnte. Da er aber auch den wichtigen Kunden nicht verlieren wollte, wählte ereinen Ausweg, den er ohne Rifiko Betreten fonnte: er bewog die preußifche Regirung, ihren Antheil an der Köln-Mindener:Bahn zu verfaufen. Für ihn jelbft wars wohl fein fchlechtes Geſchäft; und Bismard erhielt dadurch zunächſt wenigftens die zum Beginn des Krieges nöthigen Mittel. Diejer kluge Vorſchlag verfchaffte Gerſon Bleichröder die Gunſt des alten Königs und befeftigte damit feine Stellung nod wejentlid. Als dann Frankreich befiegt war und die erite Rate der Kriegsent— Ihädigung bezahlt werden follte, ricf ihn Bismard nad BVerjailles ins Haupt» quartier. Nach jeinem Rath wurde der Zahlungmodus beftimmt und der kluge Mann brachte es wieder fertig, feinen beiden Herren, Rothſchild und Bismard, zu gleicher Zeit einen Dienft zu erweilen. Die preußifchen Unterhändler wollten anfangs Wechſel des parijer Rothſchild, wegen feines Verhaltens in der Sriegs- zeit, nicht in Zahlung nehmen. Bleichröder brachte jie von dieſem Vorhaben ab und bemwahrte fie damit vor den Schwierigkeiten, die entitanden wären, wenn man etwa gar die Wechſel des Welthauſes Rothſchild abgelehnt Hätte. Bleich— röders perjönliches Auftreten in diejer hiltoriichen Zeit lernen wir aus einer Stelle der jüngjt veröffentlichten Briefe und Tagebuchblätter de3 Generals und Admirals Albredt von Stoſch kennen, der am dreizchnten Februar 1871 aus Berjailles ſchrieb: „Zum Empfang der Mechjel ift Bleichröder hierher fomman- dirt. Er gerieth in ſpaßhafte Begeifterung über zwei Wechſel zu je zwei Mil- lionen Thaler von Rothſchild, zeigte jie mir wiederholt und fragte mid), ob es wohl Schöneres gebe. Er war Feuer und Flamme dafür, jo viel Geld auf jo Eleinem ‚Zettel vereinigt zu ſehen.“ Stolz, wie ein Singenieur eine techniſch meilterhaft gebaute Brüde betradjtet, jah Bleichröder auf die beiden Urkunden, die den Fortſchritt der Technik des Geldverkehres bezeugten, doppelt Stolz, weil die Rothſchilds, feine Intimſten, dieſes Meiſterſtück geleijtet hatten.

Aus dein Hauptquartier kehrte Gerſon Bleichröder mit dem Eifernen " Kreuz und dem Adelsbrief an die Spree heim. Den Männern, die in heißem

Bleichröder. 167

Ringen auf dem Schladitfelde das ſchlichte Tapferkeitzeichen erfämpft hatten, war nicht zu verargen, daß fie grollend bie Dekorirung des Finanzmannes jahen. Bismard Hatte mit dem Vorſchlag diefer Auszeichnung einen Fehler gemadit, ber bier zum Born, dort zum Hohn ftimmte. Im Kladderadatſch wurde der neue Ritter des Eifernen Kreuzes mit einer Couponſchere als einziger Waffe vorgeführt. Jules Favre hat erzählt, Bismard babe gewünfcht, daß bie Franzoſen fich auch bei den jpäteren Ratenzahlungen Bleichröbers Hilfe bedienten; bie Abſicht fei aber aufgegeben worden, weil ber Bantier fi eine Garantieprovifion ausbedang. Nah dem Krieg Fam die Gründerzeit. Bleichröder machte das Treiben recht eifrig mit, wenn er fich auch nicht fo weit vorwagte wie Hanjemann. Beide Batten parlamentarifhen Schildfnappen. Herr von Kardorff, damals noch über- zeugter Freihändler, durfte fi an den fetten Tantiemen der Laurahütte und anderer Gründungen Bleichröderd erfreuen; er ließ ſich bieje mühelojen Profite gefallen, um, wie er gefagt bat, „feine parlamentarische Thätigfeit ohne Ver⸗ mögensverlujte ausüben zu können“. Auch die Gründung der Preußiſchen Central⸗ bodenfreditgelellfchaft, die die Segnungen des Credit Foncier nad) Deutſch⸗ land verpflanzen follte, vertrat Herr von Karborff mit anderen Parlamenta- riern, wie von Bethmann-Hollweg, van Bernuth, von Wedell-Malhow, Braun- Wiesbaden und Genojien. Als Gründer der Bodenkreditgejelihaft zeichneten Baron Karl von Rothſchild, Baron Abraham von Oppenheim, Gerjon Bleich- zöder, Adolf Hanjemann und Oberbürgermeijter Miguel. Die berüchtigte Gründung der Deutichen Reichd- und Kontinental-Eijenbahngejellichaft, die Pojen-Sreuz- burger, die Weimar:Geraer, die rumänijhe und die Gotthardbahn kommen zum Theil auch auf das Konto Bleichröders. Nie hat Deutfchland eine ſchlimmere Korruption gefehen als in diefen wüjten Jahren. Warlamentarier, Gelehrte, Deinifter waren von der Gier, jchnell reich zu werben, bejejlen. Und Bismard, dem der unbefangene Kritiker eine perſönliche Schuld mindeſtens nicht nachweiſen kann, hat ficherlich felbjt damals Fehler gemadt; ein Beijpiel: die verhängniß- volle Transaktion mit dem Reichsinvalidenfonds. Was dann geſchah, iſt noch in Aller Gedächtniß. Lasfer trat auf. „Gründer!“ brüflte die eine, „Hetzer!“ antwortete die andere Seite. In beiden Lagern wurde gejündigt. Wohl verdienten die Leute, die das Schandtreiben mitgemadt Hatten, den Pranger; doch die An- greifer Ichojjen weit übers ziel hinaus. Die Strömung, die fo wild einjehte uns Schlamm und Koth ins Land fpülte, mußte fommen und fam zur richtigen Stunde: die Aftiengejellichaft ift nun einmal dag Symbol des modernen Grop- kapitalismus, gegen den jeder Einzelangriff bürgerlicher Bolitifer zwecklos und finn- 108 fein mußte. Aber der See rafte. Wer ſich überhaupt nur an der Gründung einer Aktiengeſellſchaft betheiligt Hatte, wurde verdammt. Wie faljch dieſes Vor- urtheil oft war, lehrt gerade die Gejchichte der Gründungen Bleichröders: faft alle find fpäter gut geworden. Die fo laut verläfterte Laurahütte gehört heute zu unferen beiten Werfen und auc für die Gründung der Zechen Hibernia und Shamrod, der damals die Börje jelbft den Spottnamen „Schamroth“ gab, jprit der Erfolg. Dat Bismard fi je an Gründungen betheiligt habe, tft nicht bewiefen. Seine innere Politik aber mußte den liberalen Gründern will» kommen jein und jein Berhältniß zu Bleichröder wurde deshalb von den ver- ärgerten Stonfervativen zum Biel ihrer Angriffe gemadt. Nicht nur der Higige

168 Die Zutunft.

Dr. Berrot, der Berfafier der Deflaranten- Artikel der Kreuzzeiti Tuchtigkeit kritilloſe Glagau und der fromme, fanatifche und f Daber befämpften ihn perfönlich wegen feiner Beziehungen zu BI auch der geiftig viel Höher ſtehende Mubolf Meyer. Wunder Kanzler barüber nicht. Dem Bantlier ſtand die Thür des früheren ſtets offen, er wurbe mit diplomatiſchen Miffionen betraut un! vollmacht für die Verwaltung des fürftlichen Vermögens. Dieft- Bleichrdder habe Bismard achtzehn Prozent Binfen erwirthſchaf Weſen und mehr noch ſpäter das feiner Söhne war

perfönlide Antipathien zu weden. Er prunfte mit feinen of ſah die Höchften civilen und militärifchen Würbenträger frei jelbft*) auf feinen Bällen, wo der felbe Offizier vortangte, bei Amt zufiel, und man erzählte, der Parvenu weigere fi, bür einzuladen. Daß Bleichrdder feine politifgen Informationen nugbar machte, ift ſelbſtverſtändlich; und eben fo, daf die Fein! Gewinne fahen, nicht aber die Millionenverlufte, die aud nic ein Beifpiel anzuführen, erinnere ich an die verfehlte Rubelſp unternahm, als der Afghanenkrieg zu drohen ſchien. Nachdem $ war, wurde es auch um Bleichröber ftiller. Doc; gehörte er die ein felbft für Bismards Feinde efelhaftes Schaufpiel Jahrzehnte lang Umſchmeichelten gef wind abwanbten, als 5 befallen. Dem Mann, der für die Größe der Firma fo viel ge der alte Gerſon ein dankbarer Bewunderer.

Am neunzehnten Yebruar 1893 ftarb ber längft Erblinbetı Leichenwagen folgten bie Vertreter vieler Monarhen und wurde der Nimbus feines Gefchäftes zu Grabe getragen. Seit tot ift, unterſcheidet das Haus Bleichrdder ſich faum noch von and⸗ häufern, Nicht ein Sohn Gerfons ift heute der eigentliche Lei junge Dr. Baul Schwabad. Der Väter Thatkraft fgeint fi e jeltenen Fällen bis ins dritte Glied zu vererben; meift muß mar wenn wenigftens der Väter Reichtum unangetaftet erhalten BI

*) Ein Berhältniß perfönlicher Intimität Hat zwiſchen Bist

rdder niemals beitanden. Der Kanzler hatte feine Zeit, ſich ſelbſ Sachen zu fümmern, und überließ dem als klug bewährten Bankier Die Behauptung Diefts, Bleichröber habe achtzehn Prozent heram _ Elingt recht unwahrſcheinlich. Daß ein Mann in der herrſchenden Stellung Bleid)- roders das Vermögen des Gönners gut anlegte, ift Har. Hätte Bismard fpefulirt oder ſich gar an Gründungen betheiligt, bann hätte er viel beträchtlichere Summen hinterlaffen. Er ließ den Bankier forgen und griff fo felten perfönlid ein, daß BVleichröber ganz entſetzt war, als der Kanzler plöglic den Verlauf feiner ſämmt lichen ruffifchen Papiere forderte. Ob ein Krieg in Sicht fei, fragte er. Nein, fagıe Bismarck; aber auf der ruſſiſchen Seite können fchließlich ſtets Reibungen entftehen und in einer ſchlafloſen Nacht ift mir eingefallen, daß ein deutſcher Kanzler nicht durch ſeinen Beſitz am Wohlergehen der Ruſſen intereſſirt ſein ſollte. M. H.

Serautgeber und verantwortiicher Redakteur: MR Hatden in Berlın. Sertag der Zukunft in Berlin. Drud don Mlbert Damde in BerlineGchöneberg.

Berlin, den 31. Januar 1905. —— —ñ

Der Kaiſer im Reichstag.

& Erfurt wurdenacheiner Barfamentsfigungim Frühjahr 1850 eirimal bie Frage erörtert, wie ſtark die in Böhmen gefammelte öfterreichifche Truppenmacht wohl fein möge. Die von Pfuel zum Abendefjen geladenen Abgeordneten nannten verfchiedene Ziffern; einzelne erzählten, vertrauliche Nachrichten fprächen von ungefähr Hunderttaufend Mann. Joſeph Maria von Radowitz, der General und Günftling Friedrich Wilhelms des. Vierten, hörte eine Weile ruhig zu und fagte dann, mit der Miene unmiderleglicher Gewißheit, in entfcheidendem Ton: „Oeſterreich hat in Böhmen 28254 Mann und 7132 Pferde“. Radowitz war ſchon damals der eigentliche Leiter berausmärtigen Politik Preußens und der Mann des löniglichen Vertrauens; er mußte Beſcheid wifjen und Niemand durfte wagen, dem fompetenteften Be- urtheiler zu widerfprechen. Doc) dem Abgeordneten Dito von Bismard fehlte der Ölaube an die Botjchaft; und er erfuhr denn aud bald, daß Oeſterreichs böhnifche Truppenmacht viel ftärker und Radowitzs Ziffer einfach aus der Luft gegriffen war. Die Heine Geſchichte tauchte beim Leſen der neuften Reichstagsſtenogramme im Gedächtniß auf. Graf Bülow ift als Intelligenz und als Redner, trotz der Preßkultur, beträchtlich ſchwächer als der General, über den Polte Gerlach, der Flügelmann des anderen Kamarillagliedes, ſchrieb: „Die Verehrung des Königs für Radowitz beruht auf feinem ſchein⸗ bar ſcharf logifch-mathematischen Raifonnement, bei dem feine gedankenloſe Indifferenz es ihm möglich macht, jeden Widerfpruch mit dem König zu ver- meiden; nun jieht der König in diefer feinem Fdeengange ganz entgegen: gejegten Denlart die Probe für das Exempel, das er fich zufammengerechnet 18

170 Die Zufunft.

hat, und hält fich fo feiner Sache gewiß." Tas ſchärfer Hinfchauende Auge findet im Bilde des vierten Kanzlers dennoch Achnlichkeiten mit dem Dann, den Bismard „den geſchickten Garderobier der mittelalterlichen Phantaſie des Königs” genannt hat. Auch Nadowig war mehr Redner als Politifer; aud) jeine— an Geiſt freilich viel reichere, von viel tieferer Bildung geſtützte Rhe⸗ torifglich einem Feuerwerk, das nach kurzer Herrlichkeit ſpurlos verpufft; auch feine Reden wirkten nur auf den geblendeten Hörer, nicht auf den fühlen Leſer; und auch er verſtand, wenn er das Wort hatte, alle Schwierigkeiten wegzu⸗ Iprechen und den behaglichen Glauben zu verbreiten, an den preußijchen Zu: ftänden fei nichts auszujegen und Untenntniß nur oder Mißverftand könne dans le meilleur des mondes possibles ſich in Klage und Tadel verirren. Lange hielt dieſes Brillantfeuerwerf ja niemals vor ; doch dann ſtieg eine neue Rakete hHimmelan und wieder war für ein Weilchen die unbequem laute Sorge beichwidhtigt. Graf Bülow hält fid) an daS felbe Nezept, und wenn in der höfifchen und diplomatiſchen Schicht die Ichöne Maske auch recht lange ſchon durdhichaut ift und das Volkgempfinden der immer bereiten, immer gleich hod) geftimmten Beredſamkeit die Reſonanz verfagt: ımter Parlamen- tariern und Sournalijten findet der Portefeuilletonift nod) Bewunderer. Er ift fo höflich, behandelt Jeden fo gut, räufelt niedliche Schnigel und hat alle Töne in feiner Kehle: leichten Scherz und männlicdyen Ernft, Diplomaten- disfretion und biedere Offenheit; und nie ärgertden Hörer, den Freund oder Feind, die läftige Gewalt einer überlegenen Perjönlichkeit. Einen fo ange: nehmen Herrn fränkt man nicht ſelbſt wenn man fich verpflichtet glaubt, ihn, dem Wähler zur Freude, unjanften Tadelhörenzulaffen, wirdausden Wort- geplänfelnie blutiger Ernſt. Die Agrarier werfen ihm vor, er weigere ihrem Gewerbe den unentbehrlichen Schus, die Eobdeniten, er habe mit unguläjfi- gen Mitteln einen Hunger- und Wuchertarifdurchgedrücdt; faft alle Parteien, an ihrer Spige das Centrum, rügen, daß er den Kaiſer nicht ausreichend informirt, nicht vor ungedeckt ſchroffem Urtheil und jichtbarem Irrthum bewahrt. Soldje Uebereinſtimmung könnte, trogdem fein Gefeß die Ber: antmwortlichfeit bindet, einem Kanzler das Yeben fchr fauer machen. Dod) Niemand denft an ernſte Konſequenzen. Das Budget oder wenigſtens de Poften „Schalt des Reichskanzlers“ ablehnen? Cine Petition of Rig an den Kaiſer ſchicken? Kein Wunjd) fliegt zu fo fteilen Höhen. Graf Bi

- lorv redet, Graf Bülow lächelt, und die cben nod) wildeften Männer blicken aus heiterem Ange getroft zu ihm hin und auf der Tribüne Schinungel die Zeitungfchreiber: „Hölliſch gejchickt hat ers wicder gemacht“.

Der Raifer im Neichstag. 171

Arch diesmalwieder. Naive Seelen hatten, weil imSommer und Herbft Gewitterwolken aufzuziehen ſchienen, eine lange nachhallende Entladung der atmofphärtjchen Elektrizität gefürchtet. ‘Die dem bayerischen Centrum und der deutichen Sozialdemofratie vom ReichSoberhaupt zugefügte Krän- fung, das von der dickſten Tünche nicht zu verbergende Wirthichaftelend, die zum Theil ſchon fichtbaren Folgen des fat beifpiello8 unklugen Vorgehens gegen Venezuela, ein Reichshaushaltsetat, deralle Fehler einer unfteten Par- venupolitik enthüllt und den Muthigſten fchreden könnte: gefährlichen Kon— litten war nicht auszubiegen. Die Perſon des Kaiſers würde in die Debatte gezerrt, der nützliche Glaube an die Feitigfeit unferer Inſtitutionen gelocert und dem Kanzler nur die Wahl gelatjen werden, beim Kaiſer oderim Reichs⸗ tag das Spiel zu verlieren. Die Nengftlichen wurden von ihrem Gedächtniß undihrer Pfychotogie schlecht bedient. ingefähr fo wars nach den Hochlommer- jenjationen jaimmer gewejen und immer wurde der Sturm, der Kurzfichtigen zu drohen schien, ohne allzu große Mühe deichworen; warum follte e8 diesmal anders fein? Wer fich von Heldenpoſen nicht ſchrecken läßt, weiß, dag Niemand ei- nen ernftenKonflift wünſcht und dieWildeſten jich mit der kleidſamen Grimaſſe der Leidenſchaft begnügen. Nichts zu fürchten, nicht8 zu hoffen; nicht einmal die in der Welt Schwarzer Kunſt beliebte „Klärung der Situation.” Nichts. Graf Bülow wird lächeln, wird reden und haarjcharf bemeijen, daß fein Tadelswörtchen fachlich begründet ift; dann verrollt der Theaterdonner in die Soffitten und Alles kehrt wieder zur alten Ordnung. So ift8 gelommen; troß der wiher Erwarten thörichten, jeden gerechten Sinn zur Wuth aufrei- zenden Taktik des fenilen Neichdtagspräjidenten tft Allc8 glatt gegangen. Herr Omnis blieb gleichgiltig ; und die Bolfevertreter erhigten fich gerade nur bis zu dem Thermometerſtrich, der die richtige Wahltemperatur verhieß. Keine Budgetweigerung, feine Drohung, feine Refolution. Als aus Morgen und Abend der fünfte Tag ward, konnte Candides Hofmeifter mit der Stim- mung zufrieden ein, war unter derdentichen Sonne nichts Neues zu ſchauen.

Manche gute Rede war gehalten und das perlönliche Syſtem Wil- helms des Zweiten aufrichtiger als je vorher fritijirt worden. Nicht nur von Demofraten. Sogar der alte Herr von Kardorff jagte: „Wenn die heuti- gen Zuftände fortbeitehen, wird es dem Neichätagspräfidenten immer ſchwie— riger werden, die Perſon Seiner Majeſtät aus den Debatten fern zu halten.“ Und Herr Dr. Schaedler ſprach noch viel deutlicher. Die vom Kaiſer an den Prinzregenten geichiefte Dep he greife die Selbjtändigfeit und das Recht der zweiten bayeriſchen Kammer an nnd ſerunvereinbar mit dem füderativen

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172 Die Zukunft.

Charakter des Reiches; der Kanzler müjle Rede jtehen und ohne Rückhalt befennen, ob er, der allein verantwortliche Beainte, den Kaifer über die baye⸗ riſchen Vorgänge informirt und der Beröffentlichung der Depejche zuge- ftimmt habe. Der Kanzler, der am felben Tag ſchon im Abgeordnetenhaus bie rhetorifche Rettung der Oftmarlen geleijtet hatte, Tieß af die Antwort nicht warten ; feine helle Siegermiene schien fröhlich in den Saal hinabzurufen: Nun, Kinder, paßt mal auf; was fofchlimmgefchildert wurde, ift im Grun- de die einfachfte, harmloſeſte Sache von der Welt. Nur „Anorönungen und Verfügungen des Kaiſers bedürfen zu ihrer Giltigfeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers“, meine Herren; die fwinemünder Depefche enthielt keine Anordnung oder Berfügung, bedurfte alfo auch feiner Gegenzeichnung. (Un- bejtreitbar; nur war gefragt worden, weſſen Verfügung die Publikation der Depeiche bewirkt hat und wer die Schuld daran trägt, daR die Beröffentlich- uug mit der Lüge eingeleitet wurde, fie fei von München aus befohlen wor: den. Keine Antwort; oder doc) eine: nur Wolffs Telegraphiiches Bureau, das alle intereffanten Vorgänge meldet, Hat die ‘Depefche veröffentlicht. Je⸗ der weiß, DAR MW. T. B. nicht das winzigſte vom Kaiſer gefprochene Wörtchen ohne Autorifation ans Licht brächte; und doc) folgt der „Aufllärung“ nicht Gelächter noch Ziſchen.) Auch die erften Erlafje des Kaifers Friedrich, aud) die Februarerlaſſe des jegt regirenden Herrn .feien nicht Tontrafignirt ge- weſen. (Abermals unbeftreitbar; nur hat in beiden Fällen Bismard die nicht von ihm entworfenen Erlaffe abfichtlich nicht unterfehrieben, weil er die Veröffentlichung zwar nicht hindern, den Inhalt aber nicht mit feinem Na⸗ men beden wollte.) Das ift der gefeierten Taktik erfter Theil; beftreite, was nicht behauptet, behaupte, was nicht beftritten wird: und Feine Redegewalt fann Dir widerjtehen. Nach dem Allgemeinen das Befondere. Der Kaifer but erstens das Recht, feiner Meinung den feiner fräftigen, impuljiven Natur entiprechenden Ausdrud zu wählen, und braucht aud) für „perfönliche Kund⸗ gebungen programmatijıher Art” keine minifterielle Dedung; gerade der bejondere Fall aber bietet nicht den neringften Grund zur Klage. Die De— peiche foll in München böfes Blut gemacht haben? Yächerlich.. Der Prinz- regent hat ja gedankt; und fein Sohn hat in Pofen den Dank wiederholt. Zweiter Theil der Taktik: das Selbftverjtändliche, von der Sitte Aufge- zwungene wird als wichtiges Beweisſtück vorgeführt. Raſch noch ein Or- nament: Kaiſer und Prinzregent jind Freunde und zwischen Freunden ift für Mißverſtändniſſe Fein Naum. (Alle Bundesfürften find Freunde; aud) zwijlchen Dresden, Karlsruhe, Meiningen, Dejjau, Detmold und der Reichs:

Der Kaiſer im Reichstag. 173

hauptftadt war die Leitung nie unterbrochen und nie haben berliner Tiſch⸗ geipräche die Witteldbacher verftimmt.) ine dichte Wortwolke: fo nannte mit Recht am naͤchſten Tage Herr von Bollmar die Abuolatenrede des Kanz- lers, „in der faum ein einziger ftaatSrechtlich, Logifch oder thatfächlich halt- barer Sat zu finden war.” Der Sozialdemofrat zeigte noch einmal die ganze Schwäche der Beweisführung. Die VBorausfegungen der Depeiche waren falich; jie hat Fürften und Volk in Bayern geärgert; der Prinzregent hat die Aufforderung, fie veröffentlichen zu laſſen, abgelehnt ; fie iſt trotzdem, ohne Mitwirkung des Kanzlers, veröffentlicht worden. Sehr ſchoön; das Alles konnte ſcharfen Auges auch vorher feine Wortwolfe verhüllen. Doch der Kanzler, den Jeder glimpflich behandelt, denkt: Sunt verba et voces,. Weber die Bayernfache jpricht er nicht mehr; die Klagereden find ja in drei Zagen vergejien. Er hat den Hörern Intereſſanteres zu bieten. „Herr von Bollmar fchien Seiner Majeftät dem Kaifer und der Monarchie eine anti- Soziale Tendenz imputiren zu wollen”. (War ihm nicht eingefallen ; aber Graf Bülow Hatte fich zu einer Antwort auf die vom Präfidenten verbotene Kritik der effener und der breslauer Rede gerüftet und mußte einen Uebergang ins Soziale fuchen.) „Wie Alle wiſſen, iftdie joziale Gefeßgebung in Deutich- land durch Kaifer Wilhelm den Erften ins Leben gerufen worden“. (Wie Alle willen, hat der alte Kaiſer ſelbſt oft gefagt, daß SYdee und Ausführung Bis- marc gehörten.) „Die Monarchie hat in Deutſchland thatfächlich mehr fürdie arbeitenden Klaſſen gethan, als bisher in irgend einem anderen Lande für die Arbeiter gejchehen ift”. (Was hat fie denn „thatfächlich gethan“? Die Laſten der Schußgefege trägt nicht fie, jondern das Volk; und das ihr un- bequeme Recht freier Koalition hat fienicht gewährt.) Das hat neulich erftein Engländer nacheinem Befuch in unſerem Reichsverſicherungamt bezeugt. Auch HerrMillerand Hat als Miniſter gefagt, in Deutjchland habe , der Staat“ (nicht: die Monarchie) mehr gethan als in Frankreich, und ineinem Privatgeſpräch mit dem Fürften Radolin „die Hochherzigfeit und Weitficht” unferes Kai⸗ jer8 gerühmt; folgt ein radolinifcher Xobgefang auf Diillerands „ruhige und würdige Perſönlichkeit“. Was, könnte man jagen, fümmern ung diefe Mären? Ein gut aufgenommener Brite macht Deutichland die üblichen Komplimente. Ein franzöfifcher Minifter jagt dem Botfchafter des Deutfchen Kaijers unter vier Augen Artigfeiten. Iſt e8 lohnend, iſts auch nur paſſend, fte auf dieſe Zufallsworte feitzunageln ? Aber es kommt noch bejjer. „Ab- ſolutismus iſt, wie Fein deutſches Wort, fo feine deutſche Einrichtung.“ Ya, halten zu Gnaden: ift Kaiſer ein deutjches Wort? Oder Kanzler? Oder

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176 Die Zukunft.

nicht „ſchnöde Undankbarkeit“, den Sozialdemofraten nicht Ausbeutung, Ehrlofigkeit, Lug und Trug vor undläßt, mindeftens nutu etsignis, leicht- gläubige hoffen, daß er manche Beſchwerde der Oppofition für begründet hält. Sein Gegengrund ift, jenfeit3 von Gut und Bdje: die intereffante Perfönlich- keit; eine ſo ſtarke, ausgeprägte, begabte Individuaglität fett ſich ſelbſt die Ören- zen. Das iſt der Standpunkt des Managers. Der Legitimiſt Graf von Falloux ſagte 1849: „L'injure subit la loi des corps physiques; elle n'acquiert de gravite qu'en proportion de la hauteur d'où elletombe. Graf Bülow findet, auch die von der höchften Staatsfpige hertönende Beleidigung fei dankbar hinzunehmen, wenn fie nur aus einer befonders ſtarken Seele ftammt. Er hat Recht; denn er hat Erfolg. Ein Bierteljahrtaufendiftvergan« gen, jeit das englijche IInterhaus feine Unzufriedenheit mit Jalobs munteren Sprüngen in die Refolution faßte: „Wir können uns ein Boll ohne König, doch feinen König ohne Volk denken“; und dem Wort folgte die That, der Refolution die Revolution. Heute braucht fein Minifter um feinen Sold zu zittern. Heute wird nurgeredet;zund unterflednern hat derKanzler gewonnenes Spiel. Noch weniger kann das Spektakel auf ben Kaifer wirken. “Der weiß jedenfalls, was er will, und läßt fich durd) Schnell verflingende Scheltfonzerte . ficher nicht über die Thatjache täuschen, daR er alles Weſentliche durchzuſetzen vermag. Wenn das gute Volk ein Werlchen zugehört hat, wird e8 der Sache überdrüffig werden und finden, allzu fcharfe Kritik des Reichsvertreters gleiche. weil fie das Geſchäft jchädige, Bacons remedium sane morbo deterius. Auch HerrBebel kann nicht bezweifeln, daß feine „große Rede“ im nächſten Jahr Schon geringere Rejonanz haben wird. Kommen wird fie, denn Alles ift glatt gegangen und nichts Neues unter der deutfchen Sonne zu fchauen; und Graf Bülow, derein unübertrefflicher Rabinetsminifter geworden wäre, wird dann wieder alle Schwierigkeiten weglächeln, wegplaidiren. Nur... Das berliner®etter wird nicht in unferem Himmel gemacht; ; und draußen zieht fich8 dDrohend zufammen. Schon werden, ein Jahr nach der Knüpfung „un: zerreißbarer Freundfchaftbande”, inden Vereinigten Staaten Deutfche inful- tirt. Schon waffnetdas ganze englifche Sprachgebiet ſich zum Krieg gegen di- deutsche Produktion. Großbritanien nimmtunferen Fabrikanten die billigſter Dynamomafchinen nicht mehr ab, die Yankees erklären, e8 fei Gewiſſenspflicht

ihre Kohlenſchatzkammern den Armen der weiten Erdezuöffnen, und in Süd

amerifa jind alle Kolonialhoffnungen von Schiffsgejchügen zerftört. Das Gewitter, das aus diefen Gegenden naht, wird am Ende nicht Jo leicht zu be⸗ Sprechen fein wıe das Stürmchen, das in Reichstag den Kaiſer umheulte.

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Creiure in givin... 177

Creare in gioia ... (D'Annunzio.)

Fenn ſich flüſternd, wie in Teidenſchaft, 2 Maienfrühe über Wäldern regt, Wächſt hinaus in aller Knospenfraft,

Was geheim die tiefſte Wurzel best.

Und es fteht in einem neuen Licht, Trunfen von den eignen Seligfeiten, Auferwedtes, das die Feſſeln bricht, Und es darf in froher Sonne fchreiten .

. Wenn der wilden Schwäne lichter Flug Braufend dur die Morgenwolfen fchwinat, Rührt der wundervolle Kenzeszjug

An die Seele, daß fte tönt und fingt.

Und Das wächſt zu einem Hohenlied

Mit des Waldes heimlichn Afforden.

Was die Herjen und die Welt durchzieht, ft im Glück empfangen und geworden.

Alles Böttliche entftammt dem Blanz. Aus dem fonnenlichtgefüßten Mieer Wandelt mit dem fchimmervollen Kranz Denus, jene Himmelsfrau, daher.

Der in einer heilgen freude fchafft, Unbewußt, in Sonne und in Lachen, Läßt in feiner frohen Götterfraft

Eine ganze Schörheitwelt erwahen . . .

ber alle trübe Menſchlichkeit, Die der Kampf zu Boden niederzwingt, Schafft im Weh und in der Dunkelbeit. Und was ihrem Schoße ſich entringt Und dent Tag erichließt den ſcheuen Blick, Trägt den alten Erdenfluch von Sehnen ... Und in jedes kaum aeborne Glüd Quellen unerſchöpfte, beige Thränen.

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178 | Die Zukunft.

Gieb, Du ferner Bott, daß mein Geſang Aus den Himmeln feinen Jubel nimmt Und doch feiner Harfen trunfnen Klang Auf den Erdenton der Sehnfucht ftimmt! Und daß diefe auferwecte Welt,

Die enıpfangen ward in Schöpferfreude, Don der Erde mildes Maß erhält,

Mit der Thräne, mit dem heilgen Keide! .

Baden-Baden. Alberta von Duttfamer.

Y Das Geſetz der Büterkonzentration.*)

SD Thatſache, daß die Güter diefer Welt ungleich vertheilt find, daß e8 auf der einen Seite Menſchen giebt, die nicht arbeiten und doch im Ueberfluß fchwelgen, und auf der anderen Seite arme Teufel, die ſchwer arbeiten und faum fo viel erwerben, wie fie brauchen, um ihren Hunger zu ftillen, ift allbefannt; und eben fo befannt ift, daß man von je her beitrebt war, den Urfachen diefer wenig erfreulichen Erfcheinung nacdyzufpüren. Des- halb ift denn aud die „Xehre vom Einfommen und feiner Vertheilung“ ein mefentliches Sapitel in jedem Lehrbuch der Nationalökonomie. Fest beginnt jedoch eine gewiſſe Oppofition gegen die Art fi) bemerkbar zu machen, im der diefe Frage bisher in der nationalölonomifhen Wiffenfchaft behandelt und beantwortet wurde, Seit den Tagen Adams Smith wurde nämlich die Lehre von der Einfommensvertheilung immer mit der Lehre von der Güter- produftion verquidt. Die bisherigen Vertreter der nationalökonomiſchen Wiffen- haft fapten insbefondere den Gutspächter ins Auge; fie fahen, wie der Mann gepadtete, alfo fremde Grundftüde durch gedungene Arbeitkräfte be= ftellen läßt, fahen, daß er häufig mit geliehenen Gelde („Kapital“) wirth- ſchaftet, und legten fich die Frage vor, wie ſich der Ertrag dieſes landwirth- ſchaftlichen Betriebe unter die betheiligten vier Perfonen (oder Gruppen), den Grundbejiger, den „Stapitaliften“, die Arbeiter und den Unternehmer (hier alfo den Pächter), vertheilt. Die Antwort lautete: Der Grimbeigen- thümer (Verpächter) erhält den Pahtichilling, die Grundrente, der Rapitalift den Zins, die Arbeiter befommen ihren Kohn und der Ueberfchuß verbleibt,

) Dr. Stephan Worms: „Das Geſetz der Güterfonzentration in der individualiftiihen Rechts- und Wirtdichaftordnung. Erfter Halbband: Das Geſetz der Süterfonzentration und jeine Bedeutung für die Wirthichaftpolitif.” Jena, Verlag von Guſtav Fiſcher, 1901.

Das Geſetz der Güterkonzentration. 179

wenn er nämlich vorhanden ift, dem Pächter und bildet feinen Unternehmer: gewinn. Dann wurde nach der Höhe diefer vier Einkommenszweige geforfcht. Die Antwort fchien leicht: die Grundrente, der Zins und der Arbeitlohn ift der Preis, der für die Ueberlafiung diefer Produktionmittel gezahlt wird, und die Höhe diefes Preifes hängt wie die Höhe jedes Preiſes ab von Angebot und Nachfrage, natürlih unter Berüdjihtigung der Qualität des gefauften Objektes. Die Höhe der Grumdrente (des Pachtſchillings) hängt alfo ab in erfter Reihe von ber Fruchtbarkeit, Lage und Größe der Grundftüde und in zweiter Reihe von Angebot und Nachfrage; das Selbe gilt vom Arbeit⸗ Iohn: er hängt ab von. der Qualität der Leiftung (ob gelernte ober ungelernte Arbeit) und von Angebot und Nachfrage. Beim Zins (gedacht wurde dabei . immer nur an den Zins für Gelddarlehen) ift von einer Qualität nicht die Rebe, er wird alfo lediglich durch das Berhältnig von Angebot und Nadh- frage, bedingt; und fhlieglich hängt auch die Höhe des Unternehmergewinnes davon ab, ob das Angebot der „Unternehmerleiftungen“ groß oder Hein ift.

Damit war nah der Meinung der erften Vertreter der national= ölonomifchen Wiffenfchaft die Sache endgiltig abgethan; das angebliche „Gefeg“ von Angebot und Nachfrage ftand für fie wie ein Dogma feft; darüber hin- aus vermochten fie nicht zu denfen. Und wenn Einer von ihnen fich die Trage vorlegte, wie e8 komme, daß die Grundbefiger und Kapitaliften reich oder doch wohlhabend, die Arbeiter aber in der Regel arm feien, fo war die Antwort wieder leicht gefunden. Die Arbeiter find eben ein furchtbar leicht- finniges Bolt und felbft an ihrer elenden Lage ſchuld; denn verdient Einer von ihnen nur fo viel, wie er nothdürftig zum Leben braudt, fo hat er nichts Eiligeres zu thun, als zu heirathen und mindeftens ein Dugend Kinder in bie Welt zu fegen, die dann natürlich wieder nur Arbeiter werden und duch ihr übergroßes Angebot von „Händen“ den Kohn auf das Eriftenz- minimum herabdrüden. Wären diefe unglüdfäligen Arbeiter nur ein Wenig tugendhaft und fittfam, im Punkte der Chefchließung jo zurüdhaltend und borfichtig wie die Grumdbefiger und Kapitaliften (die „höheren Stände), dann würden und nicht nur „würden“, fondern „müßten“ auch fie nach dem Geſetz von Angebot und Nachfrage im Wohlftand leben.

Später kamen die Vertreter des wiffenfchaftlihen Sozialismus, Rodbertus, Marx und Laffalle. Sie griffen auf den von Adam Smith aufgeftellten Grundſatz zurüd, daß die Arbeit die einzige Duelle des Reich⸗ thums fei, allein Werthe fchaffe, und fagten: it es richtig, daß die Arbeit allein Werthe fchafft, dann gebührt eigentlih und von Rechtes wegen das ganze Arbeitproduft den Arbeitern, die e8 durch ihrer Hände Arbeit hervor— vorgebracht haben, und dann ift e8, fireng genommen, ein Raub oder Dieb- ftahl, wenn von diefem Ürbeitproduft ein Theil mweggenommen und dem

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180 Die Zukunft.

Grundbefiger als Grundrente, dem Kapitaliften als Zins und dem Unter: nehmer als Unternehmergewinn zugewandt wird. Wenn aljfo die Grund—⸗ bejiger, Kapitaliften und Unternehmer im Wohlftand, die Ürbeiter dagegen im Elend leben, fo ift Das darauf zurüdzuführen, daß den Arbeitern (in wider: rechtlicher Weife) ein Theil ihres Arbeitproduftes entzogen wird, dag fie von den Unternehmern, Grundbefigern und Kapitaliften „ausgebeutet“ werden.

. Das war bisher der Stand der Lehre. Und fo fchroff fonft aud die Bertreter der Haffifchen oder orthodoren Nationalölonomie und die der fozialiftie jchen Richtung einander gegenüberftanden: darin kommen beide Parteien über: ein, daß die eigentliche Urfache ber Vermögensungleichheiten in dem Prozeß der Güterproduktion zu fuchen fei. Gegen diefe Lehre macht ji nun eine Oppoſition nach zwei Richtungen hin bemerkbar. Die eine diefer Strömungen geht von mir aus und kehrt fich insbefondere gegen bie orthodoxe Lehre. Die Vertreter diefer älteren Lehre ftanden unter dem Bann der Vorftellung, daR die ganze Welt nichts Anderes ſei als ein einziger großer Börfenfaal und das menfchliche Leben eine ununterbrochene Kette von regelrechten Handels⸗ geichäften. Da ift es denn fehr begreiflich, daß diefe Männer wähnten, die Perträge, die der Pächter (der Unternehmer) mit dem Grundbejiger, mit dem Geldverleiher (dem SKapitaliften) und mit den Arbeitern abſchließt, ſtünden unter der Herrichaft des „Geſetzes“ von Angebot und Nachfrage und des⸗ halb feien die Grundrente, der Kapitalzins und der Arbeitlohn naturgefeglich feftgeftellte Größen, die man eben fo al8 unabmendbare Thatfachen hinnehmen maß wie etwa das Klima eines Landes. Doc) fieht man etwas genauer hin, fo zeigt fich, daß dieſes angebliche „Geſetz“ von Angebot und Nachfrage nicht8 Anderes ift als eine fable convenue. Die Preife der verjchiedenen Artikel kommen nämlih immer nur im Wege von Bertragsabfchlüffen zwifchen zwei Perfonen, dem Käufer und dem DVerfäufer, zu Stande; und felbit da, wo es ih um „fire Preife handelt, Fann der Verkäufer zehnmal feine Preife feftfegen, fo hoch oder fo niedrig er will: fo lange er feinen Käufer findet, der ihm den geforderten Betrag auch effektiv zahlt, ift eben der Preis nicht zu Stande gekommen. Beobachtet man aber die einzelnen Kaufs⸗ und Verkaufsabſchlüſſe, wie jie ich thatfächlich abfpielen, fo zeigen fie fih als ein Kampf oder ein Ringen, in dem jeder Theil alle Künfte feiner Bered⸗ ſamkeit fpielen läßt und beftrebt ift, alle Vortheile feiner Pofition auszunugen, um die Preisfeftfegung herbeizuführen, die er wünfcht. Und wenn man gar in die höchiten Regionen des Großhandels Hinaufiteigt, wo mach der gang buren Meinung das „Geſetz“ von Angebot und Nachfrage feine Wirkfam- feit in volliter Reinheit entfaltet, wenn man fih alfo in die Börfenfäle be- giebt, fo zeigt fich erft recht deutlich, daf dort der ‘Preiß weit weniger durd) Angebot und Nachfrage als durch fonftige „Künſte“ beeinflußt wird. ft

Das Geſetz der Güterkonzentration. 181

alfo der Vertragsabſchluß, die ſchließliche Feitfegung des Preiſes, nichts Anderes al8 das Refultat eines Kampfes ein Friedensſchluß nach vorausgegange- nem Kampf —, dann bedarf e8 auch Feines weiteren Beweiſes, dat jedesmal der ftärfere Theil als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird.

Dur das Berhältnig von Angebot und Nachfrage wird num aller: dings die Stärke und Schwäche der Pofition des Kauflufligen oder des Berlaufluftigen weſentlich beeinflußt; aber die Stärke ober Schwäche ber Polition der beiden Parteien hängt nicht ausfchlieflih von Angebot und Nachfrage, fondern eben fo fehr von anderen Umftänden ab. Das Angebot einer Waare mag noch fo groß fein: der Preis wird doch nicht zum Sinfen gebracht werden, wenn die Berlaufluftigen erklären, daß fie unter dieſem oder jenem Preis nicht verlaufen wollen, und wenn fie ftarf genug find, diefen Entfhluß auch durchzuführen. Und umgekehrt kann das Angebot einer Waare noch fo gering fein und der Preis wird trogdem nicht fteigen, wenn fein Saufluftiger den geforderten höheren Preis bemilligen will. Wer Das bedenkt, ehe er nach der Vertheilung des Einkommens fragt, merkt bald, daß die Höhe der Grundrente, des Kapitalzinjes, des Arbeitlohnes und des Unter- nehmergemwinnes durchaus nicht durch das Verhältniß von Angebot und Nach: frage feftgefett wird, fondern daß deren Yeitfegung das Reſultat eines Rampfes ift, in dem die betheiligten Parteien mit allen ihnen zu Gebot ftehenden Machtmitteln (Gewalt, Kift u. |. w.) um die Beute raufen, eines Kampfes, aus dem felbftverftändlih die Stärkeren als die Sieger hervor⸗ gehen. Und da es Feines weiteren Beweiſes bedarf, daß die befiglofen Arbeiter die weitaus fchwächfte Partei in diefem Kampf find, fo ift auch ganz be— greiflich, daß fie den Heinften Theil von der Beute befommen, mit anderen Worten, daß die Grundbefiger, die Kapitaliften und die Unternehmer den (wenigftens relativ) weitaus größten Theil des „Volkseinkommens“ oder des „Nationalproduftes* an fich reißen, große Bermögensmaffen in ihren Händen anfammeln und reich werden, während die Arbeiter arm bleiben.

Der zweite Angriff, der fich gegen die herrfchende Anficht, gegen die orthodoxe wie gegen die fozialiftifhe Auffafjung richtet, geht von dent Dr. Stephan Worms aus, auf deflen Buch ich hier hinweiſen will. Die Vertreter der orthodoxen wie die der fozialiftifchen Nichtung behaupten, die Bermögendungleichheiten feinen nur oder doch vorwiegend auf bie Art zurück⸗ zuführen, wie fi) das Produkt (oder defjen Werth) unter die vier an der Produktion betheiligten Parteien, den Grundbefiger, den Kapitaliften, die Arbeiter und den Unternehmer vertheilt. (Daß die orthodore Nationalöfonomie diefe Vertheilung als eine naturgefegliche und unabänderliche Thatfache hin- nahm, während der Sozialismus fie einfah als Raub an den Arbeitern be- zeichnet, ift für uns unwefentlih.) Worms aber vertritt die Meinung, daß

182 Die Zukunft.

die Detheiligung an der Produktion zwar auch eine Urſache der ungleichem - Bermögens- und Eintommensvertheilung ift, baß aber dieſe Ungleichheiten mehr auf die fpätere Betheiligung am Verkehr (Handels-, Börfengewinn n. |. w.) zurüdzuführen fein. Der Gedanke felbft ift auch fchon von Anderen aus⸗ gefprochen worden, neu jedoch ift der Verſuch des Verfaſſers, diefe Thatfache aus den Geſetzen der Taufchoperationen wiſſenſchaftlich zu beweifen. Auf biefen ziemlich Tomplizirten Beweis will ich hier nicht eingehen. Worms analyfirt den Taufh in einem Zuftande ohne Konkurrenz und unter der Herrſchaft der freien Konkurrenz, den Taufch zu Konfumtion- und zu Pro- duftionzweden und kommt zu dem Ergebniß, daß durch den Tauſch in ge= wifien Fällen fich zwar die Lage des reicheren Taufch-Kontrahenten zu Gunften bes ärmeren verfchlechtert, daß aber in einer fich felbft überlaflenen Volks⸗ wirthſchaft in den allermeiften Fällen bie Betheiligung am QTaufchverlehr den veicheren ‘Theil immer reicher, den ärmeren immer ärmer maden muß.

Neu ift auch die Konfequenz, die Worms aus feiner Theorie zieht. Rodbertus, Marx und Laffalle meinen, die Urfache des Maſſenelends fei die Ausbeutung, die ungerechte Vertheilung de3 Einkommens beim Prozeß der Gutererzeugung. Auf Grund feiner viel genannten „materialifiiichen Ge- ſchichtauffaſſung“ gelangt dann Marr zu dem Refultat, daß diefer Prozeß der Berelendung der Maflen und der Konzentration der Vermögen in den Händen einer immer geringer werdenden Anzahl von Milliardären zur Hegels berühmter „Negation der Negation“, nämlich dazu führen muß, dag um mit Bellamy zu fprechen „Alles verftaatlicht“, alfo die ganze Produktion in die Hände des Staates oder der Befammtheit Hinübergeleitet wird. Yallt aber, wie Worms nachgewiefen zu haben glaubt, die Vorausfegung, ift das „Geſetz der Güterkonzentration“ nicht auf die Vertheilung des Einkommens bei der Güterprodultion, alfo nicht auf die „Ausbeutung“ der Arbeiter durch den Grundbeſitzer, den Kapitaliften und den Unternehmer, fondern auf die fortgefete Betheiligung am Tauſch- (Handels) Verkehr zurädzuführen und kann diefes „Geſetz der Güterfonzeniration“ feine Wirkſamkeit nur in einer ungeregelten, ſich felbft überlafjenen Volkswirthſchaft entfalten und können wir durch eine vernünftige Sozialpolitik diefe fortfchreitende Güterlonzentration hemmen, jo fällt damit auch Marrens Schlußfolgerung: wir marfchiren nicht in den Zulunftftaat und der Mitteljtand kann erhalten werden. Im zweiten Band feines Werkes will Worms zeigen, welche fozialpolitifhde Maßregeln die Güterfonzentration aufhalten können.

Czernowitz. Profeſſor Dr. Friedrich Kleinwaechter.

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Babel⸗Bibel. 183

X Babel:Bibel.

Ei Herr Harden, Sie wünjchen meine Anſicht über Babelbibel- bibelbabel zu vernehmen. Warum follte ich fie nicht ausfprechen? Zwar bin ich nicht Afiyriologe; aber auch die Zeitungfchreiber, die den zweiten Bortrag des Profefjors Deligfch al3 die Morgenröthe des allzu lange zögernden Tages begrüßen, verwenden fchwerlich ihre knapp zugemeſſene Erholungzeit auf die Entzifferung von Keilfchriftdentmälern. Sie fchrieben mir, Ste ver: fiünden den Lärm nicht, den diefe „Neuheit“ erregt. In der Sache ift der freilich nicht begründet, jchon darum nicht, weil die Neuheit alt if. Seit der Encyflopädiftenzeit wird die Bibel zu einem unbedeutenden Ableger alt: orientalifcher Weisheit berabgefegt und die im erften Vortrag des Profeſſors (über den Inhalt des zweiten find wir noch nicht genau unterrichtet) be= handelten Epijoden babylonifcher Epen, den Schöpfungmythos und die Fluth: fage, haben wir ſchon feit Jahren in allen möglichen Zeitfchriften gelefen; aud in die neueren Handbücher der Weltgefchichte find fie aufgenommen worben. Die freudige Aufregung, die Delitzſchs Vorträge erzeugten, entftamnıt der Hoffnung der Borausfegunglojen, die Autorität des Kaiſers werde nun endlich dem neuen Glauben zum Sieg über den alten Aberglauben verhelfen. Diefe Hoffnung beruht nun auf zwei irrigen Vorausfegungen. Die eine befteht in der Ueberfchägung ber Macht des Kaiſers. Iſt e8 fchon -ein mehr als fühner Schluß, daß der Kaifer, weil er zwei interefjante Vorträge

eines Gelehrten anhört, Alles für wahr halten müſſe, was diefer Gelehrte

fagt, ſo ift e8 noch Fühner, zu glauben, der Monarch werde als König von Preußen in Bayern hat er ja nichts zu fagen den gläubigen Gelehrten die Hochſchulen verfchließen und in den Vollsfchulen die biblifche Gefchichte durch die natürliche Echöpfungsgefchichte und die babylonifchen Epen erfegen lofien. Alle Behörden ohne Ausnahmen würden fich einem fo thörichten Unternehmen widerfegen, deſſen Undurchführbarfeit felbft dann feftftünde, wenn es technifch möglich wäre. Das iſt es nämlich fchon deshalb nicht, weil es eine Welterflärung, mit der man die biblifche erfegen könnte, nicht giebt. Es giebt Hunderte von Welterflärungen, jeder Tag oder mwenigftens jede Woche bringt ung eine neue, und ehe fich nicht die Gelehrten über eine geeinigt haben, kann man an ihre Einführung in die Schulen nicht denen.

Die zweite irrige Borausfegung befteht in dem Glauben, daß Wiffen- Ihaft und Dffenbarungsglaube unvereinbar feien, daß die Wiflenfchaft den Dffenbarungsglauben widerlegt Habe und daß fie ihn vernichten werbe, fobald man fie in die Schule einlaffen wird. Die weite Verbreitung diefe8 Glaubens in der Profefjorenfchaft beweift die Unfähigkeit vieler zünftigen Gelehrten, wiffenfchaftlich zu denken. Bwingende Beweife laſſen ſich nur innerhalb der

184 Die Zukunft.

erakten Wiſſenſchaften führen; erakt it aber jede Wiflenfchaft nur fo weit, wie jie entweder mathematifch ift oder fih auf das Bejchreiben von Gegen— ftänden befchränft. Das Heißt alfo: nur die Aſtronomie, die Phyſik, die Chemie, die Geognoſie, die beſchreibende Zoologie und Botanik, die Erd- beichreibung find exakte Wiſſenſchaften. Zwiſchen diefen und dem chriſt⸗ lichen Glauben ift aber fein Konflift möglich, denn fie haben feine Be- rährungpunkte. Die drei Wiffenfchaften aber, mit denen man das Chriiten- thum totgefchlagen zu haben vermeint, die Geologie, die Biologie und bie. Geſchichte, find nicht eraft, denn die Richtigfeit ihrer Ergebniffe läßt fich weder arithmetifch prüfen noch durch die Anfchauung beweifen. So oft ein Biologe oder ein Hiftorifer zuverjichtlich behauptet, er könne jegt unwiderleglich be⸗ weifen, daß die Bibel Unrecht habe, begrüßt der befannte Chor das ver- meintlich erlöfende Wort mit Jubel. Bor fünfunddreigig Jahren hat es Haedel gefprochen; heute erflären die maßgebenden Botaniker und Zoologen den Darwinigmus, wenigitens Das, was man in Deutfchland dreißig Fahre lang als Darwinismus gepredigt hat, für eine Verirrung. In der Geſchichte können fih die Gelehrten nicht einmal über Ereigniffe einigen, die wir felhit mit erlebt haben. Wie will man alfo Behauptungen über Dinge beweifen, die vor taufend Jahren pafjirt find? Ob die Entfernung des Grabhügels der bei Marathon gefallenen Athener von der Stadt richtig angegeben ift oder nicht, kann Jeder feftitellen: er braucht nur hinzugehen und die Ent: fernung zu meflen; daß aber Profeſſor Delbrück die Zahl der Griechen und der Perfer, die bei Marathon gefämpft haben, richtiger fchäge al8 Herodot: dafür läßt fich Fein ziwingender Beweis führen. Und nun gar in Keiljchrift überlieferte Nachrichten! Schriftwerfe, die nur wenige Gelehrte zu entziffern vermögen, deren Entzifferung fein größerer Kreis von Gchildeten nachprüfen fann! Schriftwerke aus dem Jahre 600 oder 700 vor Ehriftus, Die ſich als Abſchriften von taufend oder zweitaufend Jahre Älteren Schriften geben! Haben die Abfchreiber nicht3 geändert, nichts aus neueren Schriften in die alten eingefchoben? Haben ſie die in einer veralteten Sprache abgefaßte Ur- Ichrift auch nur verftanden? Wenn hier noch von Beweiſen geiprochen wird, ſchüttelt der Beſonnene den Kopf, lächelt und denkt ſich Verfchiedened, was auszuſprechen nicht Flug wäre.

Die Art von Beweis, die das alte Schriftwerf der Chrijtenheit felbit für fih führt, Tiegt auf einem ganz anderen Gebiet, auf einem Gekiet, in das weder die wirklichen noch die angeblichen willenfchaftlichen Beweiſe hinein- reihen. Wenn Jemand die babylonifhen Epon, fo weit fie duch Bruch⸗ ftüde befannt geworden find, dem Buche Geneſis vorzieht, fo fage ih: Dent Manne geht der Geſchmack ab; er vermag nit das Schöne von Häßlichen, das Erhabene vom Kindifchen, das durch Ichlichte Einfalt von feiner inneren

Babel-Bibel. 185

Wahrheit Ueberzeugende vom Wüften und Berirrten zu unterfcheiden. Die babylonifchen Sachen mögen älter oder jünger fein als das erfte Buch Moſis: Das ift mir ganz gleichgiltig.. Sind fie älter, dann fage ih: Erſt der biblifche Autor hat aus dem wüſten und merthlofen Stoff das Kunſtwerk geihaffen, das fich zum Mittel der Völfererziehung eignete. Sind fie jünger, fo fage ih: Sie find eine polyineiftifche Verhunzung der biblifchen Erzählungen. Und wenn ich befenne, Gott habe jih mir in der Natur, in der Bibel und in meinen Lebenserfahrungen offenbart: wie will e8 da ein Gelehrter an⸗ ftellen, mich zu widerlegen? Das hat ja gar feinen Sim. Es ift ganz fo, wie wenn er mein Bekenntniß widerlegen wollte, daß mir Mozart befier ge: fällt als Wagner. Der Eine erfährt Gott, der Andere erfährt den toten Naturmechanismus, der Dritte die abfolute Idee, der Vierte das Karma oder fonft ein theofophifches Wefen; widerlegen fann Steiner den Anderen. Die Dffenbarung aber, die Patriarchen, Propheten, Apoftel empfangen haben, braucht man fich nicht anders zu denken als die, welche glei mir Millionen Chriften heute noch empfangen; nur ift fie jenen Ermählten veichlicher und fräftiger zugeftrömt und hat fie befähigt, auf Sahrtaufende hinaus zu wirken. Wenn jich der Orthodore einbildet, der Glaube an die Offenbarung ftehe und falle mit dem Glauben an die buchftäbliche Wahrheit ihrer poetifchen Einfleidung und an bie Yormen, die ihr eine findliche Phantaſie andichtet, jo theilt er eine ber irrigen Vorausſetzungen feiner Gegner.

AU Das gilt auch für den Fall, daß Profeſſor Deligfh in feinen Borträgen nichts als die lautere und unanfechtbare Wahrheit verfündet hat; aber diefer Zal ift fehr unmahrfcheinlihd. In Dingen, die man wegen mangelnder Fachkenntniß nicht jelbft beurtheilen fanı, muß man ſich art Autoritäten halten. Die Mehrzahl der Fachautoritäten feheint nun gegen Deligfch zu ftehen. Bon den fahmännifchen Widerlegungen habe ich nur zwei gelefen: Eduard Königs Schrift „Bibel und Babel“ (Berlin, bei Martin Warned) und den diefem Gegenftande gewidmeten Abjchnitt in der den Leſern der Zukunft“ bekannten Schrift „Dilettantismug, Raffe, Monotheismus, Rom“ von Houfton Stewart Chamberlain. Diejer ift nicht ſelbſt Affyriologe, aber er hat fich dag Material von Aflyriologen geben laffen. Sein Standpunkt liegt von dem meinen jehr weit entfernt; er denkt vom Alten Teſtament fo gering, wie ich hoch von ihm denfe. Den Zorn des berühmten Antifemiten erregt, daß Deligich, nachdem er den Juden das Berdienft, den Monotheismus begründet zu haben, abgefprochen hat, dieſes Verdienſt doch wieder einem anderen jemitifchen Stamm zuſpricht. Aber diefe Tendenz beeinträchtigt nicht den Werth der Kritik, die er an Deligfch übt. Den Inhalt der Schriften von König und CHamberlain gebe ich nicht an, weil jeder Gebildete, alfo auch jeder Zukunftlefer, die Pflicht hat, fich über die Kernpunkte einer fo

[1 Fo en)

186 Die Zukunft.

wichtigen Streitfrage gründlich zu informiren, wenn es ohne großen Zeit- aufwand möglich ift; und die Lecture der beiden Kritifen (51 und 41 Seiten) erfordert nicht mehr als eine Stunde. Zwei Proben mögen den wahrichern- lichen Ausgang der “Debatte wenigſtens andeuten. Delitzſch hat nach König aus der Ylutbgefchichte zwar den Sat angeführt: „Die Götter rochen bem fügen Geruch des Opfers“, aber den darauf folgenden ausgelafien: „Die Götter fammelten fi wie Fliegen über dem Opfer“, und daß gleich darauf zwifchen den Göttern und Göttinnen Streit ausbrah. Delitzſch hat eben ganz gut gewußt, daß ein einziges Sätschen diefer Art die Borftellung, ſolches babylonifhe Epos könne jemals die Bibel verdrängen oder auch nur die Hochſchätzung vor ihr vermindern, zur Lächerlichkeit ftempelt. Und Chamberlain ſchreibt: „Ueber den wifjenichaftlihen Werth des Vortrages ift unter den Sahmännern aller Richtungen nur eine Stimme gewefen; mehrere vortreff= liche Gelehrte haben denn auch bie öffentliche Zurückweiſung der kühnen Be— bauptungen des Affyriologen unternommen." Klug find die Juden, die im einer Berfammlung gegen die Berunglimpfung ihres größten Heiligthumes durch den Profefior feierlich proteftirt haben. ALS Nachlommen bed Bundes- volles und als wandelnde Zeugen für die Wahrheit beider Teftamente find die Juden der gläubigen Chriftenheit ehrwürdig. Diefer ihr Charakter war im Mittelalter der Beweggrund für die Päpfte, fie gegen Berfolgungen, die ihnen ihre Privilegien zuzogen, zu ſchützen, und dieſer ihr Charakter wird ſich auch in zufünftigen Krifen als ein ſtärkerer Schug bewähren als ihr Reich: tum. Die Borausfegunglofen aber find wieder einmal hineingefallen.*)

Neiſſe. Karl *) (Eben leſe ich den guten Artikel „Vom Bibelglauben zum Babelglaußfen”

in der „Germania“ vom einundzwanzigiten Januar. Darin wird gerügt, daß, nad den Beitungberichten zu urtheilen, Profeſſor Deligih in feinem zweiten Bortrage zwar die Angriffe der Theologen auf feinen erften Vortrag zurüd: gewiefen, die an diefem Vortrag geübte philologijche Kritik der Aſſyriologen da- gegen mit feiner Silbe erwähnt habe. Wenn Das wahr ift, dann hat der Herr feine Rolle in der wiſſenſchaftlichen Welt ausgefptelt.

Herr Dla Hanfjon legt Werth darauf, feinem am zehnten Januar bier veröffentlichten Aufſatz „Die Borgeichichte des Konkordates“ die folgenden Süße nachgetragen zu fehen: „Erneſt Daudet hat in feinem in der „Nation“ von mir beſprochenen Bud) „La conjuration de Pichegru‘“ gejdhildert, wie der Tange ge- ſuchte Borwand zur Durchführung des Staatsjtreiches in Montjaillards Ent⸗ hüllungen gefunden wurde, die gerade damals in Bonapartes Hände gefallen waren und von ihn nad Paris geihidt wurden. “Das Bud Du Teils erwähnt dieſe Angelegenheit nidyt; im Verhalten Bonapartes ift bier alfo ein dunkler Punkt, von dem aus Klärung und Zuſammenhang geſucht werben könnten".

Der Haufirer. 187

Der Haufirer.

5 etlichen Jahren verbrachte ich den Sommer mit Frau und Kindern in

einem kleinen ſächſiſchen Städtchen mit engen Gaſſen und uralten @iebel- häuſern. Wir lebten ganz abgeſchloſſen für ung, kannten Feine Seele und fuchten mit unferen paar Groſchen ſchlecht und recht auszukommen. Es ging und da» mals jammervoll; und ich erinnere mich fehr deutlich, wie .wir manchen Abend ‘\verängjtigt die Pfennige addirten, bie jo cin Tag verfchlungen hatte. Dennoch ließen wir den Muth nicht finfen und klammerten uns feft an die Hoffnung, daß auf diefes Elend beſſere Zeiten folgen würden.

Bir bevohnten ein Kleines Häuschen, das mit jeinem jchattigen Gärtchen an der Landſtraße lag. Wenn die Kinder unter fröhlidem Schreien und hellem Lachen fih auf dem Raſen wälzten, vergaßen wir unfere Sorgen. Es war damals ein wundervoller Sommer mit wolfenlojem Himmel und wärmender, leuchtender Sonne. Wir konnten all unjere Mahlzeiten im Freien einnehmen und bis in die fpäte Nacht hinein im Garten ung aufhalten. |

Als wir eines Nachmittags es war im Spätjommer und glühend heiß in der Laube unjeren Kaffee tranlen, jahen wir einen großen, weiß- baarigen Dann auf unjer Haug zukommen. Und bald darauf ftanb er am Baun und lüftete ein Wenig den Hut. Wir fonnten ihn jet ganz in der Nähe

\ beiradten. Er hatte kurz gefchorenes Haar, einen martialifden Schnurrbatt, \ der halbfreisförmig wuchs, und wafierhelle Augen. Eine ftark entwidelte Nafe und ein ungewöhnlich breites Sinn gaben feinem Geficht etwas Hartes und Troßiges.

Er trug eine Jade aus blauem Kattun, deren Farbe verichoffen war, und an den Füßen Sandalen. Auf dem Rüden hatte er einen breiten, vicredigen Kaften.

Es war auf den erſten Blid Far, daß er ein haufirender Handeldmann war, der |

mit feinen Waaren die Dörfer und Kleinen Städte abllapperte.

Die Mittagsgluth Hatte ihn gebadet. In tiefer Erfchöpfung zug er ein großes, drudfattunenes Tuch aus feiner Tafche und wiſchte ſich den perlenden Schweiß von dem hochrothen Geſicht.

„Ein Beißer Tag... Darf man näher treten, junge Herrſchaft?“

Ich fah meine Frau und meine Frau ſah mid an. Auch noch fo bes | icheidene Einkäufe ließ unfere magere Kaffe nicht zu. Und darum war ed ung peinlich, trügerijche Hoffnungen zu weden.

Der Haufirer hatte den Blid, den wir ausgetaujcht, im Nu verftanden.

„Ich bitte nur um einen Trunf friihen Waſſers!“ Und gleihjfam ent- ſchuldigend fügte er Hinzu: „Ich rede den Herrichaften nichts auf!“

Ich bat ihn alfo, näher zu treten. Sein ganzes Ausfehen hatte etwas patriarchaliſch Ehrmwürdiges und wedte Vertrauen. Dabei Hatte der Mann in der Art, wie er fi trug und wie er ſprach, noch etwas Beſonderes an fid). Was e8 eigentlich war, wußte ich nicht.

Meine Frau goß ihm eine Taſſe Kaffee ein, die er gierig in einem Zuge austranf.

„AH! Das thut gut! Die Herrichaften müflen willen, ic habe einen weiten Marſch Hinter mir.” Cr ſchloß einen Moment bie ſchweren, großen Augenlider, über denen ſich ftruppige, weiße Brauen mwölbten.

u DO A ——, ——— nn

188 Die Zukunft.

Inzwiſchen Hatte meine Frau ihm noch eine große Butterjchnitte zuredht- gemacht, die er jedoch danfend ablchnie.

Er hatte fih den Kaften vom Rüden gejchnallt, die Jade aufgefnöpft und genoß mit ſichtlichem Behagen den Frieden diefes Sommernadmittags.

„8 iſt wohl ein ſchweres Leben‘, fagte ich, auf den Kaſten deutend.

Er jhüttelte ben Kopf. „Kann nicht Klagen. Ich babe meine feite Kund- ſchaft. Wer mid kennt, weiß, daß ich folide Waare führe und mit kleinem Nugen arbeite Wozu brauch' ih viel Geld? Ich bin frei wie ber Vogel.‘ Er lächelte dabei pfiffig und verfchlagen.

„Was haben Sie denn da im Kaften? fragte meine rau mit leifer Neugier.

„Ach, jo Allerhand! Was halt ein Haufirer haben muß: Nadeln und Zwirn, Spigen und Knöpfe, Heftpflafter und Wunderfalbe.” Er machte feine Miene, den Kaften zu öffnen, jah vielmehr verträumt in die Sonne, bie finfen wollte, ‚Der Herr find Gelehrter?‘

„Wie kommen Sie darauf?"

„Ra, Kaufmann find Ste nit. Das ficht man Ihnen an! Auf Die fern’ id) mich aus!"

„Ich bin Schriftfteller!”

„Säriftfteller!... So!... Wird man davon ſatt? ...“

„Selten!“

„Da Ichreiben Sie alfo Bücher?“

„Sewiflernaßen ja!"

„Ich kann mir nicht vorftellen, daß Einer fich Hinfegt und Bücher lieft.“

„Belefen werden fie ſchon, nur nicht gekauft.”

Er überhörte meinen Einwurf.

„Wozu lieft man Büder? Was fünnen Einem Bücher jagen?! Man lebt jein eigenes Buch, das einzige, das Einen intereffirt, und damit Bafta !“

Ich fagte langiam: „Die Bücher haben doc einen gewiflen Werth.‘

„Pah! ch möcht’ wiffen, welchen!“

„Man erfährt aus ihnen manchmal, day man fidh und fein Schickſal viel zu ernſt und wichtig nimmt.‘

„Wers thut, ift ein Narr!”

„Die Meiften thun es; und ich finde es auch menfchlid.‘‘

‚Die Meijten find Narren!”

„Aber unglüdliche, die cher Mitleid ald Spott verdienen.“

Der Hauſirer machte mit der Rechten eine abmwehrende Hanbbewegung. „Lieber Herr: Das ift fauler Zauber!... Fauler Zauber... Sie lännen mire glauben!”

„So ohne Weiteres nicht. Ich finde die Behauptung etwas kühn.“

„ne jimple Wahrheit ift es, weiter gar nichts!“ Er nahm die MR vom Kopf und fuhr mit der Hand über feine Stirm, die breit und ſchön mwı „Ich weiß ganz gut”, meinte er finnend, „daß Einen das Unglüd bei der Gurg« paden kann, weiß id) ganz gut. Aber erjtiden braudt man daran nit! Im Gegentheil! Iſt man das Bishen Schred und Betäubung einmal wieder log, jo fängt man laut zu laden an umd der ganze Schwindel ift wie weggeblaſen.“

„Ich veritehe Sie nicht ganz

Ter Haulirer. 189

„Glaub' id. Habs veritedt ausgedrückt! . . . Na, ih mill die Herr- ihaften nicht länger itören. Schönen Dank für die Aufnahme.’ Er wollte fih den SKajter wieder umfchnallen. Ich aber hinderte ihn daran.

„Rein“, fagte ich lachend, „jo leichten Kaufs laffe ih Sie nicht davon! Erft Einen neugierig machen und dann verbuften: Das geht nicht!”

se „Will der Herr mich aufziehen? Was kann Ahnen an meiner Weieheit gelegen fein! 'n alter Mann. Und alte Leute werden kindiſch, jagt man doch!“

„Wer jo rüftig ausjicht und jo gut auf den Beinen ift wie Sie, gehört zu den ungen! Dan ift fo alt, wie man fi fühlt.”.

Er lachte kurz auf. „Sch habe dreiundfiebenzig auf dem Budel. Uebrigens, wenn Sies intereffirt, ich behaupte: es giebt Fein Unglüd. Das bildet man fih nur ein, fo lange man noch grün tft. Sterben müjjen wir Alle. Weshalb fi für die paar Jahre den Kopf verdrehen! Es brennt Einem das Haus ab: gut, es brennt ab, was weiter! Oder man macht Banferot und der Stuhl wird Einem ımter dem Hintern weggezogen. Die junge Frau mag die Ausdrudd- weile verzeihen: wenn man beitändig in der Kneipe fchläft, gewöhnt man jich jo was leiht an. 's ift notabene ein ganz gejundes Wort! Alfo man madt Banferot; was weiter ? Soll man fi darum aufregen?“

„Verzeihen Sie, aber e3 giebt doch außer diefen materiellen Dingen noch Anderes, was Einem an die Nieren geht, ſollte ich meinen!“

„Hab' ich früher auch gedacht! Es giebt cben nichts! Tie Frau jtirbt Einem; Ihön: fie ftirbt! Der Tod holt Einem bie finder; hol er fie! Es giebt für Alles einen Troft: Gott hatt es fo beitimmt. Wer weiß, wie es den Kindern im Leben gegangen wäre? Und fo weiter und jo weiter... Alter Zimt! Man bleibe mir damit vom Leibe!“

Ich fah ihn erftaunt und befremdet an. „So fann nur Jemand ſprechen“, entgegnete ich, „der nie Frau und Kinder bejeflen bat.“

„Sie irren. Ich Hatte Frau und hatte Kinder. Und wer hätte mid hindern fönnen, mir wieder eine zu nehmen und wieder Kinder in die Welt zu fegen ?,’8 iſt wohl erlogen, daß man blos die Hände auszuftreden braucht, damit an jedem Finger zehn Weibsbilder Hängen? Und beuft denn ein Mann beim Heirathen überhaupt ans Kinderkriegen? Unſinn! Sie find da und er gewöhnt fi langfam an jie; und find fie flügge, entwöhnt er ſich wieder.“

„Wenn ich jo dächte wie Sie, würde ich mir einen Strid nchmen und mich aufhängen.”

Er jah mich mit zwinfernden Augen feltiam und verſchmitzt an. „Seit ich fo denke, bin ich frei, fühle ich mich mohl. Was kann mir noch paffiren? Sehen Sie, ich trage jeit etlihen Jahren eine Brille, durch die ich Alles rofig he, gerade wie das Abendroth, das dert hinaufzieht! Scheint die Sonne, jo 1t fie da, um mid) zu wärmen. Negnet und wettert es, jo. kann ich mich aufs nächſte Wirthshaus freuen, wo es für mich eine warme Suppe und zum Mindejten nen Strohſack giebt! Würfelbecher und 'n Kartenſpiel find gewöhnlich aud) da! Woran fehlts mir aljo? Mehr als jatt werden kann Niemand! Ich werde fatt, ch löſche meinen Durst, ich ruhe meine Glieder aus. Ich mache Reifen, fomme urh Wälder und Felder, bade meine müden Füße im nädjften Bad) umd trinfe, wenn mich dürftet, aus der reinſten Duelle das Elarfte Waſſer! Muß ich ſterben:

190 Die Zukunft.

gut, jo ſterbe ih ohne Furcht; ich trdjte mich mit Denen, die mir vorgemacht haben. Nur die Lebenden, kalkulir' ich, bilden fih ein, daß das Sterben To fhwer iſt. Der an ber Reihe ift, nimmts leichter. Glauben thu' id an nichte, an gar nichts . . In der Hinficht laß ich mid mal überrafchen . . .”

Ich muß wohl ein ziemlih dummes Geſicht gemacht Haben, denn ich merkte, wie er mich ſpöttiſch betrachtete und leiſe lächelte.

„Ja“, ſagte ich nach einer Weile, „das Alles mag ja ganz gut und ſchön fein. Ich kann mir mit einiger Mühe auch vorſtellen, daß einmal eine Zeit fommt, wo ed nicht mehr in Einem gährt, wo man bie Dinge ruhig und gelaffen aufninmt und weder vom Leid noch von der Freude jtarf berührt wird. Das aber werden Sie mir wohl zugeben: von feiner Vergangenheit, von Dem, was man burdigemadt und gelitten bat, als man noch nit jo weit war, davon fommt man nie los. Feder Menjch trägt feine Vergangenheit mit fid, wie ein Gewicht, das an feinem Körper hängt und nicht abzujhütteln ift. Wie ein Reijegepäd, deſſen er ſich nicht einmal in ber Todegitunde zu entlebigen vermag. Lieber Mann, Sie lächeln. Aber ſchließlich kann ſich Jeder nur auf feine Er» fahrungen berufen. Und da weiß ich, daß ich einmal auf dem Krankenbett dachte, es fei mit mir Matthäi am Legten. Und die Aerzte waren ber jelben Anficht und meine Leute auch. Ich Hörte gewiſſermaßen den Tod leife und doch ver- vernehmlich pochen. ch will davon nicht ſprechen. Nur möchte ich Ihnen jagen: in den Ichlaflojen Nächten ich war meift bei Befinnung zog, was id) längft begraben wähnte, an mir vorüber. And Einzelheiten, deren ich mir während des Erlebens jelbft faum bewußt geworden war, tauchten mit furchtbarer Deuts lichkeit auf. Da wurde mir klar, daß man mit Dem, was hinter Einem liegt, verwachſen ift, daß die Vergangenheit ein innerer Bejtandtheil unſeres Ich iſt.“

„Man hat gar feine Vergangenheit; man hat das tolle Zeug nur ge- träumt‘, erwiderte er mit Hohn. „Wacht man auf, fo fagt man fi: Träume find Schäume und fommen aus den Baud. Man hat fid am Tag zu voll gefreilen und muß es nadıt3 büßen.“

„So einfad liegen wohl die Dinge nicht.”

„Doch! Noch viel einfaher. Was ift, ift nur durch unſere Vorftellungen ; und unfere VBorjtellungen wachſen allein durch unferen Willen. Das ganze Kunſt⸗ ſtück bejteht darin, läſtige Vorſtellungen zu vergeffen, das Gefügl für die Bergangen- heit mit Stumpf und Stiel aus ſich heraus zu reißen. Ich habs fertig gebradit. Baſta!“ Und zu etwas ganz Andereın überjpringend, fagte er: „Heute giebt3 einen Ihönen Abend... Aber nun wird es Zeit, dab ich in meine Kafhemme komme; da fißt ’ne ganze Tafelrunde, die auf mich lauert. ’8 find gute Menjchen, bie nicht aenug von mir hören können. Ich bin jo zu jagen im Wirthshaus der Allerweltnarr, ich mache ihnen Theater vor ohne Eouliffen und ohne bengaliſck Licht. Die Leute wijjen, daß ich viel herumfonme, und laſſen fi) von n bis in die ſpäte Nacht hinein erzählen. Und der Wirth feßt fih auch dazu u füllt mir das Glas. Ich habe meinen Spaß und fie den ihren. Das iſt gutmüthig und dumm, läßt fi einen Bären nad dem anderen aufbinden Was wollen Sie: welder Unterjchied ift zwiichen Erjchwindeltem und Wahre Mit Verlaub, gar feiner!”

Ich bat ihn, zu bleiben und unjer Abendbrot zu theilen. Er willigt

Der Haufirer. 191

nad einigem Bögern ein. „Iſt mal was Anderes! Mit Schriftgelehrten kommt ja. Unfereiner fauın zujammen.” Bei diefen Worten zog er in gutmäthigem Hohn wieder den Mund jdhief.

Sch that, ald wenn ich es nicht merkte. ch empfand: Bier fit Dir ein Menſch gegenüber, wie Du ihn nicht alle Tage auf der Landſtraße triffit. Und mit der niederträchtigen Antheilnahme des Schriftftellers wünjchte ich, in feinem Inneren zu lefen. Schon jest glaubte ich, zu willen, daß der Mann ba nicht ſein Lebtag als Hauſirer durch das Land gezogen war.

Meine Frau erhob ſich, um in der Küche die Vorbereitungen zu treffen, Mir wars recht, mit ihm allein zu fein. Vorſichtig nahm ich das Seipräd wieder auf. „Sie werden auch nicht immer jo wie heute gedacht haben.‘

„Das weiß Gott und der Teufel.” Er lachte kurz auf. „Das Leben lehrt Einen denken. Man kommt fhon allmählich dahinter,” ſagte er nach einer langen Pauſe. „Auch dafür muß man dankbar fein!”

In dieſem Augenblid famen meine beiden Jungen lachend und jauchzend in den Garten gejprungen. Gie jtürzten freudig auf mich zu. Der Eine kletterte auf meinen Schoß, der Andere flammerte ſich an meine Hand.

„Volt Ihr nicht Guten Tag jagen?”

Sie thaten e8 zögernd. Dann aber überfchütteten fie mich mit ihrer Xiebe, jo daß ich Mühe hatte, mich von ihnen zu befreien. Der Haufirer holte aus feinem Kaften ein rothes Schächtelchen mit Pfefferminzplägchen und gab es ihnen. Sie ſchrien vor Jubel auf und liefen davon.

„Rennt nicht jo,” rief ich ihnen mahnend nad).

Als ih mid dann meinem Beſuch wieder zuwandte, merkte ich fofort, daß eine Veränderung mit ihm vorgegangen war. So ein grübleriicher, ver- jorgter Ernſt ftand auf feinem Geſicht. ' j „on dem Alter‘‘, jagte er finnend, „hat man am Meiſten von ihnen. Die Körperchen find rund und die Seelen noch nicht vergiftet. Und doch ... Es ift eine Narrheit, fein Herz an die Kinder zu hängen. Eine Narrheit its. Kinder find die Feinde der Eltern! Und wie viel Fremdes und Bösartiges ftedt in ifnen! Haben Sie Das von uns oder von der Mutter? Ich nehme an, von der Mutter. Sit ein Mann gemein, jo bat die Gemeinheit immer noch etwas Gradliniges, das man wenigſtens überjehen kann; aber ift die Frau ein Satan, jo mag Gott Einem helfen oder nicht: man iſt ein gefchlagenes Menſchenkind. Die Bosheit eines Weibes ift nicht auszudenken!“

„Haben Sie Töchter“, fragte er unvermittelt.

„Nein!“

„Wenn Sie an Gott glauben, danken Sies ihm.“

„Es ſcheint, als ob Sie ſchlimme Erfahrungen hinter ſich haben.“

„Ob ich die hinter mir habe! Was meinen Sie, junger Herr, hab' ich hinter mir! .. .“ Und nun lachte er plötzlich grimmig auf, während er die Brauen in die Höhe zog.

Zange ſchwiegen wir Beide. Dann ftüßte er den großen Schädel zwiſchen die Hände und begann:

„Es hat einmal eine Zeit gegeben, wo ich mid) nicht auf der Landſtraße Herumgetrieben habe, fondern mein Haus und Heim hatte. Damals e3 mögen

192 Die Zukunft. '

jegt über dreiundzmwanzig Jahre her fein galt ich für einen wohlhabenden Kaufmann, der fi ich darf es wohl fagen eines gewiſſen Rufes erfreute. Man hielt mid für fleikig, für redlih und dabei doch nicht für auf den Kopf gefallen. Ich wohnte in einer Stadt, die an hunderttauſend Einwohner hatte, und bejaß einen fchönen, hellen, großen Laden. In den Schaufenftern lagen die neuften Stoffe und drinnen berrichte von früh bis abends das regfte Leben. Die Reifenden famen mit den neujten Muſtern in mein Kontor und id) hatte Mühe, fie mir vom Leibe zu balten. Denn, wies fo tft: bat Einer ein gut gehendes Geſchäft, jo wird Abjag und Verdienſt noch höher eingejchäßt, als fie find. Wie jollen es auch die außen Stehenden beurtheifen, wenn man felbft erst am Ende des Jahres weiß, was man verfauft und wie viel man verdient hat? Ich hatte eine ganze Schaar von jungen Leuten, und wenn ich fo durch den Laden ſchritt, an den aufgeftapelten Waaren vorbei, die Kunden begrüßte und die Verkäufer fontrolirte, jo Shwoll mir mandmal der Kamın. Ich kam mir wie ein Eleiner König vor. Trotzdem hielt man mich für einen gerechten Chef, der wohl auf Pünktlichkeit und Ordnung achtete, aber doch auch wußte, was er feinen Leuten ſchuldig war. Der Laden Batte drei Lager. In dem einen wurden Stleiderjtoffe, in dem anderen Leinen und Shirting und in dem dritten Poſamentirwaaren verkauft. Damals mußte man in einer Provinzftadt Alles führen, wern man fein Gefhäft maden wollte Na, ich glaubte, mir könnte es nicht fehlen. Ich Hatte ja eine Hilfe, wie man fie fich nicht zuver⸗ läffiger wünjchen Efonnte, in meiner Frau und meinen beiden Töchtern, bie an den drei Kaſſen ſaßen und nit nur das Geld für die verfaufte Waare in Empfang nahmen, jondern, was noch viel wichtiger war, Überall ihr Auge Hatten.

Sch konnte mit Ruhe auf Reifen gehen und für die Winter- und Früh—⸗ jahrsſaiſon die Einkäufe beforgen; ich wußte ja Alles in den beiten Händen. Ich ſage Ihnen: drei fo tüchtige Weibsbilder giebts auf der Welt nicht noch einmal. Mag fein, daß fie öfter, als nöthig war, die Köpfe zufammenftedten, heimlich tufchelten und auseinander ftoben, wenn ich unvermuthet dazu fam. Ich lachte und zog fie auf. Weiber Haben halt ihre Marotten! Und wenn jie erft den kurzen Rod ausgezogen, beginnt die Geheimnißthuerei und fo eine Art Scheu felbjt vor dem Water. Notabene: die Hatten fie inmer vor mir. Ich zerbrad mir nicht den Kopf darüber, nannte die Drei im Scherz Verfchwörerbande und böhnte fie weidlih. Ich hatte ja nicht nur ein gut gehendes Gejchäft: ich war aud ein glücklicher zyantilienvater. Das Heißt: Ich hielt mi dafür. Aärt- liches Gethue war mir zumider. Ich bin von Hauje aus ein grüblerifcher, wenn auch keineswegs wortfarger Menjh. Mit Gefühlen bin ich immer [parfam ge wejen. Oefter als einmal im Jahr und Das war an ihrem Geburtstage hab’ ich jie nicht gefüßt. Das weiß ich heute nod).

Sie glaubten wohl im Stillen, ic) fei hart, jtreng und Tonderlid. Mochten Sies! Mas lag daran!? Du lieber Gott, id; hatte meine Beiten und Muden wo mit mir nicht gut Kirſchen effen war. Bildete mir dann aus Gott weil was für einem Grund ein, irgend etwas Schweres müßte mich treffen, ich ſei unter einem unglüdlichen Stern geboren, und mas des dummen Zeuges mehr ilt. In dem Zuftand lief ich düjter und verichloffen neben ihnen Her, ſchlief un: rubig, und trank nicht. Das begriffen fie nicht. Doch ich fand mich immer wieder ſchnell zu mir zurüd und lachte mich jelbit aus. Die Arbeit heilte mich

Der Haufirer. 193

Die Arbeit! Das ift nun freilich wieder ein Kapitel für fih. Konnte ich mid) von früh bis jpät plagen, jo jollten auch meine Frauensleute nicht die Hände in den Schoß legen. Dachte in meinem Unveritand: Arbeit ift bes Blutes Baljam, Urbeit ift ber Tugend Duell! Ihr Murren half ihnen nicht; fie mußten heran; und tüdtig heran. Und fie gewöhnten ſich ans Wrbeiten. Nichts dagegen zu jagen! ‚hr danft mirs noch einmal, daß ich Euch in ber Jugend gelehrt habe, dem Herrgott nicht die Zeit zu ftehlen!“ Profit die Mahl⸗ zeit: fie habens mir gedankt!

Ich hab’ es nun mein Lebtag nicht ausftehen mögen, mern die Drädel fi wie bie Pfingftochfen pußten und zum Tanze liefen. ’ne ehrliche Bürgerstochter, die auf fich Hält, Laßt fich nicht von Jedem berumfchwenten; wartet, bis ber Rechte kommt. Meine Weiber dachten anders, aber fie fügten ſich ſchließlich Wir lebten ganz in der familie und ih kann Ihnen jagen, wir befanden uns wohl dabei... Wenn mir damals ein Freund gejagt hätte: Sei vor ihnen auf ber - Hut, fie führen Etwas gegen Dich im Schilde, ich hätte kurzen Prozeß gemacht und den Burſchen vor die Thür gefegt. Ein Baarvermögen befaß ih nit. Mein Befiß beftand in einem großen, fchönen Haus, in dem fi auch mein Laden befand. Das Haus war auf den Namen meiner Frau gefchrieben. Ein Ger ſchäftsmann weiß ja nie, was ihm im Leben einmal pafliren Tann, und jo follte wenigftens das Grundſtück für alle Fälle meiner Yamilie gefichert fein. Es war nichts weiter al3 eine Formfache, denn das Geſchäft hatte einen folchen Aufſchwung genommen, daß ich in abjehbarer Zeit ich rechnete auf zehn gute Sabre ein vermögender, unabhängiger Mann fein mußte.

Berzeihen Sie, wenn id) etwas weit aushole. . Aber wie follen Sie das Ende verftehen ohne den Anfang?

Alfo ich war, Alles in Allem, ein glüdliher Mann. Kleine Uergernifie bat jeder Geſchäftsmann. Das gehört gewiflermaßen zum Metier. Darüber redet man nit. Der Werger, den ich damals Hatte, ging von zwei jungen Leuten aus, die bei mir konditionirten. Zwei Brüder, die ich auf die Empfehlung eines Geſchäftsfreundes engagirte, obwohl mir die Jungen fchon beim erjten Blick nicht recht gefielen. Meine Frauensleute dagegen hatten ſchon nach wenigen Tagen einen Narren an ihnen gefrefien. Gut, dachte ich mir, Du haft ein Vor⸗ urtheil; e8 wird ſich geben. Es gab fich aber nicht, im &egentheil: die beiden Menſchen wurden mir von Stunde zu Stunde wiberwärtiger. Dabei hatte id) nicht den mindeften Srund, gegen fie vorzugehen. Ste famen früher und gingen jpäter al® die Anderen. Sie waren gewandte Verfäufer, die mit dem Publikum umzugehen wußten, und häufig famen Sunden, die direkt verlangten, von ihnen bedient zu werden. Das GSeltfamfte dabei war, daß die Burſchen von Unjehen häßlich waren. Aber fie hatten eine geriebene Urt, fich bei Jedermann einzu- niften, jo eine bündifhe Anſchmiegſamkeit, mit der fie zu Stande bradten, immer gerade den Ton zu ſchmettern, den die Leute hören wollten,

Was mich gegen fie aufbracdhte, lag tiefer. Ich traute ihnen nicht Über den Weg. Sie ftedten in Alles ihre Nafen Binein. Sie fümmerten fih um Dinge, bie fie nicht jo viel angingen. Sie madten fi an den Büchern zu fchaffen, drängten ſich beim Einkauf heran, achteten auf jede Stecknadel, mit einem Wort: fie waren von einer Befliffenheit und Betriebjamfeit, daß mir

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194 Die Zutunft. ,

angft und bang wurde. Biſt Du eigentlich der Chef oder find fie es, fragte ich mid mandmal im Stillen. Was wollen fie eigentlih? Haben fie die Abſicht, Did Herauszubrängen, ober welchen Zweck verfolgen fie fonft? Ich kann Ihnen fagen, mir wurde vor den Menſchen unheimlich; denn davon war ich überzeugt, baß fie nicht aus Liebe zur Sache fih Arme und Beine herausrifien.

Ih war veritimmt, wenn ich morgens in meinen Laden trat. Ihr An⸗ blick reizte mich auf. Dabei galt id von Haufe aus immer für einen umgäng- Ä lihen Menſchen, der den Frieden liebte. Deinem Doktor fiel mein veränbertes Weſen auf. Er nahm mic, eines Tages bei Seite. Menſchenskind, was ift Ahnen denn? Ihr Geſicht gefällt mir ſchon Lange nicht.‘ Ich wollte erft nicht mit der Sprache heraus, dann aber empfand ich es felbft als eine Wohlthat, mit einer Seele mich auszuſprechen. Lieber Doktor, ich werde leberkrant, ſchloß ich, wenn ich die beiden Sterle noch lange um mich fehe. ‚Dann ſchmeißen Sie fie 'raus! Je eher, deſto befter!‘ Den Rath hatte ich mir felbft gegeben; aber woher nimmt man immer gleich- die Energie? Ich dachte aljo: mad kurzen Prozeß, handle, ehe es zu fpät ilt.

Ich laſſe mir die Jungen in mein Privatfontor rufen, nehme fie mir vor und fage kurz und bündig etwa Folgendes: Deine Herren, fo leib es mir thut, ih muß Ihnen zum Erften fündigen. Weshalb? Das ift meine Sache! Gott jet Dank: e3 war heraus... Uebrigens, wenn es Ihnen lieber ift, ſetze ich noch ſchnell hinzu, können Sie auch fofort gehen. Das Gehalt würde ich Ihnen jelbftverftändlich bis zum Erjten auszahlen und an einem guten Beugnik für Ihr weiteres Fortkommen ſoll es auch nicht fehlen. Ich warte auf eine Untwort: aber vergebend. Die Beiden geben feinen Laut von fi, lädeln nur auf eine kaum merfliche, niederträchtige Weile... Lächelt, fo viel Ihr wollt, dachte ich; wenn ich Euch nur erft aus bem Laden habe! Alles Unbere joll mid nicht ſcheren. ch gebe ihnen ein Zeichen, daß fie entlaffen find, und Dante mit einem Stoßgebet meinem Schöpfer.

Wollte ich behaupten, mir fei ganz mohl dabei geweien, fo müßte ich lügen. Das Schlimmite ftand ja noch bevor: die Sache den Fyrauensleuten beizubringen. Na, vor ber gegebenen Thatjache mußten fie fi ja beugen.

Ich Hatte die Rechnung ohne den Wirth gemadt. Als ich es ihnen bei Tiſch verjegen wollte, wußten fie eS bereits, zu meinem Erftaunen. Es war ein volljtändiges Stomplot, bei dem Jede ihre Rolle durchführte. Die ganze GSefellihaft Hatte ein paar Stunden vorher Striegsrath abgehalten.

Was fol ih Ihnen fagen? Sie verjudhten es erft im Guten, beriefen fich auf meine Gerechtigkeit, fagten, welchen üblen Eindrud es maden müſſe, wenn man zwei Angeſtellte davonjage, denen man hödftens ihren Fleiß und ihre Pflichttreut vorwerfen fünne. Ich blich feit. Ich ſchlug mich nur an ®- Stirn und fragte mich, wie es denn möglich jei, daß meine Leute jo ganz ander“ empfinden Eonnten als ih. Damals dämmerte mir zum erjten Dale auf, da da Etwas faul und morſch fein müſſe. Als fie fahen, daß alles Zureden um: fonjt fei, fing der regelrechte Kampf an. Die Weiber waren mie behext. Si ftihelten und maulten. Setzten böje Mienen auf und warfen mir Steine ir den Weg, wo fie nur konnten. &Licher Herr: wenn drei Weiber gegen ein Dann find, jo, werden Sie zugeben, ifts ein etwas ungleicher Kampf! -

Der Haujirer. 195

Am Gejchäft Elappte nichts mehr. Die Bande ging barauf aus, mid mürbe zu machen. Und menn ich wie ein Unwetter losfuhr, begegnete ich höhnt- ſchen Biliden und einem Widerftand, den ich nicht brechen konnte. Meine Frau murrte und Inurrte. Das feien die Folgen meiner Härte.

Die beiden Brüder hielten fih im Hintergrunde, wichen mir aalglatt aus, fo daB ich fie nicht faſſen konnte. Du lieber Gott: man ift nicht aus Eifen ... Schließlich Hatten fie mich jo weit. Was follte ich thun? das Haus wurde mir ja zur Hölle.

Bon dem Tage an, wo ich die Kündigung zurüdzog, war mein Unglüd fertig. Sch Hatte die Schlacht verloren, war verrathen und verlauft. Die Burfchen trugen die Köpfe höher, auch wenn fie nach wie vor mieden, mit mir in Konflikt gu fommen. Ich fühlte deutlich, daß ich den Boden unter den Füßen verloren hatte. Ich war nicht mehr Herr in meinem eigenen Laden. Ich merfte oder glaubte wenigitens zu merken, wie das Perſonal binter meinem Rüden wilperte und flüfterte. Ich war durch all den Aerger Eörperlich elend geworben und mein Elend wuchs, wenn ic ſah, wie Frau und Töchter mich mit ihren lauernden Bliden hebten.

Und dann fingen fie ganz leiſe zu bohren an, jo daß ich zuerft gar nicht wußte, worauf fie Binauswollten. Ich müſſe mich jchonen, hätte mich in den legten Syahren überanftrengt; es ſei an der Beit, etwas mehr Rüdjicht auf mic zu nehmen. PVielleicht wäre es überhaupt das Befte, bie ganze Laſt auf jüngere Schultern abzumwälzen. Ich lachte ihnen ins Geſicht. Narrenspofjen! So lange ih noch japfen kann, rühre ich mich nicht von meinem Poſten. Sie zogen lange Gefichter und meinten, Jeder müſſe natürlich wiffen, was er zu tun Habe. Sie hätten ed nur für ihre Pflicht gehalten, mich rechtzeitig zu warnen.

Ich wills kurz machen. Eines ſchönen Tages kommen bie beiden Schlingel befradt und mit weißen Handfchuhen in meine Privatwohnung und wiünfchen, mich zu ſprechen. Mir ahnte nichts Gutes. Aljo: womit kann ich den Herren dienen?

Sie fpielten-erft eine Fleine Weile die Berlegenen, bis es herauskommt, daß fie meinen väterliden Segen wünjden; mit meinen Toöchtern jeien fie bereits einig... So! Sind Sie!... Hm!.. Das Wort will mir nit aus der Stehle. Ein Gefühl, ald ob mich Einer am Halfe würgte.

Ich weiß nit, ob Sie den Zuſtand kennen, wenn Einer innerlich weint und dabei ausſchaut wie ein Bild von Stein.

Taufend Gedanken jagten mir durchs Hirn. Biſt Du denn ſchon ein Kadaver, daß man einfach über Deinen Kopf hinweggeht und Dir nichts weiter übrig bleibt, al8 wie ein Pagode zu niden und Ja und Amen zu jagen? Sit es mit Dir zu Ende?

Wie die Beiden Herausgefommen find, weiß ich heute nicht mehr. Jeden⸗ fall3 waren fie vierzehn Tage jpäter an die frifche Luft gefegt; mein Laden war wieder gejäubert.

- Ich hatte mich nach ihnen erkundigt und nette Dinge erfahren. Sie waren aus einer übel beleumdeten Familie und hatten ſelbſt ſchon Einiges auf dem Kerbholz. Meine Weiber mochten Zeter und Meordio fchreicn: eg half ihnen nichts. Ich felbjt aber hatte meinen Knacks weg. Und mochte idy mid) noch

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196 Die Zutunft.

ſo ſehr ſträuben, mein Doktor beſtand darauf, daß ich für eine längere Zeit ausſpannte, um mich von den Aufregungen zu erholen.

Mirs wars ſchließlich recht. Denn es iſt keine Kleinigkeit, mit drei mürriſchen Weibern, die das Maul ſchief ziehen und Einem weder Red' noch Antwort ſtehen, unter einem Dach zu hauſen. Wenn Du heimkehrſt, werden ſie ausgebrummt haben, dachte ich bei mir, und reiſte ab.“

Er hielt plöglid inne und fah mich groß an.

„3a, Das dachte ih... So'n Menic Hat ja zumellen Gedanken, oder red't fi zum. Mindeften cin, er habe welde.

Die ſechs Wochen verjtrihen und ich fehre etwas unruhig ‚heim. Die Mädel hatten während ber ganzen Zeit keine Zeile an mich gefchrieben und bie Alte nur nothdürftige Berichte, die fich in ganz allgemeinen Redensarten auf das Geſchäft bezogen. Ach fteige aus dem Bug, fehe mir die Augen aus, aber feine Seele ift da, die mich erwartet. Schön. Du findeft den Weg auch allein und wirft ihnen Eins auffpielen. Kräfte haft Du ja gefammelt.e Du wirft ihnen zeigen, daß Du der Herr im Haufe bift und Dich nicht von drei Schärzen ins Bodshorn jagen läßt. Ich befchleunige meine Schritte, damit mir ber Zorn nicht unterwegs verraucht. Wie ich in meine Straße einbiege: was fehe ich? Einen Moment bilde ich mir ein, daß mir meine Vhantafie mas vorgaufelt. Uber nein, es tft fein Irrthum: ba ift ein funfelnagelneuer Laden, in defien Auslagen alle Waaren aufgeftapelt find, bie ich ſelbſt führe.

Ich halte mich an der Goldſtange vor dem Laden feft; und wie ein Blöb- finntger ftarre ich die großen goldenen Schilder an.

Aha! Gebrüder Soundjo!... Die Burjchen Haben fih Dir gegenüber gefeßt, um Dir gehörig in die Suppe zu fpuden. Euch Halunken werd’ ichs beforgen! ®ottlob, man hat feine Kundfchaft, die an Einem Hängt, bat nicht vergebens all die Jahre gearbeitet und ſich mit Heinem Gewinn zufrieden ge- geben. Der Geier fol Euch holen! Ich werfe noch einen Blid auf die Aus— zeichnungen und lade laut auf. Straf mid der Herrgott: aber geriebene Spitz⸗ buben find Das! Preiſe weit unter dem Einkauf! Die wollen die Leute födern! Die gehen aufs Ganze, fangen glei als Schwindler an. Offen geitanden: ich hatte, nachdem ich mal über den erſten Schred war, eine jaftige Freude, fo 'ne Urt von Genugthuung, daß ich mich in der Bagage nicht getäuſcht hatte.

Und nun nad Haufe! Yuerft in den Laden, um es ben Weibern umter die Nafe zu reiben. Darum aljo hatte die Alte fo einfilbig gefchrieben. Darum hatte ſich Keins von ihnen auf der Bahn jehen lafjen! Nun war ja Alles klar! Sie ſchämten fich gottsjämmerlih. Ich fühlte, wie ich innerlich weih wurde. Du wirft es ihnen leicht machen und Deinen Frieden mit ihnen ließen. Ste mögen genug Angit und Pein ausgejtanden haben!

Ungelangt! Ich reiße bie Thür aufl.. Bon den Weibern keins zu fehen. Fremde Gefichter und eine heillofe Unordnung, ald ob Zigeuner in dem Laden gehauft Hätten. Die Regale find ausgeräumt. Alles liegt kunterbunt durch: einander. Die Verkäufer ftarren mid an, wie wenn ich von den Zoten auf- erftanden wäre. Ich fange zu brüllen an wie ein Ochſe, dem plöglic auf dämmert, daß er zur Schlachtbank foll. Ich erichrede vor dem Klang meiner eigenen Stimme... Herr des Himmels: hab' ich den Berftand verloren? Träume ih? Bin ich bereits blöd? Oder will man mich blöd machen?

Der Haufirer. 197

Ich träume nicht. Klipp und klar wird mir bewiefen, daß ich wache. Nach und nad wird mir beigebracht, was fich in meiner Abmwefenheit zugetragen Hat. Die Weiber haben den Konkurs angemeldet, einen jammervollen Konkurs. Mein Gefchäft war ruinirt, ohne daß ich wußte. Die Waaren feit, wer weiß wie lange, nicht bezahlt. Sie denken, Herr, ich ſpreche irr. Habs wielleicht auch einmal geglaubt. Ich jage Ihnen, das Alles war fo fein eingefädelt, wie es nur Weiber vermögen. Dan hatte die Gläubiger immer getröftet und für die Kataftrophe als beiten Zeitpunlt meine Sommerreife fi) ausgejudt.

Sch weiß, was Sie fagen wollen: ich ſei ein Narr gemwejen, wenn das Alles Hinter meinem Rüden gefchehen konnte. Leugne ih? Fällt mir nicht ein! Sie haben dreimal Recht: ich war ein Narr! Wer hat die Kafjen geführt? Meine Töchter und meine Frau. Wer die Korreipondenz? Wieder meine Töchter und meine Frau! | Sch merks Ahnen an: die Sache kommt Ihnen immer noch etwas jchleier: hafı vor. Ja, meinen Sie, daß die Gefchichte fo einfach war? Gewiß: ich hatte ein blühendes Geſchäft; alle Welt mar davon überzeugt. Aber, Tieber Herr, Ucherzeugungen find billig wie Brombeeren! Was nübt Ihnen das Haus, wenn es vom Schwamm zerfreflen ift? Was taugt Ihnen der Schrank, in dem ber Holzwurm fich eingeniftet Hat? ... Mein Weib, meine Töchter, mein eigen Fleiſch und Blut hatte mich, ohne daß ich es ahnte und ahnen konnte, bejtohlen, begaunert, bis aufs Blut gefchröpft. Nennen Sie es, wie es Ihnen paßt... Mein Geld Hatten fie gemault, die Waaren bei Seite gebradjt, die Lieferanten nicht bezahlt. - Die Poſt hatten fie Hinter meinem Rüden aufgefangen, fo daß ich feinen der Mahnbriefe zu jehen befam.

est wußte ich, warum die Gefellichaft, warum fie wie die Kletten an ein- ander hingen. Nicht die Leidenſchaft: das gemeinfame Verbrechen Hatte jie zu— jammengefettet. Und als ich fort war, hieß es: Der Kerl bat fich gedrüdt, fi aus dem Staube gemadht und die armen Weiber in der Patſche ſitzen laſſen.

Ich brauche Ihnen wohl nicht zu jagen, wo die gejtohlenen Waaren lagen? Defto beffer, wenn Sies errathen haben. Stimmt! Bei den Laufejungen, die ich davongejagt hatte. Mit meinem Geld, mit meinen Waaren hatten fie ihren Laden aufgemadit ...

Dos war meine Heimkehr! Ich war Über Naht zum Bettler und Be- trüger geworden und wußte felbjt nicht, wie!

Als ich mich von meiner Betäubung langfam zu erholen begann, hab’ ic mid) wie ein Idiot immer und immer das Selbe gefragt: Wie war es denn möglih? Du Haft doch nur für fie Dich abgeradert, für jie Dir den Billen vom Munde abgeſpart! Schließlich Habe ich meinlegtesBischen Willenskraft zuſammen⸗ gelejen und mit der Fragerei Schluß gemadt. Dan foll nicht alle Räthſel löjen wollen!

Mein Haus Hatten fie zu Geld gemadt. Herr, laden Sie nicht: das Haus gehörte ja nicht mir, e3 war auf den Namen meiner rau gefchrichen. Bott fchüge mich vor Verleumdungen! Das Haus gehörte ihr nad dem Bud): ftaben des Geſetzes. Alles, was recht iſt ... Recht muß Recht bleiben! Jeden⸗ falls wußte ich nicht, wo ich meinen Schädel hinlegen ſollte.

Gott ſei gelobt: auch dafür kam Rath! In meiner Taſche klimperten

198 Die Zutunft.

nod dreizehn Harte Thaler, die ich aus ber Sommerfrifche gerettet hatte. Ich brachte die Nacht in einem Wirthshaus der Vorftadt zu, wo mich fein Menſch Tarmte.

Man fol jedes Ding beichlafen! Die Erleuchtung kommt ſchon. Am anderen Morgen wußte ih, daß ich und nur ich allein gefündigt Hatte. Wie darf ein Vater zwilchen feine Töchter und ihre Liebſten fich ftellen? Will ein Menſch ins Unglüd rennen, jo darf ihn Niemand hindern. Wers thut, muß die Suppe auslöffeln, die er fi eingebrodt bat. Jeder Menſch hat ganz allein das Beitimmungredt über ih! Punktum! Väter, die fih anmaßen, Schickſal zu ſpielen, fol man an Laternenpfählen aufhängen. Was willen Väter von dem Glück ihrer Kinder? Das war meine Weisheit am folgenden Dlorgen. Den Tag darauf rieth mir Einer, der e3 gut mit mir meinte, ich folle zu den Gerichten geben... Ich Hab’ ihm heimgeleuchtet. So weit hatte id) meine fünf Sinne no zufammen. Wie hatte ich einen Schein auf Redit, wenn meine eigene Sippe ... Laſſen wird! Ein Weib flennt und ein Dann handelt. Für mid gabs nur Eins: fort aus biefer Welt, weit weg. Nichts mehr hören und jehen. Schluß maden! Un einen Strid hab’ ich dabei nicht gedacht. Den Kaften da hab’ ich mir gekauft, dazu allerlei Plunder und 'nen Tragriemen. Dann bin ich losgezogen, als Handeldmann oder, richtiger gejagt, als Haufirer...

Ich kam mir wie ein Fürſt vor; nad allen Auslagen hatte ich noch jeh8 Thaler baar und feinen Pfennig Schulden auf die Waare. Und wenn ein Hauſirer fein Geſchäft verfteht leicht ift e3 nicht und gelernt will es auch fein —, jo braucht er nicht zu verhungern.

Ich habe mein Glück gemacht. Ich Lern’ mich aus mit den Leuten auf dem Lande und in der Stadt. Schimpft Einer auf jeine Frau: ich kann ihn tröften. Lieber Freund, es giebt Schlinmmere! Bilde Dir nur nicht ein, daß gerade Du bejonders tief in der Tinte fitt. Schimpft einer feinen Nachbar oder Knecht einen Schweinehund, fo lach ich ihn aus: Warte Du erft ab, bis Dir wirt li der Satan in die Duere kommt! Ich fage Ihnen, ich führe ein gutes Leben. So leicht taufche ich mit einem!”

Er ſchwieg und holte aus feiner breiten Bruft Athem.

„Und die Vergangenheit?” fragte ich leije.

Er jah mich groß und verwundert an, ala ob ich ihn aus tiefen Träumen jäh berausgeriffen hätte. „Die Vergangenheit?... Lieber Herr... Glauben Sie wirklich an den Schwindel? Ad fo! Sie wollen mich mit meinem eigenen Schickſal ſchlagen. Stimmt nit! Ich habe nad acht Tagen feine Vergaugen- beit mehr gehabt. Ich Hatte nur geträumt. Wer will mir beweijen, daß ich jemals Frau und Töchter hatte und als geachteter Kaufmann in meinem Laden auf und nieder gegangen bin? Soll ſich Einer unterftehen, mir Das zu beweifen!... Seit dreinndzwanzig Jahren Elappere ih Dörfer und Städte als Haufirer ab. Was vorher war, ja, was war vorher? Ich weiß es nicht! Niemand fann dafür, wenn ein wüfter Traum ihn überfällt. In meiner Vorftellung fieht die Welt rofig aus. Und mit den Menjchen läßt fichs ansfommen. Wozu vere galt man fi das Bischen Dafein? Man lebt die Stunde, die man hat! Dan blickt nicht Hinter fi und nicht vor fih! Baſta!“

„Und was ift aus den Ihren geworden ?*

„Weiß ih?! Ins Elend und in den Dred gerathen. Geftorben und

Selbſtanzeigen. 199 /

verdorben. Mich gehts nicht an! Sind es denn die Meinen? Nein! Waren wir jemals aufammen? Nein! Was kann ich ſchließlich dafür, daß bie Brut geboren wurde! Der Herrgott läßt’ Bielerlei wachſen. Wird wiflen, wozu! ... Gute Nacht Herr! Wenn ic jest nicht eile, kann mirs pafiiren, daß ich- in meiner Herberge nicht unterfomme! Grüßen Ste die junge Frau! Bleiben Sie gefund. So lange man heile Glieder hat, ijt Alles zu ertragen!" Er Hatte den Kaften umgeichnallt und war, ehe ich antworten Tonnte,

ans dem Garten...

. Eine kurze Weile fah ich Hinter dem Baun noch feinen Schatten; dann verſchwand auch der im Dunkel der anbrechenden Nacht.

Felix Hollaender. £

Selbftanzeigen.

Ban. Sonnenopfer der Jugend. Stürmer Verlag von Joſef Singer. Straßburg i./E. 1908.

Zwei Proben: I Im Garten.

Schon iſts die Nacht. Ein leifer, feiner Duft im Wind und Dämmern weißer Kelfen . . Düften weißer Nelfen . . Weihe Mädchenarme, die fi) um den Naden ſchmiegen, ftumme, ftumme, weiße Luft und durd dad Schmeicheln drängt zum Mund die Roſe dort, ein rother Mund...

Dann iſts, als jchritt’ in nelfenweißem, dämmrungleuchtendem Gewande, das ein goldner Gürtel um die Hüften hält, ein Mädchen, ſchlank und träumend ftolz, den langen, jchmalen Weg der Mitte .. als irrt’ um ihre Schritte zitternd Tönen: Erwachen aller Blumen und Entihlummern Icgeitte durch den Garten und verfhwände .. Nur ein Ton, wie er im Abendfonnenweben ſchwimmt, ein Duft nur blieb, dort, wo zum legten Mal das Goldhaar bergeblidt. Die Sommernadt ..

II. Erjte Fahrt. Die Nacht preßt ihre Lider zu. Wilingicdiffe prallen an einander, würgend mwälzt der Kampf von einem Bord zum andern id). Ein Blig geht irr: Im Borderbug ein Königsjohn,

200 Die Zufunft.

in feinen Locken

zitternd Licht, bie Streitart wühlt im Knäuel unter ihm, den Blig trank heiß die Nacht.

Der Tag bleicht überm Nordermeer. Zwei Wikingichiffe treiben

eng im Krampf der Enterhaken noch verbunden durch das Gold... Der Morgenfchein lacht

jttl im Blut, dag zwiſchen

Haufen ſchwimmt Erfchlagener

und, wie Abendröthen nicderhängen, rinnt ind Meer.

Nur im Vorderbug der Königsjohn, das Mefler ticf im Herzen, . .

durch die langen Locken

jtreichelt janft dag junge Licht . und macht den Than erglüden,

der wie Perlen licgt,

die eingenäht in blonden Sammet . .

Groß fchlägt der Tag dic Augen auf. Münden. NRens Schidele. 3 Durh die Mandſchurei und Sibirien. Neifen und Studien. Bon Rudolf Zabel. Mit 146 Abbildungen und dem Portrait des Berfaffers. Gebunden 20 Marl. Georg Wigand in Leipzig.

Rudolf Zabel hat während des chineſiſchen Feldzuges als Berichterftatter der Boffiihen Zeitung eine Sondererpedition von Peking aus dur das mand« Ihurifhe Aufftandsgebict unternommen und authentifche Material zur Beur- theilung der ruffiihen Stellung in Oſtaſien mitgebradt. Sein Werk bietet benn auc wirklich .Neucs und kann lernbegierigen Leſern empfohlen werden.

Leipzig. Beotg Wigand. % Balders Tod. Schwerin i. M. Eduard Herberger. 75 Pfennige. Ein Berjud, dein fturmvollen Bilde der eddiſchen Götterwelt die lichte

Seftalt des jungen Tages abzugewinnen, den frühe Nacht vor den großen Ende verichlingt, und in die dunkle Abendgluth des Fampffrohen und doch lebensmüden Heidentyums das reine Morgenroth des welterneuernden Evangeliums der Liebe bineinzuwirfen, Götterſchickſal und Menſchenlos einander jpiegelnd und durch⸗ dringend. Auch ein Berfudh, dem alten Stamm des Wortdramas das urgermanifche Edelreis des Stabreims zu vermählen.

Kaſſel. Leopold Ripcke.

s

Die Transbaalbahn. | 201

Die Transpaalbahn.

nter der Aegide der Berliner Hanbelögefellihaft unb ber angeichenen Bank⸗ firma Robert Warſchauer & Co. wurden am vierten Juli 1894 elf Millionen Gulden bolländifcher Währung Nominal mit 6 Prozent garantirte Aktien der Niederländiſch⸗Südafrikaniſchen Eifenbahn-Gefellfchaft zum Kurs von 132 zur Zeichnung aufgelegt. Der Minenfchwindel ftand damals in feiner Sünden Maien⸗ blüthe; nicht nur die Goldgrube, nein: das Kulturland der Zukunft follte Trans- vaal fein. Die erften Zeichner machten ein gutes Geſchäft; 132 war gar fein Gelb für eine Aktie, die von der reihen Transvaal-Regirung mit einer recht fetten Garantie bedacht war. Als fich obendrein herausftellte, daß diefe Garantie eine überflüſſige Formalität blieb und bald Dividenden bis zu 13 Prozent bezahlt werden Eonnten, ftiegen bie Aktien ſchnell und ftanden ſchließlich iber 200. Befonders verlodend waren die Rückkaufsbedingungen in der von der Transvaal-Regirung verliegenenen Konzeſſion. Die Aktionäre hatten in biefen Fall den zwanzig: fahen Betrag ber Durchſchnittsdividende der legten drei Betriebsjahre zu fordern; dazu fam noch 1 Prozent des Nominalbetrages der Aktien für jedes Jahr, um bag der Ankauf vor demin Ausficht genommenen Termin (erften Januar 1915) erfolgte. Als die Altientreiberei an der Börfe den Höhepunkt erreicht hatte, ſprach man ihon von der Möglichkeit eines dem Sinn der Konzeſſion entiprechenden NRüd. faufes; und durch ſolches Gerede wurde natürlich der Kurs noch höher hinauf ge- trieben. Uber es fam anders, als die Altionäre geträumt hatten. Der Trans vaalkrieg brach aus; und in dem langen, wechſelvollen Verlauf diejes Feldzuges wurde von der englilchen Regirung das rollende Material der Bahn konfiszirt. Mit einem Schlag war die Lage verändert. Die Optimiſten unter den Aftionären bofften freilich, England werde die Bahn zu den in der Konzeſſion vorgefchrichenen Bedingungen verftaatlihen; auf den Höhen der Bankwelt aber entjtand die nad) allem Borangegangenen nicht unberechtigte Furcht, die Briten könnten ihre Macht mißbrauden. Im November 1900 erihien denn aud ein Aufruf der beiden Emijjionfirmen, der rieth, eine Schußvereinigung der deutſchen Aktionäre zu gründen. Beſonders ein Vorgang, der völferrechtliche Schwierigkeiten herbeizu— führen drohte, empfahl jolde Sründung. Um dem Staat Geld zur fchaffen, ließ Krüger ftarfe Altienpoften aus dem Regirungbefiß verfaufen. Die Aktien gingen hauptſächlich nach Holland und Frankreich. England machte Bedenfen gegen das Eigenthumsreht au diefen Aktien geltend; und die deurfhe Schußvereinigung forderte den Nachweis, daß die Aktien ſchon vor dem erften Dezember 1900 den ih zum Beitritt Meldenden gehört hatten. Der britiſche Anſpruch blich zunächit auf dem Boden des Geſetzes. Natürlich konnte England die wichtige Trans— paalbahn nicht Länger im Beſitz einer Privatgejellichaft, noch dazu einer holländiſchen, lailen; die Berftaatlichung war unvermeidlich geworden. Die londoner Regirung berief eine Kommilfton, die jämmtliche Transvaal:Konzeifionen für bie Bahn, die Minen und die Dynamitgejellihaft prüfen ſollte. Am elften Juni 1901 erichten das englifche Blaubuch mit dem Bericht diefer Kommiffion. Da ſich berausgeftellt hatte, ba mehrfach wadere Burenhäuptlinge beftochen worden waren, wurde die Qegalität bes Dynamitinonopols beftritten, ausdrücklich aber anerkannt,

202 Die Zukunft.

bie Konzelfion für die Transvaalbahn jei in allen Formen des Rechtes erteilt. Aus Gründen, von denen noch zu reden fein wird, ſei die Konzeſſion aber als verwirft und damit bie Enteignungsklaufel als nicht mehr giltig zu betraditen. Doch die Kommiſſion beftand aus ungemein edlen Seelen; fie verkündete, Eng- land werde Großmuth walten laſſen und ben Aktionären gnädig eine Abfindung gewähren. Das deutiche Komitee erhob fofort Einſpruch; e8 Tonnte ſich dabei ſogar auf die Stimmen engliſcher Finanzblätter ftügen, bie ſchon im Dftober 1900 die Annerionwünjche ber natürlich von den Times geführten Jingopreſſe zurüd- gewiejen hatten. Die deutfche Schußvereinigung wandte fi an das Auswärtige Amt ımb erfuchte, ihre Intereſſen zu hüten. Niemand Tonnte annehmen, das Deutjche Reich werde wegen der Transvaal-Aktionäre Großbritanien den Strieg ertlären; immerhin aber hätte man in der Wilgelmftrake wohl mehr Energie gezeigt, wern man nicht auf die England günftige Stimmung einer höheren Stelle Rüdfiht genommen hätte. Das erfte Angebot, das bie englifche Regirung machte, wurde troßdem, weil es gar zu niedrig fchien, vom Auswärtigen Amt zurüdgemwiejen. Dieſe Offerte, die dem Schupfomitce nicht vorgelegt worden war, ſoll ſich zwiſchen 160 und 170 Prozent bewegt haben.

Am Abend vor einer Verfanmlung, zu ber vor ein paar Wochen die dem beutfchen Komitee Angehörigen ins berliner Savoy Hotel berufen waren, ging den Leitern der Schugvereinigung vom Auswärtigen Unıt ein neues An— gebot der engliihen Regirung zu, das der Verſammlung einftweilen nur „zur Kenntnißnahme“ unterbreitet wurde. Diefe zweite Offerte bot ungefähr das Selbe wie die erfte, nämlich auf die Aktie im Nominalbetrag von 83 Pfund 6 Shilling 8 Pence eine Abfindung von 133 Pfund Sterling. Unb dieſes An— gebot follte auch für die deutfchen Aktionäre gelten, die fi der Schutzvereinigung nicht angelchloffen Hatten. In der Diskujfton zeigte fich faſt ausnahmelos bie Neigung zu Ichroffer Ablehnung; und in diejer Tendenz wurden die Mftionäre noch durd ein Gutachten des auch den Lefern der „Zukunft“ befannten züricher Völkerrechtslehrers Profeflor Meili beftärkt, der dic Einwände der englifchen Kommiſſion förmlich zerpflüdte. Wenn das einen diden Band füllende Gut⸗ achten des Profeſſors veröffentlicht ift, wird man fchen, daß es ſich nicht mit der Begründung der deutschen Rechtsanſprüche begnügt, fondern in flammenden Morten den Rechtsbruch brandmarkt, deilen Schmach dag auf die Höhe feiner Kul⸗ tur fo ftolze England am Beginn des zwanzigiten Jahrhunderts nicht gefcheut Hat.

Denn darüber ift fein Zweifel möglich: die von der engliichen Kommiſſion vorgebrachten Gründe find unhaltbar und wirken, als feien fie nur erfonnen, um einem an Näubertaftif erinnernden Plan den Schein des Rechtes zu wahren. Die That: ſache, daß England ſich von den Grundlagen allen Völkerrechtes entfernt, giebt der Bahnfrage eine über den engen Kreis der Transvaalaftionäre hinausreichen Bedeutung. Wie die engliihe Kommijjion ſelbſt zugeben muß, ift gegen Lt. Legalität der Konzeifion nichts einzumenden; die Aktionäre find alfo gutgläubig: rechtmäßige Beliger. Nun gilt im Wölferrecht der Grundjaß, daß in Lan’ friegen das Privateigenthum unverleglid ift. Cine Ausnahme bildet, wie vi allen Qölferrechtsichrern feit Hugo Grotius unbedingt anerfannt wird, di necessit6 de guerre, die im Völkerrecht die jelben Wirkungen berbeiführt w der Notbftand im nationalen Strafrecht und bürgerliden Recht. Gin folk

Die Transvaalbahn. 203

Nothſtand Tag für England vor, als es die Bahn vorläufig fonfiszirte. Weber den Umfang zeitweiliger Enteignung im Kriege fagt der münchener Profefjor Ullmann in feinem Handbud: „Die Bedeutung der Eifenbabnen, Telegraphen, Telephone, Kabel, Schiffe u. ſ. w. für die heutige Kriegführung rechtfertigt bie Beſchlagnahme und Benußung diefer Gegenftände, au wenn fie Brivateigen-. thum find; nad bem Friedensſchluß muß Neftitution erfolgen.” England wäre alfo verpflichtet gewelen, der Bahngeſellſchaft ihr Eigenthum zurücdzugeben. Die englifche Negirung behauptet aber, in den Krieg eingreifende Handlungen, für die alle Aktionäre gefeglic haftbar feien, hätten England in der Kapfoldnie und in Ratal großen Schaden zugefügt; fie fonftatirt alfo ein völferrechtliches Delikt der Bahngeſellſchaft, das man Bruch der Neutralität oder fonftwie nennen mag, und erklaͤrt, dieſes Delikt müfle die Gejellfchaft nun mit dem Verluſt ber Konzeffion büßen. Dieſe Konftruftion läßt ſich aber nicht halten. Geheimrath von Liſzt erklärt in feiner ſyſtematiſchen Daritellung des Völferrechtes, in fachlicher Ueber- einſtimmung mit Ullmann und anderen Fachgenoſſen: „Völkerrechtliches Delikt ift die von einem Staat ausgehende Verlegung eines völkerrechtlich geſchützten Intereſſes eines anderen Staates. Subjekt des völferrehtlichen Deliktes, mit⸗ bin Träger der durch diefes begründeten Veranimortlichkeit, ift nur ber Staat ſelbſt.“ Nach diefer Auffaſſung ift es unden!bar, eine Brivatperfon oder eine Aftien- gejelichaft für einen Vöolkerrechtsbruch haftbar zu machen. Daneben aber erhebt fi) nod eine andere Trage. Hat denn die Direltion der Transvaalbahn über: Baupt rechtswidrig gehandelt, als fie fi in den Dienft der rechtmäßigen Regirung ftellte? Diefe Frage ift zu verneinen. Selbft wenn fie gewollt hätte: unter der Herrſchaft des Kriegsrechtes Fonnte die Direktion ſich ſolcher Dienftleiftung gar nicht entzichen. Widerftand gegen die Unorbnungen der Transvaal-Regirung war, wenn er von einer afrifaniichen Geſellſchaft ausging, als Rebellion anzufehen; doch auch einer bolländifchen Gefellihaft wäre die Weigerung unter den obwal⸗ tenden Umftänden übel befommen. Denn wie der englifchen, fo ftand auch der Transvaal-Negirung nad) dein oder des droit international dag Recht zu, bag Privateigentgum neutraler Fremdlinge einjtweilen zu fonfisziren, und fie hätte von diejem Recht natürlich ohne langes Zaudern Gebrauch gemadit.

Den deutichen Aktionären, denen England fo fadenſcheinige Vorwände zu bieten wagt, bleiben zwei Möglichkeiten. Entweder pochen fie auf ihr gutes Recht und verfuchen, mit allen Mitteln es durchzufegen: dann müſſen fie fordern, daß unſere Regirung gegen England nicht weniger energifch vorgehe als gegen Haiti und Benezuela.. Das kann fie um jo leichter, al3 fie bei der holländifchen und der franzöjiihen Hegirung Unterftügung finden wird. Fürchten die deutfchen Aktionäre aber, bis zur fchied&gerichtlihen Entfcheidung der Sache könne allzu viel Zeit vergehen, dann müffen fie ſich mit dem Proteft gegen den Rechtsbruch begnügen und die Offerte annehmen. Eine andere Möglichkeit wird wohl auch die deutiche Schubvereinigung nicht zu zeigen im Stande fein.

Die engliihe Regirung hat in ihrer Offerte den deutſchen Altionären einen gefährlichen Köder hingeworfen. Da beißt es nämlid: „Die Regirung Seiner Majeftät Yes Königs von England erklärt ſich bereit, falls fie fpäter . außerdeutfchen Aktionären eine größere Abfindung gewährt, biefe auch den deutfchen Altionären und Eraftionären zulommen zu laſſen.“ Ecdon merkt man, daß

2041 . . Die Zukunft.

Neigung beſteht, auf diefen Köder zu beißen. Die franzöfiihen Aktien nämlid die, wie man wilpert, aus dem Befig der Burenregirung ſtammen follen find zum größten Theil in den Händen des franzöiiiden Stumm, des befannten Herrn Schneider im Creuzot, ber feinen- Zweifel darüber gelaſſen bat, daß er feinen Rechtsanſpruch mit aller Entſchiedenheit verfechten werbe. Viele deutſche Altionäre ſcheinen nun Quft zu haben, die englifche Offerte zunädit einmal anzunehmen und fih dann von dein franzöſiſchen Millionär die Kajtanien aus dem Feuer holen zu laſſen. Diefe Hoffnung fünnte aber leicht trügen. Ich bin fiher, daß die deutfchen Aktionäre, wenn fie den englifchen Vorſchlag jeßt annchmen, jpäter nie einen Heller mehr befommen. Denn die englifche Regirung wird gar nidt daran denken, ſich auf einen Rechtsſtreit mit Herrn Schneider einzulaffen. Iſt fie durch die Nachgiebigkeit der deutfchen Aktionäre erft im Being der Aktien⸗ mehrheit, jo kann jie ſtets bei der ja noch zu Recht bejtehenden Aktiengeſellſchaft die Einberufung einer Gencralverfammlung beantragen und dort den Berfauf des G.jellfchafteigenthumes zu einem von ihr beftimmten Preis befchließen laſſen. Diefen Weg würde fie ficher bejchreiten. Auffällig bleibt immerhin, daß England den Aktionären einen jo lächer⸗ lichen Preis bot. Wie kam fie zu diefer Offerte? Unglaublich Elingt die Behauptung, Herr Fürſtenberg, der Direftor der Berliner Handelögejellichaft, habe der engliſchen Regirung erklärt, fie könne auch zu einem verhältnißmäßig niedrigen Preis die Aktien befommen. Nun fit zwar nicht Herr Fürſtenberg, fondern fein früherer Kollege Winterfeldt im Schutzkomitee der Aktionäre; da die Berliner Handels⸗ gejelichaft Hauptemittentin der Aktien war, würde die gegen Deren Fürſtenberg er- bobene Anklage den Hauptdirektor des Inſtitutes der Untreue bezichtigen. Am fünf- zchuten Januar hat denn auch das Komitee feierlich in jeisem Namen und tın Namen ſämmtlicher Gejchäftsinhaber der Handelsgejellihaft und fänmtlicher Direktoren der Dresdener Bank erklärt, dab weder dieje nod) eine ähnliche Mittheilung von ihnen direft oder indirekt dem engliichen Boiſchafter oder irgend. einer anderen Stelle gemadt worden fei. Danad) war aljo die Anjchuldigung als unbegrändet zu betrachten. Trotzdem wurde am neunzehrten Januar in der „Welt am Mon⸗ tag“ noch einmal darauf hingewieſen, daß die formell und thatjächlich korrekte Erklärung in unüberbrüdbarem Widerfpruch zu einer Verſion ſtehe, Die von angejehenen Yenten verbreitet und geglaubt werde. Die engliiche Regirung habe aus politiichen Rückſichten Werth darauf gelegt, der öffentlichen Meinung Deutich- lands einen Schritt entgegenzufommen und wenn auch nit den der Konzeiſion entiprechenden Kurs von 264 wenigſtens einen Kurs von etwa 231 zu bewilligen. Der engliihe Botjchafter habe ſich an den englifchen Generalkonſul in Berlin gewandt und ihn eriucht, ihm Zuverläfjiges über die Fyrage der Transvaalbahn mitzutheilen. „Der engliide Generalkonſul habe fi an die Emittenten gewandt und von diefer Seite, die den Beſtrebungen des Komitees ifeptifch gegenäber- ftand, joll die den Aktionären ungünftige Beantwortung erfolgt fein.” In dem Blatt, dem ic) diejen Sag entnehme, wurde cine unzmweideutige Erflärung des engliſchen Seneralfonjuls Dr. Schwabach gefordert. Auch mir Scheint ſolche Er- klärang unentbehrlid), damit die ſchädliche Fabel von der Treulofigfeit deutjcher Bankdirektoren nicht noch länger herumgetragen und geglaubt wird,

Plutus. s

Iheaternotizen. 205

Cheaternotizen. err Frank Wedekind, der b begabteſte ber jüngeren deutſchen Dramatiter, hat

d fi) endlich Gehör_erawungen. Daß ers vermochte, war in biejem Then:er- winter unferes Mißvergnügens 5* die einzige Freude. Was von Strindberg und Gorkij auf die Bühne kam auf die Bühne des Kleinen Theaters, deſſen Leiter, der Schauſpieler Reinhardt, mehr literariſchen Geſchmack und Spürſinn gezeigt hat als die älteren unb berühmteren Thespiskärrner —, konnte ung über die poetiſche Ber- fönlichfeit de3 Schweden und des Kleinruſſen nichts wefentlich Neues jagen. An Maeterlinds Drafjenerfolg, den ftärfften, ber feit bem „Weißen Röſſel“ und „Alt⸗ Heidelberg“ erftritten warb, durfte man fich nicht freuen, weil er nicht die feinften Kräfte des Dichters Erönte, fondern ein mit leicht zugänglichen Reizen lodendes Kompromißftüd, ein ſorglos gebautes Luftſchloß, deſſen Grundmanern unter dem nad» präfenden Hammerzerbrödeln. Herr Wedekind aber hat mit einem feiner frechften Ber- fische gefiegt, einem, der den ganzen Manngiebt. Der iſt ziemlich ſchwer zu charafteri- firen; feines Weſens Bild foll Heute Hier auch nur angedeutet werben. Ein merkwürdig polyglottes Talent, dem die Iuftigften Bänkelſänge und die wüfteften Melodramen- ftimmungen gelingen. Erjcheintallegulturcentren der alten Europa zu kennen, inallen Perverfitäten ben Kturſus durchſchmarutzt zu Haben, in der höchſten Hochſtaplerwelt hei« milch zu ſein. Hochitaplertypen trifftermit faft unfehlbarer Sicherheit. Und wennermit drei Striden, wie Manet einen Frauenkopf, ein Abenteurermilien hinmalt, Halt e8 langeim Gedächtniß des Betrachters nach. Nichts von ber Cammerbienerehrfurdht, gar nicht3 von der Moralpredigerwuth, die den deutfchen Schriftfteller ſonſt beim Ein- tritt in die große Weltanwandeln. Ein refpeftlofer Kerl, der uns das moderne Hof» frück ſchreiben könnte, nicht nur die billige Sereniffimusfchnurre. Amoraliſch; „das Leben ijt eine Rutſchbahn“: das Schlußwort feines Marquis von Keith könnte ala Motto über feinen fämmtlichen Werken ftehen. Unlogiſch; mas er darftellt, mußte nicht, konnte aber fo fein. Deshalb, da wir die unlogifchen Tragoedien nun ein- mal, mit Ardjer, Melodramen nennen, eigentlich immer, wenn er Ernft macht, melo⸗ dramatifh. Und tin den Mitteln nie wählerifh; mandmal glaubt man, vor einer amerifanifchen show zu fißen, wo die grellite Senfation bie fchlaffen Nervenbündel aufpeitfchen joll; vor Barnums Sräuelfammlung. Dann wieber ganz unverzerrte, ungepugte Natur; und eine Piychologie, der Genieblitze vorwärts leuchten. Auch das Tempo ift amerifaniih. Ein Antipode des umftändlich trödelnden Naturalis- mus, mit dem er boch aufwuchs; ſchnell, fehnell, nur nicht aufhalten. Eine Leiche? Weiter, ehe fie alt wird. Eine Familienkataſtrophe? Weg, ehe der Geſtank uns in die Naſe fteigt. Was liegt daran? Das Leben ijt eine Rutſchbahn. Ober ein Tollhaus. Ober ein Brunftrevier, wo Hyfterie und Satyriafis fi paaren. Das Einfache, Normale ſcheint für den neununddreigigjähtigen Herrn Wedekind nicht vorhanden. Was er aber fieht, fchaut er aus eigenem Auge. Ein Ercentrickünitler. Ein Serpentinedramatifer. Er wirkt wie die ftärkften Nummern ber Baristötheater. Nichts Für unfchuldige Kinder noch für ſchlichte Seelen, die von keuſcher Heimath- kunſt und anderen philiftrifchen Idealen träumen. Auch fein Alltagsfutter, von dem man fi} nähren fann. Doc wie geihaffen, um müden, überreizten, perverjen Weltſtädtern mit verruchten Stünften die Zeit zu fürzen. Der Regiſſeur ſchamloſer Bacchanalien, ber fich ſelbſt und die ehrenwerthe Feſtgenoſſenſchaft unbarmherzig

206 Die Zukunft.

böhnt. Dabei ein Dialog, der an Paganinis Hexentanz und moto perpetuo em innert; und ein heller Theaterinftinkt, ber unmöglich Scheinendes möglich mad. Sogar den Cenſor hat diefer Teufelsferl bupirt. „Der Erdgeiſt“, die Sezualtragi- komoedie er giebt das Ding, bas nicht eine Stunde lang in die reine tragische Sphäre bineinreicht, ganz frech flir eine Tragoedie aus —, die ihm den Erfolg brachte, mußte nach Dienjchenvorausficht verboten werben. Doc der Kunſtpolizift, der felbe, ber Wildes Salome und Heyjes Maria von Magbala nicht an die Rampe läßt, roch dieſen getrüffelten, Halb ſchon fauligen Wildbraten nicht. Wer follte auch ahnen, daß man dem Machtſpruch einer preußischen Behörbe folche Ruchlofigfeit unterbreiten une? Daß jie unerkannt ducchging, verfchaffte uns allein ſchon ein echt webelind- liches Vergnügen. Diefer Erdgeiſt wirkt nicht der Gottheit lebendiges Kleid. Ein Hrauenzimmer, das als Waije in Nachtlaffeehäufern barfuß Streichhölzer verkauft, auf geradem Weg in die niedrigfte Nuttenproftitution geräth, entdeckt, gewaſchen, parfumirt, möblirt, als Mobell benutzt, als Balletitern gezeigt, geheirathet, geſchieden, wicder gebeirathet wird und mit feinem gemeinen Weibchenreiz Alles an ſich zieht, reife und Kinder, Künftler und Hocftapler, Prinzen und Gauner, Idealiſten und Lesbierinnen. ine proftituirte Undine, der „teine Seele warb zu Theil“ und die auf der glatten Lebensrutſchbahn nie das Wundern lernt. Ihre Männden töten fich oder werden von ihr getötet; ihre Tribaben müſſen zufehen und warten, bis fie Zeit hat. Ihren Entbeder und Quälgeift knallt fie ſelbſt nieder, da er fie bedroht, nennt ihn dann „ben Einzigen, ben ich geliebt“, und bietet fich, vor der Leiche, feinem Sohn an: wenn er fie vor dem Schwurgericht bewahrt, Tann er „verlangen, was er will“. Sie hat nur in einer Münze zahlen gelernt, in der überall giltigen Währung, deren Kaufkraft hübſchen Broletarierinnen leicht vorwärts hilft; und weil fie ſtets zahlen kann, ftet3 zu zahlen bereit ift, dem Liftboy, dem ſchmutzigſten Strolch, wenn fie ihn braucht, und weils ihr an Kundſchaft nie fehlt, verliert fie nie ganz ihre Ruhe. Heute eine Robe für fünfzehntaufend Mark, morgen in Qumpen: einerlei; übermorgen beißt wieder ein Goldfiſch an. Jeder Liebhaber heißt fie, fieht fie anders; und jeder hielt doch das felbe Zuftfleifch im Arm, hat das felbe Zugpflafter auf der brennenden Stelle. Erdgeift? Ein Bischen zu tieffinnig für die bitterböfe Mär von der kleinen Babylonierin. Die Fortſetzung die Herr Neinhardt um Mitternadht mal einem kleinen Sreis literarischer, nicht pornographiicher Feinſchmecker vorſpielen ſollte trägt den pafjenderen und wißigeren Titel „Die Büchſe der Pandora”. Lulu, bie erdgeijtliche guenon du pays de Nod, wird von ihrer ſapphiſchen Freundin aus dem Zuchthaus geihmuggelt, geht mit einem Athleten nach Paris, vermiethet ſich dort für Wochen, Tage, Stunden, fuppelt, ſpielt und läßt fpielen, wird von Erpreflern denun⸗ zirt, flüchtet nach Yondon und endet, al3 ſyphilitiſche Winkelproftituirte, in einer Zeichenfammer unter dein Luſtmördermeſſer Jade des Aufſchlitzers. Adams Nade... Das klingt widrig und riecht nad den Müllhäufchen der Hintertreppe. Und Blod⸗ fin iſts, dieſen , Exdgeiſt“ der, ôt hoc meminisse juvabit, dem Makronenmagen unſerer Thiergärtnerinnen gemunbet, at in ernſten Tönen als ein Meiſterwer

von philojophijcher Tiefe zu preifen; Biödfinn, über den Herr Wedekind hoffentli«

als Erjter mitlacdht. Aber die zwingende Gewalt der kurzen Bifionen, die Lebens

fülle diejer Welt tragikomiſcher, mit nenerjchütterlich ernfthafter Diiene am Mario- nettendraht gelenfter Karifaturen, die Schlagkraft der Sprache, den ungebrochenen Schöpferwillen einer ım Engen frech und froh einherflatteinden Phantaſie und die

Thenternotizen. 207

Grazie, die mit Priapeien jonglirt: das Alles muß jeder moralinfreie Kenner be- wundern. Und deshalb fich des Erfolges freuen. Nicht etwa des Stüdes wegen, das auf neunzig unter hundert Zufchauern nur ſchädlich wirken kann und dem darum, fo lange es täglich auf dem Theaterzettel ftand, bier nicht die Trommel gerührt wurde. Bielleicht aber bat Herr Webelind jegt erfahren, empfunden, welche Großmacht das aufgeführte Drama ift. Vielleicht befinnt er ſich und findet, daB es der Darftellung würdigere Gegenjtände giebt ald Satyriafis und Hyfterie, Abenteurerftreiche, Strold- zunftiniffe und Dirnenwirthſchaft. Erblieb lange unbeachtet und wollte fi) am Enbe als Schlangenmenſch, Safewalttänzer und Yeuerfrefler Aufmerkfamteit erzwingen. Jetzt fteht er im Licht. Was er zu jagen bat, wird gehört, feine Stüde werden, wenn fie nicht ganz unmöglich find, aufgeführt werden. Er braucht nicht länger mehr als Artiſt um Beifallzubuhlen. Er kann ünftler fein und Die Dankeehumore zum Tempel binausjagen. Lab fie in die Säue fahren, Herr der Hoffnungen! Ich wünſche dem bald Bierzigjährigen ftraffere Selbitdigziplin. Die wird ihn lehren, daß nicht alles Menfchengethier wedelindijch redet, wird ihn warnen, als Spottchorführer feinen Geſtalten immer unter die Naſenſpitze zu leuchten. Der „Erdgeift” war eine Sen- fation, ein Bauchtanz ber tota mulier. Der Erbgeiftdichter ift reicher als Alle, bie ringsum nach dem felben Kranz langen, und, in feinem Bezirk, nicht ärmer als Oskar Wilde, der, nach parodiſtiſchen Schwänten, Herobes und Salome zu fhaffen ver- mochte. Wir warten. Die Bretter find leer. Und den Deutichen hat nie ein Moliere

gelebt, ber im Poffenfpiel die dunfelften Hüfte der Pſyche, bie tiefften Abgründe

PR

des Maſſenbewußtſeins mit weithin lodernden Feuergarben beſtrahlte.

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Sonſt ift nicht viel Neues zumelden. Die Franzoſen aus dem legten Boot, der graue, fnifflige Hervieu und ber mild wißige, weltmänniſch refignirte Capus, find nicht fräftig genug, um die Gefahr einer verplumpenden Darftellung überſtehen zu fönnen; nur den graufamen Plauderer Donnay, der im Chat Noir zierlidhe Bosheit gelernt Hat, trug in einem neuen Schaufpielhäuschen, dem Irianontheater, die Bascule in guter Zufalldlaune zu einem Erfolg. Frau Maeterlind-Leblanc, eine reife Sängerin, der Monna Banna den Weg ind Sprechdrama bahnen Sollte, fam mit einer hinter dem parijer Weichbild geworbenen Truppe. Statt den Hoch⸗ muth zu tadeln, der ſolches Schaufpiel der deutichen Theaterhauptitadt zu bieten wagt, benußten ein paar Sritiler den Anlaß, um zu erklären, nun fei an der Ueberlegenheit unferer Spielkunſt fein Zweifel mehr möglid. Wie erbärmlich, wäre richtiger zu jagen geivefen, muß Mtaeterlindd Drama auf unferer berühm: teten Bühne gejpielt werden, wenn folche armjälige Gajtjtümperei überhaupt die- tutabel ſchien. Der Direktor diefer Bühne, Herr Brahm, der den belgijchen Dichter früher wie einen Schuljungen verhöhnt hat, gab Herrn Macterlind ein zeit. Warum nit? „Monna Vanna“ bringt noch viel mehr Geld als „Es lebe das Lehen” und deckt alte Sünden mit ihrem Mantel der Liebe zu. Das Feſt fol wunderſchön gewejen fein; Abendeſſen mit Iteden, aber ohne Wein jehs Mark auf den Kopf. Da jich nicht viel Deforatives gemeldet hatte, wurden am Borabend die erreich- baren Reſerven herangezogen. Die „Schaffenden“ würdig durch die Diosfuren Suder— mann Fulda vertreten. Ein paar Dealer, Bildhauer, Mufifer, Kournaliiten. Reiner von Denen, die das ſchmächtige Genie des Belgiers früh erkannt und ihm Verſtändniß

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zu erobern verſucht hatten. Im Namen der deutſchen Kunſt begrüßte natürlich der ſchlichte Bürger des Berliner Tageblattes den Gaſt, der Dichter den Dichter; oder, nach Ohm Brahms weiſem Rathſchluß, der „beſte“ deutſche den „beſten“ fremden Autor. Herr Sudermann ſprach Einiges über ſich ſelbſt und ſeine „lebenbejahende“ Welt anſchauung, zu ber fi) nun auch der Vlame beinahe ſchon durchgerungen babe, und bob vor Nietzſches Denkmal das Bein ;die intelligenteren Feltgenoflen ftarrten während des finnlofen, eitlen Geſchwätzes beſchämt in ihre Suppenteller. Herr Maeterlind, der den Anredner für einen eben fo trivialen Geſellen hält wie wir Alle und aljo nicht mehr erwartet halte, antwortete leiſe, beicheiden, fein; feine Silbe ftreifte den Katzenſtegdichter, doch Deutichland bekam eine gallifd Üppige Guirlande. Der zweite Feſtredner, der junge Germaniſt Dr. Jacobs, den eine trodene, aber ledbare Mae⸗ terlindbiographie für dieſes Nöllchen empfahl, verglich die eindringlicden den auf- dringlicden Dramatifern und Hatte, da beide Gattungen eben zum Wort gekommen waren, bie Lächler für fi. Beim Defjertleiitete Herr Engel, Mofles Junger Dann für ben Rayon der Aeſthetik, Witzblattuerfe, die allerlei „Aktualitäten” in Beziehung zu Maeterlinds Werfen bringen jollten. Peinliche Berlegenheit ſchlich um den Tiſch. Einzelne zifchten. Als der Ulkpoet Schließlich die Ktonprinzeſſin von Sachſen und ihren Seladon aufmarſchiren ließ, trieb die Scham ein Grüppchen Kultivirter aus dem Saal. Scandalum. Der Poſſenreißer knickte zuſammen und die Tafel wurde aufgehoben. in ben Berichten, die inder berliner Breffe erfchienen, wurde das Aergerniß verfchwiegen. Der belgijche Dichter aber, dem nicht einmal der fonft fihere Profeffor Schmidt fer- virt ward, hat nun erfahren, wie „Das literarifche Berlin” feine Feſtgäfte ehrt. * f *

Die Hoftheater haben einen neuen Gebieter: Herrn von Hülſen, dem nächſtens wohl die Herrſchaft iiber alle preußiſchen Hofbühnen zufallen wird. Er wohnt in einem ſonſt nur Königlichen Hoheiten eingeräumten PBalaft und hat an Hebbels Witwe gefchrie- ben, er werde das Vermächtniß des großen Friedrich hüten. Das follte wahrſcheinlich ein Dramaturgifches Programm bedeuten. Die erfte That unter feinen Regime war denn auch die Einftudirung der Gygestragoedie. Wurde zweimal aufgeführt und dann, weil die Einnahmen nicht genügten, „bis auf Weiteres“ ad acta gelegt. So werden Ber- mächtniffe gehätet. Im Jahr 1902, im ganzen Fahr find Dramen Goethes an acht, Kleift8 an drei Abenden im Königlichen Schaufpielhaus aufgeführt worden. Moliäre, Hebbel, Anzengruber waren mit je einem Werk im Spielplan vertreten. Herr Felix Phi- Iippi ſprach an dreiundfiebenzig Abenden zum deutfchen Voll. Das Neufte: Herr von Wildenbruch gilt als fehlimmer Sittenverderber; Dramen, die des Kaifers Fran mit ihren Kindern nicht ohne Nergerniß anfehen kann, follen nicht mehr aufgeführt wer den; und: „Sch brauche feine Kapellmeifter, die fomponiren“... Eine nette Anelöote erzählte Herr Eoguelin, der wieder gaftirte. Ort: Schloß des Fürften Hendel, der, auf des Kaifers Wunfch, den franzöfifchen Mimen zur Zagd eingeladen hatte. Kürajfiere machen Mufif. Mitten im Geſpräch fpringt der Kaifer auf, erllettert die zur Galerie füd- rende Treppe, nimmt dem Kapellmeifter den Taktſtock aus der Hand und dirigirt da8 Mu⸗ fitftüc, das ihm zu langfam gefpielt worden war, in fchnellerem Tempo weiter. Als er inden Saalzurüdfehrt, fagter: „ch habe meinen Küraffieren eine Muſikſtunde gegeben“.

Herausgeber u und Verantwortlicher Nedat: eur: N. "Sarden in Balin Berlag der Zutunft i in n Berlir Drud von Albert Damde in Berlin- Schöneberg.

Berlin, den 7. Sebruar 1905. —ñ

Die Frauen der Obrenowitſch.

3 wird dem Leſer dieſer Zeilen vielleicht mehr als einmal vorkommen, als ob ich fanfte Predigten aus der Viedermaierzeit oder naive Dramen aus Igors Sagenkreifen erzählte. Doch was ich hier berichte, find Auf- zeichnungen aus der Chronik eines Fürftenhaufes, deſſen Geſchichte kaum hundert Jahre alt ift. Den Inhalt Deffen, was ich hier zw fagen habe, möchte ich in ein kurzes Wort zufammenfaffen. In Europa gilt es für ausgemacht, daß das Privatleben der Fürften das Schicſal des Staates nicht mehr beeinflußt. Entweder find wir auf der Ballanhalbinſel noch nicht fo weit ober der Sag ift überhaupt falfh; genug: bei uns in Serbien find und waren das Glüd wie das Verhängnig des Staates an Glüd und Ver— hängnig im privaten Leben unferer Fürften geknüpft.

Der Mann, der im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts aus einem Fünftel der ferbifchen Nation einen neuen nationalen Staat und eine nationale Dynaflie gründete, war, wie befannt, der Bauer Miloſch Theodorowitſch, der aber diefen Namen nur trug, fo lange er bie Ochſen feines Halbbruders, des Wojwoden Milan Obrenowitſch, auf den Markt in Raguſa trieb. Später, als er felbft Wojwode von Rudnik geworden war, änderte er feinen Zunamen und nannte ſich nad) feinem Stiefvater und Wohlthäter Milofh Obrenowitſch. Er war ein Analphabet, der fein ganzes Leben lang nicht leſen und ſchreiben konnte und all feine Staatsalten mit einer Stempelunterfchrift verfah. Und doch war biefer Analphabet einer der talentvolliten, wenn nicht der genialite Serbe des vorigen Jahrhunderts. Ich habe in einer Reihe geſchichtlicher Studien und in einer Rede, die id) als Minifterpräfident bei der Enthüllung feines Denkmales in Pozarewag hielt, nachzumeifen verfucht, was Alles die Natur in diefem Dann an Feuer zufammengehäuft hatte. Er war ein außer:

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ordentliches Temperament, ein außerorbentlicher Soldat und ein auferordent- licher Diplomat. Im Befig folder Fähigkeiten machte er zu einem fuzerainen Furſtenthum, was vorher eine verwäftete türkiſche Provinz gewefen war; fein organifatorifche® Talent aber, das nicht minder groß war, erhob dieſes BafallenfürftentHum zur Hoffnung der ganzen Balkanhalbinſel. Und id wieberhole, was ich in jener Rede fagte: Wie unfer mythifcher Nationalheld Kraljewitſch Marko im Heldenlied als die Verlörperung aller guten und ſchlechten Eigenſchaften des ferbiichen Volkes im Mittelalter erfcheint, gerade fo wurde Fürft Milofeh zur Perfonifilation feines Volles im neunzehnten Jahrhundert. Die Türken, denen er eine ber größten und fchönften Provinzen entriß, die Türken, an benen er die Serie der fchredlichen Amputationen begann, durch die fie heute in Europa nur noch auf Makedonien unb die Umgebung von Konftantinopel zufammengefchrumpft find, fie alfo, die ihn wie den ärgften Feind haſſen müßten, haben ihn „Milofch den Großen“ (Kodza-Milofh) genannt,— und zwar fiebenzig Jahre vor dem Tage, ba diefer Titel ihm vom ferbifchen Parlament zugefprochen wurbe.

Diefer Milofch Obrenowitfch hatte fich, als er noch felbft Bauer war, mit einer Bäuerin verheirathet. Noch bevor er die den Händen des erften Karagjorgje entfallene national-revolutionäre Fahne ergriff und dem ver- fammelten Bolf in Talowo fein berühmtes „Hier bin ich! Krieg den Türken!“ zurief, alfo bevor er noch ahnen Fonnte, daß es je einen jerbifchen Fürſten geben könne und daß er diefer Yürft werden würde, nahm er die Bäuerin Liubiga Vukomanowitſch, übrigens eine Bäuerin aus recht angefehenem Haufe, zur Frau und machte aus ihr dann, nachdem er auf dem Schlachtfelde den . neuen ferbifchen Thron errichtet hatte, die erfte ferbifche Fürftin.

Sch babe erwähnt, daß ich von Erfcheinungen zu fprechen Haben werde, die wie an ein heroiſches Zeitalter gemahnen; in ihre Reihe gehört in aller- erfter Linie Ljubiga DM. Obrenowitfch. Die Bilder, die wir von ihr haben, zeigen, daß fie eine Frau von großer Schönheit gewefen fein muß. Sie war aber eben jo charaltervoll und muthig wie ſchön; und es ift nicht Anekdote, fondern einfache Wahrheit, daß fie mit Piftole und Handfehar fo gut um⸗ zugehen wußte wie mit dem Kochlöffel uud Spinnroden und daß, als Milofch einft nach einer verlorenen Schlaht nach Haufe fam und erklärte, Alles fei verloren und er könne nur noch fterben, diefes Weib die Schürze löſte und jie den Dann und feinen Wojwoden mit ben Worten zumarf: „Hier, binbe: Euch die Weiberſchürze um; für Euch find keine Waffen.”

Die fo unerwartete fürftlihe Würde, die gewöhnlich aud die beften unter den Parvenus aus dem Gleichgewicht bringt und zu lächerlichen Karila= turen macht, war nicht im Stande, ben eifernen Charakter biefer Frau zu zerbrechen und ihren gefunden Menfchenverftand zu trüben. Sie blieb auch

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auf dem Thron die Selbe, die fie gewefen war: eine treue Gattin, eine fparfame Hausfrau, eine gute, fcharfäugige Mutter, bie ihren Sohn, wenn es fein mußte, ganz fo bei den Ohren nahm, wie e8 in ihrem Heimathdorfe Brusmiga üblich war. “Der einzige Unterfchieb beftand barin, daß fie jest ganz Serbien als das eigene Haus betrachtete, für das fie mit unerfchöpf- licher Mutterliebe zu forgen Hatte. Wenn je der von Hoflafaien fo oft mißbrauchte Titel „Landesmutter* mit vollem Recht einer Fürftin zukam, fo fiderlich ihr; ein ganzes Buch könnte man fchreiben, ſowohl über Das, was fie Gutes gethan, als auch darüber, was fie an Böſem verhütete, durch ihre Güte, ihre Thränen, ihr Flehen, mit dem fie ihrem jähzornigen Gatten oft genug Grauſamkeiten und Unrecht ablaufte, zu denen der zum Autofraten Gewordene jett ganz wie ein Harun al Raſchid neigte. Sonft pflegt man Kleines mit Großem zu vergleichen; bin ich zu demokratiſch, wenn ich ben anf Thronen geborenen und für die Herrfcherpflichten erzogenen Fürftinnen unferer Tage das Zeugniß ausftelle, daß es unter ihnen Einige giebt, bie wirklich vielleicht auf der ſelben moralifchen Höhe ftehen, auf der dieſe fchlichte Fran aus dem Volke ftand? Bon Einer weiß ich es übrigens ganz be: ftimmt, daß fie in Allem das Ebenbild der Fürftin Ljubitza ift, bis auf eine Eigenfchaft freilich, die ihr fehlt; diefer Mangel erhöht aber nur das Gefühl ihr fhuldiger Verehrung. Wenn man findet, daß ich fchwärme, fo mag man e3 verzeihen; auch fie ift ja eine Serbin und ich habe, Gott fei Dank, noch nicht verlernt, tief zu fühlen, wenn ich von den Männern ımd Frauen meines Stammes rede. Es ift die Fürftin Milena von Montenegro. Ihre Weiblich: feit ift noch wärmerer Bewunderung werth als die Ljubitzas; denn fie hat ge- zeigt, daß eine gefrönte Frau manches Herzeleid dulden und verfchweigen muß, wenn fie damit dem Glück ihres Haufes und ihres Landes dient. Dan merkt: ich muß mich einem Gegenftande nähern, der im europäischen Welten ja ſchon zu dem nicht mehr ernfthaft diskutirten Gefchäften gehört; bei uns im Oſten hängen daran aber noch immer oft Blut und Thränen, felbit der Völker. Wir haben im Balfan einen anderen Hof, mo der Fürft fünfundzwanzig Lebens⸗ jahre lang beitändig „coups de canif dans le contrat de mariage“ madhte. ALS er des Spielend überdrüffig wurde und zu feiner Frau mit der Bitte um Berzeihung zurückkehrte, erwiderte jie: „Majeftät, Sie find mein Herr und Gebieter, Sie find der Vater meiner Kinder: ich habe Ihnen nichts zu ver- zeihen.“ Meint man, daß nur durch die Hofmoral abgeftumpfte Sinne fo fprehen? Das iſt Täufhung. Solche Alte weiblicher Toleranz haben manch— mal den Werth von Zhaten, die einen Thron feitigen oder gar erhalten, und diefe Toleranz fehlte eben der armen Ljubitza. Sie war eine primitive, impulfive Natur, die nach den Gefegen der Neflexthätigkeit handelte. Die m einem patriarchalifchen Bauernhaufe Geborene hatte von der Heiligkeit

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der Ehe die höchſte, unmobernfte Auffaffung; und al fie der vielen Maitreſſen ihres Mannes in ihrem eigenen Che fie ruhig von der Wand eine ber geladenen Piftolen, bie d und erſchoß das Frauenzimmer wie eine tolle Hündin. Di zerflörte ihr Familienglüd und wurde zum Schidfal für bie Dynaftie. Denn zunädft wurde fie mit ihren Kindern nad bannt; natürlich mit allen Ehren: man ſchuf dort für fie einen augenen Yuy= halt. Das Ehepaar verföhnte ſich dann und zog foger wieder zuſammen, fo daß in Belgrad, wohin inzwiſchen die Nefidenz verlegt worden war, eine einheitliche Hofpaltung geführt wurbe; allein man weiß, wie es nad; ſolchen Laſionen des Gefühles zu gehen pflegt: je mehr Beide zu vergefjen fich be müßten, deſto fchärfer nagte insgeheim das aufgeſtachelte Gefühl und wartete auf Ausbruch, bis der Augenblid kam.

Sind al dieſe Dinge bei Ihnen in Deutſchland befannt? Ich weiß 8 nit und will fie wenigſtens raſch notiren. Auch im Staate hatte ſich inzwiſchen Manches geändert. Cine Intelligenz hatten wir noch nicht; wir mußten fie von den ungarifchen Serben her importiren und fie brachten die Begriffe der Bureaufratie Metternich® mit. Das empörte; und da zur felben Zeit aus dem Welten das erfte Echo fonftitutionellen Lebens herüberhallte, gab es plöglich eine täglich fih verfhärfende Kritik der neuen Dynaftie und ihrer Autofratie. Diefem Geift der Oppofition kam, merkwürdig genug, noch ftärkere Hilfe aus Rußland. Denn dorthin hatte Miloſch, da zu Haufe Schulen fehlten, die Kinder ber vornehmften Familien des Landes zur Aus: bildung geſchickt, und fie Alle, die, mit dem Knabenflaum auf der Lippe, als feine Bewunderer hinreiſten, lernten dort die ruffifche Ariftofratie inmitten ihres Lebens auf den reichen Gütern kennen und kamen mit dem Bewußtfein zurüd, daß die Obrenowitſch ja dod nur Bauern gemwefen feien und daß jie ſelbſt mit dem felben Recht wenigftens Grafen und Barone fein fönnten, mit dem die Obrenowitſch zu Fürften geworden waren. So ſammelten ſich bie bitteren Stimmungen von allen Seiten her, bis e8 zu wifpern, zu raunen und immer beutlicher zu fprechen begann. Milofd der Dann mit ber eifernen Fauſt? Nun freilich: er Hatte ja das Regiren bei den Türken gefehen und gelernt. Das türkische Joch abgefchüttelt? Bravo: folhes Wort Klingt gut; aber „cela ne valait pas la peine da changer de gouvernement“, wenn der ferbifche Furſt gerade wie ein türfifher Paſcha regirt. Einen An, blick lang Hemmte Miloſch noch die Fluth dadurch, daß er, dem Drude fogenannten PVerfaffungfreunde nachgebend, SKonzeffionen machte und ' Rande die Verfaffung von 1835 ſchenkte. Aber es war zu fpät; fchliek verbanden fi) alle vier Gruppen der Unzufriedenen, um den Fürften fürzen und feinen älteften Sohn auf ben Thron zu bringen. Und

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fam zu allem Unglüd noch der Zorn Rußlands. Milofh, der Diplomat, war einmal aud naiv und hatte ohne die Erlaubniß des Kaiſers von der Pforte die Anerlennung der Thronfolge in feiner Familie erbeten und er- Balten; Miloſch, der Autofrat, hatte ferner durch die erwähnte Verleihung einer Konftitution mit den „revolutionären Elementen“ paltirt; und als dann die Klage an die Newa gelangte, daß er nicht ein chriftficher Herrfcher mehr, fondern ein. türkifcher Paſcha fei, war er verloren. Und als die Tragoebie des Fürſten fo weit gediehen war, gefellte fich auch die Tragoedie des Mannes hinzu; ‚denn die tötlich beleidigte Bäuerin von Brusnitza, die verrathene Gemahlin, die verzweifelte Mutter Tieß fich von den Yeinden ihres Mannes fberzeugen, daß fie den Thron für ihre Söhne nur retten könne, wenn fie in die Entthronung ihres Gemahls willig. Da wurde nun aus ber großen Frau mit einem Male doch ein ſchwaches Weib: fie feste ihren Namen an die Spige einer Anklage gegen den Fürften, die, von einem Bruder Miloſchs noch dazu mitunterzeichnet, im Namen des „jerbifchen Volles“ dem rufjifchen Kaiſer unterbreitet wurde. Was darauf folgen mußte, ift nur allzu Klar; von den Unzufriedenen angefeindet, von den Strebern verrathen, von der eigenen Familie mitangellagt, wurde Milofch entthront, -— und fo mußte der Befreier und Begründer des neuen ſerbiſchen Staates in die Verbannung wandern.

Und Linbiga mit ihrer Politik? Ihr ältefter Sohn, Fürſt Milan, ftieg auf ben Thron, ftarb aber nach Monatsfriſt; nach ihm fam ihr zweiter Sohn, Michael: auch ihm verbannte man nach drei Jahren und erklärte die ganze Dynaſtie des Thrones verluftig. Unter den Aufpizien Rußlands wurde dann Alexander Karageorgewitich, ein Sohn bes Führers der erften ferbifchen Revo- Intion, zum Fürften gewählt. Ljubitza ftarb im Exil und wurde im ferbifchen Klofter Krudedol in Syrmien begraben. Sechzehn Jahre nachher, 1858, wurde die Dynaftie auf Grund des Legitimitätprinzips auf dem Thron reſtaurirt; aber Ljubitza erlebte den Tag nicht mehr: fie fah nur das Elend ihres mit durch ihre Schuld geftürzten Hauſes. Mitſchuldig war fie, weil fie nicht be= griff, dag die Frau auf dem Thron das Recht nicht hat, das doch dem ein- fachften Weib aus dem Volk zulommt, fondern daß fie ihr größtes und ſchwerſtes Martyrium lächelnd tragen muß, weil ihr privates Schickſal für das Schidjal des Staates entfcheidend werden Tann.

Die Reftauration gab fih von Anfang an als das Befte, was eine Reftauration fein kann, nämlich offen und unumwunden als eine Gutmachung des Unrechtes, das die Nation ihrem Befreier zugefügt hatte. Nicht Michael, der zweitverbannte Fürſt, fondern fein Vater, der alte Milofch felbft wurde zurüdberufen und in feinem Gefolge kehrte Michael nur als Thronfolger heim, um nach zwei Jahren, die feinem Vater noch zu leben vergönnt war, jelbft wieder den Thron zu befteigen. Auch er hatte fein Leid. Bemerken

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will ich, daß er es war, der bie eherne Devife ſchuf: „Tempus et meum jus!“ und daraus läßt fich eigentlich die ganze Art des Mannes erkennen. Serben waren und find wir Alle: er war der erfte große europäiſche Serbe. Er Hatte im Eril viel gelernt, im Verkehr mit den Monarchen und großen StaatSmännern Europas die verſchiedenen politifchen Syiteme und Yaltoren in der Nähe gefehen. Bücher, Menfchen, Dinge, Syfteme: Alles war für ihn ein Lebendiges, das er raftlos ftndirte, und zwar mit einem fchier un- trüglihen Blid für alle Wefenheit. Und Alles, was er war, war er als Dann, der fein Bolt liebte, und nicht nur als Opportunift, der ſich auf die Mittel verftand, wie man einen unficheren Thron haltbar macht. Wäre das Wort nicht ſchon durch unzählige gefrönte Karikaturen entwerthet, fo möchte ich beinahe fagen: er war der richtige große Idealiſt auf dem Thron und der richtige Herrfcher für ein Boll, das fich im Webergangsitadium aus dem patriarchalifchen in das moderne Leben befand. Die konfultative National: verfammlung, die er regelmäßig einberief, hörte er auch; er machte den früher allmächtigen oligarchiſchen Staatsrat wieder zu Dem, was er fein follte, zu einer Kommiſſion, die Gelege vorzubereiten hat. In der ganzen Ber: waltung wurde num wirklich „das Geſetz der höchſte Wille im Staat.“ Auch entfernte er die legten türkifchen Garnifonen aus Serbien und befegte alle ferbifchen Feftungen endlich mit Soldaten, die Serbiens Fahne trugen; er wurde die einzige Hoffnung aller Balkanchriſten und daneben ein Liebling aller europäifchen Souveraine.

Wenn Einer, fo hätte er verdient, glüdtich zu fein. Doch das Glück verfagte fih ihm. Noch im Eril hatte er fi mit der ſchönen Gräfin Julie Hunyadi verheirathet, einer Tochter des alten und ruhmpollen Gefchlechtes, das einft dem ungarifchen Thron einen feiner größten Könige gefchentt hatte, und einer Frau, die in Allem auf feiner geiftigen Höhe ftand. Aber fie blieb kinderlos. Meint man, daß es für mich al8 Politiker nicht ſchicklich ift, ernfthaft von dem Unglüd der Kinderlofigkeit einer fürftlichen Ehe zu reden? Nein: e8 ift weder fomifch noch unſchicklich; wer bedenkt, welche Rolle biefe Frage im heutigen Serbien fpielt, wird begreifen, was ich meine, wenn ich daran erinnere, wie Julie Hunyadi-Obrenowitſch handelte, als die Jahre ver⸗ gingen, ohne daß fie ihrem Gatten einen Thronerben gebar. Die Dünaftie ftand auf den zwei Augen ihres Mannes, ben fie liebte und ber fie liebte, und da opferte fie ſich und ihr perfönliches Glück.

Das Opfer war vergebens; Michael wurde ermordet, und fein Mär- torertod brachte den Sohn eines feiner Vettern als Milan Obrenowitfch ben Bierten auf den Thron. Vorausſchicken will ih nun, daß ich Milan Liebte und ihm als Minifter aus aller Kraft meiner Seele diente; ich will. aber auch gleich jagen, warum. Während feiner zwanzigjährigen Regirung hat

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diefer Fürft das von feinen Vorfahren ererbte Feine Vaſallenfürſtenthum nicht nur um ein gutes Drittel an Gebiet und Einwohnerzahl vergrößert, fondern er hat es zur Unabhängigfeit geführt, zum Königreich erhoben und es mit allen Attributen eine modernen Staates ausgeftattet. Ich glaube nicht, daß ich blind bin; König Milan Hatte wirklich, wie alle guten, fo auch alle ſchlechten Eigenschaften des Begründers der Dynaftie geerbt; und die fchlechten wurden durch eine zügellofe Leidenfchaftlichleit gefteigert, bie ihm als Erb: theil feiner Mutter Marie Obrenowitfch, geborenen Catargi, im Blut ſaß. Dennocd wäre er, als ber größte Herrfcher ber Ballanftaaten gefegnet und von Europa geachtet, bis an fein Rebensende auf feinem Throne geblichen, wenn er nur bie Frau gefunden hätte, die feinen und ihren Beruf verftand. Sein und des Landes Unglüd wollte aber, baf er das erfte fchöne Mädchen, in daß er fich verliebte, zur Fürftin und dann zur erften Königin Serbiens erhob. ALS Träger einer jungen und fo wenig geficherten Dynaftie mußte er fchon nad politifch wichtigeren Verwandtfchaften Umfchau halten, als bie war, die ihm da8 Fräulein von Keſchko mitbrachte; verhängnißvoller als alles Andere wurde aber der Umftand, daß dieſes junge Mädchen, das im bürger- lichen Leben vielleicht die idealfte Frau und Mutter geworden wäre, fi auf dem Thron nicht zurechtzufinden vermochte. Heute, wo fie felbft als Frau wie als Mutter fo unglüdlich ift, ziemt e8 mir nicht, die wahrhaftige Gefchichte ber Königin Natalie zu fchreiben, mir am Wenigſten, weil gerade ich als Miniſter gezwungen war, die Scheidung Milans von feiner Gattin zu ermöglichen und durchzuführen. Nur, was ich fagen darf, will ich jagen. Ihr Schiefal bing nicht ganz von ihrem freien Willen ab; es war von der Natur ſchon in der Wiege entfchieden. Königin Natalie war auffallend Schön; und Schön- beit, der fich nicht ungewöhnliche Bildung und Charafterftärke gefellt, pflegt in fi felbft allzu verliebt zu fein, als daß ſie aufrichtiger Liebe zu einem Anderen fähig wäre. Ohne eine folche Liebe aber ift eine glüdliche Che, wenigftens in ber Zeit der ftürmifchen Jugend, undenkbar. Wenn ein Pyg⸗ malion feine Götterfchönheit mit leibenfchaftlichen Küffen zum lebenden Weibe erweden konnte: zur hingebenden Gattin wäre auch fie nie geworden. Und mußte er dann, trog aller Schönheit, ſich nicht unglüdlich nennen? Zrogdem dauerte die Liebe Milans zu feiner Benns viel länger, als dieſes Gefühl in den von ber Leidenſchaft rafch gejchloffenen Ehen gewöhnlich dauert. ch weiß nicht, ob es bekannt ift, daß es in dieſer Ehe einmal eine Fruhgeburt gab; ein Prinz Sergius wurde damals geboren. Aerztliche Kunft konnte diefe Frühgeburt noch verhindern. Das wäre ſicher ein Glüd für die Dynaftie gewefen, denn heute ftünde fie nicht auf den zwei Augen des Königs Ulerander. Alfo no damals war König Milan in feine Fran fo verliebt, daß er die Aerzte an ihrer Pflichterfüllung hinderte, weil die

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Königin litt, was doch unter Millionen Frauen jede leiden muß umd leidet... Ich Höre den Ruf: Gefchichten aus der Worhenftube, die ein Politiker in einer biftorifchen Studie auskramt! Doc was kümmert fi die Natur um äußere konventionelle Zimperlichkeiten? Wenn in der MWochenbettzeit ent- fcheidende Charafterzüge fihtbar werben, dann muß man fie eben beachten; oder man jchreibt nicht Biographien, fondern falfches, alberned Zeug. In dem Mädchenpenfionat, wo Natalie von Keſchko in Odeſſa erzogen wurbe, waren die jungen Damen nicht für die Pflicht einer Königin vorbereitet worden. Nur an fich dachte fie, an ihre eigenen Bedürfniffe, an ihre Schön= heit, die fie triumphiren fehen wollte; und die Frauen, die in die Intimität ber jungen Fürftin zugelafien wurden, hatten nun natürlich leichtes Spiel, als fie ihr bewiefen, daß fie, um ihre Schönheit zu bewahren, da8 Frauen⸗ martyrium meiden müſſe. Sie mied e8 denn auch, und als ihr einft ein treuer Freund ihres Hauſes vorahnend die Gefahr diefer gewollten Unfrucht- barkeit ar zu machen verfuchte, erwiderte fie: Je ne dis pas non. Dans dix ans: oui, mais jusque lä, je veux vivre. „Vivre“: ganz einfach, bür- gerlih „vivre“. Es war danach; ein Luxus kam auf, wie er in Serien nie ‚vorher gefehen worden war; und da er über die Mittel der „Hoffähigen“ weit hinausging. trug er viel zur Korrumpirung der bis dahin befcheiden lebenden Beamten bei. In einem Brief des verjtorbenen Regenten Jovan Riſtitſch an die Königin wurde ber Schade, den dieſes Leben in der ferbifchen Geſellſchaft anrichtete, deutlich gefchildert, aber ohne Erfolg. Alles tanzte, tanzte unermüdlich: mit den Heinen Attaches, mit den großen Diplomaten, mit alten Generalen; und wenn man manchmal mit fo einem alten Tänzer ftärzte, dann lachte die auf dem Boden liegende Majeftät, und Milan war unglüdlih. Thut nichts: La reine s'amuse. Durch das ganze Haus zog fingend und klingend bie Luft; jung fein und leben: Das war die Religion. Da war ein junger, von Kraft ftrogender Mann, verliebt und mit natürlichen Rechten, den man König nannte, und er mußte risfiren, im Vorzimmer das Sichern feiner eigenen Lafaien zu hören, wenn er den Zugang zu feinen beften Rechten einfach verfchloffen fand. Da z0g er denn endlich die Konſe— quenz; und darum behaupte ich, daß der Ruf des Don Juans, der ihn verfolgte, nie begründet war. Im Gegentheil: er war fogar fehüchtern; wo er Gnade fand, da blieb er auch gleich mit feiner ganzen Seele hängen; und er fonnte fo feit hängen, daß feine Minifter und Freunde ihn immer - mit Gewalt von einem Weiberrod losreißen konnten. So war es einft ſchon feiner frühejten Liebe; da war er zur Abdankung bereit, um Die zu heirathe die ihn zuerst Lieben gelehrt hatte; fo war e8 fpäter, als man ihm die legitim- Liebe Jo thöricht verfagte. Er ftieß auf eine Levantinerin, die Frau eine hoben Hofbeamten, die gleich begriff, welche Chance ihr das Elend des fürſt

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lichen Haufes bot; und er, jung, ſchön und Fürft, ward zur Beute der unfhönen und finderreichen Frau. Die aber, die ihn hinausgetrieben und zum dankbaren Empfänger fremder Almofen an Liebe gemacht hatte, jchrie, ftatt felbitverfchuldetes Leid mit Würde zu tragen und von dem arg ge: Schädigten Preftige de8 Hauſes zu retten, was nod) zu retten war, ihren Schmerz laut in die Welt hinaus. Und da begann das große Unglüd. Die Preffe der ganzen Welt bemächtigte jich des lederen Biſſens und die belgrader Hofwäſche wurde vor Aller Augen gewaſchen. Ein Mann, der glüdlich gewefen wäre, wenn feine Frau ihm die cheliche Treue ermöglicht hätte, ein hochbegabter König, der für fein Land und für die Livilifation auf der Balkanhalbinfel noch jo Vieles zu leiften vermochte, wurde als erbärmlicher Lüftling Hingeftelt und zur fländigen Karikatur gemadt. Alle Sympathien wandten fich der jchönen Unglüdlihen auf dem Thron zu und feinem Denfchen fiel es ein, zu fragen, wie es denn gefommen jei, daß eine unfchöne Matrone einer ſolchen jungen Göttin vorgezogen werden konnte.

Die Politik mifchte ſich ins Spiel. Auf dem Berliner Kongreß hatten Fürst Gortſchakow und Graf Schuwalow unferem Vertreter Jovan Rijtitfch erklärt, Serbien könne nur befommen, was Defterreich: Ungarn ihm ge= währen wolle. Da fchrieb König Milan den denfwürdigen Brief an Andraſſy, in dem er fich aufrichtig dem Habsburgerreich anfchloß. Die Wirkung war, daß Graf Andraffy, in vollem Einvernehmen mit feinen Kaijer und König, Das, was Serbien in zwei Sriegen errungen hatte, gegen die ruſſiſchen Vertreter auf bem Berliner Kongreß vertheidigte. Durch den Kaiſer und durch Andraſſy wurde alfo wenigftens der größte Theil diefer Errungenfchaften für Serbien gerettet. Das verpflichtete. In San Stefano wollte man uns und unferer Zukunft den Todesftog geben; durch Defterreih:Ungarn wurde uns in Berlin doch unfer Recht. Und da, gerade da opponirte,die in Florenz und von nicht-ruſſiſchen Eltern geborene Königin, die des Ruſſiſchen fo wenig mächtig war, daß fie auf rufjifche Anreden immer nur franzöjifch antwortete. Sie war Nuffophilin! „Für jedes Heiligenbild, für jedes Kirchenbuc und Meßgewand, für jeden Rubel, den Rußland den Eerben je gefchenft hat, haben wir mit je zwei Menſchenleben gedankt, mit Strömen ferbifchen Blutes, das für das Heilige Rußland vergoffen wurde." Mas ich hier fage, ift ein Citat aus der Schrift eines ferbifchen Afademilers, der die Ehre hatte, feine Aniicht der Königin vortragen zu dürfen. Sie antwortete: „Sie haben Necht. Tas Alles ift wahr. Sehen Sie hier die mit Brillanten bejegte Tabak— dofe? Sie ift die einzige Belohnung, die Fürſt Milofh für den unjcäg- baren Dienjt erhielt, den Serbien Rußland damals leitete. Und dennoch und trog San Stefano werde ich es immer lieben.” „Auch wenn Euer Majeſtät die Ueberzeugung gewinnen follten, dar das offizielle Rußland gegen Ihren Gemahl und Ihren Sohn arbeiter?" „Aud dann.“

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Nach Alledem wird man begreifen, wie daS Gerücht entftehen konnte, die Königin habe nah Slivniga den Plan gehegt, ihren Gemahl vom Thron zu ftürzen und fich felbit zur Negentin zu machen. Ich glaube daran nicht; aus zwei Gründen. Erſtens kannte die Königin die ferbifche Gefchichte doch wohl zu gut, um nicht zu wiflen, daß ed unferer nationalen Grundanſchau⸗ ung vom Frauenberuf wiberfpricht, fich eine Frau an die Spige des Staates geftellt zu denken; thatfächlich hat in den acht Jahrhunderten unferer Ge- hichte nie eine Frau irgend ein ferbijches Land regirt. Zweitens heißt es, ihr babe das Vorbild Katharinas der Zweiten vorgefchwebt; aber da mußte ihr wieder aus der ruſſiſchen Gefchichte bekannt fein, daß Katharina ſchon als Thronfolgerin fih Jahre lang und fehr ernit mit allen Staatswifien- haften befaßte und ſich mit deutfcher Gründlichfeit für den Beruf einer Kaiferin vorbereitete. Katharina hat Romane erlebt, aber nie Zeit zum Lejen von Romanen gehabt. Ich kannte in Serbien eine Königin, die nur Romane las, nichts Anderes. Auch hätte Katharina nicht einen ganzen Tag daran gewandt, einen rufjifchen Staatsmann ihre Schäge an Brüffeler Spigen zu zeigen. Alle weibliche Kleinlichkeit und Eitelkeit war ihr fremd; deshalb fonnte fie die große Kaiſerin werden.

Einerlei. König Milan glaubte, feine Frau habe die Abjicht gehabt, feine Niederlage auf dem Schlachtfeld zu benugen, um fich zur Regentin zu machen. Diefer Tropfen brachte den Becher zum Weberlaufen. Natalie mußte mit dem Kronprinzen auf Reifen gehen; und eines Tages ſaß der ferbifche Minifterrath förmlich wie verfteinert da, als König Milan die niederfchmetternde Mittheilung machte, er habe geftern vom Dietropoliten fchriftlich die Scheidung von der Königin Natalie verlangt. Tas arme Minifterium hatte bis dahin nicht8 geahnt, nicht geahnt, daß e3 vom König berufen war, um diefe Scheid: ung durchzuführen. Erft durch diefe „private* Mittheilung, die dem Kabinet gewiffermaßen nur „zur gefälligen Kenntnißnahme“ und in einer Form unter: breitet wurde, als ob es fi nicht um eine Staatsfrage erſten Ranges hans delte, wurden den Miniftern die Augen geöffnet. Was thun? Segt ſtand man vor der Alternative, entweder fofort die Entlafjung zu fordern und damit den König felbft auf dem Thron unmöglich zu machen oder zu bleiben und die Autorität der Krone zu retten, fei es auch un den Preiß de3 eigenen politiichen Lebens. Und König Milan war ein guter Pfychologe und wußte, was er that, als er in diefeg Minijterium Männer rief, von denen er fiche war, daß ſie bereit waren, für ihn richt nur politifch, fondern phyfifch zu ſteiben.

Zunächſt verfuchten fie, den verhängnigvollen Antrag des Königs zurüd zunehmen und einen modus vivendi herbeizuführen, der die Ehefcheidung ver: meiden könne. Non den unglaublihen Anjtrengungen, die es Eoftete, wil ich hier nicht reden; aber fchlieglih fimmte der König einem Konıpromif

Die Frauen der Obrenowitſch. 219

zu, wonach die Scheidimgsflage zurüdgezogen werden jollte, wenn die Königin einwilligte, bi zum vollendeten achtzehnten Lebensjahr des Kronprinzen im Ausland zu leben und die Erziehung des Kronprinzen zu leiten. Und natür- lich wurde ihr für diefe ganze Zeit auch nad) Gebühr der Belig eines Hof: ſtaates und der auf ſie entfallende Theil der Civilliſte zugebilligt, mit der Garantie, daß das hierüber auszufertigende Staatsdokument nicht nur vom König, fondern aud) vom ganzen Miniſterium und Staatsrath, von allen Kirchenfürften und allen Spigen de8 Staates mitunterzeichnet werde. Mit dem Texte diefes "Dokumentes ging eine beſondere Gefandtichaft nach Wies- baden, wo die Königin weilte, um ihre Einwilligung einzuholen, und das Minifterium hoffte, dag die Mutterliebe ftärker fein werde als der be= leidigte Stolz. Das war ein Irrthum. Die Königin ließ fich das einzige Kind von der Staatögewalt wegnehmen, ftatt e8 bei fi zu behalten und nit dem volljährigen Kronprinzen als Königin nad) Serbien zurüdzufehren.

Und die öffentliche Meinung? Nun, e8 lam, wie e8 fo oft kommt. In Serbien ſowohl wie in Europa hatte man feine Ahnung von den wahren Motiven und den vorangegangenen Peripetien diefer unglüdlichen Löſung und verurtheilte einftimmig den König; die Sympathien der ganzen Welt waren auf der Seite der ſchönen Königin, der man durch Gendarmen das einzige Kind entriß. Beſchimpft, von gut geheizten Berleumdungmafchinen mit Koth überworfen, lebte König Milan nun weiter, fataliſtiſch, wie es die Natur des Slaven ift, ohne auch nur recht ben Verfucd zu machen, der Welt ihren Irrthum zu nehmen. Nur no ein Gedanfe erfüllte ihn feit- dem: den Thron für feinen Sohn zu reiten. Zu diefem Zwed gab er bie befannte ultraradifale Verfaſſung und entjagte dem Thron. Warum? War es nöthig? Und was verfprach er ſich davon? Nie äußerte er fich hierüber mit voller Klarheit; aber mir fcheint, er fagte ſich: Das ferbifche Volt wird erleben, daß ein Obrenowitſch ihm feinen Willen thut, und wenn e8 dann die Wirkungen diefer verderblichen Verfafſung mit eigenen Augen jieht, wird es wieder in die Bahnen eines vernünftigen Konjtitutionalismus zurüdver- langen. Und die Abdankung? Rußland ift mein Feind, mein gefährlichfter Feind, gefährlicher noch als der innere NRadilalismus; und wollte ih, daß e3 meine Schuld nit auch an meinem Sohn räche, fo müßte ich meine loyale Haltung gegenüber DefterreichsUingarn, das mich feit Andrafiy geftüst und gefördert hat, ändern. Last not least aber wollte er nun nad allen Richtungen hin alle Schleier abwerfen und reinen Tiſch machen; er wollte der Frau, die fich ihm hingegeben und ihm die Liebe gewährt hatte, die er im eigenen Haufe entbehrte, fir ihr Familienglück, das vernichtet zu haben er ſich anfchuldigte, Satisfaltion geben und jie heirathen. Zum Glüd war er aber ferbifcher Patriot genug, um einzufehen, daß er diefen Schritt nicht als König, fondern nur als Privatmann thun durfte,

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220 Die Zukunft.

Und fo fam wieder ein vierzehnjähriges Kind auf den Thron ımd wieder hatten wir eine Regentſchaft, die fchlechtefte Regirungform, die e8 für einen Staat geben kann. Der Vater des Königs ging in? Ausland, die Mutter kam nad) Serbien. Dann wurde auch jie mit Gewalt aus hem Reich entfernt; beide Eltern des Königs wurden durch „Geſetz“ aus Serbien verbannt. Diefes Geſetz brach aber der Regentfchaft den Hals. Denn König Alerander machte feinen eriten Staatsſtreich, erklärte jich eigenmächtig für voll: jährig und ergriff, beinahe noch ein Sind, felbit die Zügel der Regirung. Was folgte, ift befannt: zunächſt das unwürdige chassez-croisez ber fürzeren oder längeren Beſuche Milans und Natalie$ in Belgrad; dann 1897 das Programm der Regirung über den Parteien mit Milan als Generaliffimus der Armee und einer Devife, wonach aus Alerander ein Großer Kurfürft und aus Serbien das Brandenburg der Baltanhalbinfel zu machen geweſen wäre. Was diefe Regirung für Serbien that, ift mit den Worten charaf: terifirt, die der mit Recht fo verehrte Doyen der europäifchen Monarchen, Kaifer Franz Joſeph, zu Milan fprah. „Seit fünfzig Jahren“, fagte er im Juni 1900, „beobachte ih aufmerkffam, was it Serbien vorgeht. Nun: noch niemals war bei Ihnen folche Ordnung, Ruhe und ernfte Arbeit wie in den lesten drei Jahren. Darum: nur fo weiter!“ Leider gings aber nicht fo weiter. Die Regirung, deren Devife „Serbien über Alles“ mar, mußte zurüdtreten, weil der junge König heirathen wollte. Als dieſes Minifterium ernannt wurde, hatte fein Prälident eine Verföhnung der königlichen Eltern geplant, um das fchredliche Schaufpiel einer häuslichen Zerftörung mit all den Folgen, die noch immer fortwirkten, zu beenden. König Milan fagte Ja; für die Königin Natalie erklärte König Alexander auf der Stelle Fate: gorifch, jeine Mutter werde nie in diefe Ausföhnung willigen. Und danır fam die legte Heirathgeſchichte. Ein ferbifcher Politiker, ber aus der Chronik ſeines Königshauſes erzählt, ift nur allzu fehr vor dem Verdacht gefhüst, ein Panegyriker des Frauenverſtandes zu fein; dürfte er wenigftens das Lob der Frauentugend fingen! . . . Man mußte an die Berheirathung Aleranders denken. Der König fträubte fih; er fei noch zu jung, fagte er. Im Miniſter- rat) machte man ihm den Standpunkt Far und drohte ſogar mit Demiffion, weil es nöthig fei, auf der durch Leidenschaften zeritörten Stätte wieder ein feftes und reines Haus zur bauen. Da gab er endlich nah. Zwei große Monarrben interefirten Sich für die Sache; bei dem Einen intervenirte König Milan der ferbifche Minifterpräjident follte den Plan mit dem erften Miniſter Monarchen beipreden. Die Braut war auserjehen, Tag und Ort für Zuſammenkunft des jungen Paares feftgefegt; nur noch um geringfiı Nebenfächlichkeiten des Ceremoniell3 handelte e8 ih. Endlich ſollte im fe ichen Königshaus wieder die einfache bürgerliche Ruhe und Ehre berrfd

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Da König Milan war nad) Karlsbad, der Negirungchef nad Paris gegangen erfchien die Proffamation des Königs, die feine Heirath mit einer geweſenen Hofdame feiner Mutter verkündete.

Alles Weitere ift befannt. Wer will, hat das Recht, dem König Milan und der Königin Natalie einen Stein nachzuwerfen; Jeder hat das Recht, fie für Das verantwortlich zu machen, was fie auf Serbiens Thron gethan oder unterlaffen haben. Einen einzigen Menfchen auf der ganzen Welt giebt e3, der Fein Recht dazu bat. Und gerade er, der einzige Sohn dieſes un: glüclichen Menfchenpaares, hat, um zu heirathen, wie e8 ihm paßte, gegen Bater und Mutter in einer Weife gehandelt, die in ruhiger Rede faum zu ihildern ift. Wie groß auch die tragifhe Schuld ded Königs Milan und der Königin Natalie fein mag: die Strafe, die fie am eigenen Sohn erlebten, war zu graufam und unverdient. Milan war der Glüdlichere: er ftarb bald im Exil; der Haß wird es beftreiten und doch ſage ichs: als ein wahrer König Lear. Die unglüdlichfte Mutter aber lebt und mug das Kreuz freudlos weiter tragen. Selbft wir, die als Patrioten und treue Staatödiener, in Erfüllung der Pflicht, wie wir fie verftehen, gezwungen waren, gegen die Macht der Königin Natalie zu kämpfen, müſſen Heute vor ihrem Unglüd das Knie beugen. Sie und die Frau, die ihr auf dem Thron folgte, find nicht zu ver- gleichen. Die unglückliche Natalie felbit ihr Feind muß es zugeben war, ob auch fchuldig, als Weib redlih und rein...

Der Zitel diefer Skizze follte mid) zwingen, nun über die Frau zu fprechen, die heute Königin von Serbien Heißt. Ich kann und will es nicht; denn ich erzähle hier vom Unglüd, nicht aus der Eittengefchichte Serbiens.

Die bisherige Gefchichte der Dynaftie Obrenowitſch erinnert an ein altes ferbifches Epos. Drei Brüder, Bafallen des alten Serbenreiches, bauten ihr Familienſchloß an der Bojana. Alles, was am Tage erbaut wurde, riffen die böfen Feen in der Nacht nieder. Erſt als eine ihrer Frauen geopfert und lebendig in die Fundamente eingemauert wurde, war der Bann gebrohen und die Burg konnte fertig gebaut werden. Gerade fo bauten drei Zürften aus dem Haufe Obrenowitſch mit übermenfchlichen Anftrengungen jiebenzig Jahre lang an den Grundmauern des neuen ferbifchen Staated: und immer wurde, was Einer aufgebaut hatte, von Frauenhänden zerftört. Soll ſich das graufame Schidjal aus dem Liede des vierzehnten Jahrhunderts im zwanzigſten wiederholen ?

Wien. Dr. Bladan Georgewitſch.

222 Die Zukunft.

Ochrida.

n Ochrida, ber alten bulgariſchen Zarenſtadt, wurde eine werthvolle Hand⸗ RNRNRſſchrift, der Kodex des Heiligen Klemens, aufbewahrt: das Protokolbuch der Symoden de3 ehemaligen Patriarchates von ganz Bulgarien, Serbien, Albanien und dem weſtlichen Meer, wie fi die Erzbifchöfe von Ochrida mit Stolz betitelten. Bom elften Yahrhundert bis zum Untergang des Patriarchates (1767) befleibeten nur Griechen (oder völlig gräzifirte Slaven und Rumänen) dieſe Würde. Das Protokolbuch umfaßt allerdings. nur das legte Jahrhundert; dennoch ift es für die Kirchen: und Sittengefchichte des Oftens höchſt wichtig; um jo mehr be dauerten die Gelehrten, daß in den heißen Nationalitätfämpfen, die fih dort vor vierzig Jahren zwiſchen Griechen und Bulgaren abfpielten, der foftbare Kodex verloren ging.

Schon längſt hegte ich die Abficht, einmal auf die Suche danad) zu gehen; doch die jebigen prefären Verhältniſſe Makedoniens, wo ber Einfall ber bul- gariſchen Komitate wenigſtens nach den Zeitungberichten eine allgemeine Unficher: heit erzeugt bat, veranlaßten mich, diefen Plan, wenn auch ſchweren Herzens, aufzugeben. Auf meiner Wallfahrt nad dem Heiligen Berge hatte ich aber das Glück, als Sciffsgenoffen den ruſſiſchen Generalfonful von Monaftir (Bitolia), Herrn Alexander Roſtkowskij, kennen zu lernen, einen der gründlichften Kenner der makedoniſchen Verhältniffe, der das Land nad allen Seiten bereift Hat. Als ich ihm beiläufig meine früheren Ochridapläne erzählte, lächelte er und meinte, die angeblichen Gefahren jeien lange nicht fo groß, wie die Zeitungen fie aus« malten. Der Bali werde mir Soldaten zur Bebedung geben und außerdem fönne ich auf ruffiihen Schuß reden. Man weiß, was ber Bar afler Reußen am Goldenen Horn und in der ganzen Türkei zu bedeuten bat. Urplötzlich trat nun vor meine Seele die Möglichkeit, beinahe begrabene Lieblingspläne ausführen zu können. Diejer Gedanke regte mi fo auf, daß ich die ganze Nacht, jeit langen Jahren zum erjten Male, nicht ſchlief. Am nächſten Morgen Ichrieb ich jchleunig an die Deutſche Botichaft in Konjtantinopel, ob fie gegen die von mir geplante Reife nad) Ochrida, denen ich glei) Koryka und SKaftoria, den Mittelpunkt des bulgarifchen Aufftandsgebietes, anfchloß, nichts einzuwenden habe. Ich wurde aufgefordert, die Antwort beim Generalkonſulat in Salonil abzuholen, wo ih nad) einem zweimonatigen Athosaufenhalt im Oftober ein- traf. Dort wurde mir mitgetheilt, daß gegen eine Reife nad) Ochrida und Korytza keinerlei Bedenken beftünden; wegen Kaſtoria aber jolle ih mich an den k. k. öſtreichiſchungariſchen Konſul in Monaftir wenden, der dort die Deutfchen zu jchüßen babe. Zwiſchen Kaſtoria und Florina Hatte fid) nämlich ber Chef der weitlichen Kormitate, der aus der Gegend von Klifura gebürtige Oberft Jankow, eingeniftet und lieferte den Türken fat täglich Gefechte. Ich fuhr alfo nad Monaftir, wo ich in dem gaftfreien Haufe des ruſſiſchen Konſuls und jeiner liebenswürdigen Gemahlin die angenehmften und Iehrreichften Stunden ver: bradite. Er ſowohl ald mein offizieller Proteftor Dr. Kral riethen mir unbe dingt zu der Meije; Kral hatte vor erſt vierzehn Tagen die felbe Reife gemacht and den jhlimmen Paß von Kaftoria nad Florina überjchritten. Mit Herrn Roſtkowskij und feinem Dragoman machte ih dann einen feierlichen Beſuch beim

Ochrida. 223

Vali (Oberpräſidenten der Provinz). Nah Austauſch einiger zierlichen, regel— mäßig vom Dolmetſcher unterbrochenen Redensarten erhielt ich vier Mann Be— deckung nebſt einem Unteroffizier zudekretirt. Am anderen Morgen erſchien aber eine zehnköpfige Bedeckungmannſchaft; und nachdem der führende Tſchauſch (Unter⸗ offizier) mir erflärt hatte, daß er und feine Leute mich durch alle Bufgaren und Banden hindurchhauen würden, fuhren wir fröhlich in den praditvollen Morgen hinaus. Ueberall in Makedonien find leidlich gut gehaltene Fahrſtraßen vorhan- den, fo daß ich ben größten Theil der Reife im Wagen zurüdlegen konnte. Die Straßen werden aud im Stand gehalten; mehrfach begegneten mir Gruppen mit der Ausbeſſerung ber Straße bejchäftigter Arbeiter. Die Koften diefer Wege- bauten find für die türkijche Negirung jehr gering; denn die verjchiedenen Dorf: ihaften werben der Neihe nach zum Robott fommandirt. Die mißvergnügten, finjteren Geſichter der Arbeiter ſprachen dentlich genug aus, daß nur harter Druck ſie zu dieſem Frohndienſt zwinge.

Unſere türkiſchen Begleiter, namentlich die beiden Tſchauſche, zwei Alba neſen, waren prächtige Menſchen. Der Bali Hatte den Beiden den Auftrag gegeben, während der ganzen Reife uns zu begleiten; die übrtge Mannjchaft wechjelte faſt täglid. Tutun (Tabak) und Eigaretten übten bald ihre Macht auf die Türken: herzen; ich pflegte mid, reichlic) damit zu verforgen; mein Tabakbeutel wurde bald als öffentliches Gemeingut anerfannt und wanderte fröhlich von Pferd zu Pferd, kehrte aber regelmäßig nur unbeträchtlich erleichtert in meine Hände zurüd. Auch der einfache Türke zeigt in ſolchen Fällen ſtets höflihen Anftand und Dis» fretion. Unſer Kutſcher und wenn wir ritten der die Saumthiere treibende Agogiate waren falt immer Ehrijten. Wenn wir Wein tranfen, fragte ich den Kutſcher, um mich über Nationalität und Glauben zu vergewiffern: „Bilt Du ein Chriſt?“ „Sa, Herr, ein orthodorer”, war jtet3 die Antwort. Darauf über- reichte ich ihm einen vollen Becher mit den feierlihen Worten: „Das ſchönſte Privileg der Ehrijten it der Wein”. Unter fröhlidem Grinjen ftürzte er den Trank Hinunter, während unjere Türken wehmüthig zujahen. Die Albanejeı, namentlich die vom Südftamm der Tosfa, find religiös durchaus nicht fanatiſch; fie gehören meift den Derwifchorden der Mewlewi oder Bektaſchi an und der. myſtiſche Geift des Sufismus wirft wohlthätig auflöfend auf die ftarren Feſſeln der Satzung. Wäre einer dieſer braven Asferler (Soldaten) allein mit uns geweien, er hätte fröhlich mitgezecht. So fontrolirte und hemmte Einer den Anderen. Ich wagte daher nie, ihnen von dein durch den Propheten verdammten Getränk anzubieten.

Iinfere Mittagsraft bielten wir auf halben Wege in dem volkreichen Marfifleden Resna ab, deſſen 786 Häuſer Bulgaren, Rumänen und Albaneien bewohnen. Es war gerade Jahrmarkt; in den Straßen fluthete ein fröhliches Menjchengewoge und der Marft bot cin farbenreiches Bild. Tin den Buden wurden Tücher und Frauenſchmuck feilgeboten; im Freien hatten die Gemüſe— und Fruchthändler ihre Waaren alferliebjt und zierlich geordnet; Thongefäße von eben jo eigenthünmlichen wie geſchmackoollen Formen wurben ung zu lächerlich billigen Preifen angeboten. Der ſchwierige Transport verhinderte mic) an größeren Einfäufen. Während mein Reifegefährte unjere türkiſche Begleitmannjchaft und vier Typen der hoffnungvollen Dorfjugend photographirte, erhandelte ich bei

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einem Pradteremplar von alten Spaniolen drei Tücher und mußte natürlich dem eben jo fertig griechiſch wie franzöfiich jprechenden Hebräer über das Woher und Wohin nad) des alten Homeros Weile Rede ftehen. Zu meinem Glüd hatte ih den Bazar in meiner Reiſemütze befucht; fpäter hörte ich, daß ein Hut- menſch tn diefem ausſchließlich Fez tragenden Wolf unter der Jugend eine ähnliche für das angeſtaunte Objekt peinliche Aufregung hervorruft wie die Söhne des Himmliſchen Reiches, als fie fih zum erſten Mal auf Berlins Straßen wagten.

Durch 'eine waldige und gebirgige, Streden lang ungemein fchöne, an Jura⸗-⸗ und Schwarzmwaldpartien erinnernde Landſchaft erreichten wir in finfterer Naht die alte Zaren» und Patriarchenſtadt. Unſere Soldaten zogen ab, während wir Zufludt im „Gaſthaus von Thefjalonife”, einem höchſt primitiven Chan, fanden. Eine halsbrechende Treppe führte auf einen ungemein geräumigen Rorplaß, der aber, von morichen Stüßen getragen, unter unferen Schritten glei) einem Meer hin und ber wogte. Die Zimmer waren fein, aber reinlid und die Wirthsleute herzensgut. Mein Begleiter gewann ihre Freundſchaft Ichnell daburch, daß er fie in einer hübfchen Gruppe photographirte. Natürlich ver- ichentte er feine Photographien. Das erregte bei Griechen und anderen Ortho: doren einen geradezu unbegrenzten Enthufiasmus; bekanntlich hat die griechifche Kirche die beiden Aerzte, Kosmas und Damianos, die unentgeltlich praftizirten, nur aus diefem Grunde unter ihre Heiligen aufgenommen. Ein Arzt, ber gratis furiet, ift für den Geld Liebenden Hellenen ein unbegreifliches Geſchöpf; nur ein großer Sanktus kann fo handeln. Zum Lobe unjeres nobeln Hoteld muß id übrigens jagen, daß Hier wie auf dem Athos und in ganz Makedonien die Betten jehr reinlich waren. Ich Hatte eine große Büchſe „Perſiſches Pulver“ und ein Feldbett, das mir der ruffiiche Konful liebensmürdiger Weife lieh, ganz umjonft mitgenommen.

Der Ochridsko Jezero (See von Ochrida) ift berühint wegen feiner aus» gezeichneten Fiſche. Ein alter franzöjifcher Lazariſt, der einige Zeit in der Stadt geweilt Hatte, ſchrieb: „A Ochrida il n’y a rien de dangereux que les truites qui disputent le rang nmıöme à celles d’Arcachon. Im Bulgarifchen Athos= Eojter Zografu befuchte mich ein Mönd, als er vernommen hatte, daß ich nach Ochrida reiſen wolle, und ftellte fi) mir alg3 Bürger diefer Stadt vor. Er madte mich vor Allem auf die ausgezeichneten Erzeugniffe des ſehr filchreiden Sees aufmerfjam und pries in einem ſchwungvollen Dithyrambus die unvergleicdhliche Letniza Sommerfiſch), eine Art Lachsforelle, mit ihrem zarten, roſenrothen Fleiſch als „la fine fleur de la delicatesse.*“ Bei unjeren guten Wirthsleuten und fpäter beim Vladika Ichlemmte ich oft in Letniza und kann verfidern, daß fie ihren Ruf verdient. Sie wird übrigens, in Eis verpadt, nad) Softa und weiter exrportirt; aber fo wohlſchmeckend und zart wie die friiche Forelle an Ort und Stelle ift fie dann natürlich nicht mehr.

Nach zwei im Klojter verbrachten Monaten war ich an die fehr gejunt. Lebensweije des Heiligen Berges und namentlid au das Frühaufſtehen gewöhnt. Wafchvorridtungen im Zimmer fennen weder die Klöfter (außer Esfigmenu) noch die Gajthäuler des Oftend. Im Norridor |prudelt eine Fontaine mit ge räumigem Beden, wo die Wölfer der nothiwendigen Neinlichkeit gemeinfam, aber der Reihe nach, ohliegen. In Ochrida fehlte and) jie. Der bulgarifche, nur not

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dürftig griechiſch rrdende Diener Tode (Theodor) errieth aber meine Wünſche und führte mich, mit einem prachtvollen friesartigen Handtuch bewaffnet, durch den Garten an das Ufer ber wogenden See, wo ich auf der Yandungtreppe für Die Barken meinen äußeren Menfchen würbiger zu gejtalten hatte. Diefer Tode, eine biedere Seele von einer fajt hündiſchen Anhänglichkeit an mich, war troß feinen zwanzig jahren jchon verheirathet und Vater von zivei Kindern; fie und feine Frau follte er mit einem Wocenlohn von dreißig Gruſch (ungefähr fünf Mark) ernähren. Zum Glück war die rau, um für ihren Lebenserwerb bejjer zu forgen, nad Monaftir verzogen. Die allzu frühen Heirathen find überhaupt ein Krebsichaden unter den dortigen Bulgaren und Albanefen. In Starova, einem albaneſiſchen Städthen am Südufer des Sees, zeigte man mir einen jungen Toska (Albanefen) von fünfundzwanzig Nahren, der einen zehnjährigen Sohn und eine adhtjährige Tochter beſaß. Bei ber jchlechten türkiſchen Ber- waltung, der argen Bebrüdung durd die Beamten und diefer raſenden Ber: mehrung der Bevölferung ift es ganz unmöglich, dem furchtbaren Elend zu fteuern.

Früh um Sechs trat ich, von meinem freundlichen WirtH begleitet, den Rund: gang dur die Stadt an. Die engen, unreinlichen, auch für türkiſche Begriffe ungewöhnlich jchlecht gepflaiterten Straßen und Bergitiege machen feinen guten Eindrud. Bon See aus gewährt die Stadt dagegen einen wundervollen An— blid. Teraſſenförmig fteigt fie vom Ufer empor und wird durch zwei Hügel gefrönt, deren einen das ehemalige alte Schloß der Feudalherrſcher oder Paſchas von Ochrida eimimmt. Noch lebt im Gedächtniß des Volkes die Erinnerung an Dſchelaleddin-Bey, der eine Chriftin zur Frau hatte und auf jeiner Burg in Ali Paſchas Tagen ganz unabhängig ſchaltete und waltete. Die andere DBergeshöhe wird von der Kirche des Heiligen Klemens beherricht, der ehemaligen Kathedrale der von 924 big 1767 über ganz Weltmafedonien und Albanien als geiftlihe Gebieter ſchaltenden PVatriarhen von Ochrida. Wir befuchten die feierlich düftere Kirche, wo gerade die Liturgie abgehalten wurde. Mir wurde als Sitzplatz ein prachtvoller Thron, der Amtsſeſſel der alten Patriarchen von Ochrida, angewiefen. Der Dejpot Effendi, wie die Türken, oder der Ochridski Preſpanski Vladika, wie die Bulgaren den Dtetropoliten betiteln, hat einen neuen Sit, meinem Patriarchalthron gegenüber, erhalten. Nach beendigtem Gottes- dienjt wandelten wir auf die geräumige Terraſſe vor der Kirche; und bier bot fi) uns ein herrlicher Anblid. Zu unfjeren Füßen die Stadt mit ihren weißen Häuſern, vor ung der tiefblaue große Sce, deffen Ufer im Süden man faum erfannte, rings umſchloſſen von edel geforinten, zum Theil bewaldeten Berg» höhen. Wenn einmal dag Geld bejchafft fein wird, um die Bahn von Monaftir über Ochrida nad Jamnina und ber epirotijchen Küſte zu bauen, und wenn eine geordnete Verwaltung der jeßigen Mißwirthſchaft ein Ende macht, wird Mafedonten von Fremden überſchwemmt werden und Gaſthäuſer und Penfionen werden blühen wie in der Schweiz, an die ich hier immer denfen muß.

Schon in der Kirche hatten fi zwei neue Begleiter uns angeſchloſſen: ein Polizeilieutenant Muslim und ein Polizeiwachtmeiſter (Tſchauſch) Johannes Anaftafiu, Bulgare und Chriſt, der fertig griechiſch ſprach. „In meiner Kugend lernte man nämlich noch Griechiſch in der Schule‘, erflärte er mir; er war nun neben dem Wirth Anaftafi mein regelmäßiger Dragoman und fo wurden wir

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bald fehr gute Treunde. Während meines viertägigen Aufenthaltes begleiteten mich die Beiden auf Schritt und Tritt, der Lieutenant vor mir, der Tſchauſch hinter mir. Ueberall erhoben ſich zum Zeichen der Ehrfurcht die Leute auf den Straßenbänfen und in den offenen Gejchäften von ihren Siken. Ich mußte unaufhörlich grüßen. Vergebens ftellte ich den Beiden vor, wie Täjtig mir die pomphafte Schauftellung fei und wie jehr ich bedaure, ihnen jo viel Mühe zu machen. Sie behaupteten, die Polizeibegleitung fei durchaus nothwendig wegen der Straßenjugend, die einen Europäer im Hut ſonſt wie ein Meerwunder be- gaffeı und anjohlen würde. Auch habe der Kaimakam es ausdrücklich befohlen; ich fei vom Bali als ein vornehmer hoher Beamter aus Pruſſia angemeldet; jolde Herren kämen höchſt felten nah Ochrida und ſchon darum jei man ihnen jede Ehre ſchuldig. Meine Behauptung, daß ich ein ganz gewöhnlicher Brofefjor aus einer fleinen Univerfitätjtadt fei und nur Handſchriften ſuche, wurde mit jtillem Lächeln beantwortet, als wollten fie jagen: „Der zyrengi verftellt fi) gut; aber uns täujcht er nicht. Die Aufzwingung diefer Ehrenwache war übrigen3 nicht nur ein Ausfluß des liebevollen Herzens der türkijchen Regirung; man gewann dadurch Gelegenheit, den Fremdling genau zu überwaden, damit er nicht etwa mit geheimen. bulgariihen Yührern und anderen zweifelhaften Eriftenzen fich einlafjfe. Nun, mein Thun war jo unfchuldig, daß auch der arg- wöhniſchſte Spion bald meine vollkommene Barmlofigfeit erfennen mußte. Tſchauſch Jannis [ud mich Höflichjt ein, au das auf der Esplanade ge- legene bulgarifde Schulhaus zu beſuchen, einen nüchternen, langweilig modernen Bau; ich lehnte danfenb ab und fagte, daß ich mich nicht für moderne Pädagogit, fondern nur für Kirchen, Mönche und alte Handfchriften intereffire. Dieſer Schulbau ift ein Denkmal ewiger Schmach für die bulgarische Nation. An jeiner Stelle erhob fi noch vor fünfzehn Jahren das Trapezarion, das pradit- volle Refektorium des Marienflojters. Die Kathedrale war nämlich Klojterlirche

und der Heiligen Gottefmutter, zubenannt die „Hochanſehnliche“ {peribleptosi,

geweiht; erſt als die Türken die alte gewaltige Sofienkirche in der Unterjtadt in eine Mofchee verwandelt hatten, nahm der Patriarch die gleich der Aja Sofia im elften Jahrhundert erbaute „obere Kirche” in Beſitz. Das Kloſter verfick; aber das Refektorium mit ſchönen und jedenfalls fehr intereffanten Wandmalereien und Inſchriften war erhalten; nur ein Theil des Daches war eingeftürzt. Nach der Vertreibung des griechifch-fanariotifchen Stlerus hauſten dort die vom Sieg trunfenen Bulgaren wahrhaft vandalijch. In der Kirche wurden griecdhifche In— ichriften oder Beilchriften der Gemälde ausgekratzt oder überſchmiert und durch jlavifche erfet. Das Schlimmſte leijtete aber der damalige Vladika von Ochrida, Monfignore Sregorij, jetzt Vladifa von Bitolia (Monaftir), als er vor zehn Jahren das ganze, allerdings etwas ruinenhafte Trapezarion niederreißen und an feiner Stelle, gleihlam al8 Symbol modernen Nivellirungfanatismus, da‘ triviale Schulhaus erbauen ließ. Auf dem Blaß, wo einft die Mönche ihr Geſänge anftimmten, erfchallen heute die Weiſen Fröbels; die Lieder jind, wir mir beim Anhören der befannten Melodien ein Lehrer ausdrücklich fagte, aus Deutfchland bezogen und bulgarifche Texte untergelegt.

Sobald die Tageszeit es einigermaßen erlaubte, machte ich meinen Be judy beim Kaimakam, dem Gouverneur der Stadt. ALS ich den weiten Hof de

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Konak durchſchritten hatte und die Stufen zum eigentlichen Regirungégebäude emporſtieg, präſentirten die Soldaten das Gewehr und in der Vorhalle erhoben ſich die Diener und die zahlreichen Bittſteller von ihren Sitzen. Non zwei Dienern wurde ich vor das Stadthaupt geführt. Einige ſchöne Redeblumen, der unvermeidliche Kaffee nehſt Cigarette, und die Audienz war beendet.

Auf der linken Seite des Hofes ſieht der Hinaustretende ein finſteres, trübſäliges Gebäude, das durch einen Paliſſadenwall vom Hof abgeſperrt iſt. An dieſem Wall ſtanden zwei vergrämte alte Frauen und ein junger Burſche, die nach innen ſahen und riefen. Die Fenſter des etwa vier Meter vom Paliſ-⸗ fadenwall abjtehenden Gebäudes waren durch Holzgitter verſchloſſen. Aus einem Fenſter drang ein gellendes Geſchrei: Aman, aman (Gnade, Gnade)! Es feien Wahnſinnige, erklärte mir der loyale Polizeidiener auf meine verwunderte Frage. Wie ih naher erfuhr, iſts aber das Unterfuhungsgefängniß, wo die aımen, oft ganz unjchuldigen Inkulpaten i in einem wahrhaft entfeßlichen Schmutz liegen; kärglich genährt und ohne die Erlaubniß, jemals ihre unreine Höhle verlaſſen zu dürfen, leben die Unglücklichen dort oft Wochen lang. Manchmal vergißt die türkiſche Juſtiz ihre Exiſtenz und ſie gehen elendiglich zu Grunde.

Die Lage der dortigen Chriſten iſt überhaupt eine ſehr gedrückte; weniger durch Uebelwollen der Regirung als in Folge des grenzenloſen Fanatismus der muslimiſchen Bevblkerung, beſonders der Gega (muslimiſcher Albaneſen). Sie erlauben den Chriſten nicht, in ihre Weinberge zu gehen; nur die Frauen dürfen die Weinleſe beſorgen. Mein Gaſtwirth, ein ehemals wohlhabender Mann, iſt in feinen Bermögensumjtänden ſehr zurückgekommen, weil die zahlreichen durch— reifenden Beamten und Soldaten zwar reilihe und gute Verpflegung für fich in Anſpruch nehmen, aber an feine Bezahlung denken. Während meiner An wejenheit famen nachts einjt ſechs Soldaten ang Thor und begehrten ſtürmiſch Einlaß. Sie drohten, das Thor zu erbreden. Da ftieg mein junger Begleiter Jannis hinunter und hielt ihnen in tadellojem Türkisch eine Standrede; es ſei eine wahre Schande, bei nachtſchlafender Zeit fich fo zur bencehmen, und Solches fünnten nur Türken thun. Wegen feines Hutes und jeiner europäifchen Kleidung hielten fie ihn für einen Frengi und zogen beſchämt ab.

Bom Kaimalam begab ich mich zu Methodij, dem Bladifa, an den id empfohlen war. Hier brachte ich mein Anliegen wegen bes Bejuches der Biblothek vor. Sofort wurden die drei Epitropen (Verwalter der Bibliothek) hercitirt und zugleich bot mir der PVladifa feine Wohnung ftatt des primitiven Chang an, was ich nach einigem Sträuben gern annahm. Ich erhielt ein pradjtvolles, ganz europäiich eingerichtete8 Zimmer mit einem bequemen Sefretär, an dem id) abends behaglich arbeiten konnte. Inzwiſchen waren die Epitropen, jeder mit feinem Schlüſſel bewaffnet, angerüdt; ohne dieje brei und ihre drei Schlüffel läßt ſich nämlich das Eifenthor der in einer Parekkleſie (Sapelle) der Kathedrale untergebrachten Bibliothek nicht öffnen. Der Erzbifchof und die Verwalter be- ftätigten mir, daß der Koder des Heiligen Klemens längft verloren fei und fie nur eine Kopie beſäßen. Aus Konitantinopel hatte man mir gejchrieben, der wahre Kodex jei in den Händen einer ferbilchen Yamilie, die ihn ſehr ängitlich hüte und mich wahrjcheinlih nur auf jehr gute ſerbiſche Einpfehlungen Hin zu- laflen werde. Auf weitere Anfragen nad den Namen der Familie fonnte ich

228 Die Zukunft.

feine Auskunft erlangen; vielmehr wurde mir mitgetheilt, daß ber Koder wahr- Iheinlih im Belig der Familie eines angejehenen bulgariichen Gelehrten Bodlev jei, der fih viel mit der Geſchichte des Watriarchates bejchäftigt habe. Die Familie war aber während der Unruhen aus Ochrida ausgewandert. Vielleicht jet die Handjchrift in Athen, wo ein grägilirter Verwandter Potlis Minifter gewejen war. Wieder Andere fagten, ich fände ihn bei der Familie Robev in Monaftir. Dort erfuhr ich, daß bei dem Tode des alten Robev bie Familie alle in ihrem Befig befindlichen Lirfunden zu Geld gemadt habe. In Salonif jagte mir endlich einer der erften Kenner der bulgarifchen Geſchichte und ber makedoniſchen Berhältniffe, Herr Schopoff, daß die ochridener Pelzhändler, die ion lange alljährlich die Leipziger Meſſe bejuchen, zum Theil in Leipzig fich angefiebelt und der dortigen griechifch-orthodoren Gemeinde ſich angeichloffen Haben, während der kirchlichen Unruhen in den fechziger Jahren den Koder nad) Leipzig gerettet hätten. Ob er freilich dort noch vorhanden oder an eine deutjche oder engliſche Bibliothek verkauft worden jet, wife er nit. ch war recht nieber- geichlagen. Ich reile durch die halbe Türfei auf der Suche nad einer Hand⸗ ſchrift, die vielleicht in einer dreiftündigen Eiſenbahnfahrt vom heimathlidhen Jena aus zu erreichen gewejen wäre. Man begreift, daß ich mit geringen Hoff⸗ nungen den Stirchenberg beſtieg, um oben im der Bibliothek nachzuforſchen. Da der dritte Epitrop mit feinem Schlüffel ung warten ließ, durchjtöberte ich einft- weilen das bulgariſch geichriebene Handſchriftenverzeichniß. Da fand ich auch den „star kondix“, die alte Handfchrift, eben die Stopie des Klemenskoder, von ber mir längſt gejprochen worden war. Endlich wurde mir die Handidrift, ein roth gebundenes Bud, überreiht. Als Studirzimmer wurde mir eine äußerſt zugige, ſtaubige und finftere Seitenhalle der Stiche angewiefen. Wer beichreibt nun mein Erſtaunen, als ich beim Blättern im Kodex die grünen Original» unterfchriften der Patriarchen eine faijerliche Goldbulle hat ihnen feierlich das Privileg, mit grüner Tinte zu fchreiben, verliehen und eben fo die fünft- li verſchnörkelten Unterfchriften der Bilchöfe im Original vorfand! Was ich vor mir hatte, war feine werthloje Kopie, fondern der lange vermißte und ſchmerzlich geſuchte Kodex felbit. Ich konnte meine Freude nicht bergen: ich zeigte den beiden Epitropen den Kodex und wies auf die einzelnen Merkmale der Echtheit hin. Beide, die vortrefflid) griechiſch ſprechen und die griechiiche Kanzleiſchrift des ſiebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts geläufig lefen, über- zeugten jich jofort von der Nichtigkeit meiner Beobachtung und waren mit mir erfreut. Ich bat fie, dieſen Schatz als ein wahres Kleinod der Kirche von Ochrida treu zu bewahren und niemals aus ihren Händen zu laſſen. „Dafür ift geſorgt“: erwiderten fie; „wir willen jeßt, was wir befigen, und ohne unfere drei Schlüffel kann Niemand an den ftoder heran.” Den größten Tyeil meines Aufenthalt” verwandte ich auf Abſchreiben und Nergleichen der koftbaren Handſchrift. A nächſten Tag wurde mir ein bedeutend menſchlicherer Studienraum, ein hell und luftiges Zimmer in der Schule, angewiejen. Einer der Epitropen hai. fi in der zugigen Kapelle einen jtarfen Nheumatismus zugezogen und deshal dieſe Ortsveränderung veranlaßt. Hier arbeitete fidh3 gut, außer am legtr Tage, wo fi) immer neue Störungen einjtellten. In ganz Ochrida war kei: Photographie der Klemenskirche aufzutreiben geweſen; ein griechiicher Photogra'

Ochrida. 229

bot ſich deshalb an, ſie für mich aufzunehmen, unter der Bedingung, daß ich ihm ſechs Exemplare abkaufe. Plötzlich erſchien der Direktor der Schule, mit der Meldung, der Photograph ſtelle eben ſeinen Apparat auf. Ob es mich nicht freuen würde, wenn die Schuljugend ſich maleriſch davor gruppire. Natürlich mußte ich für dieſe gut gemeinte Freundlichkeit gerührten Herzens danken, obwohl ich lieber eine Photographie der Kirche ohne Jugend beſeſſen hätte. Ich arbeitete ruhig weiter, bemerkte aber eine ſonderbare Unruhe unter den Anweſenden. Zehn Cigaretten rauchende Männer bildeten mein regelmäßiges Gefolge. Einige entwichen jetzt; ich errieth die Gedanken der Anderen. „Wir ſollten auch zu—⸗ ſehen, wie die Schüler ſich aufſtellen“, ſagte ich. Wie elektriſirt ſprang Alles auf, das Schulzimmer wurde verſchloſſen und wir gingen auf die Esplanade, wo faſt drei Viertelſtunden lang bald die Lehrer und Lehrerinnen, bald der Photograph an den Kindern herumordneten, bis die Gruppe maleriſch wirkte. Ich ſaß wie auf Kohlen: denn meine Arbeit war nicht vollendet und die Zeit wurde immer knapper. Die Photographie iſt natürlich etwas grotesk ausgefallen; den ganzen Vordergrund nimmt eine Garnitur von Kinderköpfen ein. Endlich konnte ich wieder an meine Arbeit gehen, aber unter vermehrten Hinderniſſen. Als neue Beſucher hatten ſich vier Lehrerinnen eingeſtellt, die zuerſt mit der Damen eigenen Rückſichtloſigkeit all meine Kopien und Hefte ungenirt durchmuſterten und durcheinanderwarfen und dann die freie Zeit zur Abhörung eines franzöſiſch— Bulgarifhen Ollendorf benugten. Nun erſchien noch ein Beamter der Dette Publique Ottomane, ftellt ınir einen mir gänzlich gleichgiltigen vornehmen Türfen vor und fragte mid) jehr liebensmwürdig, ob id; Empfehlungen nad) Korytza wolle. Jetzt war aber meine Geduld zu Ende; ich dankte beftens, da ich mit diefen reichlich verjehen und beim Müteſſarrif (Negirungpräjidenten) ſchon duch den Kaimakam telegraphifch angemeldet fei. Ich brauche nichts als freie Zeit zur Arbeit in Ochrida. Der Edle verjtand diefe unzarte Neußerung und jchied ver- wundeten Herzens. Endlich konnte ich meine Stopie beenden.

Deinem Finderglüd jollte aber noch ein anderer Erfolg bejchieden fein. In Konſtantinopel Hatte ich, wie Schon 1899, ben gelehrten Metropoliten von Amafia, Anthimos, befucht, der ſich viel mit der Geſchichte von Ochrida abgegeben hatte. Er jagte mir, es gebe zwei Kodizes des Heiligen Stlemend. Niemand mußte davon. Allerdings fehlten in dem rothen Bud) die vier erften Urkunden; doc ih nahm an, jie ſeien feit der Beit, da der alte Bodlev fie kopirte, herausge- rijjen worden. Auf meiner fpäteren Reife wo, darf ic) nicht Jagen brad)te mir abends eine ‚ran michrere Handichriften zur Anfidt. Sie waren meijt laviich, alfo für mid) ohne Intereſſe. Sie zeigte mir aber aud) einen in Leder gebundenen Kodex von nur jechsunddreigig Seiten. Vorn fand id) gerade die vier fehlenden Urkunden mit den Falligraphiid meiſterhaft ausgeführten grünen Unterjchriften der Patriarchen. Es war das Exemplar, das Erzbifchof Meletios am erjten Mai 1677 laut eigenhändiger Einzeichnung der Kirche von Ochrida gewidmet hatte und das aus unbekannten Urſachen mit dem ſchon erwähnten rorhen Bud) ver: taufcht ward. Gern hätte ich den Kodex envorben und auch einen anfehnlichen Kreis gezahlt. Doch die Frau, die Tochter des Beſitzers, erklärte, vorn in dem Buch jtehe ein fürchterlicher Zyluch eines alten Erzbilchofces gegen jeden Verfäufer des Buches und ſchon um ihrer Kinder willen könne fie jo Etwas nicht thun. Ihr

230 Die Zukuuft.

Großvater, ein ſehr vornehmer Mann, deſſen Nachlommen jeßt freilich in äußerfter Dürftigkeit leben, babe feinen Kindern auf die Scele gebunden, ben Kober nic zu veräußern. Er werde in einer fpäteren Zeit einft große Bedeutung erlangen. Es iſt intereflant, zu ſehen, welche gewaltige Wirkung der kirchliche Bann auf die Semüther des orthodoren Volfes übt. Als ich in dem Athoskloſter Zografu hauſte, erſchien als Exarch des Patriarchen mein verehrter Freund, Biſchof Jo hannes von xanthopolis. Er hatte eben die Olymposklöſter beſichtigt. Ich fragte ihn, ob die Neife nach dem Olympos nicht gefährlich ſei. „Gewiß; nur nicht für ung; denn die Klcphten fürchten unfere Fläche.“ Dieje Räuber ftrahlen nämlich im Lichte makelloſeſter Orthodoxie.

Meletios hat thatjächlich feiner Widmung den Sag angefügt: „Wer ign zu entwenden verjucht, er fei, wer er wolle, von Mißgunſt und Bosheit ge- trieben, Der unterliegt dein ewigen Bannfluch.“ Das waren die Worte, die der Frau das Entjegen eingeflößt hatten. Vergebens ftellte ich ihr vor, daß diejer Erzbiichof ein grundfchlechter Menſch geweien fei. Auch fei fie und ihre Familie dem Fluch ſchon verfallen; denn der Koder gehöre dem Heiligen Klemens, fie müſſe ihn aljo in die Klemenskirche oder, wenn fie Patriarchiſtin fei, nach Kruſchewo an den Metropoliten Anthimos*) bringen. Doch für dieſe ihren Finanzen höchſt ungünſtige Exegeſe beſaß die fromme Frau nicht das mindelte Verſtändniß. Immerhin lieh fie mir gegen Entrichtung von zwölf Francs den Meletiosfoder für eine Nacht, in der ich alles in Betracht Kommende forgfältig kopirte. Diefen Kodex hat feit Bodlev und Anthimos, alfo ſeit 1866, Niemand ge- ſehen; feine Wiederauffindung bereitete mir daher eine ganz bejondere Genugthuung.

Vor meinem Abfchied von Ochrida fchenkte ich der Schule, um mid) bein Erzbiſchof für feine Gaftfreundfchaft dankbar zu erweijen, eine anfehnliche Spende. Die Epitropen, die zugleih als Schulvorjtände fungiren, lobten mid deshalb; fie erzählten mir aud) von der furchtbaren Armuth der ochridenijchen Bevölkerung, die geradezu ans Unglaubliche grenze. Induſtrie giebt es dort nicht. Die Bürger find nur fleine Handwerker, Krämer oder einfache Aderbürger. Da Eifenbahn- berbindungen fehlen, erzielen die Üüberreichlich gedeihenden Yandesprodufte, Früchte und Wein und die Fiſche des Sces, nur niedrige Preife. Ich antwortete, das Elend ſei ja Jedem fihtbar; um jo weniger könne ich aber begreifen, daß man aus thörichtem nationalen Chauvinismus den Unterricht im Griechiſchen aufge- hoben habe. Griechiſch als allgemeine Verkehrsſprache habe für den Often die jelbe Bedeutung wie Franzöſiſch für Wefteuropa. Ein armer bulgarijcher Burſche, der griechiich rede, Eönne in der europäiſchen und afiatifhen Türkei, im freien Stönigreich Griechenland oder in Egypten leicht eine Stellung befommen, während Einer, der nur bulgariih rede, zu Hauſe verhungere. Die Antipathie gegen die Griechen jei beim lebhaft entflammten Nationalitätenhader vor dreißig Jahren verſtändlich geweſen. Beute fchnitten fi die Bulgaren mit ihrer Ausſchließ— lichfeit mur ing eigene Fleiſch. Tie Herren fchienen meine Worte nicht gern zu hören; aber Stihhaltiges wuhten fie dagegen nicht vorzubringen. Als fie

*) Seit der Kirchenſpaltung giebt es zwei Dtetropoliten don Ochrida= Prespa; der bulgariiche fit in Ochrida, der griehiiche in Kruſchewo, einer, wie ſchon der Name zeigt, urbelleniichen Stadt.

Iſadora Duncan. 231

wir fagten, in den höheren Klaflen des bulgariiden Gymnaſiums zu Monajtir werde Griechiſch gelehrt, erwiderte ich: Das iſts eben; den Gebildeten Hilft man; aber den ärmſten Söhnen ber unteren Schichten des Volles wird das noth- wendigfte Mittel für ihr Fortkommen vorenthalten. Es iſt eine fchwierige Auf- gabe, in Makedonien mit den verjchiedenen Bevölkerungſchichten über die politifchen Tagesfragen zu reden. Wer nicht entweber fanatifch philhellenijch ift oder mit den Bulgaren durh Did und Dünn geht, iſt auf beiden Seiten ſchlecht ange- ſehen. Auch der vorjichtigite Diplomat feßt jich leicht zwifchen zwei Stühle. Ich habe mich von Anfang an gewöhnt, wenn ich über meine Eindrüde befragt wurde, ſchonend, aber ohne Bemäntelung des Thatbeftandes die volle Wahrheit zu jagen, und ich muß bekennen, daß meine rüdhaltlojen Aeußerungen namentlid) von den Griechen faft immer gut aufgenommen wurden.

Rom. Profeſſor D. Dr. Heinrich Gelzer.

Dr

Sfadora Duncan.

SR Provokation des auf Zricotbeine drefiirten Geſchmackes ift da8 Tanzen mit nadtem Unterförper jicher ein guter Einfall. Es fieht von fern aus wie eine Steigerung des erotifchen Reizes und ijt doch eine Veredelung. Und des Erfolges gewiß ift auch die fünftlerifche Idee, woraus der intellef- tuell gefundene, fpäte Paradiesgedanke hervorging. Diefe dee ift mit der Entwidelung der modernen Malerei von felbft gereift; Mit Duncan bat ſie fih nur Hug und im rechten Augenblick angeeignet und einen vollen Erfolg damit errungen. Gelingen fonnte e8 nur einer Dame, die mit der Salon- äfthetif der Großbourgeoiſie vertraut ift, die Wandlungen der bildenden Kunſt und ihres Modewerthes in diefen „tonangebenden“ Kreiſen miterlebt hat und Flug genug ift, praftifche Schlüffe zu ziehen. Leider fiehen die Vorzüge der gebildeten Dame nun der Tänzerin im Wege. Gie ift jehr unterrichtet ſogar Schopenhauer weig fie zu citiren —, fehr zugänglih für fanfte äfthetifche Reize, hat auf dem Wege über die Selefta den Werth des „Naiven“ erkennen gelernt und ift nicht frei von der fünftlerifchen Nafchfucht der ganz modernen Dane. Das Alles macht die Beine nicht leihter. Doch hat fie ih genug ſchöne Sraulichkeit bewahrt, um ihre Darbietungen neuroman- tifcher Aeſthetik mit Natürlichkeit zu würzen und fo eine gewiſſe Zuftimmung au vom Sfeptifer zu erzwingen. Der allgemeine Beifall aber beweift, dat; die Großſtadtgeſellſchaft für verfeinette Schaugenüffe fchon empfänglicher ge- worden it und da eine fünftlerifche Gourmandiſe, die ſich gern äfthetifche Kultur nennen hört, die brutale Wintergartenkoft abzumeifen beginnt.

232 Die Zukunft.

Iſadora Duncan tanzt moderne Malerei: Leighton, Alma Tadema, Burne-Jones auf dem Umwege über Botticeli —, Besnard und Ludwig von Hofmann. Diefe Erwedung einer weiblich gräziſirten Puriftenfunft zu Tanzformen fonnte man vorausfehen; die literarifchen Paralleltalente iind längft ja fchon Anreger der höheren Barietefunft geworden und die Sturm und Drangperiode der neuen naturaliftifchen Lyrik endete auf den ftolzen Höhen der Ueberbrettl. Der Umftand, daß diefer Kunittanz der Amerikaneriu durchaus Ergebniß aus überreifen äfthetifchen Werthen jener zum SKunit: gewerblichen neigenden Richtung der neuen Malerei ift, bekräftigt wieder cin- mal die Erfahrung von dem feierlich felbitgefälligen Krebsgang des regirenden Kunftempfindend. Das Letzte wird vorweggenommen und dann geht die Ent- widelung rückwärts zum Primitiven, mit franfhafter Genußfucht in Selbft- fhau verfunfen und das Fünftlich konſtruirte Urfprüngliche mit dem Tand einer werihlofen, äfthetifch gligernden Empirie ausftaffirend. Wenn biefer Weg weiter beichritten wird, könnte ein Kreis ber „Zeinften und Reifſten“ eines Tages bei einer tief ſymboliſchen Phallusverehrung anlangen, da, wo die griechifchen Ahnen im Barbarendunkel ihre Selbftzucht begannen.

Aus Tanz und Tanzgefühl ift jede Kunft hervorgegangen, die bildende und dichtende, die architeltonifche und mufilalifche. In der wilden Seele des Dionyfostängers kochten ale Möglichkeiten künftiger Kunftentwidelung unter dem Feuer einer ftürmifchen Lebengleidenfchaftl. Der Lanz und fein Sind, die Schaufpielfunit, laffen allein für die KHünfte des Aaumes und der Zeit eine Synthefe zu. Hier arbeiten die Organe, die fpäter von den Einzel: fünften beanfprucht werden, einträchtig zuſammen und feit ſchließt fich der goldene Lebenskreis im glüdhaften Univerfalgefühl. Bon diefem Mittelpuntt haben ji die Künfte mit centripetalem Schwung gelöft; feurige Linien be- zeichnen die ftolgen Erfenntnigfurven ihrer ich ermeiternden Bahnen. Nie war der Tanz die tiefite, die wichtigite der Künſte, ftet3 aber die urfprüng: lichjte. Seine höchſten Formen findet man bei Völkern, die noch auf Morgen ſtufen weilen, deren noch intelleftuell gebundene Lebenskraft nad Expanſion ftrebt, die im jungen Dafeinsraufch jubelnd mit allen Schredniffen der Welt jpielen. Die Werdenden tanzen, die Wachjenden und Hoffenden. Nah Art und Weſen der Tanzleidenfchaft meſſe man die Kulturkraft einer Gefammt: heit. Man wird finden, daß nur das niedere Volk, aus dem die Zahl der führenden, der unternehmenden Bildnerintelligenzen hervorgeht, in dei Scele ih vulkaniſch imjtinktiv äußert, was Später zur Erkenntniß—- u. Herrſchfähigkeit im Individuum ausreift, dionyifch auf dem Markt, bei de Weinleſe, im Tempel zu tanzen umd die Beziehungen der Gefchlechter zu entflanmen weig. Wir Kinder einer müden Zeit aber, mit unferen enge Zanzfülen, wo die Paare id) fo artig und langweilig drehen, der Tar

Iſadora Duncan. 233

meiſter auſpaßt, daß die Röcke nicht zu wild fliegen, mit unſerem Ballet⸗ graus auf den Schaugerüſten dürfen über das Weſen des Tanzes eigentlich kaum noch mitreden. Manchmal freilich, wenn uns ein wilder Nationaltanz vorgeführt wird, zuckt und juckt es uns in den Beinen, unruhig rücken die Mädchen auf ihren Sitzen und werfen feurigere Blicke: der Urtrieb regt ſich leiſe unter den Stahlmiedern der Civiliſation.

Von der Art, die Solches bewirkt, iſt der Tanz Iſadoras Duncan nicht. Ruhig und kritiſch beſchaut man ſich die Gelegenheit, freut ſich über ſchöne Stellungen und Faltenbildungen des Gewandes, findet das Bein der Tänzerin eiwas muskulös, Knie und Fuß ſchön, den Gang noch nicht ganz von der Unbeholfenheit befreit, die entiteht, wenn an Fußbekleidung Gewöhnte barfuß gehen, und die Haltung nicht durchaus ungezwungen. Das find Dinge, die man nicht fpürte, wenn Einem felbft tänzerlich zu Muthe würde. Zu oft wird man an die Kehrfäle der Kunſt, an Bild und Statue erinnert; das Schöne ergiebt fih nicht organisch als Blüthe der Leidenſchaftlichkeit, fondern bleibt Produft der Hug fünftelnden Abiicht. Der Gedanfe, Botticelli und dann wieder einen ganzen Abend Chopin zu tanzen, ift gar jo fchrediich gebildet. Immerhin könnte es reizende Deflertgenüffe geben, wenn Muſik und Tanz zur Einheit würden. Miß Duncan verfündet zwar die Abſicht, mit jeder Körperbewegung einen Tonwerth zu entſprechen; doch nimmt fie die Aufgabe viel zu doltrinär; ſie fchafft viele nicht einmal harakteriftiiche Theile, die vom Temperament aber nicht verbunden werden. Es ift, als wolle Jemand einer fertigen Melodie den er- Härenden Text dichten. Das kann gelingen, ift aber nicht da8 Natürs liche; denn das Wefen der Melodie beiteht darin, daß fie, von einem aus- gehend, viele Texte zuläßt, weil jie nicht einen beftimmten Cinzelfall des Gefühles malt, fondern das Urweſen der Gefühle überhaupt. Eben fo läßt eine Mufif viele Zanzmeifen zu. Vol entſpricht einer Melodie niemals eine beftimmte Yorm leibliher Dynamis; e8 kann nur darauf ankommen, die Grundempfindungen der Muſik nachzuerleben, ihren Charakter intuitiv zu erfaſſen und aus ſolchem erregenden Erlebniß heraus dann naiv zu tanzen. Das Tanzen bleibt die Hauptſache; die mimifchen Elemente müſſen in rhyth— mifche Stilformen gebracht werden. Der Amerikanerin fehlt zu oft dieſes Wichtigſte, weil fie von der Ueberlegung, nicht vom natürlichen Tanzgefühl ausgeht. Die Muſik ijt meift um zwei Takte voran und die Tänzerin fucht mimiſch zu erklären, wa3 fchon vorbeigeraufcht ift. Auch bleibt die Dar- ftelung im Maleriſchen und Blaftischen fteden. Die einzelnen Poſen und Bewegungen find anmuthig, aber afademifch langweilig; nicht charafteriitiich, fondern ſüßlich äfthetiich. Nur die Grenze des Banalen wird glüdlich ver- mieden. Eine gute Figurantin, aber eine mittelmäßige Tänzerin. In zwei

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231 Die Zukuuft.

Walzern Chopins gab fie mehr; hier zwang der energifche Rhythmus fie endlich einmal zum Tanzen. Die feinen, leichten Walzerweifen fagen ihrer innigen, aber leidenfchaftlofen Frauennatur zu, die Igrifche Lenzluft der Muſil klingt in ihr lebendig wieder, man merkt endlich einen inneren Zwang zur Tanzfäligkeit, und das Ergebnig ift eine fein gefaßte, erfreuliche Kunſt. Hier fommen denn auch die Gewandwirkungen zu befter Geltung; ein Städ Griechenthum fcheint auf Minuten lebendig geworden und die ſchöne Dyna⸗ mis zeigt folche Fülle von Bildern, daß unfere neurömifchen Bildhauer Motive für ein halbes Dugend Ausftelungen gewinnen können.

Echade, daß die Dame nicht mehr Temperament hat! Man wünſcht ihr Etwas von der frech lieblichen Gaffenjungenmwildheit der Saharet, Etwas von den fjüdlichen Feuer der Dtero, Einiges von der techniihen Schulung der Del’ Era und recht viel auch von dem Fultivirten Schaufpielervermögen, da8 Sada Yacco in ihren feltfamen Tänzen erkennen ließ. Das Alles wird fih wohl in einer Berfönlichkeit unferer Zeit nie zufammenfinden, weil jede einzelne Gabe Heute ſchon ein Phänomen ift und Fünftlerifcher Univerfal: inftinft nur in Frauennaturen reift, die aus lebendiger Tradition und drängen: der Volkskultur ſchlank herauswachfen. Alles Einzelne kann die intelleftuelle Tänzerin, wie Iſadora Duncan eine ift, nachahmen und die Nuance mag der Analyfirenden oft prächtig gelingen; aber zur Synthefe befähigt doch nur die große, tiefe, poetifche, ſich an ſich felbft entzündende Lebensleidenſchaft, die e8 zum Gebären neuer Werthe drängt, in der alle Möglichkeiten künftiger Entwidelungen als Hoffnungsgefühl und Wachsthumsinſtinkt embryoniſch ruhen, die mit dem in Rhythmen fehwelgenden Leibe anbetet und den Trieb fühlt, in dionyſiſchem Taumel, in korybantiſchem Entzüden den. Tod zu er: tanzen, der Lerche gleich, die in kriftallenen Himmelshöhen fingt und jubilirt und am Uebermaß des Singen ftirbt. Aber folche Tanzluft Fennt ein Bolt nur in der Jugend; wir müffen, in einer greifenhaften Civilifation, dankbar fein, wenn eine Fuge Aefthetin ung in geiftvollen Verjuchen zeigt, was fein könnte. Sie wedt die Schnfucht nach einer Schönheit, die Gefundheit, nad) einer Lebensluft, die Schönheit ift; und eine gute Sehnfucht zu wecken, ift eine lobenswerthe That.

Friedenau. Karl Scheffler.

Bodenſpekulation und Wohnungnoth. 235

Bodenſpekulation und Wohnungnoth.

—7 Me dem Einfluß ber fozialiftifhen Anſchauungen, wie fie ſich namentlich

in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts entwidelt haben gleichviel ob fie von den radifalen Gegnern der beitegenden Staats: und Wirthſchaftordnung oder von Solchen ausgingen, die auf dem Boden des geltenden Rechtes bie wirthichaftliche Freiheit des Individuums zu Gunſten der Allgemein- beit einſchränken wollten —, wurde jcharfe Kritik geübt an den Grundanjchauungen der großen englifchen Nationaldöfonomen, die gegen Ende des achtzehnten Jahr⸗ hundert3 das Evangelium der ungehinderten Entfaltung aller wirthſchaftlichen

Kräfte gelehrt Hatten. Und diefe Kritit richtete ſich hauptjächlich gegen den freien

Individualbeſitz am Grund und Boden. Mehr ınit der flammenden Beredſam⸗ feit idealer Begeijterung ald mit Argumenten, die überall einer fühl abwägenden Kritit Stand halten, Ichrieb Henry George jein Buch „Progress and poverty“, das jenfeit3 und diesſeits des Ozeans einen tiefen Eindrud Hinterließ und noch beute in den Beitrebungen der Bodenbrfißreforiner nachwirkt. Während aber bier der Individualbefitz an Grund und Boden jeder Art als die Quelle alles wirthfchaftlichen Uebels auf Erden belämpft wird, wenden ſich Andere gegen bie private Ausbeutung des ftädtifchen Bodens. So betont Adolf Wagner, daß der jtädtifche Befiß anderen Gefegen unterliege als jonftiges Grundeigenthum und daB deshalb ihm gegenüber cine befondere Stellungnahme gerechtfertigt fei; und jelbjt ein radilaler Individugliſt wie Faucher weilt einfchneidende ftaatliche Maßnahmen zur Befchränfung des ſtädtiſchen Bobenbefiges nicht ab.

Die ftädtliche Bodenfrage wurde namentlih in Deutichland brennend, als nad) den großen politischen Ummälgungen von 1870/71 ein ungeahnter wirth: ſchaftlicher Aufſchwung begann, ber, nur unterbrochen durch gelegentliche Kriſen und Depreffionen, bis ang Ende des Jahrhunderts dauerte. Mit dem lm: wandlungprozeß, den Deutichland vom Agrar: zum Induftrieftaat durchmachte,

"ging ein bis dahin noch nie gefehenes Anwachſen der Großftädte parallel. In

dein knappen Zeitraum eines Menjchenalterd Haben Berlin, Hamburg, Köln, Leipzig, Dresden und andere Städte ihre Einwohnerzahl verdoppelt und ver- dreifaht. Die ftädtifche Bevölkerung Deutichlands ftieg von 1871 bis 1900 von 15 auf 30 Millionen, die Gefammtbevölferung nur von 41 auf 56 Millionen, jo dat faft der gefammte Zuwachs den Städten zuzurechnen ift. In biefen raſch anwachſenden Großjtädten ward der dein Einzelnen zur Verfügung ftehende Wohnraum immer fnapper; eng und enger fchloffen ſich die Häuſerreihen; Heiner wurden die Höfe; die Bärten verfchwanden umd immer höher in die Luft hinauf ragten die jteinernen Maſſen. Die Bewohnerzahl eines Haufes fticg nod) von 1880 big 90 in Berlin von 44,9 auf 52,6, in Charlottenburg von 17,8 auf 37. ungleich fteigerten fi die Mieten in Berlin auf den Kopf der Bevölferung von 103 Markt im Jahr 1870 auf 165 Mark im Jahr 1890 —, und zwar am Meiſten für die Heinen Wohnungen der Armen. In wahrhaft erfchredendem Mae zeigte ſich die Nichtigkeit des Geſetzes, daß die Wohnungmiethe einen um jo größeren Theil des Einkommens beanjprucht, je geringer dieſes Einfommen: ift.

Iſt es unter diefen Umjtänden wunderbar, daß die denfenden Köpfe des Voltes der Wohnungfrage mehr und mehr ihre Aufmerkſamkeit zumandten, daß

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236 Die Zukunft.

Männer ber Theorie und der Praris, Nationalöfonomen und Politifer, Beamte und Gewerbetreibende, Arbeitgeber und Arbeitnehmer fih mit ihr befaßten und eine Literatur entitand, wie fie in gleihem Umfang faum ein anderes Gebiet der Nationalöfonomie aufzumweifen bat? Unterfuhungen und Enqueten förderten eine Fülle neuen Dlateriales zu Tage; es jei nur an die auch hier vielfach be- nußten Unterfuchungen des Vereins für Sozialpolitif erinnert. Daß bei der Fülle des Materiales und der Literatur ein Wirrwar einander entgegengejeßter Meinungen ſich bemerkbar macht, ift begreiflich. Die Uebel, die es zu befämpfen gilt, find mannichfacher Art und ihre Urſachen find fo fomplizirt, daß auch die Wege, die eingeichlagen werden, um Hilfe zu bringen, weit auseinander gehen müſſen.

Eins aber mußte Jedem, der ſich mit der Entwidelung ber ftädtifchen Boden- und Wohnungverhältniiie auch nur oberflächlich befaßte, auffallen. In bem jelben Maß, wie die Städte anwudjen, der Wohnraum enger, das Wohnung» elenb größer wurde, ftiegen die Preije des ftäbtifchen Bodens. Und der ojt in die Millionen gehende Gewinn aus diefer Preisfteigerung fiel einer relativ Kleinen Anzahl glüdlicher Srundbejiger fat mühelos in den Schoß. Was war da natür- lider, al3 einen urſächlichen Zuſammenhang zwifchen diefer Preisfteigerung und der Wohnungnoth zu konſtruiren und die Preisfteigerung für die Wohnungnoth verantwortlich zu machen? In den Großjtädten Hatte fih ja ein förmliches Ier: zainfpefulantengewerbe ausgebildet. Auch Hier, wie überall, wo es Etwas zu verdienen gilt, fehlte es nicht an dunklen Ehrenmännern und unlauteren Mani— pulationen. So mag mandmal der Gewinn des Bodenjpelulanten moraliid anfechtbar fein; und auch da, wo unſaubere Machenſchaften vermieden werden, haftet leicht und mühelos erworbenem Gewinn in den Augen PVieler ein gewiſſes Ddium an. Wer aber an die Unterſuchung wirthichaftlider Vorgänge Heran- tritt, ſoll fi den Blid nicht durd) Voreingenommenheit trüben lajfen.

Da wäre zunächft denn zu fragen: Was ift Bodenfpefulation? Schon bier finden wir eine gewiſſe Unklarheit in der Auffafjung des Begriffes. Lin Beilpiel diene zur Erläuterung. In der nächſten Umgebung großer Städte findet man zahlreiche Gärtner angefiedelt, die ihr Kleines Beſitzthum ererbt oder auch vor langer ‘Zeit angekauft haben und dort ihr Gewerbe treiben, ohne an cine Beräußerung zu denfen. Inzwiſchen riden die Straßen und Häufer der Stadt bis an ihren Garten heran, der jest als ftädtiiches Bauterrain einen vielfad erhöhten Werth erhält und jeinen Befiter zum reihen Mann madt. Dieter Fall ift, wie Jeder weiß, nicht vereinzelt, jondern typiſch; in unſerer modernen belletrijtiichen Literatur ift der reichgewordene, ungebildete und protzenhafte Bor: ortsbauer ja ſchon eine bekannte Geſtalt. Dat diefer Mann, der doch durch die Perthiteigerung feines Bodens reich geworden tft, Bodenfpelulation getrieben ? Kein. Auch einen Gntsbefiger, der ſein Getreide nicht fofort nad) der E losſchlägt, ſondern günſtige Preiſe abwartet, nennt man ja niddt einen K jpefulanten. Dieſer Vergleich mag hinken, weil es fi bei bein Getr verlauf immer nur um .einen Enapp begrenzten Jeitraum handelt; aber auch ei Kunſtliebhaber, der das vor vielen Jahren billig envorbene Gemälde ein zwischen berühnm gewordenen Meifters mit Gewinn an ein Muſeum ver. nennen wir nicht einen Bilderipefulanten. Zum Begriff der Spekulatior hört eben, dag beim Erwerb einer Zache die Abjicht vorliegt, fie mit Ger

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zu veräußern. Dem entjpricht aud die Definition, die Rudolf Eberjtadt giebt: „Als Spekulation im kaufmänniſchen Sinn definire ich die Geſchäftsabſicht, die die gehandelte Sache weder zu eigenem Gebrauch noch zur gewerblichen Thätig- feit erwerben ober befigen will, jondern lediglich zu dem Zweck, an der Preis⸗ änderung (fei ed nad) oben oder nach unten) einen Geldgewinn zu maden.” Diefe Definition dürfte der allgemeinen Anficht entipreden. Wenn nun biefe eigentliche Bodenſpekulation in Wirklichkeit eine der weſentlichſten Urfachen der Wohnungnoth ift, müßten durch fie die Preife des ftädttichen Bodens zu einer Höhe getrieben werden, die fie ohne ihr Eingreifen nicht erreichen würden. In diejem Sinn ſprechen auch Bed, Brandt, Udides übereinftimmend „von ber preisvertheuernden Wirkung einer ungejunden Spekulation”; Bed jagt ausdbrüd- ih: „Die Spekulation bewirkt eine weitere Vertheuerung des ftädtifchen Grund» eigenthumes um ben jeweiligen Gewinn eines jeden Beſitzers.“

Nehmen wir nun als Beilpiel einen anderen Tall. Der Gärtner wartet nicht ab, bis die Bebauung der Stadt an jein Beſitzthum heranrückt, fondern verfauft es ſchon vorher an einen Sapitaliften, der es nach einiger Zeit mit Gewinn an einen Bauunternehmer weiterverfauft; in diefer zweiten Transaktion ift zweifellos eine Bodenjpefulation zu fehen. Iſt nun aber für die Frage der BVertheuerung- des ſtädtiſchen Bauterrains zwiſchen beiden Fällen ein Unterſchied? Doch wohl nicht; denn ob A. 100000 oder A. und B. je 50000 Darf verdient haben, ift für den leßten Erwerber völlig belanglos.

Ferner wirb hervorgehoben, die eigentliche gewwerbmäßige Spekulation halte baureifes Terrain in der Erwartung jpäterer größerer Gewinne von der Bebauung zurüd. Sin diefem Sinn ſpricht X. Stübben von den Auswüchſen der Spefu- lation und nennt als ſolche „Beichränkung ftatt der Bedienung des Marktes, Hinderung der Bauthätigleit ftatt ihrer Yörberung, Lahmlegung des Wettbe werbes, Monopolbildung, Bodenwucher.“ Hat fih in Wirklichfeit eine folde Beſchränkung und ‚Zurüdhaltung bes Baulandes in nennenswerthem Maße ge- zeigt? Wenn irgendwo, jo müßte fie wohl in Berlin fichtbar jein, denn nirgends ift der Werth des ftädtiichen Bodens in ſolchem Maße geftiegen wie hier. Andreas Voigt berecinet nach den Angaben des Statiftifhden Amtes der Stadt Berlin dieie Steigerung auf den Kopf der Bevölferung von 63 Mark im Jahr 1830 anf 1176 Mark im Jahr 1898. Und dod wird man faum behaupten Tünnen, day in Berlin Diangel an verfügbarem Bauterrain je vorhanden war. Selbſt Eberſtadt, der die berliner Bodenfpefulation ſchroff verurtheilt, jagt: „Dem Häufer- bau ftehen in Berlin die weitelten Ylächen zu Gebot; von einem Mangel an Bauland ift Hier nirgends die Rede.“ Und wie in Berlin, fo ift es wohl in den meilten Großftädten. Es fommt vor, baß fich in der Bebauung bier und da Lücken zeigen, weil ein Beſitzer für die Verwerthung feines Terraing höhere Preife abwarten will; aber in jo großem Maßſtabe, daß fie einen wefientlichen . Einfluß auf die Preisbildung ausüben könnte, findet man ſolche Zurüdhaltung faum irgendwo. Dan darf fich nicht dadurch täufchen laffen, daß in den äußerften Bezirken größerer Städte Straßen zu ſehen find, wo nur vereinzelte Häufer ftehen. Hier ift in der Argel die Spekulation dem Baubebürfniß vorausgeeilt; das unbebaute Gelände wird nicht gewaltfam durch ſpekulative Befiger der Be- bauung entzogen, fondern ba, wo gebaut wird, gefchieht es, weil ſolche Befiger

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ihre in den Boden geftedten Kapitalien zu früh nugbar nahen wollen. Aller dings Tann dadurch auch der Preis der benachbarten Terrain über feine natürs lihe Werthentwidelung hinaus gefteigert werden; aber man darf nicht über- fehen, daß eine jo unnatürliche Werthfteigerung nicht von Dauer fein kann und thatfächlich nicht ift. In Voigts ſchon erwähnten Angaben über die Entwidelung bes berliner Bodenwerthes zeigt fi von 1830 bid 1875 eine andauernde Preis- fteigerung; am Stärfiten iſt fie in der leßten Epoche, von 513 Mark im Fahr 1865 auf 1538 Mark im Jahr 1875. Dann aber fegt ein Rückſchlag ein bis auf 946 Mark im Jahr 1885. Diele Zahlen find recht lehrreich, denn zwiſchen 1865 und 1875 liegen die Gründerjahre, wo, wie alle anderen Werthe, aud die Bodenwerthe künſtlich und unnatürlich gelteigert wurden. Aber die Reaktion folgte ſchnell und es ift befannt, wie viele Bodenjpefulanten damals zu Grunde gerichtet wurden. An einer anderen Stelle berichtet Voigt, daß in diefer Zeit von etwa dreißig Terraingejellichaften in den berliner Pororten nur fieben den Zuſammenbruch überjtanden. Die Bodenjpekulation ijt eben nicht ein Gewerbe, in dem, wie man oft annimmt, nur Gewinne erzielt werden. Wenn er fih den wirthfchaftlihen Sefegen nicht beugt, wird der Bodenjpefulant eben ſo fchnell vere nichtet wie der wahnwitzige Getreiden oder Kupferſpekulant.

Drag fein, jagt man; von anderen Urten der Spekulation unterjcheivet die ftädtifhe Bodenfpefulation ſich aber dadurch, daß der ftädtifche Boden einen Monopolcharafter beſitzt, da er nicht belichig vermehrbar ſei. Das iſt aber nur zum Theil richtig. In großen Städten fanı für gewiſſe wirthfchaftliche Zwede, deren Erfüllung eine bejtimmte centrale Lage bedingt (Läden, Kontor, Bırreau)

ein ſolches Monopol eintreten; und deshalb wächſt dem Boden in folchen Lagen -

auch Häufig ein unverhältnigmäßig hoher Werth zu. Das fällt aber für die MWohnungfrage wenig ins Gewicht; für Wohnungzwecke tft der ſtädtiſche Boden vermehrbar und wird ftetig vermehrt durch Ilmmaır dlung von Uder in Bauland, durch Unlegung von Straßen und Schaffung billiger und ſchneller Verkehrs— gelegenheiten. Won einem Monopol des ftädtifchen Bodens kann aber auch des⸗ bald nicht die Rede fein, weil die Annahme irrig ift, das für die Ausdehnung der Bebauung erforderliche Terrain werde von wenigen Eapitalfräftigen Speku— Ianten mit Befchlag belegt, die nun wenn auch nicht durch ausdrüdliche Berein- Barung, fo doch thatſächlich einen Ring zur Hochhaltung der Preife bilden. Das ift eine theorctifche Annahme, die in Wirklichkeit wohl nie zutrifft. Auf den Werthzuwachs des Bodens fpefuliren, außer den Leuten, beren Gewerbe die Terrainfpekulation ift, viele Männer und Frauen, die nur einmal bie Gelegen⸗ beit wahrnehmen wollen. Viele von ihnen beabjihtigen durchaus nicht, ihren Beſitz lange zu behalten, fonbern fchlagen ihn gern auch mit kleinem Gewinn an jeden zahlungfähigen Bauunternehmer los. Andere haben mit nur geringer Anzahlung, in der Hoffnung auf baldige Weiterveräußerung, gefauft und fint gar nicht in der Lage, lange bie BZinfenlaft der Hypothefen zu tragen. So kann es fommen, daß die Spekulation gerade das Begentheil Deffen bewirkt, was ihr vorgeworfen wird, daß fie Terrain nicht der Bebauung entzieht, fondern ihr zufühtt. Un diefen Punkt darf auch die Bedeutung der Großipelulation feien es private Unternehmer oder Geſellſchaften nicht unterihäßt werden. Ihre Thätigkeit beſchränkt fi nicht auf den Erwerb des Terrains; große Kapt-

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talien werben verwandt, um es durch Bodenregulitung, Straßenanlagen, Kanali- jation u. |. w. für die Bebauung benutzbar zu machen. Und diefe Vortheile fallen oft einem entfernten Gelände zu, das die Gemeinden auf eigene Koſten noch nicht in die Bebauunglinie Hineingezogen hätten. Hier erfüllt die Boden⸗ ipefulation häufig die volfswirthichaftlich wichtige Funktion, einem jteigenden Bedürfniß durch Vermehrung des Angebotes entgegen zu fommen.

Wenn man aber trogdem von der jchädlichen Wirkung ber Bodenſpeku⸗ lation überzeugt ift, wird die Haupifrage doch immer fein, ob Mittel zu ihrer Befeitigung zu finden find und ob durd Anwendung diefer Mittel auch wirklich der Zweck erreicht wird, der Wohnungnoth zu fteuern. Gicht es folde Mittel nicht, dann haben alle Erdrterungen über Weſen und wirthſchaftliche Bedeutung der Spekulation nur theoretilcden Werth. Als wirkſame Mittel werden von den Gegnern der Bodenfpelulation in erjter Linie Steuern gefordert, die den unver- dienten Werthzuwachs (uncarned increment) des ftädtifchen Bodens treffen und die Bodenpreife verbilligen follen, und zivar Grund: und Gebäudelteuer nad) dem gemeinen Werth ftatt der bisher Üblichen DBeranlagung nad) dem Ertrage, Werth- zuwachsſteuer, Bauplaßfteuer, erhöhte Umjagitener. Das find auch die vom Bunde ber Bodenreformer gejtellten Steuerforderungen. Die Diskufiton Über ihre An— wendung iſt namentlich in Fluß gefommen, feit in Preußen das Kommunal ' abgabengefcg vom vierzchnten Juli 1893 den Gemeinden die Möglichfeit und die Richtſchnur gegeben Hat, ihr Steuerſyſtem nach diefer Richtung Hin auszubauen.

Daß die Auflage von Steuern, die den fteigenden Werth des ſtädtiſchen Grundbeſitzes zu treffen fuchen, durchaus gerechtfertigt ift, muß man ohne Weiteres zugeben; und es wäre zu wünjchen, daß die Gemeinden mehr, als e3 bisher gejchehen ift, von der ihnen gegebenen Befugniß Gebraud machen. Richtig ift eine ſolche Steuerpolitik, weil fie zur Hebung der ftädtifchen Finanzen und bes fonders zuk Entlaftung der ärmeren Alaffen von den oft Hohen Kommunalzuſchlägen zur Einfommenfteuer und von Tonftigen ftädtiihen Abgaben beiträgt. Werden bierdurd) die Gewinne der Bodenſpekulation erheblich geſchmälert, fo ift dagegen vom Standpunft der Allgemeinheit nicht3 einzuwenden. Denn es ift ein in die Augen fallendes Unrecht, wenn der Befißer eines Bauterrains im Werth von 50 oder gar 100 Mark für den Quadratmeter die jelben niedrigen Grunditeuern entrichtet, al3 wenn es fid um Aderland handelte. Treffend Spricht in ſolchem Halle Guſtav Cohn „von Bermögensgrößen oft von bedeutendem Werth, die in der harmloſen Geftalt cines Kartoffeladers ein idylliſches Daſein heucheln.“ Eine andere Frage ift aber, ob ſolche Steuern geeignet find, die Bodenpreife nicdrig zu Halten. Dieſe Frage ijt nicht fo fchnell zu beantworten, wie vielfach geglaubt wird. Schon feit Adam Smith gehört das Problem, wer die eigent- lihen Träger bejtimmter Steuern und Auflagen. find, zu dem umftrittenften ber Nationaldfonomie. Und fo ijt aud) die Frage noch nicht ausreichend beantwortet: Zrägt der Befiger des Bauterraing die auf den Boden gelegten Steuern oder gelingt es ihm, fie im Verkaufspreiſe feines Grundftüdes auf den Bauunter- nehmer und Hausbefiger, und diejen, fie auf die Miether abzumälzen? Wer, wie Eberitadt, meint, „daß die Bodenipefulanten und Bermiether heute ftet3 im Stande find, jede Belaftung auf die Miether abzumälzen”, kann Steuern nicht als ein zur Berbilligung der Bodenpreiſe geeignetes Mittel anfehen. Wer

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aber, wie die Bodenbefißreforimer, bei den auf dem Grundbefiß laftenden Steuern im Gegenſatz zu Steuern auf Waaren die Möglichkeit der Abwälzung beftreitet, kann daraus zunächſt doch nur folgern, daß die Gewinne, die den Grundbejigern aus den fteigenben Bodenpreifen erwachſen, verringert werben; daraus folgt aber nod nicht ohne Weiteres eine Verbilligung der Bodenpreife. Diejes Problem fann nur die Praxis endgiltig löſen. Noch fcheint der Beweis nicht erbracht, daß irgendwo Hohe Steuern niedrige Bodenpreije bewirkt Haben.

Man weilt auf Belgien; und Brandts erklärt die niedrigen belgijchen Bodenpreife, die in Brüffel, Verviers, Lüttich kaum ein Drittel bis ein Fünftel des in ähnlich anwachfenden deutichen Städten gezahlten Betrages ausmaden, durch die hohen Koſten bei Grundftücdsverfäufen, die auf acht bis dreizehn Prozent des Kaufpreiſes fteigen. Er meint, daß die belgiſchen Steuern wie Prohibitiv: zöfle wirken und den Grundbefiß nahezu extra commercium ftellen. Dagegen it zu jagen, daß die niedrigen Preiſe in Belgien ſich viel leichter durch die Sitte des Wohnens in Einfamilienhäujern erklären laflen, die eine dem deutichen Brauch entjprechende Ausnügung des Bodens für Wohnzwede nicht zuläßt. Auf ein Daus fommen in belgifhen Städten 4,74 bis 10,62, in deutjchen Städten (von 50000 Einwohnern und darüber) 8,7—52,6 Bewohner. Auch ein Belgier, &. Berr Hees, der fih zu diefer Frage bei Gelegenheit des internationalen Wohnung-Kongrefies in Düffeldorf äußerte, ift der Anficht, daß die hohen Ab- gaben bei Berfäufen die Spekulation nicht gehindert Haben; er fieht ein Hemmniß der Spefulation in der durd) das Syſtem des Einfamilienhaufes bedingten großen Ausdehnung der belgiſchen Städte Durch noch höhere Steuern als die im Belgien beitehenden Fünnte allerdings wohl erreicht werden, daß der ftäbtijche Grundbeſitz thatſächlich immobiliſirt und extra commercium gejtellt wird. Da— durch aber dürfte oft der Uebergang von Bauterrain an Bauluſtige erſchwert, nicht, wie man doch wünſchen muß, erleichtert werden.

Die beſte Anwendung ſoll das von den Bodenbefißteformern und Anderen verlangte Steuerfyften in dem deutichen Bachtgebiet Kiautſchoun gefunden haben, wo eine Umſatzſteuer von 2, eine Bauplagiteuer von 6 und eine Werthzuwachs— jteuer von 331’, Prozent erhoben wird. Es wird intereffant fein, zu fehen, wie unter dem Einfluß diefes Steuerjyftems ſich die Preisbildung des Bodens ent» widelt.e Schon heute aber muß betont werden, daß, was unter ganz anderen wirthichaftlichen VBedingungen in einem neuen Stolonialgebiet in Aſien geſchieht, für unſere Verhältniffe nicht vorbildlich fein fann. So hohe Steuern laflen fi in unler Wirthſchaftſyſtem nicht einfügen, mag der foziale Sinn fie nod fo eifrig erſehnen; und als ein Mittel zur Werbilligung der Bodenpreife wären jie in unjeren Verhältniſſen gewiß nicht anzujchen.

Die zweite Kategorie der gegen die Bodenjpekularion und zur Berbefferung der Wohnungverhältniſſe vorgeichlagenen Maßnahmen bezieht fich auf den Erlak von Bauordnungen und baupolizeilihen Vorſchriften. Auch hier giebt die Geſe gebung den Gemeinden weitgehende Befugniffe; und mehr als bisher follte durd jtrenge Norichriften eine Bebanumng, die allen bygieniichen Anforderungen wider jpricht, verhindert werden. Mit Necht wendet man jich namentlich gegen d übermäßige Ausnutzung der Bauparzellen, die durch die Tiefe der Bauten, dur“ Errichtung hoher Seiten» und Hinterhäuſer den freien Naum der Grunditü

Bodenfpeflation und Wohnungnoth, 241

auf ein Minimum verringert und die ärmere Bevölkerung in Maflenquartiere

zuſammenpfercht, wo Luft und Licht feltene Säfte find. Hier aber Handelt es ſich

nicht nur darum, ob aus allgemeinen jozialen und hygieniſchen Rüdfichten eine ihärfere Bauordnung und baupolizeiliche Ueberwachung nothwendig ift, jondern um die Frage: In welchem Verhältniß fteht die Bodenfpefulation zu der durch eine mangelhafte Bauordnung zugelaffenen übermäßigen Ausnugung des Bau geländes? Wer die eigentliche Urjache des Uebels in der Spekulation fieht, muß annehmen, das Primäre fei eine durch die Spekulation bewirkte unnatürliche Höhe der Terrainpreije, die ber Bauunternehmer nur durch übermäßige Aus- nngung des Bodens wieder einbringen fann. Den Irrthum folder Annahme zeigt die Thatſache, daß der in unferen Großſtädten typiſche Miethlafernen- harakter durchaus nicht nur in den Bezirken mit den höchſten Bobdenpreifen vor- herrſcht, ſondern vielfah eben fo in Außenbezirfen und Bororten mit relativ niedrigen Preifen. In Berlin findet man Dliethlajernen am Wedding und Gejundbrunnen, in Moabit und in ber Friedrichſtadt; die Durchſchnittspreiſe für den Duadratmeter Bodenfläde in dieſen Bezirken berechnet Boigt (für das Jahr 1895) für Wedding und Geſundbrunnen auf 14, für Moabit auf 64, für die Hriedrichitadt dagegen auf 658 Markt. Alfo das jelbe Wohnungfyftem in den Gegenden höchſter und niedrigfter Bodenpreije. Aehnlich Liegen die Verhält⸗ niffe in vielen größeren Provinzialftädten. Auch hier fann man in den äußeren. Bezirken auf Gelände, das die Unternehmer mit 10 bis 20 Mark für den Quadrat- meter eritanden haben, vielftödige Wohnhäuſer fehen, die den Gebäuden der inneren Stadt auf Boden, der oft den zehnfachen Werth bat, an Größe nichts nachgeben. Man wird nicht behaupten fünnen, daß in größeren Städten Preife von 10 bis 20 Mark für den Quadratmeter fo hoc find, daß fie eine Bebau- ung durch Micthlafernen erfordern. Es bedarf eben nicht des Dazwiſchentretens der Spekulation; wenn nur, wie in den meilten Großjtädten, eine genügende Nachfrage auch nad) den elendeiten Wohnungen vorhanden ift, werden fich immer Unternehmer finden, die auch den billigften Boden fo weit ausnußen, wie nach— giebige Behörden ihnen geitatten.

. Sn der modernen Wohnungliteratur ift die Bezeichnung Miethlajerne viel- fach zu einem Schlagwort geworden, das jedes Zujammenmwohnen einer größeren Anzahl ärmerer Familien in Miethhäufern verurtheilen fol. Man ınuß aber bes denken, da zum Mindeiten für deutfche Großſtädte das Einfamilienhaus felbft für wohlhabende Schichten der Bevölkerung eine ıtopijche Forderung iſt. Wer für die Urbeiterbevölferung in unferen Großftädten ſolche Wohnung verlangt, verläßt die Baſis des Müglichen und Itealen, auf der allein volfäwirthichaftliche Probleme erörtert werden follten. Treffend fagt H. Albrecht: „Der Erwerb und die Unterhaltung eines eigenen Haujes feßt unter allen Umſtänden eine gewiſſe wirthſchaftliche Selbftändigfeit und eine Böhe des Jahreseinkommens voraus, wie fie nur bei einer kleinen Anzahl der bejtgelohnten Arbeiter zu finden ift.“ Semeinnüßige Gefelljchaften haben mit dem Bau vun Einfamilienhäufern viel- ach ſchlechte Erfahrungen gemadt; es fei bier nur an eine der befannteften YHejelichaften, die mühlhauſener, erinnert, über deren Mißerfolge Herfner be» richtet Hat. Und nicht viel befjer fcheinen nach Bücher die in Bafel erzielten Reiultate gewejen zu fein. Deshalb haben fich auch die Baugenofjenjchaften in

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neuerer Zeit mehr und mehr dem Bau größerer Miethhäuſer mit Heinen Woh—⸗ nungen von 1 bi8 3 Zimmern zugewandt und damit gute Nejultate erzielt. Aud in ſolchen Häufern fann allen vernünftigen Anforderungen genügt werden; das Einfamilienhaus verbürgt an fi” aber noch nicht ein gejundes Wohnen. Der Bobenpreis für einen Quadratmeter Wohnfläche ftellt fi) bei einem mehre ftöcigen Haus niedriger als bei einem einftödigen; auch die Baufoften für den Duadratmeter Wohnfläche verringern ſich mit der fteigenden Anzahl der Ge ſchoſſe. Diefe Verringerung der Baukoſten fällt jehr ins Gewicht; nad) Voigt betragen bei einfaher Bauausführung die Koften für den Quadratmeter Wohn: fläche: bei einem Geſchoß TO bis 100, bei zwei Geſchoſſen 51 bis 75, Bei drei 47 bi3 62, bei vier 41 bis 60, bei fünf 39 bis 58 Mark, Voigt fommt an einer anderen Stelle zu der Schlußfolgerung: „Die Wohnungfrage ift eine Baus foftenfrage”; und wenn aud) in dieſem Satz eine gewilje Lleberfchägung des Ein: flufles der Baufoften Liegen mag, fo muß man doch Voigt Recht geben, wenn er andeutet, daB von Bielen die Einwirkung ber Bodenjpekulation und der Bobenpreije gegenüber den anderen Faktoren allzu einjeitig hervorgehoben wird. Daß dur den Erlaß und die Handhabung ftrenger Bauordnungen in ben Bezirken, wo ſich der ärmere Theil der Bevölferung zujammendrängt, ein Drud auf die Bodenpreije geübt werden kann, ift richtig; eine Linderung der Wohnungnoth aber wird auch damit noch nicht bewirkt. Im Gegentheil: durch die fo jehr nöthige und heilfame Verhinderung übermäßiger Naumausnugung und dur die Schließung ungefunder Quartiere wird das Angebot gerade an kleinen und billigen Wohnungen noch mehr verringert und die angebotenen werden vertheuert. Das wird allgemein anerkannt; und deshalb haben auch Alle, die in den bisher beſprochenen Maßnahmen wirkſame Mittel zur Unterdrüdung der Bodenſpekulation und PVerbilligung der Bodenpreije jehen, das Gefühl, day damit nicht genug gethan iſt, daß vielmehr eine umfafjende pofitive Thätigfeit namentlich der jtädtiichen Verwaltungen ergänzend eingreifen muß. Bwei Hauptforderungen werden geftellt; erftens: Förderung der gemeinnüßigen Bau= thätigkeit durch Beihaffung und Gewährung billiger Kredite; zweitens: eigener Srunderwerb auf Semeindefoften. Jede Unterftüßung gemeinuügiger Bauthätig- keit iſt mit Freude zu begrüßen. Es ift hierin bisher viel weniger geſchehen, als möglich und wünſchenswerth wäre; ich will nur an die großen, den Inva— liditätverficherunganftalten und den Sparfaffen zur Berfügung ftehenden Kapitalien erinnern. Nur die zuerft genannten Anftalten haben, gemäß der ihnen durch das Invaliditätverſicherungsgeſetz ertheilten Befugniß, große Summen zur För— derung des Kleinwohnungbaues verwandt; bis zum Schluß des Jahres 1901 waren von ihnen Darlehen in Höhe von 81870072 Mark für diejen Zweck ge— geben worden. Dagegen find die bisherigen Yeijtungen der Sparkaſſen nech diefer Richtung nur geringfügig. Und gerade jie wären berufen, bier in erſte Reihe mitzuwirken; denn zi ihren Aufgaben gehört aud, Die von ihnen fammelten SKapitalien im Wege der Kreditgewährung den Schichten der Bend. ferung nußbar zu machen, von denen fie ihnen anvertraut worden find. Der Srundjaß, da die Sparkajjen einen großen Theil ihrer Beftände in leicht flüſſ zu machenden Werthen bereit halten müſſen, brauchte man nicht untreu zu werben: Wollten aber, zum Beifpiel, die preußiſchen Sparkaſſen auch nur einen geringe

Bodenfpefulation und Wohnungnoth. 243

Theil ihrer Einlagen am Ende des Jahres 1900 waren es bereits 5745 Dtil- lionen und 364 Millionen Refervefonds dem gemeinnüßgigen Wohnungbau in der Form von bupothefarifchen Darlehen zuführen, fo Fünnten Hunderte von Millionen diefem Zweck dienftbar gemacht werden. Daß eine ſolche Verwen⸗ dung von Sparfaffeneinlagen in großem Maß möglich tft, zeigt das Beifpiel Belgiens, wo die Caisse gendrale d’Epargne et de Retraite bis zum erſten . Sanuar 1902 mehr als 44 Millionen Franes zur Unterftügung des Klein wohnungbaues verwandt hat.

So wünſchenswerth nun auch die Förderung gemeinnüßiger Baugejell: ſchaften und Genoſſenſchaften ift: ihre Einwirkung auf die Wohnungverhältniſſe darf nicht überjchägt werden. Wenn auch, abjolut genommen, ihre Leijtungen umfangreich genug find: im Verhältniß zu der hier zu bemältigenden Aufgabe find fie unzulänglich und können, nad) der ganzen Natur ſolcher freiwilligen Thätigkeit, nicht anders fein. H. Albrecht giebt eine Zufammenftellung, wonach im Deutichen Neich bis Ende 1899 von gemeinnüßigen Geſellſchaften, Vereinen, Stiftungen und Genoſſenſchaften insgefammt errichtet worden find 8478 Häufer mit 24075 Wod- nungen. Das tft eine Leiftung, die, jo anerfennenswerth fie auch an fich fein mag, dem bier in frage fommenden Bedürfniß gegenüber doch nur die Bedeutung des auf einen heißen Stein fallenden Tropfen hat.

Die jegensreiche Wirkſamkeit freiwilliger genoſſenſchaftlicher Bauthätigfeit ift nicht fo jehr in Dem zu fuchen, was fie politiv in der Errichtung von Stlein- wohnungen geleiftet hat, wie in dem erziehenden Einfluß, den fie ausübt; erft fie führt großen Schichten der Bevölferung den Werth und die Notwendigkeit gejuender Wohnungen vor die Augen. Nach diejer Richtung hin kann ihre Be: deutung nicht hoch gemug veranichlagt werden. Die beiten Bauordnungen und baupolizeilihen VBorfchriften können eine heilfame Wirkung nur da üben, wo das Verſtändniß für ihre Nothmwendigfeit in allen Bevölkerungſchichten geweckt it. Daß troß dem ftarfen und rajchen Anwachſen der Bevölkerung die rheini» . ihen und belgifchen Induftrieftädte im Allgemeinen beflere Wohnungverhältnifie aufzumeijen haben als der preußiſche Often, ift nicht zulegt darauf zurückzuführen, daß die weitliche Arbeiterbevölferung längft dazu erzogen ijt, höhere Anſprüche an ihre Wohnungen zu ftellen.

Wichtiger aber iſt die Forderung, daß die Kommunen durch eigenen Grunde erwerb für Wohnungziwede tätig eingreifen follen. Nur die Allgemeinheit jo wird geſagt —, deren Vertreter in dieſem alle die ftädtifchen Gemeinden find fei in der Rage, durch eigenen Bodenerwerb der privaten Ausbeutung entgegen« zuwirken und bie Bafis für eine gedeihliche Entwidelung zu ſchaffen; ſei es, daß fie in eigener Regie Däufer bauen, fei es, daß fie den Boden unter bejtimmten Rautelen an Genofjenichaften überlaffen, etwa im Wege des Erbbauredhtes. Da» mit erjcheint die Diskuffion hinausgehoben Über die bloße Bekämpfung der Boden: ipefulation und die Frageſtellung hätte richtig zu lauten: Sn weldem Umfang ift der Privatbejig an ſtädtiſchem Grund und Boden durch den Allgemeinbefig zu erjegen? Und jo würden wir wieder an ben Ausgangspunkt unferer Erörterungen anzufnüpfen haben, an die gegen jeden Privatbefig an ſtädtiſchem Grund und Boden gerichtete Kritif, Denn in der That find alle gegen die Bodenſpekulation gerichteten Vorwürfe nur folche, die fich gegen den Brivatbefig überhaupt erheben

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laffen. Wie die Menſchen und wie unfere ganze Wirthſchaftordnung nun einmal

beichaffen jind, wird es das natürliche Beftreben eines Jeden bleiben, aus feinem eigenen Beſitz den größtmöglicen Nutzen zu ziehen, mag es fi nun un Ge treide, um Kohlen oder um ftädtijche Baupläße handeln.

Wer auf dem Boden unferer heutigen Wirthichaftordnung Steht, wird aus den Uebeln, die mit bem privaten Bodenbefig verfnüpft find, nicht die Konle quenz ziehen wollen, ihn prinzipiell zu Gunjten der Allgemeinheit zu bejeitigen. Der eingeſchränkten Forderung aber, daß raſch anwachſende ſtädtiſche Gemein» weſen bei Zeiten Grund und Boden erwerben, um ihn als Bauland zu ver werthen, kann aud ein Überzeugter Individualiſt beiftimmen. Geſchieht es in großem Stil und planmäßig, jo können die Kommumen ficher einen wohlthätigen und wirkſamen Einfluß auf die Wohnungverhältnijie üben. Sie können nidt nur ſelbſt für die ärmere Bevölkerung billiges Bauterrain zur Verfügung ftellen, fondern aud) durch Niedrighaltung der Preiſe ihres Terrains bis zu einem ge- willen Grad regulirend auf den Werth des privaten Baulandes einwirken. Sie können ſchließlich dadurd), daß fie in eigener Regie Häufer für Kleinwohnungen berftellen oder daß fie bei der Lleberlafjung ihre Terrains an Genoſſenſchaften geeignete Deritellung vorjchreiben, aud) auf den privaten Hausbau vorbildlich wirken. Dieje Wünjche find bisher nur vereinzelt und in den bejcheidenften Grenzen erfüllt worden. In Deutjchland haben einzelne Städte den Bau von Kleinwohnungen in eigener Regie verſucht, jo Freiburg i./B., Ulm, Straßburg i./E. Etwas mehr ift in England und Schottland geleijtet worden. Der Iondoner Grafſchaftrath Hat an drei Stellen umfangreiches Gelände zur Erriditung von Arbeiterwodnungen gekauft und in. ähnlicher Weife find Glasgow, Mancheſter und andere Städte vorgegangen. Daß es hier mannichfache und große Schwierig: feiten zu überwinden gilt, ſoll nicht beftritten werden. Daß aber dieje Schwierig: feiten überwunden werben können, wenn nur alle zur Mitwirkung Berufenen ben beiten Willen dazu haben, kann mit gutem Grund gehofft werden. Man wende nit ein, daß die Gemeinden vor eine ihre Kräfte überfieinende Aufgabe gejtellt würden. Die Mittel find leicht zu finden; aufblühenden Städten giebt man für Grunderwerb und Hausbau eben fo gern Kredit wie für ihre anderen fommunalen Aufgaben. Aud wäre eine befondere Sreditorganijation wohl denkbar. Wie ber preußiiche Staat durch Schaffung der Gentralgenoffenschaftfafle den Perſonal⸗ fredit der Genoſſenſchaften wirkſam unterftüßt hat, ließe fi wohl auch durch ein Nealfreditinjtitut mit vom Staat zur Verfügung geftelltem Kapital eine Gentraljtelle jchaffen, durch deren Bermittlung unter Ausgabe von Pfandbriefen die Gemeinden den zum Erwerb von Grundbeſitz nöthigen Kredit fich verfchaffen könnten. Auch ift nicht zu befürchten, daß die hierfür aufzumwendenden finanziellen Leiltungen außer Berhältniß zu der Finanzkraft größerer Städte, deren jährliche Etats in Einnahme und Ausgabe viele Millionen betragen, jtehen würden. W wie Stübben annimmt, in den deutichen Städten im Durchſchnitt ein He Wohnraum für 250 Seelen giebt und wenn dag Land zu einer Zeit erwo! wird, wo es noch nicht den Preis von Bauterrain erreicht hat, fo kann Gemeinde mit Aufmwendung von einigen Bunderttaufend Mark jchon die & fügung über den Wohnraum für Taujende ihrer ärmſten Bürger erlangen.

Daß die Kommunen ein großes Riſiko übernehmen und in Beiten °

Bodenfpelulation und MWohmetgnoth. 345

Rückganges finanziell in bedenkliche Tage fommen könnten, trifft bei jedem anderen ftädtiichen Unternehmen eben fo zu wie bei Bodenerwerb; in normalen Zeiten bietet jedenfalls der Grunderwerb und auch der Hausbau für Wohnzwecke den Gemeinden eine ficherere Ausficht auf Rentabilität al3 die meiften jonftigen kom— munalen Unternehmungen. Und die Berwaltung jtädtilchen Grund» und Haus—⸗ befißes ift eine viel leichtere Aufzabe, als fie bei jonjtigen wirthſchaftlichen Unternehmungen Staat und Gemeinden jchon heute zu bewältigen Haben; man denfe nur an den fomplizirten Betrieb der Staatseiſenbahnen, an ſtädtiſche Straßenbahnen, an Licht- und Waflerwerfe. Die Gemeinden hätten auch den Vortheil, daß fie fich in ihrem Bodenerwerb nad) ihren Stadterweiterung-, Bebauung» und Berfehrsplänen richten könnten. Auch der legte Einwurf, die private Thätig- feit würde gelähmt werden, ift nicht als zutreffend zu erachten. Nur ba bat bie Kommune einzutreten, wo die private gewerbliche Unternehmerfchaft verjagt hat. Das gefchieht beim Kleinwohnungbau leider jehr oft. |

Sollen die Gemeinden ihre Aufgabe wirkfam durchführen, jo ift die Vor— ausfegung, daß das Enteignungredt zu Gunjten der Gemeinden auch auf den Erwerb von Boden für Wohnungzmede ausgedehnt wird. Die Berechtigung diejer Forderungen ift nicht zu beftreiten und in neuerer Zeit find fie auch in der Ge: jeßgebung mander Staaten berüdfichtigt worden. Da das Enteignungrecht aus Gründen der öffentliden Wohlfahrt ſich längjt eingebürgert hat, handelt es ſich bier um feinen prinzipiell neuen Eingriff in die Sphäre ber wirthichaftlichen Frei⸗ beit. Auch iſt nicht zu befürchten, daß die Städte von einem ſolchen Redt einen willfürlichen und unnöthigen Gebrauch machen würden. Abgeſehen davon, daß die Einleitung des Enteignungverfahrend von der ftaatlichen Genehmigung abhängig wäre, iſt die Zuſammenſetzung der ſtädtiſchen Körperichaften wenigitensin Preußen eine ſolche, daß eher anzunehmen ift, von dem Rechte der Enteignung privaten - Grundeigentgumes werde zu felten, nicht zu oft Gebrauch gemacht werben.

Die Spekulation ift alfo nicht die Urſache der fteigenden Bodenpreiſe in unjeren Sroßftädten, jondern nur eine Begleiterfcheinung diefer Werthentwicke— lung. Deshalb fünnen auch alle zur Einſchränkung der Bodenjpefulation ge: troffenen Maßnahmen ſo berechtigt ſie auch aus anderen Gründen fein mögen eine Bejlerung der großftädtifchen Wohnungverhältniffe nicht Herbeiführen. Die gemeinnüßige und freiwillige Thätigfeit von Genoſſenſchaften ift wünſchenswerth, fann aber ausreichende Hilfe nicht gewähren. Wo die Ynzulänglichfeit der Wohnungverhältniffe auf die Höhe der Bodenpreije zurädzuführen ijt, kann nur dadurch geholfen werden, daß die Semeinden jelbit in großem Umfange Boden für Wohnungzwecke erwerben und verwerthen. Die ftädtifchen Verwaltungen find in der Wohnungfrage vor eine wichtige und dringende Aufgabe gejtellt, vielleicht die wichtigite umd dreingendite, die ihnen unſere Zeit auferlegte. Es iſt zu wünſchen, daß fie die nächſte Zukunft nicht unbenutzt verftreicher laffen. Frei— lih: eine alle materiellen und fulturellen Bedürfniffe befriedigende Löſung des Problems wird nicht leichter zu finden fein als die Duadratur des Kreijes. Wir müfjen ung auch hier eben mit dem Verſuch befcheiden, diefes wichtige ‘Problem in den Grenzen des Möglichen feiner Löſung näher zu bringen.

Poſen. Georg Jaffé.

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216 Tie Jutunft.

Reichsbankſorgen.

3 ſogenannte Centralausſchuß der Reichsbank iſt ein Pflänzchen, das im Verborgenen blüht. Dem großen Publikum wenigſtens iſt er unbekannt. Man lieſt zwar manchmal in der Zeitung, der Ausſchuß ſei einberufen worden und der Reichsbankpräſident habe ihm Dies oder Jenes berichtet. Da aber dieſe hohe Inſtanz faſt nie eine Meinung äußert, die ins Land hinaus ſchallt, ſo interejfiren fih naturgemäß auch nur Wenige für Sen Daſeinszweck des Central» ausſchuſſes. Dieſer Stand ter Dinge bat ſich plötzlich geändert“ Zwiſchen der Bankexcellenz und feinen getreuen Rathgebern iſt es zu einer wie es ſcheint, recht heftigen Diskuſſion gekommen. Der Grund? Ueber die Regulirung der Diskontrate gingen die Anſichten auseinander. Die Mitglieder des Ausſchufſes zeigten Neigung, den offiziellen Bankſatz um wenigſtens Y, Prozent herunter- zujeßen; der Bräfident beftand darauf, ihn auf der heutigen Höhe zu halten. Da ber Ausfhuß nur eine berathende Stimme bat, mußte Herr Dr. Koch in diefem Streit fiegen: ber Diskontſatz blieb aljo 4 Prozent.

Die Thatfache aber, daß gerade diefer Gegenftand zu ciner lebhaften Dis kuſſion führte, beleuchtet in recht Ichrreicher Weiſe die augenblidliden Wünſche und Pläne unferer hohen Bankwelt, der ja die meiften Centralausſchußmitglieder angehören. Sie find berufen, den Banfpräfidenten ftets in intimer Fühlung wit der Praxis zu halten. In den meilten Tyällen Stimmen die Herren wahrſchein⸗ lih den ſachlichen Darſtellungen des Direktoriung jchweigend zu. Warum thaten fies diesmal nicht? Die Antwort iſt leicht zu finden: unfere Banfıwelt hat jeßt ein ganz außerordentliches Intereſſe an billigem Geld. Ueberall rüſtet man ſich zu neuen Nentengefchäften. Oeſterreich fonvertirt, Breußen und das Neid; werden nächſtens mit ihren Millionenanleihen an die Börfen kommen, die Türfei Hat, nach langen, mit ihrem ewigen Din und Her echt orientalifcher Verhandlungen, das dringende Bedürfniß, ihre Anleihen zu unifiziren, und auf dem Ballen drängen ſich Rumänien und Serbien in ſchönem Wetteifer nach der Ehre, euro⸗ päiſche Sapitaliften mit neuen, bunt ausgeftatteten Schuldtitres beglüden zu dürfen. Ganz hinten aber, einftmeilen nod von einem hohen Wal landesüblicher Dementis gedeckt, lauert das Ungethüm der neuen ruſſiſchen Unleihe. Zur Rorbereitung folder Transaktionen brauchen die Banken natürli vor allen Dingen billiges Geld. An der Börfe helfen fie ein Bishen nad. Beim Privat: disfont freilich brauchen fies nicht; er ift Schon lange ganz unverhältnißmäßig niedrig, weil die Geldgeber, nach den ſchlimmen Erfahrungen mit den verfrachten Banken, in der Auswahl der Privatdisfonten ſehr vorfichtig jind und fich licher mit einem um 3, Prozent geichmälerten Zinsfuß begnügen, als daß fie ihren Direktoren die Schlaflojen Nächte vom Sommer 1901 nod) einmal zumutheten. Daneben aber wird Geld auf tägliche Kündigung und für Ultimozwecke recht reichlich ausgeboten. Zum Theil dürften bier die Schon zum Abmarſch nach ihren Bejtimmungorten fertigen, eben erjt frisch aufgepumpten Gelder der verjchiedenften Negirungen eine Holle jpielen. Die Wirkung des niedrigen Zinsſatzes wäre aber noch viel jtärfe-

Reichsbankſorgen. 247

wenn er auch offiziell anerkannt würde; deshalb wollte man den Reichsbankpräſi— denten zu einer Diskontherabſetzung bewegen.

Der Bankpräſident kann aber auf das Privatintereſſe der Ausſchußmit⸗ glieder Feine Nüdficht nehmen, ſchon, nm nicht von feinen erbitterten agrurifchen Feinden bei einem zärtliden Schäferjtündchen mit der Hodfinanz in flagranti ertappt zu werden. Seines Amtes ift, ben Rath der Herren zu hören, von ihrer Gefchäftsflugheit zu profitiren, nicht aber, ihre Gejchäfte zu beſorgen. Heute, wo bie Wechſel auf London und Paris ſchon einen Höhepunkt erreicht haben, der nur vom perfönlidden Takt der Betheiligten abhängen läßt, ob fie bares Gold ins Ausland fenden oder nicht, wäre es fträflicher Leichtfinn, den Bankſatz zu erniedrigen; um jo größerer Leichtfinn, ald der Status der Bank nocd immer nicht normal ift, fondern eine nur in ben Krifenjahren übertroffene Anfpannung zeigt. Ueberhaupt vergißt man nur allzu leicht, daß die Neichsbanf eigentlich erit in leßter Linie das deutiche Centralfrebitinftitut ift; ihre wichtigite Pflicht ijt vielmehr, den Geldumlauf im Inland zu reguliven und nad außen die Währung zu vertheidigen. Dieſes Programm vertrat im Neichötag bei der Be- rathung der legten Banfgejegniovelle ſehr energisch Herr Büſing; und ihm ftimmten zwei Männer zu, die inzwijchen leider geftorben find: Gcorg von Siemens und Bruno Scoenlanf. Namentlich Schoenlanf, deſſen letzte ſachkundige Meijterleiftung die Rede gegen die agrarifchen Verſtaatlichungwünſche war, wies in treffenden Bergleichen auf die Gefchichte der Preußiichen Bank hin, die gerade in ftürmijchen Seiten oft verfagte, weil fie ſich ſelbſt zu ſehr als PBumpjtation für Monfieur Toutlemonde betradjtet hatte. Diefe Erwägung muß denn aud den Sritifer unjerer Disfontpolitif leiten; jeine Hauptjorge darf nicht fein, ob wirklich einmal ein paar Streditfucher etwas Höhere Zinfen bewilligen müſſen. Die Mahnung zu vorausblidender Bankpolitif muß der Gerechte freilich an zwei Fronten er- gehen laſſen. Erftens an die Agrarier, die ftetS gegen den angeblich zu hoben Diskont und gegen die Ausichliegung weiter Volkekreiſe vom Genuß des Reichs⸗ banffrebites zetern; zweitens aber auch an die Bankherren, die nur allzu gern ihren manchmal recht dunflen Zwecken die Reichsbank dienftbar machen möchten. Daß der Neichsbankpräfident ihren Werbungen vielleicht, weil er den Zweck durchſchaute fein Gehör jchenkte, ift als erfreulihes Zeichen zu begrüßen.

Um die Stellung, die im Rahmen des deutihen Wirthichaftlebeng der Reichs⸗ bank gebührt, handelte ſichs im legten Grund aud) in einer anderen Erörterung. In einer manchmal von der Reichsbank erleuchteten Korreſpondenz war darüber geklagt worden, daß die Notenbanfen der kleineren Bundesjtaaten im Wechſelgeſchäft die Reichsbank beträchtlich umterbieten. Diefe Bejchwerde erinnerte wieder einmal an die völlig veraltete Decentralijation des deutfchen Notenbanfwejens. Als man um die Mitte der fiebenziger Jahre die Preußiſche in die Reichsbank umzuwandeln unternahm, war man von vorn herein klar darüber, daß neben der einheitlichen Währung aud) cine wenn id) jo jagen darf einheitliche Notenwährung eingeführt werden müſſe. Die Nüdfiht auf den Partifularismus verbot aber, die Notenbanfen der Eleinen Bundesſtaaten einfach zu jchließen. Die üblen esolgen der halben Maßregel zeigten fi) bald. Ich will andere Mißſtände heute nicht erwähnen: aber der Disfontjaß ber Eleineren Banfen blieb oft recht mejentlich unter dem der Reihsbanf, der dadırrd natürlich die Kontrole über die Schwankungen

248 Die Zukunft.

des Geldmarktes erjchwert wurde. Um dieſem Uebelſtand abzubelfen, wurde in die Novelle zum Bankgeſetz die Beitimmung aufgenommen, baß feine Bundes: ftaatlihe Bank unter dem Satz der Reichsbank disfontiren dürfe, jobald dieſer Sag mindeftens 4 Prozent jei; bleibt der Reichsbankdiskont unter 4, fo bürfen die Heineren Banken beim Ankauf von Wechſeln höchſtens um !/, Prozent unter ben jeweiligen berliner Saß gehen. Die Banken, die zumächlt durch dieſe Beftimmung fo eingefhüchtert waren, daß zwei von ihnen den Notenbankbetrieb überhaupt einftellten, haben inzwifchen einen etwas bedenflichen Ausweg gefunden. Ste disfontiren zwar Wechſel nicht unter dem Reichsbankſatz, beleihen fie aber weſent— lich billiger; für Lombardgeſchäfte jchreibt das Geſetz nämlich die Bedingungen nicht vor, Ich brauche aber kaum zu erwähnen, daß alle an der Geſetzgebung betheiligten Faktoren unter Lombardgeſchäften nur die als ſolche allgemein gel- tenden, bie Beleidung von Waaren oder Wertpapieren, veritanden Hatten. Die Thatſache, dab die Fleineren Notenbanfen die weitjichtige Reichs— bankpolitit ftören und lähmen, läßt naturgemäß wieder die Frage auftauden, ob man dieſen überlebenden Zeugen einer wenigſtens auf finanziellen Gebiet ruhm- lofen Zeit nicht endlich den Garaus machen folle. Ihre neue Taktik zeigt, daB es ihnen nur darauf anfommt, die Diöglichkeit, durch die Ausgabe ber Bant- noten ſich zinslofe Betriebskapitalien zu verjchaffen, ohne Rüdficht auf die Al gemeinheit für fih auszunügen. Die Leiter diefer Banken pochen darauf, daB noch in den legten Neichstagsbebatten die Vertreter Bayerns und Sachſens ſich vom Bundesrathstifh aus jehr liebevoll diejer Snftitute angenommen und deren wirthichaftliche Nothwendigkeit Scharf betont haben. Den Glauben an jolde Nothwendigkeit Halte ich für einen leeren Wahn. Mean jagt, diefe Banken, die ohne Unbequemlichkeit über ihr eigentliche Kapital hinaus Kredit gemäh: ven können, brächten ihrer nächſten Umgebung nicht zu unterſchätzenden Nutzen. Das fol gar nicht beftritten werden. Wäre aber eine von ortöfundigen Be amten geleitete Reichsbankfiliale nicht mindeſtens eben fo nützlich? Wer durch Berleihung des Notenprivilegs ausgezeichnet wird, alfo das Recht bat, fidu- ziares Geld auszugeben, Der muß jchon für den Vortheil, den er daraus zieht, dem Staat gewiſſe Aequivalente bieten. Man follte aber überhaupt mehr als bisher daran denken, daß die Notenausgabe ein Mittel it, nad dem man nur, weil beſſere fehlen, in der Ioth greift. Die Ausgabe von Noten ift nur berechtigt, wenn fie nicht lüjterner Profitjucht dient, fondern eine nützliche Wirfung auf die gejammte Volfswirthichaft in Ausficht ftellt. Die Privatnotenbanten haben bejonders durch ihr Verhalten in der allerlegten Zeit bewiejen, daß fie fich der Verantwortung nicht bewußt jind, die das Net zur Notenausgabe dem Brivilegirten auferlegt. Trog allen partikulariftiihen Bedenken jollte man des— halb nicht länger zögern, der Nteichsbant das Monopol der Notenausgabe zu fichern.

Plutr »79. cr * 23 Herausgeber und verau:wortiicher Redalicur: Monde in Dr bım So Tag der Zufunft in Bi

Trug bon Albert Tante in Veelin-Scheneberg.

Berlin, den 14. Februar 1905. 7 e

Deutſchland und der Weltmarkt”).

gg Ziffern der Handelsſtatiſtik find die beliebteften Renommirftüde aller fortgefhrittenen Nationalölonomen. Leider find Geift und Wit, mit denen die Zahlen erörtert werden, nicht immer in gleihem Verhältniß ges wachſen wie Einfuhr und Ansfuhr. Ja, wern ich ben alten Krug oder den Dieterict oder den Viebahn ober den Reben ober den Bienengräber zur Hand nehme, kommt es mir foger manchmal vor, als feien die Leute in volls- wirthſchaftlichen Dingen um fo gefcheiter gemefen, je weiter ihre Schriften zurüdliegen. Kommt es mir vor, als hätten die Alten bie viel Heineren Biffern wiſſenſchaftlich analyfirt, während jie die Züngeren nur politiſch para: phraſiren. Damals herrſchte der Menſch ob Statiftiker oder Theoretifer über die Ziffern; heute wird er von ihnen beherrſcht. Damals ging man fiebevoll auf den Qualitätwerth der einzelnen Zahl ein; heute ſteht man wie erftarrt unter dem Eindrud der Ouantitäten einer mächtig anfchwellenden Bewegung. Was man aber an theoretifcher Beurtheilung unferer Handeld=

*) Unter dem Titel „Die deutſche Volkswirthſchaft im neunzehnten Jahr⸗ hundert‘ erſcheint im Verlag von Georg Bondi im März ein neues Bud, des breslauer Profeſſors Werner Sombart, ber, bejonders feit die eriten Bände feines „Modernen Kapitalismus“ befannt geworden find, weit über den Kreis ber Fach- genoffen Hinaus gehört wird. Un diefen Kreis denkt er, wie mir ſcheint, beim Schreiben auch nicht; auf das foziale Empfinden der in mannichfachen Berufen, arbeitenden Menſchheit will er wirken, nicht auf die Zunft. Und das Streben, ftatt dürrer Doltrinen die Fülle der Geſichte zu zeigen, bie das Leben der Bolt heit dem Auge bietet, ift in dem neuen Bud; nicht minder als in dem älteren fühl: bar. Nad den handelspolitiſchen Erörterungen ber legten Zeit wird das Kapitel, das den Lefern ber „Zukunft“ Hier mitgetheilt wird, nicht unwillfommen fein.

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20 Die Zukunft.

entwickelung bat zu Theil werden laſſen, ſcheint mir in mehr als einem Punkte anfehtbar zu fein.

Wenn man auf Grund der hbambelsftatiftifchen Ziffern von der Ent: ftehung einer Weltwirtbichaft Tpricht, fo Hat Das natürlich infofern feine volle Berechtigung, als unbeftreitbar heute mehr Waaren zwifchen den einzelnen

dern umgefetst werden als vor fünfzig oder hundert Fahrer. Um zu diefer Einficht zu gelangen, genügt e8, zu wiflen, daß Achtzig mehr als Zehn iſt. Verſteht man ‘aber unter weltwirtbfchaftliher Organifation einen Zu: ftand Fortgefchrittener Differenzirung und Integrirung ber einzelnen Bolls: wirthfchaften unter einander, ein zunehmendes Ueberwiegen der internationalen Beziehungen über die nationalen, fo ift diefe (fo viel ich fehe) einzige Weis: heit, die die handelstheoretiſche Literatur des letzten Menſchenalters zu Tage gefördert hat, ganz entſchieden falſch.

Die Kulturvölker, fo behaupte ich vielmehr, find heute (im Verhaltniß zu ihrer Gefammtwirthfchaft) nicht wefentlich mehr, fondern eher weniger durch Handelsbeziehungen unter einander verfnäpft. Die einzelne Vollswirth⸗ haft ift heute nicht mehr, ſondern eher weniger in den Weltmarkt einbezogen al8 vor hundert oder fünfzig Jahren. Mindeſtens aber (und dafür fann ih in Ziffern den Nachweis erbringen) ift es falfch, anzunehmen, daß die internationalen Handelöbeziehungen eine verhältnigmäßig wachjende Bedeutung für die moderne VBollswirthichaft gewinnen. Das Gegentheil ift richtig. Die Entwidelung der legten Jahrzehnte hat wenigftend für die beutfche Wolfe: wirthichaft eine Abnahme des Antheiles der auswärtigen Handelsbewegung an der Gejammtleiftung der wirthichaftlichen Thätigkeit als Ergebniß gehabt. Sicher für die Ausfuhr, wahrfcheinlichh auch für den Geſammthandel.

Wie aber erfcheinen die Dinge, wenn wir die weit auseinanderliegenden Zeiträume von 1800 und 1900 ins Auge faflen? Genaue Bilanzen für bie Zeit vor Hundert Jahren bejigen wir nicht. ch ftelle aber folgende Be⸗ trachtung an: 1802 berechnete Krug das durdhichnittliche Einkommen eines preußifchen Untertanen auf 271/, Thaler, alfo 81%/, Marl. Yür das Jahr 1830 fegt man den Geſammtwerth des deutſchen Außenhandels auf 660 Millionen Mark an. Ich glaube, man wird nicht fehlgreifen, wenn man annimmt, dag der Volkswohlſtand 1830 eher niedriger war als 1802. Nehmen wir ihn als gleichgeblieben an, fo würde auf den Kopf der Be: völferung alfo ein Eintommen von rund 80 Mark entfallen, dagegen n Antheil am auswärtigen Handel von rund 221/, Mark (Deutfhland ' t damals 291/, Millionen Einwohner). Das wären rund 28 Prozent Geſammteinkommen. Für das Jahr 1895 berechnet Mulhall das Einkom eines Deutjchen auf durhichnittlih 506 Mark. Der Werth der Einfuhr Ausfuhr betrug in jenem Jahre (im Spezialhandel) 7670 Millionen M alfo auf den Kopf der Bevölkerung 148 Marl. Der Antheil des Eir--

32 ‚tor ns a m

Deutſchland und der Weltmarft. 251

am Außenhandel würde alfo 29 Prozent (gegen 28 Prozent im Anfang des Jehrhunderts) ausmachen; er wäre fo gut wie unverändert geblieben.

Das find natürlich Berechnungen, die auf zum Theil fehr anfechtbaren Zahlen beruhen. Alle Schäungen des Volkseinkommens oder Vollsver⸗ mögens find mehr oder weniger Spielereien. Immerhin wird man jene Rechnungen fo lange anjtellen und fie au al3 Beweismaterial benugen dürfen, wie die entgegengefettte (herrſchende) Auffafiung feine befjeren und zuverläffigeren Beweiſe für die Richtigkeit ihrer Behauptungen erbringt. Um den hier vertretenen Standpunkt zu fügen, jind num aber jo vage Kalkuls nicht einmal nothwendig, da wir genügend zuverläſſiges Material befigen, um die Thefe von der abnehmenden (oder wenigſtens fich -gleichbleibenden) Bedeutung der internationalen Handelsbeziehungen für die einheimifche Volks⸗ wirthſchaft in ihrer Richtigkeit zu erweiſen.

Sch beginne mit der Ausfuhr, für die ich vor einigen Jahren bereits den ziffermäßigen Nachweis erbracht habe, daß fie wenigftens in den legten Fahrzehnten eine „fallende Quote“ der deutſchen Gefammtprobuftion aus⸗ mache. Weitere Nachforfchungen, deren Ergebniffe ich im Folgenden mit: theile, haben mich in meiner Auffaſſung nur beftärkt.

Damals hatte ich nur von dem Induſtrieexport gefprochen. Will man jedoch die Frage allgemein entfcheiden, ob Deutfchland mehr ober weniger in die Weltwirthfchaft eingegliedert fei, jo muß man natürlich auch das wid: tigfte Gewerbe, die Landwirthſchaft, berüdjichtigen. Diefe lehrt uns ein Rüdblid auf die deutiche Volkswirthſchaft im erften Drittel des Jahrhunderts als ein ausgefprochenes Erportgewerbe kennen. Heute, wie Jedermann weiß, dect fie nicht annähernd den einheimifchen Bedarf.

Aber ich behaupte ja die fallende Erportquote auch für die „Induſtrie“. Auf die Gründe einzugehen, die e8 erklärlich machen, weshalb von den wichtig⸗ ften Induſtrien ein immer größerer Theil der Produktion im Inlande bleibt, ift Hier ja nicht der Ort. Ich bemerfe nur, dag es nicht einheitliche Urfachen- reihen find, die das felbe Ergebniß zeitigen. Bei einigen Induſtrien (Montan- induftrie, chemifche Induſtrie) ift e8 der zunehmende Erfag der organifirten durch unorganifirte Materie, der die Ausweitung ihres Binnenabfaggebietes bewirkt, bei anderen (Tertilinduftrie, Xederinduftrie, Belleidunginduftrie u. a.) der zunehmende Wohlitand der Bevölkerung in Verbindung mit der Ber: drängung handwerkmäßiger Produktion durch fapitaliftiiche, alſo mit der Ein- bürgerung de3 gewerblichen Kapitalismus in Deutfchland ſelbſt. Wir werden beobachten, dag eine ganze Reihe von Induſtrien allerdings bis in die fieben- ziger Jahre einen fteigenden Export aufweifen, der dann aber, als die deutjche Volkswirthſchaft ihre Siebenmeilenitiefel anzieht, Hinter der Gejammtpro- dultion zurüdbleibt. Bei Steinkohlen ift ſich das Verhältniß der Produftion

19*

252 Die Zukunft.

zur Ausfuhr bis in die legte Zeit annähernd gleichgeblieben: e8 wurden von der Gefammtprobultion ausgeführt: 1860 14,6 Prozent; 1880 15,3 Prozent; 1900 13,9 Prozent: alfo leiſes Anfteigen bis 1880, leiſes Sinken bi® zur Gegenwart. Beitändig gefunfen feit den fechziger Jahren ift jedoch die Quote der Mehrausfuhr: fie betrug in den genannten Jahren 12,5 Prozent, 11,0 Pro⸗ zent, 7,3 Prozent.

Leider ift die Berechnung der Exportquote nicht überall fo leicht und einwandfrei wie bei Steintohlen. Bei anderen Induftrien müſſen wir auf Ummegen dazu gelangen. So ftelle ich bei der Eifeninbuftrie die Produktion von Robeifen in Bergleih mit der Ausfuhr fänmtlicher Eifenfabrilate (ein⸗ ſchließlich Roheiſen und Maſchinen). Da ergiebt fih, daß die Ausfuhr mengen von den Produftionmengen 1880 noch 40,7 Brozent, 1900 dagegen nur noch 20,0 Prozent ausmachten. Der Antheil der Mehrausfuhr von Eifenfabrikaten ſank in diefem Zeitraum fogar von 29,3 Prozent auf 7,8 Pro: zent der Roheiſenprodultion. Alſo deren riefige Steigerung von 2,7 auf 8,5 Mil- lionen Tonnen fand vollftändig Unterkunft innerhalb Deutſchlands.

Bei anderen Induſtrien bietet einen Anhalt die Menge der befchäf: tigten Arbeiter: wenn wir (was zuläfjig ift) annehmen, daß die Produktivität in der Induſtrie nicht abnimmt, fo bedeutet eine Vermehrung der Arbeiter- fchaft eine mindeſtens gleich ſtarke Steigerung der Produftion. Steigt der Erport nicht in gleichem Verhältniß, fo fällt die Erportquote. So ftieg in der chemifchen Induftrie die Zahl der befchäftigten Perfonen 1882 bis 1895 um 60,5 Prozent, die Menge der ausgefithrten Erzeugniffe nur um 38,2 Pro- zent; in der Mafchineninduftrie betrug im gleichen Zeitraum die Zunahme der Arbeiterfchaft 7,0 Prozent, die Ausfuhrmengen nahmen bagegen fogar um 19,9 Prozent ab.

Für einige andere Induſtriezweige habe ich verfucht, die Mengen der verarbeiteten Rohſtoffe und Halbfabrifate zu ermitteln und auf Grund biefer Ziffern die Gefammtproduftionmenge zu berechnen. Das ift für die Leder⸗ induftrie, die Baumwoll- und Wollinduftrie mit einiger Zuverläffigfeit möglich. Für die Lederinduftrie befigen wir die Einfuhrziffern für Häute und Die Ziffern des einheimifchen Viehbeftanded. Da für die Lederinduftrie das Schaf: leder nur eine geringe Role fpielt, Schafe aber feit 1860 allein ſich ver: mindert, während alle anderen Thierarten jich vermehrt haben, fo dürfen wir getroft annehmen, daß die Mengen einheimifcher Häute mindeflens die felben geblieben find. Nun betrug aber die Mehreinfuhr an Häuten aller Art in den Jahren 1860, 1880, 1900 je 21700, 36600, 85400 Tonnen. Dagegen in den felben Jahren die Ausfuhr an Leder und Xederwaaren aller Art 4500, 11400, 14100 Zonnen; die Ausfuhr bildete alfo von den zuerjt genannten Mengen 20,8 Prozent, 31,1 Prozent, 16,5 Prozent. Hat fich die Lieferung deutfcher Häute gefteigert (mas wahrſcheinlich ift), fo ift die Verringerung

Deutichland und der Weltmarkt. 253

der Erportquote noch beträchtlicher. Bei der Baummollinduftrie habe ich nad) dent Borgange Bienengräbers die Baummolle auf Garn im Verhältniß von Fünf zu Bier, das Garn auf Gewebe im Verhältniß von Vier zu Drei zurüd- geführt und die Mehreinfuhr von Garn dem im Inlande geiponnenen zu: gerechnet. Ich erhalte dann folgende Ziffern, die ich in Tabellenform sufammen- fell, um 1 fe überfichtlicher au machen:

| aelanate Garn ; Wurden betrug D Im 2 gelanste © baummollene | die Ausfuhr betrug urchſchnitt 9 Waaren baumwollener die der - Verarbeitung oo Erport Jahre | angefertigt , Waaren quote Tonnen Tonnen | Zonnen 1836/40 238 : 17897 8 460 24,9 9), 1851/55 46 617 | 34 963 | 7 283 20,8 % 1856/61 66649 | 1 49987 Ä 9 157 18,3 0/ 1880 112000 84 000 21300 25,6 %, 1897/99 252 600 189450 85300 18,6 9%,

t

Im Ganzen keine wefentliche Verfchiebung feit fechzig Jahren; aber doch feit 1880 merkliche Abnahme de3 Antheiles der Ausfuhr.

Bei der Wollinduftrie habe ich lediglich die Wolle in Garn umge: rechnet (in allen Fahren mit 1/, Abgang); die verbrauchten Wollmengen aber ermittelt aus einer Addition der Mehreinfuhr und der einheimischen Woll- produktion (die ih für die Gegenwart zu niedrig, jo daß die Produktion⸗ ziffer Meiner erfcheint, als fie in Wirklichkeit ift durchgängig nad) Die— terici8 und Bienengräberd Borgang unter Zugrundelegung von 1,1 kg Woll- ertrag vom Schaf, wie er den feinen Merinoſchafen entfprach, berechnet habe). Dann an ſich folgende Ueberſicht:

Verbrauch inländiſchen Ausfuhr In den und ausländifhen von Wollwaaren aller Es betrug Jahren Garns Art | die Erportquote Tonnen Tonnen | (auf Garn beredjnet) (rund) M (rund) | 1840 21000 | 3250 | 15,5°/, 1860/61 42.000 | 12500 | 29,8%, 1880 66000 21800 | 33,0%, 1900 156 000 29300 18,7°/,

Alfo Verdoppelung der Erportquote von 1840 bis 1880, Herabjinfen auf halbe Höhe (faft auf das Niveau von 1840) innerhalb der legten beiden Jahrzehnte.

Ich denke, dieſe Beiſpiele werden hinreichen, um es mindeſtens ſehr

254 Die Zukunft.

wahrfcheinlich zu machen, was ich behauptete: daß die Ausfuhr in den legten fünfzig und noch mehr in den legten zwanzig Jahren (Einfluß des Aufſchwunges feit 1895) einen immer geringeren Theil der Gefammtproduftion ‘der deut: Shen Volkswirthſchaft bildet, um e8 aber außer allen Zweifel zu fegen, daß die Lehre von der zunehmenden Bedeutung des Exportes ficher falſch it.

Zweifelhafter bin ich gegenüber der Einfuhr. Jedenfalls ift es viel fchwieriger, hier irgendwie verläßliche Antheilöberecduungen vorzunehmen. Daß die Landwirthſchaft überhaupt erit feit einem Menſchenalter mehr importirt als erportirt, ift befannt; auch, daß fie eine (im Verhältniß zur inländifchen Produktion) ftändig fleigende Importquote habe, dürfte anzunehmen fein. Weſentlich anders verhält e8 fich mit der Induſtrie. Hier haben offenbar die verfchiedenen Gewerbezweige während des neunzehnten Jahrhundert ein ganz verſchiedenes Schidjal gehabt.

Unzweifelhaft giebt e8 eine große Anzahl wichtiger Induftrien, die heute (im Berhältnig zur Gefammtproduftion) mehr Nohftoffe oder Halbfabrilate einführen als vor fünfzig oder Hundert Jahren. Es find alle autochthon: deutfchen Induſtrien, die auf dem deutfchen Boden erwachfen find, will fagen: einheimifche Bodenerzeugnifje (Stoffe des Pflanzen- ober Thierreiches) ver: arbeiteten. Hauptbeifpiele: Wollinduftrie, Leineninduftrie, Holzinduftrie, Leder⸗ induftrie. Umgelehrt aber ift e8 den anderen Induſtrien ergangen. Sie find vom Auslande unabhängiger geworden. Das heißt: fie führen heute weniger Theile der Gefammtproduftion ein als früher, jtehen alfo mehr auf rein deutſchem Boden, ihre Verſchlingung mit anderen Volkswirthſchaften ift ges ringer als ehedem. Sie find Belege für die Nichtigleit der Lehre von der abnehmenden Bedeutung der weltwirthichaftlihen Beziehungen.

Hierher gehören zunächſt die Induſtrien, die‘ ausländiſche Rohſtoffe verabeiten, vornehmlich alfo die Baummollinduftrie. Diefe haben immer allen Nohftoff einführen müflen. Sie thaten es aber früher vorwiegend in ver Form von Halbfabrifaten (Garn), während heute der unverarbeitete Robfloff (Baumwolle) nad) Deutfchland hereinfommt. Da nun aber das Halbfahrifat einen größeren Antheil am Werth des Gefammtproduftes hat als der Rob: off, jo machte die Einfuhr bei diefen Induſtrien früher einen get Prozentfag von der Gefammtprobuftion aus als heute. In den J i 1840 bis 1842 betrug im HBollverein die durchfchnittliche Mehreinfug 1

roher Baumwolle 242720 Eentner, Baummwollgarı 400874 Dagegen im Durchſchnitt der Jahre 1898 bis 1900 die Mehreinfuhr ı roher Baumwolle 2938900 Tonnen, Baummollgarn 10% , "Vor fehzig Jahren wurde da8 Material der deutfchen P--- >

Deutjchland ımd der Weltmarkt. 255

duftrie noch zu etwa zwei Dritteln, heute wird es nur noch zu einem Dreißigftel in Garnform eingeführt. Dan ermeffe daran, um wie viel felbftändiger, nationaler heute die große Baummollinduftrie bafteht als vor zwei Menfchen- altern, wo fie außerdem noch ein Drittel mehr ausführte als heute.

Noch viel handgreiflicher tritt die Emanzipation vom Weltmarkt, alfo vom Ausland, tritt die Nationaliſirung bei den Induftrien in die Erfcheinung, die Stoffe de8 Mineralreiches verarbeiten, an denen Deutichland Lager be= figt. Das gilt vor Allem von der mächtigften aller Induftrien: der Eifen- induftrie. Ueber ihren Stand im Anfang der vierziger Jahre giebt eine Bufanmenftellung Auskunft, die ber kundige Dieterici macht und mit folgenden ewig denfwürbigen Worten begleitet: „Sollte im Zollverein fo viel Eifen mehr produzirt werden, als berfelbe (!) bei dem fo außerordentlich gefliegenen Bedarf an Eifenbahnfchienen u. f. w. mehr als früher verwendet, fo müßte mehr gefchafft werden nach den Zahlen von 1842: i

a) Die berechnete Mehreinfubr von Roheifen ..... 1117302 Bollctr. b) Das Material, das Halbfabrifat, Roheijen, zu

der Mehreinfuhr von Stabeifen. Diele war

1842: 891 436 Bollcentner. 72 &entner Schmiede-

eifen find 100 &tr Roheiſen; die 891436 Hole

centner Schmiedeeilen ergeben allo....... 1238106 Bolletr..

find 2355408 Bolltr.

Da der Zollverein etwa 3 Millionen Centner Roheiſen produzirt, fo müßte diefe PBroduftion faft um das Doppelte, näher: wie 5:9, fich erhöhen, wenn ber Zollverein feinen Eifenbedarf aus eigener Produktion deden follte. Es steht fehr dahin, ob Dies möglich fein wird. Wenn durch hohen Ein- fuhrzoll auf Roheiſen auch die Konkurrenz fremden Roheiſens verringert werden kann, fo wird doch ein Zufchug vom Auslande nach den hier ge gebenen Bahlenverhältniffen bei dem fehr geftiegenen Verbrauch des Eifens im Zollverein nöthig bleiben und nur der Preis des Roheiſens gefteigert werden. Feſtzuhalten ift immer, daß außer der namhaften Mehreinfuhr von Roheifen und Stabeifen auch im preußifchen Staate dennoch die Produftion von Roheifen und Schmiedeeifen in der Zeit von 1840 bi8 1842 nicht zurüd» gegangen, fondern geftiegen ift.“

Und am Schluß des Jahrhunderts? Erzeugt die deutfche Eifeninduftrie nit nur die von Dieterici oben berechneten 21/, Millionen Zollcentner mehr, fondern außerdem noch 1671/, Millionen Centner! Und zwar fo gut wie völlig unabhängig vom Auslande. Sie bezieht aus jenem 1/ag des Roheiſen⸗ bedarf3 und ebenfalls 1/,, des Bedarfs an Eifenerzen (829000 t von 17, 9 Milli: onen Tonnen Fahresförderung im Durchſchnitt 1898 bis 1900). Dafür liefert fie aber noch beträchtliche Ueber[hüffe „einfach bearbeiteten“ Eifens, das früher auch vom Auslande fam, an biefes ab.

256 | Die Zukunft.

Ziehen wir nun in Betracht, dag auf die Meontaninduftrie (nad) der Schägung von 1897) vielleicht ein Drittel des Geſammtwerthes der induftriellen Produktion entfällt, fo ift e8 immerhin der Erwägung werth, ob denn unfere Induftrie auch was die Einfuhr ihrer Rohmaterinlien betrifft Heute in ſtärkerem Maße in den Weltmarkt einbezogen ift als vor fünfzig oder hundert Jahren. Im Endergebnig wird es immer un: wahrſcheinlicher, daß die nationale Differenzirung (wie ih die Spe;iali: firung ber Gütererzengung zwifchen den einzelnen Volkswirthſchaften nenne) heute quantitativ ftärfer ift al8 fonft im Laufe des neungchnten Jahrhunderts. Qualitativ, darauf möchte ich noch hinweifen, ift jie, wie mir fcheint, ſicher geringer. Ich meine: die Anzahl von Nationen, die bei der Erzeugung und dem Verzehr der Produkte betheiligt find, ift heute Feiner al8 vor ein paar Menfchenaltern. Die internationalen Beziehungen find, mit anderen Worten, nicht etwa verfchlungener, fonderf einfacher, loderer geworden; die einzelne Volkswirthſchaft ſteht auch in diefer Hinficht Heute jelbftändiger da als vordem.

Beifpiel: wiederum die Eifeninduftrie. Vor fechzig Jahren war diefer Tal ein normaler: England erzeugt mit eigenen Erzen und eigener Kohle Roheifen oder Schmiebdeeifen; Deutſchland verarbeitet e$ zu Eifenwaaren; Defterreich kauft biefe: drei Staaten. Heute dagegen ift das Schema: Nor⸗ malfall: Deutfchland erzeugt Roheifen, Deutfchland verarbeitet es, in Deutſch⸗ land wird es verlauft: ein Staat; Ausnahmefall: Deutichland produzirt die Eifenwaare, ein anderer Staat fauft fie: zwei Staaten.

Baummollinduftrie vor zwei Menfchenaltern: Amerika Liefert England die Baummolle, Deutfchland das Getreide: England fpinnt Gam; Deutfd: [and fauft e8 und vermebt e8; Rußland ift Abnehmer des” fertigen Fabrikates: vier. Staaten wirken ufanmen. Heute: Amerika liefert Deutfchland Baum: wolle und Getreide, Deutſchland verarbeitet den Rohſtoff bis zu Ende und verbraudt das Fabrikat ſelbſt: zwei Staaten wirken zufammen. So ift es au, wenn Deutfchland die Baummollwaaren nad) Amerifa ausführt; drei Staaten find betheiligt, wenn die Ausfuhr in ein dritte Land erfolgt. | Wenn ich es nun aber aud für meine Pflicht hielt, einer oberflädh- lichen und bei Vielen verbreiteten Anfchauung entgegenzutreten, die ohne rechte Kenntnig der Sadjlage eine Theorie von zunehmender „Differenzirung“ der nationalen Wirthichaften, von dem Anwachſen weltwirtbfchaftlicher Urgani- fation umd ähnlichen Schönen Dingen ſich zurechtgezimmert hat, fo liegt mir, wie ich faum ausdrüdlich hervorzuheben nöthig haben follte, nichts ferner, al8 die tiefgreifenden Aenderungen ableugnen zu wollen, die die Beziehungen der deutjchen Volkswirthſchaft zum Auslande während des verfloffenen Jahr: hundertS erfahren haben. Nur ſehe ich fie eben ganz wo anders als die Meiften, die über diefe Dinge gefchrieben haben.

Deutichland und der Weltmarlt. 257

Wenn ich die Wandlung, die das neunzehnte Jahrhundert für Deutfch- land in feinem Verhältniß zu den fremden Wirthfchaftgebieten gebracht hat, in einem Schlagwort zufammenfaffen wollte, fo würde ich etiwa fagen: Deutſch⸗ land ift in diefen Hundert Fahren aus einem Ausfuhrland ein Einfuhrland geworden. Mit diefer Formel erjege ich die übliche Wendung: es fei aus einem Agrarftaat ein Induftrieftant geworden. Ich könnte auch fagen: Deutſch⸗ land habe fih aus einem Bodenland in ein Arbeitland, aus einem Natur: land in ein Kunſtlaud verwandelt. Aber die Hauptſache bleibt ja doc), daß ih erkläre, was ich im Sinne habe.

Unter einem Ausfuhrland verftehe ich ein Land, da8 den gefammten eigenen Bedarf an Nahrungmitteln und PBroduftionmitteln durch Eigenerzeu: gung dedt und darüber hinaus einen Theil feiner aus eigenen Mitteln ge: wonnenen Erzeugniffe fremden Ländern abgiebt. In phyſiokratiſcher Aus: drudsweife würde Das lauten: ein Land, das einen Theil feine Produit net erportirt. Fürchtete ich nicht, mißverftanden und des Abfalle8 von den allein feligmachenden Glauben aller wifjenfchaftlichen Nationalöfonomen (derem Belenntnig lautet: „ich glaube, that the annual labour of every nation is the fund which u. f. w.“) geziehen zu werden, jo könnte ich auch jagen: ein Ausfuhrland ift dasjenige, welches Theile ſeines Bodenertrages gegen andere Bodenerträge oder gegen Arbeit kürzer: Boden gegen Boden oder Boden gegen Arbeit taufcht, Das aber fein Saldo immer mit Boden be: gleicht. Dabei ift es gleichgiltig, ob e8 die Erträgniffe des eigenen Bodens jelbft noch weiter verarbeitet und etwa in Form von Fabrifaten ausführt (dann kauft e8 mit Boden + Zufagarbeit ein): wenn nur die Bodenerjeug- niffe da8 Plus in den Aftiven ergeben.

In einem folchen Zujtande befand fih nun Deutfchland vor Hundert und noch vor fünfzig Jahren. Es fandte die Ueberſchüſſe jeined Bodens theil3 in unverarbeitetem Zuftande in? Ausland: in Form von Getreide, Wolle, Holz, Borke, Flachs; theil® verarbeitet: in Form von Holzwaaren, von Wollwaaren und Leinenwaaren. Diefe beiden Induſtrien, die Woll- induftrie und die Reineninduftrie, die von Alter her, auch als ſie noch durch— aus handwerkmäßig betrieben wurden, doch fchon Erportgewerbe waren, jind recht eigentlich bodenftändige Induftrien Deutſchlands, die nur zur Entwide: lung gelangten, weil jie eine bequemere Form zur Ausfuhr von’ Landes- erzeugniffen darboten.

Im Vorbeigehen mag bemerlt werden, daß immer dann, wenn fich ein beſonders Tebhaftes Exportbedürfniß in einem Lande herausstellt, diejes von einer ftarfen Tendenz zum Freihandel erfüllt wird. So begründeten die vorwaltenden ntereflen des Erportagrarismus die freihändlerifche Politik Preußens in der erften Hälfte des Jahrhunderts, die vorwaltenden Intereſſen

258 Die Zutimft.

des Erportinduftrialismug aber leiteten die Freihandelsaera ber jechziger und ſiebenziger Jahre ein. Sobald die Einfuhrinterefien die Oberhand gewinnen, ſchlägt die Stimmung um: die fchußzöllnerifchen Beitrebungen gewinnen maß- gebenden Einfluß. Das aber war für einzelne Induftrien (Eifen- und Garn- induftrie) in Deutfchland bie Sachlage um die Mitte des Jahrhunderts; für die überwiegende Mehrzahl aller agrarifhen und induflriellen Gewerbe aber ift es die Situation feit Ende der fiebenziger Jahre. |

Deutlich vermögen wir wahrzunehmen, wie der Umſchwung ſich voll zog. Der Kapitalismus und zwar in erfter Linie der gewerbliche Kapi- talismu8 hat ihn bewirkt: wer anders follte diefe Gewalt im neumzehnten Jahrhundert bejigen, Staaten auf andere Grundlagen zu ftellen, als die waren, auf denen fie Jahrhunderte lang ruhten?

Schon jeit einiger Zeit hatte es das Kapital für vortheilhaft erachtet, fremde Bodenerzeugniffe mit den einheimifchen in Wettbewerb treten zu Taflen, auch als diefe noch beträchtliche Weberfchüfie Lieferten: man ſchlug das Keinen und den Wolljtoff durch das billigere Fabrikat aus Baumwolle aus dem Felde. Hier war der Grund der Einfuhr von Produftionmitteln die Minderwerihig⸗ feit des neuen Konkurrenzftoffes gewefen. Die Baumwolle blieb aber doch eine Ausnahme. Die grundfägliche und allgemeine Neuordnung der Dinge nahm erft ihren Anfang, als unter dem Einfluß des gewerblichen Kapitalismus ſich die Induſtrie immer weiter ausdehnte und mit ihren Folgeerfcheinungen: Zu: nahme der Bevölkerung und Städtebildung behufs Beſchaffung der erforder: lichen Produftionniittel, fo hohe Anforderungen an die Erzeugnifie des vater: ländifchen Bodens ftellte, daß fie entweder technifch oder doch wenigſtens wirth⸗ ſchaftlich (zu annehmbaren Preiſen) nicht mehr von der einheimifchen Land⸗ wirthfchaft befriedigt werden Eonnten. Der innere Markt fog zunädit alle Bodenüberfchüffe auf, die früher ausgeführt worden waren. Bald aber ge nügten die Bodenerträge trog ihrer außergewöhnlich ftarlen Vermehrung nicht mehr, um den Bedarf der Induftrie an Produftionmitteln (mozu ich natürlich auch Getreide und Vieh rechne) zu deden. Um den Folgen diefer mißglichen Knappheit zu entgehen, gab es zwei Auswege. Deutfchland hat fie beide befchritten. Der eine führte unter die Erde im eigenen Rande, der andere auf die Böden fremder Länder.

Unter der Erde im eigenen Rande fanden die deutfchen Produzt Cementlager, SKalifalzlager, vor Allem aber natürlid) Kohlen: und Eifer lager. Berdrängung der organilirten Materie durch die organijirte lautet, wir willen, die Loſung, unter der ein Theil der modernen Induſtrie il Siegedlauf angetreten hat. Jeder eiferne Träger, jeder eifene Malt w einen Baum im heimifchen Walde entbehrlih. Der künſtliche Dünger feste eine Menge Vieh, die Anilinfarben gaben die Aderflähhen, die *

Deutſchland und der Weltmarft. 259

mit Krapp oder Waid beftanden waren, zu anderer Verwendung frei. Aber es iſt einlenchtend, daß hierdurch nicht voller Erfag für die knapper werdenden Bodenerzeugnifie gefchaffen werden konnte. So mußte man denn den anderen Ausweg wählen: man mußte die Exnten fremder Länder zu Hilfe nehmen, um ſich die Elemente für die nationale Produktion zu verfchaffen. Was Deutſchland heute vom Anslande einführt, find zu vier Fünfteln Produltion⸗ mittel: 1900 für etwa 4800 Millionen Mark von 6000 Millionen Marl, während noch 1840 über zwei Fünftel der Gefammteinfuhr aus genufreifen Gütern beftand, und zwar überwiegend Kolonialien und verwandten Genufgütern.

Sofern nun die eingeführten Produltionmittel zur Erzeugung von Lebensmitteln dienen oder auch genußreife Lebensmittel Über die Grenze fommen, wird in wachfendem Maße die Möglichkeit gefchaffen, die übrigen Produftion- mittel al8 Rohſtoffe hereinzunehmen und den Produktionprozeß von Anfang bis zu Ende nach Deutfchland zu verlegen. Das bedeutet zunehmende Ten: benz, Wolle, Baummolle, Flachs, Hanf und Jute ftatt Garn, Häute ftatt Leber, Erze flatt Roheiſen einzuführen. 1880 entſprach einer Spinnftoff: einfuhr von 327500 t eine Garneinfuhr von 39400 t; 1900 mar jene auf 667 100 t, diefe auf nur 57 300 t angewachſen. 1880 wurden neben 31 500 t Häuten noch 5723 t Leder eingeführt, 1900 neben 60000 t Häute nur noch 2660 t Leder. 1880 betrug die Menge der eingeführten Erze nur wenig mehr als da8 Doppelte (607007 t) des eingeführten Roheiſens (238572 1): im Durchſchnitt der Jahre 1898/1900 faft das Siebenfache.

In der vorhin beliebten. Ausdrucksweiſe heißt Das: Deutichland taufcht immer weniger ‚fremde Arbeit und immer mehr fremden Boden ein. Es liefert Arbeit felbft genug, mehr als genug. Was ihm fehlt, ift Boden und wieder Boden, Boden der tropifchen, befonders aber Boden der gemäßigten Zone.

Das fcheint mir in der That die Pointe der ganzen Ummwälzung zu fein, die da8 neunzehnte Jahrhundert für Deutfchland gebracht hat. Am Anfang bot der Boden des Teutfchen Neiches fo viel Raum, daß neben dem eigenen Volk noch fremde Völker mit darauf ftehen konnten. Am Schluß find die fremden Völker längft davon verdrängt (Deutfchland führt allerdings auch jegt noch Bodenerzeugniffe aus, aber doch eben längft nicht fo viele, wie e8 fremde einführt), die deutſche Nation hat aber felbft feinen Pla mehr und hat immer mehr Auslandsboden mit Beſchlag belegen müffen. Anders ausgedrüdt:/vor hundert Jahren trug ber deutfche Boden die deutſche Volks- wirthichaft ganz und einige Theile fremder Bolkswirthfchaften außerdem; heute iſt das Yundamentum der deutfchen Volkswirthſchaft weit über die Grenzen Teutfchlands hinaus, tief in fremde Länder hinein ausgedehnt worden.

Breslau. Profeſſor Dr. Werner Sombart.

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260 Die Zukunft.

Schopenhauers Dierfache Wurzel.

hat nicht nur manches Licht auf das Weſen der Sprache gelenkt; er hat auch die Kritik der Sprache dadurch gefördert, daß er ſie als Werkzeug des Erkennens ehrlicher, ſchöner und dichterifcher Hınd- habte als irgend ein deutfcher Philofoph vor ihm. Dazu kommt für mid noch ein anderer Grund, mich eingehend mit Schopenhauerd Begriffswelt zu befchäftigen. Wie fo viele meiner Altersgenoſſen, ftand ich als Student blind unter dem Einfluß feines Geiſtes. Ich glaubte, durch feine Werke zur Löſung der Welträthfel gelangt zu fein, und beantwortete mir jede Frage mit feinen Worten. Ich hatte vorher nichts fennen gelernt, was jich mit erkenntniß theoretifchen Problemen berührte, und erit über Schopenhauer hinweg gelangte ich langſam zur Kenntniß der philofophifchen Anſchauungen, die vor ihm auf: geftellt worden waren. Seine Formulirung der erfenntnißtheoretifchen Fragen war mein Ausgangspunft.e So habe ich eine lange Arbeit darauf verwandt, mich von Schopenhauer8 Begriffen oder Worten zu befreien; und da Diefe Begriffe oder Worte faſt allgemein in den Köpfen des heutigen Gefchlechtes ſpuken zu den „Jüngeren find fie auf dem Umweg über Niegfche gekommen —, fo dürfte diefe Selbfibefreiung aud Anderen nüßlich werben.

Seine erfenntnißtheoretifchen Gedanken ftehen nirgends fo dicht bei= fammen wie in der zweiten Auflage feiner Abhandlung „Weber die vierfache Wurzel des Sages vom zureichenden Grunde“ Er war fünfundzwanzig Jahre alt, als er diefe Schrift mit der Selbftjicherheit der Abftraftion zuerft verfaßte; er war beinahe fechzig Jahre alt, als er fie mit ber erhöhten Selbft- ficherheit der Nechthaberei zur Grundlage feines fertigen Syſtems umfchuf.

An die Spite der Unterfuchung ftelt er das Gefeg der Homogenität, das ung heiße, durch Aufmerken auf die Aehnlichkeiten und Uebereinftimmungen der Dinge, Arten zu erfaflen, diefe eben jo zu Gattungen und diefe zu Geſchlechtern zu vereinen, bis wir zulegt zum oberften, Alles umfaflenden Begriff gelangen. „Da dieſes Gefeß ein transfzendentales, unferer Vernunft weſentliches ift, fett e8 Uebereinſtimmung der Natur mit fi) voraus.“ Hier, an der Schwelle feiner Gedantenwelt, fehen wir fofort, daß unfere Rejig- nation, unfere Einjiht in die Unzulänglichkeit dev menfchlihen Sprade für Schopenhauer immer unerreichbar bleiben mußte. Denn was er ein Geſetz der Vernunft nennt, ift für ung eben nur das Wefen der Sprache, und zwar nicht ihr Gefeg, fondern ihre armfälige Entſtehung. So gelangt er zu dem unvorftellbaren Begriff, dag die Natur mit fich übereinftimme, während wir uns nur mit der ewigen Frage abquälen, ob die Sprache mit der Natur übereinftimme, ja, ob wir über diefe Hebereinftimmung jemals zu einem Urtheil gelangen fünnen. Unter den Formeln des Satzes von zureichenden Grunde

, Schopenhauers Vierfache Wurzel. 281 wählt Schopenhauer die wolfifche al8 die allgemeinfte: „Nichts ift ohne Grund, warum es fei.“ Er sieht nicht die Banalität, die diefer Sat für jeden Nicht-- phifofophen enthält; er ſieht nicht, daß ihm eine Definition des Begriffes „Grund“ oder „Urfache” fehle, daß der Sag außerdem, wie jede Faſſung des berühmten Trägheitgefeges, nur eine Negation fei, daß er alfo in feiner allge: meinften Behauptung etwas vollfommen Unklares von ber Nichtwelt ausfage.

In einer hiſtoriſchen Ueberſicht giebt er ſich Muhe, zu beweilen, daß man vor ihm die verſchiedenen Arten des Grundes oder der Urſache nicht deutlich unterfchieden habe; er zeigt die Unficherheit des Ariftotele8 und führt ein Sophisma des Sertug Empiritus an; ohne herauszufühlen, daß wir noch heute über folche Wortfpiele nicht hinausgelommen find. Er felbft macht von den vier Arten der Urfache, wie fie die Scholaſtiker aufftellten den materiellen, den formalen, den wirkenden Urfachen und den Endurfachen reichlichen Ge: brauch. Bejonders den Unterfchied zwifchen Exfenntnißgrund und Realgrımd befchreibt er gut und ſchenkt e8 dem Spinoza nit, daß er gegen diefe Elementar- weisheit gefehlt habe. Ueber die Lehre Humes, der Sat felbft fei unbewieſen, der Begriff der Kaufalität fei alſo Fein philofophifcher, geht er leicht hinweg. Jeder Beweis, alfo auch der der Kaujalität, enthalte ſchon ben Begriff des Grundes oder der Urfache; alfo wäre jeder folcher Beweis ein Zirkelſchluß. Und Schopenhauer merft nicht, daß er nur das Wortfpiel des Sertus Empirifus dabei wiederholt. Der hatte wigiger gejagt: „Wenn Einer behauptet, es gebe feine Urſache, fo bat er zu diefer Behauptung entweder feine Urfache oder er bat eine. Hat er feine Urfache, fo ift feine Behauptung werthlos; hat er eine, fo giebt es eben Urſachen.“ AU folches Geſchwätz, fo philofophifch es ſich auch einkleiden mag, ift immer nur ein Zeichen dafür, daß uns eine Definition des Bes griffes „Urfache“ fehlt. Ich bin weit entfernt davon, diefe Definition auffinden zu wollen. Urſache ift ein mythologifcher Begriff; wie denn ganz folgerichtig Gott die legte Urfache genannt wird. Mythologiſche Figuren laffen jich befier glauben als definiren. Nur fprachlich befchreiben läßt fich da8 Wort Urfache; wobei ich die Bemerkung einfüge, daß die Vorfilbe. „ur“ etymologifch unferm „aus“ vorausgeht und im Althochdeutfchen auch als Präpofition „aus“ vorhanden ift, fo daß Urſache ganz handgreiflich metaphorifch die Sache ift, aus der eine andere hervorgeht oder erfchloffen wird. Diefe Etymologie lebt aber nicht mehr in unferem Sprachgefühl. Uns ift Urfache immer Das, was auf die Frage „Warum?“ als Antwort erwartet wird. Man bat biefe Trage fehr feierlich behandelt und man hätte den Menſchen wohl auch das fragende Thier nennen fönnen; dann muß man auch die Erwartung einer Antwort feierlidh nehmen. Wir aber fehen in der Neugier des Menſchen, in feinem ewigen Warum nur die einzige Erkenntniß, deren der Menſch ähig ift, die Erkenntniß ſeines Nichtwiffene. Wir fragen unaufhörlid:

262 Die Zukunft.

Warum fällt diefer Hegentropfen, warum trägt diefer Strauch Roſen, warum fagt Du Das und Das? Yede beliebige Antwort, bei der der Ftager ſich für einen Yugenblid beruhigt, nennen wir eine Urſache. Eine Antwort, bei der wir uns dauernd beruhigen Könnten, giebt e8 nicht. In der Wirklichkeit giebt e3 feine Urſache. Yür die Betrachtung der Sprache iſt e8 aber traurig beiuftigend, daß wir in dem Begriff „Urfache“ nur darum etwas Werth: volles zu befigen glauben, weil e8 Fragen auf der Welt giebt. So erklären wir auch den Nominativ damit, daß er ber Trage „wer oder was?“ ent: ſpräche; und wir Narren hören nicht, daß wir mit „wer oder was?“ nur darum fragen, weil e8 eben der allgemeinfte Nominativ if.

Schopenhauers Bild von den „Wurzeln“ des zureichenden Grunde will ich einftweilen übergehen und an feinen vier Klaſſen zeigen, daß er regelmäßig nicht fieht, wie feine Urfache oder fein Grund jedesmal eine andere ſprachliche Bedeutung bat, aber auch nur eine fprachliche.

In feiner erften Kaffe ilt die Urfache Das, was wir uns alltäglid bei diefen Worte denfen. Wir pflegen zu fagen, daß jedes Ereigniß eine Urſache habe und haben müfle. Genauer: jede Veränderung in ber ganzen weiten wirklichen Welt ift eine Folge des vorausgegangenen Zuſtandes, der wieder eine Folge des ihm felbft unmittelbar vorausgegangenen Zuſtandes if. Wir wiffen von Dem, was wir Urfache nennen, abfolut nichts Anderes, al8 daR es in der Zeit der Folge vorausgehe. Und als ob ſich die Sprache über ung Inftig machen wollte, heißt „Folge“, alfo der der Urſache voll: kommen entfprechende Begriff, nichts weiter al3 Das, was ber Zeit nad) dad Spätere iſt. Noch eine andere ſprachliche Eigenthümlichkeit des Begriffes Urfache hätte Schopenhauer bemerken müflen; er bat nur einen Theil davon bemerkt: und dieſen unrichtig. Wenn ich, zum Beifpiel, ein Brennglas in der ſchicklichen Entfernung von meiner Hand halte und nun durch Wegziehen einer Wolfe, die bis dahin die Sonne verdedt hat, eine Schmerzempfindung in meinem Gehirn notirt wird, fo find alle Bedingungen, die zufammen wirken miffen, die Urfachen meiner Schmerzempfindung: die chemifche Zuſammen⸗ fegung meiner Haut, die phyſiologiſche Einrichtung meiner Nerven, die phyſi⸗ falifchen Eigenfchaften des Brennglaſes und fchlieglih der Wind, der die Wolfe fortbewegt hat. Allgemein ausgedrüdt: der allgemeine Zujland, der in dem Augenblid vorher vorhanden war, ift die Gefammtheit der Urfachen, welche die Veränderung (meine Schmerzempfindung) zur Folge haben. In Wirklichkeit haben all diefe Abitraftionen mit meiner Schmerzempfind: nicht3 zu thun. Zum Beifpiel ijt nicht, wa8 man die Wärme der Sr nennt, abftrat eine der Urfachen, fondern um mid) der Sprade augenblicklichen Wiffenfchaft zu bedienen die ganz beftimmte Molekul bewegung, die von der in der ganz beitimmten Entfernung in einem g

Schopenhauers Vierfache Wurzel. 263

beſtimmten Augenblick an ihrem Ort befindlichen Sonne ausgeht. Eben fo ift nicht das Abſtraktum Nervenſyſtem eine Urfache meines Schmerzes, fondern wieder eine ganz beflimmte und wirkliche, an Zeit und Raum gebundene Meolekularbewegung. Ich mache für das Folgende darauf aufmerlfam, dag diefe Art Urſache, die Kauſalität oder (nach Schopenhauer) der zureichende Grund des Werdens, zwar aus der Zeit allein erklärt wird, in Wirklichkeit aber jedesmal in Raum und Zeit thätig fein muß.

Es ift nun gewiß, daß jede Veränderung eine Folge des unmittelbar vorausgegangenen Gefammtzuftandes ift; es ift ferner gewiß, daß es ein un- wifienfchaftlicher Sprachgebrauch) ift, wenn die zulegt eingetretene Veränderung des vorausgegangenen Gefammtzuftandes gewöhnlich die Urfache genannt wird. Wenn, in dem gewählten Beifpiel, meine Schmerzempfindung eintritt, fo wird in der Umgangsiprache das Wegrüden der Wolke Leicht die Urſache genannt werden. Ein Bischen Aufmerkfanteit genügt, um einzufehen, daß die Form des Brennglafes u. ſ. w., daß alle anderen Bedingungen des Er— eignifjes eben folche Urfachen find. Für ein empfindliche Sprachgefühl Liegt die Sache noch klarer. Das Wegrüden der Wolke ift eigentlich die Uxfache, die Haupturfache, die Selegenheiturfache nur für die mitverftandene ftille Frage: „Warum brennt es jegt?“

Was ift alfo Das, was wir die Urſache eines Ereignifjes nennen? Dffenbar doch nur unter allen Bedingungen dieſes Ereigniffes die, auf die unfer Interefie im gegebenen Augenblid gerade die Aufmerkſamleit richtet. Halten wir daneben, daß eigentlich die gefammte Weltlage in jedem Augenblid den nächſten Augenblid beitimmt, daß alfo unfere Aufmerkſamkeit unter Umftänden auf die entlegenften unter den unmittelbar vorausgegangenen Veränderungen gerichtet werben kann, fo wird der Begriff der Urſache noch unzuverläfjiger. In unferem Beifpiel ift meine Schmerzempfindung das neue Ereignig. Dieſe Schmerzempfindung ift in ihrer Stärke beeinflußt durch den Zuſtand meines Nervenſyſtems, der wieder mit meinem gefammten Körperbefinden zuſammen⸗ hängt, das wieder abhängig ift von Seelenerregungen, von Blutverhältniffen in Folge aufgenommener Nahrung u. f.w. Das Ereigniß ift nun nidt eine abftrafte Schmerzempfindung, fondern meine nad) Zeit und Raum und Stärke ganz feſt umfchriebene Empfindung. Ich kann aljo ganz gut meine Aufmerkfamfeit fo einftellen, daß ich diefes oder jenes Nahrungmittel, dieſe oder jene feelifche Erregung, diefe oder jene Geiftesanftrengung (alfo wieder eine Richtung der Aufmerkjamkeit) die Urfache meiner wirkliden Schmerz⸗ empfindung nenne. Es ift für Metaphyfiler gewiß bedauerlih, daß man dag große Geſetz der Saufalität nicht anders bejchreiben fan al: die Summe jprachlicher Bezeichnungen für die einer Folge vorausgegangen Zuftände, auf die unfere Aufmerkſamkeit gerichtet if. Schopenhauer, der diefe werthlefe

264 Die Zutumft.

Abftraltion für ein apriorifches Geſetz erflärt und doch heimlich empfinden mag, daß nur bie einzelnen Veränderungen wirklich find, erfindet ſich eine befondere Diythologie für die Naturkräfte, die ungefähr wie abfolute Statt- halter eines noch abfoluteren Monarchen, „allgegenwärtig und unerfhöpflich“, die einzelnen Provinzen beherrſchen. Er hat Recht, wenn er fagt, Natur- fräfte feien feine Urfachen; denn Abſtraktionen können niemals. Urſachen fein. Die menschliche Sprache aber kennt nicht3 ala Abftraltionen, nennt die engeren eben jo wie die weiteren Abftraktionen Urfachen; und fo jcheint es mir un= wejentlich, ob die Anziehungskraft der Erbe oder ob die Gravitation die Urfache genannt wird, warum der Stein fällt.

Der Standpunft Schopenhauers, den er nad Kant und den Eng: fändern einnimmt, als ob er ihm erobert hätte, führt ihn alsbald dazu, auch wieber den Elementarfchniger zn begehen, den er an Spinoza gerägt Bat. Er ftellt fih vor, daß im menfchlichen Gehirn ein befonderes Organ für die Erkenntniß der Kaufalität vorhanden fei, der Verftand nämlich. Unb es fol nicht geleugnet werden, daß feine deutliche Unterfcheidung zwiſchen Verſtand und Bernunft fehr nüglich geweſen iſt, wenn aud nur zur fauberen Be- feitigung beider Begriffe. . Das Verjtandesorgan aber foll da8 Monopol be⸗ ſitzen für die richtige Auffaffung von Urſache und Folge; daß Schopenhauer die Thätigfeit dieſes Verftandes bald vor aller Erfahrung vorhanden fein fäßt, bald „nach erlangter Uebung“ wirkfam: Das nur nebenbei. Aber er ſchiebt dem Verſtande noch eine Funftion zu, nämlich die Erkenntniß der Welt felbft. Nah diefer Anſchauung ift die farbige, lebendige Welt um uns herum einzig und allein im menſchlichen Berftand und durch den menfclichen Berftand. Da Tann ich den Verdacht nicht loswerden, daß die Veränderungen in unferem . Nerveniyftem, die reale Folgen irgend welcher unfaßbaren realen Urſachen zu fein fcheinen und die erft im menschlichen Verſtand zu Healurfachen unferer Wahrnehmungen werden, zu gleicher Zeit auch für den felben Verftand Er- fenntnifgründe für die Annahme feiner Außenmelt find.

Die Zweitheilung in Berftand und Vernunft zieht ſich durch Schopen- hauers ganze Erkenntnißtheorie. Es ift merkwürdig: Beide zufanmen machen den menfchlichen Intellekt aus, der in Schopenhauer Schädel im Stande fein fol, die Welt zu begreifen; keinem der Theile aber des Intellektes würde man das Einzelne nicht zumuthen, weil jedes Thier doch Verſtand und jeder Tropf Vernunft hat. Der tröpfifchen Vernunft ſoll e8 gegeben jein, denken, die Welträthfel in ihren höchſten Abftraftionen begreifen zu fönnen; der thierifche Verftand foll genügen, um die Kaufalität der Welt zu faflen, die unendliche Kette von Urfache und Wirkung. Man könnte es auch fo ausdrüden, dar nad) Schopenhauer die Welt Materie fei und dag für eine Einiicht in den Materialismus der thieriiche PVerftand genüge, daß die

Schopenhauers Vierfache Wurzel. 265

Welt aber auch immateriell fei und daß die tröpfifche Vernunft den Idealismus errathe. Mit den wirkenden Urfachen befchäftigt fich der Berftand, mit den Urſachen unferer Erkenninig beichäftigt fih die Vernunft. An das Bor: bandenfein von Urſachen glaubt Schopenhauer wie ein Katholil an feine Heiligen. Und fo ift e8 eine unbewußte Schlaubeit von ihm, wenn er den Begriff der Urfache nicht auf die Materie felbft oder auf das Weltganze angewendet wiffen will. Wie dem theologifch gebildeten Katholiken Gott doc) noch über den Heiligen fteht, fo fteht dem Metaphyfiler Schopenhauer bie Materie über den Veränderungen, die aus Urfachen an ihr vorgehen. Er ftedt fo tief in feiner eigenen Mythologie, daß er nicht Hört, nicht ſchon aus dem Wortflang heraushört, wie Materie, Weltganze u. ſ. w. nicht wirken tönnen, weil fie nicht wirklich find. Er hat chen nicht erfannt, daß die ab» ftrafte Sprache unbrauchbar ift für Erkenntniß der Wirklichleit. Dies wird über allen Zweifel Kar, wenn Schopenhauer von der Klaſſe der wirkenden Urfache zu den Urfachen des Erkennens übergeht, zu den Erfenntnißgründen, von der Naturwiflenfchaft zur Logik, vom Berftand zur Vernunft. Hundertmal auf feinem Wege kommt Schopenhauer an eine Stelle, wo ihm deutlich werden müßte, dag die Vernunft, durch die ſich auch nad) ihm, dem Thierfreund, der Menſch vom Thier unterfcheiden fol, identifch ift mit der menfchlichen Spradhe. Sogar die Thatjache, daß die Worte der Sprade niemals an die Wirklichkeit heranreichen können, dämmert ihm auf, wenn er fagt: „Dem Berftand gehören gewiffe Gedanken an, die lange im Kopf herumziehen, gehen und kommen, fich bald in diefe, bald in jene An- fhauung Heiden, bis fie endlich, zur Deutlichkeit gelangend, fi in Begriffe _ firiren und Worte finden. Ya, e8 giebt deren, welche fie nie finden, umd leider find fie die Beften: quae voce meliora sunt, wie Apulejus jagt.” Aber auch er ſteckt zu tief in der Scholaftif oder im Wortaberglauben, um aus dem Labyrinth herauszufinden. Er glaubt an die Eriftenz von Urfachen und fucht darum nad) Urfachen für die Wahrheit von Urtheilen. Es find ihm, wie Allen, die Erkenntnißgründe Wir jedoch lernen, daß alle Urtheile nur tautologifche WAuseinanderlegungen von Begriffen oder Worten, daß die Worte oder Begriffe nur Erinnerungen an unſere Sinneeindrüde find. Tautologien brauchen keinen Logifchen Beweis. Und Erinnerungen find, wenn unfere mangelhafte Phyſiologie fie auch noch nicht befchreiben kann, eben auch nur Wirkungen innerhalb der Wirklichfeitwelt, die alfo keine Erfenntnißgründe brauchen, fondern nur Das, mas man aud fonft wirkende Urfachen nennt. Zu der Beobadhtung, daß all feine tiefiinnigen Spekulationen nur Beluftigungen der Sprache feien, fonnte Schopenhauer durch feine eigene Bemerkung fommen, dag in den romanifchen Sprachen für Erfenntnißgrund und Vernunft nur ein einzige® Wort vorhanden fei, wie im Franzöſiſchen

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266 Die Zukunft.

„raison“; daß ferner der griechiſche Ausdrud, der umfaſſend für Bernunft und alle mögliche geiftige Thätigfeit ausreichen muß, Aoyos, vor Allem „Wort* bedeutet. Im Deutfchen Klingt e8 no nad) Etwas, wenn man fagt, die Vernunft herrfche über die Erkenntnißgründe; im Franzöfifchen wäre e8 eine greifbare Albernheit. Ein König, der mit feinem einzigen linter- thanen ibentifch if, würde doch auf der Welt wenig Achtung einflößen. Schopenhauer glaubt an Urfahen des Werdens, die auch in ber Umgangsſprache Urfachen genannt zu werben pflegen; er glaubt ferner an ein Erfennen und an deſſen Urfacdhen, die er mit dem technifhen Ausdrud Erlenntnißgründe bezeichnet; er glaubt endlich, außer an die Wirklichkeitwelt und ihre Srfenntniß, an ein befonderes, von Beiden verfchiedened® Sein ber Dinge und denkt dabei zunächft an die Rage der Dinge im Raum, an ihre geometrifchen Berhältniffe. Die geometrifchen Berhältniffe oder Gefege müffen aber nach der Gewohnheit umfere8 Denkens auch auf irgend Etwas zurüd- zuführen fein, das ihre Grundlage bildet, den Grund ihrer Lage, und diefen nennt Schopenhauer die Urſache bes Seins, was fidh als ratio essendi viel bornehmer ausnimmt. Die Zufanmenwerfung der wirkenden Urſachen unb der Erkenntnißgründe unter dem gemeinjamen Begriff der Urſache ift fo alt und für das Bedürfniß der Menfchheit, ihre Unwiſſenheit wenigftens ſymmetriſch aufzubauen, fo verlodend, daß auch befiere Köpfe nicht Leicht begreifen, wie wenig die Begriffe Urſachen und Gründe mit einander zu thun haben. Daß aber die Anreihung der Grundlage des Seins an diefe beiden Begriffe em unbewußter Wortwig fei, follte doch ſchneller Har werben köͤnnen. Das Urfachen und Gründen Gemeinfame ift doch wenigftens ihr zeitliche Ver⸗ hältniß zu ihren Folgen und Folgerungen. Die Urfache geht der Wirkung zeitlich voraus, fie kann auf die Wirkung nicht folgen; e8 giebt feine fogenannte Wechſelwirkung zwifchen Urſache und Wirkung, ein wahnjinniged Wort. Berner geht der Erkenntnißgrund der Schlußfolgerung zwar nit in Wirk lichkeit voraus, aber doc jedesmal im bewußten Denfen; eine Wechfelwirfung zwifchen Erfenntnißgrund und Folgerung ift alſo wenigftens in der bewußten Logik ein Unfinn. In den Raumverhältnifien der Geometrie aber, für die Schopenhauer befondere Seinsgründe aufftellen möchte, ift die Wechjelwirfung die felbftverftändliche Hegel. In den Berhältnifien zwifchen den Seiten eines Dreiedes und feinen Winkeln kann man unzweifelhaft die Winkel die Grundlage für die Seiten nennen und umgelehrt; die Ellipfe wird durch ihre Brennpunl and Keitftrahlen beitimmt und umgelehrt; jeder Schüler der Geometrie fenı diefe Wechſelwirkung. Daraus allein ift erfichtlih, daß die Grundlagen di geometrifchen Seins mit den unbedingt vorausgegangenen Urſachen vo Wirkungen begrifflich nicht da8 Mindefte zu thun haben können, daß e Bufall der Sprachgefchichte nur ähnliche Worte verw.ndet hat und daß m

Schopenhauers Vierfache Wurzel. 267

mit gleichem Recht Bauer (Landmann) und Bauer (Käfig) geiftreich unter einen Gefammtbegriff fnebeln könnte. Ganz leife deute ich hier auch darauf bin, dag Schopenhauer bei diefer befonderen Behandlung der Raumbegriffe eine Konfufion anrichtet. ES ift doch auch für ihn Mar, daß Raum und Zeit zufammengehören, wenn er auch den Gedanken, daß die Zeit bie vierte Dimenfion der Wirklichkeit fei, nicht anſchaulich aufzufaflen vermag. Nun vollzieht fich der ewige Wechfel in der Welt, der Wirklichkeit oder Kaufalität heißen Tann, einzig und allein in der Zeit; alfo gehört der Begriff der Zeit unweigerlich zu dem Berhältnig von Urfache und Wirkung. Ihm wird deshalb nicht wahl dabei, wenn er die Grundlage des Seins auch für die Zeit auffucht, für die Arithmetil, deren Zahlen men jich als im der Beit ablaufend vorftellen kann. Immer wieder Tehrt er zur Geometrie zurüd, die er gern (eben als eine neue Klaſſe von Begriffen) auf die Anfchauung be⸗ gründen möchte, ftatt auf Erlenntnißgründe, wie es die Lehrbücher feit zwei- taufend Jahren thun. Aber das Verhältniß zwiſchen Urfache und Wirkung erfordert nicht nur die Zeit, fondern auch den Raum; jede Veränderung geht in der Zeit vor fi, aber auh im Raum. Was alfo am Raum wirklich ift, Das kann fchon bei der erften Kaffe der Urfachen nicht überfehen werben.

Ein Beifpiel, da8 Schopenhauer jelbft falfch verwerthet, wird uns zeigen, wie die Sprache ji zu günftiger Stunde dagegen firäubt, den Begriff der Urſache oder des Grundes fo ſinnlos zu zerfpalten, wie es Schopenhauer den Scholaftifern nachthut. Es ift offenbar das Verhältuig von Urſache und Wirkung, wenn braußen die Juniſonne fcheint und darauf die Queckſilber⸗ fäule im Thermometer bis zum fünfundzwanzigften Strich fteigt. Es iſt offenbar ein fogenannter logiſcher Gedankengang, wenn ich aus meinem kühlen Zimmer durch die Fenfterfcheibe die Duediilberfäufe bis zum fünfundzwanzig- ften Strich, fteigen fehe und danach vermuthe, draußen jei e8 bedeutend wärmer als in meiner Stube. ES ift endlich ein geometrifches Verhältniß, wonach der fünfundzwanzigfte Strich auf dem vierten Theil der Hunderttheiligen Stala gefunden worden iſt. Allgemein kann man es jo ausdrüden, daß jedesmal ein Grund vorhanden war; aber doch nur, weil unfer deutfches Wort Grund eben fo vieldeutig, fo undefinirbar ift wie etymologiſch unerflärbar. Unſere Konjunktion des Grundes „weil“ weit auf Grund und Urfache bin, denn fie ift ja ursprünglich eine Zeitpartilel. Trogdem ift die Sprache wieder fein genug, die verfchiedenen Klaſſen der Urſachen nicht vermifchen zu laſſen. „Das Thermometer fleigt, weil e8 warm ift“: Das ift ein klaſſiſcher Fall für da8 Berhältnig von Urſache und Wirkung. Weil wir die Beobachtung auf den allgemeineren Sag der Ausdehnung durch die Wärme zurüdführen fönnen und weil das Thermometer nach der Entdedung folcher Weisheit er= funden wurde, find wir geneigt, in unferem Sag eine Erklärung zu fehen.

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268 Die Zukunft.

Wir nennen e8 ja immer eine Erflärung, wenn wir neben eine Wirkung ihre fogenannte Urſache ftellen, wie wir Geftern fagen, bevor wir Heute ans fprechen. Leiften wir auf folchen Selbſtbetrug Verzicht, jo wird unfer Sag nur bedeuten und lauten können: „Das Quedfilber fteigt, fobald e8 warm if.“

Nun zum Erkenntnißgrund. Kein Menſch mit einigem Sprachgefühl wird mit gutem Gewiflen fagen fünnen: „Es ift draußen warm, weil dad Duedfilber geftiegen ift*“. Das „weil“ giebt nad jegigem Sprachgebrand die Urfache an; wenn der Erkenntnißgrund eine Urfache wäre, fünnte bie Konjunktion nicht jo prüde fein, fi) zu weigern. Wir aber können höchſtens fagen: „Weil das Queckſilber fteigt,. darum fage ich, meine ich (m. f. w.), es werde draußen warm fein“. Man achte auf den Unterfchied. Erſt wenn ich ftatt ber Thatfache mein Urtheil ſetze, kann ich das Steigen des Thermo- meter8 einen Grund oder eine Urfache nennen; und es ift dann eine wirf- Iıhe, eine wirkende Urſache. Früher mußte die Sonne mir erft direlt auf die Haut brennen, bevor meine Empfindung zu dem Urtheil führte, es jei warm; jet vollzieht das Gehirn ſchon aus der Entfernung das Ürtbeif, durch das Auge. Der Tod des Hirfches ift eine Wirkung, einerlei, ob eime ſtarke Hand ihn mit einem Steinbeil erfchlagen bat oder ob mein nerbdjer Singer nur den Hahn eines Schiefgewehrs berührte.

Auf die Eintheilung des Thermometers in hundert Grade und auf die räumliche Grundlage diefer Striche gar die Konjultion „weil“ anye- wenden, verweigert die Sprache durchaus.

Schopenhauer angeftrengte Bemühungen, die vier Klaffen des rundes oder der Urfache (ich weiß nicht, ob zur wirkenden Urfache, zum Erkenntniß⸗ grunde, zur mathematifchen Unterlage oder zum Motiv) feines Syſtems zu maden, erinnern mid an eine Bemerkung von W. K. Clifford in einem Vortrage „Ueber die Ziele und Werkzeuge des wiſſenſchaftlichen Dentens*. Es ift ein Miſchmaſch von Straßenweisheit und feinfter Kritik. Clifford fagt: „Das Wort Urſache bat 64 Bedeutungen bei Platon und 48 bei Ariftoteles. Das waren Männer, die fo genau wie nır möglich wiſſen wollten, was fie meinen; wie viele Bedeutungen aber nun das Wort im den Schriften von Leuten gehabt hat, die ſich nicht bemüht haben, zu wifjen, was jie meinten, wird hoffentlich niemals zufammengerechnet werden.“ Würde man bei Schopenhauer oder bei irgend einem anderen Phil. a ſolche Worte jedesmal genau fo bdefiniren, wie fie an jeder Stelle _ ı gemeint fein können: wir würden eben fo viele Bedeutungen wie St x erhalten. „Jedenfalls hat bei Schopenhauer das Wort in feiner grundlege ı Abhandlung feine einheitliche Bedeutung; und we die verfchiedenen Bedeutur ı dennoch zufammenfallen, da ift ihm diefer merkwürdige Vorgang nit = wußt. Das ift befonder8 deutlich bei der vierten Klaſſe feiner Urſacher⸗ ı Urfaden des menfchlichen Handelns, den Motiven.

Shopenhauers Vierfache Wurzel. 269

Es ift eins ber ftärkiten Verdienfte Schopenhauers, daß er bie Unfreis heit der menschlichen Willensafte immer rüdjichtlo8 behauptet und in feiner Breisfchrift meifterhaft bewiefen hat. Nach feiner Xehre ift die Bewegung des Steines um nichts nothwendiger als die That eines beflimmten menſch⸗ liſchen Charakters auf ein wirkende Motiv hin. Es mußte ihm alſo Har werben und ift ihm and Mar, daß die Motive des menfchlichen Handelns zu den wirkenden Urſachen gehören, alfo in feiner Sprache zu der erften Klaſſe der zureichenden Gründe. Freilich ift ung der materielle, der phyſiologiſche Zuſammenhang zwifchen einem ausgefprochenen Wort und unferer darauf ‚nothwendig folgenden Handlung nicht bekannt, wir haben nur abftrakte Worte für die Zwifchenglieder des Prozeſſes; aber wir willen fchon, daß wir aud für die Veränderungen in der phyfifalifchen Welt nur Worte haben, daß ung auch da der eigentliche Vorgang ein Diyfterium iſt. Es lag alfo für Schopen- bauer urfprünglich und vom Standpunkt feiner Erfenntnißtheorie fein Grund vor, die Motive zu einer befonderen Klaſſe der Urfachen zu machen. Aber immer wieder verwechjelt Schopenhauer die wirklihen menfchlichen Hand⸗ ungen mit dem abjtraften menjchlichen Willen, den er noch mythologiſch ins Ungebeure vergrößert, bis er aus ihm die letzte Urſache, den Urgrund der beiden Welten, der Wirklichfeitwelt und der metaphyfifchen Welt, geftalten kann. Diefer menfchliche Wille wäre aber ein gar zu armfäliges Ding, wenn er zu der erſten Klaſſe der „Objekte für das Subjelt“, wenn er zu der erften Klaſſe der Urfachen gehören würde. Dann wäre der menfchlihe Wille eben nichts weiter als dad Weſen, der Charakter des einzelnen Menfchen, wie die Eigenſchaften lebloſer Dinge für ihn das Wefen und ber Charakter biefer Dinge find. Da Schopenhauer den menſchlichen Willen, dieſes Abſtraktum des gefälfchten Selbftbewußtfeins, für etwas höchft Reales hält, eigentlich für das einzige Reale im Weltgebäude, fo. wird ihm diefes Abftraftum, das wir Alle in unferem Selbftbewußtfein als ein vieldeutige8 Wort vorfinden, zu einer unvergleichlichen Entdedung ; und die Beobachtung, daß Menſchen nach Motiven bandeln, trennt fie auf einmal von der übrigen Welt. Motivation muß darum etwas total Anderes fein ald Urfächlichkeit. „Die Motivation if die Kaufalität von innen gefehen.“ Mit diefem Sag ift Schopenhauer ungefähr bei der „unmittelbaren Anſchauung“ Scellings angelangt, für die er fonft nit Spott genug hat. Das Alles dem Willen zu Liebe, feinem grundlofen Gott; von diefem Wortaberglauben und zu befreien, ift faft noch wichtiger als die Einfiht, au wie unzuverläfjigen Worten das Syſtem ber „Bier: fachen Wurzel des zureichenden Grundes* aufgebaut ift.

Grunewald. Fritz Mauthner.

kt

270 Die Zukunft.

Die Aerzteſteuer.

ie VBorftandswahlen in der Berliner Medizinifchen Gefellichaft, die das

Präfidium diefer Aerztevereinigung, einer der größten der Welt, im bie Hände des Herrn von Bergmann gelegt haben, fordern diesmal nicht naar durch die Perfönlichkeiten der Kandidaten noch durch die Lebhaftigleit der Agitation, fondern viel mehr durch das Hineinziehen bedeutfamer Standes: fragen in die für und wider den Einzelnen vorgebradhten Argumente das Intereſſe der ganzen deutfchen Werztefchaft heraus. Der Gegenfag zwiſchen einer weſentlich repräfentativen und einer mehr fachlich- fozialen Richtung wird ſich ohne Zweifel in den nächſten Jahren noch verichärfen; wenn er auch für das Präjidium zunächſt eine glüdliche Löſung gefunden zu haben fheint, fo fann es doch auf die Dauer für die ganze Atmofphäre einer fo gewaltigen Genoſſenſchaft nicht belanglos bleiben, ob die Mehrzahl ihrer Mitglieder durch einen Mangvollen Namen und eine impofante Erſcheinung oder durch unzweideutiges Belenntniß zu beftimmten Auffaflungen der Standes: probleme vor der Welt vertreten fein will. Mehr aber als diefe prinzipielle Frage feflelt vorläufig ein fcheinbar nebenfächliches Geplänfel, da8 doch Die im Werzteftand latente Kriſis vecht hell beleuchtete.

Der Arzt gehört, mit dem Advokaten, dem Schriftſteller und dem Kaufmann, befanntlih zu den fogenannten freien oder liberalen Berufen, bie im Gegenfage zu den Beamten das Recht haben, nach eigener Wahl zu arbeiten, zu genießen und zu reden, natürlich auch zu hungern und wenn ihr Reden läftig wird eingelperrt zu werden (da man ihnen weder eine Karriere abfchneiden noch ein Amt nehmen kann). Im Sonnenfdein diefer goldenen Freiheit ift allgemach die materielle und foziale Lage des Arztes immer erbärmlicher geworden; und da der Staat feine Xuft zeigt, die Tiberalität diefeg Standes anzutaften, fo bleibt nur der Weg ftraffer innerer Organi- fation, wenn eine Beflerung der ärgften Mipftände angebahnt werden ſoll. Unter den leider nur zu zahlreichen ärgften bat ſich ſehr bald die Nothlage der Aerztewittwen und Werztewaifen als ein ganz arger herausgeftellt; und ber Gedanke drängte fich auf, ob nicht die Steuer, die der Arzt an feine Standes- vertretung, die Aerztekammer, zahlen muß, zu einem Theil für die Befferung diefer Nothlage Berwendung finden fünnte. Die Prüfung der verfügbaren Mittel ergab die Möglichkeit folcher Verwendung; man durfte ſich auf de” Gelingen eine Werke freuen, da8 in der grauen Mifere der ärztliche Standesfehden einen hellen Lichtpunkt zeigte. Da erfüllte ſich der Fluch, der nun einmal jeder Steuer anhaftet: gern bezahlt fie Seiner; und jetzt machten ein paar Herren ernftlich Miene, fie überhaupt nicht zu zahlen. Eim Reihe von Vertretern der theoretifchen Disziplinen in der mebdizinifchen Fakult?

Die Aerzteftener. 271

richteten ein Memorandum ans Oberpräfidium der Provinz Brandenburg, in dem fie geltend machten, daß die Theoretiker gerechter Weife von Be⸗ faftungen ausgefchloffen bleiben müßten, deren Vortheile nur die eigentlichen Aerzte einheimften. Daß zwifchen Lehre und Praris, zwifchen Inſtitut und Klinik nicht immer lautere Harmonie herrfcht, weiß man genugfam aus jener Zeit, da Rubolf Virchow die Diktatur des Sezirmeſſers und des Mikroſkops über die medizinische Forfchung proflamirt hatte und Herr von Esmarch, der trotzdem an Gelenkneuroſen glaubte und feine Studenten glauben lehren wollte, ohne Umftände als Charlatan gebrandmarlt ward. Die Zeiten haben fich feitbem geändert; in der Anatomie, Phyiiologie und pathologifchen Anatomie herrfcht eine unverlennbare Stagnation, während die Mlinifche Forfhung auf - allen Gebieten einen Auffchwung erlebte. So ift der Groll in die Reihen Derer eingezogen, die fi) als Hüter der reinen und reinften Forſchung fühlen. Das verfteht man; daß aber der Unmuth fich in einen fiber etliche Bogen Kanzleipapiers hingedehnten Nothfchrei an Herrn von Bethmann=Hollweg ‚entladen könnte, hätte den illuftren Männern, die unter den Memorandum verzeichnet ftehen, fo leicht Keiner zugetraut.

Das war am letzten Julitage des Jahres 1901; und in der Sigung der brandenburgifchen Aerztekammer vom November des felben Jahres haben die Mdreffanten ziemlich unzweideutig zu hören befommen, wie die Aerzte über ihr Bettelgefuch denken. Ganz befonders erfreulich war, daß Herr von Bergmann feine Anficht nicht zurüdhielt; und feine Stellungnahme hat ihm wohl nicht zum Wenigften die Sympathien miterobert, die jegt in feiner Wahl zum Ausdrud gelangten. Der Zorn über die Theoretiker zeigte fi) Aber- Haupt ganz und gar noch nicht verraucht, wie der Vorftoß bewies, der zwei von den Unterzeichneten, Träger Mangvoller Namen, aus dem Borftande der Geſellſchaft verdrängen wollte. Doch diefe formalen Konfequenzen kümmern uns nicht. Intereſſant bleibt die allgemeine Seite der Sache. Denn wunderbar dunkt mich der Umftand, daß die Adrefjanten in den inzwifchen verfirichenen anderthalb Fahren noch feine Zeit gefunden zu haben fcheinen, die unver meidlichen Folgerungen aus ihrem Vorgehen zu ziehen. Aber ich bin ſicher: e8 kommt noch. So bedeutende Forfcher können ſich nicht zu einer wirfungs [08 verpuffenden Demonftration hergegeben haben. est herrſcht nur die Ruhe vor dem Sturm; und die Herren werden, ift die Beit erft erfüllet und eine günftige Gelegenheit da, die reinliche Scheidung von den Jüngern der Praxis fortfegen. Sie werden eine Bewegung einleiten, deren Ziel die Ablöfung der theoretifchen Fächer von der medizinifchen Fakultät und ihre Einfügung in die philofophifche ift. Der potenzirte Idealismus, der die reine Forſchung von der angewandten trennt, wird ja den Schmerz über bie niedrigeren Honorarfäge für Vorlefungen und Kurſe, wie fie leider der

272 Die Zukunft.

philofophifchen Fakultät eigen find, verminden helfen. Die Theoretifer werden - unverzüglich aus allen Xerztevereinigungen außtreten und wehen Herzens zwar, doch ftolzen Sinnes auf die Frühlingstage in Spanien Verzicht leiften, bie der nächſte internationale Kongreß ihnen in Ausficht ſtellt. Sie werden in den Reihen ihrer neuen Fafultätgenofien den dort immer noch micht unnügen Kampf für die Freiheit der wiflenfchaftlichen Forſchung mit durch- fechten, der für die mebizinische Fakultät feit Virchows befreiendem Nath zum Kompromiß mit den herrfchenden Kirchen eine Mär aus längft ver- klungenen Beiten wurde. Kurz, fie werden durch die That beweifen, daR fie die Vertreter des beftillirten oder raffinirten oder fublimirten oder font eines fuperlativifch gereinigten Forſchungprinzips find und in der Gemeinfchaft mit den Praktikern an ihrer Unbefledtheit nur Schaden nehmen Fönnen. Im Ernſt: es war eine gigantifche Thorheit, fieht mans verföhnlich an. Die Herren werden Ieugnen, daß der alte Groll der Theorie wider die Klinik bier feinen Ausdrud fich fuchte; fie werden, wie immer vor ber Melt, leugnen, dag folder Groll fie erfülle. Gut; fo bleiben nur die materiellen Motive übrig. Sch möchte nicht annehmen, daß in Gelehrten von der finanziellen Rage der Waldeyer, Hanfemann, Rubner Erwägungen der Sparfamleit lebendig geworden feien; ich will gern glauben, daß die Chefs für ihre Affiftenten ins Zeug gingen. Hier fol auch nicht Alles wieder- holt werden, was über die Unmöglichkeit der Abgrenzung zwifchen Theoretifern und Yerzten ausführlich in der Kammer gejagt worden ift; es gilt für die Aſſiſtenten, die fih oft no gar nicht für die reine Lehre als Lebensberuf entfchieden haben, oft auch das theoretifche Inſtitut als eine Durchgangsſtufe abfolviren, in verftärktem Map. Aber etwas ganz Underes noch mußten die eilfertigen Adreſſanten fich überlegen. Sie gerade find e8 doch, die darauf pocdhen, daß durch die in ihren Händen liegende Borbildung der Arzt fich vom Pfuſcher unterfcheide; und man hat ihnen ftetS gern eingeräumt, daß nicht kliniſches Talent an ſich jedem Laien mag e8 eignen —, fondern erſt defien Verbindung mit willenfchaftlicher Kenntniß des menfchlichen Körpers den modernen Arzt ausmacht. Damit aber fällt den Theoretilern am Standes fampf ein hohes ibeelle8 und prinzipielle Intereffe zu. Denn die Ent: fremdung weiter Kreiſe vom Arzt fteigert fi dem theoretiſchen Mediziner gegenüber vielfach zum unverhüllten Haß, zur Feindſäligkeit. Die Herren follten aus der Zeitung willen, wie anrüchig den meiften Laien die “” thoden der theoretifchen Medizin, die Präparation und Sektion der Lei. gar die Bivifeftion am Thier erfcheinen, wie fie nur verziehen werden, ı der Gedanke noch halbwegs lebendig ift, dag fie Mittel zum Zweck Linderung menfclichen Leidens ſeien. Trotzdem ift oft fon eine fanat Agitation gegen die Duldung jener Methoden aufgeflammt; und ift eg !

Die Herzteftener. 278

vergefien, wo biefe Predigt die mwilligften Ohren fand? In den Kreifen, von denen bie Geſetze gemacht und gehandhabt werden. Verachten die Theoretiker erft die Nachbarſchaft des Krankenbettes, ziehen fie ſich auf den gemeihten Schemel det Forſchung zurüd, die nur des Forfchens wegen zu forfchen vor⸗ giebt: er Könnte ihnen raſch ein Iſolirſchemel werben, auf dem ihnen bie geundlegenden Methoden ihrer Thätigkeit in aller gefeglichen Form aus den Händen gewunden find. Ale ftändijche Solidarität zielt natürlich auf Vor— theile und nicht nur auf ideelle ab; aber fie fegt auch die Bereitwilligfeit voraus, für den Bortheil hier das Dpfer dort zu bringen. Es war wirklich fein Auhmestag in den Annalen bes Werzteftandes, an dem bie Vertreter der reinen Forſchung ein winziges finanzielles Opfer zu verweigern drohten, ohne auch eines der Vortheile zu gedenken, die ihre Einfügung in bie Werzte- ſchaft materiell wie ideell ihnen bringt.

Doc der Notbfchrei feheint nur eine vorlaute Steigerung viel allge: meineren Murrens zu fein. Ueberall wächft die Unzufriedenheit wohlhabender Aerzte mit der Steuer, die die Standesvertretung von ihnen fordert. Man war nämlich horribile dietu fo unzart, diefe Steuer nicht als ſchablonenhaft gleichen Betrag allen Kollegen aufzubürden, fie nicht nur nad dem Berufseinfommen, nein: nach dem Vermögen abzuftufen. Was geht den Stand ererbtes, erheirathetes Geld an? So lautet, in därre Proſa über: fegt, was unter allerlei fozialethifchen Phrafen dagegen vorgetragen wird. Mit Berlaub: gerade dieſes Geld muß den Stand interefficen. Wenn ber Arzt über ein Hohes Einkommen aus feiner Praris verfügt, fo fann er allen- falls fagen: Das ift die Frucht meiner Arbeit; hr feht, man kann es auch heute noch jo weit bringen; gehet hin und macht e8 eben fo. Der Sohn reicher Eltern, der Gatte einer reichen Frau hat kein Recht mehr zur folcher Mahnung. Sie danken e8 nicht fi, fondern Andern, daß die Standes- mifere fie nicht trifft, daß fie nicht in die Frohn irgend einer Kaſſe fich be- geben müſſen, um ihr tägliches Brot zu verdienen. Aber was fie mitbehelligt, it der foziale Niedergang des Standes, der mit dem materiellen untrennbar zufammenhängt. Es giebt ja auch Einzelne, die davon nichts fühlen, denen es genügt, daß bie Gefellfchaft ihnen auf Grund ihres Geldbefiges die ge- bührenden Ehren bezeugt. Doc fie find felten; die Meiften empfinden es perfönlich, daß der Arzt nicht bedeutet, was er bedeuten follte, und daß man fie felbft nicht nach dem Stande, fondern nach dem Gelde behandelt. Wie diefe Männer an. ihrer Pflicht zweifeln können, mehr als ihre minder be: gänftigten Kollegen für den Standesfampf beizuftenern, ift unerfindlich. Wollten fie fonfequent fein, fo müßten fie dem Stande jede Hilfe verfagen. Erkennen fie aber Maßnahmen und vor Allem Organifationen zur Hebung der Standesehre als berechtigt, als nöthig an, jo muß ihre Einficht ihnen

274 Die Zuhmft.

fagen, daß fie den Haupttheil der Kriegskoſten deden müflen. Was der fchlecht bezahlte Kaflenarzt dauernd leiftet, wenn er auf bie billigen Kunſi⸗ griffe gewerblicher Betriebfamkeit verzichtet, um von der Standesehre nichts preißzugeben, Das bleibt immer noch mehr als das jährlich einmal geopferte Sümmchen eines begüterten Kollegen, mag e8 auch den Normalbeitrag ums Hundertfache überfleigen. Wenn man nun auf die private Wohlthätigfeit hin⸗ weift, die nie verfagen, feines Arztes Witwe oder Waife verhungern lafjen werde, fo antworte ich: Richesse ift nicht Noblesse; der verarmte Edelmann wıag nichts Beſchimpfendes darin fehen, daß er die Hilfe feiner Standesgenoffen anruft und annimmt: der Wohlthaten heifchende Bürger ift den Meiſten nicht beffer al8 ein Bettler. Mancher reiche Arzt fühlt fich in der Wolle des Almoſeniers fehr behaglich; fein wohlthätiges Wirken foll dantbar an- erfannt, ihm aber auch nicht verfchwiegen werden, daß Mittelftand und Pro letariat der Aerzte die Nothwendigkeit, ihre Familien auf die Gute reicher Kollegen angewiefen zu jehen, als eine Demüthigung empfinden. Nicht ‚Gnade wollen fie; das Ziel ihres Strebens ift: den Hinterbleibenden das Recht auf würdige Eriftenz zu jichern.

In dem Maße, wie wirthfchaftlich und fozial ein Stand finft, ver- fließt ihm der Reichthum feine Pforten; die Beſitzenden laſſen weber ihre Söhne fi) dem Stande zuwenden noch ihre Töchter in ihn hineinheirathen. Weit ift unfere höchſte Bourgeoifie von diefer Einfhägung des Arztes fchon heute nicht mehr entfernt. Wenn aber die Plutofratifirung einen Beruf inner- lih ausdörrt unfere Yuriften geben das Beifpiel —, fo wirkt die Ochlo— fratifirung erft recht nach allen Seiten hin entartend und verfümmernd. Ich mag nicht glauben, daß auch nur einem einzigen der wohlhabenden Aerzte diefe8 Ende gleichgiltig if. Dann aber follen fie auch ihr Verhalten danach einrichten. Richesse oblige; aud) zum Steuerzahlen. Budgetverweigerung, wenn mobil gemacht werden foll: die Hiftorie hat noch immer fehr unzwei- deutig darüber geurtheilt.

Charlottenburg. Dr. Billy Hellpad.

m Selbitanzeigen.

Die Einheitichre (Monismus) als Religion. Zweite Auflage. Pr ı 2 Marl. Seibfiverlag Prag-Sarolinenthal.

Das Büdleın baut die Lehren Spinozas, Darwind und Haeckels, einem bewohnbaren Gebäude aus. Neu ift die Anfchauung, daß das Bewuf

Selbſtanzeigen. 275

ſein des Menſchen durch das Zuſammentreffen mehrerer phyſikaliſchen Kräfte in einer Zelle oder in einem Syſtem kommunizirender Zellen in Erſcheinung trete, daß alſo jede im Weltraume iſolirt wirkende Kraft ber Träger eines Bewußt⸗ feins fei und das Weltall als ſolches Leben habe, das man von je her mit dem Namen „Sott“ bezeichnet Hat. Eine phantaftifhe Beichreibung biejes Lebens verfuche ich nicht, fondern Eonftatire nur, daß die Naturnothwendigkeit und dag fittliche Gefühl die wejentlicden Erſcheinungweſen des Alllebens feien. Ich ge: lange zu der Formel: „Wir glauben an einen lebendigen Gott, deifen Körper das Weltall ift, deſſen Wille uns nur in dem fittlihen Gefühl und in der un abänderliden Beziehung zwiſchen Urſache und Wirkung erforfchlich ift, der dem menſchlichen Geſchlechte die Zweckmäßigkeit Das heißt: das Streben nad dem Wohl des Einzelnen wie des Ganzen vorgelegt hat. Zu diefem Be huf Hat er uns eine weitreichende Freiheit des Willens belaffen, ben Kampf ums Dafein, das Gewiſſen und bie von der Gemeinjchaft anerkannten Sitten: gelege auferlegt." Diefe Formel fcheint mir ausreichend, ein Band um frei- gefinnte und edeldenfende Menjchen zu fchlingen, den Verbundenen zur Freude und zum Schuß, ben Bedrüdern des freien Gedankens zum Truß.

Prag. Dr. 3. A. Bulova. s

Königgräg. Karl Krabbes Verlag. Illuſtrirt von Speyer.

Die Entſcheidungſchlacht um die Vorherrſchaft in Deutfchland, diefe nad Umfang ber Streitmafjen größte Schlacht der Neuzeit nächſt der von Leipzig, fuche ich fo plaftiich zu jchildern, daß die inneren und äußeren Urſachen bes preußiſchen Erfolges eben jo Tlar bervortreten wie die Hingebende Tapferkeit der Defiegten. Die Großthaten der Garde und der Divifion Franſecky, die Reiter- ſchlacht von Strefetig jehen wir vor und und alle Einzelheiten des Ringen find zu einem Bilde panoramiſch vereint.

Wilmersdorf. Karl Bleibtreu. 3

Die Proftitution in Paris. Eine ſozialhygieniſche Studie von Parent- Duchgtelet; deutfch bearbeitet und bis auf die neufte Zeit fortgeführt vom Dr. Montanus. Fr. Paul Lorenz in Freiburg.

Der Hygieniker Barent:Duchätelet hat uns in feinem leßten Werf ein tulturgefchichtlich werthvolles Vermächtniß Hinterlafien. Das iſt allgemein an- erfannt; um jo merfwürbiger ift, daß diefes weltberühmte Buch noch nie ins Deutjche überfegt wurde. Die Bearbeitung war ſchwierig, weil die Theile, die bleibenden Werth haben, von ber veralteten gefchieden werden mußten. Außer der neuften Literatur habe ich mir auch das Ergebnif einer in Paris veran- ftalteten Umfrage nubbar gemacht. R Montanus.

Der Hinfende Tenfel in Berlin. Hans Priebe & Co. in Steglig. Das Thema des Hinkenden Teufel Asmodi, der im geiftigen Sinn bie

Dächer der menichliden Behaufungen abdedt und den Erdgeborenen fozufagen

in die Töpfe gudt, ilt in der Weltliteratur nit neu. Der Spanier Guevara

. 276 Die Zuhmtft.

hat diefen Stoff zuerft in die Literatur eingeführt, ihm folgte mit größerem Geſchick und größerem Erfolg ber Yranzofe Le Sage, der mit feinem diable boiteux ſolche Senfation machte, daß ſelbſt Boltairetfie ihm neidete. Ich rie den Teufel Asmodi (der eigentlich ein Teufel der Wolluft iſt) in bie beutide Reichshauptftabt. Bei Le Sage ift es ein fpanifcher Student, dem der boshafte Asmodi Weltweisheit beibringt, bei mir ift es ein jüngfter „verſonnener“ (mie der neufte Ausdrud lautet), weltunfundiger Literat Bernhard Thormann. Dielem jungen Mann zeigt Asmodi Berlin, wie e8 wirklich ijt, nicht, wie es mit feiner verſchminkten Scheinfultur nad) außen progt. Asmodi tft bei mir auch Sozial politifer geworden; er zeigt in berliner Bildern aus allen Geſellſchaftklaffen die Erfolgreihen und die Opfer der Ueber: und Untermenjhen auf ber Strede nah dem Weiten Berlins. . Baul Gisbert.

Gedichte. E. Pierfond Verlag in Dresden, 1902. Die Jagd nad dem Glüd. Ich lief, das Glück zu ſuchen, Bol Sehnſucht durch die Welt Mit Beten und mit Fluchen. Ich lief, das Glück zu juden, Und kämpft', wo Schlachtruf gellt.

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Hab’ ichs auch nicht gefunden, Mir ward die Jagd doch wertb: Durch Wunden zu gejunden, Hat mid das Glück gelehrt. Königsberg. Louis Zacharias. s Frauenrundſchau. Halbmonatsfchrift für alle Intereffen der Frau. Verlag von Hermann Seemann Nachfolger, Leipzig. Vierteljährlih 2 Marl.

Die „Frauenrundſchau“ will fortführen, was Frau Marie Lang”in ben „Dokumenten der rauen“ fo muftergiltig begonnen bat. Bei voller Wahrung des Frauenſtandpunktes möchte fie fi von jeder beengenden Einfeitigfeit fern⸗ halten. Sie will alle Intereſſen der Frau vertreten, alle ihre Probleme er Örtern. Aber nicht nur vom Standpunkt beftimmter Parteien aus biele Aufgabe erfüllen bereit3 andere Organe —, fondern fo, wie diefe Dinge fi für Perjönlichfeiten barftellen, deren Biel eine Verfeinerung und Veredlung unferer ganzen Kultur ift. Die „Frauenrundſchau“ fieht nicht nur in Wiſſenſchaft und Politik, Sondern vor Allem in Kunft und Philoſophie unentbehrliche Mächte und Mittel, dem Ziel einer Hohen weiblichen Kultur näher zu fommen. Sieb Il daher neben theoretiihen Abhandlungen Beiträge rein Fünftlerifcher Natu - Romane, Novellen, Lyrik, Eſſays Beigaben aus dem Reiche der bilde N Kunſt und dem Kunftgewerbe. Nichts, was das Leben der frau berührt, b ihr fremd fein. Sie vertritt eine das Leben bejahende, Weltanfchauung.

Wilmersborf. Dr. Helene Stöc

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Deutſchthum und Weltgeichichte. 977

Deutfchthum und Weltgefchichte.

„Wer in der Weltgeichichte lebt,

Dem Augenblick ſollt' er fi richten?

Wer in die Zeiten ſchaut und ftrebt,

Nur Der ift werth, zu ſprechen und zu dichten.“

SE ern Einem eine brennende Frage, ein drängender Widerfpruch nahezu unlösbar und leidet man unter diefer inneren Unflarheit, fo verordnet Einem der in Deutichland geübte Gebrauch als wiſſenſchaftliches Heilmittel, eine Abhandlung darüber zu fchreiben. Vom Allgemeinen ind Perfönliche überſetzt, bedeuten die folgenden Beilen den Verfuch, mir felbit über das gegenfeitige Ver⸗ hältniß zweier Kräfte Elar zu werden, die meine Gedanken und Gefühle, bald den Kopf, bald das Herz, jeit geraumer Zeit nad ſcheinbar von einander weg- ftrebenden Richtungen bin gelenkt haben und lenken. Als ich vor acht Jahren veranlaßt warb, mic fat ausſchließlich mit weltgejchichtliden Dingen abzugeben, nahm mich anfangs der Reiz, nichts Menſchliches unbeachtet laffen zu müſſen, vollftändig gefangen; bald aber bemerkte ich auch die gerade dadurch bewirkte Einfeitigleit und empfand deshalb die Aufforderung Dr. Hans Dteyers, für fein „Deutſches Volksthum“ die deutſche Geſchichte zu behandeln, als eine willkommene Ausgleichung und den aus intenſiver Bebauung eines eng begrenzten Gebietes erſtehenden Beitrag als ein heilſames Gegengewicht zu dem ertenfiven Betriebe bei der „Weltgeſchichte“. So wurde ich durch ein gütiges Geſchick, das mir ein liebevolle Eingehen auf die Entfaltung eines einzelnen Zweiges des Menfchen- geichlechtes auferlegte, vor der drohenden Gefahr behfitet, mich ins Uferlofe zu verlieren. Um dieſen Gewinn möglichſt dauernd zu bewahren, juchte ich in den Kern ber Sache einzubringen; und dabei drehte fich das Nachdenken in der Haupt- ſache um die Trage, ob bet der Klarlegung des Verhältniſſes zwiſchen deutfcher Geſinnung und einer weltgefchichtlichen Betrachtung und Auffafiung alles Ge— ihehens mehr Gewicht auf da3 Auseinanderlaufen und ben Gegenſatz zwiſchen beiden Anſchauungen zu legen jet oder ob nicht vielmehr zwiſchen ihnen eine haltbare Brücke beftehe, die eine Gemeinſamkeit nicht nur ermögliche, ſondern jogar fordere. Nicht dad Trennende fam mir bald als die Hauptjache vor, jondern das einander Ergänzende und Fördernde. Es mag als Anmaßung erſcheinen, daß ich die Leſer der „Zukunft“ mit einer perfönlichen Beichte, einem „Innenerlebniß“ bebellige; aber ich greife wohl nicht daneben, wenn ich ver- mutbe, daß es, aus ganz anderen Beweggründen und Urſachen heraus, doch recht Vielen ähnlich ergangen fein, ähnlich noch ergehen mag. Mit diefer Begründung möge man fich meine Herzensergüſſe gefallen Lafjen.

Hie Kosmopolitismus! Hie Teutichthümeleil So heißen, wenn man ben lauteften Rufern im Streite glauben und folgen wollte, die Schlagwörter des Tages; angeſichts diefer Beobachtung erblide ich meine Aufgabe Heute barin, einmal vor äußerlich beitehenden Ucbertreibungen zu warnen und zweitens zu

278 Die Zukunft.

betonen, daß man gerade dann ein guter Deuticher ift und bleibt, wenn man fih nicht fcheu vor jedem Luftzug in jein Schnedenhaus zurüdzieht, fondern den Hals redt und ftredt, um zu fehen, wie die Anderen e8 treiben, und daraus zu lernen. Sein Deutſchthum verliert nicht, wer vermöge umfaflender Bildung, wie fie dem Deutjchen wohl anfteht, an alles Geſchehen in Deutihland und auf Erden einen univerfalen Maßſtab anlegt. „Die deutſche Bildung ift”, wie vor zehn Jahren Wilhelm Heinzelmann gejagt hat, „allerdings individuell, aber fie ift zugleich univerfell; Beides aber ruht in der Tiefe der Perjönlichleit, bie be- zufen ift, den Gegenfaß bes Individuellen und des Univerjellen, bes Subjeftiven und des Objeftiven, des Einzelnen und der Gemeinſchaft, des Individnell⸗ Nationalen und des Allgemein Menſchlichen durch Berührung mit ber gefammten modernen Kulturwelt herauszubilden und ihn von innen heraus zu überwinden”. Hat uns das neungehnte Jahrhundert den geſchichtlichen Sinn bejchert, der nor einer verſchwommenen Verherrlichung der Vergangenheit eben jo bewahrt wie vor einer unpatriotiichen jchwarzjehenden Betrachtung der Gegenwart, jo gilt e3 num, eine weltgejchichtliche Anſchauung zu erringen, die zwiſchen deutſchem Chauvinismus und kosmopolitiſcher Uferlofigkeit die rechte Diitte halte. Steineswegs fol fie dazu Helfen, nationale Gefinnung einem internationalen Wiffen und Verftehen ſchlechthin zu unterwerfen, ſondern foll ihren Beruf darin erbliden, Beide mit einander zu ver- fhmelzen. Nicht ohne Abficht habe ich der im April 1895 als Handichrift ge- drudten grundlegenden Erörterung zu dem Plan einer neuen „Weltgeſchichte“ Nantes Mahnung vorausgefgicdt: „Die Erlenntniß der Geſchichte der Menſch— beit fol ein Gemeingut der Menfchheit fein und vor Allem der Nation, der wir angehören und ohne die unfere Studien felbjt nicht fein würden, zu Gute tommen.” ine Medaille, die vorn die Aufichrift trägt, die Moriz Ritter bei der fünfundzwanzigjährigen Tyeier der Begründung bes neuen deutſchen Kaiſer- reiches geprägt hat, daß „kein Willen Etwas taugt, feine Gefinnung Etwas werth ift, die nicht auch dem Wohl unferes Volkes dient,‘ bat auch ihre Kehr⸗ feite: gehören nationales Denken und univerfales Wiffen zufammen, fo find wir verpflichtet, neben der Förderung deutſcher Geſinnung aud auf die Pflege weltgefchichtlicher Kenntnifje mehr, als es bisher geſchehen ift, bedacht zu ſein. Unfer univerſalhiſtoriſches Anſchauungvermögen ftedt noch ſehr in den Kinderſchuhen. Sehr ſpät find wir Deutjche aus ber Rolle eines leidenden Volks in die eines handelnden, leitenden übergetreten; das um 1400 einſetzende Auf- fommen bes QandesfürftentHums, die jeit dem dritten Viertel des Dreißigjährigen Krieges in Deutjchland ftändig gewordene Bevormundung, fchließli die Shlummer- zeit des Deutichen Bundes zwifchen 1815 und 1866 Haben bewirkt, daß wir viel fpäter als unjere Nachbarn zum Bemwußtjein der und innewohnenden Kräfte gelommen find: unfer zagendes Eintreten in die Meihe der Kolonialmächte iſt nur ein Beleg dafür, aber ein recht fühlbarer, Wir hatten es iſt noch nicht lange ber alle Hände voll zu thun, um überhaupt einmal national. benfen und fühlen zu lernen; uns um Außereuropäijches zu kümmern, unjere Augen an einen ozeaniihen Horizont zu gewöhnen, wäre in den fiebenziger Jahren fiherlich jedem Einfichtigen verfrüht und gefährlich erfchienen; und felbft ſpäter befannte fich zu ſolchem Weitblid nur erft ein geringer Bruchtheil unferer Ge- bildeten. Das ganze deutiche Volk aber dazu zu erziehen: Das kann nur dag

Deutſchthum und Weltgefchichte. 279

muhſame Werk zäher, geduldiger Arbeit von Jahrzehnten fein. In die Welt- politik find wir nicht organijch hineingewachſen, jondern gewillermaßen unver⸗ mittelt bineingelprungen. Kein Wunder, daß die plößlide Erweiterung des Geſichtskreiſes die Einen blendet, die Anderen fchredt. Der rafchen That hat nun die ruhige Meberlegung und bie folide Begründung zu folgen. Der deutjche Kaufmann bat fich Heute, will er nit Raubbau treiben, jondern den mit an- erfennenswerther Entichlofienheit eroberten Pla dauernd behaupten, um bie Grundlagen zu kümmern, auf denen er da braußen fein auf Jahrzehnte berech- netes Gebäude aufrichten will; mit anderen Worten: er muß die Lebensbedingungen der neuen Umgebung im umfafjendften Sinne ftudiren. Man höre doch genauer als bisher auf bie freilich oft durch allerlei Schlingwerf und Ranken wunderlid anmuthenden, aber reichiter Erfahrung entftammenden und einem heiß für Deutſch⸗ lands Machtentfaltung jchlagenden Herzen entquellenden Aufforderungen und bes weglichen Wünſche Adolfs Baltian, wern er für eine wohlmwollendere Berüd- fihtigung der Völkerkunde eintritt! Was bier auf dem Felde der Ethnologie zum Theil noch immer fehlt, davon jehen wir aber auf dem benachbarten Ge⸗ biete der Univerjalhiftorie rein gar nicht3 angebaut. Das liegt mit daran, daB dieſe Wiſſenſchaft innerhalb unjeres Hocdjchulbetriebes nicht befonders gut an« geichrieben und gelitten ift. Ich plaubere fein Geheimniß aus, wenn ich den Auf, Glanz und Ruhm der weitaus meijten Geſchichtprofeſſoren Deutſchlands auf je eine, im beiten Fall auf einige tüchtige Sonderarbeiten begrenzten Charakters gegründet hinſtelle. Theodor Lindner, der vor Antritt des fechzigften Lebens⸗ jahres gewagt bat, eine „Weltgeichichte” zu Ichreiben, kann fich vor den entjeßten Fachgenoſſen nur damit entichuldigen, daß er fie erft mit ber Völkerwanderung beginnen läßt. Und der unjeren Leſern wohlbelannte Kurt Breyfig hebt zwar mit den Griechen an, bat aber fein Werk vorſichtig „Kulturgefchichte der Neuzeit‘ getauft und wird troßdem von der eigentliden Zunft nicht für voll angeſehen. Für wenige Jahre deuticher Territorialgejchichte dickleibige Urkundenbücher ver- Öffentlichen oder eine einzelne Erſcheinung von etwas längerer Dauer einzeln behandeln: Das ift einjtweilen noch immer das Ideal, dem die meiften deutichen Hiftoriker nachjagen. Jeden, der fi, der Kleinigfeiten mübe, an ganze Reihen von Ereigniffen heranwagt oder gar die gelammte Menfchheitgeichichte jo oder fo zu meiftern verjucht, trifft ihr: Anathema sit! Wenn es hoch fommt, wird er von bem mild verzeibenden Lächeln des befierwilienden Spezialiften als Di- lettant behandelt. Hier giebt es viel gut zu machen. Den ſchüchternen Anfängen “muß eine kräftige Fortſetzung muthig folgen; e8 muß nicht nur erlaubt fein, fondern allgemeine Tyorderung und Uebung werben, daß an jeder deutichen Univerfität (woher hat fie denn den Namen?) mindeſtens je eine Borlefung über univerfale Geſchichte ohne Losreißung vom Boden der Nationalgeihichte in angemeffenen Zwifchenräumen regelmäßig wieberfehrend geboten werde. Im Einzelnen haben wir ®elegenheit genug, Gediegenes zu lernen und zu leilten, und ich wäre der Letzte, die glänzenden Ergebniſſe folder Arbeitweife zu unter- jchägen oder gar zu verachten. Aber fie darf nicht überwuchern. Was und nod) allzu jehr mangelt, ift der Blid aufs Ganze, dad Bufammenfaflende. Goethe, der beutichefte und zugleih der univerfalite Dichter, den wir haben, iſt nicht beim „Goͤtz“ ftehen geblieben; er bat uns auch noch einen „Fauſt'“ gejchenlt.

L _.

280 Die Zunft.

Zwiſchen Weltpolitik und nationaler Sefinnung hat fig im Lauf der legten Jahrzehnte bei allen Kulturvölkern, den Söhnen einer bereits ausgebildeten Menſqh heit, ein national zwar verjchieden gefärbtes, aber wenig ſchwankendes, auf Leiblicer Erkenntniß der Sachlage beruhendes Verhältniß herausgebildet. Nur bei un Deutſchen haperts bamit no. Um aus den zahlreichen Vorkommniſſen, die der meisten Deutichen politifche Unreife greifbar belegen, nur eins herauszugreifen, jei an die befhämende Thatſache erinnert, daß beim Ausbruch des fübafrile- niſchen Krieges Millionen biederer Kannegießer in Deutichland auf die geiwifier lofen Lügen der „Kabelforrejpondenz” von Kaulig Farlow prompt bereingefallm find. Da wurde immer über die Verjchleierungverjuche ber offiziellen englifcen Kriegsdepeſchen gezetert; aber reuig ar den eigenen Buſen zu fehlagen, weil man es doch allınählid mit Händen greifen mußte, daß man ſelbſt das Zehnfache zufammenlog und weiterverbreitete: dazu fanden bei uns nur Wenige und nur ſpüt die fittliche Kraft. Was uns eben noch fehlt, ift die Mäßigung, die is ſolcher Zagen, wo das Herz laut ſpricht, auch dem BVerftande fein Recht wahr. Proben folder Mäßigung, wie fie der engliihe Parlamentarismus bei der Katholikenbill von 1829, bei der Meformbill von 1832 oder bei der troß all Heftigfeit mufterhaft loyalen Antikorngefegbewegung von 1846 aufzuweifen hat, dürften bei uns ſchwer zu finden fein; befonders heftig flammt die einfeitige Parter lichkeit auf, wenn e3 fi um hervorragende Staatsmänner handelt. Den Ju’ perialismus Chamberlains als vollkommen harmonifche Ergänzung feiner eiw wandfreien Sozialpolitik aufzufafjen, fällt dem Briten nicht ſchwer, weil jener die Erhaltung und Beförderung des Staatsgedanfens mit dem Glück der größten Zahl zu verbinden ftrebt. Bier ſehen wir deutlich, wie ſich von einer ausge: ſprochen nationalen Gefinnung aus zu einer alle Erdtheile umfpannenden Welb politik eine fefte Brüde fpannt. Doc von der wuchtigen Größe folder Ark faffung ift der Durchſchnittsdeutſche noch weit entfernt. Das richtige Augenmes fehlt uns noch. Während den Einen, die geneigt find, Alles in das Profrufteh bett der heimathlichen Beichränktheit und Enge zu zwängen, der Makel Eleinlider Kirchthumspolitik anhaftet, huldigen die Anderen ber an fich gewiß recht löblichen, darum aber durchaus nicht ſtets zutreffenden Weberzeugung, daß ſich aud im Ausland Alles um die deutſche Sonne drehen müffe: „Sn der Sehnfudt nad deutjcher Herrlichkeit kommt felbft den gutmüthigſten Deutfchen ein unvertent bares Herrjchergelüft und Verlangen nach Obergemwalt über andere Völker an“ (Richard Wagner in der Abhandlung „Was ift deutſch?“). Das ift ein frommer Glaube, der mandmal ſchon zu ſchlimmen Irrthümern verführt hat. Hier kam einzig und allein die beſſere Einficht helfen und Heilen. Wer in bem nationalen Geiſt, wie ihn Alfred Kirchhoff unter begreiflihem Einſpruche der Romantile geographijch nüchtern gedeutet hat, mit Ausſicht auf Erfolg deutfche Welt lint treiben will, Der eigne ſich vorher umfaſſende geſchichtliche, wahrhaft unit ſal⸗ hiſtoriſche Kenntniſſe an. Und die Abſicht, ſolche zu verbreiten, iſt keine ohe nebenſächliche Liebhaberei, ſondern darf fi) unter Umftänden auch zur Le ns aufgabe ausgeftalten.

Leipzig-Stötterib. Dr. Hana %. Helm

Ei

Im Kaffeehaus. | 281

Im Raffeehaus.

Sr: Kleines Kaffeehaus im Welten. Die Fenſter des Spielzimmers liegen nach dem Hof hinaus. Das Zimmer ift mit grünen Empiretapeten aus» geftattet. An der Dede glänzt eine vergolbete Gipsfonne zwiſchen Rokokoſtuck. Zwei Eleine Kronleuchter erhellen mit röthlichen Glühlampen den Raum, deſſen Marmortifhe mit dunfelgrünem Fries beipannt find. Ein hölzernes Rokoko— gitter fchließt das Zimmer von den vorderen Lofalitäten ab. Eine Athmoſphäre von Kaffeedunjt und Cigarrenqualm. Nachmittags gegen fünf Uhr. Die Zeit, wo bie lleineren und größeren Hausbefiger, Bodenſpekulanten, Holz und Stein- händler der Kurfürftendammgegend bier zu einem zweijtündigen Sartenjpiel, fimplen Sechsundſechzig oder knifflicheren Stat, fi zufammenfinden.

Erft zwei diejer Säfte find da. Jeder figt an einem anderen Tiſch. Die Arme breit auf den Nebenftühlen, die Cigarre zwifchen den Fingern und eine „Schale Braun” vor ſich. Sie fprecden mit einander. Beide find über dic Vierzig hinaus. Beide dunkelhaarig und Eräftig gebaut. Der Eine hat einen ſtarken Schnurbart unter einer großen Naſe, in einem gefunden Geſicht. Der Andere veritedt feine bleichen, verlebten Baden in einem dichten, ſchwarzen Vollbart. Andächtig Hört er zu, wie der Andere erregt jagt: „Alſo er Fauft fid nu den großen Platz. Bezahlt mer ben Preis. Blatt weg. Und nu dent’ ich, wird er ausſchachten lafjen und vor Allem be Bäume herunterhauen. Nee: de Bäume bleiben ftehen. Nicht ein Menſch kommt, um de vielen Sträuder an de Straße auszugraben. Und willen Se, was diejer Menſch mit dem fcheenen großen Pla macht? Er baut fi 'ne Billa drauf! Ne richtige, niedliche Billa mit Erkerchen und Fenſterchen! Wo er hätte ein Haus bauen können mit zehn Wohnungen à fünf Zimmer... Ja —.“ Er pafit und zwinfert, als fei ihm etwas Unfaßbares gejchehen.

Der Undere fragt bewundernd: „So... eine große Villa?“

„Sa; ein Haus mit zehn, zwölf Wohnungen hätte da ftehen können!“

„Und Das ift nu blos Garten?”

„Nichts als Garten!”

Der Andere reckt den Kopf vor: „Wird er kommen?“

„Ber?“

„Ru, der Bauunternehmer, der auf meinem Platz baut.“ Er lehnt fi zurtick, ſo weit es die Stühle erlauben, und jagt mit feiner fetten Stimme: „Se willen doch? Einmal haben die Handwerker ſchon nachgelaſſen. Es is ja nid vill; nur fünf Prozent. Nu is da® Haus ja doc unter Dad; een ganz ſcheenes Haus. Ne große, ſcheene Marmortreppe kommt vorne Hin. Un zwee große, jcheene Wandleuchter aus Bronze, aus reene Bronze an de Wände bei de Treppe. Und Giebeldach und vergoldetes Thürmchen: fein wird des Haus. Das Tann man ruhig jagen. So een recht herrfchaftliches Haus. Aber id) werd’ doch de Handwerker nich geben, was fe fo jchledhtweg verlangen? Kann ih ja aud gar nit. Wo fol ich fonft der Bodengefellichaft abfaufer de zmei Parzellen? Eine würb je mer vielleicht geben fo mit Baugeld. Aber wo bleibt da ber Profit? Und ich werd mer doch nid machen zum Bauunternehmer?

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MB. __.

282 Die Zukunft.

Giebt Ihn genug... Nu Hatten fe neulich Schon 'ne Konferenz. Da hab id meinem Unternehmer gefagt, zehn Prozent müßten fe ablaffen, wenn ihre For derung nich ganz ausfallen ſolle. Un es wäre doch ooch ihr Vortheil, wenn de: Haus erft wäre unter Dach und fertig. Dann iſts bald verfauft und je friegen ihr Geld, blank un bar auf den Tifh. Der Putzer wollte ja zehn Prozent nad lafjen. Aber der Tifchler, der Maler, der Töpfer und ber Glafer: Die wollten nik. Und der Tapezirer wollte überhaupt nich. Nich eenen Pfennig, jagte Der. Na, er kann ſichs leiſten. Der befchäftigt jeine neunzig Gefellenin der Saijon.”

„Neunzig?“

„sa; und noch mehr! Und Der wars, der die Anderen wild wmadhte. Un mit Ach und Krad wollten fie denn fünf Prozent herimtergehen. Yu 1: das Haus unter Dad un nu haben fe heute wieder Konferenz. Sieben Prozent habe ich gejagt. Inter Dem nid. Bin neugierig, was mir der Unternehmer bringen wird. Geben Se nid), was ich will, zieh’ ich meine Hand zurüd. Id bin ja gefichert. Ich Habe mich gefichert. Werde ich arbeiten for be Handwerker!“

Eine der Buffetmamfels, ein ſtrammes Mädchen, lief mit ihrer weißen Schürze an dem Holzgitter vorüber. Der Blaffe ſchmunzelte. Als fie nad kurzer Zeit zurüdfam, rief er ihr lädhelnd zu: „Ra, Jungfer?“

Das Mädchen Ficherte und verſchwand.

Aus dem vorderen Raum, an defjen Tifchen einzelne junge Leute jaben, famen langſam und würdevoll mehrere wohlbeleibte Herren. Der Kellner, ber jie Schon genau zu fennen fchien, fagte vergnügt, daß fie wieber zur bejtimmien Zeit ihren Kaffee beftellten: „Nun ifts aber aud; die höchſte Zeit, meine Herren. Da, ſehns nur, Sie werben bereit3 erwartet. Sehns da hinten: da fehlt no der zweite und der dritte Mann zum Skat!” Dabei lächelte er und rieb fich die bürren Hände.

Zwei der Herren thaten, als hörten fie ihn nicht. Der dritte, aus deflen runden, vollem Geficht zwei Eleine Augen glänzten, rief: „Nur nicht fo familiär: Wir werden ſchon finden, was wir fuchen. Sie brauden fi} gar nich fo zu ereifern!”

Der Kellner war ſchon davon. Ein anderer Herr fragte: „Was ift denn? Was wollte er denn?"

„Spaß! Am Liebſten möchte er Einen duzen. Das könnte ihm paflen.”

Ehe jih Alle an die Tifche ſetzten, fah Der mit dem blafjen Geſicht nadı der Uhr. „Er müßte do ſchon längft bier fein. Einen Augenblick!“ ſagte er zu feinem Bartner und ging nach vorn. Aber der Unternehmer war noch nid da. So jegte er fi denn zum Spiel. Doc war er fo unruhig, baß er fort: während Fehler madte und ſich mit ſeinem SBartner zanfkte.

Neue Säfte kamen. Die Spieltifche waren bald ganz beſetzt. Und zwiſchen und hinter den Spielern ſaßen Zujchauer. Darunter auch ein breitſchultriger Mann nit Furzgefchnittenem, grauem Bollbart. Er hatte ruhige Bewegungen und eine große Sicherheit in dem Kalten Blid aus dem umfurdten Auge. Mit einer gewiſſen Ehrfurdt wurde er behandelt, troß feiner einfachen Kleidung. Er hatte all feinen Freunden aus der Klemme geholfen und zum Schluß ihren Grund und Boden billig gefauft. Daß er fie nicht nadt auf die Straße ſetzte, wurde ihm hoch angerechnet.

Während die Meiſten ihn jehr artig behandelten, rüdte ihm Einer, dei

Im Raffeehnus, 283

mit feinem faltigen, glattrafirten Geficht, der gelichteten Dtähne und dem goldenen Kneifer fih den Anfchein eines Künftlers geben wollte, dicht an den Leib und ſprach auf ihn ein: „Hier macht man ja einen ganz netten Skat, Herr Warjchauer. Aber Sie müßten mal in unfer Café kommen. Da wird Rott geipielt. Da hätten Sie ihre Freude.”

Der Ulte ſchwieg. Und die warnenben .Blide der Anderen jah der Fahrige nidt.

Gigarrenqualm und Kaffebunft wurden immer dichter. Da erfchien in dem breiten Ausſchnitt des Holzgitters ein Peiner Dann. Er trug einen hellen ' Wintermantel, defien Sammetlragen jchon fpedig glänzte. In feiner kurz⸗ fingrigen Hand hielt er einen großen Hut und jah verlegen drüber weg in das Spielzimmer. Der Blaffe hatte ihn faum erkannt, als er auch ſchon aufiprang und feinen Pla einem Anderen überließ.

„Ra, Teinert, wie ſtehts? Sieben Prozent? Er zog den Fleinen an einen entfernten Ecktiſch.

„Nee; fo viel wer'n jewoll nich rausrüden. Aber id denke, fünfe mache id noch. Erſt hätten fie mir beinah verhauen, als id jagte, je müßten wieder ‘Prozente geben. Aber denn baben je noch mal kalkulirt. Un denn babe id ihnen vorgerechnet, wat bet Haus for Miethe bringt und bet de Läden im erjten Jahr leer bleiben. Un denn wurden je verninftiger. Un nu berathen je nod. Schon vier Stunden jeht det jo! Fein, ihnen den Kitt fo vorzurechnen, nich?‘

„Ja; aber unter Fünf auf feinen Fall!“ Und der Blafje redete noch eine ganze Weile auf den fleinen Mann ein. Der ging, wichtig und jelbit- bewußt nidend: ‚Natürlich fünf Prozent!”

Der Blajje fegte fi wieder zum Spiel. Aber er hatte heute feine Ruhe und fein Glüd. Da wurde auch noch fein Partner berausgerufen. Bei Dem wohnte eine Witwe, die erft dic Wohnung verlaflen wollte, wenn ihr Kontrakt abgelaufen war. Er aber wußte: der vor wenigen Wochen verftorbene Mann hatte nicht fo viel Hinterlaffen, daß fie eine ſolche Wohnung erhalten Eonnte. Auch hatte er gerade einen ficheren Miether, der zwanzig Prozent mehr zahlen wollte. Aber die Witive behauptete, fie könne jeßt feine Wohnung fuchen. ‘Da hatte er zwei Freunde zu ihr geihidt. Doch Die konnten ihm aud nichts Anderes jagen, als dat jie nicht ziehen wolle.

„Bott, was for Sejchichten macht mer de Frau!“ jagte er heftig und redete mit geiferndem Mund auf die Freunde ein; jie jolltens noch mal verfuchen.

Ein anderer Herr wurde herausgerufen. Der Blaffe dachte ſchon, es gelte ihm, und warf die Karten hin. „Mboh! Frauenzimmer!“ .. Halt: Da war Teinert endlich. Cr wijchte fich den Schweiß von der Stirn und brüllte: „Fünfe! Ich Gabe die Bande weich gekriegt.”

Großlichterfelde. Hans Dftwald. -

281 Die Zukunft.

Wertheim.

a iſts ſchwer, nicht Reklame zu maden: jo fönnte man ben Sa iR Suvenals für ben Gebrauch bes Yinanzichriftitellers zeitgemäß Anden Gewiſſe Unternehmungen und Perfonen kann ber Gerechte nur milb tabeln; m wo er fie loben muß, da nimmt das Lob leicht den Ton ber Begeifterung as. In diefer Qage die aud) ihre Unbequemlichkeiten hat ift ber Kritiker des Waarenhaufes A. Wertheim, auf das bie Berliner, bie nicht zu den geſchädigten Inhabern Kleiner Läden no zu ben beutjchnationalen Handlungsgebilfen ge hören, mit Iofalpatriotifhem Stolz bliden. Die Entwidelung diefes Haufe gewährt dem Betrachter ein Vergnügen, das bis ind Gebiet Afthetifcher Freuden reicht ; nirgends ein haftiges, unftetes Probiren: ruhig und fiher wirb von einem logiſch rechnenden Verſtand Stein auf Stein gefügt. Man wundert fich längft nicht mehr, wenn von wertheimiichen Zulunftplänen Stunde fommt, und man bat auch die Nachricht, die Firma nehme eine neue Anleihe von 91/, Millionen auf, ohne Staunen gehört. Und doc ift die Entwidelung, die damit zu vor: läufigem Abſchluß kommt, ohne Beifpiel in der kauſmänniſchen Geſchichte deutſcher Sroßjtädte. Wer denkt, wenn er an Wertheims PBaläften vorbeigeht, heute woch an den fleinen Kramladen der Rojenthaler Straße, den Ramſchbazar, den nur die Hausfrauen der Umgegend, beren Küchenmeilter Schmalhans war, auffuchten, weil jie dort am Grofchen vier Pfennige Sparen und als „Schmuhgeld“ heim tragen konnten? Dem Geſchäft ging ſchon damals die Sonne auf: immer neu Stockwerke wurden hinzugenommen; aber der üble Ruf eines Pfennigbazar war nicht fo leicht loszumerden. In anderen Stadttheilen wurden Filialen ge gründet und das „beſſere“ Publikum gewöhnte ſich allmählich, bei Wertheim zu faufen. Noch aber geitand man nicht gern, daß man zu Wertbeims Stunden nehöre, und manches Pradtitüd aus dem Waarenhaus wurde mit falfcher Ur Iprungsangabe auf den Geburtstagstijch geitellt. Die Yirma war klug genug, diefem Woltsempfinden Rechnung zu tragen. Sie begnügte fi mit der Inje tatenreflame und verzichtete darauf, mit ihrem Zeichen auf dem Einpadpapier zu progen. Dieſe weile Nefignation ermöglichte Denen fogar, die Öffentlich über „Bazarwaare“ jchimpften, heimlich ihr gutes Geld ins Waarenhaus zu bringen. Zpäter erjt famen die bejternten Düten auf, die der raſch wachſenden Kunden Ihaar den Urjprung der Waare verriethen, und noch fpäter ftellte auch das Firmenzeichen fich ein. Ein Woeltftadtgejchäft eriten Ranges war das Waaren⸗ haus erſt, als Meſſels großartiger Bau in der Leipziger Straße vollendet war. Schon genügt and) der erweiterte Bau der Firma nicht mehr: von 1904 an joll ein ganzes Däuferviertel ihre WWaarenlager aufnehmen. In der Leipziger Straße, auf dem Yeipziger Plaß und in der einft jo ſtillen Voß: Straße “) für 9°, Millionen Marf Srunditüde angefauft worden. Wie bei Tieß, I! auch hier eine große Hypothekenbank Millionen bergegeben und wieder ift Kritiker gezwungen, über diefe Transaktion fein Wort zu jagen. Ein wid: Ilnterjchted aber ift jofort jihtbar. Im Fall Wertheim bat die Kritik ih mit der Sache, den thatjächliden Berhältnifjien zu beſchäftigen. Der al! lag anders; der veritorbene Limann hatte Deren Tiep an die Pommerſche £ tbefenbant als Geldgeberin gemwiefen und die ehrenmwerthen Direftoren ®

Wertheim. 285

Bank benugten die gute @elegendeit, um eigene Terrains abzuſchieben. Das mußte von vorn herein Bebenten erregen. Wertheim nimmt das Gelb von ber Hamburger Hypothetenbant; fie beleiht Die neuen Grundſtücke mit 60 Prozent ber Selbftloften Bis zum Hochſtbetrag von 9!/, Millionen Darf. Das Gejchäft entſpricht durchaus ber gefeßlihen Vorfchrift. Zwar darf die hamburger Bank diefe Hypothek zur Unterlage für die Pfanbbriefe nach Paragraph 11 des Hypo» thefenbantengejetes nur bis zu der Grenze benußen, hinter ber fie die erften drei Tyünftel des Grundſtückswerthes überfteigen würden. Doch jede Hypothefen- bant hat natürlich das Recht, als Anlage für ihr Aktienkapital beliebig zu be- werthende Hypotheken zu wählen. Bedenken gegen die Beleihung find auf ganz anderem Gebiet zu finden. Als die Bommerjche Hypothelenbant das Waarenhaus Tieg und nicht minder freigiebig das Kaifercaf& belieh, wurbe lebhaft darüber geitritten, ob fi Hypotheken in diefem riefigen Umfang Überhaupt zur Grund- lage der Pfandbriefausgabe eignen. Außer den lieben Leuten, die alle Fehler der Hypothekenbanken befchönigen wollten, haben damals eigentlich nur die Diref- toren der Pommernbank jelbft die Frage bejaht; fie wußten, neben den privaten Bortbeilen, die fie daraus zogen, aud die Möglichkeit zu ſchätzen, durch ein einmaliges Geſchäft eine Unterlage für Millionen von Pfandbriefen zu haben, die jonft wohl recht mühjälig zufammenzuflauben gewejen wären. Ernithafte Sachkenner aber haben auf die Gefahr ſolcher Riefenbeleihungen hingewieſen. Dieje Gefahr befteht zumächft natürlich darin, daß man allzu viel auf eine Karte ſetzt. Aber gewöhnlich handelt es fich bei folder Transaktion auch nicht um Beleihungobjelte der üblichen Urt. Nicht Miethhäufer, die in der Großſtadt faft immer auch für die Verzinfung genügende Sicherheit bieten, follen hier die Pfandunterlage bilden, fondern meift Geichäftshäufer, die für bejondere Zwecke gebaut find. Abgeſehen von dem Bodenwerth, der ja recht ftattlich fein fann, ift die Verzinjung ſolcher Häufer von dem Augenblid an in Frage geitellt, mo das darin heimijche Unternehmen nicht mehr gedeiht. Dieſer Augenblid wird in dem konkreten Fall wohl nicht kommen; wenigftens bat Wertheim bisher ftets jo gut und vorſichtig opertrt, daß man mit der Befürchtung, feine Pläne könnten Iceitern, nicht zu rechnen braudt. Der prinzipielle Einwand, daß bier allzu viel risfirt wird, bleibt aber beftehen. Und Die ihn, hier wie bei Tieß, cr: heben, können ſich darauf berufen, daß bie Direktion der Hamburger Hypothefen- bank ſelbſt fi ihrem Urtheil angefchloffen hat; denn fie hat ſich bemüht, das Rififo einzufchränfen und zum Theil jogar völlig zu bejeitigen. rftens hat Wertheim fich verpflichtet, bi8 zum Jahr 1909 die Hypothek wieder zurüdzu- zahlen. Zweitens will die Hamburgerin auch andere Hypothekenbanken an bem Sefchäft betheiligen; deshalb hat fie die große Hypothek in einzelne Theile zer: legt und fie zu gleichen Rechten eintragen laſſen. Für diefe einzelnen Theile wird die Bank jiher Abnehmer finden, denn Das ift ihre dritte Vorficht- maßregel die Disfontogejellicheft hat für den vollen Betrag Bürgjchaft geleiftet.

In legter Inſtanz laftet aljo auf der Disfontogejellichaft das Rifiko. Aber es ift auch für fie nicht fo groß, wie es dem erjten Blick ſcheint. Schon durd) die furze Rückzahlungfriſt ift es wejenılich herabgemindert. Auch beträgt e3 ja nicht 91, Millionen: die Bank bürgt natürlih nur für die Summe, die über den Werth des Bodens hinausgeht, und diefer Werth ift bei Terraing in der beiten

286 Die Zukunft.

Gegend von Berlin nicht gering anzufegen. Dafür aber bat die Dislonte gejellichaft zunächſt ben Bortheil, daß fie künftig ſämmtliche Bankgeſchäfte der Firma Wertheim vermitteln wird. Sie hat bie bisherigen Bankverbindungen Wertheims früher bie Dresdener Bank, zulegt, wie es hieß, die National bank und die Firma Delbrüd, Leo & Co. verdrängt. Faſt noch wichtiger als der materielle Vortheil ſcheint mir für bie Diskontogefellidaft ein anderer Gewinn: der Abfchluß diefes Geſchäftes zeigt nämlich, daß die Aera Hanſemam zu Ende geht. Nicht nur in der Frankfurter Filiale: auch im berliner Central. palaft ſcheint allmählich doch die Leitung ben jungen Kräften zuzufallen.

Für ben MWirtbfchaftkritifer ifts eine befonbere Freude, endlich einmal auf ein Geſchäft Hinweifen zu fünnen, das allen Betbeiligten den erhofften Ruben bringen wird. Dem Zuſammenwirken vieler Yaftoren ift es gelungen, eine hypothekariſche Millionenbeleihung zum Zinsfuß von 4'/, zu ſchaffen.

Plutus. *

Notizbuch.

IR der ältefte Sohn des Deutichen Kaifers in Petersburg angelangt war, wurde er im Winterpalaft beim Prunkmahl vom Baren mit ben Worten begrüßt: „Erfreut, Sie unter und zu fehen, und Ihnen für Ihren liebenswärbigen Beſuch dankend, trinte ich auf das Wohl Ihrer erhabenen Eltern, ‘Ihrer Majeftäten des Kaiſers und der Kaijerin und Eurer Raiferlichen und Königlichen Hoheit." Der Zar ſprach franzöfiih. Der junge Kronprinz des Deutfchen Reiches antwortete: „Ziel bewegt durch die gnädigen Worte, welche Ew. Majeftät joeben an mich gerichtet haben, bitte ich, mir zu geftatten, Ihnen im Namen Seiner Majeftät bes Kai: jer8 und Königs, meines Vaters, und in meinem eigenen Namen meinen warmen Dank für den fo herzlichen Empfang auszuſprechen, der mir zu Theil geworben it und an den ich eine unauslöfchliche Erinnerung bewahren werde. Ich erhebe mein Glas auf das Wohl Em. Majeltät, Ihrer Majeftäten der Kaiſerinnen Mari« Feodorowna und Alexandra Feodorowna ſowie der ganzen kaiferlichen Familie." Nicht jeder Deutjche wird begreifen, daß Nikolais fühle, nüchtern abgemeſſene Gruß- worte den jungen Herrn „tief beivegen” konnten und daß er an einen Empfang, der fi in den hergebrachten Formen hielt und von perjönlicher Herzlichfeit weniger ſpüren ließ als der mandem Balfanfürjten gewährte, eine „unauslöfchlige Erinnerung“ bewahren mitffe. Reicht die Organifation unjeres diplomatischen Dienftes nicht ein- mal mehr aus, um zu verhindern, daß ſolche Tifchreden auf jo verjchiebene Tonarten gejtimmt werden? Der Kronprinz trug den Andreas-Orden; und wieder wurde be hauptet, dieje nur für Sonveraine und deren Söhne beſtimmte Dekoration werke „anderen Perfönlichkeiten” niemals verliehen und nur für den Grafen Bülow I um die Intimität der beiden Reiche zu zeigen, eine Yusnahme gemacht worden. ' Märchen wurde bier jchon nach der legten Zufammenkunft ber Kaiſer Wilfelm u Nikolaus widerlegt. Da es jetzt von der Dienerſchaft abermals ſervirt wird, fei dar erinnert, daß eben erjt der Zar dem abberufenen Botjchafter ber franzöfifchen Re biif, dem Marquis von Viontebello, den Andreas-Ürden verliehen hat.

* *

Notizbuch. 287

"Der Kronprinz, ber bie deutichen Sozialdemokraten „Elende‘ nennt, war auch anweſend, als fein Bruder, Prinz Eitel Friedrich, in Bonn immatrikulirt wurbe. Das tft ſchon ein paar Donate her. Aus der Rede aber, die der Rektor, Geheimrath Bitelmann, hielt, find zwei Säße noch nicht veraltet. Der erfte: „Ich ſehe den Werth des Aufenthaltes auf der Univerfität nicht darin, daß Eure Königliche Hoheit hier verhältnigmäßigrafch und bequem in allen möglichen Fächern encyflopädifche Kennt: niffe rein pofitiver Art erwerben Tünnen. Sicher ift es höchſt werthvoll, ſolche Kennt- niffe in Jurisprudenz und Chemie, in Staatswillenfchaften und Geſchichte, in Lite- ratur und Sprache zu beſitzen; aber darüber möchte id) von vorn herein feinen Zweifel laſſen und möchte jede Illuſidn darüber benehmen: zwei Jahre find viel, viel an kurz, auch für den Begabteften, um bei dem ungeheuren Stoff des Wiſſens weiter ald nur gerade bis unter die Cherfläcdhe zu gelangen”. Zwei Jahre, ſelbſt wenn fie wirk lih in Bonn verlebt, nicht zu Quftreifen und Jagdfahrten benußt werden. Wird ſolche Zerftreuung, ſolche Ablenkung bes jungen Sinnes ins repräfentative Ver gnügen ftreng gemieden, dann kann das vom Rektor im zweiten Saß bezeichnete Ziel erreicht werden: „Die fteile Höh’, wo Fürſten ftehn, läßt vielfach nur einen undeut- lichen Blick auf die unten fih ausdehnende ungeheure Breite unjeres bürgerlichen Lebens und auf die Maſſe der verjchiedenen Bevölferungfdhichten gewinnen. Nie wieber im fpäteren Leben wird einem Fürſtenſohn Die —** ſo leicht wie hier auf der Univerſität, weiteren bürgerlichen Kreiſen näher zu treten und ſie in ihrer Eigenart und ich hoffe in ihrer Tüchtigkeit kennen und verſtehen zu lernen“.

* %

Aus dem Berliner Börfencourier: „Eine eigenartige Feſtdekoration hatte der Inhaber einer Weißwaarenhandlung in der Neuen Schönhauferftraße am Dienftag veranftaltet. In einer Edle des Schaufenjter3 jtanden die Büften Kaifer Wilhelms des Zweiten und Kaiſer Wilhelms des Erjten innerhalb eines Arrangements von Schleifen in ſchwarz ⸗weiß⸗rother Farbe. Den Abſchluß der Ausftattung bildeten Bettel, die an den Büften angebracht waren und folgende Anfchrift zeigten:

‚Diefe Kaiferbüften find fofort jpottbillig zu verfaufen.‘” % 3

j * Der vom großen rigen geſtiftete Orden Pour Le Mérite, den die Ur⸗

kunde vom achtzehnten Januar 1810 als Lohn für perſönliche Tapferkeit im Yelbe beitimmte, ift jeßt einem Kriegsfchiff verliehen worden. Eine vom fiebenundzwangzig- ften Januar 1903 andem felben Tage des vorigen Jahres hatte der Kaiſer Zeit gefunden, den Entwurf eines neuen Schellenbaumes für die Gardefäflliere mit eigen- händiger Unterjchrift zu genehmigen batirte Kabinetsordre bes Kriegsherrn ver- fügt: „Mein Kanonenboot ‚Iltis‘ hat auf der Bad über dem Vorderſteven aufge- jet den Orden Pour Le Merite und auf dem Flaggftod einen Flaggenknopf nach dem mir vorgelegten Mujter zu tragen.” Der Orden ift, nad) der Beitimmung bes Herrn von Tirpib, „in ungefährer Mannsgröße aufzuſetzen“. Diefe Riefendefora- tion ſoll „das hervorragende Verhalten der Beſatzung im Kampf um die Takuforts ehren“. Seit diefem Kampf find zwei Fahre und adjt Monate verftrichen; von ber alten Beſatzung werben wohl nur noch Reſte an Bord fein. Nie und nirgends ift bisher einen Schiff ein Orden verliehen worden. Die Kommentare ber ausländi- ſchen Preſſe waren, nicht zum erſten Mal, „nicht wiederzugeben”. * »

*

288 Die Zulunft.

Mit der ſchönen Yuverficht, bie ihn, neben anderen Ehrenqualitäten, zien, bat der Kanzler im Reichätag den Gedanken zurüdgemielen, die ſwinemünder De peiche bes Kaiſers könne in Bayern verſtimmt haben; und er war gewiß höchſt zu frieden, als ein Dank bes in feiner Rede laut gerühmten Prinzregenten erreich worben war. Außer bein Regenten leben in Bayern aber noch andere Leute. Adi Tage nach der zuverfichtlichen Rede des Grafen Bülow feierte der Kaifer jeinen®e burtstag. Da waren in der Augsburger Abendzeitung, die, mie Herr von Bollmar neulich erzählt Hat, „die offizidfen Mittheilungen ber bayeriſchen Regirung veröffent licht”, die folgenden Säße zu leſen: „Der Kaiſer ift heute in fein fünfundvierzigites Lebensjahr getreten. Nocd niemals zuvorinben vierzehn Jahren, jeit eran ber Spikt des Reiches fteht, Haben fi indas nationale Bedenken feines Geburtätages fo jtarkfri- tifhe Erörterungen über feine Perfon gemifcht wie diesmal; und deshalb ift heute die ftille Tyeier bes Geburtätages des Kaiſers, die, welche der Deutſche auch ohne äußerlide: Geprängeinjeinembeutfchgefinntenderzen begeht, recht eigenartiggefärbt. Starker als je herrſcht gerade in den beften patriotifchen Kreiſen heute die tiefe lleberzeugung vor, daß wir uns durch das Feſthalten des Kaiſers an feiner Vorliebe, ſich auf den Markt de: politifchen Qebens zu begeben, gegen die Widerfacher des Heiches und bes monardı ſchen Gedankens felbit jeine Stimme zu erheben, ſie mit leider allzu berebtem Munde zu befämpfen, in Zuſtände verjegt finden, die, je länger defto mehr, ſchwer erträg: lich find. Wir müfjen fehen, wie unter bem bilflofen Schweigen ber ftaaterhalter den Parteien ein mundfertiger Umfturzapoftel aus Aeußerungen bes Kaifers, bit in befter Abficht gethan find, Waffen gegen ben Monarchen ſchmiedet, die im de Lauge des ſchärfſten Hohnes getaucht find; wie von bem am Thron zunächſt Stehen den al3 von einem ‚jungen Mann‘ geredet und wie ihm unter dem Schuge der par lamentariſchen Xndemnität verblümt gerathen wird, erft einmal etwas Ordentliches zu lernen. Der Schmerz, daß Derartiges heute möglich ift, erhält feinen fpigeften Stadel von der Erwägung, daß die Schuld hieran eben vorwiegend an jener Stel liegt, auf bie diefe giftigen Pfeile gejchnellt werden. Doch nicht, um an bieje alte Wunde zu rühren wie eine Wunde am Körper des Deutfches Neiches werben in der That diefe Zuftände zumal von den Uelteren empfunden, die beſſere Zeiten geiehen und in ihrem ftarken Segen ein ficheres patriotiſches Glücksgefühl ver jpürt haben —, nicht zu diefem Zweck wird heute Daran wieber erinnert, benn mit und Alle willen längft, daß da nichts mehr geänbert werben kann.“ Die Kailer idee aber ſolle troß Alledem in den bayeriichen Herzen lebendig bleiben. An dem jelben Tage hielt, beim Feſtmahl der münchener Bürgerſchaft, der Hygieniler Brofeffor Mar Gruber eine Rede, in der er fagte: „Eine Perjönlichkeit, die fo raſch und fräftig urtheilt und ihre Urtheile fo Fräftig zu äußern pflegt wie der regirendt Kaifer, muß Wideriprud finden. Gar Dancer unter uns tft mit den perfönlicen Anſichten, mit dem perſönlichen Gehaben, mit der perfönlichen Politik des K. er nicht in allen Stüden und in weſentlichen Stüden nit einverftanden. ! fen Sie ung Dies als freie Männer offen ausſprechen!“ In ben Münchener N tm Nachrichten hie es dann, der Feſtredner habe „eintreffendesundehrliches Char fer: bild des Kaiſers entworfen“. Und inder Münchener Poſt wurbeerzählt, auf dem! ege vom Bahnhof bis zumRathhaus habedasAuge nur fünfmitfyahnengefchmüdtet Net geſehen: zwei Staatsgebäude, zwei Hotels und > das Wearenhaus dermann ai

—S und Derantwortlicher Redakteur: M. Sarden i in Balin " Berlag der Zukun⸗ Ik Zrud von Albert Daınde in Berlin⸗Schöneberg.

Berlin, den 21. Februar 1905. —⸗ DT

Denezuela.

eit er im September 1899, al8 Ueberwinder und Machterbe des ver-

haften Andrade, in Caracas einzog und bald danach auch den konfer- dativen Gegner Hermandez niederzwang, hat der General Cipriano Caſtro wahrſcheinlich nicht fo frohe Tage erlebt wie in diefem Monat der Februa. An Dezember konnte das Selbfibewußtfein eines Präfidenten der Estados Unidos de Venezuela ins Wanken gerathen. Großbritanien, da8 Deutfche Reich und Italien bedrohten den Bundesfreiſtaat, der nur vier Kriegsſchiffchen und eine Compagnie Seeſoldaten hat; ſollte dem armen Kleinvenedig die Unheilszeit wiederlehren, die es, auf den Wink Karls des Fünften, den Kriegs- knechten der Fugger einſt als wehrloſe Beute hinwarf? Herr Cipriano ließ den Muth nicht ſinken. Gefährlich, mochte er denken, wäre die Sache geworben, wenn die großmächtigen Gläubiger die Heineren zufammengetrommelt und, mit den unter Kaufleuten üblichen Mitteln, gemeinfam die ſchnelle Zahlung der Schuldfumme verlangt hätten. Die Schiffsgeſchütze deö neuen Dreis bundes aber brauchen uns nicht zu ſchrecken. So lange die Gläubiger- intereffen nicht zu einem feften Bündel vereint find, dürfen wir hoffen. Deutſche und Britendrohenmitgepanzerter Fauft? Schön; dann fagen wir zu Yantees und Franzofen: Wenn Die ung den legten Bolivar abpreſſen, bleibt für Euch auf Jahre hinaus nichts mehr übrig. Und ſchließlich fönnen die Dränger uns feinen lange nachwirfenden Schaden thun. Die Blofade be Täftigt den Europäerhandel nicht weniger als ung; und fein fchlauer Gläu- biger wird des Schuldners Gewinnquellen zufchütten. Greifen die Ver— bündeten unfere Küftenpläge an, dann weichen wir ins Innere des Landes

22

240 Die Zutmft.

zurüd und rühren uns nicht. Wir haben zwar fein Heer uniere jun

taufend Diann find fchlecht bewaffnet und kaum für eine Guerilla gedrilt -, fönnen ung getroft aber auf die Schwierigkeit der Verpflegung und aufte Klima verlaffen. Auc dürfte Nordamerika nicht dulden, daß europätik

Truppen unſerGebiet bejegen ; ſonſt wäredie Dionroe-Doftrin janurnodem Brahlerei von vorgeftern. Die Rechnung war richtig. Immerhin jah de Geſchichte nod) im Januar nicht gerade anmuthig aus. Graf Bülow fagt im Reichstag: „Gegenüber Venezuela handelt es fich nicht allem um Geldforderungen, jondern aud) darum, unfer Anjehen zu vertheidigen, da durch das Vorgehen des Präfidenten Caftro, durch die Art, mie er be rechtigte Forderungen in einer ſchonend ausgedrüdt unhöflich Weiſe zurüchwies, verlegt worden iſt.“ Das Hang wie eine Fanfare. De fonnte nur heißen: der feine Meftizenhäuptling, der gegen den großen weiie Dann aus Norden frech zu werden wagte, wird, felbft wenn er ſich m> lich zur Zahlung bequemt, dem Arm des Rächers nicht entgehen. Doch Hen Caſtro hat ftarfe Nerven und bebte nicht einmal, als im Puerto Cabello de deutfchen Seeleute fünfzehn venezolanifche Segelichiffe wegnahmen und oW der „Panther“ das Fort von Maracaibo beſchoß. Am Ende freute er gardiefer Thaten, diein New: Pork, in London und Paris verftimmen mußte Seht Ihr, ſprach er: an und wird das erfte Experiment gemacht; unſen Schulden find nur der Borwand; der deutſche Imperialismus will ausprr biren, wie weit er ungefährdet in Südamerika gehen darf; und wenn In ruhig zuſchaut, könnt Ihr nächftens noch nettere Dinge erleben. Schon vorkt hatte er das Schickſal feines Landes unter den Richterſpruch der mäch tigen Nordunion geftellt. Der amerikanische Gefandte vertrat mit zäh Yankeeſchlauheit die Intereſſen Venezuelas gegen den Gläubigerausſchu Hat Euer James Monroe nicht die Brüdergemeinſchaft aller Amerilant feterlic) dem Erdfreis verkündet? Weht nicht auch uns- ein Stern banner voran?... Caftro hat feine Trümpfe und die Spielfehler feines Haupt gegners klug ausgenügt. Bald ſchien die plumpe Aktion der Gläubiger ei Yebensfrageamerifanifcher Selbftändigfeit. Onfel Sam war in heller Wuth rief de8 Himmel Zorn aufdie frevlen Germanen herab und befchloR, ſchucl neue Kriegsschiffe zu bauen und die alten einſtweilen, zu einfchüchterndt Demonjtration, an Europens Küſte zu ſchicken. Die Engländer, piedas ven Eduards effektfüchtiger Yaune gefnüpfte Bündniß längſt geärge " hatt wurden jehr nervös und drängten zum Schluß der Tragilomoedie. dal⸗ die Zeit der Februa nahte, hatten die drei Verbündeten nur noch * ein

Benentela. 291

Wunſch, den heiklen Handel ſo ſchnell wie möglich aus der Welt zu ſchaffen, und von der angedrohten Sühne war nicht mehr die Rede. Don Eipriano fann lachen; vor drei Monaten wurbe er nicht höher geichätt als andere Dugendgenerale und Dugendverjchwörer ber Meftizenrepublif: heute feiern Nord und Süd der Neuen Welt ihn als nationalen Helden. Und auch feinem Land ift die Krifis gut befommen; früher wollte dem fchlechten Zahler Nie mand mehr Geld borgen: jest bieten die Millionäre in eiferndem Wettbe- werb ihm Darlehen an und Carnegie erflärt ſich, ohne Sicherheit, ohne Rückzahlungfriſt, bereit, faft zwei Millionen Bolivares vorzufchießen, damit der Deutjche die freien Republikaner nicht länger noch qitälen dürfe. In würdigem Ton aber, ohne eitle8 Gefpreiz, meldet ber Kanzler des Deutſchen Reiches den vom Bolt Erkürten: „Venezuela hat fämmtliche von Deutfchland erhobenen Forderungen als berechtigt anerkannt.” Und feine Leute jchreiben, wieder habe der Erfolg bewiefen, daß nur kurzfichtige Thoren unjere internationale Bolitik tadeln förmen. Bis zum fünfzehnten Juli 1903 wird Alles bezahlt ſein, was Deutfche, als Erfat des in früheren Bürger: friegen ihnen zugefügten Schadens, von Venezuela zu fordern haben. Das ift freilich nur der Kleinere Theil der venezolanijchen Schuld. Die übrigen, um das Doppelte höheren Forderungen werden einer Kommiſſion vorgelegt, die in Caracas tagen und in die Deutichland und Venezuela je einen Ver⸗ treter fenden wird. „Diefe Kommiffion hat ſowohl über die materielle Be- rechtigung der einzelnen Forderungen wie über deren Höhe zur entjcheiden. Bei den Reklamationen wegen widerrechtlicher Beichädigung von Eigen: thum erkennt die venezolanifche Regirung ihre Haftpflicht im Prinzip an, fo daß die Kommiffion nicht über die Frage der Haftpflicht, fondern ledig- lich über die Widerrechtlichfett der Beichädigung oder Wegnahme und über die Höhe der Entfchädigung zu beitimmen bat.” Können die bei- den Mitglieder der Kommiſſion ſich nicht einigen, jo ift „zur Entjcheidung ein Obmann zuzuzichen, der vom Bräfidenten der Vereinigten Staaten von Amerika ernannt wird”. Die frage, ob die Ansprüche der drei verbündeten Mächte vor denen anderer Staaten zu befriedigen find, wird der Schieds— gerichtshof im Haag beantworten. Die beſchlagnahmten Schiffe find der venezolanischen Regirung zurüdgegeben worden und die Blofade hat auf- gehört. Das ift der Erfolg, den die Offiziöfen in gedämpften Chören prei- fen. Ehe wir die Berluftlifte prüfen, wollen wir jehen, was denn nım eigent- lich gewonnen ift. Daß Benezuelt jich eines Tags entfchließen mußte, zu- nächſt einen Theil feiner alten Schuld abzuzahlen, war nie zweifelhaft; eben jo

22*

292 Die Zukunft.

wenig, daß bie früher geforderte Barzahlung von 31/, Millionen Bolivares über die Kraft des von Putjchen erjchöpften Landes ging. Sicherift undaud jest nurdieHonorirung der erften yorderung ;dteanderen „werdenim Prinzip als berechtigt anerfannt”. Im Brinzip: in dem Schreiben des Kanzler, das dem Reichstag das Ende des Haders meldet, fehlen die beiden Wörter, die doch nicht ganz unwichtig find. Anerlannt wird nämlich nur das Prinzip: für wider: rechtliche Beichädigung von Eigenthum hat die Regirung der Republik zu haften. Ob aber eine widersechtliche Beſchädigung vorlag und welchen Be trag im einzelnen Fall der Geſchädigte zu fordern hat: Das foll erft die Kommiffion entfcheiden, in der zwei Amerikaner, einer aus Nord und einer aus Süd, den Deutſchen ftets überftimmenlönnen. Im Haag werden Panters und Franzoſen das geforberte VBorzugsrecht der Verbündeten energiſch be- ftreiten und England wird es gewiß nicht fehr eifrig vertheidigen. Wahrfchein- lich werden wir nad) all dem Getöfe alſo erreichen, was andere Mächte ohne den Donner von Schiffsgefhügen aud) erreicht haben. Und diefer Donner gehört nicht zu den billigen Nationalvergnügungen. Die Bilanz des Unter: nehmens ift ſchlecht, fo jchlecht, dak ein Bankdirektor, der fie in die General verfammlung brächte, einen Sturm fürchten müßte. Die Koften der Zwangs⸗ vollſtreckung werden vielleicht beträchtlicher, ficher nicht geringer fein als die einzutreibende Summe. Wie würde ein Kaufmann beurtheilt, der Hundert Mark an Gebühren zahlte, um einem Schuldner fechzig Mark abzupfänden? Aber e8 Handelt fi) ja „nicht allein um Geldforderungen”. Caftro war frech, da8 Anfchen des Reiches ftand auf dem Spiel und Graf Bülow dent, wieder Dänenprinz: Greatly isto find quarrel in a strawwhenhonour | ’satthestake. Nur... Don Cipriano lacht nod) immer. Keine Kriege entichädigung, feine Sühnefeier, die nach der Römerſitte doch in den Februat paffen würde; nicht einmal eine höfliche Verbeugung. Das große Deutſche Reich, deſſen höchſter Vertreter jich den „Admiral des Atlantiſchen Ozeans“ nennt, hat die Operettenrepublif nicht zu bedingunglojer Nachgiebigfeit zu zwingen vermocht. Yeider lacht nicht nur Herr Caſtro. Hübſch aber iſts und rühmlich, daß der Kanzler, ohne eitle8 Gefpreiz, im ruhigen Bruftton de Starfen von dem neuften Triumph feiner Staatsmannskunſt Ipricht. HatHerrvonHolleben, HerrvonPilgrim-Baltazziihm nieberichtet,daß die Südamerifaner fehr ftolze, jehr empfindliche, fehr rachfüchtige Xeute find, die eine Sünde gegen die Gebote feinfter Höflichkeit nie verzeihen? Daß m Benezuela jeit Kahrzehnten deutjche Gejchäfte beftehen, deren Bedeutung die der Hanſemannbahn weit übertrifft? Daß England faſt ausjchlieglich am

Venezuela. 293

venezolaniſchen Diinen- und Berkehrsunterncehmungen betheifigt ift, deutſche Firmen aber einen großen Theil de8 Exporthandels beherrfchen und durch) reichliche Kreditgewährung ſich eine beneidete Stellung gefichert Haben ? Daß bie Dantees längftanf die Gelegenheit warten, die fie von dieſer läftigen Supre- matiedesdeutfchen Kaufmanns endlich befreit? Und wenn die Geſandten ihn im Stich ließen: warum fragteer nicht ander Waſſerkante, eheer Kriegsschiffe nach Maracaibo ſchickte? Jeder hanfeatiiche Commis hätte ihm abgerathen. ent ift e8 zu ſpät, Der deutſche Handel wird in Südamerika bald’die Folgen einer Politiffpüren, diederNordunion den ftolzeften Triumph, dem Deutſchen Reich diekläglichfte Niederlage bereitet hat. Die Häglichfte ;jelbftdieffrupellofe Fälfcherkunft der Troßbuben kann fieauf die Dauernicht verfchleiern. Fran⸗ zojen und Ruſſen höhnen: Das Abenteuer wird den Deutfchen theuer zu ftehen fommen.. Durd) die Vereinigten Staaten geht ein Wuthfchrei gegen das Volk des Alten rigen (defjen Denkmal Niemand im Lande des Sternenbanners jehen mag) und amerikaniſche Offiziere, amerikanische Millionäre jchwören, laut, öffentlich, dem nächiten Verſuch Deutſchlands, in ben jüngeren Konti⸗ nent hinüberzugreifen, werde eine leidenfchaftliche nationale Erhebung ant- wurten, Englifche Minijter mäfjen taufend Ausflüchte erfinnen und täglich - entfchuldende Worte ftammeln, weil fie gewagt haben, einem auf einen einzelnen Fall beſchränkten Bündniß mit Deutichland zuzuftimmen. Das geichieht nach dem Burenkrieg, der ohne Deutichlands ftilfe Unterftügung der Anfang vom Endebritifcher Weltmachtgeworden wäre, nach allden zucer- fügen Reden, die während der legten zwei Jahre über den Ozean gerufen wurden. Nie ward, feit der Deutſche ein Neid) hat, annähernd Aehnliches erlebt. Bismard pflegte zu jagen, an dem Tage, wo ihn die Erfenntniß ge- fommen wäre, daß fein Wirken dem Vaterland Unheil gebracht habe, Hätte er fich, wie in Hellas und Rom mancher ftarfe Greis, mit eigener Hand aus dem Wege geräumt. Graf Bülow wird weiterleben und weiterläcdheln. Er kann noch viele bismärckiſche Reden zu unrichtiger Zeit paraphrafiren, noch viele Worte graßer und mittelmüchfiger ‘Denker falſch citiren. Er ift mit ſich ſehr zufrieden und jeine bIendende Unfähigkeit gefällt den in ftrenger Zeitung⸗ zucht Erwachjenen. Au coeur léger ruft er zwijchen zwei Schlappen, bie Schhwarzfeherei ſei nun mal der alte Nationalfehler der Deutichen; er aber ziehe der Kaffandrarolie die Heltor8 vor. Wunderhübſch. Doc) Heftor focht und fiel für fein Volk; und nicht als gefchniegelter Redner lebt er im Lied.

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294 Die Zukunft. Schopenhauers Wille.

Sa ung, die wir nicht einen Augenblid vergefjen können, daß die Sprade SE mit dem Denten zufanımenfällt, daß die Begriffe der Sprache ſich anf ihre Herkunft hin legitimiren müffen, daß die Sprache oder das Denken mit iegitimen Begriffen nichts anzufangen weiß, für uns wäre Schopenhauers legendarifcher Wille bald bei Seite gejchafft. Wollte ich fremde Begriffe jedoch nur von meinem Grundgedanken aus kritiſiren, fo würde ich den felben Fehler begehen, den Schopenhauer in dem Sat begeht: „Die Motivation ift die Kaufalität, von innen geſehen.“ Will ih Schopenhauers Willen, ber zu einem Scheinbegriff der gebildeten Menſchheit Europas geworden ift, bekämpfen, dann darf id) meinen eigenen Grundgedanken als vielleicht bloßen Worten nicht vertrauen, dann muß ich vielmehr bie Unhaltbarkeit bes Be: griff aus ihm felbft heraus nachweifen. Hier wie auch jonft bei der Kritik fremder Antichten, fremder Worte: gehe ich von meinem Grundgedanken aus, fo ſchwäche ich ihn, indem ich ein Syftem aus ihm herausipinne. Vernichte ich fremde Anfichten und Worte vorausfegunglos, fo ftärke ich meinen Grund: gedanfen, indem ihm immer wieder neuer Stoff von felbft zugeführt wird, von felbit freilich nur fo weit, wie mein Gedankengang nicht von der un: bewußten Eitelfeit auf mein Recht, alfo von meinem Intereffe gelenkt wird.

Es wird aber nicht ſchwer fein, nachzuweifen, daß ber Wille zur Bor: ſtellung- oder Erſcheinungwelt gehört, fo gut wie die Motive zu den Urſachen gehören. Vorher aber müfjen wir uns klar madhen, womöglich mit ben einfachiten Worten und ohne Rückſicht auf irgend eine Pfychologie, was wir eigentlich unter dem Wort „Wille“ verftehen. Das Wort in Schopenhauer# Sinn geht und bis dahin nichts an. Aber aud der Wille als eine geheime Kraft der menſchlichen Seele, als Etwas, über deffen freiheit oder Unfreiheit man jtreiten kann, iſt offenbar ein nıythologijches Abftraftum. Mean müßte ein mittelalterlicher Wortrealijt fein, um im Willen, weil das Wort einmal vorhanden ift, auch das Subjekt irgend einer Thätigfeit zu fehen. So wenig es in der Natur, außer und über den Erfcheinungen des Lebens, eine be fondere Lebenskraft giebt, eben fo wenig giebt es außer und über den einzelnen MWillensaften einen bejonderen Willen. Und ich halte es für verbienftvoll, wenn ich der Lebenskraft, die endlich aus dem wilfenfchaftlichen Sprachgebrauch hinausgeworfen ift, nun aud die Willensfraft oder den Willen nachzufer*““ mich anfdide. Die Vergleihung zwiichen den Willen und dem eben der Natur wird uns auch weiter fördern.

Es iſt ausgemadt, daR unfere Kenntniß von der Welt aus den Sinn eindrüden beiteht, die wir empfangen. Alle unfere Sinneeindräde o Wahrnehmungen, die ih dann zu Vorftelungen und Begriffen aba

Schopenhauers Wille. 295

haben aber neben ihrem fpezififchen Werth, als, zum Beifpiel, Dem, mas wir jehen, hören u. ſ. w., noch eine ftärlere oder ſchwächere Beziehung zu unferem Intereſſe. Ich will die technifchen Ausdrüde der neuern Pfychologie hier nicht anwenden, fondern nur fagen, daß all unfere Sinnesemdrüde uns entweder angenehm oder unangenehm find; dieſes Verhältniß zu unferem Gefühl ift in den meiften Fällen fo ſchwach, daß wir e8 gewöhnlich gar nicht beachten. Aber das Gefühl ift da und muß wohl immer in irgend einem wenn auch noch fo Schwachen Grade vorhanden fein, damit wir unfere Aufmerlfamfeit überhaupt auf den Sinneseindrud lenken. Unfere Wahr: nehmungen find aljo Wirkungen äußerer Urfachen, die unfer Interefie, wenn auch noch fo leife, berühren. Für den Gefühlswerth diefer Berührung haben wir nur deshalb feine allgemeinen Worte, weil wir mit Gefühl eben Das zu bezeichnen pflegen, wofür wir feine Worte haben. Wir find alfo bei unferen Wahrnehmungen der Teidende Theil; unfer Leib, insbefondere feine ipezififchen Sinnesorgane, erleiden die Wirkungen äußerer Urfachen. Handeln wir nun, fo liegt der felbe Vorgang vor, nur in umgelehrter Richtung. Dann ift die Außenwelt feidend und wir find thätig. Weußere Urfachen bewirken unter dem Namen der Motive unfere Bewegung als eine Wirkung; und diefe Wirkung wieder wird zur Urfache einer äußeren PVer- änterung. Genau eben fo ift die Entzündung des Pulverd im Gewehrlauf bie Wirkung vom Auffchlagen des Hahnes, aber auch die Urfache von der Ausdehnung der Safe und vom Heraußtreiben der Kugel. In der ewigen Kette der Kaufalität ift immer und Überall jede Veränderung die Wirkung einer vorausgegangenen und die Urfache einer zufünftigen Veränderung. Jedes Geſchehen auf der Welt, jede minimaljte Veränderung ift ein Zwifchenglied zwifchen einer entfernteren Urſache und einer entfernteren Wirfung. Bei den menfchlichen Handlungen ift Das der einzige Ilnterfchied, daß unfer eigener Leib das Zwiſchenglied ift. Und während bei den äußeren Sinneseindrüden diefes Leibes der Gefühlswerth oder die Beziehung zu unferem Intereſſe ein geringerer ift und darum gewöhnlich feinen bejonderen Namen bat, ift der Gefühlswerth unferer Handlungen ein fehr ſtarker und hat darum einen befonderen Namen erhalten: da8 Wollen. Die Sprache fegt mid hier in Verlegenheit. Ich Habe vorhin das Abſtraktum „Wille“ abgelehnt und nur die einzelnen MWillensafte gelten laſſen. Nun aber entdeden wir, daß diefe einzelnen Erfcheinungen des MWollend gar feine Akte oder Handlungen fein können, ſondern nur fie begleiten oder vielmehr ihnen vorausgehen, um Augenblide vorausgehen. Unſere Bemwegungsgefühle find uns befannt; fie jind fo deutlich, dag jie uns ein Bild der unmittelbar folgenden Handlung vorausgeben, und die Folgen diejer Handlung find uns aus unjerer Er— fahrung nicht mehr und nicht weniger befannt als andere Erſcheinungen der

296 Die Zufunft.

äußeren Welt. Biel Iebhafter alfo als bei den Sinneseindrüden, die m Milliarden auf uns einftürmen, haben wir darum bei oder vor unfem Handlungen das Gefühl, ob jie oder ihre Folgen uns angenehm oder umar genehm fein werden. Dieſes Gefühl nun bdrüden wir, weil es uns nd) angeht, mit einen Begriff aus; wir jagen das eine Mal: „Sch will”, di andere Mal: „Ich will nicht“. Die Frage, ob diefes Gefühl ſich zwiſchen das Bemwegungsgefähl und die wirffihe Handlung drängen kann, ob di - Ausführung der Handlung von diefem Gefühl abhängig ift, wäre in anderem Zufammenhang zu beantworten. Hier handelt es ſich mur darum, fee ftellen, daß der jogenannte Wille als Kraft ein mythologifches Abftraktım ift, in feinen einzelnen Erſcheinungen jedoch nur ein Gefühl, alfo ein Sinne- eindrud, der fi von ben fpezififchen Simmeseindrüden eben nur durch fen Unbeftinnmtheit unterfcheidet. Er ift eine befonbere Art des fogenannten Gemeingefühles, fofern er jich nicht auf den unmittelbaren Zuſtand unjers Leibes bezieht, fondern auf unfere Erwartung vom künftigen Zuftand. Une Gemeingefühl läßt ung, wenn wir nicht8 dazu und nichts davon thun fünnen, fagen: „Ich fühle mich wohl“; oder: „Ich fühle mid) nicht wohl“; die Er: wertung: „Sch werde mich danach wohl fühlen“ oder: „Ich werde mid danach nicht wohl fühlen“ drüden wir aus durch: „Ich will“ oder „Ach wi nicht“. Ich glaube nicht, dag ich noch Etwas hinzufügen muß, um wir zugeftehen zu laflen, daß diefe Gefühle, die wir Erſcheinungen unferes Willens zu nennen gewohnt find, einzig und allein unferer Vorſtellungwelt angehören Schopenhauer alfo, der die Betrachtung der Welt als einer Vorftellung ver den Engländern und Kant übernommen, die Betrachtung der Welt als Wil! jedod neu hinzugefügt Hat, hätte als Inhalt feines Hauntwerles richtig" angegeben, es handle von der MWelt_ols..unferer. Vorftellung und non Wichtigleit der ſogenannten Willenserfcheinungen_in_bieler Boritellunged Der Wille ift ſchon darum völlig ungeeignet zur Welterflärung oder Belt befchreibung, weil er der unklaren und dunflen Gefühlöwelt angehört un es doch ſinnlos ift, die Begriffswelt durch die Gefühlswelt erhellen zu wollen, das Halbdunfel durch das Ganzdunkel.

Ih werde nun an einzelnen Bunften zu zeigen fuchen, welde Kor fufion Schopenhauer dadurch angerichtet hat, daß er unfer erfennendes Organ in Berftand und Vernunft gefpalten, und dadurch, daf er die zu erkennend Welt in Borftelung und Wille auseinandergelegt hat.

In feiner Abhandlung über die vierfache Wurzel des zureicenden Grundes hat Schopenhauer eine umfaffende Erfenntnißtheorie zu geben ge ſucht. Die Erkenntniß der Welt befteht nad) allgemeinem Spradgehren darin, daß wir für Alles, was ift, den Grund fuchen, warum es fei. diefer Trage fteht der Menſch der Welt gegenüber, das Subjeft dem Oi

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Schopenhauers Wille. 297

Schopenhauer lehrt und ift da in Uebeseinftimmung mit fehlechten Sprad;- gemohnheiten vier Klaſſen des Begriffes „Grund“: die Urfache des Ges fchehens, den Grund einer Einſicht, die Grundlage geometrifcher Berhältnifie und das Motiv des Handelns. Wir haben den mathematifchen Begriff in diejem Zuſammenhange ausgefchieden und haben die Motive als gewöhn- liche Urfacden erfannt. Danach bleiben nur zwei Klaffen übrig: die Urfachen des Gefchehens oder Werdens und die Gründe des Erkennens; der uralte Unterfchied zwischen wirkenden Urſachen und Erfenntnifgründen. Nach Schopen- bauer ift der Berftand der Statthalter der erften Provinz, die Vernunft die Statthalterin der zweiten. Und über die Verſchiedenheit der beiden Gefchlechter liegen ſich eben fo billig wie geiftreich anmuthige Bemerkungen machen, die fogar Schopenhauer nicht ganz verfchmäht. Er hat vor der Sprache eine fo hohe Achtung, daß er fogar aus ihren Schnörkeln noch au lernen ſucht.

Halten wir einitweilen Schopenhauers Unterſcheidung zwiſchen Ver— ſtand und Vernunft feſt. Ihm iſt Verſtand die Geiſtesfähigkeit, die Wirkungen auf ihre Urſachen bezieht, die alſo ſowohl die ewige Kette zwiſchen Urſachen und Wirkungen in der Außenwelt begreift als auch dieſe ſelbe Außenwelt überhaupt erſt aus ihren Wirkungen auf unſere Sinnesorgane erräth; ihm iſt, mit einem Wort, der Verſtand das Organ für die wirkliche Welt. Es iſt Mar, daß nach dieſer Definition jedes Thier, auch das niedrigſte, einen in ſeiner Art vollkommenen Verſtand beſitzen muß. Die Qualle hat Verſtand genug, um die Außenwelt nach ihrem Intereſſe zu begreifen und ſich ſo als Subjeft dem Objekt gegenüber zu. erkennen, wenn auch ſchwerlich mit dem Bewußtfein und der Gewohnheit, fo fchöne philofophifche Ausdrücke zu ge: brauchen. Die Dualle ift aber egoiftifch genug, ihren Verſtand über diefcs Berhältnig nicht hinausfchweifen zu laffen. Das Verhältniß der Objekte zu einander intereflirt fie nicht; fie hat die VBerdunftung des Waſſers in der Sonnenwärme nicht ftudirt und darum auch die Dampfmaschine nicht erfunden.

Schopenhauer felbjt beiteht wiederholt darauf, daß auch dies Begreifen von Urſache und Wirkung zwifchen den Objekten der Außenwelt zu den Arbeiten des Verftandes gehöre. Es entjpricht ganz diefer Auffafjung, wenn er jo große Entdefungen wie die der Öravitationthatfachen durch Hooke (die den Berechnungen durch Newton vorausgingen) und des Sauerftoffes durch Lavoifier diefem Berftand zufchreibt, der ſich vom thierifchen Verftand nur dem Grade nach unterfcheidet. Schopenhauer kommt der Wahrheit nah gemug, wenn er an diefer Stelle folhe Entdeckungen unmittelbare Einfälle nennt, während die Schlußfolgerungen, die zu den Kormulirungen folcher Entdedungen führen, der Vernunft nur geitatten follen, die Entdedung anderen Leuten deutfih zu machen. Wenn in meiner Spracdhkritif gelehrt wird, daß jeder Fertichritt in der Welterfenntniß nur von Beobachtungen herfomme, daß

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298 Die Zutunft.

alle Sprache aber nur den Zwed der Erinnerung und Mittheilung habe, fo dürfte damit Aehnliches gejagt fein. Nur verzichte ich dabei auf die beiden Gottheiten Verftand und Vernunft und erfahre vielleicht nebenbei, was die allverehrte menschliche Vernunft eigentlich fei, nämlich nicht mehr und nicht weniger als die arme menfchlide Sprade. Nah Schopenhauer entitcht ftatt der Wirklichkeit der bloße Schein, wenn der Verſtand fih irrt, flatt der Wahrheit der Irrthum, wenn die Vernunft fih irrt. Wir erfahren aus unferer Sritif der Logik, was e8 mit der Wahrheit auf ſich Habe: wahr if, was dem Sprachgebrauch nicht widerfpricht; die Wahrheit befigt, wer feine Mutterſprache mit gutem Gedächtniß richtig anwendet. Schopenhauer brauchte num mit einem felten Schritt aus feinem metaphufifchen Nebel herausz'rtreten, um die Fdentität feiner Vernunft und unferer Sprache zu erfennen. Er fagt, die Vernunft bringe ihre wichtigften Leiftungen durch Hilfe der Sprache allein zu Stande: Kultur und Staat, Wiſſenſchaft und Religionen, Denken und Dichten. Was mag da die Vernunft felbft, alfo da8 Denkorgan, für ein merkwürdiges Werkzeug fein, wenn fie ihre einzige Leiftung, das Denken eben, durch die Sprache allein zu Stande bringen kann? Iſt die Sprache etwa nur ein Hilfämwerkzeug des Werkzeuges Vernunft? Oder follte die Vernunft Hinter der Sprache am Ende doch nur der Gott fein, der Hinter bem Tonner fiedi? Wenn in der „Jungfrau von Orleans“ der Donner fi gegen Johanra ausipricht und der Pöbel mit dem Hof und dem Erzbifchof im Donner die Sprache eines Gottes verfteht, jo nennen wir Das AÜberglauben; der Dichter behandelt ben Aberglauben als poetifches Motiv. Wollte aber ein Philoſoph unter den Zuhörern num gar auseinanderfegen, der Donner fei ein mangel: haftes Werkzeug Gottes, Gott habe feine Gedanken deshalb nicht Har genrg aussprechen können, fo werden wir wohl endlich ungeduldig werden. So aber fcheint mir Schopenhauer zu fpeluliren, wenn er, nicht gar weit von der richtigen Beobachtung, zugiebt, die Sprache, als das unentbehrlichfle Mittel des Denkens, fei doch zugleich ein befchwerendes und Hinderndes Mittel, „weil fie den unendlich nuancirten, beweglichen und modifikabeln Gedanken in gewiſſe felte, ftehende Formen zwinge und, indem fie ihn firire, ihn zu: gleich feſſele.“ Hätte Schopenhauer diefe Spur mit feinem überlegenen Scharf: finn und feiner weit höheren Fähigkeit abftraften Denkens weiter verfolgt: id hätte mein Buch ungefchrieben laffen können. Aber Schopenhauer au num einmal an die Bernunft als einen Gott und an_die Sprache als ih m Propheten. Das Hindernif, das er in der Mangelpaftigfeit der menfchli- Sprache deutlich fieht, werde durch die Erlernung mehrerer Sprachen Theil befeitigt, jagt er. Ganz richtig, denn die Inhalte der entſprechen Worte verfchiedener Sprachen deden fich niemals vollftändig und fo be wer mehrere Sprachen genau fennt, mehr Gedanken oder Begriffe als Ei

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Echopenhauers Wille, 299

der nur eine ſpricht. So aber faßt Schopenhauer die Sache nit auf. Der geipenftige Gedante feiner mythologifchen Vernunft ſoll beim Sprachenlernen aus einer Form in die andere gegofien werden, in jeder feine Geftalt etwas verändern (welche Geftalt?) und fich mehr und mehr von jeglicher Form unb Hülle ablöfen, wodurch fein felbfteigenes Weſen deutlicher ins Bewußtſein trete und er auch feine urfprüngliche Modiftlabilität wieder erhalte. Schopen- hauer verräth nicht, in welcher unbelannten Sprache ihm dieſes Gedanken⸗ geſpenſt feine abenteuerliche Biographie mitgetheilt habe. Eine Marotte ift es dabei, zu glauben, daß feine geliebten alten Sprachen für bie Mittheilung folder Gedanken geeigneter gewefen feien als unfere modernen Patois, wie er hübfch grob fagt. Schade daß die Meifter der alten Sprachen ihr Werl: zeug fo fchlecht benugt haben, daß Ariftoteles ein Ignorant war im Ber: hältnig zu unferen Schulfnaben und Cicero ein Schwäger in jeder Bes ziehung. Hätte Schopenhauer nicht den Gott Hinter dem Donner gejucht, nicht die Vernunft hinter der Sprache, er hätte auch nicht von Nachtheilen der Vernunft reden koönnen, wo es ſich nur um die Mängel der menfchlichen Sprache handelt. So führt er drolliger Weife als einen Nachtheil der Ver⸗ nunft die Möglichkeit des Wahnfinnes auf; mit dem felben Recht könnte man es einen Nachtheil des Reichthumes nennen, daß man ihn verlieren fünne. Für ung, die wir auch den Wahnfinn mit dem Weſen der Sprache in Zufammenhang bringen, ift all diefes Gerede fcholaftifcher Wortrealismus.

Und num wollen wir endlich fehen, durch welchen Gedankengang Schopen= bauer dahin gelangt, das Geheimnig ber Welt mit dem Wort „Wille” zu erklären. Wir haben gefehen, daß der Wille, ein uns fprachlich fo überaus vertrauter, fachlich dagegen fo überaus unbelannter Begriff, nichts Anderes iſt als eine’ dunkle Gefühlsvorftellung, vor Allem alfo nur eine Borftellung, und zwar eine folche, bei der wir niemals biß zu einer deutlichen Anſchau⸗ ung, zu einem fpezifiichen Sinnegeindrud vordringen oder zurüdgehen können. Wir Haben gefehen, daß für unfere Weltanfhauung der Wille nur Ers fcheinung ift, nur ein Scheinwefen, das ſelbſt der Erklärung bedarf und darum noch fehlechter al8 andere Begriffe geeignet jein dürfte, irgend Etwas in der Welt zu erklären, gefchweige denn das Weltganze ſelbſt. Wir werben num erfahren, wie Schopenhauer, wenn er beim Wort genommen wird, bes fennen muß, daß aud für ihn der Wille nur ein Begriff war neben anderen Begriffen, eine leere Worthäülfe, die er noch dazu für elaftifcher hielt, als die Elaftizität der Sprache geftattet. Sein ganzer Gedankengang ähnelt einem Zajchenfpielerfunftftüd; doch fol ihm Das nicht zum Vorwurf gereichen, denn wer das Weſen der Sprache durchichaut hat, wird im jedem philo= fophifchen Gedankengang, ja, vielleicht in jedem Verfuch jedes Menfchen, feine eigene Anfchauung einem Anderen einzurebden, das verftedte und fait immer

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300 Die Zukunft.

unbewußte Tafchenfpielertunftftüäd erbliden: e8 werden zwei Gegenftände, dx nur ähnlich find, mit einander vertauſcht, e8 wird ein Wort in ähnlichen Bedeutungen wiederholt, al8 ob die Bedeutungen identifh wären. Ein fritifche Gefchichte der Philofophie von dieſem Gefichtspunft aus wäre bei furchtbarfte und verzweifeltite Werk, deiien das menfchliche Gehirn fähig wäre

Schopenhauer weiß beffer als irgend ein Anderer vor ihm, daß ber menfchliche Leib für den menfchlichen Geift ein Objekt der Außenwelt iſt, von dem der Geift auf dem felben Wege Kenntnig erhält wie von anderen Tb jeften, duch die Sinnesorgane nämlid. Er weiß aber auch die banale Wahrheit, daß uns, jedem Individuum für fi, der eigene Leib außerden doch noch in anderer Weife befannt iſt. Es ift einerlei, ob wir diefe andere Weiſe das Selbtbewußtfein nennen, ob wir es wie ich verfucht Habe auf das unbewußte Gedächtniß des eigenen Organismus zuridführen oder ob wir diefe intimere Kenntniß des eigenen Leibes an die Gefühlswerthe fnüpfen, die wir bei jeder von außen fommenden Wahrnehmung und brı jeder nach augen gehenden Handlung unjeres Leibes ſchwächer oder Härter mitenpfinden. Die Gefühlswerthe bei Wahrnehmungen oder Sinneseindrüden kennt Schopenhauer nicht oder will fie nicht kennen, um die anderen Gefühls: werthe, die Begleiterfcheinungen der Handlungen, zum Schwungbrett für jeinen Sprung in die Metaphyſik zu benügen. Dabei täufcht er fih zum erfien Mal, da er nicht nur Ähnliche Bedeutungen gleicher Worte vertaufcht, ſondern ganz frech weit entlegene Begriffe oder Worte verwechſelt.

Was unfer Selbftbewußtfein von der Kenntniß der Außenwelt näns ih fo von Grund aus trennt, ift der entjcheidende Umftand, dag wir uns bei der Wahrnehmung der Außenwelt als paſſiv fühlen, als das pafjiwe Endglied der Verkettung von Urſache und Wirkung, daß wir uns bagegen, jobald wir handeln, als aktive Zwifchenglied in diefer felben Kette Fühlen. E3 war nun ein genialer Einfall Schopenhauers, auf diefes Gefühl der Aktivität, auf dieſes Selbſtbewußtſein, auf dieſes Werthgefühl hinzuweiſen als auf eine Thatſache, auf welche die philofophifche Welterfenntnig niemals genügend Rüdjicht genommen hatte. Bor ihm hatte Kant bie Anftrengirzgen der legten Jahrhunderte in dem rejignirten Ergebniß zufammengefaßt, daß alle wahrgenommene Welt nur eine Erſcheinung für uns fei, für uns wohl: gemerft, dag die wirkliche Welt, die Dinge für fich, nicht für ung, das fo: genannte Ding:an.fid, aber dem menfchlichen Geift ewig unnahbar bleiben | werde. Hätte ein revolutionärer Geift wie Schopenhauer feinen gen em Einfall befcheidentlich ausdrüden wollen und können, er hätte ihn unge| br fo formuliren müſſen: Locke hatte eine Kritik der Sinneßorgane gefchrie. en (daß es zugleich der Anfang einer Kritik der Sprache war, konnte Schopende ver noch nicht jehen); Kant verfuchte über dieje Leiftung daducch hinauszugelanc n,

Schopenhauers Wille, 301

daß er eine Kritik der Gehirnthätigfeit unternahm, die er denn auch die Kritif der Vernunft nannte; aber Kant begnügte fich damit, die Wahrnehmungen der Sinnesorgane und die in der Bernunft bereitfiehenden Borftellungen zu unter: Scheiden, er traf die Kritik der Vorſtellung tiefer und feiner, aber er jah im MWefentlichen nichts Anderes als Vorftellungen; wenn man Kants Leiftung, wie es wohl gefchehen darf, nur als eine Bereicherung der Pſychologie auf: fagt, fo kann man jagen, daß er das bewußte Denken allein unterſuchte; Schopenhauer dagegen (und Das ift fein neuer Einfall) bemerkte die außer: ordentliche Wichtigkeit der Vorftellungen, die nicht aus unferen Sinneswahr: nehmungen hervorgehen, und wurde jo der Begründer einer Philofophie des Unbewußten. Sein genialer Einfall ift weit fruchtbarer als der des Descartes; Descartes rief eine8 Tages in heller Verzweiflung aus, ex wife nicht gewiß, was er denfe; er wifje gewiß nur, daß er benfe; darauf fegten die Engländer und Kant die noch traurigere NRefignation, daß all unfer Denken uns nur einen Schein der voraußgefegten Wirklichkeit biete; und nun fegte Schopen- bauer feinen Trumpf daranf. Hatte Descartes gerufen: „Ich denke, aljo bin ich“, jo antwortete Schopenhauer jest: „ch denke nicht nur, ich bin auch“; was ich denke, ift bloße Borftellung; was ich bin, ift Wirklichkeit.

Und jegt bitte ich um ein Wenig Aufmerkſamkeit. Schopenhauer hatte Recht. Mein Selbftbemußtfein, der Gefühlswertd meiner Wahrnehmungen und Handlungen, mein Lebenögefühl geben mir allerdings einen Zipfel der MWirklichfeitwelt in die Hand, der meinem bloßen Denken unzugänglich war. Die gefammte gedachte Welt ift unkontrolirbare Erfcheinung, deren’ reale Grundlage, deren Dingsan:fich wir nicht annähernd zu fallen oder zu ahnen vermögen. Ein einzige Objekt ift uns von zwei Seiten befannt: unfer Ich. Mir kennen e8 wie alle anderen Dinge der Welt al3 eine Erfcheinung zwifchen anderen Erfcheinungen, als ein Objekt zwifchen anderen Objekten; daneben aber kennen wir es auch von feiner anderen Seite, von inmwendig, al3 Ding:anfih. Wir find e8 ja ſelbſt. Dürfen wir aber im Exnit jagen, dag wir c3 von inmwendig fennen? Was man fo fennen nennt. Wir fennen eben nichts als ‘Das, was wir durch unfere Einne fennen. Die fogenannte Kenntnig unfere8 Ich, die inwendige Kenntniß, ift aber nicht durch die Sinne vermittelt, ift nur ein dumpfes Gefühl der Lebensförderung oder Lebens: ftörung, ift alfo nicht Das, was wir fonft immer mit dem Worte Kenntnik zu bezeichnen pflegen, ift feine Vermehrung unſeres Wiffens, ift eben nur ein Gefühl. Der Einfall Schopenhauerd hat alfo feinen größeren Werth als den, ein vortreffliches Beifpiel zu fein das einzig mögliche Beifpiel übrigend für den Werth, den die Objekte (die Erfcheinungen für uns) fich felbft beilegen. Echopenhauer8 Betonung diefes Gefühles ift das einzig mögliche Beifpiel dafür, was die Erfcheinungen auf die Frage antworten

302 Die Zuhuft.

würden: Wofür halten Sie fich ſelbſt? Es ift für uns, die wir tiefer bin bliden, ein bebenklicher Nebenumftand, daß es nur für bie Welt ber En fheinungen eine Sprache giebt, daß alfo da8 Dingsan-jich gar nicht ander

antworten kann, al8 indem es unaufhörlich ſtammelt: Ich, ich, ich.

So wäre benn der Einfall dankenswerth, auf unfer KXebensgefühl ala auf Etwas_hinzumweifen, das in unferem Gehirne x no) auper.b brücen uubben aus. .ifuen abbizten Senutpifien zu finden fei; und es * nah, ihn, wie üblich, metaphoriſch zu benützen. Hinter unſerem eigenen Leib, den wir mit unſeren Augen, Händen u. ſ. w. als ein Objekt unter Objekten wahrnehmen, ftedt das Lebensgefühl bes Individuums: fo mag Hinter alles

Objekten auch Etwas fleden. Nur läßt es ſich nicht ausdrücken. Ich gehn

zu der Welt der Erfcheinungen; außerdem bin ich aber und zwar weiß ıd Das von mir einzig und allein aud) ein Ding:anfih, ein Ding für mid.

Alfo heraus mit ber Sprache! Was bin ich als Dingsan-fih, als Ding für mih? Ich, id, ih! Ich hin ich! lleher hiefe bldſiunigeTautalogie „übe

diefes Lallen gelangt die Sprache nicht hinaus.

Schopenhauer aber verfuchte die Sprache zu zwingen, indem er zw

nächft das Gefühl unferer Aktivität mit dem Willen gleich fette, unter Handlungen mit den einzelnen Willensakten, um das vorhin abgelehnte Won mit Schopenhauer wieder zu gebrauchen. Ohne einige Konfufion im de Begriffen konnte Das natürlich nicht abgehen; und in diefe Konfufionen wil ich an einem entfcheidenden Punkt Ordnung zu bringen fuchen.

Wenn irgend eine Wahrnehmung fiir mich das Motiv zu einer Handlung wird, wenn, um das alltäglichite Beifpiel zu gebrauchen, der Anblid von

Eßwaaren oder die gehörte Bezeichnung für Nahrungmittel für mic em Motiv zum Effen wird, fo liegt zwifchen der Wahrnehmung und meint Handlung der Wille, diefe Handlung auszuführen. Selbſt wenn ich mit des Zeitunterfchiebes nicht bewußt bin, felbft wenn der Wille nur als Be gleiterfcheinung meiner Handlung empfunden wird, felbft dann werde ich vorausfegen, daß der Wille der Handlung vorausgegangen fei. euere id ein Gewehr ab, fo verläßt die Kugel mit lautem Knall den Lauf in bem felben Augenblid, wo der Hahn auffchlägt; und doch ich bin wiſſenſchaftlich davon überzeugt, daß der Stoß auf die Zundmaſſe deren Entzündung vor: angegangen fein müfje, diefe wieder dem Verbrennen des Pulvers u. f. m. Was zeitlih von einander verfchieden ift, kann aber ſchon darum icht identifch fein. Schopenhauerd Gteihftellung von Handlung und Wille alt ift darum von vorm herein abzulehnen. Er fagt: „Der Willensalt um bie Aktion des Leibes find nicht zwei objektiv unbekannte verfchiedene Zufi ide, die das Band der Kaufalität verfnüpft, ftehen nicht im Verhältniß der Ur xche und Wirkung; fondern fie find Eines und das Selbe, nur auf zwei at lich

Schopenhauers Wille. 303

verfchiedene Weiſen gegeben: einmal ganz unmittelbar und einmal in der Anſchauung für den Verſtand.“ Das ift wenigftens beutlih. Der Wille fol nicht, wie die naive Empfindung Das heißt doch fo viel wie ber allgemeine Sprachgebrauch befagt, eine Urfache unferer Handlung fein, fondern die Handlung felbit, „von innen geſehen.“ Das bat freilich nur dann einen Sinn, wenn es in unferer Welterfenntinig noch etwas Anderes giebt als Torfielungen; dann ift eben der Wille diefes Andere und Schopenhauers Welt ald Wille und Vorſtellung ift legitimitt. Er legt alfo wie. eben wohl philofophifche Syſteme entjtehen müſſen fein Syſtem vorher in die Worte hinein, um es nachher mit Logifchen Schlüffen herauszuloden. Sit aber der Wille eine VBorftellung, wie wir e8 erflärt haben, fo kann er in der MWirklichleitwelt nur entweder ein Glied in der Kette der SKaufalität fein oder er ift eine Scheinvorftellung. Entweder wir bezeichnen mit bem Worte Wille die uns font unzugängliche und nur durch das Gefühl wahrgenommene, phyiiologifch durchaus noch nicht zu erflärende Gehirnveränderung, die ein Zwifchenglied ift in der Kette zwiſchen Urfache und Wirkung, insbefondere zwifchen Motiv und Handlung, oder aber wir bezeichnen mit dem Wort Wille gar nichts. Der Beitunterfchied zwifchen Wile und Handlung zeugt dafür, dag dem Willen irgend Etwas in ber Wirflichkeitwelt entfprechen müſſe; und der Sprachgebrauch meint auch etwas Wirkliches bei dem Begriff „Freiheit des Willens“, ob man nun die Freiheit des Willens lehrt, wo dann der Wille eine höchſt mächtige Gottheit wäre, oder die Unfreiheit des Willens, wo dann der Wille als ein Glied in die Kette der Nothwendigkeit eingefügt it. Schopenhauer jedoch muß jeden Unterfchieb zwifchen Handlung und Mille austilgen, muß den Willen und die Willendalte aus der Keite von Urfache und Wirkung hinausweiſen, alfo aus der Wirklichleitwelt, um dann in einer neuen Mythologie den felben Willen zum Allerwirklichiten machen zu fönnen, zu feinem oberften Gott. Es geſchieht, was in der Geſchichte der Philofophie jedesmal gefchehen muß, wenn ein pofitiveg Syſtem aufgeftelt wird. Es wird ein Wort der Bedeutung entkleidet, bie e8 im Sprachgebrauch bat; anftatt darauf das Wort als eine leere Hülfe fallen zu laffen, wird irgend einer der obdachlos gewordenen höchften Begriffe binein- geitopft und fchlieglich das alte Wort in feiner neuen Bedeutung wieder in Gebrauch genommen, als ob die Sprache ſich um den Sinn ihrer Worte nicht zu fümmern hätte. Der alte Sprachgebrauch. belagte. daß das Wort Wille die Vorſtellung von einem Feiuhl. bedeute. das unleren Handlungen häufig vorauszugehen pflegt. Schopenhauer lehnt dieſe Bedeutung ab; ber Wille Ic Line Vorſtellung, des Wille fei die Danblung, ‚von innen n_gefehen; jtatt aber da8 Wort Wille deshalb aus feinem Wörterbuch) 3, zu ftreichen, jhliegt er ungefähr fo: Wir fuchen feit Kant Etwas, das nicht Vorftellung

804 Die Zukunft.

ift; der Wille ift feine Vorftellung; und meil die ganze übrige Well mr unfere Borftellung ift und als ſolche ein Räthſel, darum ift ter Wille des Näthfels Loſung. Und an diefer Stelle, da er den Willen als den Echlühe des MWeltgeheimnifjes entdedt zu haben glaubt, verräth er uns, Die wir dem Werth ber Worte mißtrauen, ein fchlechtes Gewiſſen, wenn er erklärt: de} Individuum würde das Weſen feiner Handlungen eben fo mie das een unorganifcher Objekte eine Qualität, eine Kraft, einen Charakter oder ähnlid nennen, wäre dem Individuum nicht dadurch, daß e8 zugleich Objelt und Subjekt ift, das Wort des Räthſels gegeben; „und diefes Wort heißt Wille”. Man halte diefeg Citat für keine Chicane. Schopenhauer hat zur Erklärmg der Wirklichkeitwelt in der That nur ein Wort zur Verfügung; oder viel: mehr weniger als ein Wort: denn nachdem er dem Wort Wille feinen Iprod: g.bräuchlichen Inhalt genommen hat, bleibt dech nichts als der leere Wortſchall übrig, ein Geräufch, ein tönender Lufthauch.

Schopenhauer ift aber ein ehrlicher Mann. Weil er felbft an fein Gott, den Willen, glaubt, vergißt er die Begriffsfälfchung, die er vorge: nommen bat, und fpricht wenige Seiten fpäter ganz vertrauenspoll davon, daß diefer Wille und alle wünfchenswerthen Auffchlüffe Über das Ding ansfih gebe. Wie der robufte Himmels- und Auferftehungsglaube der Urchriften auf die religiöfe Verzweiflung des Alterthums folgte, ganz eben fo felbf- fiher und triumphirend folgt Schopenhauers Willensglaube auf Kants Re fignation. Man muß nur nicht glauben, daß ſich philofophifche Ueberzeugungen gar fo fehr von Mythologien unterfcheiten; nur daß die Schwierigfeit de Jargons die philofophiichen Selten fich nicht jo weit ausbreiten läßt.

Ich habe zu zeigen verfucht, dag Schopenhauer mit der Gläubigfet eines fcholaitifchen Wortrealiften die Wirklichkeit feiner abftraften Begriffe lehrte, daß er alfo bei der Ausarbeitung feiner Philofophie, praftifch, von eier Kritik der Sprache wieder weit entfernt war. Mit außerordentlihem Scharf: finn hat er das Verhältniß nah verwandter Begriffe aufgededt; er unten: fcheidet fehr fein zwischen Verſtand und Vernunft, zwifchen Freiheit: dei Thuns und Freiheit des Willens, zwiſchen dem Willen und den Willen? aften, aber es fällt ihm nicht ein, daß all feine Unterfcheidungen nur Phantafie gebilde betreffen, nur verabredete Wortzeichen, nicht aber Thatfachen der Natur. So oft Schopenhauer jedoch theoretifh an die Unterfuchung der Spradt herantritt, nähert ex fich zuerft einer kritiſchen Auffaffung der Sprache. In feinen Werken wären viele Belegftellen für meine Grundauffaflung zu finden, doch wären diefe Citate niemal® ganz in feinem Sinn, weil bei ihm kritiſche und abergläubige Gedanken über die Sprache wire durcheinandergehen. Mit fhönen und ftarfen Worten hat er die Werthlojigfeit des Logifchen For: fchreitens im Denken behanptet und auf die unmittelbare Anfch mung ald

Schopenhauers Wille. 305

die einzige Duelle der Erkenntniß hingewiefen; da er aber noch nicht wein, daß alle Logik in den Gewohnheiten der Sprache ftedt und daß felbft der ſprachliche Ausdrud für eine Anſchauung von den hergebrachten Worten, aljo von der Anfhanung vergangener Generationen abhängig if, darum bindet er feine kühne und mindeftens höchſt individuelle Weltanfhauung an unfontrolirbare Worte und nichts hält ihn ab, diefe Worte ganz logifch und ohne Rückſicht auf die Wirklichkeit zu einem Syftem zu Inüpfen; darum fcheut diejer revolutionäre Denker auch nicht davor zurüd, unaufhörlich und häufiger als andere Selbftdenker fi) auf Autoritäten zu berufen, Säge von alten BHilofophen abzufchreiben, vieldeutige Säge, deren einzelne Worte ganz gewiß sicht den Begriff enthalten konnten, den Schopenhauer ihnen zweitaufend oder ein paar hundert Fahre fpäter beilegt.

Damit hängt fein Glaube zufammen, daß durch Hinzulernen fremder, befonder8 alter Sprachen „lich immer mehr der Begriff vom Worte ablöfe.“ Ex bemerkt nicht, daR es um das Denken eine fümmerliche Sache fein muß, wenn man in jeder Sprache anders denken kann und muß, das uns alio unfer Denken von der Sprache diktirt wird, in der wir denken, dat Denfen und Sprechen da3 Selbe fein muß. Und fo fehr ift Schopenhauer in feinen: Tcholaftifchen Realismus befangen, daß er nicht den natürlichen Schluß zieht: wenn man in jeder Sprache anders denkt, fo find die Gewohnheiten: jeder Sprade die Herren über unfere Begriffe; daß er vielmehr den ganz un: natürfichen Schluß zieht: wenn man in jeder Sprache anders denkt, fo löft fih durch die Erlernung vieler Sprachen der Begriff immer mehr von Wort 108. Was kann Das für ein Begriff fein, der losgelöft von verfchiedenen und Aehnliches bedeutenden Worten verfchiedener Sprachen, alfo LoSgelöft von jedem Wortzeichen, immer noch irgend eine Stelle in unferem “Denken ein- nehmen fol? Was tanıl Das für ein Begriff fein, wenn es nicht irgend eine Begriffsrealität in Wolkenkukuksheim ift? So wird Schopenhauer, fo meifterhaft er die deutfche Sprache beherricht, jedesmal, von feinen Theorien verführt, zu einem abergläubigen Knecht der Sprache. Er will, um deito freier denken zu fönnen, die Begriffe von den Worten der einzelnen Sprachen Löfen. Eben fo gut könnte er da8 Problem des Fliegens dadurch Löfen, daß er jagte: Je mehr Fortbewegungarten wir erlernen, je mehr wir uns im Gehen, Fahren, Reiten, Segeln, Eijenbahnfahren u. |. w. einüben, deſto mehr löfen wir den Begriff der Fortbewegung von der Erde 108, bis wir, fo8gelöft von der Erde, von der Spige des Thurmes aus durch die Luft fliegen Fönnen. Auch er wäre zu Boden geftürzt, wie alle Syſtemerfinder vor ihm, wenn fein liegen im reinen Reich der wortlofen Begriffe mehr geweſen wäre als ein Traum.

Grunewald. Fritz Mauthner.

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306 Die Zukunft.

4 Cherapeutifcher Hypnotismus.

5‘ Hypnofe: Kommifjion der berliner Aerztelammer hat e8 eben fo wenig wie dieſe felbit verhindert, daß ihr vom Kultusminifter Lediglich zu feiner Information erforderted Gutachten über den Heilwertd der Hypnofe fofort in die breitefte Deffentlichkeit gelangte. Damit ift e8 feines privaten Charakter beraubt und für die öffentliche Diskuffion nicht nur in den Fach⸗ blättern freigegeben. Strümpell, der ein Gegner des therapeutifchen Hyp⸗ notismus gemefen war, hat in feiner befannten Neltoratärede „Ueber bie Entftehung und Heilung von Krankheiten durch Vorftellungen“ freimüthig befannt, daß „Sich bereit eine große Reihe wiflenfchaftlich Hochftehender Aerzte des Hypnotismus als, Heilmeihode in ausgedehnten Maße bedient, von denen zahllofe, oft wunderbar erfcheinende Heilungen erzielt worden ind.” Das Gutachten, da8 Mitglieder der Aerztelammer abgaben, alfo Mitglieder einer Körperſchaft, die in after Linie berufen ift, die Würde und die Intereſſen des Ärztlihen Standes und feiner Mitglieder zu wahren, bat ſich nicht ge- heut, die von diefen wiflenfchaftlich Hochftehenden Aerzten in der Fachliteratur befchriebenen Heilungen ironifch in Anführungftriche zu ftellen, ja, fie mit denen der Gefundbeter in Parallele zu fegen. Ein ſolches Gutachten mußte dann wenigftens felbft ein Mufter von Objeltivität und gemwillenhaftefter Be— richterftattung fein. Die Wucht feiner Beweisfraft mußte, unterftügt von unzweifelhafter wiflenfchaftliher Autorität der Verfaſſer, niederfchmetternd wirken, wenn e3 zu einem verurtheilenden Spruch kam.

Wer jind num die Verfaffer? Bor allen Anderen ift Herr Profeflor Mendel zu nennen. Ich felbft geftehe ihm gern eine hohe Autorität im ber Piychiatrie zu. Iſt ers aber wirklich au in Fragen des Hypnotismus? Er hat früher behauptet, Hypnoſe fei gleichbedeutend mit Lähmung der Groß— hirnrinde; er ift früher mit für das Dogma, daß nur Hyfterifche zu hypuo⸗ tiliren feien, eingetreten. Im Gutachten fieht nicht® mehr davon. Er if alfo von diefen Anfchauungen zurüdgelommen. Die Autorität eines Mannes aber, der in fo elementaren, rein wiflenfchaftlihen und technifchen Fragen feiner Spezialdisziplin irren konnte, ift auf diefem Gebiet mindeſtens zweifelhaft. Kraft welcher wiffenfchaftlichen Autorität auf dem Gebiete des Hypnotismus die anderen drei Herren ihr Gutachten abgegeben haben, entzieht ſich meiner Beurtheilung. Etwa, weil jie der Aerztelammer angehören? Doch zuge, n felbft die Autorität. Auf der anderen Seite ftehen Namen wie Forel, Er tk Ebing, Oberfteiner, Moebius, Dekhtereff, Dumontpallier, Bernheim, Mo" i, Deſſoir und Andere.

Iſt das Gutachten ein Mufter von Objektivität? Iſt e8 auh nm mu 7 Sorgfalt abgefaßt, die man von jedem wiffenfchaftlichen Gutachten fordern mr ?

Zherapeutifcher Hypnotismus. 807

Sch zweifle. Ich darf doch einem Diendel und and den anderen Öutachtern nicht mala fides oder gar Unkenntniß zutrauen. Seit wann ift e8 in ber Medizin Sitte, daß man, wenn man den therapentifchen Werth eines Mittels oder Verfahrens zu begutachten hat, nicht lediglich die Frage ftellt, ob es der Indicatio causalis und ob es der Indicatio symptomatica gerecht wird? Iſt e8 erlaubt, in diefes Gutachten die Kapitelüberfchriften zu fegen: „Der therapentifche Hypnotismus als Heilmittel” und „als ſymptomatiſches Mittel“? Ziehen wir doch die Konfequenzen! Wie viele unferer Mittel und Verfahren, von den chirurgischen Eingriffen abgefehen, verdienen dann noch den Ehrentitel eines Heilmittel3? Oder in wie vielen Fällen darf fich der Arzt, weil er berufen ift, die Franfhafte Veränderung eine Organes direft zu beeinfluffen, dann noch mit Recht „Heilkünftler“. nennen und nicht viel- mehr „Symptomatifchmitteltünftler“ ?!

Im Gutachten heißt es über die Hyfterie, fie zeichne ſich durch die Suggeftibilität aus. Der Hypnotifeur häufe fo Suggeftion auf Suggeftion. Statt das krankhafte „Ich“ zu feftigen, fleigere er die Krankheit, untergrabe ober vernichte er gar das Ich des Patienten u. f.w. Soll man einem Mendel etwa zutranen, er wille nicht, daß es zwei Arten von Suggeftibilität giebt, eine Auto: und eine Fremdfuggeftibilität, und daß auch die zweite Art bei ber Hufterie oft fogar gefteigert it? Wie wäre er auch fonft zu dem falfchen Dogma gefommen, daß nur Hyfterifche leicht zu bypnotifiren find? Warum wird Tas verfchwiegen? Ja, dann müßte freilich das Kartenhaus der Beweiſe dafür, daß die Anwendung der hypnotiſchen Suggeftion bei Behandlung der Hyſterie irrationell, ja, direkt ſchädlich iſt, ſofort zuſammenſtürzen.

Die Hyſterie iſt eine funktionelle Eikrankung der centres supérieurs (P. Janet), der „zuhöchft geordneten" Nervencentren, deren Eig wir in ber Großhirnrinde annehmen. Diefe centres superieurs bilden den Gig unſeres Urtheile8 und unferer Willfür und damit auch unſeres Bewußtſeins und unjerer Gehirnkontrole. Sie haben zunächſt die Aufgabe, ein regulirender Hemmapparat zu fein für die an fich fehr reizbaren „niederen Nervencentren“. Dazu gehören nicht nur die Gentren, bie rein animalifchen Zwecken dienende Organe innerviren, fondern auch die pfychifchen im engeren Sinn, alfo alle, die Sig unferer Triebe find, und auch bie, deren Thätigfeit fich als das automatifche Spiel ber Afloziationen manifeftirt. So bilden die centres Buperieurs weiter einen vegulitenden Hemmapparat für die im Inneren „frei ſteigenden“ Borftellungen (Autofuggeftionen). Sie fpielen endlich dieſe Nolle gegenüber folchen Borftellungen, die präformirt von außen ing Gehirn ein- zudringen verfuchen (Fremdſuggeſtionen). Normaler Weife find, wie alle Drgane, auch die centres superieurs mit einem gewilfen Quantum von Energie ausgeftattet, daß jie eben zur Erfüllung der genannten Aufgaben befähigt.

308 Die Zuhmft.

Sinft nun diefe Energie in Folge der verfchiedenften phufifchen umd pffychi⸗ ſchen Schädigungen unter ein gewiſſes Minimum, tönnen bie centres sup6rieurs ihre Herrichaft nicht behaupten: was gejchieht? In Folge des Wegfalles der normalen Hemmungen treten funktionelle Störungen der peripheren Organe auf und eine krankhafte Reizbarfeit macht fich geltend. Die Triebe erſcheinen ungezügelter. Allerlei ungehemmte Autojuggeftionen, die fi an die Stele der normalen Hemmungen fegen, treiben im Organismus ihren wilden Spul. Schließlich ift auch die Fremdfuggeftibilität mehr oder weniger gefteigert. Kurz: wir befommen fo das Sranteitbild der Hyſterie, einer echten funt- tionellen Pſychoſe, der gegenüber in allererfter Linie eine pfychifche Behand: fung am Platz iſt. Verſuchen wir e8 mit der Wachjuggeftion man darf und Piychotherapeuten füglich eine leidlihe Kenntnig ihrer Wirkung ſchon zutrauen —, fo werden wir meift gewahr, daß fie den Autojuggeftionen de Kranken nicht gewachſen ijt. Die Autofuggeftibilität ift faft immer wefentlid mehr gejteigert als die Fremdfuggeftibilität. Es gilt nun, wenn e8 geht, bie ungenügende Fremdjuggeltibilität zu erhöhen. Das fönnen wir durch die Hyp nofe erreichen. Durch die hypnotifche Suggeftion fönnen wir ganz unendlid viel häufiger und wirffamer die Autofuggeftionen durchbrechen, normale Bor: ftelungen an ihre Stelle fegen und fo wenigſtens Surrogate für die nor: malen Hemmungen ſchaffen. Die centres superieurs brauden ſich fo nicht mehr in dem fruchtloſen Bemühen, fie nieberzuringen, in ihrer Energie zu erichöpfen; fie finden Zeit, fich zu erholen. Aber die Hupnofe hat an ſich noch einen weiteren Vortheil. Cie ift nichts Anteres als die Illuſion de Schlafes. In diefen ift und darauf beruht ja feine Nerven und Ge birn ftärfende Kraft die Thätigfeit der centres superieurs mehr oder minder ausgefchaltet; eben fo in der Hypnoſe. Denn nur hierauf bajirt bie durch fie hervorgerufene Steigerung der Fremdfuggeftibilität. Auch in der Hypnoſe ruhen die centres superieurs aus und erholen ih. Hypnoſe und hypnotiſche Suggeftion erweifen ſich aljo als echte Energiefparer für fie. Und iſt es und nicht immer möglich, die Autofuggeftionen des Kranken zu durd: bredien, jo können wir wenigitens feine Mutofuggeftihilität in ung für ihn erwünfchte Bahnen lenken; beſonders in der oberflächlichen Hypnoſe, im ber dus Bewußtſein, abgefehen von der erhöhten Cuggeftibilität, völlig intakt bleibt und auf deren Anwendung ich mich nicht nur bei Hyſterie prinzipiell befchränfe. Die Hylteriebehandlung geftaltet jihh dann und Das ift bie grögte Kunſt der Suggeftioniherapeuten zu einer fonfequenten Schulung und damit auch Kräftigung der Großhirnenergie, zu einer Stärfung bes er⸗ franften „Sch“ des Patienten.

Wußte dad Alles, frage ich, ein Mendel nicht, eine folche Autorität in der Piychiatrie? Und wußte ers: warum fteht dann das Gegentheil in

Therapentifcher Hypnotismus. 309

feinem Gutachten? Genügt fo der therapeutifche Hypnotismus nicht ber Indicatio causalis? Berdient er nicht auch Jo den Ehrentitel eines Heilmittels?

Freilich: im felben Sinn kann er eine Lungenentzündung, einen Krebs nicht heilen. Darin hat das Gutachten Recht. Können wir aber mit einem anderen Berfahren den krankhaften Prozeß in den Lungen bei einer Zungen: entzündung direkt beeinfluffen? Iſt mit der Entfernung der Krebsgeſchwulſt aud die Krebskranfheit befeitigt? Iſt darum Digitalis oder was man fonft bei Zungenentzündung anmendet, ift da8 Mefier und die Glühſchl'nge des Chirurgen darum auch fein Heilmittel? Heilmittel ift Alles, mas zur Heilung eines kranlen Menjchen beiträgt; und wir Yerzte haben nicht Krankheiten zu heilen, fondern kranken Menſchen zu helfen.

Wenn wir Suggeftiontherapeuten gelegentlich einen Gichtanfall, einen hronifchen Gelentrheumatismus lieber behandeln als eine Hyfterie, fo ge: .fchieht es, weil wir hier den Erfolg nicht felten leichter und mühelofer erringen. Wenn wir und dabei fchmeicheln, den krankhaften Prozeß in den Gelenken wenigſtens indireft zu beeinfluffen: gehören wir darum auch fchon zu den Aerzten, „deren Urtheil überhaupt nicht in Betracht kommt“? Sehen wir zu! Bei allen Erkrankungen der Gelenke ift der Hauptfaftor für die Störung oder Hinderung der Funktion nicht fo fehr die dur die Entzündung der Gelenke bedingte Difformität wie vor Allem der Schmerz, der den Kranken ſchon früh zwingt, das Gelenk zu immobilifiren. Da nun, weil die Musfel: bewegung fehlt, die fich bildenden Ausfchwigungen (Trans- und Exſudate) nicht genügend durch die Lymphgefäße in die Blutbahnen zurüdgedrängt werden, kommt es zu Stauungen. Die Weichtheile in und um das Gelent werben durchweicht, da8 Gelenk wird ſchlecht ernährt. Dabei bilden ſich Adhaſionen, Sehnenverkürzungen u. f. w., die ſchließlich zu Gelenkverwachſung (Ankyloſe) führen. Durch die hypnotiſche Suggeſtion können wir nun den Schmerz recht häufig beſeitigen oder doch ſo weit mildern, daß der Patient ohne Scheu wieder das Gelenk wenigſtens mehr bewegt als früher. Die Ausſchwitzungen werden wieder leichter reſorbirt, durch num nicht mehr ſchmerz— bafte aktive und pafjive Bewegung werden Adhäſionen gelöſt, Effreszenzen auf der Schleimhaut abgeichliffen, der Ernährungzuftand des Gelenkes hebt jih und e8 wird mehr in den Stand gefegt, der eingedrungenen Schädfichkeit Herr zu werden. Es heilt leichter aus. Haben wir dann mit dem thera- peutifchen Hypnotismus der Indicatio causalis nicht genügt?

Es giebt aber auch viele Fälle, wo die Entzündung und ihre Produfte längft gefchwunden jind. Und doch kann der Patient wegen großer Schmerz- Baftigfeit das Selen? nicht gebrauchen. Das „nerpöfe Nachbild“ des Schmerzes ift eben zurüdgeblieben, wie ja auch der Ampntirte noch Wochen lang den Schmerz in ber großen Zehe fühlt, die er nicht bejigt. Dies „nervöfe

310 Die Zukunft.

Nachbild“ ift durch die hypmotifche Suggeſtion leicht befeitigt; der Kranle iſt gefund und wir find wiederum der Indicatio causalis gerecht geiworben.

Weiter; zur Befeitigung der motorifchen Funktionftörungen bei organ: hen Lähmungen. Wenn wir uns rühmen, einen duch Schlaganfall Ge lähmten, der Wochen lang kontralt dagelegen hat, durch die hypnotiſche Sug- geftion verfude man es doch einmal mit der Wachſuggeſtion! in wenigen Tagen dazu gebracht zu haben, daß er wieder ganz nett, felbft ohne Stod, läuft: müflen wir dann partout Schwindler oder Ignoranten fen, die falfche Diagnofen ftellen, ober gar Hexenmeiſter heißen? Müffen wir dann für fo abfurd gehalten werden, daß man uns zumuthet, zu glauben, wir hätten ein zerjtörtes Nervencentrum, eine zerftörte Nervenleitung durch die Suggeftion regenerirt? Wenn Profeflor Mendel ſolche Kranke eleftrifirt: darf er Das annehmen? Brauche ich einer folchen neurologifhen Autorität erft auseinanderzufegen, um was e8 ich hier handelt? Bei allen materiellen Läfionen des Centralnervenſyſtemes wirkt die Sunlktionftörung in den peripheren Organen weit über den Bereich der Läfionen hinaus. Die Lähmungen iind nicht in erſter und Iegter Linie nur durch die materielle Läfion bedingt umb nicht immer wirkliche. Durch die verfchiedenften, zufammen wirkenden rein piychifchen Faktoren find fie in vielen Fällen bis zu einem gewifjen Grade nichts weiter als funktionelle Neurofen. In diefen Fällen fuggeriven wir mieder den Schmerz bei der Bewegung fort, bringen wir, was ja fchon im ober- flächlicher Hypnofe leicht möglich ift, die kontrakten Muskeln zur Erfchlaffung; wir nehmen Das ift die Hauptfache dem Patienten die font unbefieg- liche Furcht vor dem Fallen, und fiehe da: er läuft. Wochen lang konnte ers nit. Wieder haben wir alfo der Indicatio causalis genügt.

Der therapeutifche Hypnotismus als fymptomatifches Heilmittel wird im Gutachten anerfannt. Gewiß: man ftellt fich, als fei man objeltiv; denn man giebt zu, daß er krankhafte „Störungen nicht nur temporär, fonbern auch dauernd zum Verſchwinden bringt“, und zwar „auch in Füllen, die feber anderen Therapie getrogt haben.“ Heißt e8 aber wirklich, objektiv verfahren, wenn man bei der Begutachtung des Werthes eines Heilmittels feine zahl reihen fymptomatifchen Indikationen, in denen dem therapeutifchen Hypuo⸗ tismus fein zweites Heilmittel irgendwie nah kommt, einfach verfchweigt? Weiß Mendel nicht, was in unferen Aerztefurfen die Schüler gleich in den eriten Uebungftunden leiten? Steht nicht3 darüber in dem von ihm ci „Forel“, daß wir, außer der rein pfychifchen Beeinfluffung, auch bei organifch Kranken nit nur Schmerzen wegſchaffen, fondern auch di erfolgreiche hypnotiſche Suggeftion ſubjektives Wohlbehagen, Beruhigung, wir jelbit bei Schwerkranken Schlaf, felbft in Fällen, wo alle anderen Sch mittel verfagen, daß wir Appetit zu erregen, den Stuhlgang zu regeln

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Therapentifcher Hypnotismus. all

noch manches Andere zu bewirken im Stande find? Steht nichts im Forel darüber, daß wir auch die Störungen der Menftruation befeitigen, beruhigend und anregend auf bie Herzthätigleit und Athmung einwirken können? ft das Alles nicht wahr? Nun: wir Suggeftiontherapenten find gern erbötig, jeden Tag jedem Arzt, der daran zweifelt, e8 an unferen oder, noch befier: an feinen eigenen Patienten zu demonftriren. Nur bitten wir uns aus, daß den Kranken nicht vorher ums hinberliche Wachfuggeftionen gegeben werben; man barf fie vor unferem Eingriff nach feiner Richtung beeinfluffen.

Heißt es ferner, objeltiv urtheilen, wenn man immer nur von Störungen ſpricht, ſtatt fie im Einzelnen auch namentlich aufzuführen? Sollte Das den Minifter nicht vielleicht auch interefjiren, der fragt, „in welchem Umfang“ Aerzte den therapeutifchen Hypnotismus anwenden? Ich verſchmähe, die lange Liſte der Erfranfungen berzuzählen, in denen er ſich als werthvoll erweift. SH möchte nicht in den Verdacht der Neklamemacherei kommen. Wer fich dafür interefirt, kann in der Fachliteratur Aufſchlüſſe genug finden.

Freilich können wir nicht in allen Fällen Heilerfolge erzielen. Daß der Hypnotismus aud nur in diefem Sinn ein Allheilmittel ift, hat irgend Einer von uns, der nicht geradezu verrät ift, nie behauptet. Wir Alle haben oft und bringend davor gewarnt, zu glauben, ber Hypnotismus fei' ein für den Arzt bequemes Heilmittel, das billigen Xorber verheißt. Er fordert vom Arzt meift umendliche Geduld und Selbftverleugnung; und ber Erfolg hängt nicht nur, wie das Gutachten fagt, von der größeren und ge: ringeren Geſchicklichleit des fuggerivenden Arztes ab, auch nicht nur von der Suggeftibilität des Kranken, der Willigkeit feines Gehirns, eine Suggeftion anzunehmen, fondern noch mehr von feinem ideoplaſtiſchen Vermögen (Forel), feiner Fähigkeit, die Suggeftion auch zu realiliren. Und last not least befommen wir ja meift, dank dem Borurtheil noch fo vieler Aerzte und der von ihnen beeinflußten Kranken, einftweilen nur die allerverzweifeltiten Fälle zur Behandlung, die „bereitS jeder anderen Therapie getrogt haben.“

Wir verdanken aber auch nicht unfere Erfolge, wie e8 im Gutachten Heißt, meift lediglich dem Hang der Batienten zum Wunderbaren und Myftifchen. Die Gutachter verweifen da auf die Art, wie Wetterftrand feine Patienten hypnotiſirt. Sagt Forel, aus defien Buch diefe Schilderung, die gut ein Achtel des ganzen Gutachtens einnimmt, citixt ift, micht ausbrüdlich, daß es Wetterftrand fo nur leicht gelingt, zu hypnotiſiren? Hypnotifiren heißt aber noch lange nicht: erfolgreiche therapeutifche Suggeftion geben. Bei mir und Anderen giebt e8 übrigens auch Feine verdunfelten Zimmer und fchmwellenden Teppiche. Wir flüftern auch nicht, fondern fuggeriren laut. Und mir gilt e8 gleich, wo und unter welchen äußeren Umftänden ich bypnotifiven muß. Das habe ich felbft Aerzten oft genug bewiefen. Jeder meiner Patienten wird gern

312 Die Zutuft.

bezeugen, daß ich feinen von ihnen hypnotiſirt Habe, ohne ihm vorhe jede Spur von Myſtizismus nad Kräften auszutreiben, ohne ihm vorher das Weſen der Hypnoje, die ja nichts Anderes ift als eine geſchickt erzenge Illuſion, in ehrlichiter Weife erklärt zu haben. Jeder Schüler aus mein Aerztefurfen wird gern beftätigen, baß ich ſtets energifch vor kritikloſem Ex thuſiasmus und vor dem technifchen Fehler warne, auf die myſtiſchen Neigungen der Patienten zu fpefuliren. Man laufe babei, wenn es ſich um intelligent Menſchen handle, Gefahr, dag fie Einem ins Geſicht lachen; dumme, aber: gläubige Menſchen, die ohnehin ſchon verängftigt find, aber fürchten fi um noch mehr; und bann treten Leicht allerlei unangenehme Erſcheinungen ein, halbe oder ganze Ohnmachten, die man am Ende der Hypnofe zur Laſt legt.

Damit wären wir bei dem Kapitel „Gefahren der Hypnoſe“ ange langt. Und da frage ich wieder: Heißt e8, den therapeutifchen Hypnotismu objektiv und unparteiifch beurtheilen, wenn man feine Gefährlichkeit nur an der der Wachfuggeftion und nicht auch der der anderen, in gleichen Fälle von der wiflenfchaftlichen Medizin angewandten Heilmittel abmift? Di Wachſuggeſtion ift zunächft durchaus nicht immer fo harmlos, wie das On: achten vorgiebt. Wenn fie vom Gehirn acceptitt und realiirt wird, une: fcheidet fie fich im ihrer Wirkung nicht von der hypnotiſchen Suggeftion. Und jeder von uns Hypnotherapeuten dürfte wohl Fälle kennen, wo wir bie Folgen einer ungeſchickten Wachfuggeftion, die den Kranken empfindlich geichädigt hatte, nur mit großer Mühe befeitigen konnten. Bliebe alfo bie Gefahr ber Hypnofe. Aus den Berichten meiner ernftlich in Frage kommenden Speak follegen, die zufammen über ein ungeheures Beobachtungmaterial referirt haben, und aus meinen eigenen Erfahrungen fann ich, der ich Taufende häufig mehrere Wochen lang täglich hypnotiſirt habe, Folgendes fagen:

Sicher giebt e8 einen Thel unferer früheren Patienten, deren wir nicht zu helfen vermochten und die nun auf uns ſchimpfen und erzählen, unſere Behandlung habe ihnen geſchadet, um damit zu motiviren, warum ſie einen anderen Arzt aufgeſucht, oder um verſchweigen zu dürfen, daß fie es unter loffen haben, da8 Honorar zu bezahlen. So geht es ja auch allen ander! Aerzten. Ferner giebt es Fälle, wo wir, eben fo wie andere Aerzte bei irgend einem anderen Heilverfahren, trotz allen Bemühungen und trog anfangs fir barer Beflerung nicht verhindern konnten, daß die Krankheit Fortfchritte machte. Der Patient giebt uns die Schuld; unter Umftänden auch der hy nofefeindfiche Arzt. Ferner kommen oft die ſchwer zu diagnoftizivenden © 1F fälle zwifchen Hyfterie und Neuraſthenie auf der einen und echter Pfr ole auf der anderen Seite in unfere Behandlung; nicht felten mit der von anl er— ſelbſt autoritativfter Seite geftellten falfchen Diagnofe. Erſt an der a IF loſen fuggeftiven Behandlung erkennen wir, daß wir e8 mit einer beginn xn

Zherapeutifcher Hypnotismus. 313

echten Pſychoſe zu thun haben. Wir brechen fofort die Behandlung ab. Später kommt die Pfychofe zum Ausbruch. Da wird denn am Ende oft ung die Schuld beigemefien, jelbft wenn wir die Hypnofe nur eingeleitet haben, um durch die Erfolglofigkeit der hypnotiſchen Suggeftion die Diagnofe zu fichern. Ein Fall, der wirklich geiſtiger Störung ähnlich war, ift mir nur einmal, vor ungefähr zehn Jahren, zur Kenntniß gefommen. Eine ſchwer hyſteriſche Arbeiterin war zu mir mitten in eine Demonſtration vor Aerzten hin⸗ ein gelommen. ch verfeßte fie leicht im tiefe Hypnoſe, gab ihr einige therapeutifche Suggeftionen und demonftrirte an ihr einige übrigens harm⸗ loſe hypnotiſche Experimente; dann wedte ich fie auf und fie ging, fcheinbar ſehr frifh und munter, fort. Ich mußte am felben Tage verreifen. Als ich zurüdgefehrt war, hörte ich, fie fet unter den Zeichen der Berftörtheit noch am felben Tage in ein biefiges Sranfenhaus aufgenommen, aber nach furzer Zeit wieder als geheilt entlaffen worden. Ob Das eine ſpontan aufgetretene tiefe Autohypnoſe war? Möglich; eben fo aber auch, daß ed nur ein durch ihre Hyfterie bedingter Hufterifcher Dämmerungzuftand war. In einem zweiten Tall, wo nad einmaliger Hypnofe bei einer ſchwer hyſteriſchen Verkäuferin am nächſten Tage ein ZTobfuchtanfall eintrat, den der binzugerufene Kollege auch der Hypnoſe zugufchreiben geneigt war, konnte ich, als ich gerufen wurde, den Anfall nicht nur jofort conpiren, ſondern aud) feitftellen, daß er nicht durch ‚die Hypnoſe verurfadht war, fondern durch einen heftigen Streit, den das Mädchen inzwifchen mit dem Geliebten gehabt hatte.

An halben oder ganzen Ohnmachten habe ich im Ganzen etwa fünf oder fech8 gefehen. Auch da hanbelte e8 ſich um Hyfterifche, die der Sug- geition dummer Weife widerfirebten. In dem Augenblid, wo fie ihre piy- chiſche Ohnmacht gegenüber der Suggeftion herannahen fühlen, refultirt aus jener eine phyſiſche. Oder wir können, wie bei der Pianiftin M., den Kranken die abergläubige Furcht nicht nehmen; aus Furcht werden fie ohnmächtig, ehe wir noch recht dazu kommen, jie zu hypnotiſiren. So hatte ich mid) ber Pianiftin kaum gegenübergefegt, um fie zu Hypnotifiren, als fie auch fchon, nad) dem Schrei: „Und Sie haben doch magnetische Kräfte!” ohnmächtig wurde. Alle diefe Ohnmachten haben nicht viel zu fagen. Sie laſſen jich feicht befeitigen. Mit Ausnahme der erwähnten Pianiftin ließen alle Anderen die Behandlung fortfegen; und gerade fie fanden den gewünſchten Erfolg.

Sonft aber Habe ich felbft, zumal ich mich, ſchon aus technifchen Gründen, feit Jahren prinzipiell auf oberflächliche Hypnoſen befchränfe, auch. zu Demonftrationzweden feine bypnotifchen Experimente mehr mache, abge: fehen von immerhin felten und aud) nur nad) der erften Hypnofe auftreten- den Kopffchmerzen, leichter Benommenheit Beides lediglich autofuggeftiver Natur —, unangenehme Nebenerfcheinungen der Hypnofe nicht zu Geficht

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814 Die Zutunft.

befommen. Einer Neigung des Patienten, fih, etwa wie DMorpfiniften, m die Hnpnofe zu gewöhnen, begegnet man fie ift fehr felten tm energifche Suggeftionen, unter Umftänden durch den Abbruch der Behandlım, immer erfolgreich).

Die Hypnofe ift in der Hand des vorfichtigen, geübten Arztes ıli: faft völlig ungefährlich. Gefährlich ift fie und die hypnotiſche EC uggefim, wenn fie von unberufenen Laien gebt wird, und fie kann es auc merken, wenn nicht genügend vorgefchulte, mit den nöthigen Sautelen unbelant Herzte fich auf diefes Gebiet wagen. Solche Xerzte haben oft, um mt Schrend:Noging zu reden, durch ihren Dilettantismus Schulden auf du Konto des therapeutifchen Hypnotismus gehäuft, die diefer num bezahlen ſel Trog Alledem aber reichen feine Gefahren nicht annähernd an die des Chlor forms, des Quedfilbers, des Opiums, des Broms e tutti quanti, vor Yen nicht an die des Morphiums heran.

Ihm aber droht auch feine Gefahr aus dem utachten der Hupait Kommifjion und fonftiger Gegner, wenn fie und nur Gelegenheit geben, ins Öffentlich entgegentreten und ihre Behauptungen widerlegen zu dürfen. 3% machen und brauden keine Reklame. Wenn der therapeutifche Hypnotiäme trog aller Gegnerſchaft in den legten zehn Jahren unter Werzten und Publitıs wachjenden Anhang gefunden bat, fo haben wir Hypnotherapeuten aus de Schule der Nancyer Liébeault und Bernheim e8 lediglich unjeren wirflide Erfolgen zu danken, die eine beredtere Sprache führen als alle Reklaut Sollten wir aber wirklich einmal einer anderen Reklame bedürfen, dau werden wir noch ein zweites Gutachten von der Art deffen erbitten, m dem die Hypnoſe-Kommiſſion der berliner Aerztelammer uns erfreut bel.

Dr. %. Großmanı. Dr

Selbitanzeigen.

Wann wird cd tagen? Ein wiener Roman in zwei Bänden. Felt von Karl Konegen in Wien.

Auch die nüchternften Menſchen lichen e3 nicht, der Wirklichkeit in einen Buch zu begegnen. Man münſcht, Idealmenſchen zu finden, die im Stande Im ihre Perſönlichkeit durchzuringen; man wünjdts, wenn man felbjt auch für ji eigenes Peben die Hohen Ziele nur zu bald aus dem Auge verliert. © Temperamente, Eraftvolle Naturen müjjen cs fein und das Elend, das fie! leiven, muß fern von eigener Alltagsnoth liegen. Dann liebt fie ber Leſc. dann weint er mit ihnen. Doc die feigen Erbärmlichkeiten der Durchſchni⸗ menſchen, die Kompromiſſe feiler Charaktere ſoll ein undurchdringlicher Schleit bedecken; ſchließen darf man Kompromiſſe, aber nicht darüber ſprechen, ma

Selbftanzeigen. 315

den Leſer nicht peinlich berühren. Ich aber verfuchte, den Schleier zu heben, ein Stück wahrhaftigen, zitternden Lebens feitzuhalten. Meine Heldin ift Fein Mädchen von ſtarkem Charakter im Sinn moderner Romane; aber in der bürger- lichen Gefellichaft Habe ich jolcdhe Charaktere nur in vereinzelten Ausnahmen ge- troffen und die jonderbare Erfahrung dabei gemacht, daß gerade fie verjpottet und auggeftoßen wurden. Ilſe Steinbrüd will aber auch nicht mehr zu Denen gehören, deren Leben einzig von dem Warten auf einen Batten erfüllt wird und die fich fchlichlich einem ungelichten Dann verkaufen laſſen. Sie kämpft; aber da3 Herkommen iſt ſtärker als fie und bricht ihre Kraft. Sie unterliegt, wie jo Biele von Denen unterliegen, die überhaupt den Kampf um die Perfönlic- teit aufgenommen haben; fo ijt jie eine von dem unglüdlichen Frauen unjerer Zeit, die wohl die Dlorgenröthe eines neuen Tages erſchauernd gemahren, die aber dahinjinfen, ehe die Sonne aufgeht. In dem felben Buch habe ich endlich einmal frei und offen herausgefagt, wie die Juden unferer Beit denken, was jie fühlen. Ih wage, auszuſprechen, daß fie unnennbare Qualen erdulden, weil fie von der Geſellſchaft ausgeſtoßen find, daß fte dadurch oft gemein werben wie Hunde, weil man fie wie Dunde behandelt. Al Das ijt peinlich. Biele ziehen es vor, fich jelbjt darüber hinwegzutäuſchen, ftatt es in Klaren Morten zu erörtern. Sg aber fonnte nicht anders.

Wien. Paul Midhaely. s

Störteberer. Eine Tragoedie. Johann Saſſenbach, Berlin 1903.

In den Kämpfen der Bitalienbrüder, die um die Wende bes fünfzehnten Jahrhunderts auf den deutjchen Meeren und an deren Küften ihr Raubweſen trieben, ſah ich für die „blonde Beſtie“ eine geeignete Phaje, um ſich nad) Herzensluſt auszutoben. Humoriſtiſche Züge, die, neben vielen anderen, die Sage von dem Bitalienhauptinann Clays Störtebeder erzählt, lichen eine Geftalt entitchen, die neben der Furchtbarkeit eine behagliche Heiterkeit zeigt: ein ficheres Eymptom ungebrodyenen jecliichen Straftgefühles. Obwohl mein Yweibeuter jeinen Beitgenofjen nur Böſes zufügte, wuchs jeine Macht unter den Menſchen, durch deren Mangel an Solidarität, burd) die Zwiſtigkeit der Hanjeftädte mit den feinen Fürſten und Beider unter einander. In jeinem fröhlichen Aufitieg lic er jedod den Moment vorübergehen, der ihn die Möglichkeit bot, fi) der Welt dadurch umentbehrlid) zu machen, daß er durd Gründung eines Gemein— weſens den Menſchen eine Form gemährte, ihr Leben zu friften und fortzus Ichreiten in der fulturellen Entwidelung. Störtebeder verjagte hier, al3 Tonje- guenter Egoiſt, der nichts für „die Anderen” thun will, als rohe, Natur, die nicht fähig ift, Jublimere, ſoziale Genüſſe zu empfinden. So durchkreuzte er die altruiftiichen Pläne feines Gegenparts, des oſtfrieſiſchen Großen, Keno then Brofe, der jich feine Sporen in dein Italien der beginnenden Nenaiffance geholt hatte und nun voll Kulturſehnſucht in den nordiſchen Land feiner Väter ein Florenz ihaffen möchte. Störtebecker wurde inner dreifter und zwang fo die Menſch— heit endlich, jid) zu einem entjcheidenden Vorgehen gegen ihn aufzuraffen. So endete diejer „Uebermenjch”, der mır nehmen und nie geben wollte.

Rolf Wolfgang Martens. 3 24°

316 Die Zukunft.

Giordano Bruno. Die Tragoedie der Renaiſſance. Wien, 8. Kodar. Frübling und Vorfrühling find die Jahreszeiten, in denen das Tram jpielt. Aufbraufende Kraft und unverfiegbare Tugend des Gemüthes ringen ji aus dem lajtenden Bann ethiſch überwundener, doch politiſch übermächtiger Hei anfhauung, ſchwer bedrängt, zu ihrem Siege durd. Ein Beitalter, da3 zu de herrlichſten der Menfchheit gehörte, verfinkt und reißt mit fich den ftärkiten Träge feines Geijtes ins Verberben. Aber fein Untergang gleicht dem FYlammento des Sagenvogels: mächtiger wird er eritehen. Was ich zeigen wollte, war: di Bild eines Menfchen, der im Gefühl feiner Zugchörigfeit zum ewigen, unen- lichen Leben des Weltganzen kühn und fiegesfreudig bie ftarren Schranken de Gewohnheit brechen konnte. Wien. Erwin Guido Kolbendeyer. L Die Kunſt. Sammlung illuftrirteer Monographien. Herausgegeben vr Nihard Muther. Bisher erfchienen: Band I: Lucas Cranach von Rider Muther. Band II: Die Lutherftadt Wittenberg von Cornelius Gurlitt. Band III: Burne-Jones von Malconı Bel. Band IV: Max Klinge von Franz Servaes. Band V: Aubrey Beardsley von Rudolf Klein Band VI: Venedig als SKunftftätte von Albert Zacher. Band VII: Eduard Manet und fein Kreis von Julius Meier-Graefe. Band VII: Die Renaiffarce der Antike von Richard Mutber.

Das Programm ift einfach: das große Reich der Kunft ſoll durchwanden werden. Mit der Würdigung alter und neuer Meiſter fol die Schilderung Elaffiiher Kıunftftätten, die Beichreibung von Mufeen, die Erörterung kultur geſchichtlicher und äfthetifcher Fragen wechſeln. Das Alles war ja jchon de Es giebt faum ein Thema, das nicht mit Tinte begoffen ift. Doch wird nich dag Heltefte neu, wenn es neue Augen betrachten? Wird nicht, was langmeilis ſchien, Amufant, wenn eine nicht langweilige Feder es fehildert? Auf dieje Er wägung bauen wir unferen Plan. Es giebt [don Sammelwerke, bie vom Schweit der Gelehrſamkeit triefen. Auch jolche giebt e8, die dem Publikum hübſche Bilder in der Bettelſuppe feichten Textes ferviren. Wir wollen nicht feicht fein, aud nicht lehrhaft troden. Dinge, die auf Wiſſen beruhen, wollen wir in lesbaret Form kredenzen. Erforſcht, durchdacht, empfunden, gefchrieben foll Alles jein, was die Sammlung bringt.

Breslau. Richard Muther.

1,0 Siemens:Schudert.

ER. m legten Geſchäftsbericht der Aktiengeſellſchaft Siemens & Halste, der

N) gegen Ende Dezember das Licht der Welt erblidte, ftand wörtlich: „Unſerer Induſtrie find auch in öffentlicher Erörterung mannichfade Rathſchläge zu Teil geworden, und zwar in der Regel des Anhaltes, daß bie gegenwärtige Depreſſion

Siemens Schuckert. 317

nur durch Fuſion der größten Konkurrirenden beſeitigt werden könnte. Etwas mehr Selbſtbewußtſein und Zutrauen iſt Dem gegenüber jedenfalls in der In— duſtrie vorhanden. Das ſchließt durchaus nicht aus, daß mit größerer Abklärung der Verhältniſſe auch gangbare Wege zur Herbeiführung einheitlicherer Organi- fation der Induſtrie innerhalb gewiſſer Grenzen gefunden und beſchritten werden können, wirkſamer, als es bisher möglich war. Auch wir werden in gegebenen Fällen bie Initiative zu ſolchen Schritten zu ergreifen bemüht bleiben, ohne daB allerdings der Gang Jolcher Bemühungen nad) außen jehr Hervortreten würde. Jedenfalls glauben wir nicht, daß gerade auf unferem noch lange nicht abge» ſchloſſenen Gebiete bie felbftändige Kraft verichiedener großer industriellen Firmen entbehrt werden kann, wenn die Leiftungfähigfett der deutſchen eleftrilchen In⸗ dujtrie im Sinn der Herbeiführung technifcher Fortſchritte auch in Zukunft aufrecht erhalten werden joll.“ Dieſe Säße richteten ihre Spiße gegen den Generaldirektor Rathenau, von beffen Zufionplänen vor ihrer Verwirklichung wohl ein Bischen zu viel gejprochen worden war, Troß dein myftiichen Halbdunfel aber, das über diejer programmatiſchen Erklärung lag, mußte jelbit der fchlichte Sterbliche doch merfen, daB die Leiter des Haujes Siemens & Halske vorläufig wenigftens die dee des Elektrizität-Truſts ablehnten. Deshalb fand auch das plößlich auftauchende Gerücht, das eine enge Intereſſengemeinſchaft zwiſchen Schudert und Siemens anfündete, anfangs feinen Glauben. Es wurbe zunädft mit größter Entfchieden- heit für. unbegründet erklärt, aber jchon ein paar Tage nad dem Dementi als den Thatſachen entſprechend offiziell anerkannt.

Wie nach den berühmten Antworten des Kandidaten Jobſes, entitand ein allgemeines Schütteln des Kopfes. Die lebte Bilanz hat das alte Anjehen der Firma Siemens beträchtlich geſchmälert; man jieht in ihr nicht mehr die unnah-

bare Königin, als die fie jo lange bewundert wurde. Immerhin gehört fie nod) zur höchsten Ariftofratie; der Geiſt Werners von Siemens abelt ihr Thun und bie auch äußerlich ftrenge Wahrung gewiſſer Familientraditionen zwang den Haufen ber Keinen Kapitaliften zur Ehrfurcht: Hier herrſchte nicht, wie in anderen Ge— ichäften, die Willtür von Krethi und Plethi. Und diejes fürftlide Haus follte fih nun in intime Gemeinjchaft mit den Nürnbergern einlafjen, die mit Enapper Noth vor der Schmach dffentlicher Anklage bewahrt geblieben waren? Schudert hat heute nicht mehr den beiten Ruf. Das ift unbeftreitbar. Doc das Schick⸗ jal des nürnberger Haufes lehrt deutlich, wie jchnell des Volkes Sunft und Liebe fi) zu wandeln vermag. Wie laut pries Süddeutichland einft das Unternehmen, das bente mit dem Fluch der Volksgenoſſen beinahe mehr noch ald mit Obli- gationen belajtet ift! In Haß und Liebe ift die Menge leicht zu ungerechtem Urtheil geitimmt; und jo hat fie aud) ganz vergejlen, wie ähnlich am Anfang dag Lebens- ihidjal der beiden Werke war, die ſich jet zu gemeinfamem Handeln verbünden. Der einfahe Mechaniker Halske bot dem genialen Genieoffizier Siemens bie Möglichkeit, feine Pläne auszuführen; und auch in Nürnberg ſchuf ein Mann der Arbeit, Siegmund Schudert, die Grundlagen, auf denen die Weltfabrik ent- ftchen konnte. Auch fein Geift lebt in Nürnberg nod fort: in dem Theil bes "mweitverziweigten Unternehmens, der unbejtritten noch heute als gefund und Fräftig gilt. Diejer noch unerjchütterte Theil der von Schudert felbjt gebauten Grund⸗ mauer iſt anders zu beurteilen als der Anbau, den fein Sozius und Nach—

318 Die Zunft.

folger Wader Hinzugefügt Hat, die Tyabrifation anders als das ‚Sinanymi nehmen. Noch immer wird Schuderts Fabrikation, namentlich in ihren S#- zialitäten, von den Sacverftändigen höher als jede andere geichägt. Das ki au das flare Auge des Geheimrathes Rathenau erfannt. Wie id hier Ida einmal fagte, war bei den langwierigen Verhandlungen zwischen der A. E.3. und Schudert die Abficht der Nathenaus, die nürnberger Yabrifation von im Sinanzflüngel zu trennen. Die Slippe, an der ſchließlich der Plan, einen Tr zu maden oder Schuderts Fabriken zu pachten, fcheiterte, wird verjchieden ge ſchildert. Manche fagen, die Perſönlichkeit Wackers und beionders jeine Bilari praftifen hätten Herrn Dr. Walther Rathenau, der die Verhandlungen fü, nicht gepaßt. Andere behaupten, Herr Fürjtenberg, Rathenaus Kollege in x Handelsgejellichaft, babe feine Luſt gehabt, mit den Leitern der Hamburge Kommerzbank im Finanzlonfortium zufammenzufigen. Eine dritte Gruppe mat. Rathenau Bater und Sohn hätten gefunden, Schuderts Bilanz fei aud ni ben Abjchreibungen noch allzu ungefund und es werde auf die Dauer kaum mi! lic} fein, die Franken Theile des Unternehmens von den intakten zu trennen; ir könne, wenn man einmal A gejagt habe, die Notywendigfeit eintreten, and ®: Jagen, was in diefem all für die U. E.G. nicht nüßlich wäre.

Siemens & Halske ließen fih von ſolchen Bedenken nicht zurüdhaltt Sie find den Spuren Rathenaus gefolgt: aud fie wollen die nürnberger Fabr fation von dem Betheiligungsgeichäft trennen. Aber fie wählten eine andere jyot2. fie gründen eine Gejellichaft mit befchränfter Haftung und jtatten fie mit I lionen Mark aus. In dieſer Gejellichaft werden Schuderts Fabriken mit cin Theil der von Siemens gegründeten und geleiteten vereint. Der Sinn der nei Transaktion iſt eine weitere Startellirung der elektriſchen Starfitrom:nbuftt Die Spezialitätenfabrifation und die Dynamo-Herſtellung der Nürnberger wert? mit den Starkjtrom:Abtheilungen und mit der Stabelfabrif des Hauſes Siem verbunden und aus der rationellen gemeinjamen Verwaltung wird ber Nugi erwartet. Alles, was zur Schwaditrominduftrie gehört, natürlich auch de Telephonfabrif, bleibt Sonderbefit der berliner Firma. Das Schwergewill der Fabrikation fol, wie man erzählt, nach Nürnberg verlegt werden, die Straber bahn Bauabtheilung aber nad) Berlin überjiedeln.

Die neue Fuſion ijt als ein Rortheil für die gefammte eleftrotechniiche Jo disjtrie zu begrüßen und Niemand wird ſich mehr darüber gefreut haben als « Generaldirektor Rathenau. Endlich giebt es nun eine zweite große Gruppe, unit De die Gruppe A. E. G.⸗Union ein tartellverhältnig anftreben fann; und gelingt di Nartellirung, dann ift auf dem noch weiten Wege zum deutſchen Elektrizi Truſt ein neuer, wichtiger Schritt gethan. Eine andere Frage aber iſt, welchen Nu den beiden zunächſt betheiligten Werken das Bündniß bringen wird. Die B hat wieder bewicjen, daß fie die feine Spürnaſe noch nicht verloren Hat. die Fuſion bekannt wurde, ftiegen am nächſten Tage Schudert Aktien um fait! Siemens-Aktien mit fnapper Noth um 1 Prozent. Das darin ausgeſprochet Urtheil Scheint mir zutreffend. Für Schudert ift der Abſchluß des Bündni vertrages ein ganz unermwarteter Glücksfall; die Gefahr, daß die Krankheit M Finanzabtheilung Ichließlich auch die geſunde Fabrikation ſchädigen könnte, w nicht mehr zu verbergen, ſeit hinter den nürnberger Couliſſen Herr Wet mi

Theaternotizen. 819

die Drähte lenkte. Für Siemens & Halske dagegen ift die Verſchmelzung nicht ungefährlich; die Zeit wird lehren, ob Rathenau nicht am Ende doch Recht hatte, den Bund mit einem Geſchäft zu fcheuen, unter deſſen Deizendenz die Schwinb- ſucht Hauft. Freilich blieb der Siemens-Gejellichaft, wenn fie überhaupt Bündniß⸗ pläne Hatte, fein anderer Bartner übrig. Eine Fuſion mit der X. E.G. war aus⸗ geichloffen, weil die Gejchäfte beider Häufer zu ähnlich, zum Theil, wie in der Kabel: fabrifation, ganz gleichartig find. Nur Schudert bot die wlinjchenswerthe Ergänzung.

Schlimm tit jett die Lage für bie kleineren Fabriken geworden, bie feiner der beiden Gruppen angehören; fie werden zu jchweren Entjchlüffen gedrängt. Der Einzellampf bietet, feit die großen Gruppen zur Maſſentaktik übergegangen find, feine lohnende Ausfiht mehr. Die Kleinen können bei den Großen Unterichlupf juchen oder fi felbit zu einer dritten Gruppe vereinen. Cine andere Möglich feit jehe ih nidt. Schon wird denn aud an der Börje gemunfelt, Yahmeyer wolle zum Helios ſprechen: Soyons amis! PBlutus. -

,

Theaternotizen.

Tegslexei Marimowitich Peſchkow, der ſich Marim Gorkij, den bitteren Mar, ) =, nennt, bat das ſüße MWohlgefühl, mit feinem Wort ind Weite zu wirken, früh fennen gelernt. Er ift in die Mode gelommen; und wenn vor dem Beifall heulenden, Verſtändniß heuchelnden Troß der Bewunderer manch— mal ihn auch noch der Efel übermannt: in hellen Stunden fühlt er das Behagen des Siegers und fein Dichten, das die Gallenfäuren einft dunkelgelb färbten, ftrömt frei jegt ind Sonnenland, wo frohe Hoffnungen reifen. Keine Utopia fieht er, nicht das Taufendjährige Reich milder Brübderlichkeit, das Tolſtois ein Bischen kolette Inbrunft träumt. Der Brodjag, der Stromer, der auf der Walze Jahre lang durch den rufjifchen Süden zog und in der Heimath Gogols und Shewtfhentos den Kleinruſſen ähnlich wurde, der Proletarier, der als Scufter und Holzknecht, als Bäderlehrling und Schiffskoch, als Bahnwärter und Aftenfchreiber fein Leben friftete, fennt die Menſchen, die Maffen und ihre Piyche zu gut, als daß er fo leicht ji in einen Chiliaſtenwahn verirren könnte wie ein müder, von Sutajews Predigt aus weltmännifcher Genußſucht zu Heilands⸗ glauben und Heilandshochmuth erwedter Graf. Nie wird der Wolf fromm neben dem Lämmlein grafen, nie der Kampf ums Dafein, da3 graufanıe Gefeg der Ausleſe die Menfchheit in heiliger Ruhe laſſen. Das weiß Gorkij; doch dem vom Erfolg Gekrönten fchmedt das Leben nicht mehr fo bitter wie dem Land⸗ ftreicher einft. Viel ift3 ja nicht, was ein Dichter heute noch wirken fann. Nur feine Illuſionen! Unter Hunbert, die ihm zujauchzen, treibt Neunzig der Sflaven- inftinkt, der jie vor jeder Macht, jedem Erfolg auf die Knie drüdt; und die Anderen wollen amufirt fein. Opfer will Kemer bringen, Steiner der Lehre das

320 Die Zukunft.

Leben anpaſſen. Mit diefer Erkenntniß muß man ih abfinden; au dx Poet, dem, wenn er fich befcheibet, noch immer manche Wirfensmöglichkeit bleikt. Ehrfurcht mag er die Menjchen ehren, Ehrfurdt vor ben Menſchlichen m elendeften Adanısfohn; Eelbftachtung und Reſpekt vor dem fremden Weſen des Nächſten. Den rechten Weg foll er weifen, den einen Weg, der nur den Eine durchs Dickicht and Biel führt. Mitleidig fol er fein und doch mit dem Untüd- tigen nicht ſtets über die Stärke des Tüchtigen flennen. Nicht eine Muil predigen, die nicht Jedem taugt, fondern in jedem die natürliche Zebenst:aft fammeln und, al3 guter Gärtner, die Wurzeln dorrender Pflänzchen mit Warme und Waſſer verforgen. Und die Hauptſache: der Kundſchaft bunte Geſchichtee erzählen; dann horchen die Keuchenden auf, die entichlummerte Phantaſie wir befruchtet und erwachende Lebensluſt fcheucht den Trübiinn, des Elend3 im: potenten ®evatter, in alle Winde. Solcher Dichter fchreitet dur Gorkis neues Drama „Nachtaſyl“. Luka heißt er, nach dem Künftler: Evangeliiten, der ein Arzt war, ein Fabulirer und Maler. Der rufjifhe Luka giebt td nicht al8 heiligen Dann, der gefandt warb, die Menfchen zu befehren. Gisı Weltpilger, den das Schickſal in fechzig harten Fahren weich geklopft hat.: Ohne irgendwo lange zu raften, zieht er umher, ohne Paß, ohne die Schu: Jucht, im Siechenheim der Korrekten die alten Glieder zu pflegen. Unter den Leuten fpäht er nah Menſchen und wandert, wie ein Junger, Wochen Lang, um zu fehen, wie nach fchweren Wehen auf der ſchwarzen Fruchterde bangen Seclen ſich neuer Glaube entbindet. Still kommt er und geht fill; und ift doch nicht traurig, hat am unfauberen Totenbett fogar noch fröhlich ftärfenden Trofi. In der Saunerfpelunfe findet er böſes Gelindel. Ein fentimentales Frauen: : zinmmer, das geiler Armuth den jungen Xeib für ein paar Kopelen verfauft, die Seele mit Romanphrafen füttert und in ewigem Hader mit dem Parafiten der Proftitution Iebt, einem Baron, der als ausgeftoßener Berbreder und Zuhälter die ftandesgemäße Blafirtheit noch nicht verlernt hat; willenlo8, bewußtlos if er in den Abgrund getaumelt. Einen ftämmigen Lümmel, der Diebögelegenbeit ausbaldomwert und mit Hengftgewieher die Weiber anlodt. Eine zerprügelte Schloſſersfrau, deren Huften dic Höhlenbewohner nicht fchlafen läßt und Deren legten Seufzer der Streit trunfener Spieler überbrüllt. Einen verſoffenen Mimen, den Alkohol und Hiftrioncneitelfeit in Delirien jagen. Ein ganzes Bündel faulender Wintelmenfchheit. Das hodt im Aſyl; Flucht und fingt, ſchlägt und verträgt fi) und ift zufrieden, wenn ein Schlud Branntwein, ein Br:

fpiel für kurze Stunden über den Jammer weghilft. Luka hat für Jeden u

Jede, auch für die Schmusigften, ein gutes Wort. Keine erbauliche Prebis

die würden fie außlachen. Auch feine unbarmherzige Wahrheit; morſche Herz

ertrügen fie nicht und der Kahlkopf hat längſt gelernt, daß man nicht a.

Wunden mit Wahrheit heilt. Mehr als dem Meſſer vertraut er der fuggefti-

Theaternotizen. 832]

Macht menjhenfreundlichen Zufpruches. Alle Aſylbewohner behandelt er wie ehrliche, unbefcholtene Leute, „ein Floh ift jo fchwarz wie der andere und alle hopſen.“ Das ift der gehetzten, herumgeftoßenen, verachteten Sippichaft neu. Das fräftigt ihr Selbftbewußtfein. Keiner hört aus dem Munde des Alten ein kränkendes Wort. Die arme Hure lebt in der Plunderwelt ihrer Hintertreppen- romane? Laßt fie, Kinder; was bleibt ihr, wenn wir fie aus dem Traumgefpinnft reißen? Das zerprügelte, halb verhungerte Weiblein fürchtet ich vor dem Tod. Warum denn, mein Herzen? Erſt in der Truhe findeft Tu Ruhe; feine Dual ‚mehr; des Herrn weiche Hand führt Dich fänftiglich ind Paradies der Begnadeten. Du Säufer: im Trinkeraſyl findeft Du Heilung. Du Spigbube: in Sibirien braucht man räftige Männer: da kennt Dich Keiner und Du kannſt, ohne zu fehlen, auf gutem Boden was vor Dich bringen. Und Ihr Alle: fühlt Euch als Dienfchen, achtet in Euch felbft und in dem Nächſten, im Kind Schon, den Menſchen und ver: fagt dem Tüchtigften nie den ehrenden Gruß. Bequeme Weisheit, mit der felbit ein Vagabund ich einzurichten vermag. Jedes irgendwo glimmende Kraftfünfchen wird angefacht und im Ajchenhaufen noch die Lebenslüge jorgjam bewahrt. Aus Strolchen werden nicht Heilige; als Luka mit Stab und Theefännchen aber weiter wandert, ift in dem Geſindel ein Willensreft erwacht und ein Lichtfchein erhellt die Spelunfe: die Erinnerung an einen Gütigen, der nicht Prediger noch Richter fein wollte, nah Schuld und Unfchuld nicht fragte, Menſchen menfchlich fah und, wenns für feine Batienten gerade nützlich |chien, nach Poeten⸗ art das Blaue vom Himmel flunferte. Stavifche Weisheit; an Nekraſſows Wort mag man denken: „Laß Deine Güte, Herr, leuchten vor allem Volke.“ Sla⸗ viſch ift die Weltanfchauung, flavifch die Technik des Gedichte. Wer radotirt denn, erft das ſchleſiſche Webermeiſterſtück habe die Ruſſen auf die Spur des neuen Dramas gebracht? Wasunjere Literatenfprache Naturalismus und Milieuwirfung nennt, war in Rußland ſchon vierzig Jahre vorher erfunden worden. Der bittere Mar hat in der Stromerzeit Manches geleſen und ſpäter ſogar von Nietzſches Paradiesäpfeln genaſcht; feine Technik aber brauchte er nicht draußen zu ſuchen. So haben Gribojedow, Gogol, Oſtrowskij, Tolftoi ihre Dramen gezimmert, Dramen für ein Menfchengewimmel, an das fich nicht täglich taufend Senfationen drängen, das Zeit hat und nach der Langeweile des Alltages gern aufhordht, wenn ihm umftändlich erzählt wird, wie in den Gaunerhöhlen zugeht. Da weiß Gorkij Befcheid; einen beſſeren Führer wird man nicht finden. In nie betretene Tiefen Führt er freilich nicht und der Anblid feiner Menfchheit packt ung nicht mit unbefannten Schauern; den Platz, auf den ihn der Marft- lärm ber Mode meift, Fönnte nur ftärkeres Bollbringen der Mannesjahre ihm ihern. Aber er ift eim ganz ungewöhnlich. reiches Fabulirtalent und ein Pſaligraph, der die Fülle der Gejichte mit gütigem Auge und flinfen Finger zu ge— ftalten verfteht. Schade, daß er fo viel gelejen Hat und, wie die meiften Auto-

822 Die Zukunft.

didaften, der Verſuchung nicht widerftehen kann, die zerlumpten Kleider fei Leute mit Aphorismen zu fliden. Auch Tolſtois Muſhils find auf ihre befondere Weife Philofophen, aber fie fagen nur, was fie fagen, im Halbdunfel ihrer engen Gedankenbahn jelbft erfonnen haben können. Gorkijs Strolche ftolziren allzu oft in erborgter, zufammengelefener Pracht und feilen mit rußigen Händen zierlide Epigramme. Den Dichtern des Zarenreiches ift die Europätftrung ute gut befommen. Doch diefer proletarifche Poet ift noch nicht vierzig Fahre alt; er liebt fein Volk und hat für Rußlands Jugend muthig die Stimme er: hoben. Das war wie ein Wunder: fteigt aus der Schneewüfte eine Lerde jingend zum Nachthimmel auf? Wird folder Sänger überfhägt, dann joll man nicht fchelten; nur leife daran erinnern, daß der Tapferkeit, nicht der nut hier der Lorber lohnt. Tapferer Güte, die in ihren beften Stunden diesſeits von Gut und Böſe bleibt und auch in ben ſchwächeren nie fich vermißt, fümmer: | lich vagabundirenden Seelen einen von Staat, Kirche, Gefellichaftfitte geitempelien Paß abzufordern. Gorkijs Luka hat nichts von Tolſtois Alım: Der hätte die Verfommenden mit firengem Wort zu Buße und Reinigung getrieben; nit8 auch von dem fromm lächelnden Yatalismus Karatajews, des ohme Wunfch lebenden, ohne Klagelaut fterbenden Menfchenthieres, das Tolſto (in „Krieg und Frieden“) den SKulturbeftien als leuchtendes Mufter zeigt. Eher fönnte man an Ibſens Doktor Relling und Anzengrubers Steinklopfer denken, wenn der ruppige Konſervator der Lebensſlüge und der frohe Spino;ift der Landſtraße nicht im Weften unferer Bewußtfeinswelt geboren wären. Lule ift ein Ruſſe. Einer, der die große Europäerglode läuten hörte und, wie ein Britenfchüler, von Evolution und Selektion fpricht: unter der Tünde dennoch ein Auffe; weich, ohne fefte Willensrichtung, mitleidig, amoraliſch. von hell auffladerndem, doch raſch aud) wieder verlöfchendem Gefühl, dem uur Tanatismen zu längerem Leben hülfen. Und Luka ift ohne Fanatismus. Er will die Menfchen nicht beffern, nicht gen Nazareth noch gar gen Golgatha iie fchleppen. Nur tröften möchte er fie, die Sinfenden halten, den Em— kräfteten einen Stab fchenfen, an dem fie fid) ein Weilchen wenigſtens nod; vorwärts taften fünnen. Das vermag er, trogdem er, ald Pilger, nur zu kurzer Raſt bei ihnen einkehrt; denn er hat aus behaglicher Dafeinsluft den Glauben an die tief in jeder Meenfchenfeele wurzelnde Güte in fein neues Leben hinübergerettet und handelt nun nad dem SHompoeopathengrundfag: Similia similibus eurantur. Sagt den Menfchen nur, daß jie jmd, ſagts ihnen täglich, felbft den ganz ſchlecht, ganz entmenfcht foheinent... mb in ihnen wird der Wunfch wachſen, folhen Vorurtheils wärdig zu cn. Tiefe in der Gerontenpoelie unferer Tage ungemohnte Glaubenswärm. um den Sieg. Hinter dem dünnen Gedicht regt, in lebendigem Hoffen, fih die. md einer Volkheit, die auf ihre befondere Weife, mit Ajiatenzähigfeit und re

Theaternotizen. 323

päerwaffen, ich zum Kampf um bie neue Sittlichkeit rüftet. Und als Führer, als Eprecher diefer tapfer, ohne Predigermuth und Zelotenmyſtik menjchengläubigen Jugend ward der einft fo bittere, mun fo milde Marim Gorkij gekrönt. $ * *

Ein Held war Oskar Wilde nicht. Auch kein Philanthrop, lein Lehrer und Tröfter, der dumpf dahinbrütende Maſſen zu reicherer Empfindungfähig- keit erziehen wollte. Aber auch nicht nur der gedige Pyrotechnifer, den William Archer in ihm fah. Die blendenden Wigfpiele, die ipm den mondänen Ruhm ſchuſen, konnten einer falten Dialektif gelingen, die ihr Publitum und ſich felbft zum Beflen hat und das Frechſte wagt, um zu verblüffen, pour Epater le bourgeois. Doch pyrotechnifche Fertigkeit vermochte Salome nicht vor unferen Blid zu zaubern. Ein Spiel dünft uns dag Meine Drama der Brite hat es 1893 franzöjifch gefchrieben; rau Hedwig Lachmann hat e3 aus dem Englifchen für den Injel-Berlag gut überjegt und mit fpielender Genialität fcheint es, wie Beardsleys Flluftrationen, in flüchtiger Laune Hin: geworfen. Ein grauſiger Wig: die Riefengeftalt Johannis, des Täufers, zertritt der nackte Fuß eines lüfternen Mädchens. Byrons prächtigfte Maskenfeſte ver- blaſſen; fo ehrfurchtlos war felbit Lord Euphorion nicht, al8 er feinen Kain von Eden: Park foftumirte. Und der freche Dichter des Atta Troll ließ doc wenigſtens die überreife Herodias jelbit in LXiebe zu Johannem entbrennen: „des Herodes ſchönes Weib, die des Täufers Haupt begehrt hat. Anders wär’ ja unerklärlich das Gelüften jener Dame; wird ein Weib das Haupt begehren eines Mannes, den fie nicht Tiebt?*" Das war Wilde noch nicht genug. Nicht Herodias: Salome ſelbſt muß den Täufer begehren, vernichten. Aber hier ift mehr al3 ein flüchtig auffunfelnderWig. Judaea in Rokokoſtimmung. Bor einem Welt⸗ untergang, den das Morgenroth eines neuen Weltglaubens verklärt. Ein wol- lüftiger, verweichlichter, feiger, abergläubiger Tetra. Eine verblühende Buh— lerin, die durch Schuld und Schmach auf den Thron geflettert ift und nun fühlt, daß ihre überreifen Reize den Mann nicht mehr fefleln. Ein perverfes Kind, die echte Tochter der verruchten Mutter Herodias. Ein eleganter Römer, der die neufter Anekdoten erzählt und ſich nicht vorſtellen kann, außer dem Caeſar Auguſtus könne noch ein Anderer fich den Erlöjer der Welt nennen. Die Gruppen der Juden, Nazarener, Eoldaten und Sklaven; hinter jedem Sag, mag die Form aud den Fugendgebichten Lerberghes und Maeterlincks' entlehnt fein, ein Profil, das man nie vorher fah und das ji für immer nun dem Gedächtniß einprägt. Und in der Ciſterne Jehochanan, der gefangene Täufer. Aus friner Gruft taucht er auf und fpricht all die ſtarken, gräßlichen Bibelworte, die den Kinderjinn fchreden; und Ealome hört nit: fieht nur das blaſſe Fleifch, den rothen Mund, die Schwarzen, zottigen Haare und möchte den Mund füffen, in den wirren Strähnen wühlen, den bleichen Leib ftreicheln. Alle begehren ſie und jie begehrt

321 Die Zukunft.

nur den Einen, von Allen ben Häßlichiten. Und ba er die fluchenden Rippen weigert, muß er fterben. Sie tanzt vor Herodes, der ihr jeden Preis verfprad; und, als de Schleiertanz ihm die Sinne erregt hat, fein Wort halten muß. Je veux quon m'apporte presentement dans un bassin d’argent la t&te d’Jokanan. Schlotternd läßt, nach langem Sträuben, der Tetrarch fi) den Tod künder den Ring vom Finger winden. Schlotternd fchleicht der Henker, ein fchwarze Niefe, hinab und beim erften Streich entfinkt ihm das blanfe Schwert, als mare es ſich nicht an eines Heiligen gemweihtes Haupt. Dann aber redt fih der Negerarm aus der Eifterne und auf dem filbernen Schild, das er häft, lit der Kopf de3 Täufers. est kann ihn Salome küffen, in irrer Brunft die Zähne in feine falten Korallenlippen bohren. Mama ift zufrieden; diefer grün liche Prophet, der fie Ehebrecherin und Dirne fchalt, war ihr längſt ſchon zur Laſt. Herodes aber zittert vor der Rache des Himmels, ber den düſteren Mahne gefandt hat; und zugleich nagt an ihm die Wuth: das blutige Haupt füht 9 fie, die ihn nicht umarmen wollte, für all feine Schäge nicht. Auf jem Geheiß wird die Prinzefiin Salome von den Schilden der Leibwache zermalmt. „Durch feine Bajazzo: Bermummung erlangte Wilde in ber ganzen angelſächſiſchen Welt den Nuhm, den ihm feine Gedichte und Dramen nie erworben hätten. Mich mit biefen zu befchäftigen, babe ich feinen Grund, denn fie find fchwächliche Nahahmungen Roſſettis und Swinburnes und von einer troftlofen Nichtigkeit." Alfo fpriht Herr Max Nordau, ber Freund und Bewunderer des braven Mannes, der, nach Wilbe, dem berliner ThHiergarten feinen Theaterjohaunes gab. Doc; diefe zornige Stimme fchächtert heute feinen Erwachſenen mehr ein. Wildes Heines Gedicht ift ein faft fleckloſes Meifler werk des Impreſſionismus. Das Feuerwerk fehlt nicht; doch nicht Aeitheten nur freuen fi) an ſolchen Leuchtkugeln. Allerliebfte Worte, die, kurzen Bligen gleich, die Hintergründe aufhellen. Bor dem Feftfaal plaudern zwei Soldaten. „Das heult da drin ja wie wilde Thiere*. „Die Juden. So maden ii immer. Streiten über ihre Religion." „Warum ftreiten fie denn darüber?“ „Weiß nicht. Sie thuns immer. Die Pharifäer, zum Beiſpiel, behaupten, es gebe Engel, die Sadduzäer, e8 gebe feine.” „Lächerlich, Aber fo mas zu ftreiten. Und dabei glauben fie an einen Gott, den man nicht fehen fant, glauben überhaupt nur an unſichtbare Dinge.“ „Höchſt lächerlich“, fagt ein Stappadofier; der felbe, den der Gedanke, einen König zu töten, erblafien läßt. Der kultivirtere Krieger lächelt: „Warum denn? Auch Könige haf wie andere Menfchen, nur einen Hals.“ Herodes hört von dem Galilı , der Tote erwedt. „Das papt mir nit. Das verbiete ich ihm. Ich laube nicht, dag man in meinem Lande Tote erwedt. Er mag Waſſer in Wein wandeln, Blinde und Ausfägige heilen: meinetwegen; dagegen babe ich nid, - Wer Ausfägige heilt, thut ein gutes Werl. Aber ich dulde nicht, daß er T !

Theaternotizen. 325

erweckt. Sagts ihm!“ Eine Rakete beleuchtet ein Eckchen der urbs. Ein gefangener, ins Heer des Tetrarchen geſteckter Königsſohn hat ſich getötet, weil er vor Salomes Auge nicht Gnade fand. „Merkwürdig“, ſagt Herodes; „Ich dachte, nur römiſche Philoſophen töten ſich ſelbſt. Nicht wahr, Tigellin, bei Euch töten die Philofophen ſich?“ „Manche, Tetrard. Die Stoiter, Sehr ordinäre Leute. Sehr lächerliche Leute. Sie werden bei ung aud ausgelaht. Der Kaiſer hat gegen fie eine Satire gefchrieben, deren Verfe auf allen Lippen find.“ Rom lacht über die querlöpfigen Schüler des Banaetios und Pofeidonios. Die Söldner des Tetrarchen bewig:in das Volk des Buches, feinen Glauben an einen unjihtbaren Gott, feinen Hader um die Ankunft des Meſſias und um die Eriftenz geflügelter Himmeläboten. Herodes ver: bietet dem Thaumaturgen aus Galilaea, Tote zu weden. Herodias ärgert mit boshafter Rede das wunde Gewiſſen des tötrarque parvenu und ihr Töchterhen buhlt mit dem bleichen Gebein des Täufers. Senſibles, im Zaumel wüftefter Brunft von taufend Aengſten geſchrecktes Bolt, das im üppig- ften Zurc8 darbt, in ſchwüler Treibhausluft fröftelt. Und leiſe bebt unter ihrem unſicheren Fuß die frisch befruchtete Erde. Kulturen welfen, Kulturen feimen; und die Männchen ſchmachten und drohen, töten fich felbit und morden den Nächten, weil ein weißes Prinzeßchen ihnen nicht aufs Lotterbett folgt.

So hatte Keiner noch die Herodierzeit gefehen. ine freche, doch eine zwingende, unvergeßliche Viſion. Und dieſes Dichter8 Leben, dem die Hoch⸗ ſommerfrucht noch nicht gereift war, hat England im Kerker gebrochen. Ins Zuchthaus mit dem Kinaeden! Wie feine Salome, hat Oslkar Wilde die Serualverirrung mit dem Tode gebüßt. Und der legte Dandy war fein Held geweſen, fein Philanthrop, fein Maffenerzieher... Der erfte Proletarier der Weltliteratur mag auf der fchwarzen Erde fich des Lebens freuen. Majeftät Sant ift dem Künftlervolf ein noch viel härterer Herr als der Weiße Bar.

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In den preußifchen Theaterbereich braucht diefe Majeſtät ſich nod nicht herabzulaffen. Die Löbliche Cenfur [part ihr die Arbeit. Kinder, fpricht fie, feid Ihr; und Kindern mißt die fürforgende Wärterin die Nahrung und bag Vergnügen mit weifer Vorjiht zu. Salome? Nichts für Kinder. Die Gejtalt des Täufers gehört zu dem heiligften Gütern, mit denen ein perverfes Jüngferchen nicht fpielen darf. Das fehlte noch. Im hamburger Deutfchen Schauſpielhaus, im ftuttgarter Hofiheater fogar wird dieſe Abfcheulichkeit der Menge gezeigt? Nepublilanifche und füddentfche Zuchtlojigkeit. Bei ung herrſcht Sottesfurcht und fromme Sitte. Bei uns wird folder Unfug nicht. erlaubt. „Wir müſſen eine gemille Garantie haben, daß in ernften Theatern nur Werfe aufgeführt werden, in die wir unſere Frauen und Töchter hinein- führen können, ohne felbft zu erröthen.“ Im Namen der königlichen

326 Die Zukunft.

Staatöregirung, deren höchfter Repräfentant Graf Bernhard von Bülom ift, verfünbet3 der Freiherr von Hammerftein, ber Allverwalter. Und als er gefragt wird, warum er Heyſes Maria von Magdala verboten habe, antwortet er: „Ab- folut unzuläfig“; denn der freiwillige Opfertod bes Heilands wird im Diefem Ihlimmen Drama „in Perbindung gebracht und beinahe abhängig gemarkt von dem Entſchluß einer Buhlerin darüber, ob jie einen römifchen Hauptmann zu ſich nehmen will oder nicht.“ Weber diefe Auffaffung ift nichtS zu jagen; werm Herr von Hammerjtein anders fpräche, könnte er in Preußen nicht Miniſter des Inneren fein. Und man fann, „ohne felbit zu erröthen“, erwachſene Menſchen nicht zum Sturmangriff gegen folchen Standpunkt rufen. Heyſes magna peccatrix wurde am einundzwanzigſten Dezember 1901 Hier be: trachtet. Und der Betrachter fchrieb: „Den Erlöfer fchauen wir nit. Denn dem größten Stoff ſozialpſychiſcher Menfchheitgeichichte ift die Bühne ge- fperrt. Jeſus von Nazareth darf im fatholifchen Frankreich, doch nicht im proteftantifchen Deutichland auf da8 Schaugerüft treten, nicht einmal, weun er, wie ein Zollernheliand, von frommen: Glauben verherrliht wird. Die ganze ad! nicht unverfhuldete Geringfhätung modifchen Theater: geſchäftsweſens fpricht aus dieſem Berbot. Mit Eluger Kunft hat der Dich— ter die fchredende Sippe umſchifft. Nur den Widerhall des Heilandswortes hören wir und jehen die Spiegelung feiner wirkenden Lichtgeftalt im Sinn zweier von Leidenſchaft heftig bewegten Erdenkinder: Maria von Magdala und des Karioten Judas Iſcharioth.“ Der Huge Dichter war, wie ſich jegt zeigt, noch immer nicht Flug genug. Incidit in Scyllam cupiens vitare Charybdim. „Aulus Flavıns, ein Neffe des Landpflegers Pontius Pilatus, wirbt längft um der Magdalerin Gunft, die ihn die Entbehrung römiſcher Wonnen wohl vergeffen ließe. Jetzt darf er, endlich, Hoffen, den Ziel feines Sehnens zu nahen. Ihm öffnet ſich jedes Kerkers Thür und feiht kann er die Bande löjen, die de8 Galiläers Leib felleln. Doch der Weltitädter if fein Heiliger; der luſtige Lebemann würde ſich lächerlich dünfen, wenn er für fein Netterwerf nicht Belohnung heifchte. Ein Dämmerſtündchen an Marieus Bruſt: und in der Morgenfrühe it ihr Jeſus frei, dem der Hohe Priefter ſchon das Kreuz rüjten läßt. Ste vermag ed nicht. So mande Wacht fchob fie am Ihor den Niegel zurüd, damit ein heiter Buhle im Dunkel hineinfchlüpfe, und fo entehrt it ihr Körper von gierigen Küſſen, daß Feine Mingabe an news Begehren ihn mehr fchänden fünnte. Aus nächtiger fternig aber warnt jegt eine Stimme, dräut die Stimme Eines, der Opfer de3 wicdergeborenen Leibes verſchmäht. Aulus Flavius geht ı tröjtet Heim. Und der Erlöſer verröchelt am Kreuz.“ So wurde der \ gang hier damals erzähle. Maria verfagt ſich alfo dem Römer, weil Stimme de3 angebeteten Galiläers vor folder Hingabe warnt. Die pre

Theaternotizen. 327

fche Excellenz aber findet da3 fromme Gedicht „abfolut unzuläflig”; denn der freiwillige Opfertod des Heilands, „die Grundlage des dhriftlichen Glau⸗ bens, wird in Verbindung gebracht und beinahe abhängig gemacht von dein Entſchluß einer Buhlerin darüber, ob fie einen römischen Hauptmann zu fich nehmen will oder nicht.” 1903. Die Wiflenfchaften, die Künfte blühn. Bor dem gnädig blidenden Auge des Kaiferpaares bläft der PBanbabylonier Deligih die Grundmauern des Offenbarungsglaubens um. Die Religion wird „meitergebildet“. Und es ift eine Luft, in Preußen zu leben. R

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Drittes Verbot: „Das Thal des Lebens, hiftorifher Schwank in vier Anfzügen von Mar Dreyer.” Ein Markgraf, in dem des Mannes zu wenig if, und keine Marfgräfin, die wie ein brünftiges Käschen durch die Säle murrt. Sein fhrammer Kater in Sicht. Langweilige Schrangen, ein im: potent winfelnder Hofpoet, fteifbeinige Schloßgardiften. Brown: Söquard lebt noch nicht und die Elixiere des marfgräflichen Leibmedikus find nicht ftar? genug, um die entjchlafene Zeugerkraft Seiner Hoheit aufzurütteln. Schlechte Stimmung am Hof. Schlechte Stimmung im Lande, bad an Preußen fällt, wenn der Mannesſtamm der Dynaftie ohne Frucht bleibt. Nur im Ammendorf läßt man fich die frohe Laune nicht trüben. Kreuz: brave Menfhen wohnen da; Burfchen und Mädel, die auch ohne Ring am dinger einander die Treue halten; märchenhaft brave Menſchen, deren illegi- time Paarung nicht einmal dem Pfarrer ein Aergerniß iſt. Geht nicht anders; die Mädchen müſſen ald Ammen ja erft das zum Hausftand nöthige Geld verdienen. Alldiemeil aber Serenifiimus die faum noch keuſchen Gluthen Sereniffimae nit zu Fühlen vermag, follen auc die getreuen Unterthanen die gierigen Hunde an die Kette legen. Keine Unzucht Hinfüro mehr, bei Todesſtrafe Feine aupereheliche Geburt! Im Anmendorf wird der Kom: milfar, der diefe8 Gebot de8 Markgrafen verkündet, ausgelaht. Der fedite und fräftigite Burfche hebt gegen ihn, der die ehrſame Ammenzunft be= leidigt, die Hand. Darf nicht geduldet werden. Der freche Patron wird unter die Schloßgardiſten geftedt. Der Ruf feiner männifchen Leiftung dringt ins Ohr der unbefriedigten Landesmama, deren Eheheren ein Jagdausflug fern hält. Bor ihren Gemächern fteht der frifche, im Frauendienft bemährte Bengel auf Poften. Sie holt ihn herein, giebt ihm zu effen, zu trinken, fraut ihm den Kopf, reibt ſich an feinen drallen Gliedern, ernennt ihn zum Hofuhrmacer und weift ihm als Wohnung einen einfamen Pavillon an, deilen Thür nur ihr Schlüffel öffnet und fchliept. Nach der eriten Nacht defertirt der gute Junge, der feiner Life nicht ein zweites Mal untreu werden möchte. Der Markgraf aber hat nad) neun Monaten den lange erfehnten Sohn und findet im Thal des Lebens, trog der. ftrengen Strafandrohung, eine ganze

328 Die Zukunft.

Ammencompagnie zu gefälliger Auswahl. Allgemeine Seligfeit. Der Hans kriegt die Liſe, die Life den Hans; und wenn fie nicht geftorben ſind, daun leben He nod heute... Das Stück iſt leider ſehr fchlecht, viel Tchlechter noch als das Emrig- Mlänn: liche“ des Herrn Sudermann, das einen ähnlichen Stoff behandelt. Kindiſch wie die Weihnachtmärchen, die in der Abventzeit manchmal auf Heine Bühnen kommen: und ungrazidß zotig wie ein Kneipengeſpräch im dunkelften Deutichland. Lad man müßte fragen, wie der ernfthafte, faubere und mit fiherem Theater- injtinft begabte Herr Dreyer fih zu fo rüden Snotenfpägen erniedern, wit die zur Kojtprobe ind Deutfche Theater geladene „Elite von Berlin“, bie fi fo modern däntelt, ſolchem froftigen Serualulf Beifall Hatfchen konnte, wenn das Genjurverbot nicht wäre. Ein verbotene Stüd, denft das Ba: blitum, muß verborgene Qualitäten haben und wir könnten uns, mern wirs auszifchten, ausgähnten, vor der Nachwelt von übermorgen blamiren. Und warum das Verbot? Herr von Hammerftein bat e8 im preußifchen Land- tag „begründet*. Der Schwank, ſprach er, erinnert daran, „da Bor etıza hundert Jahren in einem Zweig unfered brandenburgiichen Königshauſes fünftlich verfucht worden ift, eine Nachfolge auf ungefeglichem, unlauterem, unfittlihen Wege zu erzielen. Das foll und darf nicht in das Volk hie- eingebradjt werden. Das tft meines Erachtens in einem monardifchen Staat ganz felbftverftändlich“. Erſtens läßt num Herr ‘Dreyer diefen fürchterlichen Verſuch gar nicht machen; der Markgraf hält, mit dem neuften Trank des Hof: medikus im Leibe, feinen Erben für legitim gezeugt und ahnt nicht, daß ber Schloßgardiſt zu perſönlicher Tienftleiftung bei Ihrer Hoheit befohlen mar. Und zweitens dürfte höchitend ein arglofes Kindergemüth glauben, nur „unfer brandenburgifches Königshaus“ fei der Schauplag fo entſetzlicher Gränelthaten gewefen. Vielleicht darf aber auch) die Großherzogin von Gerolftein nicht mehr über die preußifche Grenze. Einerlei. Im Hoffchaufpielhaus erregt Herr von Wildenbruch Anftoß. Die heyſiſche Maria von Magdala ift „abjelut unzu⸗ läſſig“. Salomes Schickſal wird gar nicht erſt erörtert. Und „ins Volk hineingebracht“ darf nur werden, was für die tugendſame Reine des ange ftanımten Herrfcherhaufes zeugt. Welches Glüd, dag dem vereinten Mühen proletarifcher und bürgerlicher Sulturfämpfer die Lex Heinze nicht widerftehen fonnte! Seit fie befeitigt ward, braucht der deutfche Geift nicht mehr vor der Gefahr der Knechtung zu zittern... Drei Jahre iftö her. Da mißfielen mandem Leſer die Säge, die er hier fand: „Die Ablehnung der Lex e fein Sieg der Freiheit; und die im Kampf gegen dieſes Schredgefpeuft < = gemwandte Kraft iſt zwecklos verzettelt. Wenn der Entwurf fällt, wird r Himmel den Deutfchen nicht heller fein". Der Entwurf ift gefallen. I h feet: Forſchung und Künſte ſind im Lande der Denker und Dichter .

Gerausgeber ı und Derantivortlicher Revatteur: N. Harden in in Berlin. —— der Zukunft in ® in 2 Drud von Albert Damde in BerlinsEchöneberg,.

Berlin, den 28. Februar 1905. III

. Goethes Bott.

IK Wir find von ihr umgeben und umfchlungen, unvermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögenb, tiefer in fie Bineinzudringen. Ungebeten und ungewarnt nimmt fie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt fih mit uns fort, bis wir ermäbet find und ihrem Arm entfallen. Sie ſchafft ewig neue Geftalten; was ba ift, war noch nie; was war, fommt nicht wieder: Alles ift neu und doch immer dad Alte. Sie ſcheint Alles auf Individualitãt angelegt zu haben und macht ſich nichts aus den Individuen. Sie baut immer und zerftört immer und ihre Werkftätte ift unzugänglid. Sie fpielt ein Schaufpiel; ob fie es felbft ſieht, wiflen wir. nicht; und doch fpielt fie für uns, die wir in der Ede ſtehen. Es ift ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr und doch rüdt fie nicht weiter. Sie verwandelt fh ewig und it fein Moment Stilftehen in ihr. Sie ift feft, ihr Tritt ift gemeffen, ihre Ausnahmen find jelten, ihre Gefege unwandelbar. Gedacht hat fie und finnt beftändig; aber nicht als ein Menfch, fondern als Natur. Sie hat ſich einen eigenen, allumfafjenden Sinn vorbehalten, den ihr Niemand abmerfen kann. Die Menſchen find Ale in ihr und fie ift in Allen. Mit Allen treibt fie ein freundliches Spiel und freut fih, je mehr man ihr abgeminnt. Sie fprigt ihre Geſchöpfe aus dem Nichts hervor und fagt ihnen nicht, woher fie kommen und wohin fie gehen. Sie follen nur laufen: die Bahn fennt fie. Wer ihr zutraulic folgt, Den drüdt fie wie ein Kind an ihre Herz. Ihr Schaufpiel ift immer neu, weil jie immer neue Zufchauer ſchafft. Leben iſt ihre ſchönſte Erfindung; und der Tod ift ihr Kunflgeiff, viel Leben zu haben. Sie hullt den Denfchen in Dumpffeit ein und fpornt ihn ewig zum Licht. Sie macht ihn abhängig zur Exde, träg und fehmer und ſchüttelt ihn immer wieder auf. Sie giebt Bedürfniffe, weil jie Bewegung liebt. Jedes Bedürfniß ift Wohlthat,

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330 Die Zuhmft.

ſchnell befriedigt, fchnell wieder erwachſend. Sie läht jedes Kind an ſich fünjteln, jeden Thorn über fich richten, Taufende ſtumpf über jich Hingehen und nicht8 fehen: und hat an Allen ihre Freude und findet bei Allen ihre Rechnung. Sie hat feine Sprache noch Rede; aber fie Schafft Zungen und Herzen, durch die jie fühlt und fpricht. Sie belohnt fich felbit und befiraft ſich felbft, erfreut und quält jich felbit. Sie ijt rauh und gelind, Tieblich und ſchrecklich, Traftlo8 und allgewaltig. Alles ift immer da in ihr. Vergangenheit und Zukunft fennt fie nicht. Gegenwart ift ihr Emigfeit. Sie ift gütig. Ich preiie fie mit allen ihren Werken. Sie ift weife und ftil. Man reißt ihr feine Erflärung vom Leibe, trust ihr kein Geſchenk ab, das fe nicht freiwillig giebt. Sie tft Liftig, aber zu gutem Ziele; und am Beften ifts, ihre Kift nicht zu merken. Jedem erfcheint fie in einer eigenen Geftalt. Sie verbirgt ih in taufend Namen und Termen und ift immer die felbe. Sie hat mich hereingeftellt: fie wird nıich auch heraus⸗ führen. ch vertraue mich ihr. Sie mag mit mir falten. Sie wird ihr Wert nicht Haffen. Ich ſprach nicht von ihr. Nein; was wahr ift und was falſch ift: Alles hat fie gefprochen. Alles ift ihre Schuld. Alles ift ihr Verdienft.

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Diefe Gedanken fprach Goethe 1782 aus, Hundertundzwanzig Jahre vor der Epoche deutfcher Geiftesgefchichte, deren religiöfer Drang, fo lejen wir eben, in dem von Wilhelm dem Zweiten an den Admiral Hollmann ge- jhriebenen Brief den Harften und ftärkften Ausdruck gefunden hat.

3 Dom Adel.

en einem fleinen Drte der Vereinigten Staaten von Nordamerifa zeigte ®) man mir einen blafjen, mageren Dann mit langweiligem Gejiht und fagte erwartungvoll: „Sehen Sie; Das ift auch ein Adeliger aus Deutfch- land“. Ic dachte zuerit, der Sprecher erwarte, dag ich ein heftiges Tat⸗ Twam-Gefühl bei mir bemerkbar machen werde; es hatte aber noch eine andere Bewandtniß mit meinem Etandesgenoffen. Der durch irgend welche Stürme an diefen Urt verfchlagene Herr von X hatte zulegt in einer bes nachbarten Fabrikſtadt als Konitruftionzeichner eine auskömmliche Anftellung gefunden und war, wie der Teutſch-Amerikaner fagt: gut ab; aud hatte er das amerikaniſche Yürgerrecht erworben. Da ereignete es ſich bei der Rohn- zahlung, dar fein Name aufgerufen wurde, und zwar ohne die Adelspart

die ihm als amerikaniſchem Bürger auch nicht mehr zuftand. Bon X rü' ih nit. Nach wiederholten Aufruf erklärte er: Ich heiße Bon X;

mit der ſelben Bejtimmitheit und größerem Recht wurde ihm jedesr--" Antwort: Sie heiten X. Er gab nit nad), wurde fchlieglid entlaſſ

blieb ſeitdem ohne feite Beſchäftigung, Dis er den eben fo ehrenvollen wenig einträglichen Poſten des Nachtwächters in einem whole sale =t

Vom Abel. 33]

erhielt und fein Leben, abgejchloflen und abfeit3 von anderen Menfchen, auf fümmerliche Weife weiter friftete.

2. In den felben Ort fam ein reicher Fabrikant, auch Deutfchamerifaner, aber in Amerika geboren, um bort eine Fabrik von Artfiielen anzulegen. Als er hörte, dag ih nah Europa zurüdgehen wolle, fuchte er mich mehrfach auf und erklärte, er wiſſe beftimmt, daß er einer reichen adeligen Familie entitamme, der einzige Erbe fei und mich bitte, ihm zu diefem Erbe, natür: lich einem Schloß mit prächtigen Waldımgen, zu verhelfen. Eine lange phantaftifche Gefchichte von geftohlenen Kindern, treuen Dienern, Auswan: derung aus Deutfchland und abermals natürlich verlorenen Papieren. Sein Hauptargument war aber: Sch fühle mich immer zu „vornehmen“ Leuten hingezogen und weiß am Gefühl ganz beftimmt, daß ich adeliger Abkunft bin. Im Uebrigen war er, wie gefagt, fehr wohl fituirt, in feinem Wejen völlig Amerikaner und benahm fich nad den Mahlzeiten ſehr unappetitlich.

3. In Deutichland hatte mir ein Schreibmafchinenfräulein beim Engage ment Schilderungen ihres Könnens gemacht, die ſich nachher als nicht der Wahrheit gemäß Herausitellten. So ſchmerzlich e8 mir war, mußte ich ihr Borhaltungen machen und wir frennten ung im Zorn; beim Abſchied erflärte fie, fie gehöre der älteften jüdifchen Wriftofratie an und könne ſich eine folche Behandlung nicht gefallen laffen.

„Typisch“ find diefe drei Fälle wohl nicht, eben jo wenig kann man ihnen aber megen des ungewöhnlich fcheinenden Milieu eine allgemeine Giltigkeit abfprechen. Unter ganz verfchiedenen Verhältniffen liegen ſich ganz verfchiedene Individuen dur das felbe Gefühl leiten. Nummer 1 handelte unter feinem Zwange direft gegen den gefunden Menfchenverftand und fein eigenes Intereſſe, gab ji auf für die „Idee“. Nummer 2 hatte ein langes erfolgreiches Geſchäfisleben hinter jich, daß er auch als anerfannt adeliger Schloßherr nicht aufgegeben hätte, und Fonnte trogdem nicht von feinem ſtets fonfervirten und gehegten Wahn laffen. Bei Nummer 3 lag die Sadıe anders; ihr fehlte die bona fides. Ihre „Ariftofratie* (die verdammten Fremdwörter!) holte fie erft hervor, als fie ihr das Selbſtbewußtſein der Leiftungfähigfeit erjegen follte, und wandelte höchſt zeitgemäß das Sprich— wort um in: ma noblesse t’oblige. Diefe Ausmünzung der adeligen Geburt fürs Geſchäft ift nicht von der tippenden Dame erfunden worden, fondern viele ihrer ariſchen Standesgenoſſen wiſſen weit beffer das „Geſchäft“ daraus zu holen. Nummer 1 zeigte Charakter und repräfentirt einen Typ, der nicht felten in Deutfchland zu finden ijt und um diefes „Charakter“ willen ſich auch einer gemwilfen Achtung erfreut. Das find die Leute, beren Leben fich fern von der Oeffentlichkeit abfpielt und deren einziger Genuß ift, vor ihrem Fetiſch zu knien. Erſt ihren Tod finden wir unter „Lokales“ verzeichnet,

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832 Die Zukunft.

wo von den „Ableben eines alten Sonderlings“ berichtet wird, der fihen die gefaufte Dauerwurft unter dem fadenfcheinigen Rod zu verbergen pflegte. Es giebt unter ihnen Einzelne, die ganz zufrieden find, dem dieſe Erifien; ift für fie eine Art, fi) auszuleben; aber der „Charakter“ entpuppt fi ſchließlich als ererbte Zmangsläufigkeit, die Willen und Geift anf einen engen Kanal bornirt. Der entgleifte Eifenbahnivagen bleibt im Sarıbe ſtehes ober liegen, weil er troß dem veränderten Milieu nicht aufhört, ein Eifer bahuwagen zu fein; ohne Gleife kommt er nicht vorwärts. Dabei giebt es unter ihnen eine Menge der ehrenwertheften Leute, für die im moraliſches Sinn ber Begriff der Entgleifung durchaus nicht vorliegt. Marche Leiden ſchwer unter ihrer Lage, aber fie können nicht anders, obgleich fie nicht daran benfen, andere Berufe oder Beichäftigungen als ihrer unwürdig zu erachten: es ift ihre Natur, die den Gabeln jeglicher Größe und Art Stand hält Sie haben manche Befchäftigung, manchen Beruf verfucht, aber ihr ererbies Ich bleibt und der unüberbrüdbare Zwielpalt zwilchen ihm und den Auferen Berhältniffen lähmt den Dann, macht ibn unglüdlih und unfähig. Die Vergangenheit man kann auch fagen: die Geſchichte oder die Zucht rächt fih an ihm, fobald er die durch fie gewiefenen Bahnen verläßt. Es fi eben fo beliebt wie albern, von einer Entartung des beutfchen Adel3 wenn wir vorläufig noch biefen Sammelnamen gelten laffen wollen zu fpredhen, benn der Abel ift heute fo gut und fo fchlecht, wie er je geweſen ift, .eben fo Hug und eben fo dumm. Die foziale Entwidelung und das freizügige Kapital find aber im Begriff, über ihm Hinmwegzugehen, weil er wicht die Elaſtizität hatte, fich zum Träger mwenigftens ber fozialen Entwidelung zu machen; und wenn der Bourgeoiß über ben Junker jammert, zeigt ex Damit nur feine eigene Furzfichtige Eitelkeit, bie nach bald antiquirten Zielen firebt. Ich beabfichtige nicht, dem Leſer jest in lichtuoller, ſozialpolitiſcher und hiftorifcher Auseinanderfegung meinen „Haren und vorurtheillofen Blick“ zu beweifen noch auch „mein Neft zu beifhmugen“, fondern will nur einige Curiosa erwähnen und zu begründen verfuchen.

Unendlich oft begegnet es Einem, daß ein Bürgerlicher zwifchen Kaffee und Liqueur mit jener ſtolzen und doch fo liebenswürdigen Reſerve fagt: „Sa, ich begreife volllommen, daß Sie auf Ihren Stand und Namen ftolz find.* „Das bin ich gar nicht.“ „Na, laffen Sie nur; wie gefagt, » babe volles Verftändnig dafür, aber um nichts in ber Welt würde ih 1 Adel annehmen, wenn er mir angeboten würde.“ „Gewiß; warum denn au „Sehen Sie, Sie würden mid nicht file voll halten. Ih kann Zi übrigens fagen im Vertrauen aber, bitte —, daß meine Familie fr adelig war“ (ein mächiger Siegelring und eine Berloque werden zur fräftigung gezeigt); „einer meiner Vorfahren hat ben Adel abgelegt, weil er

L,| vs [1]

Bom Act. 833

armte. Mein Vater wollte ihn wieder annehmen, aber bie Papiere und Kicchenbücher waren nicht mehr aufzufinden; verbrannt jedenfalls. Ich habe meinen Stammbaum ausgearbeitet und alle Nachrichten, deren ich Habhaft werben konnte, zufammengeftellt und nach der Hiftorifchen Wahrfcheinlichkeit ergänzt. Wenn es Sie intereffirt, ſchicke ich Ihnen die Bapiere einmal zu.“ . Es ift immer die felbe Gefchichte, vom Anfang bis zum Schluß. Ein eigenthümlicher Wider- ſpruch, daß gerade dieſe Leute, die fo gern das „Wörtchen ‚von‘”, wie die Marlitt fagt, ihrem Namen vorjegen möchten, ſich am Meiften darüber ent⸗ rüften, daß ber Adel fo wenig „nach Verdienſt“ verliehen werde, fondern, weil angeboren, die Entwidelung eines Verdienſtes erftide. Auch fie find, wie fie find, und können nicht anders denken, als fie denken; aber daß fie fo denen, ift ſchwer nachzufühlen. Bürgerliche Familien und Bauerngefchlechter, zum Beifpiel in Dithmarfchen, eriftiren, die fi) urkundlich bis in das frühe Mittelalter zurüdführen können, und in feinem von ihnen wird je ein Glied den Wunfch nach dem Übel gehegt haben. Sie haben, wie adelige Familien, bewußt ober nicht, die Bamilie Jahrhunderte lang auf ungefähr dem felben Niveau zu halten verftanden. Und eben Das ift, theoretifch, der innere Werth des Adels: die reine Zucht, die Beſtändigkeit im Wechſel. Praktiich Hat ſich die Entwidelung vielfach anders gefaltet, und wie es alte Eiſenſchiffe giebt, von denen man jagt, dag nur die did und immer wieder aufgetragene Farbe fie zufammenhält, fo auch bier. Die Mafchinen leiften nichts mehr und die Mandvrirfähigleit ift gering; nur reichlicher Flaggenſchmuck macht He noch anfehnlih und zum Gegenftande des Neides. Deshalb gehört auch biefer Neid des felbfibewußten Bürgers zum LKächerlichften, was die Naturgefchichte bietet. Natürlich iſt e8 in erfter Linie die Eitelfeit, dann äuferer Vortheil; wie oft ehrt ſich diefer äußere Vortheil fchon in ber zweiten Generation in das Gegentheil und nur das frohe Selbfigefühl, dem „Adel“ anzugehören, bleibt! Die ftabilen Lebensbedingungen, das gefunde Leben in freier Luft trivial, aber wahr haben das Werden der „alten Familie” ermöglicht und thun e8 no, wo Geld und Grunbbefig ift; wo es nicht mar, bildete fih die Offizierfamilie, deren Zukunft als folche allem Anfchein nach recht bedroht ift. Daß aber der Kapitalreichthum nicht genügt, um in dieſem Sinn eine Familie zu begründen, fieht man täglih. Es ift da meift ein kluger und geſchickter Mann, in dem die Familie ihren Gipfelpuult erreicht, während die Söhne und Enkel fi auf das Tragen von Sadpaletot3 und auf Automobil: fahren befchränfen. Die Hauptftärke der Familie, da8 Zufammenhalten als Clan, ift heutzutage faum mehr neu zu fchaffen; aud den alten Familien geht es immer mehr verloren und muß e8 verloren gehen. Man könnte auf ben erften Blid annehmen, daß gerade heutzutage e8 im Intereſſe der „Familie“ läge, auch folche Glieder noch ferner an fich zu fefleln, die in nicht ſtandesgemäßen

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334 Die Zutimft.

Berufen arbeiten, um ihren Einfluß politifch auf fie auszudehnen. Das iter unmöglich, denn der Adel, wie er fein zu müffen glaubt, würde ſich damit ithi verneinen. An diefem Beifpiel zeigt ſich anfchaulih, daß richt der Nm und die Yamilienzugehörigkeit den Standeszufammenhang machen, joader lediglich die materiellen Intereſſen und die Sicherheit, daß jedes Jamie glied eben dieſe Intereſſen ganz vertritt. Sfann und thut e8 Das midt * fällt e8 entweder von felbft aus dem Zufammenhang heraus oder wird ir außgefegt; und umgekehrt ift der fefte politifche Zuſammenſchluß Adeliger ul Nichtadeliger, wie er immer mehr hervortritt, ſowohl ein Beweis, daß ir Kollektivbegriff „Adel“ eine Interefientengruppe bezeichnet, als auch, daß de Adel feldft mehr und mehr aufhört, diefe Intereſſen für ſich allein in Anfpme zu nehmen. Was aber außer diefer Gruppe noch adelige Namen führt, m in genere, abgefehen von Regenerationen durch hervorragende Perfünlik keiten, ſich entweder afjimiliren oder aber, bei unpraltiſchem Hervortreten de „Standesbewußtjeins“, untergehen.

Die Verleihung des Adels, die für die Perfon eine Auszeichnung a fol, wird alfo für fernere Generationen entweder inbifferent, wenn fie ud mit Dotationen verbunden ift, oder aber fie iſt ſchädlich. Sie Hat den ſelba Werth wie ein Orden und kann nur den Perfönlichleiten Freude mache die äußerer Anerkennung bedürftig find, fei e8 aus immerer oder Aufn Armuth. Wie Jemand die „Erhebung“ als ſolche empfinden Tann, ift m unbegreifli; und doch giebt es ſolche Leute. Eben fo ungreiffich erſchen das auch thatfächlich vorhandene Gefühl der Zugehörigkeit zu einen: „Stank‘ Wo ift außerhalb der Intereffengruppe der Stand? Es ift richtig, daß lang Tradition ähnliche Lebensgemohnheiten hervorbringt und dieſe eine gemit Außerliche Gemeinſamkeit zur Folge haben, die zwei Menfchen zuerſt fchnele einander näher rüdt, dag Stadium, mo man einander beriedht, verfürzt; 9— aber die Intereſſengemeinſchaft, ſo kommt innere Solidarität in Folge ie gemeinfamen adeligen Abfunft kaum zu Stande; eher das Gegentheil. Gen fhlimm aber find die Neuavancirten, die feinen Sat fprechen, ohne „E unferem Stande“ einzuſchalten. Nein: der Adel ift fein Stand; mit gröke Berehtigung fünnte man die Katholifen einen Stand nennen. Man min mir hier den Einwand machen, dat doch das Vorhandenſein eines Stande: gefühls nicht zu beftreiten fei. Das thue ich auch keineswegs und ioga vom Standesgefühl hier ausgegangen; ich beftreite aber, daß fi) duuu am Vorhandenſein des Standes felbft fliegen läßt. Abftrahiren wir da Zr fammengehörigfeitgefühl, das die Vertretung und der Kampf für äußer- nr effen den Gliedern der Intereffentengruppe mit Nothwendigfeit ein! ;, it bleibt al3 reines und aljo begründetes Gefühl nur das der Fan N hat einen vorwiegend retrofpeftiven Charafıer und unterfcheihet (hen

Vom Mel. 835

dadurch von dem in all den Familien vorhandenen, deren Vergangenheit der lebenden Generation gar nicht oder wenig befannt ift; deshalb ift e8 auch durchweg ftärker. Wenn richtig angewandt, liegt hierin ein unmeßbarer er: ziehlicher Werth, wenn unrichtig, eine Gefahr, die fich bald zu rächen pflegt, und zwar an ber Familie; ich habe darüber fehon vorhin geſprochen. Die Möglichkeit der inneren und äußeren Samilientradition: wird aber bedingt duch Sehhaftigkeit der Familie und einen, um fi fo auszubrüden, grad: linigen Berlauf durch die Generationen hindurch. Gerade diefe werben durch da8 Beitalter des Verkehrs und Kapital8 immer mehr gefährdet und in Frage geftellt, und wenn die adeligen Grundbefiger aufs Aeußerſte für Erhaltung ihre8 Grundbeſitzes und die Glüdlicheren, die Das nicht nöthig haben, für weitere Berbefferung ihrer Lage kämpfen, fo kämpfen fie in erfter Linie auch für da8 Weiterbeftehen der adeligen Familie; diefe verfchwindet aber ſchnell bis auf den Namen, wenn Geldmangel von Generation zu Generation Beruf und Ort zu wechſeln zwingt. Die Einwirkung fonftiger, politifher und fozialer Verhältniſſe ift mir nicht unbelannt, doc der Raum verbietet, hier darauf einzugehen. Das Individuum wird gleichwohl beinahe immer und unter allen Verhältniſſen einen Reſt diejes Tamiliengefühls bewahren, das je nach feinem Werthe oder Unwerthe entweder in der Perfönlichkeit aufgeht oder als der fogenannte adelige Hochmuth fich innerlich verdummend oder äußerlich Tächerlich bemerkbar macht. Das ſich daraus a posteriori ablei= tende Pjeudo-Standesgefühl, wie ichs nennen möchte, ift meift ein Attribut ber zweiten Kategorie, des befchränkten, der Anlehnung bedürftigen Heerben- thieres; denn anders Tann man ein Individuum nicht nennen, das ich rede nicht von der Bertheidigung gemeinfamer Futterpläge für fein Selbft die Anlehnung an und Rubrizirung unter eine größere Kategorie von Menfchen nöthig hat. Daß Das nicht nur von Adeligen gilt, fondern überhaupt bie „ideale* Seite des mit Gemeinlinn behafteten Staatsbürgers bildet, brauche ih nicht ausdrüdlich zu erwähnen. Es giebt Wenige, die ſich nicht „mit Stolz* zu Irgendetwas zählen; denn Das ijt bequem; man erkennt an und wird anerfannt; es find ihrer Viele, fo darauf wandeln. Zu den Nullen irgend einer imaginären Eins zu gehören, ift immer ein Ziel, das Viele lodt.

Für Welige und Solche, die es gern werden wollen, wird dieſes Pfeudo-Standesgefühl dadurch befonders verlodend, daß der adelige Name für die große Menge der Nichtadeligen no immer mit einem gewiflen Nim- bus umgeben ift; für die fogenannte Geſellſchaft ift er eine Empfehlungs- farte, während der Nichtadelige, der nicht Mandarin irgend welchen Grades „der reich ift, erft fehr vorjichtig berochen wird. Wer Das weiß und erfahren yat, fühlt ftolz ein frohes Standesgefühl in fein Herz einziehen.

Nutzlich ijt der adelige Name auch für die fogenannte foziale Eriftenz,

336 Die Zufimft.

wofär die Hochftapler männlichen und weiblichen Geſchlechtes den beiten Be mweis”liefern, denn fie nobilitiren fi) durchweg umd erzielen bemertenswerke Erfolge damit. Der Name des auf den Erwerb angewiefenen Adeligen wii mit Vorliebe und Erfolg von „weitblidenden” Geſchäftsleuten unter Intasi: nahme der Perfönlichkeit benngt; die „Repräfentationftellung“ ift eigens für ihn erfunden worden. Natürlich rechnet auch er fih zum „Stande”. Te ift der Steden nnd Stab, der ihn tröftet.

Eben fo unbeftreitbar wie der Berdauungmehanismus umd eben fs merkwürdig ift das Streben, irgendwie auf die Nachwelt zu gelangen, je es felbft durch den Adelskalender. Die Eitelfeit, fi von Urenteln ala Be fpiel aufgeftellt zu denken, zu wiffen, daß man ein „hervorragendes Ele der Linie geweſen ift, giebt einen Stimulus von großer Wirkſamkeit. Nich eitle und aufrichtige Individuen werden überhaupt keine inneren Beziehungen zwifchen fih und ber Nachwelt finden können, eben fo wenig wie zur Di: welt, es fei denn, daß ſtarke Anlagen des Geiftes und Charalters ‚Außen Bethätigung fordern, die ohne Mitmenſchen leider nicht möglich ift.

Aber ich habe etwas Wichtiges vergeflen: die Ideale, die „idealen Be ftrebungen“! Sie verbinden vielleicht als unfichtbares Medium bie Träge abeliger Namen und ftellen den Stand her. „Ideal“ ift nach dem heutigen Sprachgebrauh Etwas, das man nicht hat, aber gern haben will; Hat mau es, fo kommt ein Anderes daran. Und die „ideale Beſtrebung“ gehört in die felbe Kategorie hinein, da das Ideale feiner eigentlichen Bedeutung nad die Ausfchaltung des Willens verlangt. Eine ideale Gemeinfhaft, die afje auf rein innerer Gemeinschaft beruht, könnte niemals mit bem weltlichen Namen des „Standes“ bezeichnet werden. Daß diefe Gemeinfhaft de facto innerlich nicht befteht und nicht beitehen Tann, geht aber aud aus dem Ge fagten hervor; es ift eben nur der gemeinfame Farbenſtrich, der aus einer Beit ftammt, in der der Adel ein Stand war.

Ich bin fehr weit davon entfernt, andere Stände ober Sntereffenten | gemeinfchaften anders zu beurtheilen; der Heerdenthiere giebt e8 in ihuem nur bedeutend mehr, entfprechend dem geringeren perfönlichen Selbfigefühl, mb | das liberale Ideal ift am legten Ende ein fehr greifbareg Ding; jie haben | es nur noch nicht. Was viele diefer Gemeinfchaften noch minderwerthiger macht ald den Abel, ift das Schielen nad diefem, fobald Gelb und „hohe® Verbindungen es erlauben. So lange dieje Hoffnungen in Erfüllung m und reiche Töchter mit guten Papieren alle „in ſchwankender Erfhein ſchwebenden alten Namen befeftigen, können die Vertreter bed Standeögeban 28 ruhig umd unbeforgt fein. In diefem Sinn wird auch der Adel weiter bI# «; und Mangel an Idealen wird nicht eintreten.

Charlottenburg. * Graf Ernſt zu Reventlı

Die Zukunft der Soziologie. 337 Die Zufunft der Soziologie. Sa an den „recht: und ſtaatsunwiſſenſchaftlichen Fakultäten" (To

ſollten fie heigen!) die öde „Xeere vom modernen Staate” gähnt und ‚jueiftifche“ Staatsrechtslehrer ihre fcholaftifchen (um nicht zu fagen: tal- nudifchen) Purzelbäume fchlagen: vollzieht jich fern von den „Stätten der reien, vorausfegunglofen Wiffenfchaft“ (wer lacht da nicht?) der Ausbau er Wifjenfchaft des zwanzigften Jahrhunderts, der Soziologie. Da keimt ınd ſprießt e8 an allen Eden weithin über zwei Welttheile und ſchießt üppig n die Halme: die neue Wiffenfchaft pon den „menjchlichen Wechfelbeziehungen“ Ratzenhofer). Die no nicht ein Jahrhundert alte Literatur ift namentlich n den letzten drei Dezennien fo angewachſen, daß fie der Einzelne kaum iberfehen kann, zumal angeljächlifche, romanifche und flavifche Nationen hier nit gleicher Emfigfeit zufammenwirfen. Mit Dank wird denn auch fon jente jeder Verfuch begrüßt, die Orientirung auf diefem rieſigen Wiffenfchaft- jebiet zu erleichtern. Einen ſolchen Verſuch, freilich nur nach einer Seite, ınternahmen Paul Barıh in feinem verdienftoollen Werft: „Die Bhilofophie er Gejchichte als Soziologie” (1897) und neulich Goldfriedrih in feiner ‚Hiftorifchen Ideenlehre in Deutſchland“. Doc) berüdjichtigen diefe beiden Schriftjteler nur den Theil der Soziologie, der fi mit der Deutung und Erklärung der Menfchheitgefchichte befaßt. Einen recht praftifchen Verſuch, and das Gefammtgebiet der heutigen Soziologie zu erhellen, unternahm vor nem Jahr Leiter Ward in einer Artikelferie de8 American Journal of Jociology. Ohne ſich auf die Frage einzulafen, was eigentlich Soziologie jei, zählt er und gerade ein Dugend verfchiedener Richtungen foziahviffen- ihaftlicher Unterfuchungen auf, denen die Flagge der Soziologie voranweht. Schon ein Blid auf die Bezeichnungen diefer zwölf Richtungen ift lehrreich; da finden wir: 1. Soziologie als Philanthropie; 2. als Anthropologie; 3. als Biologie; 4. als politifche Dekonomie; 5. als Geſchichtphiloſophie; 6. als Ipezielle Sozialwiſſenſchaft; 7. als Befchreibung fozialer Thatfachen (Dem o- graphie); 8. als Genofjenfchaftlehre; 9. als Theorie der Arbeitstheilung (Dürkheim); 10. als Theorie der Nachahmung (Tarde); 11. als Theorie des unbewußten fozialen Zwanges; 12. als Rafjenfampf. Jeder diefer Rich- tungen erfennt Warb eine relative Berechtigung zu; doch ift jede nur ein Theil der Soziologie. „Diefe verfchiedenen Richtungen“, fagt er, „gleichen einer Anzahl Mleinerer Flüffe, die alle beftimmt find, in einen großen Strom ſich zu ergießen, der die ganze Wiffenfchaft der Soziologie bilden wird, wenn einmal die Zeit der fozialen Myopie vorbei jein wird.“ Dieſe Worte treffen den Nagel auf den Kopf. Denn während man bei uns Häufig die Anficht hört, die Soziologie fei gar feine jelbftändige Wiffenfchaft, da fie feinen ein⸗

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338

heitlichen und noch wen

Rand habe, und unter

fände behandelt werden, .... --1--- —-- a=0 0 —- - fänmtlich gegen einen großen Strom konvergiren. Daraus würde ji | geben, daß die Soziologie in einem Stadium der Vorbereitung if. wo d verfchiebenen Bauarbeiter die Materialien zu dem künftigen Gebäude herbe ſchaffen. Thatſächlich ift aber jene Vorbereitungftadium fon von Herbe Spencer überfchritten worden, der die meiften vorhin aufgezäßlten Richtung in feinem „Syftem fynthetifcher Philofophie* ausführlich behandelt und 5 fammenfaßt. Und neuerdings hat Guſtav Ragenhofer in einer Reihe m Werken ein feftgefchloffenes Syftem der Soziologie gefhaffen, in dem t Probleme fait aller von Xefter Ward aufgezählten Richtungen befriedigen I Röfung finden. Bor zehn Jahren begann Ragenhofer die” Bert „Wefen und Zwed der Politik“; dann folgten raſ

Erfenntnig* (1898), „Bolitiver Monismus* (1899), „Poli

und jegt ift (bei Brodhaus) feine „Kriti des Intelleftes“

Fragen, die in der foziologifchen Literatur bisher aufgeti

dem Weſen des fozialen Prozeſſes, nad} feinen bewegenden

Zufammenhang dieſes Prozefjes mit dem Kosmos, nad

Geſetz, das Weltall und Menfchheit beherrfcht, nach dem !

und Böfe und endlich nad) dem Urfprung und der Entwie

lien Intellektes —: all diefen Fragen findet Ratzenhofen

pofitiven und moniftifgen Weltanfhauung eine befriedige: - von allem Pefjimismus ferne Antwort.

Natürlich beantwortet er auch die wichtigfte Frage j

Syſtems, die erfenntnißtheoretiihe. So pflegt ja ber

der meiften Denker zu fein; nad Erflärung und Deut

der Menschheit, nach Beantwortung der Fragen: Woher?

gelangen fie zu der allerwichtigften Frage, der nad) dem E

lien Wiffens, nad) der Berechtigung all der Deutungen

die fie und und ſich felbft über Welt und Menfchheit g

aud Kant, nachdem er einige dreißig Jahre über Himm

allerlei Erſcheinungen des menschlichen Lebens, über Pſych

geichrieben hatte, diefe exfte Periode feiner philofophifchen *

Kritik der reinen Vernunft“ abgefchlofen, die dann wie

punkt vieler anderen philofophifchen Werke wurde. Diefer

ung ift begreiflich. Der philoſophiſche Kopf fieht ſtaunen

ſcheinungen der Welt und des Menfchenlebens und fi

fi über ihren Sinn Rechenſchaft zu geben. Aus dieſem

Drang entftand Kants „Naturgefchichte des Himmels und

Die Zukunft der Soziologie. 839

in PVierteljahrhundert vor feiner „Kritik der reinen Vernunft“ (1781). Es t hnrakteriftiich für unfere Zeit, daß heute den philofophifchen Geift die zolitik, der Klaſſenkampf, das gefellfchaftliche Leben und Treiben zunächſt ehr bedrängen als Himmel und Erde. Ratzenhofers philofophifche Sturm- md Drangperiode entlädt fi) in dem dreibändigen Werk über „Wefen und zweck der Politik“, das uns die politifchen und fozialen Kämpfe als einen ſtaturprozeß fchildert, als einen Theil des großen Weltallprozefles, in dem ie Urkraft, nach einheitlichem Gefeg waltend, in ihren mannichfadhen Modifi⸗ ationen fi äußert. Darauf die zwei Werke „Soziologifche Erkenntniß“ ind „PBofitiver Monismus“, worin er und den Zufammenhang der fozialen Belt mit dem AU, der Natur, bie Geneſts des Lebens aus ber anorganifchen Ratur, die Einheit der unbelebten und belebten Welt und das einheitliche Heſetz, das fie verbindet, erkennen lehrt. Wenn nun aber Natur und Welt on dem felben einen und einheitlichen Geſetz beberricht werden: was ift an Gut und Böfe? Wo bleibt da der Raum für unfer freies Handeln? Biebt es eine Ethik und kann e8 eine Lehre geben, wie wir unfer Handeln inzurichten haben? Auf bdiefe ragen antwortet Natenhofer in feiner ‚Pofitiven Ethik“ mit dem Nachweis, daß die „abjolute Feindfäligkeit“, die wiſchen den fozialen Gruppen herrfcht, dazu beiträgt, da8 natürlich: ethifche Prinzip vom individuell Näglichen auf die höhere Stufe des Gemeininterefjes vu heben. Diefes Intereſſe für die foziale Gruppe, der man angehört, ift er Keim der Sittlichkeit und giebt dem Einzelnen die Grundlage zur Be: srtheilung bes Seinfollenden, bas ihn in Gewiffensmahnungen anruft. In weiterer Entwidelung aber erwächſt auß dem JIntereſſe für die eigene foziale Sruppe das Intereſſe für immer weitere Sreife (Voll, Staat, Nation, Kulturkreis u. f. w.), woraus wiederum das entfprechende Gefühl bes fitt- lih Seinfollenden emporkeimt. So entftehen fittlihe Gewohnheiten und ethifches Empfinden in immer fortichreitender Entwidelung, womit die Grund: (age einer „pofitiven Ethik“ gegeben ift. Auf diefer Grundlage baut Ratzen⸗ hofer fein Syftem der Ethik auf, die weder mit einem „geoffenbarten Sein- ſollenden“ noch mit dem Deus ex machina eines „kategoriſchen Imperativs“ operirt. Damit war ja fein ganzes philofophifches Syftem, fein „pofitiver Monismus“ abgeichloffen. Uber gerade an dieſem Punkt befchleicht den Philoſophen der fchwerfte Zweifel, harrt feiner die fchwerfte Probe. Wohl prangt der folge Bau im regelrechter Feftigkeit und fein Giebel ragt in die lichte Höhe des Ethifchen: den Baumeifter aber überkommt die bange Sorge, ob denm dieſer Bau die wirkliche Welt vorftellt oder nur einen leeren Schein widerfpiegelt. Wo ift die Gewähr, daß die vom denkenden Menſchen perzipirte Welt die wirkliche it? Daß die wirkliche nicht ganz anders und die perzipirte nur ein Trugbild feiner Phantafie it? Iſts nicht auch möglich, daß wir

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nen

340 Die Zuhunft.

das „Ding an fi“ gar nicht fehen, fonder der uns nicht im Entfernteften die Wirklicht Zweifel, die vor hundertundzwanzig Jahren den königsberger Philoſophen quälten und dazu drängten, nachdem er ſchon Weltall und Menfchenleben geſchildert hatte, ſich auch die vermeintliche „reine Vernunft“, alfo den Spiegel genauer anzufehen, der ihm Welt und Leben zeigte. Diefe Unterſuchung fiel nicht befriedigend aus. Was man bisher als die Grundform alles Seins anfah, Raum und Zeit, erwies ſich als die Grundform dieſes Spiegeld und damit fiel ale Wirklichkeit auseinander und die Welt erwies ſich als Wahnite unjeres Hirns. Bon verzweifeltem Mißtrauen gegen die „reine Bernmit" eriaßt, flüchtet mum der Philofoph in die „praftifche Vernunft“, damit ie ihm erfege, was die „reine Vernunft“ ihm nicht geben lann. Eitle Hoffnung! | Die „praktiſche Vernunft“ ift ein faſt noch ſchwankerer Boden, auf dem d exit recht feinen Halt giebt. Das war das Fazit der lantiſchen Philoſophit Heute fühlt der Schöpfer eines felbftändigen foziologifch:philofophiichen Syftens wieder dad Bedurfniß, die grundlegende Frage aller Philoſophie, das erfenntnige theoretifche Problem, zu erörtern, um fein ganze Syſtem zu legitimiren. Ratzenhofers „Kritit des Intelleltes“ fol den Beweis liefern, daß feine BVeltanfhauung der Wirklihleit entfpricht und nicht einer Fata Morgana, die und durch die Beſchaffenheit unſeres Gehirns vorgefpiegelt wird. Eine ſchwere Aufgabe Hat er jich geftellt; Eins aber fann ruhig gefagt werden: | wenn wir feine „Kritik des Intellektes“ mit der „Kritik der vergleichen, merfen wir fofort, daß in dem dazwifchen Liege Darwin und andere große Naturforfcher nicht vergebens ge

Ratzenhofer beruhigt und. Die Welt ift fo, wie ı auffaßt: denn unfer Intellekt ift eben nichts Anderes alg die Welt. Die Urkraft, die im AU webt und lebt, kommt in zum Berußtfein. Zwiſchen unferem Intellelt und ber geheimnigvoller Abgrund, in dem ein unerflärhare „Di borgen ift. Gerade weil wir ein Theil der Welt find, we nicht Anderes ift als ein Stüd der Welt, und zwar ein Bewußtſein gelangtes, gerade deshalb ijt er fähig, die Wel lichkeit zu erfaffen. Nur darf er nicht „von der ſicheren Bahn abirren und ſich weder „in die Phantafien des Glaubens“ ı nunftgemäge* Spefulation über „die Weſenheit der Erſchein Denn „die PHilofophie der Vernunft“ hat gleich den Off gehalten, was fie verfprah. Ratzenhofer bleibt alfo immer Boden der naturwiſſenſchaftlichen Erfahrung, wobei er fi hält, daß „jede Wiſſenſchaft und beſonders die Philoſophie hat, von Jedermann, der gründlich gebildet ift, verftanden

Die Zulunft der Soziologie. 341

Gegenſatze zu einem „Zunftweſen, das oft feine Hohlheit der Gedanken hinter die fahmännifche Gefchraubtheit des Ausdrudes verbirgt“ und „unausgeſetzt dad Stedenpferd aller Zunftphilofophen, die Begriffskritik“ reitet.

Bon dieſem poſitiven Standpunft aus ift der Jutellekt „die einheit: liche Wirkung aller Nerveneinrichtungen im Organismus, durch die dieſer befähigt ift, Empfindungen zu erfahren und Vorftellungen zu erfaſſen.“ In ihm werden „Empfindungen mit Erinnerungen und Aſſoziationen zu Syns thefen verarbeitet, um als Gedanken das fubjeftive Spiegelbild der Außen: welt zu fein“. Doch hat die Funktionirung des Intellektes das Bewußtfein zur Borausfegung. Bei unterbrochenem Bewußtſein (durch Schlaf, Ohn- madt u. f. w.) kann der Intellekt nicht funktioniren. Das find Thatſachen der Erfahrung. Bloßes Bemußtfein (ohne Intellekt) müfjen wir überall da annehmen, wo „das charakteriftifche Merkmal des Lebens: Bewegung und Entwidelung* vorhanden ift und daher eine Anpafjung an die Lebens: bedingungen ftattfindet, wie in der ganzen Pflanzenwelt. Auch ift e3 eine Thatfache der Erfahrung, daß, „fobald in einem Organismus das Bewußt⸗ fein erwacht, es durch deffen Anlagen fo geleitet wird, daß es fich erhält und diefe Anlagen entwidelt. Diefe Richtung bewußten Lebens wird das inhärente Fnterefje genannt.“ Feder bewußte Organismus, jedes Individuum hat ein Intereſſe an feiner Erhaltung und Entwidelung. Ausnahmen find Ents artungen. Diefes inhärente Intereſſe fpielt in Ratzenhofers Philoſophie eine bedeutfame Rolle. Er verallgemeinert diefen naturwiſſenſchaftlichen Begriff fo, daß er auch „das Univerfum ohne Intereſſe als nicht vorftellbar“ erklärt; doch nimmt er es als felbftverftändlich auch überall da an, wo politifche oder ethifch fich geberdende Pruderie ſolches Intereſſe verleugnet. Als allgemeine Naturthatfahe darf diefe Grundtriebfeber alle8 bewußten Handelns eben nirgends verleugnet werden. Die Betonung und Hervorhebung diefer Natur: thatfache bedeutet namentlich auf foziologifhem Gebiet eine vollftändige Re: volution. Diefes inhärente Intereſſe beginnt feine Funktion fchon beim erften Erwachen des Bewußtſeins, denn ſchon „das erwachende Bewußtfein nimmt die Eindrüde der Umgebung fo auf, wie e8 dem angeborenen Intereſſe Das heißt: den vorhandenen Anlagen entſpricht.“ Da diefe Eindrüde (Erfahrungen) einen Beftandtheil des Intellektes bilden, ift alfo das inhärente Intereſſe an der Bildung des Intellektes betheiligt. Deshalb kann ſich „der Menſch jeines inhärenten Intereſſes gar nicht entlleiden.” Von wie weit- tragender Bedeutung diefer Satz für die Soziologie und Politif ift, braucht dem denkenden Leſer nicht erft gejagt zu werden.

Der fo, auf Grundlage des Bewußtſeins unter Hinzutritt der Er- fahrungen, unter Mitwirkung des inhärenten Intereſſes entſtandene Intellekt ift „die Fähigkeit des Bewußtfeinsorganismus, das Ich im Dafeindlampf zu

342

behaupten und zu entw

haben, vom inhärenten I

Bewußtſeinsvorgaͤnge di

fies“. Selbftverfländfic, wurzelt der Intelleft „in dem ftofflichen Wen des Ich“ und ift „ein Werk der in der Entwidelungreige wirkenden Uri‘. „Wenn der einfachfte Organismus zum Bewußtſein reif ift, fo findet en ſich bereit Anlagen formell gegeben, die das inhärente Intereſſe db & ichöpfes beftimmen. Diefe Anlagen find ein Werk der Urkcaft, die fh Br lich gruppirte“. „Se komplizirter ein Organismus ift, defto mehr a ia der Intellekt von ber untergeordneten Rebensthätigkeit auf freiere und rm gedachte Affoziationen zurüd, indem ſich zugleich daS inhärente Jutereft # höheren Mobafitäten entwidelt. Die Funktionen des Intellektes werte immer fubtiler, der Erfahrungbereih wird immer größer.“

Schon dieſe wenigen Eitate bezeugen, was ich vorhin andeutete: mährat uns die fpefulative Philofophie die Wirklichkeit konfiszirt, führt uns Rıta hofer immer tiefer in die Wirklichkeit hinein und erhellt und belendtet m ihre dunfelften Räthſel. Es ift unmöglich, in einem kurzen Radblid d die pſychologiſchen Probleme zu zeigen, auf die fein „prftiner Monti“ ein ganz neues Licht wirft. Ermähnen will ich nur nc die Konfiskation des Raumes und ber Zeit aufgehoben | ſachen der Wirklichkeit wiedergegeben hat. „Die Raumı „it nur möglich, wenn ich von Erfcheinungen außer m fie aud in mir ohne Erfahrung nicht vorausgeſetzt werde: iſt keineswegs eine Vorſtellung a priori, wie Kant urtheilt er über die Zeit. Diefe „macht fi als das Be Äußerungen nad} einander dem Menſchen jo aufbringlich unmittelbaren Erfahrungen hinreihen, um diefe Vorſte darf daher um fo weniger als angeboren oder a priori werben, ſondern ift überwiegend Gegenftand der Exfaf Erklärungen bezeichnen den Poſitivismus des Philofo) feitem Boden konkreter Erfahrungen und fogar das Den! analytifch-fynthetifche Funktion des Bewußtſeins innerl angeregt von einer Empfindung.“ Das find Erklärunge ann unb die ung zeigen, welchen Gewinn die naturwiſſ auf dem Gebiete der Philoſophie gebracht hat.

Nachdem Ratzenhofer die naturgefegliche Entwick in der Menfchheit und deſſen Verhalten gegenüber ben der Außenwelt beleuchtet hat, betrachtet er das AN un Standpunkte der Gefegmäßigfeit der Natur, ſchließlie Problem". Diefes Problem entftand nicht erft an d

Die Zulunft der Soziologie. 843

Soziologie zu treiben begann; es lebt, „feit Menfchen überhaupt Taufal denken“; „unter den verjchiedenfien Namen und Methoden wird feit je ber foziologifche Erkenntnig geſucht.“ „Wie für das Naturerfennen nad) Ueber: windung der Glaubensmacht des Mittelalter8 die einleitenden Schritte der Aftronomie zufamen, fo fteht es jegt, nach Weberwindung ber politifchen Willkür Einzelner, der Soziologie zu, die Bahn für das wiſſenſchaftliche Verſtändniß der menfchlichen Wechlelbeziehungen zu eröffnen. Wie ſich alfo im fechzehnten Jahrhundert die Fülle der Gedanfen über die kosmiſche Ordnung zujfammendrängte, fo häufte fi auch im neunzehnten Jahrhundert das Denken über die joziale Ordnung, während im zwanzigften Jahrhundert das foziale Problem im Wefentlichen gelöft fein dürfte”.

Iſt es nicht merfwärdig, daß fait zur felben Zeit Leſter Ward in Waſhington und Guſtav Ragenhofer in Wien der Zuverjicht Ausdrud geben, dag die „vielen Keinen Flüſſe in dem großen Strom der Soziologie fi vereinigen werben?" Diefe Zuverjicht fcheint mir vollfommen begründet; für jie fprechen, außer den inneren, in der bisherigen Entwidelung der Soziologie - liegenden Öründen, viele äußere, fcheinbar unbedeutende Umſtände.

Deutichland war bisher der Soziologie gegenüber fehr zurüdhaltend. Die große Zahl der Zunftphilofophen und Univerfitätprofefloren ließ es an paſſivem, oft auch recht aktivem Widerftand nicht fehlen. Während Frank—⸗ reih, Italien, Amerika und andere Länder viele foziologifche Zeitfchriften haben, gab e8 in Deutſchland bi8 zum Fahr 1902 feine einzige. ‘Jet erſt bat die Leipziger „Vierteljahrsſchrift für wiſſenſchaftliche Philofophie“, die Beofeffor Barth herausgiebt, ihrem Titel die Worte „und Soziologie” Hin= zugefügt. Ungefähr zur felben Beit wurde die der Soziologie gewidmete „Politifh:Anthropologifche Revue“ gegründet. Soziologie ift ja eine „politifch= authropologiſche“ Wiſſenſchaft. Das find zwei Heine Zeichen der Zeit. Und während die meiften Hochichullehrer an der Soziologie mit vornehmer Ge- ringſchätzung vorbeigehen und ſie am Liebften totſchweigen möchten, beweift ein jüngft von einem denkenden Drittelfchullchrer herausgegebenes Bud, daR diefe verpönte Wiſſenſchaft immer weitere Schichten zu ernflem Nachdenten anregt. Ich meine das Buch des grager Stadtfchulinfpeltors Dr. Otto Adamek über „Die wiffenfchaftliche Heranbildung von Lehrern der Geſchichte für die Öiterreichifchen Mittelfchulen.“ Dem gelehrten und jcharfiinnigen Schul⸗ manne konnten die Mängel nicht entgehen, die dem verzopiten Geſchicht⸗ unterricht unferer Mittelſchulen anhaften. Er empfiehlt eine beſſere Vor: bildung der Hiltorifer; und während er die Geſchichte als , Geſetzeswiſſenſchaft“ (al8 eine Wiffenfchaft, die allgemeine Geſetze aufzumeifen hat) betrachtet, lenkt er die Aufmerkfamfeit auf die Soziologie und fragt, ob und in welchem Umfang der Hiftor fer aus diefer neuen Wiffenfchaft fi für fein Schulanit

344 Die Zutunft.

und feine wiſſenſchaftliche Thätigleit Belehrung

an der Heutigen Soziologie Manches auszufegen hat, entfceidet er ſich doh für die „Möglichkeit und Bedeutung der Soziologie als vergleihender Typen lehre der dem menſchlichen Gemeinfchaftfeben eigenen Geftaltungen, als einer Disziplin, die dem gefchichtlihen Etudium werthvolle, ja, vielleicht höcdk nöthige Beihilfe gewährt“. Das ift ein neuer Beweis für die werbende Kraft unferer Wiflenfhaft. Wenn mir heute von Chicago (American Journal of Sociology) und Wafhington (Refter Ward) über London Herbert Spencer), Paris (Revue internationale de Sociologie und Annde sociologique), Nom (Rivista italiana di Sociologia) und Wien (Mo* -*

Bid nah Warſchau (Krzymwidi), Petersburg (Karjejew ur

und Tokio (Hiroüfi Kato) ſchweifen laſſen, dann braucht u

der Soziologie nicht bang zu fein. La Sociologia fara

Graz. - Profeſſor Ludwig

Selbftanzeigen.

Die Weltanſchauung einesmodernenRaturforfchers. D

Durch Zahrtaufende geſchleppte Schwierigfeiten, mit und verjgiedenften Denker, von Herallit, Protagoras ober Lode, Berkeley ober Kant, nicht fertig wurden, hat Mad ül weder materialiftijg-realiitiich-atomiftiihe noch fenfualiftifch- liſtiſche, weder präjtabiliftiich-offafionaliftifche noch epiphaenome weder panpſychiſtiſche noch ſynechologiſche noch jheinmoniftif aus echt und gediegen reinmoniſtiſch immanente Grundanſd allen Erfahrungsgebieten gegenüber feſtgehalten werden; ſie ringſten Aufwand, dkonomiſcher als irgend eine andere, de fammtwiffen gerecht und tritt doch eben deshalb mit der höc Sie drängt jih nicht für Gebiete auf, in denen die gangbe nod ausreichen; fie ift ftetS bereit, bei neuerlicher Erweiteru gebietes einer zutreffenberen Anſchauung zu weichen. Die Bi alte Denkgewohnheiten zu opfern, ift feine geringe. Die den Kopernifus, Bruno, Galilei geftellte Aufgabe, fi auf der S Erde, als Beobachter ſtehend zu denken, war nur eine RI Forderung, fein Ich für nichts zu achten, cs in eine vorüberg von wechjelnden Elementen aufzulöjen. Wir ſehen aber fo wir Id nennen, bei der Zeugung entitchen und durch ben Wollen wir nicht die heute ſchon abenteuerliche, durch feine | Fiktion uns erlauben, daß dieje Einheiten latent ſchon vo

Selbſtanzeigen. 345

eben fo nachher fortbeſtehen, jo können wir nur annehmen, daß es eben temporäre Einheiten find. Phyfiologiich können wir Egoiften bleiben, fo wie wir die Sonne immer wieder aufgehen jehen. Tintelleftuell muß diefe Auffaffung nicht feitge- Halten werden. WUendern wir fie verfuchsweife. Ergiebt ſich eine neue Einſicht, jo wird fie ſchließlich auch praftiihe Früchte trage. Von Natur aus madt ja der Menich fait alles Schwierige verfehrt, ob er nun, ins Wafler geworfen, ſchwimmen oder, an ein Red gehängt, turnen fol, vb er auf ein Pferd gelegt, ans Mikroſkop oder an die Drehbank geitellt wird, ob er den Biolinbogen, ein Fleuret oder ein Tennisradet in die Hand nimmt. Ohne bie großen Mobdifizirer, Finder und Lehrer, die es „anders wiſſen“, wäre fein Yortichritt; hat man aber die Schwierigkeiten einer neuen Technik überwunden, jo übertrifft man leicht die Anderen, unbelehrt Gebliebenen, wie etwa der Stenograph die fchnelliten Schreiber gewöhnlicher Schrift weit hinter fi läht. Aus der Auffaflung der Welt als eines Empfindung Komplexes ein tyrannijch alleinfeligmacdhendes Syſtem fürs Leben zu ziehen, deilen Sklaven wir unter allen Umjtänden bleiben müßten, fällt uns nit ein. Wichtig war, einen einwandfreien Standpunkt für die allge- meinfte Betrachtung zu gewinnen; im Uebrigen bleiben bei vorfihtiger Beachtung des Standpunktwechſels die wirklich werthoollen Geſichtspunkte der Spezialwiſſen⸗ Ihaften und der philojophifchen Weltbetrachtung weiter verwendbar. So wahrt ih aud der Mathematiker die Freiheit, eine vorher konſtant geſetzte Reihe von Bariablen einer Funktion nun einmal variabel werden zu laffen oder die unab⸗ hängig Variablen zu taufchen; gerade Das verihafft ihm mitunter überrajchende Anfihten. Die deftruftive Tendenz der neuen Lehre ift lediglich gegen die un- nöthigen und irreführenden Zuthaten zu unferen Begriffen gerichtet. Im Verzicht auf die Löſung felbftverfchuldeter Widerjprüche, auf die Beantwortung als finnlos erfannter Fragen Leib und Seele, Sit der Seele, Unfterblichkeit, Welt im Kopf, Apſchauungen a priori, Dinge an fih, Raumſehen durch Neproduftion- reihen, Kraft und Stoff, Weltentftehungen und Weltvergehungen, Allbejeeltheit, Gott und Welt, Willensfreiheit, Verantwortlichkeit und Sünde, Molelular- Theorien, Atomiftit der Atome, Mecaniftif der Organismen liegt feine Nefignation, jondern der Menge des wirklich Erforſchbaren gegenfiber das einzig vernünftige Verhalten des Forſchers. Kein Phyſiker wird heute, wenn er das perpetuum mobile nicht mehr fucht, fein Mathematiker, wenn er um die Qua: dratur des Cirkels oder um bie Löſung der Gleichungen fünften Grades in ge- Tchlofjener Form fih nicht mehr bemüht, darin NRefignation fehen wollen; Kos— mogonien, die zu ihrem Inhalt Spekulationen über den Urjprung des Weltalls als eines abioluten Ganzen Haben, find nothwendig abjurd, denn wo Jemand, das Geſetz von der Erhaltung der Energie profruftig mißbrauchend, außerhalb de8 Bezuges der Elemente über das Auftauchen der Naturerfcheinungen vor oder zurüd prophezeien will, gleicht er dem Adler, der fich über die Atmoſphäre hinaus emporſchwingen will, die ihn doch trägt. Die Probleme werden gelöit, als 1d3bar, unlösbar oder als nichtig erfannt; es giebt wifjenfchaftlich Feine „Welträthſel“. Das Ziel der wiſſenſchaftlichen Wirthichaft ift ein möglichjt voll» ftändiges, zuſammenhängendes, einheitliches, ruhiges, durch neue Vorkommniſſe feiner bedeutenden Störung ausgefegtes Weltbild, ein Weltbild von möglichiter Stabilität. Der fünjtleriichen Anſchauung und Geftaltung ftehen nach wie vor

846

zum Wunderreich der Ph

bebeutungvollften Traur............ - man fidh zu ergöplic, bewußter Selbfttäufgung tummeln und in erfrenliden Reichthum mit allen irgendwie werthvollen Denkmöglichfeiten illufioniic ipieen.

Bien. Dr. Theobor Beer. s

Kampfgenoffe Sudermann. Verlag der Zukunft. Preis: 50 Pfennig Die Artikel find in der „Zukunft“ erichienen; jetzt find fie, auf vielich

geäußerten Wunſch, gefammelt worden; auch ein paar Anmerkungen famen hin

Vielleicht dringt die Brodure, die nur eine halbe Mark Loftet, in Schichten, denci

die Wahrheit über den Fall Sudermann bisher verſchwiegen wurde. Die Leiırn

bes Berliner Tageblattes fie find Alle, Ale ehrenwerth haben ſich biein

Wahrheit entgegengeftemmt: nicht ein Wortchen ift durchgeſickert; umb bie Firna

Cotta hat fi, nad} einigem Zögern, entſchloſſen, die von ihrem (im Sinn Sw

1088) „beiten“ Autor geleifteten Verleumdungen zu vertreiben. Geantwont

hat Herr Sudermann mir nit; aud feinem Underen Er hat mid ma

einer von ihm mit den gröbften Schimpfreben begonnenen Literarijchen Fehde -

der Staatsanwaltſchaft denungirt, ift natürlich in allen Anftanzen abgr

wiefen worben und feine Freunde erzählten dann in ber Preffe, er habe de

Privatflage eingebradt; bis heute (bis zum dreiundzwanzigſten Februar) ift mz

bavon nichts Anıtliches befannt geworben. Ich weiß nur Ant Kater Gämnir

für bie Freiheit der Literatur“ felbft zum Staatsanwalt e

feines Wortes ihn gegen meine Roheit aufzurufen. Wenn e

durchgeſetzt hätte, wäre er vielleicht in eigener Sade zum

Hinzufügen möchte ich dem früher Gefagten jet nichts.

tragtungen“ des Herrn Sudermann find nicht werthvoll

und Paujchalbefhimpfungen; er entftellt das Wefen mob

mit nicht geringerer Dreiftigkeit als die Geftalten der fei

Was foll man dazu fagen, daß er, defien Jahresziel jebei

tung des Saifonartifels ift, gegen ben Unfug der „Zugftäck

mal und darüber“ aufgeführt werben? Was zu feinem H

Schidjal der totgeihlagenen jungen Dichter, deren Name

oder zu ber feden Behauptung, „die Neneinftubirungen

ganz unrettbar fritifcher Bösartigfeit zum Opfer“? Gold

der Widerlegung. Der ehrliche Mann rühmt fi) am Schli

der „unzähligen Beweiſe theilneßmender Zuftimmung*, I

und Prefie „ins Haus gekommen find.“ Du lieber Him

gefähr zweihundert Briefe erhalten, deren Schreiber mir z

als Bretterherrf—her und Tageblattheld, die weiter bröhr

aber ift damit bewieſen? Selbft der Kleine Napoleon 5

auf fo ſchmalen Grund geftellt. Uebrigens glaube id} nic

Stimmen, bie in der Vreſſe den Ruhm des Peliden gefur

den ihn verbammenden Urtheilen ber größten Blätter un

richtungen konnte ich einen breiten Schweinslederband

kawaſſen und einzelnen erfolglos um die Theatergunſt

Gelbftanzeigen. 347

irgendwo ein halbwegs ernſt zu Nehmender ihn gelobt. Selbſt die Freunde ſchüttelten den Kopf und fragten, ob der Arme denn jedes Augenmaß, jede Diſtanz zu der eigenen Leiſtung eingebüßt habe. Ihre Sorge war nicht grund⸗ los; die That und der Thäter find wirklich ſchwer zu verſtehen. Herr Suder⸗ mann wollte ehrlich fein und jündigte gegen die einfachiter! Fibelgebote menjch- lichen und literarifhen Anftandes. Er wollte ſachlich fein und ballte bie Schimpfs wörter zu Schmutzklümpchen. Er wollte zeigen, wie hoch der „Schaffende“ über dein nur Keitifirenden fteht, und bewies, daß man im Rampenlicht dem Maſſen⸗ geſchmack höchlich gefallen und boch unfähig jein kann, einen Stoff, jogar einen, der feinem Leben den bürftigen inhalt giebt, wirkſam zu geftalten, unfähig, einen guten Durchſchnittsartikel zu jchreiben. Die Siegerpoje darf er natürlic) nicht aufgeben. Durch feine Peroration Elang aber ein Ton wehmüthiger Reue. Er ijt zu fchlau, um nicht zu fühlen, daß er fich eine jchmerzende Schlappe ge- holt hat; „ber alte Reſpekt ift eben fort‘, felbft Derer, die von Theaterzetteln Literaturgefchichte ablejen. Er, gerade er durfte nach fo vielen Nachterfolgen nicht am hellen Tag zu einer Befthtigung jeined Waarenhaufes laden.

Noch eine Probe feiner Eitirkunft. Der nad ſtaatsanwaltſchaftlichem Beiftand lechzende Repräſentent des berliner Goethebundes fchreibt, nachdem er allerlei unfreundliche Beipredhungen von Werken der Herren Fulda, Sudermann, Ernit, Blumenthal, Kadelburg, Philippi mehr oder minder richtig angeführt hat: „Bor mir liegt ein Notizblatt, auf dem gejchrieben fteht: ‚So wird, wer flor fieht und billig denft, Dasjenige, was ihnen gelungen ift, mit Ehrfurcht be wundern und Das, was ihnen mißlang, anftänbig bedauern.‘ Goethe: Ferneres über Deutiche Literatur.” Ehrfürchtig bewundern aljo oder anitändig bedauern follen wir, was den Schaffenden Fulda, Sudermann, Ernft, Blumenthal, Kadel⸗ burg, Philippi gelang und mißlang. Das fordert Goethe vom Kritiker. Ich ſchlage die Stelle auf. Das fordert Goethe wirklich; nur: für „die beften Teut- chen diefes Kahrhunderts. Die Worte ftehen unmittelbar vor dem Komma, binter dem Herr Sudermann zu eitiren anfängt. Das ift die unanftändigite Art,einen Großen für fid) zeugen zu laſſen. Vielleicht aber einpfindet Herr Suder⸗ mann an diefer Stelle nicht einmal, daß er fäljcht. Vielleicht hält er ſich und feine Blumenthal und Philippi wirklich für „die beften Deutfchen diefes Jahrhunderts”.

... Ehe er noch zum lebten Streich ausholte, wurde die Statiftik bes vorigen Theaterjahres veröffentlidt. Da war zu lejen, der meiftgefpielte deutfche Dramatiker ſei Herr Sudermann gewefen; erjt Binter ihm kam Schiller, der aljo, troßdem die Klafjifer „ganz unrettbar kritiſcher Bösartigfeit zum Opfer fallen“, noch immer eine recht jtattliche Aufführungzahl erreicht Hat. Um breißig Abende noch ift ihm aber Herr Hermann Sudermann voraus. Stärker als die fünf langweiligen, ſchlecht ftilifirten Scheltepifteln des moffifchen Apoſtels follte diefe beglaubigte Thatfadde wirken. Denn fie beweift, daß die deutſche Theater: kritik nicht mit der Kraft und dem Eifer, die der nah Kunftkultur Yangende fordern darf, gethan hat, was die Pflicht ihr befahl.

Marimilian Harden.

318 Die Zutun

Augufte &

Bremse und Seelenftiimmung der Gegenwart auszubrüden fe meint man —, fei unter allen Künften die Bildhauerei am Wenigfin berufen. Sie fei im Grumde eine zeitfremde Kunſt. Alles widerſtrebe ik in unferem Leben: die reizlofe Nüchternheit feiner äußeren Erfcheinung, Be: tümmerung und Entftellung unferes Körper3 durch naturfernes Leben un haßliche Kleiderhullen, die weder Kenntniß noch eindringende Theilnahme ı der Darftellung des Menfcenleibes auftommen laffen. Im inneren Rebe herrſcht ruheloſes Suden und Ringen, Haft und Leidenſchaft, der volle eye: fag zu jener Gröge und Stille, die in der Hut einer feſten Weltanſchauug eine3 völferumfpannenden Glaubens reift und in der jene Ideale wadie. für die das Marmorbild in feiner Reinheit, feinen gewicht der natürliche Ausdrud ift. Die ſtärkſten unfe ſcheinen überhaupt jedes feften Umriſſes zu entbehren zu müffen. Sie finden ihren natürlichen Ausdrud dahe: Tönen und dichteriſcher Rede, allenfalls noch in be Malers, aber nicht in den firengen Formen der Plafti

So ſcheint es. Und dennoch ift gerade jegt um lern ein Bildhauer erftanden, der den Menfchenleib in vor daS erftaunte Auge wie eine neue Entdeckung hinf ftellung des nadten Korpers fehmelgt und gerade ihn gährenden Gefühle: und Fdeenwelt umzufcaffen gem Gemüthe feines Voltes nach Geftaltung ringt.

Dan hat Rodin mit Wagner verglichen. Mi der Beitgenoffen fpricht die Seele feines eigenen Bolt Gewalt. Leben und Reichthum feines ungemeffenen Sc dabei, alle Dämme zu überfluthen, von denen wir bi hauerifcher Kunft eingehegt glaubten.

Auch Das freilich Hat Rodin mit Wagner gem Berfe beim Bekanntwerden vom Publikum und nid

*) Zum zweiten Mal ift das, Jahrbuch der bildende Herr Mar Marterfteig, unter Mitwirkung des HerrnGeheimre herausgiebt. Der Inhalt ift Diesmal noch reicher, die Auswı Kunftbeilagen und Illuſtrationen nod feiner und ſorgſam der hier empfohlen wurde. Das würbig ausgeftattete, feiner Bud), das auch überalle Gefchäftsgebieteder Kunft und des Ku Auskunft giebt, muß jeder Unbefangene loben. Als eine „Zukunft“ bie Studie willlommenjem, inder Herr Geheimrat dresdener Skulpturenfammlung, das Lebenswert Rodins b

Augufte Rodin. 319

allen wohlgejinnten Fachgenoſſen mit ftärmijcher Entrüftung begrüßt wurde. Co erging es fhon dem Vierundzwanzigjährigen in feiner Baterftabt Paris, als er 1864 die Maske eines Italiener zur Ausftellung anmeldete. Es ift die fpäter unter dem Namen de8 homme au nez cassé berühmt ge= wordene Bronze. Sie wurde von der Jury de8 Salons zurüdgemiejen. Allerdings mag fie in ihrer ehrlichen Häßlichkeit und dDonatellesfen Größe ſich auch feltfam genug neben den afiiziftifch glatten Erzeugnifien jener Zeit aus⸗ genommen haben. Man kann jich hiernach ungefähr die Empfindungen ausmalen, mit denen Robin um des Brotermwerb3 willen während der nächſten fünf Jahre gerade einem der Modemeifter des zmeiten Kaiſerreichs, Carrier-Belleufe, bei der Herftellung feiner weiblichen Nüditäten helfen mußte. Der Krieg von 1870 nöthigt ihn dann zur Ueberfiedelung nach Belgien. Dort lehren ihn Arbeiten an der brüffeler Börſe die Wirkung plaftifcher Gebilde in freier Luft fennen. Hier empfängt er auch tiefe Eindrüde von Rubens und, was beſonders bezeichnend ift, von Rembrandt. Bei feiner Ruckkehr in die Heimath bringt er al3 Ergebniß Jahre langer Studien fein Statuenmodell des fpäter im Garten des Luxembourg aufgeftellten „Ehernen Zeitalter" zurüd.

Nadt fteht der „Urmenfch* da, die Rechte auf das Haupt legend, das ih mit gefchloffenen Augen müde zurüdiehnt, als erwache er eben aus dem Schlummer der Natur zu fchmerzlih neuem Leben. Die Kinte ftügte fich urjprünglich auf eine Lanze. Rodin hat jedoch nachträglich dieſes jehr be- zeichnende und zum Verſtändniß von Handhaltung und Stand eigentlich un⸗ entbehrliche Abzeichen wieder entfernt.‘ „Primitivement je luis avais mis une lance; mais cela empe6chait de voir les profils“, fchrieb er hier- über, als e8 ji) um die Aufftellung "eine Gipsabguffes der Statue in Dresden handelte. Man jieht, was ihm das Wichtigfte an dem Kunſtwerk iſt.

In der That, was diefe Umriffe umfchreiben, ift ein neues Wunder der Kunſt: ein fchlanker, jugendlid, ſchmiegſamer Menfchenleib von einem fo reichen organifchen Leben, einem fo fein belebten Muskelſpiel, einer folchen Wahrheit der Hautoberfläche, daß jo nur die Natur felbit ſprechen zu können ſchien. Höhnende Urtheile, die auch diefes Werk auf der Ausftellung von 1877 empfingen, ſprachen von „Naturabguß“. E8 war eben die felbe Um— wälzung, die jelbe Neuentdeckung der leiblihen Form und de Erzftils, die in feiner Weife einft Lyſipp für die Antike vollbrachte und die wir jeßt noch vor feinem „Schaber” nachfühlen können.

Was an Roding 1881 entftandenem „Johannes“ zunächſt auffällt, ift das Fehlen jeder ftiliiirenden Konſtruktion. Wir find von der römijchen Kopiftenkunft her gewöhnt, den menjchlichen Körper in einem Aufbau größe- rer, nach der Bequemlichkeit der Steintechnik vereinfachter Flächen zu fehen, die fich deutlich gegen einander abfegen. Hier ift nichts von Alledem. Es

Die r in feinen Gelenken beweglich: . Dan fieht, wie bie einzelnen [ umter der Haut arbeiten; man beobachtet, wie dieſe ſich über den Ge 1 glatt fpannt, die Muskeln ftraff Aberzieht, die Weichtheile fanft ru Dan glaubt, unter dem gleitenden Lichterſpiel der Erzoberfläde da ngebräunten Xeib fich bewegen zu fehen. Welche Wucht des Schreiten efen voll aufgefegten Fußſohlen! So geht der „Vorläufer“ wir durd ahrtaufende ber Geſchichte mit ehernen Tritten daher. Das Haar fält den ſtenprediger“ wire über den Scheitel und bie niedrige Stirn; mit eine

Afchen Geberde des Daumens weift er auf Den Hin, „ber da fomma |

während bie Linke, die urfprünglid wohl ein Rohrkreuz hielt, de de Bewegung pendelnd begleitet. In den mit Kunſtwerken gefüllte nen des Rurembourg:Mufeums wirkt biefe Kraftgeſtalt wie ein Bin Invelt, da8 hier mit dröhnenden Schritten durch all ben Kleinen Kult der Gegenwart dahinfchreitet.

Die durchgeführten Modelftudien des „Urmenfchen“ und des Johann‘ ı den Grund zu Rodins Meifterfchaft im Nadten. Eine Reife u »oller Größe aufgefaßter Charakterköpfe aus feinem Freundeskreiſe, vom hauen, Malern und Politikern, führte ihn weiter, auf die Höhen dr malskunſt. Ich nenne die Büften von Dalou, Falguiere, Raurend, 8 de Chavannes, Rochefort. Einige von diefen Köpfen nehmen fih ir That faft wie Barftudien zu Rodins umfangreichftem M--'—-1 -— im tgern von Calais“.

Als ſich Calais im Jahre 1347 nach elfmonatigı heidigung Eduard dem Dritten von England ergeber feh8 vornehme Bürger der Stadt dem Sieger als ( ten, nad dem Bericht de8 Chroniften Froiſſart, ind äuptig und barfüßig, in Bußerhemden, den Strang üffel von Burg und Stadt in ben Händen, „damit an n Willen thue“. So hat Rodin die Sechs auf ihre t. So follten fie auch nad feiner Abſicht auf einer voden fich erhebenden Blode unmittelbar vor dem Stab eftellt werden, von dem aus jene Bürger einft ihren tol ıten. Adminiſtrative Weisheit hat die Erzbilder auf ei auf das übliche überhohe Poſtament hinauf verwiefen der Führer diefer Meinen Schaar feften Schrittes de Schlüffel der Stadt mit beiden Händen umklammernd geben ſich völig ihren Empfindungen hin, hier in in lebhaften Zwiegeſpräch. Einer von ihnen fhlägt i Verzweiflung beide Arme über das gefenfte Haupt.

Augufte Rodin. 351

Borderanficht faft ganz von der hochaufgerichteten Gejtalt des Schlüffelträgers gededt. DBezeichnend iſt für die Anordnung des Denkmals überhaupt, daß e3 feine leicht zu überblidende Geſammtanſicht geben will; wie follten die Sechs in ihrer Todesnoth auch dazu fommen, fich zu einer mohlgeorbneten Gruppe zufammenzufchliegen? Es find tiefergreifende feelifche Einzelbilder des Jammers und der Todesangft, die nur das gemeinfame Schidfal zu: fammenhält. Man hat bei diefem Werk fehr treffend an die mittelalterlichen Paffiongruppen erinnert. In der That hat Rodin von gothifcher Bild: bauerei tiefe Eindrüde empfangen. Und doch kommt Auffaffung und Einzel: form ganz aus des Künftler Seele. Das gilt auch von dem Gewandſiil. der Wahrheit und Größe in ſeltener Weiſe vereinigt.

Rodins Biograph Maillard erzählt, wie der Künftler einft verfucht habe, feine nadten Modellftatuen der Bürger von Calais, dem Bericht des Chroniften gemäß, mit groben Säden zu befleiden, und nun mit Entzäden vor den großen lichtfangenden Flächen der Gewandung dageftanden habe, bie fi) hieraus ergaben. Er habe ſich aber auch gleich gefagt, daß Fein Denk: malsausſchuß Derartige je durchgehen laſſen würde. Die fünftlerifche Er- fahrung jedoch, die der Bildhauer hier aus der Anſchauung einfacher Gewand- mafjen gewonnen hatte, machte er jich fünf Jahre fpäter nugbar, als es galt, feine Balzacitatue mit der gefchichtlichen Dominikanerkutte zu beffeiden. Aller- dings hatte Das den von ihm vorausgefehenen Erfolg, daß das Standbild von den Beftellern zurücdgewiefen wurde. Wer aber je das lömwenmähnige Koloffalhaupt des Dichter8 allein gefehen Kat, Der mag ſich fragen, ob jene ſchlichten Gewandflächen nicht doch das befte Mittel waren, um die Blide fofort zu dem herrfchenden Antlig hinaufzuleiten, in deffen überlegenen Zügen Nodin das Weien des großen Menſchenbeobachters zu verkörpern fuchte.

Erfolgreicher al8 mit feinem Balzac war Rodin mit dem Denkmal Victor Hugos. Zwar fcheiterte auch hier die erſte Beſtellung für eine der Niichen des Pantheon an „Berbefierungen‘‘, bie das Komitee an ber Gruppe vornehmen wollte. Zum Glüd aber ficherte eine Staatöbeftellung die Aus: führung des Werkes für den Zurembourg- Part. So wird man denn bald unter deflen fehattigen Bäumen die koloſſale Marmorgeftalt des halbnadten Dichterheros auf einem Felfen thronend erbliden, das Haupt in tiefem Sinnen aufgeftügt, die Linke mit einer großen Geberde ausgeredt, als beſchwöre er die Wogen des Meeres oder die Menfchenftimmen, die aus der Tiefe zu ihm herauftönen. Ein nadtes Weib, die Muſe der Rache, fcheint, herbeifchwebend, ihm zomige Worte ind Ohr zu raumen. Hinter ihm aber birgt fid) die „Innere Stimme“, die zu feiner Seele redet. Das Ganze giebt ein Bild innerlich gefteigerten Daſeins. Es ift eins von den wenigen wirklichen Dichter: denfmalen, von dem Etwas wie eine erhöhte Stimmung ausgeht. Man fühlt,

352

da des Bildhauers tuoſen Wirklichleit⸗ Von Rodins Kuſſes“ vielleicht di Werke zu geben ver: Leiber in engfter Um geichloffenem Umriß verfchleierte Behand: fat zum Traumbild werfe, die einen fo : reinen Zufammenklaı Eine zweite föftliche ling‘ genannt hat, i Körpers, der dem wirkt aber im Aufbai mäßig, wie denn die! Reliefwerl, der „Hol Die Reliefkun maleriſche Zug feiner voll außfeben. Ein Fußgeſtell des Denkm muß es im Original der hydratötende Got dortritt, um zu glaul doch ift diefes Relief gegengefegtem Sinne, war. Denn hier ift nenden Korn an Ric Lichtquelle: Das ift « Die mit Relie thores“ find freilich r guß beſtimmt. Sie | striels fhmüden. 2 unternommenen Reife von Michelangelos aber ftammen fie woh Künftlers felbft. Es haften, des Genuffet zu geftalten. In Hein Ausdrud verliehen.

Augufte Rodin. 353

Schmerz über ihr endlos vergebliches Mühen auf das geborfiene Waſſergefäß hingeworfen; feine Karyatide bricht unter der Laſt ihres Steinblodes zufammen ; ‚eine Eva, die urfprünglid für die Bekrönung des Höllenthores erfunden war, birgt ihr Antlis fehaudernd in den Armen, um nicht hinab bliden zu müſſen in ben Abgrund der Dual, der fi vor ihren Füßen aufthut. Später. blieb diefe Geftalt mit dem Adam, der ihr zur Seite ftehen follte, weg. Ten Plag des Paares auf dem Thärfturz der Höllenpforte nehmen die drei „Ver: zweifelnden“ ein, die mit ihren Armen in die Tiefe hinabdeuten, die plaftifchen Gegenbilder jener berühmten Inſchrift, die den Eintretenden mahnt, alle Hoffnung fahren zu laffen. Unter ihnen, inmitten des oberen Quer— feldes der Thür, thront Dante, nicht in der üblihen Tracht, ſondern als nadte Geſtalt zum Typus des „Denkers“ gefteigert und ſchon durch den größeren Maßſtab die Umgebung weit überragend. Er ſitzt gebeugt da, wie in fi zufammengeframpft, mit der ganzen Macht feiner Seele m die Er: gründung des Welträthfeld vertieft. Um ihn toft das Gewühl der unfeligen Schatten hinab, herauf an Flügeln und Gewänden der Thür, von dem Dampf der Hölle umfchwält, Hetternd, ſchwebend, Tliegend, flürzend, aus Kläften hervorragend und in Felslöchern fich verkriechend —, ein unendliches, überquellende8 Gewimmel. Ganz unten fieht man auf dem linken Thür- flügel Ugolino, in äußerfter Ermattung, auf allen Vieren über feine fterben- den Kinder wie über hungriges Gewürm hinkriechen. Darunter Francesca da Rimini mit ihrem Geliebten Paolo Malateſta. Wie das Liebespaar bier im Wirbelwind Freifend umhergetrieben wird, wie der Jüngling fi in feinem Sammer über die Geliebte geworfen hat: Das ift in Form und Be- wegung, Leben und Stimmung ein echte Stüd der, Kunft Rodins.

Er hat einmal eine rielige Hand gebildet. Sie hält einen Klumpen Thon umfaßt, aus dem es von Menfchenbildern aufquillt. Es fol die Hand des Weltenfchöpfers fein. Uns aber gemahnt fie an bie gemaltige Geſtaltungskraft des Künftlers felbit, vor deffen Schaffen dem Befchauer zu Muthe wird, al3 fände er einem Theil jener Macht gegenüber, die aus dem Erdinnern die Füle der Geftalten in ewigem Wechfel herauffendet. Zu: gleich aber erinnert ein Rüdblid auf das Lebenswerk unferes Bildhaners auch an Das, was ihm verfagt blieb: die Größe der Echlichtheit und Stille. Doch was ihm fehlt, fehlt der Zeit. Es ift unfer Mangel.

Zweifellos ift Roding Kunſt in ihrer Richtung ein Letztes, Aeußerſtes, nicht mehr zu Ueberbietendes. Sie wird, wenn fie Nachfolger findet, gerade wegen ihrer Größe der Bildhauerei Frankreichs eben fo „zum Echidfal werden“, wie e8 einft Michelangelo der Kunſt feines Landes wurde. Wehe jeinen Nahahmern!

Dresden. Profeffor Dr. Georg Treu.

5 27

351 Die Zukunft.

Lieder auf einer alten Saute.*)

I.

Es macht ihn durchaufß vergnügt, dat es ſchon Caetare ik. Ode Jambica. 1. 2.

Das Eyß hat auß gekracht, Der lukkre Schnee zerrinnt, Printz Febus wihder lacht. ſanfft weht ein Weſten⸗Wind, Der Tau⸗beſprüzzte Anger durch Kräuttergen und Gräsgen geht wihder Blühmcken⸗ſchwanger. kukkt ſchon das Oſter⸗Häsgen.

3. In Nichts wie Sonnen⸗Schein tünck ich die Fehder eyn. Itzt noch ein kleynes Weilgen und alles ſteht voll Veilgen!

Il. Er fpassirt durch den Morgen. Ode Jambica.

1. 3. Bott Eol lihß feyn Blahfen, Durh Tulpen und Meliffen, auff neu bedhautem Wahſen durch Tautter £uft-Narziffen Aurora dantzt und lacht, ftapfft Star, der Pauren-Knoll; im Pufch auf fihben Röhren die Amfteln ſchreyn und fpringen, funt man eyn Singen böhren ı die naflen Fröſchgens fingen, die gantze lihbe Nacht. Frau Venus küſſt wie toll.

2. 4. Durchs Garten⸗Gitter ſtaunen Idhtzt geht mit ſeynen Muhmen die Bokks⸗gefühßten Faunen, Apoll, auß Bifem-Bluhmen ſie müſſen durchauß ſehn bey alſo ſchöner Zeit die Silber-Spring Cyſterne, | ih Pindus-Kränbgens binden; drümb Blöhmeens, Fleyn wie Sterne, | ih kan mid faum noch finden nicht ohne Anmuht jtebn. für jo vihl Lihbligkeit!

| |

IH. Es verdreuft ihm! Ode Trocaica.

U. Enlpen blühen und Narzijjen, Tellus ftifft ihr Bochzeit-Kijfen. Kleyne blane Deilgens drin machen, daß ich frölig bin.

Klüffernd mit den aöldneu _

7

fpringen bundte Sihgen-Bört Datter Pan, der auch darb blähft auf feiner Dideldume

*, Die Buchausgabe, zehn Bogen ftarf, ericheint im März.

Lieder auf einer alten Laute. 355

-

Os

Unter einem Rohſen-Wölckgen

4. | Barffen-zupffen, Sauten-fchlagen

buhlt im Baum ein Dogel-Döldyen. , tft it rächt mein Wohlbehagen.

Mars in Waffen, Denus nakkt, beyde danten drümb im Takkt.

| Dihß nur macht mihr vihl Derdruß, | daß ich eintel fchlaffen muß!

IV.

Er zürnt dem Eat». Ode Jambica.

L. Dihß iſt die fchönjte Zeit: das lihbe Lufft⸗Volck fchreyt, ſanfft raufcht der filbre Bad die Deilgens wach. 2. Den fühßen Hyazint mwihgt weich ein Weſten-Wind, ver Tau, der Bluhmen-Mann, händt Bärldens dran. 3. Don Kwendel, Klee und Poll ift jedes Blätzgen voll, Dorant und Suturey jeynd and) darbey.

4. Frau Flora fingt und geigt. Der ſaure Cato fchweigt; wie Wax bleibt fein Geficht, er drauf fich nicht.

Yo Du lang geöhrter Dropff, Du grohber Efels-Kopff, willjtn it ganz allein nicht frölig jeyn?

6. Wirff in den diffen Klee die diffre Dorile! Gläubſtu, du thummpes hier, fie ſträubt jich dihr?

V.

Er hört mit ihr den Gukguk ſchreyn. Ode Jambo-Trodauica.

l. Griſillgen, weißtu waß? Kom mit mihr in das Graf.

Im Bayn blüht lenaft der Flihder,

die Sröfchgens bupffen wibder.

Denus nnd ihr Pleynes Söbngen pflükken fihb da Taufendfchöngen. Ah, nun ift die göldne Seit börftu, wie der Gukguk fihreyt?

7 [X

Srijillgen, weißtu waß?

Itzt wünſcht ich dihß und day. Sih, wie fih meine Sihgen

ümb deine Schäffgens ſchmihgen. Zwiſchen Kwendel, über Kwekken

taften dort verbuhlt zwo Schneffen.

Ad, nun ift die göldne Zeit

Ie ı Grijillgen, weißtu waß? „Nein, nicht doch, Dafnis, laß! ‚for jo ein Bihnen-Kröpffgen it nicht mein Honig-Döpffgen! Müßt ich nicht durch ſolch Benähmen mich vor meinen Sıhäffgens ſchähmen? Drüff mihr nicht mein Daffet-Kleid horch doch, wie der Gukguk ſchreyt!“ | 4 Grijillgen, waß ift Daß? Dein Hühtgen glüzzt gant naß! „Kind träuffelt feynen Segen eyn lihber Sonnen-NRegen!” Flinck in jenes Rofen-Läubgen ! Ich der Tänber, du das Täubgen! Ah, nun ift die göldne Zeit

borch blohß, wie der Gukguk fchreyt! |nein, wie blohf der Gukguk fchreyt!

27°

356 Die Inkunft.

v1. Er Hagt, Sat der Srühling jo fort blübt. Ode Trochaica.

La}

L. 2, Kleyne Blubmen, wie aus Glaß, Gelb und rofa, rotb und bier. jeh ih gar zu gerne, ſchoön find auch die weißen. durch das thunkel-grüne Graß Trittmadam und Bimmelsthun, fuffen fie wie Sterne. | wie ſie alle beißen.

7 Kom und gib mibr mittendrin Küßckens ohnbemeſſen. Morgen ſind ſie lengſt darhin und wir felbjt - vergeffen!

VII. Er läfzt nie ſeyn Maul hängen! Ode Jambica.

1. Je Wohrzu melancholiren? Sordan dritt fhwebr an Trauben Schnell läufft die fühle Seit. Ä Dertumnus auff den Blahn, Die Amſteln drompettiren dan Pan ich kaum noch glauben des Majus Kihblichkeit. an Charons Wakkel⸗Kahn. Die bundten Gräsgens blinden, Dan lihb ich es zu ſchweiffen, ftill Taufcbt die Frühlings- frau, dan macht mid) frohen Sinns die Sonnen-Pferde drinden das angenehme Pfeiffen tt nichts wie Hectar-Tban. ' der Öranmets-Dögeldins.

2. | 4. Bald brännt des Hunds-Sterus Bizjze,, Panduren und Krabaten! dan tjt mibr mehr alß wohl, Zurletzt ftapfft Niklas an! dan jpannt der Pleyne Schizze ' Der Teuffel fol Den brabten, nach mihr feyn Mord-Bijtohl. « der Den nicht leiden kan! Im ſchlaff-geſunden Kimmel | Die Kindgens jubiliren, lihgt man dan gern zu Zween, wies dranfen ftihbt und ſchneyt indeg am blauen Himmel ' laßt Andre grillifiren, die weißen Schäffgens gehn. : ich bün for Beiterfeit!

Milmersdorf. Arne Bol;

Mutterſchaftkaſſen. 357

Mutterſchaftkaſſen.

Sicht mehr die Charitas, die barmherzige Menſchenliebe, ſondern das ſtarke

b und ſich ſtark durchſetzende Gefühl der Verpflichtung zur Gerechtigkeit iſt heute in unſerem ſozialen Leben die herrſchende Macht. Gleich berechtigt Alles, was Menſchenantlitz trägt: aus dieſer immanenten, wenn auch nicht überall mit gleicher Klarheit ins Bewußtſein gebrungenen Erkenntniß und den ſich unab⸗ weisbar daraus ergebenden Forderungen iſt Alles erwachſen, was wir an ſozialer Fürſorge und an fürſorglichen Geſetzesvorſchriften haben. Nicht leicht haben ſich Gefühl und Forderung durchgeſetzt. Die Fürſorge heiſchenden Maſſen müſſen ihrer Forderung den nöthigen Nachdruck zu verleihen, ſie der Einſicht und dem guten Willen der herrſchenden Volksklaſſen näher zu bringen im Stande ſein; und aus den Berhältnifien ſelbſt muß dieſe Forderung mit zwingender Gewalt hervordrängen. Wo aber wären dieſe Bedingungen beijer erfüllt als auf dem heiligen Boden der Mutterjchaft?

Die Erlaubnip, Geburthilfe oder Wocenpflege zu leiten, giebt der Staat nur Denen, die eine ahgemejjene Lehrzeit durchgemacht haben und von berufenen Inſtanzen geprüft worden jind. Dabei könnten wir uns beruhigen, wenn allen Schichten des Volkes die Möglichkeit gegeben wäre, aus diejen fanitären Bor: ihriften Nußen zu ziehen. Leider iſts nicht fo. Während die Beligenden Alles aufbieten, um den Wöchnerinnen bie ſchwere Zeit zu erleichtern, fie vor allen ſchlimmen Folgen des Wochenbettes nach Kräften zu bewahren und ihnen raſch wieder zu Kräften zu helfen, zeigt ein Blid auf das Leben der Handarbeiter uns ein anderes Bild. Die Reichsftatiftil von 1899 über die Syabrifarbeit ver- heiratheter Frauen bat 229000 in Fabriken thätige VBerheirathete ergeben. Von 154000 1895 ermittelten hausinduſtriellen Arbeiterinnen waren 35000 ver: beirathete rauen. Bon den 2400 000 landwirthichaftlihen Arbeiterinnen waren faft 600000 verheirathet. Dazu kommen Taujende von Putz⸗ und Scheuerfrauen, Waſchfrauen, Hunderttaufende, Millionen von Ehefrauen Heiner Handwerker, Arbeiter, Eleiner Beamten, Krämer, Kleinbäuerinnen u. |. w., die, ohne außer- häusliche gewerbliche YUrbeit zu Erwerbszwecken zu verrichten, mit ſchwerer Haus- arbeit oder gewerblicher Yilfsarbeit überlaftet find und der kritiſchen Zeit des Wocenbettes kaum minder ſchutzlos und gefährdet gegenüberftehen als die Million in Gewerbe und Landwirthichaft thätiger Ehefrauen. In gewiſſem Sinn haben die tyabrifarbeiterinnen vor ihren Schweftern ſogar Etwas voraus. Die Gefeßgebung der europäiihen Kulturländer ınit alleiniger Ausnahme der Schweiz kennt zwar einen Schuß der Schwangeren überhaupt nicht; Dänemark hat einen folchen für die vier Woden vor der Kicderfunft eingeführt. Dagegen ift den Wöchnerinnen eine Schußzeit von vier oder ſechs Wochen und in Deutfchland für diefe Zeit das ortsüb- liche Krankengeld zugebilligt. Das iſt freilich mit der Hälfte des Lohnſatzes fo gering bemeilen, daß es nicht einmal für die laufenden, gejchweige denn für die in dieſer Zeit erhöhten Aufwendungen genügt; vielfach Hat ſich denn auch der Braud) singebürgert, ſchon vor Ablauf der vierten Woche die Arbeit wieder aufzunehmen »der auf allerlei Umwegen ſich Arbeit zu verfchaffen. Nicht vergejlen darf werden, die Jabrifarbeiterin dem Akt der Geburt mit einem durch anjtrengenbe und

358 Die Zukunft.

nit jelten direkt gejundheitfchädliche Arbeit zermürbten Körper entgegmgek und ſich weniger leicht und raſch erholen kann als bie gut genährte und ca jo verpflegte Frau aus den „befleren Ständen“. Und das hier Gefagte gilt alle vorhin aufgezählten Kategorien. Sie nehmen mandmal ſchon am re, gewöhnlih aber am britten Tag nad der Entbindung die regelmäßige Heu arbeit wieder auf, ſtehen am Waſchfaß, fcheuern die Stube, beforgen die I

gänge. Iſts da ein Wunder, daß bie meiften Arbeiterfrauen nad weui

Sahren der Ehe fo gealtert und vielfach jo fie und elend ausfehen? Der Mißftand, den die erwähnte Neichsftatiftif ins hellſte Licht rukı, ift nicht neu; und an Verſuchen, ihn zu befeitigen, hats nicht gefehlt. Nur

innere an die Wöchnerinnen:Schußgefeggebung der verſchiedenen Lünder, mm

Wochenunterftüßung der Krankenkaſſen, bie Wohlfahrteinrichtungen, die einzex Unternehmer auf biefem Gebiete geichaffen haben, und endlich an die Hauspilg, den jüngften und werthvollften Verſuch. Aber der gefeßliche Wöchnerinnenidet

ift nicht nur unzulänglich: er umfaßt auch nur einen fleinen Kreis ber Pair | tigen. Und die Hauspflege verfügt, troß dem beiten Willen aller Betheiligten.

heute noch über fo geringe Mittel und Kompetenzen, daß fie ihre Hilfe nur den Air: ärmften gewähren kann und ſich auch zeitlich auf das Allernöthigfte bejchränfen mut Aus den felben Gründen muß fie auch auf jede Art von Säuglingpflege verziäte. Nun ift der Plan aufgetaucht, Mutterfchaftlaffen zu gründen. Auch er ift nicht oa Belgifche, englifche und italienifche Philanthropen Haben einen ähnlichen Gedanle ausgefprodhen und Frau Lily Braun bat ihn in ihrem Buch über bie Fraum frage geftreift. Doch die mir befannten Anregungen beſchäftigen ſich nur mit kt Schuß der gewerblichen Mrbeiterin und ihres Kindes. Da wird von einer da vollen Lohnbetrag erfeßenden Unterftügung gefprochen, aber nicht gejagt, wie met den rauen helfen will, die feinen Lohn beziehen, der Hilfe aber nicht mise bedürfen. Längſt war ein weiter reihender Plan nöthig geworden.

Die Mutterfchaftkajfen follen die Familien gegen alle üblen Folgen It MWochenbettzeit verfihern, allen Familien nicht nur den in Landwirthſchef. Gewerbe und Handel arbeitenden Frauen unter einer bejtimmten Einkommen grenze für diefe Zeit Nahrung, Pflege und Ruhe jchaffen. Die Mittel wär auf dem Wege der Zmwangsverfiherung zu finden. Wie bei den Krankenlaſſa die Berficherungpflicht bei einem Perſonaleinkommen von weniger ald 2000 Matt eintritt, fol einer Mutterfchaftlaffe jeder neubegründete Hausftand beizutreif verpflichtet fein, der mit einem Geſammteinkommen von weniger als 3000 Rat zu rechnen bat. Ueber die Höhe der einzelnen, nad Einkommensklaſſen abe ſtuften Beiträge wären Verſicherungtechniker zu hören; bie allgemeine wie die lolalt Geburtenfrequenz der in Betracht fommenden Bevölkerungſchichten und die Er fahrungen der Hauspflegevereine könnten eine haltbare Grundlage liefern. Schneler wäre die Frage nach der Bertheilung der Laften zu beantworten. D’- Fr fiherten, denen eine gewiſſe Gewähr für den ununterbrocheneht Fortbei > ir gewohnten Lebenshaltung und Ordnung geboten wäre, bürften, troßdem t, F es ſcheint, den Hauptvortheil hätten, nicht über Gebühr belaftet wa De Meiften von ihnen die Steuerlifte lehrt e8 mit jchmerzender Deutlüu ft Icben in fo engen Verhältniſſen, daß jede neue Laſt, auch die uns Leicht ſche send. ihnen unerträglich werden muß. Zu erwägen ift auch, daß bie Verſicher richt

Mutterſchaftkaſſen. 359

jedem neuerrichteten Hausſtande der bezeichneten Art auferlegt wird, alſo auch ſolchen, die kinderlos bleiben; an ſich iſts nicht unbillig, dieſe materiell günſtiger geſtellten Hausſtände eine Weile für die ärmeren mitſteuern zu laſſen: nur darf die Steuer nicht zur drückenden Abgabe werden. Der Beitrag der zu Ber- fihernden darf nicht höher fein als ein Viertel der Gejammtquote. Yür bie reftlien drei Viertel hätten aufzulommen: die Krankenkaſſen, die ja entlaftet würden, die Unternehmer und, wo es ſich nicht um Lohnarbeiter handelt, bie Kommunen und endlih das Reid. Ich braude kaum zu erwähnen, baß der Schub aud ledigen Müttern gewähtt werden müßte.

Die Entlaftung der Krankenkaſſen braudt nicht umftänblich bewiefen zu . werden. Sie brauchten die Wöchnerinnen nicht mehr zu umterftügen und der beſſere Geſundheitſtand der weiblichen Mitglieder würde fie von all den Aufwendungen befreien, die ſchlechte Wochenpflege und verfrühte Aufnahme der Arbeit jegt nöthig macht. Die Zahl der Krankheiten, die als Yolge der Schwangerfchaft und Entbindung unter den Frauen der Armen graffiren, ift grauenhaft groß; wer fie mindert, mehrt die wichtigſten Tollsgüter. Der Pflicht, an diefem natio: nalen Werk mitzuarbeiten, wird auch der verftändige Unternehmer fich nicht ent— ziehen. Sein eigenſtes SIntereffe drängt ihn auf diefen Weg. Die Arbeiterin, die aus guter Pflege fommt, Tann ganz Anderes leijten al3 das erjchöpfte, ent- fräftete Weib, das die Äußerfte Noth zu früh an die Majchine oder in die Werk— ftatt treibt. Und das jelbe Intereſſe hat die Gemeindeverwaltung, die ed an den Ziffern ihres Armenbubget3 fehr bald fpüren wird, wenn gejunde Frauen ein geordnetes Hauswefen regiren fünnen. Und das Reih? Braudt man wirk: fi noch zu jagen, wa3 ihm die Hebung der Volksgeſundheit, die Sorge für das nächſte Gefchlecht werth fein muß?

Sind die Mittel gefunden, dann muß die Grenze der Hilfeleiftung be- jtimmt werden. In der Beit der Schwangerſchaft braucht nur die Qohnarbeiterin Schuß. Denn in normalen Fällen ſchadet leichte Hausarbeit auch hochſchwangeren Frauen nicht und ſchwere läßt fi, mit Ausnahme der Wäjche, in der Ießten Beit der Schwangerjchaft vermeiden. Die Lohnarbeiterin aber hätte im lebten Monat von der Kafje vollen Xohnerfaß zu fordern. Tür Wöchnerin und Sind muß eine Hebamme, für den Hausftand während der eriten vierzehn Tage nad der Entbindung eine erfahrene Wirthichafterin forgen; vom fünfzehnten Tag an kann, wenn nicht bejondere Komplikationen eintreten, die Wöchnerin wieder leichtere Hausarbeit übernegmen. 3 verfteht fih, daß die Kaſſe der Arbeiterin den Lohn, der nicht erwerbenden Frau Stranfengeld zahlen müßte; und eben jo, daß entſprechende Einrichtungen für die weitere Pflege der Kinder zu fehaffen wären, deren Mütter durch gewerbliche Arbeit vom Haus fern gehalten werden.

Die Lofung aber muß fein: Nicht Wohlthat mehr, fondern Recht! Die Mutterfchaftlaffen werben fommen, weil fie fommen müſſen, weil bie perjön- lihe Würde der Frau, die wirthſchaftliche Nothwendigfeit, die Selbfterhaltung- pfliht der Raſſe und die Sehnſucht nad fozialer Gerechtigkeit fie vielftimmig, einjtimmig rufen. Und einen Bau, der auf fo feften Fundamenten ruht, Tönnte feines Sturmes Gewalt je wieder in Trümmer jtürzen.

Frankfurt a. M. Henriette Fürth. 2

a

a) Die Zukunft.

Schwindelhauffe.

I" Börjenfaal geht? wieder einmal recht munter zu. Die Marktberitt SH melden täglich neue Steigerungen und zum Theil ift die Kurshöße k offenbar übertrieben, daß felbft in ben eigentlichen Börjenblättern fig wanmkx Stimmen erheben, Stimmen der felben Leute, die Jonft immer bereit find, jet ſpekulative Regung zu unterjtügen, wenn fie die erfehnte Möglichkeit Liefer, & wirtäfchaftlihe Situation in bengalifcher Beleuchtung zu zeigen. Diesmal r: das Sarnevalstreiben wirklich aber zu toll. Einzelne Werthe mögen ja mit Red: lebhaftere Beachtung gefunden haben; doch wurde nad) Recht oder Unredt übe haupt nicht mehr gefragt, jondern einfach behauptet, dieſes oder jenes Papn müfje man unbedingt kaufen, weil es bisher noch nicht geftiegen fei. Gleich fr ganze Aktiengruppen wurde Stimmung gemadt. So ftiegen Sementaftien, wei die Cementleute fih in Berlin verfammelt Hatten, um eine organifirte Bertre tung ihrer Intereſſen vorzubereiten. Gerade hier, im Bereich der Lementiıs vention, hat dag ewige Hin und Her die Aktionäre ſchon oft genarrt; immerhn Eonnte ihnen die Thatfache, daß endlich wieder eine Zuſammenkunft möglid ge worden war, neuen Muth einflößen. Schon der erſte Berathungtag aber zeigt. wie e3 um die „Einigkeit auf diefem Induſtriegebiet Heute noch beftellt it; di verſchiedenen Meinungen prallten fofort Hart an einander. Ein Mitrathenkt, der wahrſcheinlich am Aktienkurs bejonders intereffirt war und vorausiah, Mi der Eindrud der Verhandlungen dem Kursniveau nicht gerade günftig fein wert. beantragte eine Nefolution, in der die Berfammlung ihre Einigkeit feierlich ver. fünden follte. Und obwohl felbft diefer Nothantrag abgelehnt wurde, ſtieger Gementaftien nad; einer kurzen Angftpaufe noch höher hinauf. Aehnlich ergim es manchen Eijenwerthen, deren immer noch ſchmale Dividenden nit Hilfe eim* riefigen Bergrößerungsglafes Eapitalifirt werden. Den tollften Unverftand abet. den abentenerlichften Mangel an Augenmaß zeigte die Spekulation in der Be handlung einzelner Nonvaleurs, zum Beifpiel der alten Heliosaftien, dert Kursbewegung, abgefehen von der ganz finnlofen, mit dem inneren Werth bieler Papieres völlig unvereinbaren Steigerung, namentlich auch durch die heftigen Schwankungen auffiel,die von einer Börſe zuranderen mitunter 10 Prozent betrugen

Solde Schwankungen find für die Börfenvorgänge, die wir jegt jchauderm erleben, überhaupt charakteriftiih. Die große Spefulation hat die Führung er loren; nicht mehr Laura, Bochumer, Harpener, Kredit und Diekonto geben den Ton an: die Bewegunh geht Hentzutage von dem wimmelnden Heerder kleinen Geſel Ichaften aus, deren Altien den Kaſſamarkt füllen. rüber, in den Zeiten der großen Spekulation, wurde es als ein Ereigniß angeſehen, wenn ein leitendet Papier um etwa 3 Prozent ſtieg. Jetzt melden die Börſenberichte täglich eut Schwankungen; Kursdifferenzen von 4,5,6, 7 Prozent find, auch wenn ſie von: EM zum anderen Börjentag eintreten, feine Seltenheitmehr. Wer die Berhältnifel FL wundert ſich barüber nicht; heftige Schwankungen bei kleinenUmſätzen gehöre un einmal zum Wejen des Saflagefchäftes, bei bem jede Terminſpekulation a % ſchaltet iſt. Der Zufallund die längft befannte Thatſache, daß unfere Agrarie dir fich doc für Männer der Praxis ausgeben, ihre Theorien fern von ber praft MD

Schwindelhauſſe. 361

Wirklichkeit erſinnen, haben uns eine bemerkenswerthe Erſcheinung gebracht: in dem ſelben Augenblick, wo die Schwankungen des Kaſſamarktes allgemeines Aufſehen erregen, beſtreitet ein Agrarierführer die theoretiſche Möglichkeit ſolcher Vorgänge. Im Abgeordnetenhaus hat Herr Gamp gejagt, er wünfche nicht, das Verbot des Terminhandels aufgehoben zu jehen, denn die Landwirthichaft babe jchr gute Erfahrungen damit gemacht; das Verbot habe die der Yandiwirth- ſchaft unentbehrlichen ftabilen Preife gejichert. Die Praxis aber zeigt, auch auf den Getreidemärkten, gerade das Gegentheil. Schon der lebte Jahresbericht der Aelteſten der berliner Kaufmannſchaft wies darauf hin, daß die Differenz zwijchen den höchſten und den niedrigften Preijen, die in Berlin 27 Mark betrug, im Ausland, an den Börjen, wo der Terminhandel erlaubt ift, wejentlich geringer war; in Chicago betrug fie 21,3, in Peſt fogar nur 17,2 Marl. Und nod größer als in Berlin find die Schwanfungen auf den Iofalen Märkten, wo nicht einmal da3 unvollfommene Surrogat des handelsrechtlichen Lieferungsgeſchäftes hemmend einwirken kann. So differirten nad) der amtlichen Statiftil die Weizen— preije während des Jahres 1901 in Oftpreußen um 391/,, in Bommern um 49, in Bofen und Sclefien um etwa 63, in Weftpreußen um 58 Marl. Dod man braucht weder auf den Getreidemarft noch auf den Kaffamarkt der Fondsbörſe zu bien, um die äußeren Wirkungen des Terminhandels zu erfennen: das Mejen jedes Terminhandel3 befteht ja gerade darin, daß er heftigen Preis— Ihwanfungen nach oben und nach witen entgegenwirft, weil er geftattet, unab⸗ hängig vom Angebot oder Mangel an Waare die Preije zu benugen, jo daf Nachfrage und Angebot jich Über einen größeren Zeitraum vertheilen, als es beim Kaljagefchäft möglich ift.

Dit ſchon Habe ich Hier gelagt, durch viele Beitimmungen des Börjen- gejeges und ganz bejonders durch das Verbot des Terminhandels fei die Macht der Großbanken beträchtlich geftärft worden. Ein fihtbares Zeichen diefer Macht find jet wieder bie wilden Schwanfungen, die uns der Kaſſamarkt zeigt. Wenn, zum Beijpiel, eine Bank den Kurs eines Bapieres fteigern will, jo würde, wenn dieje Steigerung nicht dem inneren Werth, fondern nur der Profitſucht ent- ſpricht, bei erlaubten Terminhandel eine Gegenitrömung auftauchen; umfang: reihe Blanfoabgaben wären die fihere Folge der Treiberei. Auf dem Kaſſa— markt kann jolde Gegenftrömung fi nicht durchſetzen; da ijt der günjtigere Fall: die Steigerung geht ohne allzu Starkes Schwanken aufwärts. Wandelt die Börjen: peſſimiſten aber, wie es fajt immer gejchieht, die Luſt an, ihre Aktien zu verkaufen, um die haftige Haufjentendenz zu hemmen, dann hat die Bank geſchwind einen Trumpf zur Verfügung. Da verfaufte Kaſſa-Aktien jofort geliefert werden müſſen, weiß die Bank ganz genau, daß die Verfäufer nach kurzer Friſt zu Deckungskäufen um jeden Preis fchreiten müſſen: fie zieht die Schnur zu und diftirt den in fchwierige Lage gebrachten Käufern die Kurſe. Das fann fie durch fprunghafte Steigerung erreichen. Iſt der Bedarf dann befriedigt, fo geht man Ichnell auf die andere Seite und die Aktien fallen nun eben ſo raſch, wie fie vorher geitiegen waren. Ohne das Börfengefeß Hätte aber der Kaſſamarkt über- haupt nicht feine heutige Bedeutung erlangt. Früher hielt die große Speku— latton ſich an cin paar Yauptpapiere und je nah den Signalen, die von den führenden Aktien famen, jtiegen oder fielen die Kurſe auf dem Kaſſamarkt.

362 Tie Zukunft.

Diele große Spekulation, die den Tätern des Börjengejees ein Aergerniß ms, ift jegt wefentlich eingeichränft worden. Geſchehen ift aber, was alle Erjafren damals ohne Prophetengabe vorausfagen Tonnten: die großen Kapitaliften in mit ihren Geſchäften ins Ausland gegangen und auf dem Kaſſamarkt tummi fich jegt die Kleinen, denen die Kursſchwankungen höchſt willlommen find. dä: mußten fie, um 500 Mark zu verdienen, daS recht risfante Engagement we 30000 Mark bis zur zweiptozentigen Steigerung durchhalten; heute brauden fie nur für 5000 Mark zu kaufen, weil man jet auf eine zehtiprogentige Steigernn nicht länger zu warten hat als früher auf eine zweiprozentige der von der gro Spefulation bevorzugten Werthe. Und für fo Eleine Beträge giebt natüdik jelbft weniger folventen Leuten der Bankier viel leichter Kredit als für bie früh nöthigen großen Summen. Die Spekulation Bat fih nicht, wie man hoftt. vermindert, fondern ausgebreitet und wüthet heutzutage gerade in den Sciäte. bie vor ihrem Gift bewahrt werden follten. Die Meldung der Börjenberict. das Publikum betheilige fid wieder an dem Surögejchäft, ift cum grano sa: zu verftehen. Publikum ifts, ficher; aber fragt mich nur nicht, weldes. © find die Schaaren, bie als Kundſchaft in den Wechſelſtuben berumlungern we die Namen gewerbmäßiger Spekulanten eher verdienen als Viele, die, mit ein“ beglaubigten Börfenfarte in der Tafche, in die Burgſtraße pilgern. Zmilde dem dunklen Gewimmel und der Börfe wird die Verbindung von den Banlır commis Hergeftellt, deren Weizen heute wieder blüht. Ihren Tips folgt ii tleine Sobber eben fo blind wie dem Tip feines Cigarrenhändlers für Hopf: garten oder Karlshorſt. Ein Eluger Börfianer rieth mir neulich, ich folle m ihlagen, über die Eingangsthür zur Börfe Vergils Worte zu ſchreiben: Flecte: si nequeo superos, Acheronta movebo. Der Mann hatte Recht. Da aber vie leidyt nicht alle Börfenbejucher Latein veritehen, fehlage ich Lieber gleich die de Berhältniffen angepaßte Meberfegung vor: Kann ich nicht die thronenden Götte erreichen, jo muß der Commis meiner Lockung weichen.

% Notizbuch.

5): fminemünder Depefche war eine Brivatäußerung des Kaiſers und bebur't | NE deshalb nicht einer minifteriellen Gegenzeihnung. Der Fürſt ſprach zu

gürften, zum Freunde der Freund. Die Depeſche fol in München mißverſtanden worben fein, foll gar böjes Blut gemacht haben? Lächerlich! Der Prinzregent bi ſich ja bedanft; und fein ättefter Sohn hat in Polen den Dank wiederholt. Wer Mißverſtändniß noch Aergerniß. Alles ift in ſchönſter Ordnung. Sein 0“ tut Beurtheiler konnte glauben, der Kaijer wolle fih in die parlamentarifchen An, A” heiten eines Bundesftaates einmifchen. So ungefähr ſprach Graf Bülow am neı je ten Januar im Reichstag. Die ganze Rede des Kanzlers, fagte am nächften Tı, Het von Bollmar, „enthielt kaum einen einzigen ſtaatsrechtlich, logiſch ober thatſ Hi4 haltbaren Satz“. Das war ein gerechtes, in beinahe allzu höfliche Worte Kit Urtheil. Der Staifer hatte die Mehrheit des bayeriſchen Landtages heftin * ken,

Plutus.

Yotizbud). 365

feine Scheltrede war, troß dem entſchiedenen Widerjpruch des münchener Hofes, unter gefälfchter Datirung veröffentlicht worden und hatte nicht in Bayern nur, fondern im ganzen deutſchen Süden „böjesBlut gemacht”. Um Hoflagerdes Prinzregenten, jo hieß es in einer offiziöſen Darftellung, „hatteman, troß allem Vorausgegangenen, Der: artiges doch nicht für möglich gehalten; für den Eindruck, der gerade dort durch die Veröffentlichung entftand,jei „die Bezeichnung ‚Ueberrafdhjung‘ auch nicht annähernd erichöpfend.” Das Ulles war längft befannt. Graf Bülow aber, der lädhelnde Philojoph für die Welt der Faſſadenkultur, hielt es offenbar für finderleicht, die ärgerliche Chofe mit feiner bewährten Sator-Arepo-Tormel wegzufpreden. Die Braugerfte hatte er dem bayerifchen Centrum ſchon geopfert; nun konnte er, gegen alle Tradition, auch verfünden, die preußiichen Stimmen würden im Bundesrath für die Bejeitigung des läſtigſten Theiles bes Tgefuitengefeßes abgegeben werden; dann noch ein Lobſprüchlein für den „edlen, kunftfinnigen” Prinzregenten, ganz im modiſchen Hymnenſtil: und fein Hahn kräht mehr nah der Hochſommergeſchichte. Es kam wieder einmalanders. Zwar laſen wir bald, der Brinzregent habe dem Kanzler für ſeineRede ge⸗ dankt und alle Bernhardiner bellten: Na, wie hat er die Sache gedeichſelt? Noch aber war ſeit der Oratorenthat nicht ein Monat verſtrichen, als Alldeutſchland vernahm, der bayer⸗ iſche Miniſterpräſident ſei entlaffenmworben. Graf Crailsheim ging und der Freiherr von Podewils fam. Zornrufe hallten durch die Holzpapierblätter. Unerhört; den freden Dunfelmännern ward ein verdienter Staatsmann geſchlachtet. Natürlich brüllten bie liberalen Meinungmacher der Reihshauptftadt munter mit ; wann hätten fie je cine irgend erreihbare Dummheit gemieden? Daß eine politiiche Partei ihre Macht rückſichtlos braudt, daß fienicht nurfchwadroniren, ſondern wirken will, wurde ihr ald Verbrechen angerechnet. Daß ein Minifter, dem die Parlamentsmehrheit oft deutlich ihr Mißtrauen ausgedrüdt hat, vom Platz weichen muß, [dien den felben Leuten, die ſonſt für parlamentarijche Regtrung fchwärmen, nun eine nationale Schmach. Weber ſolche Albernheit ift nichts zu jagen. Selbft der Todfeind muß dem bayerischen Centrum beftätigen, daß es in biefem Fall klug und energiſch gehan⸗ delt dat, genau fo, wie in England feit Jahrhunderten ftarfe Parteien handeln; und der alte Herr Yuitpold wäre fein gewiflenhafter Regent geweien, wenn er einen der Volksmehrheit verhaßten Minifter eigenfinnig gehalten hätte. Der Frei— herr von Podewils foll ein pechſchwarzer Stlerifaler fein; nicht ſehr wahrjcheinlich, denn im Haufe Bismard, dem er von vierundzmwanzig Jahren von Rom aus den jungen Dr. Schweninger empfohlen batte, wurde fein Name als der eines ruhigen und zuverläffigen Patrioten gern genannt. Die Prognofen, mit denen die Preſſe neue Minifter begrüßt, find ja fait immerfalich; annoch lebende Beweife: die Grafen Poſadowsky und Bülow, von denen der Erfte eine Null, der Zweite ein großer Staatsmann fein follte. Und wenn der Augureniprucd diesmal nicht irrte: Die Mehrheit de3 Bayernvolfes hat jchlichlich das Recht, jo „klerikal“ regirt zu werden, wie es ihren Wünſchen und ihrer politiichen Macht entipricht, und der Norddeutfche, der dieſes Recht beftreitet oder begreint, darf nach dem Kranz der Weijennicht langen. Mag fein, fagt Mancher; doch Erailsheims Sturz bedeutet einen Sieg des Parti- fularismus; Bayern wird im Bundesrat künftig nicht mehr ein jo bequemer &e- nojje fein. Darauf ijt zu antworten: Das wäre ein Glüd für das ganze Reid). Das Hat ſchon Bismard gewünſcht; und die Leute, die ihn täglich eitiren, follten ſolche Wandlung herbeijehnen. Il ya fagots et fagots; e3 giebt auch verfchiedene

364 Die Zukunft.

Sorten von Partifularismus. Gerade Graf Crailsheim trägt die Haupiſchnld a der antiberlinifhen Stimmung, die in Bayern herrſcht; er war viel zu willfühng, viel zu geneigt, ſich berliner Wünfchen und „Erdffnungen“ des fchneidigen Grafen Monts ıder in Rom hoffentlich weniger neuboruſſiſch auftritt) zu fügen; er wollt jtets vermitteln, verfleben, Konfliktfpuren iumd an den allerperſönlichſten Konflilien

hats während der legten dreischn jahre bekanntlich nicht gefehlt) Tauber wegtartn

und in der Wilhelmftraße als ein verträglicher Gehilfe gelten. Wenn jein Rat folger die Selbftändigfeit des zweitgrößten Bundesstaates forgjamer wahrt, wenn

er nichts ohne jeine Mitwirkung gefchehen läßt und jedem Schritt, der ihm unbeilted icheint, tapfer und laut widerſpricht: dann erft wird Bayern endlich eine Renaiſſane

der Freude aın Reiche erleben, dejjen föderativer Charafter Fein Unbefangent kann es leugnen heute an manden Stellen ja faft fchon vergefjen ift. Nur Thoten fönnen, wie einem nationalen Verluft, einem Miniſter nachtrauern, während deiien Regirung es dahin kam, dag Herr Anton Memminger, unter dem Beifall feinergroßtu Banerngemeinde, fagen durfte, der Kaiſer jei in Bayern der unpopulärjte Manz Nein: wir wollen uns freuen, wenn Süddeutichland Eräftiger in die Neichzpolititer. greift und dieberliner Manager ſich täglich fragen müſſen, ob fieim Bundesraihnich auf Schwierigkeiten ftoßen werden. Noch kann die Frage nicht beantwortet werben, ob Herr von Podewils der rechte Dann für dieje nichtleichte, aber fehr dankbare Auf gabe ift. Doch auf die redneriicgen Bemühungen des Kanzler mußte ntan, ehe Mt Mond noch gewechſelt hatte, ſchon mit einem heiteren, einem naflen Auge zumid- blicfen. Die bayerische Kriſis war die direkte Tyulge der fwinemünder Depeice. ni Crailsheim ijt kein eiferner Recke, kein Brongefels; er hättefich, da er an ſeinem An: hing, mit dem Centrum in der Sfille allmählich wieder geeinigt. Da kam die Depeſche. Man nahın dem Minijterpräjidenten übel, daß er, ohne zu proteftiren, die Yandtagt mehrheit vom erften der deutſchen Bundesfürſten öffentlich ſchelten ließ, daß er Bublifation der Depeiche nicht zu hindern vermodte und den greijen Regenten obendrein noch beſtimmte, dem Wertheidiger diefer Publikation einen Dantbrie zu jchreiben. Diejer von den Offiziöfen gepriefene Dankbrief wurde jein Verhäng niß. Die Stollegen warfen dem Prüjidenten vor, er habe verfäumt, fie zu fragen, be vor er urbietorbi die Ihatjache melden ließ, daß der Regent dem Kanzler gedantt habe: und am Ende fah Prinz Luitpold ſelbſt ein, daß fein erfter Minifter ihm keinen auten Dienjt erwieſen hatte. ft die Depeſche, die ſolche Folgen hatte, nun wirklid eine Privatkundgebung, „die nicht den Charakter eines Staatsaktes trägt” und für die der Kanzler höchſtens eine „moralijche Berantwortung“ zu Übernehmen hat? N ſies namentlich im Sinne der Entjegten, denen der bayerische Miniftermechjel einet Sieg des finiteriten Klerikalismus und bösartigiten Partikularismus bedeutet‘ Nein erjonnener Schulfall konnte deutlicher zeigen, wie unhaltbar die ganze Kon jtruftion des Grafen Bülow ift. Er war mit in England, als, kurz vor dem Aus bruch des Burrenfrieges, der Kaiſer in Windjor mit Chamberlain die Unterredung hatte, als deren Ergebniß der britiſche Kolonialminifter ausplauderte, ein deutid- engliſches Bündniß jtche bevor. Ich bin an diefer Auffaffung unſchuldig, fagte der Sanzler den fragenden Preßfreunden; und ohne meine Mitwirfung giebt es feint giltigen Staatsatte. Schr ſchön; aber aus diejer Zeit ftammt die Verſtimmung dr Briten, die Deutichlands Induſtrie und Dandel jotheuer bezahlen muß. Siewurke, troß allen während des Burenkrieges erwieſenen Befälligfeiten, verftärft, als hefann!

Notizbuch. 365

wurde, daß der Kaiſer dem Zaren durch Flaggenſignale zugerufen hatte: „Der Ad— miral des Atlantiſchen Ozeans grüßt den Admiral des Stillen Ozeans“. Nikolai antwortete froftig: „Glückliche Reiſe!“ Die Engländer aber waren von ſolcher Auf- theilung der Weltmeere, die erft nach dem Zuſammenbruch Großbritaniens Wirk— lichfeit werden könnte, natürlich noch weniger entzücdt. Auch damals war der Kanzler im Gefolge des Staifers. PBrivatfundgebungen? Dann wird Mancher neugierig fragen, wo nun eigentlich der Bereich wichtiger Staatsaftionen anfängt. Graf Bülow glaubt ficher ja, was er jagt; Leider fehlt ihm das Augenmaß, das nöthig ift, um die Wirkung perfönlichen und politiichen Handelns zu ſchätzen. Seine Wetteranjage iſt allzu oft faljch. Schon einmal wurde deshalb hier an die tragifomijche Nachtaventiure erinnert, die er auf der Seefahrt ing Heilige Yand erleiden mußte. Troß der Warnung hatte der an der Waflerfante Geborene vergeilen, die Luken jeiner Sabine feſt zu fchließen. PBrafjelnd war das Waſſer in den ſchmalen Raum gedrungen. Und mitten in der Näſſe ftand, nur mit dem Nachthemd befleidet, triefend des Deutſchen Reiches Stanz: ler und jchrie ınit dem ganzen Aufgebot feiner Lungenkraft: „Feuer!“ * *

*

Unter der falſchen Schätzung der Möglichkeiten und der Hinderniſſe leiden auch die Verſuche, in den preußiſchen Oſtmarken „das deutſche Element zu ſtärken“. In Poſen iſt ein Bibliothekpalaſt gebaut, ſoll ein Theater und ein Kaiſerſchloß ge- baut werden. Wer feine wirfjame Handlung erfinden kann, forgt wenigftens für prächtige Dekorationen. Nur heilt man mit ſolchen hübſch gefärbten Mitteldfen nod) nicht einmal die winzigfte Hautrißwunde. Jeder für dieje jteinernen Schaugeräthe ausgegebene Pfennig ift nu&los verthan; eine ftaatliche Fabrik brächte der Brovinz und dem Deutjchthum mehr Gewinn als ein Dutzend Prachtgebäude. Jetzt ift der Dberpräfident, Herr von Bitter, weggejchicdt worden. Das war zu erwarten; cr bat mehr als einmal einen über das Gewohnte hinausgehenden Mangel an Geſchick⸗ lichfeit gezeigt, wurde vom Kaiſer [on im Sommer mit Borwürfen überhäuft und im Landtag jeßt von Minifter des Innern gegen die ſchwerſten und gröbjten An— ſchuldigungen nicht mit einer Silbe vertheidigt. Ganz faljch aber iſts, ihn als einen unfähigen und unmwillenden Bureaufraten hinzuftellen; als er nad) Bofen gejandt wurde, jagte Miguel, der feine Leute kannte und die Bureaufraten haßte: „Das ift daS Beſte, was wir haben.” Und auch die Kollegen hielten Bitter für einen ſehr tüchtigen, nur perfönlich nicht jehr angenehmen Beamten. Ein Bedenken, das gegen feinen Kandidaten ſprach, hatte Miquel überhört. Herr von Bitter ift nicht rein ariſcher Abkunft und hat fi, wie es jcheint, gerade deshalb allzu eifrig um die Gunst des Agraradel3 beworben. Ganz leicht aber wurde ihm fein Amt aud) nicht gemadjt; ein Stärferer wäre durch die Unftetheit einer herumborchenden, herumtaften- den Regirung nervös geworden. Immerhin hatte er eine unglüdlihe Hand und war nicht zu halten. Ueber die drei „Fälle“, die ihın befonders dick angefreidet wurden, ift nacdhgerade genug gejchwagt worden. Den Provinzialjteuerdireftor Löhning hat der Finanzminiſter Freiherr von Rheinbaben endgiltig abgethan; fein ſtärkſtes Argu= ment warim Auguſt auch hier Schon angeführt worden: indem Augenblid, wo Köhning, um einem Disziplinarverfahren auszumeichen, den Abſchied erbat, hatte er feinen Rechtsanſpruch verwirkt. Selbſt die Liberale Prefje nennt denn auch den Namen ihres Hundstagshelden nicht mehr und der Hintertreppenroman von der Feldwebeltochter ift neben anberen Blamagen beftattet. Dafür gehen nun dunkle Gerüchte von Gräuel—

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366 Die Zutunft.

thaten des Majors Endell; er habe Öffentliche Gelder ſchlecht verwaltet, terrorikr die ganze Provinz, ſchädige das Deutſchthum und babe den Landrath von Willicha den Tod getrieben. Was wahr, was falſch an diefem Geraun ift, Läßt fich, trogalen Schreibereien, von fern nicht erfennen. Sit ber Mann jo fürchterlich, dann jollme: ihn unſchädlich machen; und fanıı man feine Schuld nicht beweifen, dann jell mer uns mit dem zweckloſen Geplärr verfhonen. Herr von Willi mag ber liebenswir- digfte, ehrlichte Dann von der Welt gewefen fein: ein Reuraftheniker, ber fid er ichießt, weil er angegriffen und von einem Theil des Adels boyfottirt wird, yakt nicht alsLandrath in die Provinz Poſen.( Das Amuſanteſte an dieſen kläglichen Beihid ten war die Epiſode Podbielski. Der Landwirthſchaftminiſter wurde beſchuldigt, Herm Endell zu gut, Herrn von Willich zu ſchlecht behandelt zu Haben, bejchuldigt von den Offiziöfen des Kanzlerhaufes. Der Kundige merkte: da fol Einer ans Ment geliefert werden. Doc) der Vater des unvergänglicden Wortes vom Lauſekanal it behend: an dem Tage, ba er jo fchwerer Sünden geziehen ward, hielt er, ohne jichtlicden Grund, eine zornige Nede gegen den Bund ber Landwirthe; daburd war er, für eine Weile wenigftens, unangreifbar, war er am Hof und in der liberalen Preſſe zugleich persona grata geworden. Allerliebit, nit wahr?) In all dire: Fällen hat die Haltung der Regirenden nur den Polen Freude bereitet. In Berla aber nennt man folches Irrlichteliren:; „Hebung des Oftens”. Nun wird ein neu Oberpräſident nad Pofen fommen. Daß er fühiger fein wird als die Herren Eile mowitz und Bitter, ijt fan anzunehmen; wahrjcheinlich werden wir, wenn er fiden nearbeitet hat, über ein Kleines das jelbe oder ein fehr ähnliches Spektakel erlebe Und auch für Weſtpreußen fcheinen die Tage der Hoffnung vorbei zu fein. Guſta Goßler wußte, daß nur Induſtrie Geld ing arme Yand Bringen, cine neue Induſtie ſich ohne Staatsaufträge im Oſten einjtiveilenaber nicht Halter könne: jo lange erauf: recht war, mühte er jich, Staatsbetriebe und Staatöbejtellungen nach MWeftpreuße: zu ziehen. Sein Nachfolger, Herr Delbrüd, der als Staatsbeamter und Ober bitrgermeifter feit Jahren in der ‘Provinz lebt, die Berhältniffe alfo genau fennt müßte und feiner Schonzeit bedarf, reift umher und lobt in ſchönen Reden die Au dujtriellen, die ohne Staatzhilfe vorwärts gefommen feien. So that er in Or denz; und Elbing die Danziger Zeitung meldet e8 eben ift ihm „ein Borhil dafür, wie fid) eine Stadt ohne ftaatliche Hilfe zur blühenden Induſtrieſtadt en wicdeln könne“ Muß denn immer geredet werden? Der Minifter ſollte der Oberpräjidenten ad audiendum verbum nad Berlin citiren und ihm jagen: „In Elbing blüht, außer der von jechzig berliner Läden ernährten Tabakfabril von Poefer & Wolff, nur das Unternehmen der Firma Schichau, die bekanntlich von Staatsaufträgen lebt; alles Andere ijt unbeträchtlich oder ungefund; ic erjudt Sie höflich, die induftriellen Verhältniſſe Ihrer Provinz gründlich zu ſtudires und uns dann Borichläge zu einer verftändigen und wirkſamen Snbuftriepolitit je machen“. Schließlich ijts doch nicht gar ſo ſchwer, einzujrhen, daß die Ojtmar ver der Slavifirung nur bewahrt werden können, wenn der Wohlſtand der Di jen gehoben wird. Aber man muß wifjen, was man will, und darf fi) nicht mit. me tiven Eintagswirfungen zufrieden geben. Und man muß in die gefährdet: 0 vinzen Männer ſchicken, die nur die Sache wollen, nicht ji, und die das u M tragen, ſelbſt wenn fie nicht in jeder Woche dreimal als Erjinner geniale- "im und Netter des Reiches mit papiernem Yorber gekrönt werden. * *

En

Notizbuch. | 867

Da wir gerade von Preßklatſch reden: wie ſtehts eigentlich mit der merfiwür- digen Schaumweingeſchichte, vonder zuerft fo viel und zulebt fo wenig geredet wurde ? Das Schiff, defien Pathin Miß Noofevelt war, follte mit deutſchem Selt getauft worden jein. Die deutjche Firma, die ihn geliefert haben jollte, beſchwor es feierlich in Rellamenotizen und berief fi) auf das Zeugniß des Botfchafters, bes inzwiſchen unfanft entfernten Herrn von Holleben Nein, rief der franzöfiiche Konkurrent: ic) babe den Seft geliefert und kann beweilen, daß aus meiner Pulle der Taufſaft rann. Welche Lügen, hieß es; Fein Patriot fann zweifeln, wem er zu glauben hat. Der Bigantenfampf tobte in einträglichen Inſeraten weiter. Dann aber kam er vor das zuftändige Gericht: und nun wurde unfere Preſſe plöglich ftumm. Nur durch die Un: vorfichtigkeit eines Nachtredafteurs erfuhr man, daß die Franzöfifche Firma gefiegt babe, das deutiche Schiff alfo mit Franzoſenſekt getauft worden war. Es ijt unfreund- lich, bes Räthſels Löſung uns noch länger vorzuenthalten. Die deutjche Firma muß ihrer Sache doc ſicher gewefen jein; fonjt hätte fie den Prozeß vermieden. BoS- hafte Menfchen behaupten, daß die Gefchichte arg nach dem Pfropfen ſchmeckt.

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Des Kaifers Brief über den Offenbarungsglauben und die Keilfchrifterforich- ung hat nicht nur bei Denen Beifall gefunden, dieihn immer loben. Herr Karl Jentſch ichreibt mir: ‚So wenig mir die meilten der Reden gefallen, mit denen es dem Staijer beliebt, den Spöttern Vergnügen, jeinen getreuen Dienern aber Kummer und Berlegenheiten zu bereiten: fein &laubensbelenntniß gefällt mirgut. Die Unter- ichetdung der allgemeinen Offenbarung Gottes in der Menjchenvernunft und in der Weltgefchichte und der befonderen durch die Propheten und durch Chriſtus bildet den Kern der von den Alerandrinern Klemens und Origenes begründeten chriftlichen Geſchichtbetrachtung, die der Lauf der Dinge in den ſeitdem verflofjenen fiebenzchn Jahrhunderten beitätigt hat; und diellnterjcheidung des Göttlichen und des Menſch⸗ lichen in ber Bibel ift das pofitive Ergebniß ber negativen Bibelfritif, das an die Stelle de3 lutheriichen Glaubens an die Buchſtabeninſpiration zu treten hat Zu beiben Ideen befenne auch ich mich in den Betrachtungen, die ich im Jahrgang 1898 der ‚Srenzboten‘ über die Bibel veröffentlicht abe, und indenen über Hellenenthum und Chriſtenthum, die nächſtens in Buchform bei Grunow in Leipzig ericheinen, der auch meine, Geſchichtphiloſophiſchen Gedanken‘ jeßt in zweiter Auflage herausgiebt“.

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Felix Austria braucht uns um unjere Barlamentsjitten bald nicht mehr zu beneiden. Im Yandtag wird Herr von Podbielski von einem Abgeordneten an den Zaufefanal erinnert. Er weiß nicht, jagt er, ob er das Wort geſprochen Hat; vielleicht, jagt er, vielleicht auch nit. Ein zweiter Abgeordneter fommt mit der jelben Kitzel⸗ rede. Der Minijter wird wild. Die Herren, jagt er, die diefes Wort fo gern an— wenden, müſſen zu dem darin erwähnten Thier doch fehr enge Beziehungen haben. Niemand wehrt fi. Offenbar denkt Jeder: der gute Ton in allen Vebenslagen ziert den Minifter mehr noch al3 den nicht ercellirenden Bürger. Sonft wäre ſicher eine Interpellation ins Hohe Haus gebracht worden: „Welche Mittel gedenkt die König— Liche Staatöregirung dagegen zu ergreifen, daß ein Minifter Seiner Majeſtät den vom Volk erwählten Abgeordneten in Öffentlicher Sitzung vorwirft, fie hätten Yäufe >“

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368 Die Zutunft.

Nach einer luſtigen eine ernſte Geſchichte. Vor ein paar Wochen laſen wir, der Kaiſer wolle im berliner Thiergarten einen Platz, der den Namen Großer Stern trägt, mit neuen Denkmalen ſchmücken. Eine Fortſetzung der Puppenallee, dachte Mancher und verhüllte ſchweigend ſein Haupt. Die Pläne, vernahmen wir, ſeien ſchon fix und fertig und die Arbeiten an „bewährte Künſtler“ vertheilt. Schade um den hübſchen Platz. Wie aber konnten die Aufträge denn vergeben fein, da der Kultus⸗ minijter doc) vom Landtag noch fein Geld für die Sache gefordert hatte? Wenn das Abgeordnetenhaus num die Nachforderung ablehnte? Unſinn, jagten Andere, auch diesmal wird der Staijerfelbit die Künftler bezahlen und die Denkmale jeiner Dauptitadt ſchenken. Langſam fiderte neue Kunde durch. Die Große Berliner Straßenbahn, bieß es, bezahlt die Ausſchmückung des Plaßes. Särtnerarbeit, Monumente, Alles; und verlegt obendrein noch ihre Linien. Sonderbar. Die der Firma Loewe affiliirt® Große Berliner ift eine Aktiengefellichaft. Was werden die Aktionäre zu dem Einfall fagen, auf ihre Stoften Denkmale zu errichten? Als die Frage geitellt war, kam die Direktion mit der Sprache Heraus. Die Aktionäre, ließ fie glilfiren, werden nicht Elagen. Uns war befohlen worden, für die Strede am Großen Stern auf bie Oberleitung zu verzichten und den elektriſchen Strom von unten heraufzuleiten. Das wäre jehr theuer geworben; jehr. Seit wir ung bereit erflärt haben, die Koſten des Monumentaljdinudes zu tragen, ift der Befehl zurüdgenommen worden. Die Aktionäre werden aljo nicht Elagen, denn wir kommen, troßdem wir unjere Yinien um den Schmudplaß herumführen, jet immer noch billiger weg; viel billiger. Eine merkwürdige Geſchichte, die fih fein Wißblatt entgehen liche, wern fie aus einer jübamerifanifhen Republik gemeldet würde; nun, da fie in unjerem Boden wuchs, nimmt man fie wie die einfadjite, natürlichjte Sache von der Welt hin. Und doch iſt fie eigentlich nicht jo ganz einfach. „zit die unterirdiiche Stromleitung unnöthig, dann durfte man fie nicht amtlich fordern; ift fie nöthig, dann durfte man ſich durch ein Geſchenk nicht von der Forderung abbringen laffen. Seit wann ifts in Preußen Sitte, daß der Staat von Aktiengeſellſchaften Werthgeſchenke an— nimmt? Daß er Verfügungen zurüdzicht, weil das davon bedrohte Geſchäfts— unternehmen ſich verpflichtet, fehs oder acht Denkmale zu errichten? Mit dem jelben Recht könnte ein Theatergebäude, das als feuergefährlich gejperrt werden follte, im Betrieb gelaſſen werden, weil der Beſitzer verjproden hat, dem Reich ein Torpedoboot zu [chenfen. Und wer Fam denn auf den artigen Plan? rgend- wo muß doc) zuerst der Gedanke entjtanden fein. Herr Iſidor Loewe ift doch ge- wiß nicht zu dem aus feinen Bureaux ins Miniſterium beförderten Deren Budde gegangen und hat gefagt: Hören Sie mal, licbe Excellenz, die Unterleityng wirb ung zu theuer; wie wärs, wenn wir eine Summe zur Ausſchmückung des Großen Stern hergäben und die Verfügung dann zurücdgenommen würde? Co wars ſicher nicht; dann hätte der Kaiſer nicht Loewes Fabriken bejucht und dein Chef den Rothen Adler verlichen. Wie aber wars? Die Zeitungmacher find font jo neugierig; dies» mal ift ihre Diskretion geradezu bewundernsiwerth. Und dabei find fie der Großen Berliner Straßenbahn gar nicht grün. Vielleicht fragt Herr Richter im Landtag mal die löbliche Staatsregirung, ob die Geſchichte erfunden oder wirklid in Breußens Hauptſtadt pafjirt fit. Iſt fie wahr, dann jollte die Hauptgruppe am Großen Stern in leuchtenden Goldlettern wenigjtens die nfchrift tragen: „Die dantbaren Aftios näre der Großen Berliner den huldvollen Cberleitern des Vaterlandes“.

Herausgeber und derantiwortlicher Redakteur: M. Harden in Berlin serlag der Zufunft in Ber‘ Zrud von Albert Damde in Berlin-Schöneberg.

Berlin, den 7. März 1905. en TED

Die Epiftel an Hollmann.

SI: letzte Karnevalswoche hat und ein Schaufpiel befchert, deffen Schil⸗ derung nur einem Swift oder Laboulaye völlig gelingen fönnte; Stoff zu ftärferer Satire war felbft in den Rändern der Lilfiputaner und Fliegen. ſchnapper, den berühmteftenGabelprovinzen, niemals zu finden. Der Deutſche Kaifer, der im Reich Höchfter Kriegäherr und in Preußen Summus Episco- pus ift, hat an Herrn Friedrich Hollmann, Admiral, Mitglied des Vorſtan⸗ des der Deutſchen Orient⸗Geſellſchaft, Vorfigenden des Auffichtrathes der Allgemeinen Elektrizitãt⸗Geſellſchaft, einen Brief gefchrieben, der für den Drud beftimmt war und gedruckt worden ift, einen langen Brief über das Modethema Babel und Bibel. Diefer Brief richtiger: der in Briefform gefleidete Artikel wendet fich gegen den Profefjor Deligich, defien perjön- liche Anſchauungen ſchroff und fpöttifch abgelehnt werden; er genügt, mit feinen disparaten Erinnerungen an Harnad, Dryander und Chamberlain, aber auch dem Anfpruc) der Strenggläubigen beider Befenntniffe nicht und muß fromme Juden durd) ein Hohnwort über den „Nimbus des auser⸗ wählten Volfes“ kränfen. Zu erwarten war alfo, ber Artikel werde, je nad) dem Standpunft des Betrachters, Fritifirt und, wie faft alle Dilettantenver- fuche, über Glaubensnöthe ſich mit Kompromiffen hinwegzuhelfen, mehr getadelt als gelobtwerden. Als Friedrich Wilhelm der Vierte, deſſen Drang, die Religion „weiterzubilden“, nicht geringer war als der ſeines Großneffen, in einer von Radowitz ausgearbeiteten Denkſchrift den Plan enthüllte, auf Bions Höhe die dreigroßen Kirchen Europas durch drei von einer internatios nalen Schuttruppe bewachte Refidenten vertreten zu laſſen, fchüttelten nicht 28

870 Die Zukunft.

nur Nefjelrode und Deetternich, Sondern auch deutfche Broteftanten die Koͤpfe und die Liberalen höhntendie „diplomatische Romantik" des Herrfchers. Nich beſſer erging es dem König, als er ſpäter Gewiſſensfreiheit mit unerbittlichen Kampf gegen den Unglauben vereinen, zwiſchen den Wegen Hengſtenbergs, Schleiermachers und Nitzſchs feinerreligiöfen Begeiſterung einen breiten Pfad bahnen wollte; die Rede, in der er die erfte evangeliiche Generalſynode im Berlin begrüßte, wedte auf feiner Seite frohen Widerhall und mißfiel hm jelbft bald fo ſehr, daß er an Thile fchrieb, fie fei „ein neuer Beweis, dei | unfer Summus Episcopus ein fehr bedenkliches Kreatur ift“. Dasmwar 1846. Heute weht, im deutichen Norden wenigſtens, ein anderer Wind,

Wenn der Katjer bielirtheile der bourgeoifen Preſſe über feinen Artikel tel, | dürfte er glauben, eine Großthat vollbracht, ein erlöfendes Wort geſprochen zu haben, das alle Herzen, heiße und laue, höher fchlagen ließ. Raum eime Spur von Kritil; und gerade in liberalen Blättern manchmal ein Lieber | ſchwang, als jei der Mienjchheit neuen Heiles Kunde gefommen. Geftern wurde der Kaiſer als Glaubensgenofje Deligfch8 gefeiert; heute preifen die Liberalen ihn, weil er nicht ganz orthodor, die Orthodoren, weil er nicht fe liberal ift, wie fie gefürchtet hatten. Was der Monarch thut, ift wohltgethan; an Lady Milford muß man denen, die auf den Lobgeſang der loyalen Zofe, ber Fürft ſei der fehönfte, der feurigite und wigigfte Dann im Lande, mit Fühler Ironie antwortet: „Denn esift fein Land!” Stolzcitiren die Zeitumg- jchreiber den Ausſpruch eines englischen Kollegen, der Kaifer fei ein gebort⸗ ner Journaliſt andere ausländische Urtheile werden weiſe verſchwie gen —, und an das deutjche Bolf ergeht die Mahnung, feinem gefrönten Dertreter für das „herrliche Bekenntniß“ zu danken. Platos Wunſch, Philo⸗ ſophen auf Königsthrone erhöht zu ſehen, ſei jetzt, ſtand irgendwo, endlich erfüllt; und an Julians epideiktiſche Reden und Schriften wurde eriunert. Merkwürdig iſt eigentlich nur noch, daß von ſolchem Ritt ins Reich der Alten nicht der Vergleich mit Marc Aurel heimgebracht ward. Das Wir: fon diejes Kaifers Hinterlich in der Geſchichte des Chriftenglaubens ja auch einen „Markſtein“. Auch er fand zum Ruhm eines Höchftjeligen, Ans tonins des Frommen, immer neue Töne inniger Pietät. Auch er hat Üher Gewiſſensfragen gefchrieben. Und wenn e8 auch Leute geben wird, dL ı die zwölf Hefte Marc Aurels höher gelten als die Epiftel an Hollmann, ı werden dod) jelbft fie dem Artikel Wilhelms des Zweiten nicht den We eines menschlichen Dokumentes und das Recht auf den Titel beitreiten, m : dem die feinen, nie welfenden Aphorismen des Epiktetſchülers nad) feir ı Tode veröffentlicht wurden: Ta sis zauıov, „Ueber fich felbft“.

Die Epiftel an Hollmanı. 371

Denn dieſer Artikel entſchleiert die Weſenszüge eines Menſchen, den, einen Kaiſer und König, ungeblendete Augen nur ſelten ſehen; und er be⸗ ſeitigt eine Legende. Jahre, faft ſchon Jahrzehnte lang wurden uns Wunder⸗ dinge über die ganz beſondere Geiftesart des Prinzen, dann des Kaiſers Wilhelm erzählt. Die Seele eines Diyftifers follte in ihm dem ruhlofen Spürfinn mobernften Erkenntnißdranges gefellt, fromme Inbrunſt umd ſcharfer Verftand zu nie erſchautem Bunde vermählt fein. Hohe Bewun⸗ derung verdiene fein weithin reichendes Wiſſen, höhere noch die niemals ver- fagende Originalität feiner Auffaffung. Ob er einen Stadtbebauungplan, einen Schiffstypus, ein Geſchützmodell, ein Textbuch, den Entwurf zu einem Denkmal oder den Grundriß eines Hauſes korrigire, mit Gelehrten, KRünftlern, Technikern, Pfarrern oder Soldaten disputire: ſtets ſpreche, aus jedem Ton und jeder Linie, eine große, von aller herkoömmlichen Gewoͤhnung abweichende Perjönlichkeit. Die berühmteften Forſcher, hieß es, brächten aus ſolchen Ge⸗ fprächen fruchtbar fortwirtende Anregung heim und es feinur natürlich, daß ein Begas und gar ein Eberlein oder Leoncavallo fic den Weifungen diefes Mit- arbeiters dankbar fügten. Nod) neulich ſprach ja Herr Delitzſch efftatifch vom „Adlerblid"Wilhelms des Zweiten; und die Geniekraft des Kaiſers wurde von guter Sefinnung längft nicht mehr beſtritten. Nicht Jeder hörte die Botſchaft gern. Manchen quälte die Frage, obes für ein in [chwieriger Lage fchnell wach⸗ fendes Volk ein Glück ſei, wenn aufder Staatsſpitze eine fo befondere, die Norm überragende Perfönlichfeit fchalte, ein Glück, ftatt der erfehnten Entfeffelung allzu lange gebundener Kräfte einen Einzigen nun als Allverwalter, Aller- halter zu jehen. Andere fürchteten, die vorwärts ftürmende Individualität des Einzelnen müfje mit den Forderungen der ‘Demokratie eines ſchlimmen Tages hart zufammenftoßen. Erft durch dieausführlichen Kunſtbekenntniſſe des Kaiſers wurde das Legendengerüſt erſchüttert; leiſe zunächſt noch. Was in feine Ohren ſchon aus früheren Reden gedrungen war, klang nun weiter und gab Vielen die tröſtende Gewißheit, daß die Weſensfarbe des Monarchen dem Mafjengefühl nicht fo fremd iſt, wie Loblieder und Angſtſprüchlein behauptet hatten. So, mit frommem Aufblid zu den ewigen Gefegen der Schönheit und Harmonie, redeten ja die meiftengebildeten Dilettanten von der Kunſt, ganz fo . von den Idealen, deren Zweck die Erziehung Dumpffinniger Heerdbenmenfchen zu hriftlich fittfamen, ftrammen Staatsbürgern iſt ... Jetzt barf die Furcht ſchweigen; doch auch) die Panegyriker follten die Stimmen nun dämpfen. Es ift fein alltäglicher Vorgang, daß ein Kaiſer einen langen Artifel druden läßt; geichieht es, bemüht ein folcher Herr fich gar, feines Glaubens Wurzel der

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872 Die Zukunft,

Welt zur zeigen, ben Burpur zu lüften, der den Menfchen in SHerricherhehet hüllt, dann ift anzunehmen, ba8Bebürfniß der nach Ausſprache drängenden Leidenichaft habeüber alle hemmenden Widerftände geflegt, und daum mäflen in diefer Seelenentblößung vielleicht die feinften, ficher die ftärfften Geiftes träfte dem Auge ertennbar werben. Der Literat fchreibt heute ſchlecht, morgen gut, je nach Stimmung und Stoff; der Monarch, ber in der perfönlichfku Angelegenheit des Chriftenmenichen vor allem Volle das Wort ergreift und jein Slaubensbelenntniß zu „ausgiebigftem Gebrauch“ weitergiebt, darf fid nicht wundern, wenn biefe eine Leiftung das Urtheil über jein inneres Antlik endgiltig beitimmt. Die lauteften Hymnen der Hofpofanmiften verhalles raſch; das Gefchriebene aber bleibt. Und fpät noch, wenn bie deffriptie völlig der pfychologifchen Geſchichtſchreibung gewichen tft, wird ber Artikd wider Delitich den Forſcher erkennen Lehren, daß nur ber lebhaftere Ton des

Temperamentes den —— der Maſſe des Volkes nuter⸗ ſchied. Der Verfaſſer dieſes Artikels mag ſich eines Tages als Mann ftarker

That, als gewaltigen Willensmenſchen offenbaren; zu den großen Denkerr den Bringern neuer Viſion wird künftig ihn nut Die Laloienichaft zähle: In den „Noten und Abhandiimgen”, die er ven Weit-Deftfichen

Divan „zu beiferem Verſtändniß“ auf den Weg in die Welt mitgab, fagt Goethe: „Was dem Sinn der Weftländer niemals eingehen kann, ift die geiftige und körperliche Unterwürfigfeit unter feinen Herrn und Dberen, die fic) von uralten Beiten herfchreibt, indem Könige zuerft an die Stelle Gottes traten. Im Alten Teftament leſen wir ohne fonderliheg Ye fremden, wenn Mann und Weib fic vor Priefter und Helden aufs Angeficht niederwirft und anbetet; denn das Selbe find fie vor den Elohim zur thun gewohnt. Was zuerft aus natürlichem frommen Gefühl gefchah, verwandelte jich Später in umftändliche Hoffitte. Der Kotau, das dreimalige Nieder- werfen, dreimal miederholt, jchreibt jich Dorther. Wie viele weftliche Geſandt⸗ Ichaften an öftlichen Höfen find an diefer Ceremonie gefcheitert!” Heute iſt der Weltoften uns nicht mehr fo fern wie 1820; und was damals „dem Sinn der Weftländer nichteingehen konnte“, ift Germanen nun Alltagsereig- niß geworden. Am zwanzigften Februar war berBrief bes Kaifers in - Beitungen zu lefen. Dan mußte warten. Das Geſchlecht der Leſſing, J. Grimm fann auf deutjchem Boden ja nicht ganz ausgejtorben fein; irger wird im engeren oder weiteren Vaterland Einer aufftehen, ein Natur: . Kulturforscher, ein tapferer Pfarrer, und das Nöthigfte jagen. Die dar

oft leidenjchaftlich verdbammenden Urtheile, die unter vier Augen fallr-

Die Epiftel an Hollmmm. 873

den ſich and Licht wagen. Zwei Wochen gingen. Keiner ftand auf. Aus zucderfüßen Worten kroch da nnd dort mählich ein zages Bedenken hervor, ein fubmiffefter Einwand, der im Entftcehen ſchon Berzeihung erbat; und in der Fülle gehäufter Kränze wurde das Würmchen kaum fichtbar. Die Ges Iehrten ſchwiegen; Naturforfcher, Hiftoriker, Theologen. Herr Profeljor Harnad ergriff dag Wort. Er hat die in der Epiftel an Hollmann berührten Tragen in langen Unterredungen mit dem Kaifer durchgeſprochen und fühlt ſolche Gnade vielleicht als Teilel. „Wohlthuend und erhebend” nennt er die Worte Wilhelms des Zweiten, der „den Lleberzeugungen des Gelehrten volle Sreiheit läßt und nit an Machtiprüche denkt“; und fordert ung auf, dem Monarchen „dankbar zu fein”. Dank und Xob fcheint dem gelehrten Herrn, der als Ruther bes modernen Proteſtantismus gepriefen wird, alfo ſchon die Thatſache zu.verdienen, daß der Kaiſer nicht fommandirt: Das ift fortan in Deutſchland zu glauben und jede disſentirende Regung werde ich ahnden ; daß er nicht das Recht des Caeſareopapates für ſich fordert, nicht, trog Montes⸗ anien, Thomaſius und dem König Fritz, Apoftaten, Haeretiler, Schismati⸗ fer mit ftaatlichen Strafen bedroht. So herrlich weit haben wirs im preuß- ifchen Deutjchen Reich num gebracht. Zur Klage wäre fein Grund, wenn die Öffentliche mit der privaten Meinung übereinftimmte. Doch nur Feig⸗ heit, träge Bequemlichkeit und bie Taltilerangft, durch Widerfpruch den mächtigften deutſchen Fürften am Endegar einer Barteioder lüfternen Gruppe zuentfremben: fie allein lähmen den Belennermuth. Hundert Aufrechte hätten längſt, tauſend ſonft gejagt, was zu jagen Pflicht ift: daß fein Wochenblatt und keine Tageszeitung den Artikel des Kaiſers angenommen hätte, wenn er nicht mit dem erften Namen bes Neiches unterzeichnet geweſen wäre. Giebt die Form diefem Artikel befonderen Werth? Vergebens ſucht man die Einheit des Stils, ohne die Feine Kunſtform entftehen fan. In laute Bathetik, die am Spalier der Jahwelehre wuchs, drängen ſich Worte der gewöhnlichen Umgangsſprache; altfräntifchen Wendungen folgen In⸗ verfionen, die nur im Amts» und Gefchäftsjtil leider noch heimisch find. „ES iſt eben bei Deliich der Theologe mit dem Forjcher auf und davon gegangen und dient der Letztere nur noch als Folie für den Erjteren”. Die „häpliche, unorganijche Bildung Erfterer und Letzterer eine lomparativifche Weiter: bildung eines Superlativs —" hat Herr Wuftmann oftgerügt; von der „In⸗ verſion nach und“ jagt er, fie fei „für den jprachfühlenden Menſchen der größte Gräuel, der unſere Sprache verunftaltet; fie geht ihm noch über Der⸗ ſelbe.“ Ein anderer Sag: „Deligjch erkennt die Gottheit Chrifti nicht an

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Die Epiftel an Hollmann. 375

von Fach“ hält und auf diefen Irrthum die Hauptwucht feines Angriffes ftüßt, nennt den geftern noch vom heifeften Strahl der Sonne Beichienenen heute ironisch den „guten Profeffor”, den „vortrefflichen Profeſſor“, ficht in ihm einen Mann, dem leider der nöthige Takt, das zum Wirken ins Weite umentbehrliche Augenmaß fehle. Hier ftoct der Betrachter ſchon. So wird der Kaifer vom Hofjtaat, vom Eivilcabinet, von den Miniſtern informirt, daß folcher Irrthum möglich ift? Daß der höchfte Vertreterdeutjchen Geiftcs ein Jahr lang einen Mann durch perfönliche Huld auszeichnen und ihn vor allem Volke dann fchroff tadeln kann, ohne auch nur zu wiffen, welcher Fa⸗ kultät diefer Dann, ein Direktor der Königlichen Diufeen, angehört? Und der erſten folgt ſchnell eine zweite Frage. Der Kaifer ift nicht Theologe; ‘De= litzſch iſts auch nicht, hat das feiner Wiſſenſchaft, der Aſſyriologie, benach⸗ barte Gebiet der Logoslehre und der Bibeleregeje aber, unter dem Zwang der Berufspflicht, eifriger durchforſcht als der gefrönte Kritiker. Weshalb darf der Kaifer nur, nicht der Profefjor, den der Titel doch zum Belenner weiht, theologifchen Fragen vor den aufmerkenden Volksgenoſſen die Antwort ſuchen? Dritte Frage: Wer fchuf dem Profeſſor die Refonanz? Der Kaifer. Defien Gunſteweiſen hat Deligfchs erfte Schrift, die fonft nicht über den Heinen Zunftkreis hinausgedrungen wäre, zu banfen, daß jie in fechzehntaufend Exemplaren verbreitet wurde. Ueber Jeſus Chriftus hat Delitzſch öffentlich bishernichtgefprochen ;ingden Bereichder hriftlichen Dogmatik will ich, jagt er, michnichteindrängen. Nur aus dem Artikel des Kaiſers wiſſen wir, daß der Profeſſor „die Gottheit Chrifti nicht anerkennt“; hier, heißt e8 dann weiter, „hört der Affyriologe und forfchende Gefchichtichreiber auf umd der Theologe mit allen feinen Licht- und Schattenfeiten fett ein”. Iſt dieſe Ab- grenzung richtig? Nein. Theologos nennt man Einen, der Gejdichte und Weſen feines Gottes, feiner Götter zu ergründen fucht; wo der Glaube an die Inſpiration der mofaischen Bücher und an den göttlichen Urſprung des Saliläers geichwunden ift: da gerade, wird Manchen dünfen, hört der Theologe auf und der „forſchende Gejchichtfchreiber fegt ein”. Die ſchlimmſte Sünde des Profeſſors rügt der Kaiſer in dem Sag: „Er hat in jehr polemi- ſcher Weiſe fich an die Offenbarungfrage herangemacht und diejelbe mehr oder minder verneint bezw. auf Hiftorifch rein menſchliche Dinge zurüd- führen zu fönnen vermeint. Das war ein fchwerer Fehler." Nur in einer „puren wiljenschaftlichen Verfammlung von Theologen“ dürfe Solches ge» ſchehen, nur „ein gewaltiges Genie ſich an Solche Thatheranwagen." Stau- nend vernehmen wirs. Delitzſch hat gefagt: „Es läßt fich kaum eine größere

876 Die Zukunft.

Berirrung des Menfchengeiftes denken als die, daß man die im Alten ZTeftes ment geſammelten unfchäßbaren Leberreftedes althebräifchen Schriftthumes in ihrer Geſammtheit Jahrhunderte lang für einen religidfen Kanon, ein offenbartes Religionbuch hielt.” Das ſoll Laien, joll den Patronen einer Drientaliftengefellichaft wie eine gefährliche Entdedlung verborgen werben? Die Mahnung fommt um mindeſtens zwei Jahrhunderte zu fpät. Schon Pierre Bayle hat in feinem Dictionnaire das Vertrauen in die Unfehlbars feit der Hebräerbibel mit leiſem, doc) nachhallenden Spott angetaftet und ſchon er indem Artikel über Babylon gefragt, ob die Dienfchen wirklich jo früh nad) der Sintfluth, wie die „Heilige Schrift" lehrt, Aftrologen geweien fein lͤnnten. Jean Ajtruc, des Sonnenfönigs Leibchirurg, fand, der Pentateuch fei „aus ſehr verfchiedenartigen Quellenjchriften zufammen- geſtellt“. Die franzöfifchen Bhilojophen des achtzehnten Jahrhunderts wehr- ten fich gegen die Ueberſchätzung des Alten Zeftamentes, das allzu lange den Wahn genährt habe, die Ehriftenfittlichleit fei dem dunklen Stamm des Judenvolkes entſproſſen. Im neunzehnten Jahrhundert wurden die Ergeb- niffe wiffenfchaftlicher Bibelkritik Gemeingut aller Gebildeten. Ein paar Beifpiele. Goethe (inden vorhin fchon erwähnten Roten zum Divan): „Keim Schade geſchieht den Heiligen Schriften, fo wenig wie jeder anderen Uebers Lieferung, wenn wir fie mit kritiſchem Sinn behandeln, wenn wir aufdecken, worin jie fich widerjpricht und wie oft das Urfprüngliche, Beſſere durch nach» berige Zuſätze, Einfchaltungen und Altomodationen verdedt, ja, entftellt worden.” In „Zwo biblifche Fragen": „Es ift wahrſcheinlich und ſich glaube, e8 irgendwo einmal gelefen zuhaben —, daß das fünfte Bud) Moſis in der babylonifchen Gefangenschaft zujammengeftoppelt worden fei.” Im „Brief eines Paſtors“: „Ich weiß nicht, ob man die Göttlich- feit der Bibel Einem beweifen fann, der fie nicht fühlt; wenigſtens halte ich e8 für unnöthig. Denn wenn Ihr fertig jeid und es antwortet Euch Einer wie der ſavoyiſche Vikar: ‚Es ift meine Schuld nicht, daß ic} keine Gnade am Herzen fühle‘, fo jeid Ihr geſchlagen und lönnt nichts antworten, wenn Ihr Euch nicht in Weitläufigfeiten vom freien Willen und von ber Gnadenmwahl einlafjen wollt, wovon Ihr doch, Alles zufammengenomm

zu wenig wißt, um davon disputiren zu können”. Kant räth, v blinden Glauben an den Judengott fich zur Naturforjchung zu befehren o? „vor dem Nichterftuhl der Religion eine feierliche Abbitte zu thun“. Schlei. macher hejtreitet, daß die „altteftamentijchen Schriften” Offenbarung Gottes find: „die neuteftamentijchen find als Norm für die chriftliche Yet

Die Epiftel an Hollmann. 877

zureichend”. Noch einmal &oethe über die Biblia Iſraels: „Dieſe Schriften ftehen jo glücklich beiſammen, daß aus den fremdeften Elementen ein täufchen- des Ganzes entgegentritt; fie find volfftändig genug, um zu befriedigen, frag- mentarifch genug, um anzureizen, hinlänglich barbarifch, um aufzufordern, binlänglich zart, um zu befänftigen”. Lagarde: „Paulus hat uns das Alte Tejs tament in die Kirche gebracht, an deſſen Einfluß dasEvangelium, fo weit Dies möglich, zu&®rundegegangentft“. Renan: Lafaussesimplieite dureeitbi- blique,l!’horreurexagereequ’onyremarquepourlesgrandschiffres etles longues periodes ont masque le puissant esprit&volutionniste qui en fait le fond; mais le genie des Darwin inconnus que Baby- lone a possedesily a quatre mille ans s’yreconnatt toujours. Schon er alſo fah die Schriftfpur babyloniichen Geiftes. Herr Dr. Windler in Hel- molts Weltgefhichte: „Das Judenthum ift nicht in Juda ausgebildet wor⸗ den, jondern hat feine Entwidelung und feine Ausbreitung erft auf dem Boden der weiten altorientaliichen Kultur errungen. Wie ung bieBibel jetzt vorliegt, iſt fie daS Werk fpäter Beit. Die Eigenart der im Alterthum bes folgten Quellenbenugung gejtattet uns aber, dieBücher in ihre einzelnen Quel- len zu erlegen, jo daß wir im Stande find, Die Zeugen zu trennen undgegen ein» ander zu verhören”. Der ungenannte Berfafjer einer für ſozialdemokratiſche Leſer beftimmten, feit zwolf Jahren weithin verbreiteten Exegeje: „Die Bibel ift heute allgemein als Menſchenwerk anerfannt und kein wiffenfchaftlich Ges bildeter nimmt den heuchelnden oder bornirten Pfaffen ernft, der denihm von der hohen Staatsregirung anvertrauten Schäflein gegenüber noch den alten Köhlerglauben von der ‚Offenbarung Gottes‘ vertritt." Schopenhauer und Nietzſche, Semler, Strauß, Bauer, Bender, Mar Müller und Jacolliot, die Philofophen von Ferney und Sansfouci, Schrader, Maspero, Nöldeke wurden nicht erwähnt; und doch iftS der Beiſpiele faft fehon zu viel. Nur ein frommer Katholil, ein Führer des Centrums, fei noch citirt; in der Nede „über die Aufgaben der katholiſchen Wiſſenſchaft“ jagte der Freiherr von Hertling: „Die hiftorifchskritifche Forfchung will die Glaubwürdigkeit des Veberlieferten prüfen umd fie hat, wir leugnen e8 nicht, manches früher als glaubwürdig Hingenommene als Legende erwieſen.“ Das durftevor zehn Jahren ein Günftling des Vatikans in der Goͤrres⸗Geſellſchaft ausfprechen. Jetzt aber ſoll e8 ein „fchwerer Fehler“ fein, daß in der Deutſchen Orient- Geſellſchaft ein Philologe den Glauben an die Inſpiration der Judenbibel eine Berirrung genannt hat. Der Kaiſer hat hundert Eremplarevon Chamber- lains „Grundlagen“ verſchenkt; indiefem populären, nicht für die Theologen-

378 Die Zukunft,

zunft geichriebenen Buch wird der religiöfe und ethifche Werth der Thora viel geringer als in Delitzſchs Vorträgen geſchätzt; in diefem Buch fteht der Sag: „Selbft der Jude, jobald er die Sehnfucht nad) Weltanſchauung verfpürt, wendet fich mit Spinoza und Mendelsjohn vom Alten Teftament hinweg.“ Wilhelm der Zweite kann nicht zweifeln, daß diefes Buch „Lieblingsvor⸗ ftellungen angerempelt” hat. Vielleicht erflären die Hofpanegyriften und nächftens, warum ein -gelehrter Orientalift fündigt, wenn er thut, was vor ihm, unter dem Beifall des Kaiſers, ein geiftreicher Dilettant thun durfte.

Bis hierher hat der Kaifer aljo gejagt: Wer inder Bibel ein fehlbares Menſchenwerk fieht, ſoll diefe Anficht nicht vor „einem großen, allgemeinen Bublifum” ansprechen. Das hat fchon der Hauptpaftor Gorze verlangt; und Leſſing hat ihm geantwortet: „Wer gegen die Religion jchreiben will, ſoll nicht anders als lateinifch fchreiben dürfen, damit der gemeine Dann nicht geärgert werde.“ ‘Der einfache Bibliothefar fügte fich nicht; mit Recht. Wenn Alles, was Erfenntniß und Gewiſſen gegen „heilige und theure Be» griffe” zu fagen trieb, auf den engen Kreis zünftiger Theologen beichränft geblieben wäre, dann hätte der Menschheit nie ein Quther gelebt.

Doc der Kaiſer der uralter Theologendialektit die Lehre von den zwei Offenbarungen entnimmt unterscheidet jelbft im Alten Teſtament infpirirte von „rein menjchlich hiſtoriſchen“ Abfchnitten. „Der Akt der Geſetz⸗ gebung am Sinai kann nur ſymboliſch als von Gott infpirirt angejehen werden”. Moſes wollte das lockere Gefüge feines Volkes feftigen und Frifchte „altbefannte, möglicher Weife dem Koder Hammurabis entftammende Ge⸗ jegesparagraphen” wieder auf. Sehr glaublich; jo haben nicht im Drient nur es die Herrſcher gemacht undimmer haben fie fich dabei aufdie Erleuchtung berufen, die ihnen vom Himmel her fam. Denn den von Gottes Gnade Ge⸗ weihtengehorchendie VBölfergern. Warum aber ſoll gerade dieſe Stelfe, nicht jede andere, ſymboliſch zu nehmen fein? Und wie denkt der Kailer ſich die ihm heilige Schrift entftanden? Wer von Glauben und Stepfis ſich zugleich den Weg weiſen läßt, wird nicht weit fommen; in trübes Halbdunfel höchſtens. Iſt die Bibel „Gottes geoffenbartes Wort“, dann darf man ihr nicht mr“ Mefjer und Sonde nahen; enthält fie, wie der Kaifer meint, „eine große Ar zahl von Abjchnitten, welche rein menschlich Hiftorifcher Natur find”, dan wird die fortichreitende Kritik die Zahl diefer Abjchnitte Früh oder jpät ni vergrößern und von dem „geoffenbarten Wort” wird nichts übrig bleibı Eine der frömmiten Stunden im Leben Tichtenbergs war die, da er im Tran fich von einem „verflärten Alten“ vor die Aufgabe geftellt wähnte, den ©

Die Epiftel an Hollmann. . 379

halt eines Buches chemiſch zu unterſuchen. Dem Träumer wurde in ſeinem Laboratorio bang. „Der Inhalt eines Buches ift ja fein Sinn; und chemiſche Analyje wäre hier Analyje von Lumpen und Druderfchwärze. Als ich einen Augenblidnachdachte, wurde es aufeinmal hellin meinem Kopf und mit dem Licht ftieg unüberwindliche Schamröthe auf. O, riefich lauter undlauter, ich verstehe! UnfterblichesWefen, vergieb mir! Ich faſſe Deinen gütigen Verweis”. Mild fand er ſich dafür beftraft, daß er mit unterfuchendem Stahl die Erd- Schicht zerfplittert hatte. Hoftheologen folltenden Traum zu deuten verfuchen. Der Kaifer glaubt „an einen, einigen Gott, der, um das Menichen- geichlecht weiter zu führen und zu fördern, fich bald in dieſem großen Weiſen oder Priefteroder König offenbart, fei e8 beiden Heiden, Juden oder Ehrijten. Hammurabi war einer, Mojes, Abraham, Homer, Karl der Große, Luther, Shafefpeare, Goethe, Kant, Kaifer Wilhelm der Große." Wirklih: „Kaiſer Wilhelm der Große.” Mancher von ung, ftand in den Daily News, würde zögern, jeine Verwandten in die Gefellfchaft Mofis und Shafefpeares zu bringen. Der gute alte Wilhelm, der nicht König bleiben, nicht Kaifer werden wollte, den Bismard zu jedem wichtigen Schritt drängen mußteund der weder vom Heiligen noch vom Genie einen Blutstropfen hatte, würde fich gewiß am Meiſten wundern, wenn er ſich neben Kant genannt hörte, nebenden „Alleszermalmer”,der in der Menjchheitgejchichte mehr bedeutet als ſämmt⸗— liche Hohenzollern und noch ein Dugend großmächtiger Dyynaftiendazu. Wo finddieTage des Weft-Deftlichen Divans? DosBürgerthum des Denfervolfes hatgegendie Heroenliftedes Kaiſers nicht proteftirt. Und diefe Lifte bleibt doch, felbft wenn man den Großvater wegftreicht, merhiwürdig genug. Den Mode: babylonier Hammurabi wollen wir den Keiljchriftgelehrten überlaffen, die ſelbſt noch nicht viel von ihm wiſſen. Abraham hatin Egyptennichtgerade eine Heldenrolfe gejpielt. Als er andie Örenze des Pharaonenreiches fam, ſprach er zu feinem Weibe Sara (1.Mofe 12): „Siehe, ich weiß, daß Du ein ſchön Weib von Angeficht biſt. Wenn Dich nun die Egypter jehen, werden fie fagen: Das ift fein Weib; und werden mich erwürgen und Dich behalten. Lieber jage doch, Du ſeieſt meine Schwefter, auf daß mirs defto befjer gehe.“ Und ihm geht e8 gut: Sara wird in den Harem des Pharao gebracht, der um ihretwillen dem Bruder Gutes thut. „Und Abraham hatte Schafe, Rin- der, Eſel, Knechte und Mägde, Efelinnen und Kamele.“ Saras Frauenreiz hat Abrahams Wohljtand erfauft. Handeln jo die Empfänger göttlicher Gnade, dann follte das deutjche Strafgefeg arme, von keiner Glorie erhellte Menichenkinder milder behandeln. Duldjam ift der „eine, einzige Gott”,

380 Die Zutumft.

an den ber Kaiſer glaubt. Er offenbart ſich in Homer (der ung jeit Wolfs Zagen keinePerſon iſt): und durch die Jahrtauſende tönt dasLied von Griechen lands jchönen Göttern, die nicht Jahwe, nicht Jeſus ein Wohlgefallen ſein lönnen. Er offenbart fi in Luther: und der Doktor Martinus zerreikt das Band, das den Weltweiten in der Gemeinjchaft eines vom höchften Herrn infpirirten Glaubens einte. In Goethe: und der entgotteten Natur wirb die herrlichſte Hymne angeftimmt, die je in ein Menſchenohr Hang ; zu den Hyp⸗ fiftariern zählt ſich der Dichter, die Feiner gejchichtlichen Religion angehören, jondernaus allen das Beſte für ihr eigenes geiftiges Leben fruchtbar machen wollten; einen „decibdirten Nicht-Chriften” nennt er ſich, die Lehre von Ehrifto „jo ein Scheinding“, das ihm ſchwer mache, ihr Objekt lieb zu bes halten; da er in Venedig den Palmenjonntag erkebt, hoffter, „von den Leiden des guten Mannes aucheinigen Vortheil zu haben“. Und welcher Denfertraf den Thron desbiblifhen deusexmachinamit härterem Hammerals Kant? Das Alles ift als perfönliches Glaubensbefenntniß zu rejpeltiren ob eines Yandpaftors oder eines Kaifers, bleibt in diefem Fall einerlei —, führt unfere Erfenntniß aber nicht um eines Fußes Breite vorwärts. Es ift der Ausdrud eines frommen Utilitarismus, der in der Religion das nütlichjte Werkzeug der Staatsraifon jieht. „Wir Menſchen braudhen, um Gott zu lehren, eine Form, zumal für unfere Kinder.” So hat manche ehr- würdige Familienmutter jorgend gedadjt. So dachte Jung-Stilling; alles Gute, was ihm begegnete, ſchrieb erunmittelbarer göttlicher Einwirkung zu. Goethe wollte von folcher „göttlichen Pädagogik” nichts hören. Und Goethe wird vom Kaijer zweimal als Zeuge citirt. Das Alles ift unorganiſch; dem Theilen fehlt das geijtige Band, das fie zum Ganzen fuüpfte. Das Genie ftammt von Gott; Hammurabis und Homers, Karla und Luthers. „Das direkte Eingreifen Gottes läßt da3 Volk wiedererjtehen, das mit eijerner Konſequenz den Glauben an einen Gott al3 Heiligſtes betrachtet.” Bier „beginnt das ftaunenswerthefte Wirken, Gottes Offenbarung.” Alto it Iſrael auserwählt, höchjten Nuhmes würdig und von den Juden kam der Mrenjchheit das Heil? Nein. „ES ſchadet nichts, wenn viel vom Ni

des auserwählten Volkes verloren geht." In dieſes Duntel fällt Feu.

leuchtender Strahl. Ta iz zau75v: über jich jelbit, feines Wefen3Art hat

Kaiſer ung Klarheit geichafft; fein Denken fernen wir nun und wilfen,

er Die Welt anſchaut. Er wirdvon tausend Zungengelobt. Denn er iſt Kai.

In Bacons Apophthegmenfammlung ift eine lehrreiche Geſchicht

legen. „Ein Philoſoph, der mit dem Katier Hadrian ftritt, that e8 nur'*

Die Epiflel an Hollmamı. 38l

Ein Freund, der dabei gewefen war, fagte fpäter zu ihm: Mich dünkt, im Streit mit dem Kaifer warft Duneulicd) Dir felbft nicht gleich; ich fogar Hätte beffer zu antworten vermodht. ‘Der Philofoph aber ſprach: Willft Du im Ernft, daß ich mit Einem ftreite, deſſen Wink dreißig legionen befiehlt?“ Herr Profeſſor Harnad braucht vor feinem Caeſar Auguftus zu zittern; der An- blick der Diajejtät hat aber auch ihm wohl den Willen zu rückhaltloſer Wahr- heit gelähmt. Das nur könnte feine halbdunklen Säße erklären. Er glaubt nichtan „die landläufigen Vorftellungen von der Inſpiration des Alten Teſta⸗ mentes“; aber man ſoll heute nicht plötzlich Durch die Gaſſen jchreien, „mitdem Alten Teſtament ſei nun nichts mehr los.“ Heute? Peter Abälard, der Doctor Palatinus, iſt ſeit acht Jahrhunderten tot, lebt allen Zweiflern ſeit acht- hundert Jahren. „Rund und freudig“, ſagt Herr Profeſſor Harnad, „werden ſich alle evangeliſchen Chriften zu dem Schlußſatz des kaiſerlichen Schreibens befennen: ‚Nie war Religion ein Ergebniß der Wiſſenſchaft, ſondern ein Aus⸗ fluß des Herzens und Seins des Menſchen aus ſeinem Verkehr mit Gott‘. Die Theologie unterjchreibt diefen Sat.” Hat ihn, vor und nad) Leſſings Fragmenten, irgendwo, irgendwann ein nicht Stocdblinder bejtritten? Auch von den Offenbarungen und von der Gottheit Chrifti jpricht Harnad. „Es giebt feine Dffenbarungen durch Dinge. Die Offenbarungen Gottes in feiner Menſchheit find die Perſonen, vor Allem die großen Perjonen. Sofern num auch für die Wiffenfchaft die großen Perjonen an ihrer Individualität und Kraft ihr Geheimniß haben, ift die Eintrachtformel zwiſchen Glauben und Wiſſen, fo weit möglich, hergeftellt“. Diefe ſpottbilligen Säße deckt der be= rühmtefte Name der modernen Theologie. Dürfen wir, fragt der Dogmen- forfcher weiter, vonder Gottheit Ehriftifprechen? „Gottmenſchheit iſt auch im Sinn des alten Dogmas die einzig lorrefte Formel. Das pauliniiche Wort: ‚Sott war in Ehriftus‘ fcheint mir das letzte Wort zur fein, das wir ſprechen dürfen, nachdem wir ung langjam und ſchmerzlich von dem Wahn antiker Bhilo- fophen befreit haben, als könnten wir die&eheimniffe von Gott und Natur, Menfchheit und Geſchichte durchdringen“. Wahn, Alles ift Wahn. Kein Ge heimniß entriegelt fich unferem Drang. Und das letzte Wort unferer Weisheit iſt: Gott war in Chriſtus. Wieder meldet ich die Erinnerungan Goethe. „Der Profeflor ift eine Perfon, Gott ijt feine.” Und an die Stelle aus dem Brief des Landpaſtors, den der decidirte Nicht-Chrift fchreiben ließ: „Ich halte den Glauben an die göttliche Liebe, die vor fo vielen Hundert Jahren unter dem Namen Jeſus Chriftus auf einem Heinen Stückchen Welt eine Heine Zeit als Menſch herumzog, für den einzigen Grund meiner Seligfeit; ich ſubtili⸗

382 Die Zukunft.

fire die Diaterie nicht; denn da Gott Menſch geworden ift, damit wir arme Kreaturen ihn möchten fafjen und begreifen lönnen, muß mau ſich vor nicht3 mehr hüten, als ihn wieder zu Gott zu machen.” Iſt ſolches Stammeln ber Einfalt nicht ftärker, als Stab für taftende Seelen brauchbarer als bas pau⸗ linifche Wort? Umſonſt; ſpurlos ſchon Laſſalle jah e8 feufzenb 308 der Kranichſchwarm durch die Luft, echolos verhallte Alles, was, von Herbeg bi8 auf Helmbolg, heile Köpfe der Erlenntniß gewonnen hatten.

Noch andere Erinnerungen werden wach. Hundertunddreißig Jahre find vergangen, feit Leſſing an feinen Bruder jchrieb: „Mit der Orthodorie war man, Gott fei Dank, ziemlich zu Rande; man hatte zwifchen ihr und der Philofophie eine Scheidewand gezogen, hinter der eine jebe ihren Weg fort: gehen konnte, ohne die andere zu hindern. Aber was thut man? Man reift dieje Scheidemand nieder und macht ung, unter dem Vorwande, uns zu ver- nünftigenChrijten zu machen, zu höchft unvernünftigen Philofopben. Flick⸗ werf von Stümpern und Halbphilojophen ift das Religionfyften, das man jetst an die Stelle des alten fegen will; und mit weit mehr Einfluß auf Ver⸗ nunft und Philofophie, als fich das alte anmaft. Und doch verdenkſt Du mir, daß ich diefes alte vertheidige? Was gehen mich die Orthodoren an? Ich verachte fie eben fo fehr wie Du; nur verachte ich unſere neumodiſchen Geiftlichen noch mehr, die Theologen viel zu wenig und Philofophen Lange nicht genug find. Ich bin von ſolchen fchaten Köpfen auch jehr überzengt, daß, wenn man fie auflommen läßt, fie mit ber Zeit mehr tyranniſiren wer- den, als e8 die Drthodoren jemals gethanhaben. Ich follte nicht von Herzen wünfchen, daß ein Jeder über die Religion vernünftig denken möge? Laß mir aber doch nur meine eigene Art, wie ich Dieſes wirken zulönnen glaube. Und was ift jimpler als diefe Art? Nicht das unreine Wafler, das längft nicht mehr zubrauchen ift, willich beibehalten wilfen: ich will nur nicht, daß man e3 ohne Bedenken weggieße, und jollte man aud) da8 Kind hernach in Miſt⸗ jauche baden. Und was ift fie anders, unjere neumodiſche Theologie, gegen die Orthodorie al8 Miſtjauche gegen unreines Waffer?" So agrariich roh redete man damals; eine neue Kultur follte deutſchem Boden entfeimen und der Gedanke an Düngemittel lag nah. Setzt ift der Anger öde, über Hert jtoppeln pfeift der Wind finnlofe Lieder, die Kulturfeime find verweht; ak die Rede ein ſtärkender Troſt! hat fich verzierlicht. Doc) wenn Leſſi⸗ ſchon, der Grobian, deſſen Denfen hod) über den Häuptern unferer Beitun thcologen das Licht ſuchte, vergefjen fein muß; warum auch der fanftı Schleiermacher? Der war ja paftoral höflich, machte den lieben Landslen

Die Epiftel an Hollmann. 383

wirklich einen neuen Schleter, rojenroth, daß die Sonne hold gedämpft Hin» burchicheine. Und dennoch: wo ift feine „Unfichtbare Kirche”, deren Kanzel Vernunft und Freiheit ftügen follten? Verjunfen und vergefien. Harnad herrſcht. Er hat einen Sat des apoftolifchen Glaubensbelenntniffes Jahre lang eifrig befämpft und kämpft nun mit dem felben edlen Eifer dafür, daß Chriftus fortan nicht Gott, hoͤchſtens Gott⸗Menſch, am Beiten „von Gott erfüllt” genannt werde. Man ficht: der Führer der modernen Theologie regt fi), nach eines Prinzen Rath, nicht ohne großen Gegenſtand. Zwiſchen Chriftenlehre und Europäerleben hat ein Abgrund fich aufgethan: und der neue Luther ftreitet um Worte und Titel. Vor feiner Gelahrtheitzöge Leffing ſicher den Hut; über die letzten und höchſten Fragen aber würde er, lieber als mit dem Profeſſor, mit dem Biſchof Korum von Trier disputiren, der aufs Ganze geht und nicht um ein Loth hadert, nachdem er das Pfund gläubig eingeſteckt hat. Und der einfache Bibliothekar hätte wiederum Recht. Gegen die Orthodorie mag man fechten; gefährlicher als fie, viel gefährlicher find - die pfendoliberalen Verjuche, Morſches mit neumodiſch lackirten Balken zu ftügen und müde Mythen auf Staatsfrüden forthumpeln zu lajjen. Das Klima von Laodicaea iſt keinem Volksgeiſt je gut bekommen.

... Nach vielen unbeantworteten nod) eine Frage, der leicht die Ant⸗ wort zu finden ift. Warum ftarb Babel der Menjchheit,der die Bibel noch lebt? Weildas Miſchvolk, das wir Iſrael heißen, keinen Staat mitzufchleppen, feine religio feinem Staat zu verfrohnden hatte; weil fein Glaube ihm Heimath war, Tempel, Feftftätte und Gefängniß, Vaterland und Kultur; weil Moſes nicht „zumal an die Kinder” dachte, ſondern Einrichtungen ſchuf, die dem Volksbedürfniß einer beftimmten Stundegenügten. Im Reid) Hammurabis und Sargong fcheintes nad) jüngſtem Bericht anders geweſen zufein. Undbei uns? „Die Religion ſoll dem Volk erhalten werden.” Als ob man erhalten tönnte, was längft aus lofer Wurzelgerifienward! Die Ergebniffeder Forſch⸗ ung follen dem „großen, allgemeinen Publikum‘ verborgen bleiben. Als ob eine neue Wahrheit, und wenn ie gefnebelt würde, unter dem tauſendzackigen Szepter des Demos nicht aus der Feſſel ſpränge und durd) die Gaſſen liefe! Auch bei uns giebt e8 Fromme. Schon der leife Zweifel, der jacht den ver- witternden Dffenbarungsglauben befriecht, ift ihnen ein Aergerniß. Wenn fie dann aber dem Auffichtrath der Allgemeinen Eleftrizität-Gejellfchaft prä- fidiren, laffen fie®ott einen guten Mann fein und horchen auf die Dynamoge- räuſche der amerikanischen Konkurrenz. Babel hatteeineausgebildete Technik, die alle Nachbarnationen in feinen Dienft zwang ; in der Bibel lebt eine Kultur.

Was dieBoruffologeninviertaufend{gahren wohl finden werden? Ma- ſchinenreſte, Ranonenrohre und die EpiftelGuilelmi Nepotis an Hollmann.

884 Die Zukunft.

Das britifche Transpaal.*)

I“ in Südafrika ift eine Heine Welt in Trümmer zerfchlagen worden. So will3 das Gefeß der Entwidelung, jagt man ung. Wozu nad) den zufälligen Urjachen und Wechjelwirfungen fragen? Auch ein ſattes Weltreih muß nad) Brot gehen, um für die Zukunft zu ſorgen. Und der Befitichein in der” Taſche iſt mehr werth als das ſchwanke Bewußtfein wirthichaftlichen Einfluffes. Raubluft, Eroberung ſucht, Weltmachtfoller? Nein: der englijche Imperialismus iſt nicht Die bloße Ausgeburt neronischen Herricherwahnfinnes. Er ijt die Form, in die einer Weltmacht Wucht den legten Schluß unjerer heutigen StaatSweisheit „wirthichaftlicher, kultureller und politiicher Einheititaat” geprägt hat. Unfenntniß oder tendenziöje Darjtellung der füdafrifanifchen Ver- hältniffe ließen uns England nicht immer gerecht werden. Sitt- lihe Empörung, Gefühlsengagement und die Abneigung innerlicher Andersartung find ein jchlechter Anwalt der Objektivität. Nicht ver- gefjen darf werden, daß die Urfachen einer berechtigten Entrüftung zum Theil an dem herausfordernden Verhalten gelegen haben, von dem wir ung nicht ganz freifprechen können. Die deutiche Volksſeele Hat ſich für eine Sache eingejekt, die fie nur mittelbar berührte. Die Rück— wirfung auf die Zaufende von Deutfchen und die Milliarden deutjcher Werthe, die in der Welt der engliichen Beziehungen ein nationales und wirthichaftliches Stüd von uns bilden, ift leider nicht ausgeblieben. Die Stellung unferer überſeeiſchen Volksgenoſſen hat namentli in Süd⸗ afrifa unter der Xeidenschaftlichkeit deutjcher Parteinahme gelitten. Hoffent⸗

*) Während des Transpaalfrieges haben einzelne Leſer in diefen Blättern den lauten Widerhall fritiflofer Burenbegeilterung vermißt; einzelne nur. Das Be- dauern, daß die Gelegenheit, Großbritaniens Macht durch den wirkſamen Einſpruch einer oalition zu ſchwächen, verfäumt wurde, genügte ihnen nicht; fie wollten jeden Bur als einen Bayard, jeden Briten als ein Scheufal dargeftellt fehen. Und da faft die ganze Preſſe fein aufflärendes, fein auch nur leije abmahnendes Wörtchen durchlidern lieh, konnten fie eine Weile glauben, hier würden die Vorgänge, die in dein großen Trauerjpiel agirenden Menden im Dienft einer Tendenz gefärf’ Daß fie irrıen, haben fie inzwiichen felbjt woHl eingejehen. Chamberlaing Reif Thon, die Aufnahme, die er fand, die Erfolge, die er heimtrug, die völlige Ab: kehr des Nolfes von Krüger, Kitcheners füdafrifaniiche Popularität: das Alles hi bewiejen, welche Berrbilder ung lange vors Auge geitellt worden waren. { folgende Schilderung eines Deutjchen, der die Greignijje in der Nähe jah, w. den Lefern der „Bufunft“ zeigen, daß der Standpuntt, von dem aus bier t Diltorie und deren Helden betrachtet wurden, nicht falſch gewählt war.

Das britifche Transpaal. 385

fich gleichen fic) die Gegenfäge wieder fo weit aus, daß unſer eigener Wirthichaftförper nichts davon zu ſpüren befommt. Die englifchen Kolonien find eins unferer wichtigften Abjatgebiete. Ein gutes Verhältnig zu England iſt alfo neben einer politifchen Forderung auch eine Brot: frage für Deutichland.

Das mit Drabtgittern und Blodhäufern befäte Transvaal unter Kriegsgejek und Paßzwang ift fein Zand für den Vergnügungreifenden. Meaterielle Anfprüche muß man vertagen und feine unfruchtbaren Be- trachtungen über den Werth des Geldes anftellen. In achtundvierzig- jtündiger ununterbrochener Fahrt legt der Poftzug die 1014 Eriglifche Meilen betragende Strede zwijchen Kapftadt und Kohannesburg zurüd. Angenehmer kann man faum reifen. Kaum aber ungemüthlicher haufen, als es der legte Ankömmling in einem überfüllten Hotel Johannes— burgs muß. Für eine luft: und lichtarme Manjarde und eine Küche, die jelbft meinem anfpruchslofen Magen widerftand, wurde 1 Pfund Sterling pro Tag nicht zu viel gefunden. Die halbe Flaſche Bier foftete 2 Shilling. Und froh genug war ich) noch, ein Unterfommen gefunden zu haben, denn die wenigen dem DVerfehr geöffneten Hotels genügten dem Andrange nicht.

Johannesburg bededt eine Fläche von 6 Engliſchen Quadrat— meilen. In ſechs Jahren ift e8 im werthlojeften Theil des Landes al3 Wunder moderner Entwidelung auf Goldgrund emporgefchoffen. Ueber langgeftredte Hügel und Thäler breitet fich ein gelbgraues, grün durchjettes Häufermeer aus, gegen das der Witwatersrand feine Schlote in die Lüſte ftrecdt. Von erhöhten Standpunft aus mildert der Aus: blief Auf die von Waldftreifen durchzogene Hügeljteppe die Nüchternheit diefes Hintergrundes. Auf den felfigen Hängen des nördlich vorge- lagerten Höhenzuges reiht fich dagegen Billa an Villa, inmitten fauberer Gartenanlagen, von ſchlanken Eufalypten und düfteren Cypreſſen faft erdrüdt. Weit in das braune Land hinein ziehen fic dunkle Wälder gegen Bretorias Berge hin. Hunderte von QDuadratmorgen umfafjen fie, find oft parfartig von Alleen durchichnitten und zeugen von dem Unternehmungsgeift, der mit dem Gold hier eingezogen ift. Im Inneren der Stadt Freuzen fich gerade, Filometerlange Straßen. Der nimmer ruhende Höhenwind wirbelt im Winter die feine gelbe Erbe, die fie bededt, zu undurchdringlichen Staubmaffen auf. Um jo jchädlicher für Augen und Lunge, als fie mit den pulverifirten Minenrüditänden ver-

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386 Die Zuhmit.

mengt find, die fich in der Nachbarſchaft der Stabt zu weißen Bergen aufhäufen. Bergebens fämpft der Sprengmwagen gegen diefe Plage an, die den Aufenthalt unerträglich machen kann. Inter den Regengüſſen des Sommers verwandeln fich die Staubbahnen in fnöcheltiefe Moraſte.

Kohannesburg trägt den Charakter feiner Entftehung: die Anlage hat einen großen Zug; leichtes Baumaterial; Ausdehnung in die Breite: ſpekulatives Vorgreifen. Daneben die befannten Gegenjäße rajcher Ent: wicelung: der Bankpalaſt an der Seite der Wellblehbude und das Kaufhaus neben der Schnapsſpelunke.

In diefem wirthſchaftlichen und politiſchen Brennpunkt Tans— vaals waren buriſch nur: die Verwaltung und ſieben vom Hundert ſeiner Bewohner. Die Initiative, die Johannesburg ſchuf, das Material. aus dem es erbaut, die Intelligenz, von der es getragen, das Kapital, das die Milliarden ins Rollen gebracht, und dreiundneunzig unter Hundern Köpfen feiner Bevölkerung: Alles war fremden, überwiegend engliichen Uriprunges. Eine Bauernregirung über diefem Treibhaus der Kultur muthete wie ein gejchichtlicher Widerfinn an. Mein Eindrud von Nohannesburg war ein Staunen darüber, daß der wirthichaftlichen die politiihe Eroberung nicht ſchon früher gefolgt war. Englifche Zwed— darftellung hat Ohm Krüger und Die um ihn fehmärzer gemalt, al: jie waren. Sie boten fein unverrüdbares Bollwerk gegen den Tyort- jchritt, wohl aber einen fchwerjchleifenden Hemmſchuh. Ihr Wirth: Ihafthorizont war der veränderten Lage nicht gewachſen. Die latente englijche Gefahr nährte ein Mißtrauen, das ſich auch gegen berechtigte Forderungen fträubte. Die Nothwendigfeit eines Syſtemwechſels ergab ſich nad) verfchtedenen Richtungen hin.

Die Frortichrittsfreunde drängten an dag Staatäruder und Die uneigennüßigen oder auch futterneidiichen Elemente wandten ſich gegen die Krüger: Glique, die ſich am Staat lange genug gemäftet hatte. Die Intelligenz Anleihe bei Holland trug zur Erbitterung gegen die Regirung bei. Die Eindringlinge bemächtigten fich der fetteiten Pof*- und jahen verächtlic) auf das dumme Bauernvolf herab. Man hu : oben eingejehen, dan der Bauernverftand an einigen Stellen dod) : Ergänzung bedurfte. Bei England wollte man aus naheliegenden Gı_ ; den nicht borgen; fo wandte man fid) an das Stammland, Mit weldy ı Enderfolg, lehrt die diplomatische Wirffamfeit des vielgewandten I Leyds, des typiſchſten Vertreters des Neuholländerthums im alten Tre >

Das britifhe Transvaal. 887

voal. England griff zu, bevor der Anbruch einer neuen Aera ihm die Hauptwaffe aus der Hand gewunden hätte. Sicher wäre die Trangvaal- frage unter einer zum Fortſchritt bereiteren Regirung noch nicht brennend geworden. Auf wie lange fie vertagt werden -fonnte, ijt ſchwer zu jagen. Mit Zeit allein war aber ſchon Vieles gewonnen. Wie leicht fonnte ein Weltreih mit den vielen Reibungflächen des englichen durch Ver: legenheiten in einem anderen Crdtheil für dag jüdafrifanijche Rieſen— unternehmen gelähmt werden !

Gunftwirthichaft und Korruption nahmen, wie in faſt jeder Ne: publif, breiteften Naum in der Zransvaalregirung ein. Weil fie mit naiver Offenheit betrieben wurden, boten fie England ein wirfjames Werbemittel. Ste werden auch unter englifcher Herrſchaft vielleicht bleiben; nur die Taktif wird ſich jest ändern. Das Monopol für Wenige wird durchbrochen werden, um mehr Sutterftellen an der Staatsfrippe zu ichaffen. Das Hausmeierthum der Minenfammer macht jich ſchon in nebenfäcdjlicyen Erjcheinungen fühlbar. Wer dort Fürjpracdje hat, fommt heute jchneller nach Zransvaal hinein als durch die Vermittlung der Behörden. Wie jollte jich aud) in feinem Urfprungslande die Wacht des Goldes verleugnen! Im Zransvaal, ob burijch oder englifch, wird Soldpolitif getrieben. Die Intereſſen des gelben Erzes werden jelbit einem Milner und Chamberlain das Geſetz biftiren.

Krügers Grundfag war: L’Etat e’est moi! Seine Umgebung machte aus dem Ich einen Plural, Wer wird diefem jeltiamen Manne gerecht werden? Vorfintfluthliche Starrföpfigfeit, Egoismus; Bauern: ſchlauheit; Verjchlagenheit; Deſpotismus; blindes Gottvertrauen; ftaats- männifche Begabung; Aufgehen in der Sache feines Volfes und fana- tiicher Glaube an die Unverrückbarkeit der diefem Volk wichtigen Dinge: alt diefe oft fo gegenfäklichen Eigenjchaften mifchen fich zu einer Per- fönfichfeit, die einzig in der Geichichte dazuftehen fcheint. ‘Diefer Mann mit dem ftruppigen Cylinder und dem baumwollenen Regenfchirm will mit eigenem Maß gemefjen fein. Ihn aber jentimental nehmen, zum Heros und Märtyrer jtempeln, als Batriarchengeftalt in unferem Sinn hinftelfen, den Slorienjchein der Zragif um ihn weben: Das ift ber Mummenſchanz eines Gıfühls, das nur auf fremden Boden gedeihen fonnte. Die Eindrüde, die man im Transvaal empfängt, find jehr dazu angethan, allen Menſchenkultus zu bejeitigen. Auch wenn der Bosheit, der Verleumdung und dem leichtfertigen Gerede ihr ‘Theil zuerfannt wird, bleibt noch genug, den deutjchen Schwärmer zu enttäujchen.

29°

388 Die Zukunft.

Krüger galt ung als die Verförperung unſeres eigenen Idealis mus, unſerer gejchichtlichen Tugenden und nicht zulegt als Ventil für einen hundert Jahre lang genährten Groll gegen England. Uniere traditionelle Stellung ift auf der Seite des Schwachen, des Kämpfers für die idealen Güter der Freiheit und des Volfsthumes; Krüger, der Vertreter eines Volfes, das wir uns raſch ſtammverwandt angliederten, war uns Symbol. ES jchaltete die geichichtliche Kritif aus und hatte zu dem Menſchen Krüger nur äußere Beziehung.

Oft ift gefragt worden, weshalb Krüger gegangen fei. DieAntwort it einfadh. Man fchob den alten Mann ab, weil er den Maßnahmen im Wege ftand. Sein Scheiden bedeutete die Befreiung von einem Drud, unter dem die Ereigniffe noch langſamer in Fluß gefommen wären, al3 es fo jden geihah. Als man aud) die übrigen reaftionären Elemente verbraudt hatte, war eg zu ſpät, dem Kampf eine entjcheibende Wendung zu geben. England trat ſchon mit breiter Sohle in Südafrifa auf. Ein Botbe, Delarey, Dewet vermochten nur noch den Zeitpunkt des Zuſammen— bruches hinauszuſchieben.

Bor Krügerd Häuschen in Pretoria fann man fich gefhict: philofophifchen Betrachtungen überlaffen. Das neugebildete füdafrife nische Konftablercorps hat dort fein Hauptquartier aufgejchlagen. Tie Marmorlöwen haben den Wechfel überfchlummert. Der britijche Fön aber ift eingezogen in ... den Zoologiſchen Garten von Pretoria. Krüger hatte ihn, feiner verfänglichen Symbolif wegen, Rhodes, von dem & ihn als Geſchenk befam, wieder zurücdgefandt. Nun ift er wiedergekehn und Krüger ift gegangen. Noch fühlte der Leu ſich beengt in jeinem Reiſekäfig. Mit der Zeit wird er ſich aber im Transvaal ſchon ein- zurichten verjtehen. Da, wie gejagt, die marmornen Genoſſen jchlum: mern, wiflen fie auch nicht, wohin die Zeiger vom blinfenden Ziffet⸗ blatt der gegemüberftehenden Kirche gerathen find. Der Volksmund | jagt, fie feien von Gold geweſen und Krüger habe fie mitgehen heißen. Solcher und ähnlicher Geichichten find Dutzende im Umlauf. Wer ein Wenig Hinter die Couliſſen des alten Transvaals fchauen w’“ der leſe: „Behind the Scenes in the Transvaal“ von Dapf* ah

Wilfon. Das Bud) ift von einem Engländer geichrieben ird Deutſchen deshalb kaum bekannt ſein. Die Stimmung im Transvaal ift, wie fie nicht anders em

Yande fein kann, dejien geſammtes Wirthichaftleben zerichl*- nd

Das britiſche Transvaal. 389

auf dem die Fauſt des Eroberers laſtet: ohnmächtige Verbitterung der Buren und auffäfjige Unzufriedenheit der Kolonialengländer. In Süd— afrifa fteht England vor der jchwerften Aufgabe feiner Kolonialpolitif, Der bedingte Optimismus, den Balfourd Neden verrathen, und die Neije Chamberlains find die äußeren Beweile dafür. Diefer Mann, der Anſpruch auf unfere Sympathien nicht erheben wird, verrichtet ganze Arbeit. Das muß man ihm lafjen. Er hat wie ein Fels in der Brandung geitanden und fcheute nicht davor zurüd, fich in die Höhle des Löwen zu wagen. Wenn irgendwo, fo fonnte er dort feinen Fanatiker finden. Er verftand nicht nur, zu zertrümmern, fondern ift auch gewillt, wieder aufzubauen. Sein Ausharren war aber nur mög: . lich, wenn ein Volk in einmüthiger Erfenntniß Männer, die ihm große nationale Ziele vorzeichnen, auch in Zeiten ftüßt, wo das fittliche Einzel- entpfinden mit der höheren Pflicht gegen das Vaterland nicht recht zu— fanımenflingen will. Den Briten fann der gute Wille nicht abgejprochen werden, die Wunden in Südafrika zu heilen. Nur ift mehr Zeit und Geduld nöthig,als nach großen Opfern der erflärliche Drang eines verwöhn- ten Bolfes daran zu geben geneigt ift. Das erforderliche Geld ift von der Re⸗ girung bereit geftellt. Der Appell der drei Burengenerale an die fremden Nationen hat feine Wirfung auf England nicht verfehlt. Die Leute waren beſſere Politiker, al3 der erfte Emdrud ihres Vorgehens glauben machen wollte. Nach PVieler Meinung werden wohl noch zwei fahre verftreichen, bis der legte Bur wieder feft auf feiner Scholle fikt. England wird eine äußerft vorfichtige und weitherzige Politik treiben müſſen, um die Gegenfäße fo weit zu mildern, daß in abjehbarer Beit nicht der dumpfbrütende Groll ſich in offene Empörung verwandelt. „Wenn e8 jo weiter geht, haben wir in fünf Jahren die Revolution und ein geeintes, unabhängiges Sübafrifa!” Das hörte id) oft; Stimmung in fpätere That umgeſetzt. Die Drohung, die Verfaffung der Kapfolonie aufzuheben, war wohl nur ein politiicher Schadyzug mit dem Zweck, einen Anlaß zu verföhnlicher Nachgiebigfeit zu jchaffen. Die Durd führung einer fo heiflen Maßnahme hätte Del in die glimmende Gluth gegofien. Chamberlain dachte wohl nie ernftlich daran.

Mit dem politiihen Zuſammenbruch Transvaals ift ein Haupt- hinderniß für die Verwirklichung des Afrifandertraumes weggeräumt. Krüger ſtand als ausgefprochener Partikularift dem Reichsgedanken fremd, ja, feindlic) gegenüber. Wie der Bur fein politifch-nationales

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390 Die Zukunft.

Bewußtjein, feinen Gemeinfinn, feine Cpferfreudigfeit für den Ztaat :

bejaß, ſondern nur feine eigene Angebundenheit in jtreng gewahrtem Bolfsrahmen forderte, jo verhielt fid) Transvaal zur ſüdafrikaniſchen Geſammtheit. Der Bur ift fein tiroler Freiheitkämpfer, der Gut und Blut begeiftert für das Waterland hingiebt und dem die nationale Eadı höher jteht als das eigene Ich. Ein deutfcher Arzt, der bis zum Schluß bei den Buren ausgeharrt hatte, erzählte mir: am Anfang des Krieges habe jeine Hauptthätigfeit darin beftanden, die Drückeberger, die ihın der Feldkornet zur Unterfuchung jandte, wieder in die From zurückzuſchicken. Ihrer ſeien nicht Wenige gemwejen.

Die Begeifterung bei der Mobilmachung war, jo weit fie nict auf übertriebener Schilderung beruht, nur örtlicher Natur. In Centren, wie Johannesburg, ift niemals Mangel an unruhigen Elementen, die jede Störung des status quo in Hurrahftimmung verfekt. Die grone Maſſe, die Etwas aufzugeben hatte, gehorchte innerlich widerjtrebend dem Zwang. Viele, die draußen im weiten Feld wohnten, betrachteten den Krieg als eine Sache, in die fie der „olle Krüger nur Hineingertiten habe”. In der erften Kriegszeit ftand nur ein Bruchtheil der Buren im Feld. Erſt als der Einzelne fid in feiner Eriftenz bedroht jah und jchließlic) überhaupt nichts mehr zu verlieren hatte, haben die Männer, die heute in Aller Mund find, verzweifelnde Kämpfer um fi) geichaart und mit eiſerner Fauſt zujanmengehalten. Da erjt it in der Schule der Noth und der Erbitterung gegen den Eindringling das politische Nationalgefühl erwacht, da erit das Bewußtſein durdy- gedrumgen, dag mit dem Volfsthum auch der Beitand des Staates ge- fährdet war. So fehlte der Kriegführung anfangs der moralijche Faktor, der die Zuchtlofigfeit befämpft und jelbft das unorganifirte Burenheer troß aller taftiichen Rückſtändigkeit zu entfcheidenden Schlägen

befähigt hätte. Die Begeifterung der Ausländer, die für die Sache |

der Freiheit zu jtreiten famen, verftand der Bur nicht, weil fie ihm felbft fremd war. Er zudte über die jonderbaren Schwärmer *r Achſeln, ſchaute hochmüthig auf fie, wie auf jeden Fremdling, her ;, behandelte fie jchlecht und Tieß fie, wenn ſich die Gelegenheit bot, . e Kaftanien aus dem Feuer holen. Der Burenenthufiasmug unferer vier; 7 Sreiheitfämpfer, die wir in Sanfibar an Bord nahmen, Hatte T ) gründlich abgekühlt. Er konnte aud) nur bei Unfenntniß des Bure - harakters entitehen. Gerade wir Deutiche haben jo mande8 Gt ?

Das britifhe Trausvaal. 391

unferes Idealismus und ftet8 mit dem gleichen, ſchon hiftorifch ge: wordenen Danf für fremde Völfer dahingegeben. Auch die jüngjten Erfahrungen werden daran für die Zukunft nichts ändern. | Bezeichnend für die Lage im Transvaal ift die Stimmung ge- rade der engliſchen Kreiſe, bejonders der Minenintereffenten, die doch zum Krieg gedrängt hatten. Es liegt ein Stückchen Vergeltung darin, daß fie eine Fehlrechnung gemacht haben. Bon den politifchen Beweg⸗ gründen abgeſehen, ftrebten fie nad) billigerer Produftion, um den Ge- winn zu erhöhen. Die Abgaben ſollten verringert, die Frachtſätze herab- gejegt und das Dynamitinonopol durchbrochen werden. Das waren die fpringenden Punkte der wirthichaftlichen Reform, zu der man auf

friedlichem Wege nicht gelangen Tonnte. Mit dem Siege Englands

Ichten das Ziel erreicht; aber man erlebte eine bittere Enttäuſchung. Der Krieg hatte länger gedauert und tiefere Spuren hinterlafien, als man erwarten konnte. Der ganze Wirthichaftlörper war zujammen: gebrochen und eine Krijis eingetreten, die den joliden Unternehmungen den Boden entzog, dem Schwindel aber Vorſchub leiftete. In dieſer Noth griff man zu einem Mittel, das ſich als zweijchneidiges Schwert erwies: man jeßte die Löhne der Kaffern beträchtlich herab. Der Kaffer blieb nun ganz fort und aus der Krife wurde ein Nothftand. Die alte Frohnarbeit, noch dazu mit. gefchmälertem Verdienſt, paßte dem ſchwarzen Gejellen nicht mehr. Gr hatte den Reiz gefoftet, im abge: fegten Khakirod, mit der Büchje in der Hand, in engliſchem Sold auf YBurenftreife zu gehen. ‘Die Heeresverwaltung zahlte gut, weil fie die Leute brauchte. So, verdarb fie den Kaffer und bie Preife. Trotz thatfräftiger Organifation, die ſich aud) anf die ojt: und centralafri- fanischen Befigungen erftrecft, ift es bisher nicht gelungen, den Arbeiter: bedarf nur annähernd zu decken. In dem Wirrwarr der wirthichaft: lichen Bedrängniß, der die Minenproduftion unterliegt, jteht die Arbeiter: frage obenan. Natürlich ift die Einführung von Kulis in Erwägung gezogen worden. Die Regirung wird aber um fo weniger geneigt jein, eine „Selbe Gefahr” für Südafrika heraufzubeichwören, als fich der Inder dort ſchon breit genug macht und dem Heinen Mann das Fort: fommen erfchwert. Der von Anfang an ausjichtlofe Verfuch, den Kaffer durch) den aus. dem Heer entlafjenen Freiwilligen zu erjegen, ift ge: icheitert. Das Feldleben Hat ihn nicht minder verwöhnt und der Ver- dienft ift zu gering, als daß der Weiße auf die Dauer die Arbeit des

892 Die Zukunft.

Schwarzen verrichten möchte. In einem Lande mit Negerbevölferung iſt felbjt der Proletarier dem Schwarzen gegenüber der Ariftofrat der höheren Raſſe. Er beauffichtigt und fommandirt, fteigt aber nicht auf die jelbe Arbeitjtufe zu ihm herab. Auch fteht, davon abgejehen, die vorhandene Zahl nicht im Verhältniß zum Bedarf. Wohl ift die Re: girung an der baldigen Löſung des Problens ſelbſt intereſſirt. ES fann ihr aber nicht damit gedient fein, das politifch unzuverläfiige Element im Lande durch die fozial minderwerthigen Söldnerſchaaren zu vermehren. Jetzt, da man ihrer nicht mehr bedarf, ift man frob, fie wieder [08 zu werden. Zu Kolonifatoren des entvölferten Landes find fie nicht geeignet;- und in den Städten entbehrt man fie gern. Um den Betrieb in größerem Umfange aufzunehrhen, wird den Minen— herren nichts Anderes übrig bleiben, als die mit Fleiß herabgejekten Löhne wieder zu erhöhen. Der wider Erwarten lange Stillftand der Produktion erfordert jchnelles Handeln. Bei meiner Anwejenheit ın Johannesburg arbeitete vielleicht ein Fünftel der gefammten Minen: betriebe mit etwa einem Drittel ihrer Stempelzahl. Der Markt lag ftitl und wartete vergeblich auf eine Aufmunterung aus Yondon. Co lange die politiichen und wirthichaftlichen Abfichten der Regirung im Dunfel blieben, war ſolche Aufmunterung unmöglid).

Die vorläufige Befreiung der Minen von jeglichen Kriegsabgaben wurde inımer unwahrfcheinlicher. Yondon wollte in beredhtigter Zahlung: müpdigfeit endlid) einmal Geld jehen. Die Beläftigungen und Erjchwe: rungen des Kriegsgejeßes trafen alle Schichten der Bevölkerung. Unter der unpopulären Militärvermaltung machten fie fi) beſonders fühlbar. Für jede Kifte Waaren bedurfte es eines ausdrücklichen Einfuhrerlaubnit: ſcheines. Er wurde nur für den nothwendigften Bedarf ausgeftellt, um die durch Militärtransporte in Anſpruch genommenen Eifenbahnen nicht zu überlaften. Die Kaufleute Elagten, weil fie nichts verkaufen fonnten und ihre Frachten Weonate lang bei hohen Spefen im Aus- Ihiffunghafen der Beförderung harrten. ‘Der Konfument litt unter der ungeheuren Wertheuerung der Lebensmittel. Das fchwarze Yxı nitte die allgemeine Konjunktur aus und fteigerte feine Anfpı Humderte von Geſchäftsleuten, die der Krieg vertrieben hatte, wa' auf den erjehnten Paß, um an den Wiederaufbau ihrer zerftörten Er. zu gehen. Der Paßzwang wurde mit äußerjter Schärfe gehand! Die Kontrole war, wie ich ſelbſt an mir erfuhr, jo genau, MR '

Das britifche Transvaal. 893

ziehungen ausgeichloffen fehienen. Daß der Pafizwang fo lange nad) dem Friedensſchluß fortbeitand, ift England als chicaneufe Engherzig- feit ausgelegt worden. Sehr mit Unrecht. Es war ein Aft der Selbft: erhaltung und der Nothwehr, den wirthichaftliche und politifche Gründe geboten. Das ausgelogene Yand war dem Andrange großer Menſchen⸗ maffen nicht gewachjen, der in Johannesburg und anderen Orten ge- radezu eine Hungersnoth gejchaffen hätte. Auf der anderen Seite mußte das Zuftrömen politifch zweifelhafter Elemente, an denen wahrlich fein Mangel war, verhindert werden. In den Verwaltungzweigen, beſonders im Verkehrsweſen, fehlt e8 an Routine und an Vertrautheit mit Land und Yeuten. Das vermehrte die Schwierigkeiten und fteigerte die Un- zufriedenheit. Der Apparat ſollte möglichft billig arbeiten. Dean bejekte daher die frei gewordenen Stellen mit oft blutjungen, frijch importirten Engländern. An Angeboten war fein Mangel. Es waren ihrer genug, die da glaubten, in den eroberten Landen Karriere machen oder fich ſpäter eine gute Brotjtelle erdienen zu fönnen. Um anzufommen, be- gnügten fie fi mit geringen Anfangsgehältern und regirten und ver: walteten nun ohne Kenntniß der Verhältniſſe keck drauf los.

Die hier nur flüchtig ſtizzirte Vage erzeugte eine Erbitterung, die in Verſammlungen und namentlich in ber Sprache der Preife un: geſchminkten Ausdrud fand. ES ift nicht fchwer, daran den Grad der Oppofition zu bemejjen, mit der die Regirung in der neuen Kolonie gerade unter dem englilchen Element zu rechnen hat. Der Entſchluß Chamberlains, fich eine eigene Anfchauung von den Verhältniffen zu bilden, war aljo verftändlich. Faſt ſcheint es, als ob die-Burenfrage vorläufig in den Sintergrund der politiichen Sorgen gedrängt wird. Ob mit Milner an der Spite des jüdafrifanifchen Gejammtreiches die Durdführung einer erfolgreichen Verjöhnungpolitif möglich ift? Ich zweifle Bet den Buren iſt er der bejtgehaßte Mann, deſſen Befeitigung von ihnen in den Friedensbedingungen gefordert wurde. Auch im Kap- parlament fehlt es ihm wahrlich nicht an Gegnern. Vielleicht wird Chamberlain doch jchlieglich feinen bedeutendften Mitarbeiter, fo ſchwer er ihn entbehren mag, der Staatsraifon zum Opfer bringen müjfen.

Wird England der Lage in Südafrika: Herr, jo geht das Land einer Entwidelung entgegen, an der uns Deutſchen nicht zulegt ein wirthichaftlicher Antheil zufallen muß. Nöthig ift dazu aber, daß fünftig das nüchterne Intereſſe dem widerftrebenden Gefühl Ruhe ge:

894 Die Zutimft.

bietet; um fo nöthiger, als der deutiche Handel, der unter dem Kriegs: zuftand und unferer Stellungnahme gegen England gelitten hat, gerade dort unten mit der immer bedrohlicheren Konkurrenz Nordamerifas rechnen muß. Ein unter eigener Flagge vereintes Südafrifa wird nid die felben wirthfchaftlichen Ausjichten bieten. Der lojere Zujammen: bang eines Bundes räumlich fo ausgedehnter und im Weſen verichie dener Staaten böte eine viel unficherere Grundlage al3 ein gejchlojiene: engliſches Kolonialreich. Durch die Eroberung Transvaals iſt die Delagoabai-Frage brennend geworden. Selbſt die Nachgiebigkeit des portugieſiſchen Vaſallenthumes wird nur noch kurze Zeit den widernatürlichen Zuſtand aufrecht er— halten können, daß der zuſammengebrochene Kolonialſtaat den Thür. hüter Englands in Südafrika ſpielt. Die Vollendung der Kap-Baira- Bahn ift ein weiteres Moment, das zur baldigen Löſung drängt. Diilners Konferenz mit dem portugiefilcden Gouverneur in Lourenço Marquez ift zwar im fchönjten Einvernehmen verlaufen und König Eduard hat mit der Verleihung eines hohen Ordens darüber quittirt. Das wird aber den naturgemäßen Gang der Ereignijie nur jo Lange aufhalten, bis England im Transvaal erjt ein Bischen Ordnung ge ihaffen hat. Die erwähnte Zuſammenkunft hatte einen amujanten Nachklang, der Portugals finanzielle Nöthe auch im Kleinen beleuchtet. Um den einflußreihen Gaft würdig aufzunehmen, war für Milner in Lourenço Marques eine Billa gemiethet und neu ausgeftattet worden. Der Empfang verfehlte jeinen Eindrud nicht und wurde in den füd— afrifanifchen Blättern mit Genugthuung beſprochen. Als aber Bejiger und Lieferant Bezahlung verlangten, zuckte man im Gouvernement dic Achſeln, da feine Fonds für diefe Ertraausgaben vorhanden feten. Der Gouverneur lehnte natürlich ab, die Koften der Stantsrepräfentation aus der eigenen Taſche zu deden. Wenn die Geichädigten Geduld haben, werden fie noch in die Lage kommen, der engliichen Regirung, vielleicht mit beſſerem Erfolge, ihre Nechnungen zu überreichen. Der Draht; der Verrath im Yager der Buren; die Bewaffn. 9 der Kaffern und die Folgeerſcheinungen der Konzentrationlager: X & waren die unmittelbaren Urfachen des Friedensſchluſſes. Nicht ic materielle Erjchöpfung und der moraliihe Zuſammenbruch des führenden Volfsreftes; obwohl fid) auch ftarfe Friedensjehnjucht rer e.

Friedrih von Erdert.

er

Banknoten. 395

. Banknoten.

ge die Minen des Transvaal englifch geworden find, Hat der Bimetallis- mus aufgehört, eine Frage praftifcher Politif zu fein; und er wirds wohl in abfehbarer Zeit nicht wieder werden. Als 1897 Frankreich und die Vereinigten Staaten gemeinfam eine internationale Konvention für die Doppelwährung her⸗ beizuführen juchten, wurde ihren’ Delegirten die verlangte Zuſage der freien Silberprägung in Indien verweigert. Als Grund gab die britiiche Megirung an, die Operationen für Aenderung der indiichen Währung feien nun meit genug gefördert, um den Kurs der Rupie auf den für den Uebergang zur Goldwährung vorgejehenen Stand von 1 sh. 4 d. zu bringen, und die jo im beiten Gange befindliche Aktion wolle man nicht unterbrechen. Danach blieb immerhin zu hoffen, die engliſche Regirung werde früher oder ſpäter erfennen, eine wie grobe Selbfttäufchung es war, das Zeichen guten Fortganges darin zu fehen, baß fie diefen Kurs, den fie erreichen mußte, endlich erreichte. Thatſache ift, daß man in Indien von der wirklihen Einbürgerung des Goldes Heute fo weit entfernt ft wie je. Aber gewiß ift auch leider, daß fürder feine Erfahrung und feine Rückſicht auf die Intereſſen des indiſchen Volkes deſſen britifche Beherrſcher ver» anlaflen wird, irgend ein Vorgehen zu begünitigen, dag dem Goldmonopol |däd- lich jein könnte. Dafür find auch die Intereſſen des Transvaal zu bedeutend, bie zu vertreten ihnen jeßt obliegt und von deren Pflege, wie die Dinge liegen, die Konfolibation der füdafrilanifchen Verhältniſſe mit bedingt if. Dan muß darauf gefaßt fein, daß England künftig nicht nur allen Verſuchen zur Einführung der internationalen Doppelmwährung jede Mitwirkung verfagen, jondern ſich direkt feindlich dazu ftellen würde. Die Drohung, die Staaten einer bimetalliftifchen Konvention mit dem indifchen Silber zu überſchwemmen, wäre zwar nur ein Popanz, denn die Entfernung des Silberd aus der indifchen Eirkulation iſt leichter defretirt al3 ausgeführt. Aber bis jetzt wüßte ich wenigftens feine Re⸗ girung, deren Nerven ſtark genug wären, fi) von diefem Popanz nicht fchreden zu laſſen. Und darum muß ich annehmen, daß die Niederlage der Buren auch über das Scidjal des internationalen Bimetallismus entfchieden hat. Zwar könnte in dem Umftande, daß nun mehr als die Hälfte der geſammten Produktion des gelben Metall3 von einer einzigen Macht Eontrolirt wird, eine Aufforderung mehr für die anderen Staaten liegen, fi) von dem Goldmonopol zu emanzipiren. Aber bier den Willen zur That werden zu laffen, würde die Befreiung von einem Aber» glauben vorausfegen, die von dieſer Generation nicht zu erwarten tft: von dem Aberglauben an die Allmacht Englands auf dem Gebiete ded Geldweſens.

So ift denn die Herrfchaft des Goldmonometallismus als eine vollendete Thatjache hinzunehmen, mit ber man ſich abfinden muß, und unantaftbare Er- rungenſchaften bleiben: die virtuelle Uenderung der Schuldfontrafte, dad Zer- reißen der Parität mit ſolchen Ländern, die auf das Silber angewieſen bleiben, nebjt der hierdurd von Beit zu Beit bewirkten Störung des Handels, und das Herumtreiben von Milliarden minderwerthigen Geldes in ber Cirkulation der civ:lifirten Völker. Daran ift nichts zu ändern und ich jelbft Habe eine Hoffnung zu Grabe zu tragen, bie Hoffnung, die von mir vertretene Theorie des Geld- werthes müfle an dem Tage von den hartnäckigſten Zweiflern als richtig erfannt

396 Die Zutunft. |

werden, an dem bie induftriellen Großitaaten die Probe darauf maden wärben. Diefe Genugihuung zu erleben, darf ich jedenfalls nicht mehr Hoffen. Dagegen barf ich wohl vorausjegen, daß, wenn id) jeßt und Tünftig veranlaßt jein mag, auf andere Schäden in unferem Geldweſen Hinzumeifen, mir nicht gefchehen wird, wie ınir vor ſechs und vor vier Jahren geihah, als ich Artikel über die Lage ber Reichsbank und über gewiſſe in unferem Geldumlauf hervortretende jympto- matiſche Erſcheinungen veröffentlichte. Ich mochte noch jo ſehr betonen, daß die Schwankungen in den fihtbaren Geldvorräthen mit der Währung gar nichts zu thun haben, daß fie von ganz anderen Faktoren abhängen und eben jo bei Silber- oder Doppelwährung, ja, jelbjt bei PBapierwährung eintreten wie bei der Gold⸗ währung: immer wurbe boch ber Pferbefuß des böjen Bimetalliften gefucht.

Heute will ih auf eine Beitimmung in unjerem Bankgeſetz hinweiſen, "bie ih auch vom Standpunkt eines überzeugten Monometalliften für durchaus verfehlt halten müßte, und ich hoffe, nicht mehr bie Gefahr zu laufen, daß man mir dabei eine verftedte Abficht gegen unfere Währung unteritellen könnte Zweifelte ich no an dem Fortbeſtand diefer Währung, jo würde ich nicht einen einzelnen Mangel abzujtellen beantragen, da e8 mir doch nur erwünſcht ſein fönnte, ihn beſtehen zu laflen.

Der Paragraph 2 des Bankgeſetzes vom vierzehnten März 1875 lautet: „Eine Verpflichtung zur Annahme von Banknoten bei Zahlungen, welche ge feßlih in Geld zu leiften find, findet nicht ftatt und kann aud für Staat“ kaſſen durch Landesgeſetz nicht begründet werden.“ Er ſtatuirt bamit eine Härte, die, wie ſchon bier vorläufig bemerkt fei, unſerem englifchen Vorbilde fremd ift.

Man wird mir, wenn ich auf das Bedenkliche diefer Beitimmung bim- weije, fofort entgegenhalten, daß fie doch in adhtundzwanzig Jahren feinen Schaben geltiftet Habe. Das ijt richtig und wird auch weiter jo lange gelten, wie ber Paragraph praftifch nicht angewandt wird. Wir haben drei Jahrzehnte unge ftörter, friedlicher Entwidelung hinter ung, nur durch Unternefmungstrilen unter- brochen, die unjere VBolfswirthichaft doch niemals im Kern getroffen haben... Zeit- mweilige ſtarke Prefjungen im Geldmarkt konnten bei dem feitgewurzelten Ver⸗ trauen, bei allfeitig vorhandenem guten Willen, und da unjere geihäftlichen Sitten bis jet die Ausnußung folder Konjunlturen verbieten, nad einiger Zeit Itet3 glüdlih überwunden werden. Wenn fo gigantiide Kämpfe zwilchen großen Yinanzgruppen, wie die new-yorker Börfe fie kennt, einmal, was keineswegs ausgeichloffen ift, bei uns ausbrechen follten, fo läge die Wer- ſuchung ſchon nah, daß eine Partei die andere durch Einjperren von Gold im die Enge zu treiben unternähme. Das würde ber Paragraph 2 begünftigen, ba auf diefem Gebiete ber erfte Anftoß eine überrafhend große Wirkung hervor⸗ rufen müßte. Uber aud die Yortdauer friedlicher Zuftände ift ung d 5 geradezu verbürgt. Wäre fies, jo müßten wir ja auch fonft weniger vorji jein und könnten mandjes ſchöne Geld für Heer und Marine jparen oder aud p den Rejerviften einmal die Uebungen nachſehen. Wir thun es aber jo we wie wir unterlafjen, uns gegen Feuersgefahr zu verfichern, obwohl e8, bei großen Seltenheit von Brandlataftrophen, doch aud als Schwarzjeherei ge fönnte, für eine foldde vorzuforgen. Doc nehmen wir einmal an, gege tiide Störungen ober einen Krieg von Finanzgruppen bürften wir un?

Banknoten. 897

Zufunft als gefihert anjehen. Nchmen wir an, es könnten aud) andere, eine Sinapphett von Hartgeld bewirfende Urjachen nicht eintreten, fo daß ein Anreiz, Banknoten an Zahlungitatt zurüdzumeilen, für immer ausgejchloffen wäre. Da, welchen Sinn hat dann überhaupt diefer Baragraph 2? Wozu fteht er da? Und fann es vernünftig fein, eine Vorfchrift zu konſerviren, die iım beiten Fall nur zwecklos ift, die aber in dem Augenblid gefährlich wird, da ihr ein Zweck zu- geichrieben werden könnte?

In England hat man cine gleiche Beftimmung ſchon 1833 abgeſchafft und die Noten der Bank von England als legal tender für alle Beträge Über 5 Pfund erflärt, auögenommen in der Bank von England felbit, die ihre Noten bei Vor» zeigung gegen Gold einzulöjen bat. „We regard the enaotment uf the stat. 3& 4 Will. 4 c. 98, which makes Bank of England notes legal tendor everywhere except at the Bank and its branches, for all sums above £ 5. as a great improvement.” So leſen wir hierzu im Dictionary of commerce von Mac Culloch, Ausgabe von 1844, ©. 72. Un der jelben Stelle ift dann bie Situation gelchildert, in die das alte Syftem die Banf verjeßt hatte (a situation of great diffieculty and hazard). Wenn den Provinzbanten ihre Noten zur Einlöfung präfentirt wurden, konnten fie nicht mit Noten der Bank von Eng: land, ſondern mußten mit Gold zahlen. So verkauften fie bei jeder auftauchenden Schwierigkeit jofort Negirungficherheiten und wappneten fi) mit Gold, das fie der Bank von England entzogen, jo daß aud eine Fleine Störung fich leicht zu einer Geldkriſe auswachſen konnte. Hier wird gerade mit Rüdficht auf die Ge- fundheit der Währung die Erhebung der Banknoten zum legal tender empfohlen. „The currency could not possibly be in a sound healthy state, while the Bank of England and through ber, public credit, where placed in so perilous a situation.“ Das wird, mutatis mutandis, auch für deutfche Berbältniffe zutreffend fein. Allerdings haben wir nicht eine jolde Menge Noten ausgebender Provinz: banten, wie fie damals in Großbritanien bejtanden. Uber diefer Unterjchied fommt nur für bie Leichtigkeit und Häufigkeit in Betracht, mit ber eine Gefahr aus dem beiprocdhenen Zuftande fich ergeben fan. Die Dimenfion der Gefahr ift darum bei uns nicht Fleiner zu ſchätzen. Wenn zu irgend einer Beit an irgend einem Punkte Deutſchlands der Paragraph zu praftifcher Bedeutung käme, der den Banknoten die Eigenſchaft, als Erfüllung zu gelten, abipricht, fo wären unfere Mittel: und Großbanken mit ihren Depofiten» und Giroverbindlichkeiten fofort genöthigt, die Beſtände an Gold, die fie jonft zu halten pflegen, in ganz außerordentlihem Umfang zu vermehren. Das müßten fie um jo gewiſſer thun, als ihnen $ 18 des Bankgeſetzes die Sicherheit verjagt, ftet3 an Ort und Stelle gegen Noten der Reichsbank Gold erhalten zu können. Er lautet: „Die Reichs- bank iſt verpflichtet, ihre Noten a) bei ihrer Hauptfaffe in Berlin fofort auf Präfentation, b) bei ihren Zweiganitalten, jo weit e8 deren Barbeftände und Geldbedürfniſſe geftatten, dem Inhaber gegen kursfähiges deutſches Geld ein- zulöfen.” In Eritifcher Zeit werden diefe Zweiganftalten nicht nur Eleinere Bar- beftände als fonft haben, fondern aud auf größere Geldbedürfniſſe gefaßt fein müffen. Wenn die Reichsbank, wie zu erwarten ift, darauf fieht, daß die Zweig⸗ anftalten von dem Rechte, das ihnen Alinen b giebt, feinen Gebrauch maden follen, fo wird fie im einer folden Zeit ſelbſt Gold an fih zu ziehen ſuchen, um bie Beftände der Zweiganftalten zu ergänzen. Aber mit den Opfern, die

398 Die Zuhurft.

dazu nöthig wären, könnte die Zeitung der Bank doch nur bis zu einem gewiſſen Punfte gehen. ebenfalls würden ji die Kreditbanken, bie Bankhäufer, bie großen Induftriellen und Kaufleute jagen müflen, daß dieſer Vorbehalt nidt etwa nur zur Verzierung in das Alinen b gebradt ijt und daß er für ale Pläße außerhalb Berlins gilt. Der Regirungentwurf wollte wenigftens den Bmweiganftalten an PBlägen mit über Hunderttaufend Einwohnern die Einlöjung pfligt „vor Ablauf des dritten Tages nad dem Tage der Präjentation” (jpät genug!) auferlegen. Aber im verabſchiedeten Geſetz find Emporien wie Ham: burg und Frankfurt darin den kleinſten Pläßen gleichgeftellt. So wäre Frankfurt mit den geltenden Beitimmungen im Kriegsfall heute fchlimmer daran als jelbft im Zuli 1870, da inzwiſchen auch die Frankfurter Bank aufgehört hat, als Notenbant zu exiftiren. Damals waren es die Transporte unferer eigenen Truppen, die die Lage für unjeren Markt erjchwerten. Und bei aller Zuverfiht in bie Kraft des Deutſchen Reiches follten wir doch nicht ganz überjehen, daß und im Vergleich zu den Briten eine noch größere Mahnung zur Vorſicht ge- geben ilt: uns fehlt die infulare Lage bes meerbeherrichenden England. Warum follten alſo gerade wir unterlaffen, eine Feſſel des Geldverfehres abzuſtreifen, von ber die Engländer ſich vor fiebenzig Jahren befreit Haben?

Zum Wejen eines Edelmetall Standard und insbefondere zum Weſen der Soldwährung gehört nicht, daß der gut fundirten Banknote die Eigenſchaft dx logal tender aberfannt werben müßte. Das wird wohl ausreichend durch das Bei- jpiel des Goldwährunglandes par excellence bewieſen. Niemand Hat in bieim fiebenzig Jahren gezweifelt, daß England eine reine und fihere Golbwäßrung bat, und eben jo wenig würde Jemand in die Solidität unjerer Währung einen Zweifel jeßen, wenn wir, ba3 englifche Beifpiel befolgend, den 5 2 des Banl- geietes fo abänderten, daß Jedermann zur Annahme von Reichsbanknoten bei Bahlungen verpflichtet if. Dann würde das Verlangen nad Gold nie fo groß und bejonders nie jo dringend auftreten, wie es beim heutigeh Stande bes Ge ſetzes geſchehen könnte. Die Reichsbank dürfte dann fogar ruhig die Verpflichtung übernehmen, aud an ihren Hauptitellen die Noten bei Bräfentation gegen Gold einzulöjfen, und würde doch ihre Soldbeftände in ſchwerer Zeit weniger als unter dem fombinitten Regime ber SS 2 und 18 gefährdet ſehen. Gerade die Angit. man werde Bold brauden und nicht haben können, bewirkt in ſolchen Fällen dıe Stnappheit. Außer der Reichsbank haben wir jegt nur noch vier unter bem Geirg von 1875 ftehende Banken, die der größeren Bundesftaaten Sachſen, Bayern, Württemberg und Baden. Auch den Noten diefer anerkannt guten Banken fönnte die Berechtigung, die hier für die Noten der Reichsbank vorgefchlagen wird, ohne Bedenken gewährt werden. Aber wenn es ſich lediglich darum handelt, der eben beiprochenen Gefahr zu begegnen, fo ift e8 zweifellos, daB ſchon bie Reichsbanknote als legal tender ihr die Spige abbrechen würde.

Ich habe die Gründe, bie für eine Abänderung ber SS 2 und 18 dei Banfgefeges, ganz bejonders aber für die des Paragraphen 2 ſprechen, nicht an- nähernd erfhöpft. Zunächſt wollte ich hier eine Anregung geben und abwarten, welches Echo -fie finden wird. Hoffen will ih, daß man dieſe Angelegenheit nicht als Parteifache behandeln werde. Sie ift für die Intereſſen aller Stände von gleicher Bedeutung.

Frankfurt a. M. 3 Karl Het.

»Weltenſchickſal. 399

Weltenſchickſal.

DB: Erde rollte dur den Raum. Sie traf mit einem jungen WVeltkörper zuſammen, der noch glühte und deshalb ganz ohne Neben war.

„Suten Tag, Kamerad“, jagte ber Fremde und folgte ihr.

„Guten Tag', jagte die Erbe, die es eilig hatte und mit all ihren Selt— ſamkeiten durd den Raum eilte.

„Nein, wie merkwürdig Du ausſiehſt!“ fagte der Fremde ganz neugierig und ftierte die Erde an.

„Ich bin aud älter. Du bift noch ein Grünſchnabel.“

„Aber jage mir do: Was umhüllt Did; eigentlich?” fagte der Fremde.

„Das Leben‘, antwortete die Erbe.

„Was bedeuten dad Grün und das Blau in Deinem Gewand?‘

„Wälder und Meere.’

„Und das weiß leuchtende?‘

„Eisberge und Schneegipfel.”

„Aber einige Berge beivegen fid) durch die Wälder?’

„Das find keine Berge”, fagte die Erde. „Es find Thiere, deren Höhe über die Wälder Hinausragt. Uber entichuldige: ich habs eilig. Adieu!“ Und die zwei Weltkörper rollten jeder ſeines Weges.

Einige taufend Jahre jpäter trafen fie wieder zufammen.

„Guten Tag’, fagte der Fremde, der immer noch glühte und lebensöde war. „Zrafen wir uns nicht vor einem Jahr?“

„Rein, geftern‘‘, fagte die Erde.

„Aber wie haft Du Dich verändert!" fagte der Fremde. „Was bedeuten all die lichtgrünen Streifen, die ſich zwiſchen Deinen Bergen hinziehen?”

„Wieſen und Kornfelder“, antwortete die Erde. „Und die winzigen, Tleinen Weſen, bie auf dem Grünen Eribbeln und frabbeln? Es find wohl die felben Inſekten wie auf den anderen Weltlörpern ?”

‚Nein, e8 find Menſchen“, jagte die Erde. „Adieu!“

Und Jahrtauſende Ichwanden wieder bin. Und als die zwei Weltkörper einander wieder begegneten, wies ber Fremde einen Kleinen Unterfchied zwifchen Zand und Waſſer.

„Guten Tag”, fagte er. „Du ſchmückſt und pußeft Did ja immer mehr mit Grün; die Wälder vermindern fi) und die lebenden Berge find verſchwunden.“

‚Die Menjchen verdrängen Alles, was ihnen im Wege fteht‘, fagte die Erde.

„Sind dieſe feinen Wejen fo ſtark?“ fragte der Fremde und blickte auf alldie Schaaren hinab, die mitten im Grünen arbeiteten und wimmelten. „Es find wirk⸗ lich fo drollige Dinger. Ein Theil ſcheint mir noch vom vorigen Male befannt.“

„So“, fagte die Erde. „Ich mache Dich nur darauf aufmerkfan, daß die Menſchen, die Du damals ſahſt, jegt Millionen von Geſchlechtern zurüd- liegen. Sie find geftorben und wurden zu Erde, Luft und Waller, wurden Theile anderer Menſchen und Thiere und wieder zu Erde, Quft und Wafler, immer- fort wechſelnd.“

„Aber wir begegneten einander doch erft vor einem Tag“, jagte der Fremde.

400 Die Zukunft.

„Ein Tag für Did und mid umſchließt für die Menſchen taufende von Sahren.“

„Und wie viele taufend Sabre lebt old ein Menſch, ehe er zu Erde, Luft und Wafler wird?"

„Du bift immer noch recht grün und unwiſſend“, fagte die Erde. „Ein Menſchenleben zeichnet fich nicht durch Länge aus. Seit wir uns das letzte Mal trafen, ijt ein Kind Dann, Vater, Großvater, Urgroßvater geworben unb lirgt jetzt als Staub in der Erbe.“

„So ... Uber was fauft denn von all diejen lebenden Weſen empor?”

„Millionen von Herzſchlägen.“

„Und id höre ein Zittern und Beben in biefem Saufen; warum erzittern alle dieje Leben tiefinnerlich ?*

„Bor Angſt.“

„Wovor?“

„Bor dem Tode.“

„Dem Tode? Was ift Das?“

„Du erfährit e8 früh genug. Adieu!“

„Bleibe doch noch“, jagte der junge Tsremde. „Wenn ber Tod Deinen Kindern Schred und Unglüd bringt: warum rotteft Du ihn nicht aus? Erhalte ich felbit einmal lebende Weſen, dann werde ich feinen Feind bes Lebens behauſen, fondern all meine Gefchöpfe forglos und ewig geſtalten.“

„Balls Du nur felbft forglos und ewig bleibft“, jagte die Erbe. „SG babe viel gejehen und weiß, was ich weiß, und womit das Ganze endet. Dei halb bin ich jo eilig; ich muß noch viel, jehr viel ausrichten. Adieu!“

„Sag’ mir doch, was Du weißt und womit das Ganze endet!“

„Adieu!“ fagte bie Erbe und eilte weiter, ſchnell, unaufhaltſam durch ben Raum.

Und wieder ſchwanden Jahrtauſende. Und als die zwei Weltförper wieder zufammentrafen, hatte der junge fremde Land und Meer und Berge und große, ftille Wälder. -

„Willkommen“, fagte er. „Uber, Liebiter Freund, ich erfenne Dich kaum, Du haft Dich unglaublich verändert. Seht bift Du vollftändig weiß! Wo Haft Du denn all Dein Grün gelaffen?“

„Es liegt unter Schnee und Eis.”

„Und all die Lebensmyriaden?“

„Sie find alle zu Staub geworden.”

„Aber warum lebten fie denn? Warum bebauten fie Deinen Boden und rodeten Deine Wälder aus? Warum litten und dulbeten fie? Hörft Du nidt ihre Klagen über ein unbarmherziges Schidial? Oder liegt ihr Staub —""g und jchmeigend ?“

„Sie haben es nicht fchlimmer als ih. dien!”

„Wohin treibft Du jet?“

„sn mein Grab.”

„Was iſt ein Grab?“

„Es ift das Letzte. Sch bin alt und müde und mit mir gebt 8 > zu Ende. Nur nod ein Streifen Grün ift mir inmitten meined Her +

Weltenſchickhſal. 401

blieben, aber auch er ſchwindet morgen. Vorbei, vorbeil Mein Leben iſt mir ſo kurz erſchienen. Lebewohl, mich ſiehſt Du nie wieder. Ich bin bald ein wandernder Kirchhof, ein einſamer Schatten in der Nacht.“

„Jetzt begreife ich, was der Tod iſt“, ſagte der Fremde. „Wirſt Du wirklich auch ...7“

„Ja.“

„Werbe ich auch einmal... .?”

Ja.“

„Alle, all die Myriaden ſchöner Weltkugeln, die jetzt den Raum mit Licht erfüllen, werden fie auch ...7“

Ja.“

„Erldſchen?“

„Ja.“

„Selbſt die Sonne?“

„Ja.“

„And dann wandern wir Alle als Schatten im Raume in einer ewigen Yacht einher?” -

„Ja.“

„Da find wir doch jehr unbebeutenb, wenn wir nicht ewig find.‘

„Srinnerft Du Dich der Menſchen?“ jagte die Erde.

„Ja, ihre Lebenszeit war ja nicht der Rede werth.“

„Und doch habe ich Myriaden von Weſen gezeitigt, die geboren wurben und in einem Menſchenrundgang Urgroßpäter wurden.”

„Und jebt ift Ulles gefchiwunden. Seht höre ich Fein Saufen von Herz ſchlägen, jet erzittert Feine Angſt. Jetzt herrſcht Friede auf der Erde?“

, ‚Sa.

„Uber ich werde mein Meer und mein Sand nicht mit lebenden Wejen bevölkern, wenn doch einmal Alles in Eis erjtarren wird.”

„Warte!“ jagte die Erde; „warte nur, bis die Sonne Dich bittet; dann fannit Du nicht anders. Lebewohl.“

„Aber glaubft Du nicht, daß Dein Eis einmal ſchmelzen kann und Alles von Neuem beginnt?

„Lebewohl!“

„Hoffſt Du nichts?

„er fih mit Weltkörpern bevölkert, wird auch einmal... .'

„Enden?“

„Ja.

„Wie ein Schatten in der Nacht?“

„Ja.

„Und dann?” fragte der Fremde.

„Lebewohl!“

Und weiter rollte die Erde auf ihrer eiligen Fahrt durch den Raum, um zu ſterben.

Chriſtiania. Johan Bojer.

30

402 Die Zukmft.

Selbitanzeigen.

Ethik und Volkswirthſchaft. Vom Profeſſor W. Nein. Berlin, %. Harms Nachfolger. Preis 50 Pfennige. (Heft 13 der „Sozialen Streitfrage‘, Herausgeber: Damaſchke).

Die Ethik Hat bei vielen Menjchen und oft nicht bei ben fchlechteiten - viel von ber alten Geltung verloren. Die Schuld daran trägt die Galonetkl, die mit allerlei hübſchen Phraſen von Gut und Böfe Tofettirt, aber nie baran

bentt, für das lebendige Leben Geltung zu beanfpruchen. In dieſem bilige

Büchlein num macht einer ber erften Vertreter der Bhilofophie Kants umb Herbart? einen beachtensiwerthen Vorſtoß. Profeſſor Rein will der Ethik das Recht e- kämpfen, auch für das öffentliche Leben Richtlinien zu ziehen, bie klar und jdm beftimmen, was in der heutigen Wirthfchaftordnung nach dem Stande der eıhilde Wiſſenſchaft als fittlich gut angejehen werden muß und was von dieſem Et

punkt aus einer organischen Ulmgeftaltung bedarf. Und Rein zieht dieſe Onm-

linien wirflid. Die Organe der Terraingefellfchaften und ber Sohlenbarart werden von diefem Büchlein entjet fein; ehrliche Volksfreunde aber wert dem Gelehrten für feine tapfere That danken.

Adolf Damafdte ð

Dramatiſche Handwerkslehre. Bon Avonianus. Zweite Auflage. Berl. Hermann Walther, 1902.

Im Deutfhen Reich giebt es zur Zeit etwa fo viele Arten von Reli mus, wie ed GSteuerflaffen giebt, in öftlichen Gegenden noch multipligirt mi der Entfernung von Berlin. Theilen wir diefe in zehn Zomen und nehmen da Bequemlichkeit wegen zwanzig Stenerklaffen, fo haben wir zweihundert Gert: von Realismus, die der Dramatiker aufzumifchen hat, je nachdem er jein Publitum judt. Im Dorf an der polnischen Grenze genügt e8 zur Täuſchung volllommer. wenn ber Held mit dem Geſpenſt fünf Schritte über die Tenne gebt, auf M geipielt wird. „So, jetzt find wir vor dem Thor; was fagen Sie nun?“ Em Scheibe von Seidenpapier, mit einer Laterne dahinter, markirt dazu den Mont In der wohlhabenderen Sreisftadt vier Meilen davon ift man auf der Galeri bei joldem Vorgang auch noch leidli unterhalten, im Parquet bereits empin über den „Mangel an Natürlichkeit”; man lehnt es ab, auf ſolche „Mätzcher bineinzufallen. Hier muß ber Mond ſchon unbedingt durch eine echte Schwein⸗ blaje, mit einem echten Talglicht darin, vorgeftellt” werden; jonft verliert bit gebildete Zuhörerſchaft in den „Räubern“ pldötzlich „allen Antheil”. Und in de Metropole? Da Habe ich mit eigenen Augen geſehen, wie Mundwinkel bis auf ME Kravatte heruntergezogen wurden, weil in Anzengrubers föftlicdem „Beimg' Funden“ in den aufgehenden Mond nicht mit ſchwarzer Kreide der „Mann im Monde“ nachgezeichnet war. Diefe Schweinsblafe da oben! Entſetzlich! Muß man de nicht ‚„‚allen Antheil“ verlieren? Für jo weit VBorgefchrittene darf Heimg funden eigentlich nur noch an hellen Winternächten geſpielt und das Theaterdach ml dazu abgebedtt werben, damit ber Mond vom Himmel geraben Mr-- " de

Eelbftanzeigen. 403

Eriten Rang hineinfceinen Tann. Dann mimen wirkliche Bapierfchnigel höchft naturgetreu den fallenden Schnee.

Man fieht, der ganz echte Realismus ift unjerer Kleidung vergleichbar: je mehr man anzieht, deſto mehr verweichlicht man fih. Zuletzt frieren die Leute im Belz an Sommertagen. Wollen wir da nicht lieber den richtigen Sprad)- gebrauch einführen und das Ding, dem die Theaterbireftoren fo fehr, zu ihrem eigenen Schaden, entgegenkommen, ftatt Realismus vielmehr „Mangel an Illu—⸗ fionfähigfkett” nennen oder „Verbrauchtheit“ oder „Unluft am Trug”? Dieje Unluſt, ſich täufchen zu lafjen, bat, jeit 1888 anwachjend, leider aud die Fabel höchſt ungünftig beeinflußt." Früher galt als wahrjcheinlic, was möglich und in der Welt fon beobachtet worden war. Ein Realiſt vom inneren Birfel

rechnet anders. ——— nur an einem —ä Ehe ee es ift aljo zwanzigtaufendmal wahrfcein- licher, daß Caeſar lebte. Sein Tod Bat etwas ‚ganz Unwahrfcheinliches und darf auf einer Bühne, die den Titel „modern‘ verdienen will, unbedingt nicht

zur Darjtellung fommen. Nur das ganz Triviale, ſtets Dageweſene, fih immer selbe a u Duden mad. hi Ba ir Ichienen die alten PBuritaner wieder am Werk, die in England die Theater fchloffen, weil die Dichter „lögen“. Da verſuchte ih, durch mein Bud) den mwunderlichen Heiligen zuzurufen: „Habt Euch doch nicht fol Der ganze Kram, den Ihr auftifcht, ift nicht blos mehrfach dageweſen, er ift auch noch genau fo ledern wie früher!" Der nicht fehr glücdliche Titel mußte der zweiten Auflage bleiben, aber ein paar Sapitel vom Dialog und von den Rollen, auch dag von der geſunden und giftigen Bühnenkoft, find neu. Sie möchten der dra« matifhen Werkjtatt ihre Schwierigfeiten nicht etwa nehmen, fondern im Gegen- theil, fie vecht verbeutlichen. | Lahr 1. 2. Dr. Robert Hefien.

*

Drei Briefe.

Se Kaufmann, der die ſüdamerikaniſchen Zujtände kennt, jchreibt mir:

DR „Artikel 6 des von Deutfchland und Venezuela unterzeichneten Proto- kols lautet: ‚Die venezolanifche Regirung verpflichtet fich, die zum größten Theil in deutſchen Händen befindliche fünfprogentige venezolanifche Anleihe von 1896 zugleich mit ihrer gefammten auswärtigen Schuld in befriedigender Weije neu zu regeln. Bet diefer Regelung follen die für den Schuldendienft zu verwendenden Stantsein- fünfte unbejchadet ber bereit3 beftehenden Verpflichtungen beftimmt werden.‘ Das find fehr vage Verſprechungen und man darf mit Sicherheit annehmen, daß dieſe Neuregelung, ſelbſt wennder venezolanijche Kongreß, der ja das ganze Protofol noch genehmigen muß, ihr zujtimmt, fich noch Jehr lange verzögern wird. Wahrſcheinlich wird ſich das Schiedsgericht im Haag mit der Frage der im Beſitz ber Diskontogejell- ſchaft befindlichen fünfprozentigen Anleihe von 1896 zu befchäftigen Haben; denn die englijchen Eijenbahngefellichaften, die aus dein Ertrag diejer Anleihe für die Ab— Löjung der venezolanischen Zinfengarantien entichädigt werben jollten, haben ben

80”

404 Die Zukunft.

Wunſch, die venezolaniſche Regirung folle die Diskontogeſellſchaft dafür verantwort- lid machen, daß fie die Anleihe nicht begeben bat. So lange dieſe Anleihe nicht ven der Diskontogeſellſchaft zur Öffentlichen Subjkription aufgelegt wurde, Tonnten bie auf das Belingender Emiſſion angewieſenen engliſchen Eiſenbahngeſellſchaften natür: lich ihr Geld nicht erhalten. Der Streit dreht fi alfo darum, daß die Diskonto⸗ geſellſchaft nicht, wie ſie, wenigſtens nach Anficht der englifchen Intereſſenkreiſe, fon: tralktlich verpflichtet war, die Emiffion der von ihr zum Kurs von80 übernommenen Anleihe im Betrag von fünfzig Millionen Bolivares Gold rechtzeitig bewirkte, jor- bern fie ad oalendas graecas verfchob. Und die Gegner der Diskontogeſellſchaft ftügen ſich dabei auf die folgenden Thatfahen. Das vom Kongreß am neunten April 1896 erlafjene Geſetz ermächtigte die Regirung, eine Anleihe von 50 000 000 Bo livares abzufchließen. Artikel I beftimmt, daß deren Produkt folgende Berwendang finden fol: 1. Die den Eifenbahngejellfchaften bis Ende 1895 gejchuldeten Beträge zn bezahlen. 2. Für die Aufhebung der beftehenden Zinsgarantienzu bezahlen.3. Für ben Erwerb einer oder mehrerer Eifenbahnlinien. 4. Zur Unterftäßung des Baues ber Centralbahn bis Santa Lucia. Artikel I beftimmt: wenn fi) ein Ueberſchuß er: geben jollte, jo Lönne Die Exekutive darüber für irgend einge dringende Angelegenheit verfügen. Wrtifel ID jagt, die Anleihe Habe durch eine ah iffion von 50000000 Bo- livares zu erfolgen, die zum Mindeſtkurs von 80 durch die felbe kontrahirende Bank bewerkitelligt werben ſolle.

Natürlich Hatte die Regirung, bevor fie ben Geſetzeniwurf einbrachte, ſich mit allen Eiſenbahngeſellſchaften, auch mit der deutſchen, verſtändigt. Am fünfzehnten April 1896 wurde zwiſchen der Regirung von Venezuela und dem Bertreter der Dis: kontogeſellſchaft in Caracas, Herrn Knoop, ein formeller Anlethevertrag umter- zeichnet, aus deſſen Inhalt bier das Wefentlichite wiebergegeben ſei. Artikel 1: Die Regirung wird dem Direktorium ber Diskontogefellfchaft fofort bei Unterzeichnung des vorliegenden Vertrages einen Generaltitel einhändigen über die Geſammtſumme der Anleihe von 50000000 Bolivares Gold (Intereſſen vom erften Januar 18% an), verzinslich zu 5 Prozent und mit 1 Prozent Amortifation p.a. Diele Anleihe ift hierdurch von dem Direktorium der Diskontogejelfhaft zum Preis von 80 ge zeichnet vermittels einer Emiffion von 50 000 000 Bolivares, die die Diskontoge- ſellſchaft in Titeln au porteur unter ber Bezeichnung Venezuela: Anleihe von 18% begeben wird. Artikel 4: Aus diefen 50 000 000 Bolivares hat das Direktorium ber Diskontogeſellſchaft 36 000 000 Bolivares in Titeln zu erhalten und damit zu zahlen: A. der deutihen Großen Venezuela. Eifenbahngejelichaft Alles, was ihr die Re girung in Bezug auf die fiebenprogentige Zinsgarantie bis Ende, 1895 (7 299 738 Bolivares) ſchuldet, und für die vollftändige Befreiung der Regirung aus ihrer Ber- pflichtung einer Zinsgarantie in fünftigen Zeiten, in Summa 26 000 000 Bolivares. B. ſich jeldft (der Disfontogefelichaft) die Kommilfion für die Anleihe und u: anderen auf die Emilfion entfallenden Spefen. Sobald die in diefem Artikel ee : wähnten Bahlungen geleiftet find, joll bie Verpflichtung der Diskontogeſellſchaft Bezug auf die 36 000 000 Bolivares als erfüllt angejehen werden. Artifelb beftimn daß der Reft von 14000000 Bolivares zur Berfügung ber Negirung für die - rechnung der Tyorberungen der anderen Eifenbahngefellichaften bleiben fol. 5 Bertrag über den Dienft der Anleihe beftimmt: Artikel 1: daß das Direktorium d Disfontogejelichaft den Dienft der Anleihe mit 5 Prozent Zinfen und 1 Pro» .

Drei Briefe, 405

Amortijation beforgen wird; Artikel2: daß die Vergütung an die Diskontogeſellſchaft in !/, Prozent auf den nominellen Betrag der ausgeloften Titel und 1 Prozent auf den nominellen Betrag der Zinsabjchnitte (wenn fällig und bezahlt) beitehen wird; Artikel 3: daß die Distontogejellichaft irgend welche anderen Banken umd Agenturen aus der erwähnten Bergütung für den Anleihedienft zu befriedigen hat. Artikel 4, 5,6, 7 und 8 find ohne befonderes Intereffe. Artikel 9 fagt im fpanifchen Tert: „El Diseonto hard la emision de este emprestito, llevando & cabo su cotiza- cion en los Bolsas de Berlin, Londres y Paris, cuando lo crea conveniente.“ Bu Deutſch wörtli: Die Diskontogefellichaft wird die Emtifion biefer Anleihe maden, indem jie deren Kotirung an den Börfen von Berlin, London und Paris zu bem ihr geeignet ſcheinenden Zeitpunkt bewirkt. Um diefen Artikel namentlich handelt ſichs bei der Behauptung der engliſchen Intereſſenten und des Eonfularijchen Vertreters Benezuelas in England, die Diskontogefellfchaft Habe die Anleihe von 1896 nicht rechtzeitig emittirt, wie fie fi) doch durch den Kontrakt verpflichtet habe. Das wird aus ganz beftimmten und verjtändlichen Gründen gerügt. Aus dem Reft von 14 000 000 Bolivares hatten für Aufhebung der fänftigen Binsgarantien zu erhalten: | die South Western of Venezuela (Barquisimeto) Railway Cy. 1300 000 Bolivars die Carenero Railway and Navigation Cy. .......... 80000 die Guanta and Neveri Rallway Cy. ... 2... 22202020. 1500000 die Cie. francaise des Chemins de fer Venezueliens .. . . 4450000 _” Die mit den drei engliichen Gefellichaften abgefchlöffenen Vereinbarungen hatten folgenden Wortlaut: ‚Und zu diefem Zwed (Aufhebung der Garantie) über giebt die Regtrung in Ausführung bes Gegenwärtigen dem Vertreter der... Com- pany eine Anweiſung auf die Direktion der Diskontogeſellſchaft und zu Gunſten der ... Company, fo daß fie von biefer Bank in Berlin innerhalb des Zeitraumes von ſechs Monaten, von diefem Datum (achtzehnten April 1896) an gerechnet, bie Summe von ... Bolivares in Titeln der bejagten Befezuela- Anleihe erhalten könne; dieſe Anweiſung ift als in ordre gegengezeichnet durch den Vertreter ber Distontogejellichaft in Earacas.‘ Der Unleihevertrag enthalte die Bedingung, daß die Emilfion zu erfolgen habe; und da ein Termin nicht genannt fei, dürfe man an⸗ nehmen, daß der Unterzeichnung bes Vertrages die Emiffion jofort zu folgen habe. In jedem Fall beweije ber mit den englifhen Eifenbadngejellichaften vereinbarte Termin won ſechs Monaten, daß Emiſſion und Kotirung innerhalb diefes Zeitraums erwartet wurden. Die Anficht der Diskontogefellichaft, der Zeitpunkt der Emilfion und Kotirung fei ganz ihrem Belieben anheimgeftellt, jet unannehmbar, eben fo das Argument der Diskontogeſellſchaft: „bevor eine Emiffion gemacht werden fonnte, wäre es für ben Stredit Venezuelas nöthig geweſen, eine ftärfere Stellung einzu- nehmen‘; denn fie war vollftändig von der Lage des Landes und feinem Kredit unter- richtet, al8 fie im April 1896 die Anleihe und deren Emiffion und Dienft übernahm. Die Lage in Venezuela jei im Jahr 1896 günftig geweien, die Regirung babe ben Dienft ihrer Anleihen zahlen können und auch für die Fünfzig Millionen: Anleihe noch wenigitens während eines “Jahres bezahlt. Außerdem feten der Disfontogefell: ſchaft von der venezolanifchen Regirung doch nicht 10000000 Bolivares als Kom⸗ milfion und Emilfion-Spejen zugeiprochen worden, damit fie nichts thue; wenn jie nadträglich ber deutfchen Großen Benezuela-Eifenbahngefellichaft dieje 10 000000 Bolivares auch Aberwiefen habe, fo jei Das eine Sache für fich, die mit ber Emiffion

406 Die Zufunft.

nichts zu thun habe. Daß die Disfontogefellichaft fi 1896 weigerte, ihren Ber-

pflihtungen gegen Venezuela nachzukommen, hatte nad englifcher Auffajlung einen

ſehr triftigen Grund: das Inſtitut des Heren von Hanſemann habe fi, jagt man in

England, überzeugt, daß für ihre Borfchläge die Londoner City nicht zu Haben war”. x %

Ein Philologe ſchreibt mir:

„Bor fiebenundzwanzig Jahren machte ein Artifel Mommſens über die Miß Bräuche der Promotionen in absentia ziemliches Aufjehen; ein Erlaß des preupi ſchen Kultusminifters lehnte aber in dem felben Jahr ‚eine Bereinbarung mit anderen, nichtpreußifchen Regirungen oder Univerfitäten über das Promotionmwefen‘ ab. Run lieft man neuerdings, baß eine einheitliche Bromotionordnnung in Deutichlanb wenigſtens für bie philofophifche Fakultät geichaffen werden jolle. Die Botjchaft bör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Denn gerade in Fulturellen Tyragen zeigt das ‚einige‘ Deutfchland einen vielbelächelten Partilularismus, der bei ber Einführung bes neuen ‚Dr. ing.‘ Titel eben erft wieder zum Vorſchein kam.

In dem akademiſchen Jahr 1894/5 wurden an beutichen Univerfitäten 1994 Doktoren fabrizirt, 1899/1900 dagegen 2266. Man fiebt: die Nachfrage nad diefem geiftigen Artikel ift heute jehr groß. Aber biefe Nachfrage ift nicht au allen Univerfitäten gleich lebhaft. Die®üte des Fabrikates kann offenbar nicht verjchieden fein, aber ſehr verjchieden find die PBreisnotirungen und die Kaufbebingungen. Mon kann nachgerade behaupten, der unlautere Wettbewerb habe ſich aud) in Die Hallen der Wiſſenſchaft eingefchlihen. Weniger wichtig als die Bezugspreije ſcheinen bie Bezugsbedingungen zu fein. Und auf dieſem Gebiet kann man von Einheit beim beiten Willen nicht reden. Während mande Hochſchulen meift die mit den beiten Kräften ausgeftatteten und deshalb befuchteften an die Doktoranden gebührend hohe willenfchaftliche Anforderungen ftellen, laſſen andere, ſchwachbeſuchte, „mit jich reden‘: man verzichtete auf bie Borlegung der gedruckten Promotionſchrift, auf das Rigorosum, das mündliche Eramen, man nahın Disfertationen an, die von anberen Hochſchulen zurückgewieſen waren, man promovirte perſönlich Abwejende auf fchrift- liche Beitellung hin, man verzichtete mitunter fogar auf jedes wiſſenſchaftliche Män⸗ telchen, dod) niemals auf die Tare. Die Tare ift das einzig Einheitliche in dem bunten Bielerlei. Doch mag ung ein Troft fein, daß es früher auch fchon fo war, wie uns E. ©. Happelius in feinem „Afademifchen Roman‘ (16%) verräth: ‚Man läjjet den Herrn Kandidaten nicht gern entichnappen, er möchte fi) fonft auf einer anderen Akademie angeben: jo ging das Schöne Accidens aus der Naſen.˖ Das ſchöne Accidens war früher ein fetter Doktorſchmaus; über die Koften belehrt uns em reizender Kontozettel von Zacharias Hermann, der 1611 in Frankfurt a. DO. zum Dr. theol. promovirt wurde:

Für allerley Sammet, der den Profeſſoribus ausgeteilet worden 55 Rihl.

Für bernauiſch, zerbjter und fürjtenwaldiich Bier .....2......BR2 Für zehrung auf die Roſſe und Knete .. 2... . 202er nne Für Handſchuh in der Promotion.................... 38R1 Für Konfekt auf die Eramina ... 22.2: .... ......... 3LMN 8 Für Brot und Scmmeln .. . 2 oo moon OR Für Fleiſch, Fiſche, Wildpret, Hühner und andere Speifen. . . . .. ER

Summa; a1 m «2

Drei Briefe. 407

Dean denfe an die jämmerliche Bezahlung ber Profefioren damaliger Zeit und man wird ihnen das ‚fchöne Accidens‘ immerhin noch göunen. Aber auch heut: zutage find die Taxen keineswegs allzu niedrig bemeflen.

Laſſen wir die Statiftil fprecden. 1896/97 wurden auf ben 10 preußifchen Univerlitäten im Ganzen 928, auf den 3 bayerijchen 733 Studenten promovirt. 10:3=10:8. In dem felben Jahr promovirten die größten Univerfitäten Berlin, Münden, Leipzig, Bonn 237 bezw. 220, 177 und 89; bie kleinſte Hochſchule Deutich- lands, Erlangen, 332. Doctores juris wurden in Berlin 20, Münden 13, Breslau 10, Leipzig 2, Würzburg 4; in Erlangen dagegen 177, mehr als bie Hälfte aller

(344) juriftiichen Doktoren Deutichlands. Während gewöhnlich bie Promovenden fich ber nächſten Landesuniverfität zuwenden, waren von den 332 Doktoren Erlan- gend 139 nicht Bayern. Nach dem gedrudten Disfertationverzeihniß holten fich 1896/97 die Herren Referendare aus Berlin, Düffelborf, Hannover, Kolmar, Trier, Lübeck, Köln, Küftrin, Duisburg, Blantenefe, Hamburg u. |.w. aus Erlangen ihren Doktordut. Man müßte ftolz fein auf diefe Hochſchule, die Schüler von dem höchſten Norden, aus Norbojt und Norbweft anzieht; aber fie faugten nie an ben Brüften der Alma Erlangensis, fondern ließen ſich dort nur betiteln. Als man vor einigen Jahren dieje Mißſtände zu enthüllen verfuchte, erließen bie Erlangenses ein gewaltiges Pro: teftichreiben; und Alles blieb beim Alten. Unter ben 8801 Hörern Berlins wurden 1898/99 promovirt: 156; von ben 482 Hörern Roftods: 104; von den 1089 Hörern Erlangen: 225. In dem jelben Jahr famen im Ganzen 448 Doctores juris zur Welt. Davon erzeugte Heidelberg allein 119, Erlangen 115, Greifswald 58, Berlin 9; Greifswald bei 879, Berlin bei 8800 Hörern. Bu Medicinae Doctores wurden 758 befördert; davon fallen auf Kiel (mit 878) Hörern) 100, auf Würzburg (mit 1300) und Münden (mit 4200) je 83, auf Berlin (mit 8801 Hörern) 44. Dr. phil. wurden über 1000 fabrizirt; in Yeipzig bei 3500 Hörern 108, in Erlangen beit 1089 Hörern 66. Dieſe Ziffern jollten zum Nachdenken anregen.

Alle Protefte können nicht die Thatjache erfchüttern, daB die Höhe der Pro« movirtenzahl inungefehrtem Verhältniß zu der Hörerziffer fteht. Da num der Doktor⸗ titel auch von der Eleinften Univerfität nicht gratis verliehen wirb und die Unkoſten jo ziemlich auf der gleichen Stufe ſich bewegen, jo bleibt nur das Eine übrig: bie Anforderungen find verichieden. Berlin verlangt, zum Beifpiel, offenbar mehr als Erlangen. Da aberdem ‚Doktor‘ Niemandanfieht,ober in Dingsda oder in München rite erjtanden ift, wird der fauer erworbene Grad heute ſchon eben fo niedrig tarirt wie der jpielend gekaufte. So fehlt es auch jegtgar nicht an Stimmen, bie über ben ganzen „Bopf" verächtlich die Nafe rüimpfen oder das Ganze für eitel Humbug er- Elären. ‚Los zu werben den alten Zopf, ift ein vernünftig Begehren‘, meint Seibel ; und es iſt wahrlich Zeit, den Zopf wie den Mißbrauch zu befeitigen, die ber an fich berechtigten afabemifchen Ehrung anhaften. Man jchaffe alfo zunächft eine einheit« lide Brüfungordnung für alle Fakultäten. Können ſich die Univerfitäten ſelbſt nicht reinigen, ſo helfe der Staat nach. Jede mißbräuchliche Unmwendung der Prüfung- ordnung werde mit zeitweiligem Berluft des Bromotionrechtes beftraft. Man ver- leihe den Doktortitel nur für werthvolle, gediegene wiſſenſchaftliche Teiftungen, deren Approbation der Referent mit feinem Namen zu beden hat. Man fchneide die legten Zipfelchen des mittelalterlichen Zopfes ab: die berüchtigten Theſen, das Spiel mit den verabredeten Opponenten, dem lateiniihen Schwulft der sponsio und des

408 Drie Zukunft,

Diplomes; wie mandie Ueberreichung bes vieredigen Hutes, des Ringes und ben Frie⸗ denskuß längft fallen ließ, verzichte man auch auf bie Lächerlichen Attribute, Die Heute noch in der Mode find. Man laſſe die phrafenhaften Anachronismen der Diplome, zum Beifpiel: ‚gradus Doctoris cum onmibus privilegiis atque immunitatibus eidem adnexis‘, da all die Privilegien und Steuerfreiheiten des Mittelalters längft mit dem Neichsdeputationhauptichluß hingeſchwunden find. Man erniebrige vor Allem bie Taxen, befreie befonbers hervorragende Arbeiten ganz von ihnen: dann wird bie Doltorwürde bald überhaupt nicht mehr ‚ein unnüg Gepränge müßiger und ftolger Leute‘, fondern ‚ein Stand der Kenntniſſe und der Ritterſtand des Bermögens“ fein.“ x . * Aus dem Brief eines entamteten Diplomaten:

„Giebt es noch große Männer? a. Einen ſicher: den Freiherrn Speck von Sternburg, ber in Wajhingion jet das Deutſche Reich vertritt. Das ift ein Mann von vielen Graben. Kaum war er ernannt, da empfing er auch fchon amerikaniſche Journaliſten und Öffnete ihnen feines Herzens Schrein. Spricht ganz wie ein Yankee von der |marteften Sorte. Bom indiſchen Generalkonſul bis zur Botichaft in Roofe- velts Reich: Sechöfußfprung, he? Union großartiges Land; fenne es wie meine Taſche. Wunderbares Bolf; überhaupt enorm. Monroe-Doktrin? Deren eifrigite Berfechter find wir ja, der Kaiſer und ih. Bismard hätte mich nicht ernannt, weil meine Yyrau Amerikanerin ift? Lieber Herr: Bismarcks Anficht ift in dieſem Punkt nach heute berrichenden Begriffen recht antiquirt. (Wörtlich.) Gerade mein Ehebund fprad für mich; denn ich ſehe meine Aufgabe darin, bie Sinterefien der Vereinigten Staaten nicht minder energijch als die meiner Heimath zu vertreten. Na, man wird fich zu Haufe wundern, wenn man erft ſieht, was ich drüben leifte. Das Alles wurde gebrudi. Yu Haufe wunderte man fich wirklich: daß der redfelige Herr nicht, ee er nod in New⸗York gelandet war, zurückberufen und als völlig unbraudbar vom Dienft entbürdet wurde. Mit diefem Typus waren wir doch vor ber Aera Bülow noch nicht beglückt worden. Daß der Herr verächtlich von Bismarcks ‚antiquirten‘ Anftchten redet, mag er für zeitgemäß halten; daß man mit plumpen Schmeidheleien aber den jehr jelbjtbewußten, jehr Tfeptiichen Amerikaner nicht fängt, jollten, nad jo vielen beihämenden Enttäufchungen, ſelbſt harthörige Leute nachgerade begriffen haben. Oder nit? DerMann, der erklärt Hat, al8 Gejandter müfle er auch die Intereſſen bes Landes vertreten, bei dem er beglaubigt fei, fit noch immer als deutſcher Ges jchäftsträger in Wafhington. Das wäre zu meiner Zeit benn doch unmöglich geweſen. Iſts ja auch heute. Der Briefichreiber war nur zu ungeduldig. Herr Sped von Sternburg ijt eben mißveritanden worden; von all den vielen Journaliſten, Die er zu ſich fommen ließ, völlig mißverftanden. In der Norddeutſchen lajen wird. Er bat dem lieben Bruder Jonathan nicht geſchmeichelt, Bismards Anfichten nicht antiquirt genannt, nicht gejagt, er werde die Antereffen der Bereinigten Staaten dem jelben Feuereifer wie die Deutjchlands vertreten. Das Alles haben die Zeitur Ichreiber, Kommandirende Generalevon drüben und Gemeine von hüben, ji) einf aus den Pfötchen gejaugt. Gräßlich. Beinahe hättten die Deutjchen geglaubt, der die Handelspolitik wichtigfte Poften jet einem eitlen Schwäßer anvertraut word

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Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: M. Harden in Berlin. Verlag der Butunft in Ber Drud von Albert Damde In Berlin- Schöneberg.

Berlin, den 14. März 1905.

Datifana.

g: Biſchof: Epiffopos bin ich, als Auffeher eingeſetzt durch Deiner Heiligkeit Willen; und folfte nicht fehen? Mit Mitra und Stab, mit dem Ring und dem Kreuz geihmüdt; und follte der Schlüffel vergefien, unter allen Weihkräften der wichtigften, an dieden Treuen kein fichtbares Sinn- bild zu mahnen braucht? Vom Hauptpfadeder Pflicht wäre ich dann gewichen, ein ſchlechter, eidbrüchiger Knecht. „Was Du auf Erden bindeſt, ſoll auch im Himmel gebunden fein; und gelöfet fei droben, was Du hienieden Löfteft.“ Nicht Hinter den letzten Hütten der Stadt des Tetrarchen Philippus ſollte das Wort verhalfen, nicht bis an die Kalfwand des Hermon nur tönen; und wahrlich: nicht Simon Petrus nur, Jonas Sohn, wurden die Schlüffel an- vertraut, die das Himmelreich oͤffnen und ſchließen. Seine Hand ließ ſie uns; und der Fels Petri müßte wanten, wenn weltlicher Hochmuth aud) den Heins ften Theil der Schlüffelgewalt nur verfümmern dürfte. Unfer find die jura Jurisdietionis; und jeder Verſuch, fie zu fehmälern, greift in apoftolifches Urrecht, an das nur Regerfrevel bis heute zutaften wagte. Welcher Schulbalfo ward ichgeziehen? Eingefchärft ift mir, nicht, wie ein träger Verweſer, in blin- dem Schlaf die potestas magisterii müßigen Fingern entgleiten zu laſſen. Und dem Gebot Horchte mein Ohr. Entſchieden ift: katholiſche Eltern dürfen nicht ohne zwingenden Grund ihre Kinder in akatholiſche Schulen ſchicken; oft ex cathedra entſchieden. Diefe Entfcheidung rief der Hirt ins Gebächt» niß der Heerde; denn ihn bangt um das Schidfal verlaufener Laämmlein. Weit hat der Irrglaube in meiner Diözefe feines Trugtempels Pforten auf- gethan und Zügellofe taumeln hinein. Da figen fie, unbehütete Mägde, 3

410 Die Zukun

neben Kegerkindern, mit@utheriichen auf

unferen Quellen getränft wurden, find fi lernt haben, daß ſchon die leiſeſte Berũh ſchwache Fleiſch zur Sündevergiftet. In lu Schülerinnen. Und in unreinen Schalenn reicht, was der Geift gottlofer Beit „Bildu Hellas pries man thörihten Jungfrauen, als einer Epoche froher Bewußtſeinserwei Goethe ihnen als leuchtendes Vorbild z Staates ift. In feinen Münzftätten mag ungnoth braucht, in feinen Schulen Hom Lebensgeftrüpp empfehlen. Trauernd ſeh die Macht. Doch was zu unferer Gemein Drum erhob ich die Stimme. Euren Kir guten Stadt priftlicde Schulen offen; nid; die Staat und Stadt für ihre befonderen . Eitern dorthin die Kleinen fendet, ohne un gegen Anftedung nöthigen Schug, Der fün und Buße Abfolution. Das Himmelreic weiter fagte ic}; und ließ von allen Kanz der Verantwortung eingebent zu fein, die | Leibesfrucht tragen. Nicht mit Bitte und Seit zwanzig Jahren bitte ich, mahne un! aber wächft. So mußte über faulen Gärt werden. Welche Hoffnung reifte uns, we: Lager des Feindes felbft hat Einer, den il nennt, ein ſcharfer Kopf, der voll Sehn dem höhnifchen Grinfen des Gottleugners ſich eingeftändfich nicht an die Ueberzeugu Glauben mit Offenbarungen. Zu Diefe Stärtften in der Kindheit: daherift mann zarten Alter zu bemächtigen." Den Sag! ton, auch Unfereiner gefprochen haben. W ſich der Blume nicht freuen. Soll Naufil Lebensthor priftlicher Jungfrauen throne ben breiten Buhlpfad winfen? Im Reige wachen? Das Kreuz riffe ich von der Bruf

/ Batilana. 2 all

ehe ih Solches unthätig fähe. Nicht Heiden aufzuziehen, bin ich vom Vater geiandt. Volvitur orbis: stat crux. Was vermag das Toben Abtrünniger über Rom? Nicht zum erften Dale höre ich ihre Geheul. Lauter als heute nod) wüthete es, da ich im Spiegelichrein da8 Gewand des Herrn den Gläu⸗ bigen zeigte; Keinen aber hemmte es auf dem Wege zum Heil. Sechshundert⸗ tauſend Pilger Inieten vor dem heiligen Kleid. Und wie ich damals die Spötter fragte, ob benn fie etwa nicht, die Aufgeflärten, Modernen, an die Wunber wirkende Kraft von Röden, Schmuckgeräth, Blutmifchung glaubten, fo frage ich jett, ob Einer von ihnen, Demokrat oder Konjervativer, freiwillig dulden würde, daß ihm, feiner Willensrichtung, das Kind in der Schule entfremdet wird. Keiner. Nur von ung, die doch nicht weltlicher Eigennut treibt, wird folches Opfer verlangt. Meine Seele ift getroft. In allen Nechtsquellen ift mein Thun reingebabet und furchtlos harre id) des Gerichtes. Lumen in coelo, hatte Sankt Dialeadhi, der Ire, geweisjagt, werde der Nachfolger bes Bapftes fein, der mit Unfehlbarkeit als köſtlichſtemKleinod die dreifache Krone zierte; und in ungeſchwächtem Glanz noch leuchtet dieſes Licht Über die Welt hin. Kein Winkel ift ihm duntel, feine Falte im Herzen des geringften feiner Diener. In diefem Licht bin ic) gewandelt. Nicht zog ich aus, Zwietracht zu fäen und die Brut nachgeborener Diokletiane zu neuer Verfolgung zu reizen. Sondern ich that, was den Epiſkopos der Eid zır thun verpflichtet, und that nicht, was der Rath bequemer Weltglücdsjäger ins Ohr raunte. Welcher Schuld bin ic) geziehen? Ich höre das Zifcheln: An den Staat mußteft Du Dich wenden, Deiner Beſchwerden Laft ftill vor die Regirenden tragen und mit demüthigem Lächeln um Erleichterung betteln. Nimmermehr. Der _ Schlüffelgewaltund bes Lehrauffichtrechtes wäre ich und inmir die Kirche verluftig. Ecclesiarum omnium mater et caput: als id) zum Stuhl meines Richters fchritt, Ia8 ich an Sankt Johannis Haufe das ftolze Wort. Und die Mutter nähme von der entarteten Tochter das Recht, das Haupt ge⸗ borchte dem verfrüppelten Glied?.. Harte Zeit ift; und keines Daumens Breite räumen wir dem anftürmenden Feind. So will e8 der große Bapit. Der Rardinal-Staatsjefretär: Soiftfein Wille. Und nie wird

fein erhabenesWort den Diener tadeln, der irgend ein Hecht, mag es zunächſt noch fo gering fcheinen, des Apoftoliichen Stuhles usque ad effusionem sanguinis wahrt. Niemals. Auch fteht der Hochwürdige Herr Bifchof nicht als ein ſchuldig Erfannter hier. Was er that, hielt im Konfiftorium der Prüfung Stand: fein Grundſatz alten noch neuen Kurialrechtes wurde vers fett. Die Löchterjchule, die feine Strafandrohungtraf, bietet des Aergerniſſes

31*

412 Die Zu

übergenng und ben an ihr Lehrenden missio canonica derfagt. Nicht neu nur altes vom Roſt der Zeiten gereini, muthung, der Epiffopo3 follte in ftre anrufen. Ein einziger Richter Tebt ihn nal appello. Diefer Eine ſpricht in | Zunge. Dem Geſchehenen konnte im Hei Placet weigern. Auch anderer Anſchul Die Klage war, dem nationalen Empfin gen; der Bifchoffühlefichnichtals Deutſ fo oft fie über die Berge llingt. Als Gre zum erften Mal Angeljachien ſah und bi Offa das Evangelium künden zu Laffeı aufs Feftland, ins Frankenreich trug: Kirche ſchuf: war da diefer heiligen I deutſcher oder britifcher Nationalfarbı fein, dann mögen die Seelen der dem H wandern; denn. hier wohnt der Vater. Zweifel beftehen. Einer, der, ehe er d Streitern der Kirche gezählt werden m nen frommen Tagen gejchrieben: „Un nationalen Beigefhmad haben; es fol gebrannten Getränken, den Gaume unfere Lehre und religiöfe Uebung fo farblos und geruchlos, das alfgemeiı heute wie geftern, morgen wie vor taufeı wir hätten jämmerlich ſchlecht mit dem aud) Hier finden wir unferen Bruder ſchwerdeführer nicht verſchwiegen. S Wunſch und Neigung, aus dem Fried Play rief, zwingt jeder Tag, zu bede Welt ift. Und id darf nicht Hehlen, 1 mente mitbrachte. Die Regirung habi und fei den ftreng Lutheriſchen längft ' burger Fakultät, die überragende Ma läftigften Theil des Jeſuitengeſetzes

teſtantiſche Eiferer aufgerüttelt und

Batikana. 418

ſeien die falſchen Gerüchte geworden, die behaupteten, Roms Einfluß unter⸗ ſpüle in Bayern, Sachſen, Baden das purpurne Fußgebälk der Throne. Doppelt verhangnißvoll müſſe in ſolcher Zeit jeder allen Augen ſichtbare Konflikt wirken. Der Widerftand gegen die Nüdlehr der Vater Jeſu werde verftärkt, auch im Bundesratb; und die Bolleftimmung kbnnte die Res ‚girenden gewaltfam in andere Richtung drängen. Deshalb hoffe man, von der Sella Frieden ftiftenden Auf zu hören. Zugeftanden wird, daß in der Didzeje des Biſchofs Felix nicht Alles ift, wie es fein follte, und verjprochen, „Unzuträglichleiten, Unvollfommenbeiten und Mängel” nad Kräften ab- zuftellen. Nur müfle der Stanzelerlaß, von dem man überrafcht worden fei, zurädgenommen und der Schein ftaatlicher Untermürfigfeit gemieden wer⸗ den. Die Lage ift ſchwierig und ich hätte gewünscht, daß diefer Schatten nicht auf die Jubelfeier des Heiligen Baters fiele. Nichtnenen Kulturkampf fürchte ich ; doch der Widerhall wachjender Unruhe Elingt von fern her in mein Ohr. . Die Modefchlagwörter find abgenutt und überall langen leere Hirne wie» der nad) dem älteften, nad) der Keterlofung: Gegen Rom! Wie die zahme Haustaube zu gewilfen Zeiten Wefenszüge der columba livia zeigt, jo regt fich in entzügelten Menſchen nun nach langemSchlafderwildeAtauus. Mit bio⸗ ‚genetifchen Geſetzen mußaud) die Kurierechnen. Ein Erftarken des wittenber- ger®eiftesmäregerade jetzt gefährlich weil es die franzöfifcheAlpoftafieermuthi« gen müßte. Eins zieht dag Andere ;undderAufflärungwahnlodthochmüthigen Unverftand, von den Nachbarn fich nicht überflügeln zulaffen. Darinnurläge ber Werth, werın den Vätern Jeſu die deutſche Grenze geöffnet würde. Das Geſetz war und ift unwirkjam, ein Spielzeug fürgedanfenlofe Kinder. Wich- tig wäre aber, daß wir jegt den frauzoͤſiſchen Seftirern fagen dürften: Wäh- rend der Chriſtenheit ältefte Tochter die Kongregationen vertreibt, ruft ein proteftantijcher Kaiſer mit einftweilen noch ſchüchterner Stimme den verhaß⸗ tejten Orden ing Land zurüd. Das ift zu ermägen. Säße Antonelli hier, er riethe vielleicht, den Feuerbrand über die Alpen zu werfen. Doch was hat fein blindes Wüthen vermocht? Sein letter Blick fah die Territorialmacht verloren, das Gewicht des Apoftoliichen Stuhles gemindert, die Hierarchie gelodert, ſah einen Nachfolger Petri, dem ſogar der morafijche Einfluß ins Ge⸗ biet ver Weltereigniffe beftritten wurde. Die Spuren fchreden; und nie weckte folcher Rathein Echo im Sinn Seiner Heiligkeit. Noch iftnichts verloren. Daß die deutſche Negirung, ftatt gegen den hochwürdigen Bijchof Die Staatshoheit walten zu laſſen, in Rom Hılfefucht, ift imponderabler Gewinn und wäre ein Zriumpbderfirche, wenn ihrem&ebieternicht früherſchon, im Karolinenftreit,

414 Die Zuhraft.

das Schiedsrichteramt zugewiefen worden wäre. Klügelnder Drenichınzis findet tn ſolcher Wirrumg nicht leicht die rechte Fährte. Der Berftand mahnt den Politiker, den Streit nicht aufs Aeußerſte zu treiben; den Pricjter warst das Gefühl vor rafcher Nachgiebigkeit, die in bie Weite wie Schwäche wirten müßte. Das bijchöfliche Anſehen darf nicht gefchmälert, Die gute Abficht der beutfchen Regirung nicht unerhört zurüdigeftoßen werden. Nur auf eimm Weg dünkt mich das Ziel zu erreichen. Dem Gejandten wäre zu antworte: Der Ranzelerlaß fällt mit dem Gegenftand; er wird widerrufen, wenn die Mitftände, die er bedroht, durd) ftaatlichen Eingriff bejeitigt find.

Der Bapft: Klug und treu ſprachet Ihr Beide, Du, mein Sohn Felix, und erft recht Du, Mariano. Und während das Ohr lanfchte, rocks alte Gedanken in tiefe Gedächtnipfurchen zurüd. Ein Jahrhunderwiertel Die fiebente Februarnacht nahte und gen Sonnenuntergang ftand Das Bett, wo, auf rother Seide, Pius lag. Den weißen Schleier mußte ich heben, wit filbernem Hammer dreimal das Haupt ihm berühren und fragen: „Schläftt Du, Giovanni Maftai?" Keiner erwachte je aus ſolchem Echlaf. Als Let ter jah ich das Antlig;; und drückte das Kämmererfiegel auf den Sarg. Eden febte in mir bie Gewißheit: Du bift fein Erbe. Pappalettere und Bonghi hatten mich genannt, Tote Träumenden verkündet, der Kämmerer werde Bapit fein, die Kardinäle Eonfolini und Bartolini, ehe Pius noch in Tam nenholz, Blei, Ulmenholz gebettetwar, mich ihrer Stimmen verficdhert. Ore glia und Pietro waren im Konllave machtlos und auf feinen anderen Kan- didaten hätte fich eine Mehrheit vereint. Seufzend mußten die Gegner ſich fügen und fagen: In regno caecorum beatus monoculus. Alte Zeiten! Carpineto, die Heimath, der Friede im Jeſuitenkolleg von Viterbo, dab Glück erften Wirkens in Benevento, in Brüffel : wie weit! Böſes jan, doch Gutes that Antonelli mir, da fein Haß den Landsmann fern von Rom hielt. Ein Dlivenhain und die Muße des Dichters: nicht Anderes erflchte meine Seele. Wehe Dem aber, der dem Ruf auf ben hödhjften Sig nit folgt; noch im Schattenreich peitjcht ihn der Zorn eines Dante, wie jenen fünften Coeleftin, der nach fünf bangen Monden der Statthalterpflicht ent- floh. Nicht der leifefte Zweifel fam mir; nur wars, als verfagte das Mu n- licht, jo oft aus dem Munde des Dekans meinName erflang. Was ift M und Herrlichkeit diefer Welt? Den Kerzen gleich, die, daß fie erlofchen, ve Diakone aufmeinen Weg zur inneren loggiawarfen. Eine furze Beitfpan e: dann Liegt ein Pecci auf dem Goldtuch in der Flammenpracht der Baft Ta und die Menge zieht an dem Eifengitter, das nur die Füße mit den ro, em

Batilanc. 415

Bantoffeln freiläßt, vorüber und murmelt bem Toten die@rabrede. „Stolz war er. Ein harter Herr. Ein Geizhals." Pins Hatte befjeren Nachruf. Der gemeine Mann liebte den großartigen Bauernfinn diefes echten Oberhirten,

den Glanz, die Freigiebigfeit, den jähen Born und die überquellende Bärts lichkeit Deffen, der auch in feinen dunkelften Stunden immer ein Pappas in

des Wortes voltsthämlichfter Bedeutung war. Nie fehlte dem ungeftümen

Bhantaften die funkelnde Rede. Und nad) ihm ein wortlarger Poet! ...

Was, mein Mariano, beftimmte damals die Wahl meines Namens?

Der Kardinal-Staatsfelretär: Die Verehrung, die der Sar- . dinal Becci Leo dem Zwölften darbrachte. So erzählte man. Der Papft: Und ſprach wahr. Nur vergaß man, zu unterjcheiden.

Nicht den firengen Kegerrichter, der die Gefängniffe der Inquifition wieder füllte, bemunderte ich, fondern den Reformator bes Kirchenftaates, den Be⸗ freier der britischen Katholiken, den Erzieher und Pfleger mühfäliger Menſch⸗ heit. Wer durchichaute ſich ganz? Weil ich in Perugia die Totenmeſſe für Cavour nicht gehindert hatte und manden Günftling des Duirinals an meinem Tiſch fah, galt ich als liberal, als rother Jaklobiner. Der Wunſch, ſolche Thorheit abzujchütteln, mag zu Leos grauſamer Strenge geflüchtet fein. Doch wenn ich in Sankt Peter vor dem Steinbild fniete, da8 Thorwaldjeng Hand fchuf, grüßte dag Herz den milden Dann, den in von ihm erbauten Spitalen noch heute der Sieche rüähmt. Mild zu fein, gelobte auch ich mir; richt fo laut, nicht jo heftig zu reden wie Pius. „Wirfind nicht ftumme Hunde, find Kämpfer des Herrn nnd feine Stimme fpricht ung aus dem Sturm, der Eichen und Eedern entwurzelt.”" Das Hatte gedröhnt. Er felbft aber hatte gejagt, fein Nachfolger müfje von vorn anfangen und eine ganz neue Politik treiben. Allzu wahr; erft von Lichter Höhe ſah ich die Berwüftung. Dochman war verwöhnt und bald hieß c8: Ein Versſchmied; ein Wirrlopf, ber mit Streuzucker werthvolleVögel fangen will ;ein Heiner, mitihomiftifcher Tünche beftrichener Politiker, defjen Florentinerfyften aus kurzathmigen Eintags-

tombinationen befteht. Laßt fie, dachte ich. Die Summa theologiae und

Joſeph de Maiftre find beffere Führer. Die Unfehlbarkeit brauchte nach

Thomas nicht erft unter Getöfe begründet zu werden; und warum er die

immaculata conceptio verwarf, wußte der große Scholaftifer wohl. Wo⸗

zu ohne Noth Dogmen bilden, gegen die alle Erfenntniß lebendiger Natur

fi) fträubt? Nicht gegen den Strom follen wir unfer Schifflein fteuern.

Alle Vorftellungen wandeln fih: und Die führen wollen, blieben ſtets auf

dem jelben Fleck? Deutlich ſprach die Encyklila vom Februar 1892 es aus;

416 Die 8 für den Bereich der Politik zunächſt. bindet, iſt die Form einer Regirung; i unſere Saat aufgehen. Der Unkluge semel excitata cupido entgegen, dt Vontifilates, am Eingang des Hirten! noch zu laut; bis ing legte Bett lern und leis. Solche Greifenregel ift frei Der Bifchof: Euer Heitigfeit Der Bapft: Nichts von Tade glauben, zu thun ift, beftimmt, nach wir von dieſem Mecht nicht eines Da in der Encyklika Sapientiae Christ bis ich leiſe fein lernte; wie vermöchte: Du brauchteft den Ranzelerlaß nicht: | führten ſchneller ans Ziel. Aberdie Kra im Karolinenftreit ſchatzte ich al8 ein . Rolle überträgt man fonft einem Heine mehr, Mariano. Dies ift uneingeſch macht und fagt dem Erdball: Nicht fteht das Recht zu, einem Hirten den Pi ehr ponderabel. Und hundertfach i aus der Probe hervorgeht. Hildebrar Kanoſſa brennt bis auf diefen Tag in folf man, fondern die Reibung vermei Welches Jubelgefchrei hoͤbe an, wenn nad) Frankreich hinriefe! Das Werk ı Hugem Takt begann, wäre vernichtet diefe zerftörende Kunft; das mag heut fremden. Wir wollen Keinem den U über das Schiefjal eines Caeſar, eine lange eine Symbiofe irgend möglich if Opfern. Euch ſchreckt noch Luthers & hat er Sankt Peter in Nacht getaucht i Gewinn nad) vier Jahrhunderten! | Vorftellung naher und ferner Entwic Mangelan Menſchenkenntniß. Ohne ſohn nicht vorwärts, nicht einmal rückw

Batilana. 417

die ratiocinatio als Mörtel zufammenfügte, fröftelte jo Mann wie Weib, Keine Farbe, fein Bild, kein Schmudgeräth aus den Schatzkammern alter Kultur und nad buntem But fehnt fi) im grauen Dafein doch jegliches Geſchöpf —, weder Beichte noch Losſpruch, kein Klerus, nichts, was zu den Sinnen ſpricht; ein afiatifcher Göße: das Wort. Das Ganze ber großartige Irrthum eines Menſchenverkenners. Sie fühlen es längft. Seht ihre Kirchen jetzt an: romiſche Ueppigkeit dringt in die fahlen Wände, umd wo fie noch fehlt, zerftiebt die Gemeinde. Was aufProteftgegründet war, auf Negation kann ſich ohne Staatsſtützen nicht halten. Gebt zum Proteftleine Gelegenheit: undber - Broteftantismus entichlummert. Yöft ihn vom Staat: und die Fahne der Freiheit weht über Ruinen. Vierhundert Jahre! Vernichten wollten ſie Rom und nie wieder follte e8 wagen, ben Richterarm über die Alpen zu reden; nım lebt e8 in alter Pracht, reicht mit feiner Schlüffelgewalt weiter denn je, hat in Indien und Afrika der Hierarchie helle Wohnftättengefchaffen und der Feind ift froh, wenn wir gegen ihn nicht zum Sturmangriff rufen. Ich war fchon Kämmerer, als Bismard im Haus preußifcher Herren den Bapft „den Feind des Evangeliums” nannte und ihm die Abficht unterfchob, alle nicht dem Syllabus Gehorfamen zu martern und auf Scheiterhaufen zu jchlep- pen. Und heute? Ein Bifchof giebt den Berlinern Aergerniß und fie tragen ihre Klage behutfam nad) Rom. Wir dürften frohloden, wenn Weis: heit nicht zum Schweigen riethe. Nein: nicht von dort droht ung Die Gefahr. Blaft nicht in die Funken und fie werden ſacht verglimmen. Was jehnfüchtig ein Jenſeits erträumt und ohne Stillung metaphyfifcher Bedürfniffe nicht le⸗ ben kann, rückt mehr und mehr zufammen; Auge Weltleute Tönnten in ihrer Sprache von einem kommenden Truft der Transigendenten reden. Nur die Anderen fürchte ich, die entichloffen find, in der Beitlichkeit Schon die Loͤſung irdifcher Räthſel zu juchen und, da fie als Chriften hienieden nicht handelnd leben können, al8 Heiden dem Leben neue Xehre anzupaſſen. Denen genügt nicht, den Namen alter Werthe nad) der Mode zu ändern. Diefind nicht zufrie« den, wenn fie dem Herrn und Heiland die jungfränliche Mutter zuerft und über ein Kleines dann aud) nod) die Gottheit abgeſchwatzt haben. Die graben die Fundamente des alten Gebäudes auf und heißen fich hochgemuth Wider- chriften. Ehe fie fiegen, liege ich Tängft in Tannenholz, Ulmenholz, Blei; aber td) fühle, wie e8 unter der Oberſchicht fich in der Erde regt, wie es in dem galliſchen Vulkan kocht, den Rurzficht erfchöpftglaubte. Das ift meine Sorge; Eure Saatsaktionen rauben mirnichtden Schlaf. Kleiner Hader. Neminem laede! Die Zeit kommt nicht zu ung; wir müfjen zu ihr gehen. Keinen

418 Die Zukunft.

bürfen wir abftoßen, der inbrünftig einen Himmel ſucht. Das Gemeinſan

finden, nicht den winzigen trennenden Riß mit ſcharfem Meſſer erweitern. Und Jedem, der guten Willens iſt, den Schein der Herrſchaft gönnen,

wenn nur das Wefen ung bleibt. Was wollte Dein Kanzelerlaß, mein Sohn? Dem Wunſch des Epiflopos Erfüllung bringen. Diefe Erfüllung iſt hent

gewiß. Die Regirung des Deutjchen Kaifers hat durch ben Mund des Yegatız zugefagt, Gerechtigkeit jolle walten und fein Mißſtand zu Jahren kommen, Dit dem Gegenftand fällt Die Befchwerde. Werben erften Schritt thun fol? Nun: der Stärkere. Eine Weile werden fie höhniſch lachen; nicht lan Habeant. Sie brauchen uns brüben, können ohne unfere treue Streit ichaar ihr Leben nicht friften. Keine Furcht alfo, daß fie uns mit Arglift e trügen. Ein Deutfcher wars, ihr Größter, der rief:

Sit Konkordat und Kirchenplan

Nicht glücklich durchgeführt ?

3a, fangt einmal mit Rom nur an,

Da feid Ihr angeführt! Zwei fchlechte Reime, aber ein, wills Gott, ewig wahrer Gedanke. Man mal, Oreglia, iſts doch ganz gut, wenn der römifche Bifchof auch das Ber> Schmieden ein Bischen gelernt hat; ſchon, Spötter, weil ein Fuchs denanderes riecht. Dir, Mariano, bleibe Erinnerung an diefe Stunde; nicht als an de Geburtftunde politifch lange nachwirkender Entſchlüſſe: wichtig kann Direr Blid in ein altes Herz werden. Lieber als jedem Anderen ließe ich Dir da Fiſcherring. Und bift Du nicht ignis ardens, die Gluth, die Maleachi über meinem Grabe aufflammen jah? Schüge fie vor allzu wilden Yladım! Sei leife, mein Sohn, unter Lauten ftolz immer ber Leifefte! Wer vos dieſem Sit ſpricht, braucht nicht zu fchreien; niemals. Gedenke der Yukl- feier: von allen Ehren der Welt hatte feine höheren Werth als die gerade, di jetst Deinem jungen Auge wohl noch eine Schmälerung des Bapftkönigäredted ſcheint. Ein Deutfcher Kaifer, ein Broteftant, jucht gegen einen ihm pflüchtigen Deutschen in Nom fein Recht. Deffen erinnere Dich, wenn fie Dich, is weißen Gewand, auf die Loggia führen, wenn Du zum Segen die Arm über die Stadt hinbreiteft. In der Baſilika liegt auf dem Goldtud "au Einer, der nicht fluchte, nicht Bannbullen fchleuderte, wicht mit Menſche hat neue Dogmen zurechtichnitt. Und die Völker ber Erde famen zu ihn.

Buren und Briten. | 419

Buren und Briten”)

ie verhältnigmäßig große Zahl der die Maffen ftredenden Buren hat Alle überrafcht, die ihre Kenntniffe nur aus englischen Ve: richten ſchöpften. Trotz der offiziellen Darftellung handelte es fic) auch am Schluß nit um das bloße Verzweiflungringen unorganifirter. Banden, jondern um das wenn auch getrennte Auftreten gejchlofiener, energifch geführter Corps. Der zerflüftete und unzugängliche Lijden⸗ burg-Diftrift, die Zufluchtſtätte des Widerftandes, war wie geichaffen, den Kampf noch um Monate zu verlängern. ‘Daneben fehlte e8 natür- Ich auch nicht an wirfunglofen Putſchen verjprengter Abtheilungen. Die Bahnlinien waren buchftäblich mit Draht verftrict. Auf je hundert Schritt traf man auf den widhtigften Streden ein Blockhaus. Dazwiichen waren noch primitive Echanzen und Erdwerfe ausgehoben. Sn unermüdlicher Kleinarbeit hatten die Engländer das Land in Diftrifte abgedrahtet, um die Bemwegungfähigfeit der Buren zu lähmen, ihre Terpflegungbafis einzuschränken und das taftifche Zuſammenwirken zu hindern. In Eütafrila bat nicht der Feldherr gefiegt, fondern der Ingenicur und Organifator. Kitchener ift aus den Royal Engineers hervorgegangen. Was auf diefen Gchieten geleiftet wurde, verdient Bewunderung und gleicht zum Theil die Schwäche der operativen Krieg- führung aus. Draht ift jett billig im Transvaal. Mit Befriedigung hörte ich, daß er vorwiegend deutichen Fabriken entſtammt. Europäifche Zaftifer haben das Blockhausſyſtem als eine ftra- tegiſche Rüdftändigfeit und als ein Verzweiflungmittel militärischer Rath Tofigfeit verdammt. Jeder Kriegsſchauplatz erzeugt aber jeine eigene Taktik und fordert feiner Natur entiprechende Mittel. Die Spanier hatten auf Kuba nicht die Ausdauer und Gründlichfeit, die England in Eüdafrifa zeigte. Sie wären fonft, ohne das Eingreifen Nordamerifag, mit der Zeit auch wohl ans Ziel gelangt. Wer die Ausdehnung jüdafrifanifcher Steppen, die jpärlihe Zahl der materiellen und tak— tifchen Stützpunkte fennt, die fie dem Angreifer bieten, und die Eigen thümlichfeit der Burenkriegführung in Rechnung zieht, wird mit der Verallgemeinerung ftrategifcher Grundſätze vorfichtiger fi. Ohne Blod- hausſyſtem wäre die Unterwerfung der Buren nicht durchführbar geweſen.

*) S. „Zukunft“ vom 7. Marz 1903: „Das britiſche Transvaal“.

420 Die Zukunft.

In Deutfchland Hört man jet viel von „Burentaftif” reden.

Man fcheint darunter mehr die forınale Anpajjung an dag Gefechts— feld zu verftehen. Ihre Eigenthümlichkeit Tiegt aber auf der pſycho— logiſchen Seite des Dofenjioverhaltens der Buren. So menig ein modernes Majfenheer auf europäiichem Boden „Burentaftif” treiben fann und darf, fo felbjtverftändlich tft, daß feine Operationen fich in Südafrika dem Burenfhema ganz von felbjt anpajlen würden. Das Formale jiit nichts Spezifiiches. Der fpringende Punkt liegt m der völligen Defenjive, die fir aus den Jahrzehnte währenden Kämpfen gegen die Eingeborenen geichichtlich entwidelt hat. Sie waren von tem Grundfaß getragen, daß das Leben eines einzigen Buren mehr galı als der Tod von hundert Kaffern. Man lag Hinter den Kopjes und ließ die Schwarzen in die Büchfenrohre laufen. Um feinen Preis wurde die Dedung verlajfen. Auf diefe Weije gelang e3 den Buren, denen Ungeduld und rajches Handeln fremd tft, im Lauf der Zeit ohne nennenswerthen Einjak der Kaffern Herr zu werden. Das war Die eigentliche Burentaktik: ein ihrer Gefchichte und ihrem Charafter ent: Iprungenes Verfahren, das die Buren naturgemäß auf den Kampf gegen England übertrugen. Die Erfolge blieben nicht aus, jo lange Eng: land auf dem Gebiete der eigenen Taktik ji) noch nicht von Afgha- niftan und dem Sudan eimanzipirt hatte. ALS e8 aber im ungedeckten Maſſenanſturm blutige Lehren empfangen hatte, brach die Burentaftif jämmerlich zufammen. Unfähig, die Entjcheidung zu wollen, und außer Stande, fie taktiſch zu erringen, zerrten die Burren in verbohrter Thaten lofigfeit die Operationen hin. Chance auf Chance gaben fie aus der Hand, Tiegen ihre Erfolge ungenußt und gelangten zur Slataftrophe von PBaardeberg. Eine traurige Kette verfäumter Gelegenheiten: Das war dag Endergebnig der YBurentaftif! Zu ſpät wurde von führen Männern, die die Noth gebar, der Offenfivgeift geweckt.

Ein öderer, ungemüthlicherer Aufenthalt al3 der in einen ſüd— afrikanischen Blockhauſe ift Faum denkbar. Monate lang zwiſchen Wellblech, Eifenjchienen und Sandfäden inmitten troftlofer Steppen ein: gepfercht, Zag und Nacht des Angriffes gewärtig! Humor und _ weile haben unter der Beſatzung ihre noch Heute fichtbaren Bli. getrieben: das Innere der Häuschen ift mit Bildern aus ir” Zeitſchriften jäuberlich austapezirt. Roberts, Kitchener, King <.. und die Queen haben ihren Pla unter den zahlreihen Srhfad

Bıren und Briten. 421

darftellungen gefunden, in denen der patriotifche Stift des. Zeichners meijt frei mit der hiftorifchen Wahrheit fchaltet. Vor den Zugängen leuchten in weißen Steinchen auf dunflem Grunde dem Vorüberfahrenden "die Namen und Embleme der Regimenter entgegen, deren Thatendurft feine glänzendere Bethätigung in Sübafrifa finden folltee Der das Blockhaus umgebende Drahtvorbau, „the curtain“, war gewöhnlich mit leeren Ronfervenbüchlen behangen. Die Injchriften an den Außen ' wänden: „House to let“ oder „Tommy’s home“ verfehlten in der Zerlafienheit der Szenerie niemals ihre Wirkung.

© Erft dem Augenzeugen wird verftändlid, in welchem Grade ber Krieg ein Kampf um die rüdwärtigen Verbindungen, die Löſung einer Magenfrage war. In den Zaufende von Kilometern Tangen Defenfiv- finien mußte auf die Dauer auch der offenfive Geift der Engländer erſticken. Er machte jchließlich einer Zaghaftigfeit, ja, Nathlofigfeit Platz, die fi) an einzelnen Stellen geradezu in Komif äußerte.

Eine der traurigften Erjcheinungen des Krieges war bie That: lache der National Scouts. Sie ift nicht mit den Volkstugenden in Einflang zu bringen, als deren Verförperung heimathlicher Ueberſchwang den Bur hinzuftellen liebt. Man bedenke, daß aus ben Reihen eines um feine. höchften Güter ringenden Volkes die Kämpfer in Schaaren zum Feinde übergehen, fic) zu einem „nationalen“ Corps vereinigen und gegen die eigenen Brüder fechten! Der Verrath ift überhaupt ein trauriges Kapitel in ber Gefchichte des Burenkrieges. In jeder Form, ver⸗ ſteckt und offen, ift er, namentlich anfangs, geübt worden. In Uns entſchloſſenheit und Feigheit hat er fich auf dem Gefechtsfelde geäußert. Abtheilungen ließ man in gefährdeten Lagen im Stich und Heeres— körper verjagten einander die gegenjeitige Unterſtützung. ‘Dieje trüben Erjcheinungen gipfelten in der Bildung der „National Scouts“. Ein nationaler Schandfled, den der in der harten Echule der Kriegserziehung jpäter erzeugte Opfermuth und Heroismus nicht völlig zu verwijchen vermögen. Auch das mächtige England begann, um feine Exiſtenz zu fämpfen, und bediente fich aller erreichbaren Mittel, den Kampf zu fieg- reihem Ende zu führen. Die National Scouts bedeuteten weniger einen Zuwachs an Kämpfern als an unerjeßbaren Landeskennern. Dieſe mit den Hilfsquellen und Schlupfwinfeln. des Landes, den Plänen und Schlichen ihrer Volksgenoſſen vertrauten Ueberläufer leifteten dem Feind unfchäßbare Dienfte. Als nun England noch die zügellofen Kaffern-

422 Die Zutımft.

horden den in die Enge getriebenen Burenfchaaren in den Mücken befte, mußte die Ausfichtlofigfeit des Widerftandes fih aud) den flärfiten Gemüthern aufdrängen.

Ich hörte bejtätigen, daß die Einrichtung der Konzentrationlager urjprünglid) nicht humaner Abficht entiprang. England wollte durd die Iſolirung der Frauen einen Drud auf die fämpfenden Männer üben, erzielte aber nur das Gegentheil, da es die Frauen unterjchägte. Die Frau war des Burenvolfes befferer Theil. Sie wies den Gatten und Bruder wieder ins Feld hinaus, wenn fie ſich aus der Front zu ihrer Farm zurüdjtahlen. Sie trieb in eigener Entjagung die Männer zum Ausharren an. Die Burenfrau war der geiftige Träger des Widerftandes. Ihr heldenmüthiger Sinn und ihre jtumme Aufopferung haben ihr einen Ruhmeskranz um die Stirn geflochten.

Im Verlauf des Krieges traten alle mit den Konzentrationlagers anfänglich verfolgten Nebenzwecke hinter die unabweisbare Nothwendig— feit zurüd, die Burenfamilien vor Hungersnoth und Obdadhlofigten zu ſchützen. Der Zerftörungstampf hatte jede Eriftenzmöglichfeit außer: halb des englifchen Bereiches vernichtet. Die fchwierige Aufgabe, vor die fich die englifche Heeresvermaltung gejtellt jah, war ohne Konzen⸗ tration und ftraffe Handhabung nicht zu löſen. Rückſichtloſigkeit und Härte waren die natürlichen Begleiterfcheinungen der jo eigenthümlichen Einrihtung, der die KRolonialgefchichte Tein Deufter bot. Die Wahrheit über die angeblichen oder wirklichen Gräuel wird ſich jegt, nach Auf: hebung der Cenjur, Bahn breden. Die Leidenichaften flauen ab und die Welt wird an der Hand von Xhatjfachen das Wort von der „bei- fpiello8 humanen Kriegführung” einer fachlichen Nachprüfung unter: ziehen können. Aber fchon heute erheifcht die Gerechtigkeit, den Geift der englifchen Heeresleitung nicht bedingunglos der unter ihr began- genen Ausschreitungen wegen zu verdammen. Ein Kriegsichauplag von der gewaltigen Ausdehnung und der Eigenart füdafrifanifcher Steppen⸗ natur führte zu einer ungewöhnlichen Selbftändigfeit und Ungebunden- heit aller Organe. Das fozial minderwerthige Freiwilligen-Offizie corps war diejer Lage moralifch nicht gewachfen. Der lange Bufchkrie der die ſchlechten Inſtinkte im Menſchen entwidelte, demoralifirte d ganze Kriegführung. Uebergriffe, Ausſchreitungen, Brutalitäten häufte ſich. Die materielle Unmöglichkeit verhinderte dabei nur zu häufig d Durchführung auch der beſten Abſichten. In dem rieſigen, von fpä

Buren und Briten. 423

ichen Verkehrsadern durchzogenen VBerforgungbereich waren die Lebens: nittel für die ſich ftändig vergrößernden Konzentrationlager nicht immer echtzeitig zu beichaffen. Die Bandalenafte der zuchtlofen Freimilligen- Schaaren entzogen fich oft genug der Kenntniß und der Einwirkung der verantwortlichen Stellen. Disziplinare Rücfichten erjchwerten wohl such ein energifches Eingreifen. Die Aufgabe überftieg zeitweilig die Kräfte der Heeresleitung. Nur wer ſich den ungeheuren Rahmen und dent tauſendfach verzweigten Apparat der Kriegführung vors Auge führt, wird die Schwierigkeiten würdigen, mit denen fie zu fämpfen hatte, Was gegen Menfchlicfeit und Sittlichfeit gefehlt wurde, bleibt natürlich verdammenswürdig. Man vergeffe aber nicht, daß eine energifche, rück⸗ fichtlofe Kriegführung Pflicht des Feldherrn ift. Mit reiner Humanität hätten fich die Engländer in Südafrika das Grab gegraben. Im Kriege iſt das oberfte Gele nun einmal: zu fiegen.

Den moralifchen Einflüfjen eines aufreibenden Kleinkrieges ſtand die phlegmatifche Burennatur beffer gewaffnet gegenüber als der reiz- bare europäifche Kulturmenſch. Den Bur jchüßte die paffive Tugend feiner Nervenlofigfeit. Das joll das Lob nicht beeinträchtigen, das bie auch vom Feinde anerfannte Mienjchlichkeit jeiner Kriegführung verdient.

Ganz überrajchend war mir die Thatfache, daß, als Xord Roberts in Bretoria einzog, der Krieg für beendet galt. Die Buren waren des Kampfes müde und überwiegend zum Frieden geneigt. Sie jehnten fi) nach ihren armen, denen die Brandfadel der ſpäteren Verwüſtung noch nicht geloht Hatte, und gaben die politiiche Löſung der Zufunft anheim. Es bedurfte nur eines geringen Entgegenfommens und politis chen Taftes der ausführenden Organe, um die Waffenftredung durch zuführen und die der Verjöhnlichfeit zugeneigten Gemüther für fich zu gewinnen. Dazu follte e3 nicht Sommen. Bald fachten das herrifche Auftreten, Kurzfichtigfeit und Hleinlicher Haß der unteren Machthaber den Widerftand der Buren durch Schroffheiten und Chicanen wieder an. Ihre Bereitwilligfeit ſchlug in Erbitterung um und die unverjöhn- licheren Elemente gewannen die Oberhand. Die Leidenfchaften wurden erwet. Und nun erft begann der neu aufflanmende Krieg, den

Charakter des Vernichtungsfampfes anzunehmen, der auch an Englands Weltmachtſtellung zu rütteln drohte. ‘Die Ereignijfe waren ftärfer ge worden al8 der Wille der Heeresleitung. Sie wanden Lord Roberts dad Heft aus der Hand. Für ihn wie für feinen Stabschef, nur in

424 Die Zukunft.

entgegengefekter Richtung, war ber pfychologifche Mioment gekommen. Noberts ging und ließ fich als Sieger feiern, der er dem Scheine nah auch war. Kitchener trat an feine Stelle, um Kehraus zu made: und ihm fiel die Hauptarbeit zu. Eine eiferne Fauſt mar nöthig, die im eigenen Haufe Ordnung zu fchaffen wußte. Cine Energie, die an ie Beit nicht erlahmte und des Enderfolges ficher war. Noberts ſteht als Feldherr über Kitchener. Der füdafrifaniiche Kriegsichauplag war aber fein Feld für ftrategijche Schadyzüge und taktiſche Entfcheidungen. Zähe Kleinarbeit, Ausdauer, Gründlichkeit, Organifationtalent umd tech nifche Befähigung haben den Sieg errungen; der Menſchenkenner ımd Politiker hat den Frieden herbeigeführt. Der „Schlächter von Südafrile” ift ein populärer Mann unter den Buren. Wie mag Das den Yeirr des „Kladderadatfch” und des „Simpliciſſimus“ anmuthen? Und doch ift e8 Wahrheit. Zu Kitchener hatten die Buren Vertrauen. Er verſtand ihren Charakter, redete ihre Sprache und bejaß, als Krönung feiner ſolde tiſchen Zugenden, ein Herz für den Menſchen. Der Friede von Vereen⸗ ging ift nicht zum geringen Theile fein perfönliches Verdienft. Didier der Phrafe und Eitelkeit abholde Mann, der die Erwartungen feine Vaterlandes noch nie enttäufchte, wäre einer unjerer volksthümlichſten Generale, wenn feine Wiege in Deutjchland geftanden hätte.

Die herbe Kritik, die aus Anlaß des Krieges auch in England an dem engliichen Offiziercorps geübt wird, ift vorwiegend auf das Berhalten der Freiwilligen-Offiziere zurüdzuführen. Ihnen fehlte die ſoziale Grundlage und der fittlihe Kern der Berufsorganijation, die ſelbſt unſerem NRejerveoffiziercorps eigen find. Der große Bedarf an Offizieren machte eine ftrenge Auswahl unmöglid. Man war ge: zwungen, auf Schichten zurüczugreifen, denen die für den neuen Beruf erforderlichen Eigenjchaften mangelten. ‘Die außerordentliche Berfuchung, die die eigenartigen Bedingungen bes Transvaalfrieges mit ſich brachten, ftellte an die moralische Widerftandsfähigfeit des Einzelnen erhöhte An- forderungen. Die Verproviantirung eines ganzes Landes erfolgte während zweier Jahre durch die Militärbehörden; denn auch die Givilbevi” ; wurde von ihnen verpflegt. Waarenlieferungen im Werthe von HB. : tauſenden gingen durch die Hände der Offiziere. Die Gelegen! t perjönlicher Bereicherung trat in der verfchiedenften Forın an alle ‘= flafien heran. Es konnte nicht ausbleiben, daß die Korruptio.. . ) taufend Pforten ihren Einzug hielt und auch das aktive Offizier

Buren und Briten. 425

ergriff.” Vor der Berallgemeinerung von Urtheilen, wie man fie im Zransvaal hört, daß die englifchen Offiziere „eine Bande von Dieben“ feien, möge man ich allerdings hüten. Wer aber wollte leugnen, daß da unten gar Vieles vorfam, das helles Tageslicht zu jcheuen hat?

Kurz vor meiner Anmwefenheit in Lourenço Marquez brannte das umfangreiche ‘Depot nieder, das die Engländer an diejer wichtigen Ein- gangspforte für ihre Kriegsbedürfniffe errichtet hatten. Die Thatſache überrafchte die Eingeweihten durchaus nicht. Es galt als allgemein feitftehend, daß die dort von langer Hand betriebenen Unterjchlagungen auf andere Weife nicht mehr zu verdedfen waren. Selbft auf englijcher Seite herrfchte die Ueberzeugung, der Krieg fei vom Heer künftlich in die Länge gezogen worden; die unjauberen Elemente, hieß es, wollten fi) die fchöne Gelegenheit, Geld zu machen, nicht fo bald entgehen laſſen. England hat wohl manchen reihen Mann zurüctehren fehen, der arm und ehrlich in den Krieg gezogen war.

Ich habe zahlreiche Offiziere kennen gelernt, bie ſolchem Treiben jicher meilenfern ftanden und den hiftorifchen Auf des englifchen Offizier: corps inmitten aller Anfechtungen rein erhielten. Daß der Offizier, bejonder8 im Anfang, jeiner militärischen Aufgabe nicht gewachſen war, lag im Syſtem und in der ausfchlieglichen Gewohnheit, gegen inferiore Gegner zu fämpfen. Sein leichter Sinn, die zweckmäßige Lebensweiſe, ſchnelle Anpafiungfähigkeit und fein friiher Schneid halfen ihm über manche Mängel jeiner militärifchen Schulung hinweg. Die jportliche Auffaffung feines Berufes fcheint er ſich aber auch nach den eindring- lichen Lehren des Zransvaalfrieges erhalten zu haben. „Sie haben eine harte Zeit hinter ſich,“ fagte ich zu einem Offizier, der die ganze Zeit im Felde gejtanden hatte. „Ach“, meinte er, „wir haben ung “eigentlich ganz gut amufirt!" Das muthet faft findlih an und ift im Grunde doch der Ausfluß einer wallenſteiniſchen Soldatentugenod.

Im Allgemeineu herricht nicht, wie der ferne Betrachter zu glauben geneigt ijt, die Meinung, England habe in Südafrika, troß feinem Sieg, militäriih Fiasko gemacht. Im Kriege giebt der Erfolg den Ausſchlag. Daß der Erfolg in Südafrifa fo lange ausblieb, wird nicht der eigenen Unfähigfeit, fondern ben Schwierigkeiten einer fo ab: jonderlihen Kriegführung zugejchrieben. England hat einen der ge- waltigiten Eroberung3friege feiner Rolonialgefchichte zu fiegreichem Ende . geführt und fühlt fich militärisch ftärker denn je. Auf ſolcher Grund: 32

426 Die Tage gedeiht feine durchgreifende des Engländers gegen die alfgen Einführung anderer Argumente al

AS id) in Kapftadt war, l laſſenen Freiwilfigen. Die folonic hervor. Der Iondoner Mob blie hörden waren machtlos und war: Dampfer, der jedesmal Taufende unterbrochen trafen neue Schaare faffen der Militärzüge hatten es quem wie- möglich für die Tage Whisky Half der Stimmung nad. zufchlafen. Sobald unfer Zug auf ftredften ſich Dugende von Hände Was id) in Südafrifa von Tom durchweg breitſchultrige, gutgenäh bewußt in ihren Schnürfchuhen « den Krüppeln und hohläugigen 6 Krönungparade, die etwa vier⸗ bis plag von Johannesburg vereinte, prächtigen Menfchenmaterial habı den großen Mafjen, die ſich in führbar. In den Zeltlagern au ordentlich, her. Für uns Deutich Weſen der Manneszucht unzertr unbefangenes Urtheil über die das bunt zufammengewürfelte langen Kampf ohne ſchwere innere kann man den militärifchen Geift ni muß auch in dem englifchen Off gabe mit oft minderwerthigen Truy militärijcher Kern ſtecken. „QTomr rifirte ihn mir ein Offizier, „abı Feldſoldat!“ Sein Selbftbewußti worden: „Jetzt find wir mit den $ die Reihe kommen!“ Er hat näm! weiß, daß unfere Blätter nicht gli ftändige denfen freilich beſcheidene

Duren md en 7

Wohl felten ift ein Krieg auf beiden Seiten mit fo unfinniger ‚nterfchätung des Gegners begonnen worden. Die, Engländer zogen u einem „little trip“ nach Pretoria aus. Das haben Offiziere mir [bft freimüthig beftätigt. Die Buren ftanden bei der Kriegserflärung m Banne von Majuba. Und Majuba fang auch noch aus den Worten, nit denen Krüger die drei Generale anherrſchte. Warum fie den Kampf richt fortgefegt hätten? Das fei ein Frevel am Volk gemejen. Die Gegenwart war nicht mehr zu retten. Der Staat zertümmert, das Eigenthum zerftört, die Manneskraft gelähmt und Taufende von Frauen nd Kindern dahingerafftl. Die Zukunft, das Volksthum galt es zu etten. Der Entichluß zum Frieden war eine patriotifche That. Der vürdigfte Schlußitein des heldenmüthigen Verhaltens der Männer, die veiter blidten als der Starrfopf im Haag, der über feiner Bibel ein- zejchlummert war. In dem Triedend-Memorandum haben fie den Ihrigen und der Welt verkündet, daß fie ihr Volksthum nicht zu Grunde richten wollten, an deſſen Zukunft auch fie nicht verzweifelten.

Zu einer Burenauswanderung wird es nicht fommen, denn fie . wäre offener Verzicht auf alle ftaatlichen Zufunftbeftrebungen. ‘Der Bur verläßt feine Scholle nicht, au) wenn die englische Flagge dar— über weht. Unter dem Union Sad wird er freier leben als unter dem Banner einer anderen Nation. Nah Südweſtafrika find nur wenige Familien auf dem Umwege über Europa gelommen. Sie werden abs warten, wie fich die Dinge in ihrer Heimath entwideln, und wohl nur zum Kleinen und nicht dem befferen Theil dem Lande erhalten bleiben. ‘Der Militärdienft und der deutjche Zwang find einer größeren Buwanderung feind. Die niederſächſiſche Stammesverwandtichaft ift zur gejchichtlichen Neminiszenz verblaßt, in rauher Wirklichkeit von der abjorbirenden Macht des Angelfachjenthumes erftict.

Wie werden die Dinge fi) in Südafrika geftalten? Der Bur ein loyaler englifcher Bürger oder der Vorkämpfer des Afrilanders thumes? Das englifche Element der Träger des Imperialismus oder der Verfechter des Tolonialen Xostrennungsgedanfeng?

Vielleicht werben die Matoppo-Berge, die in fteinernem Gelaß das politiiche Geheimniß des füdafrifanischen Bismarck bergen, noch zum Wallfahrtort einer Raſſe, die die Intereſſengemeinſchaft in ber Bedrängniß zufammengejchweißt.

m Englands Hand liegt die Entjcheidung.

- Friedrih von Erdert. 32*

128 Die Zutat Der Glaube des Raifers.

5) Erlaß des Kaifers in Sachen ber Babelforfhung und ihrer Birk auf die chriftliche Religion ift noch in Aller Munde. Irrt man nik fo wird er dort auch noch länger bleiben. Känger als alle die andern Kau gebungen des Kaiferd, die doch ſchon eindrudfam genug waren. Das mai der Gegenftand, um ben ſich diesmal bie faiferliche Ausſprache dreht: be Religion. Erſchlägt in jedem Denkenden eine nachklingende Saite an; Kümt werden in Vielen wieder wach; neue Probleme fteigen in neuer Beleuhtug auf; und dank dem fo überaus famofen Zwangsreligionunterricht in wiſera Schulen fühlt ſich Jeder mitberufen zu Urtheil und Entfcheid. So hit man denn, wohin man fommt, den Hollmannbrief glofjiren. Iſt man ge Theologe, fo wird man erft recht damit beglüdt und immer wieder um jra „ſachverſtändiges“ Urtheil gebeten. Ablehnung und begeifterte Zuftinsum, Kritik, Satire, Zerfaferung einzelner Säge, Deutung, Umdeutung, politik und agitatorifche Ausnugung: alles Das und mehr ſchwirtt durcheinarda Im Ganzen nichts als Halbheiten und Stüdwert, Gloſſen über Glofien, fd geiftlofe, bald geiftreiche. Dabei kommt aber fo gut wie nichts heraus Ü unterhält auf Stunden, aber es förbert nicht auf die Dauer.

Ich möchte den Brief des Kaifers nad) drei Richtungen prüfen. Anh der radifalfte Demofrat muß ben Einfluß der kaiſerlichen Perfönlickeit ad unfer öffentliches Leben und Speziell auf die Geiftesrichtung weiter hürgerliäg Kreife zugeitehen; deshalb ijt e8 von Bedeutung, Urtheile und Deimmga des SKaifers, fo wandelbar fie auch häufig erfcheinen, genauer zu erforie: alfo möchte ich aus dem Hollmannbrief zunächft die religiöfe Gedankenreh des Kaiſers, fein Glaubensbekenntniß, zu entwideln verfuchen. Dom nöd ich die Eirchenpolitifche Bedeutung feines Briefe Kurz feftftellen und dritted die Gelegenheit benugen, um an den Schlußfag des kaiſerlichen Schreibes einige Erörterungen über Anlaß und Inhalt moderner Neligiofität zu Enäpfer Befonders auf diefes Letzte kommt e8 mir an. Der Brief bes Kaiferd Ki wieder einmal gezeigt, wie tief das religidfe Broblem und damit das religit Intereffe auch in den Herzen der Heutigen noch fledt, aber auch zugleich, m ungeflärt und unficher das Urtheil der Meiften auch nur über die ea Borausfegungen religiöfen Lebens und religiöfer Wirklichkeiten if. Da mi das Eifen geſchmiedet werden, fo lange e8 warm ift; und Jeder, der Hey Etwas fagen zu können glaubt, ift verpflichtet, jest ben Mund zu öflnt.

Der kaiſerliche Brief will zunächft und formell fein Glauber fm niß fein, fondern eine Antwort auf die Anfrage Hollmamıs; er will u! us giltige Stellung des Kaiſers zu den zwei Babel-Bibel-Vorträgen D 1% bezeichnen. Indem dieſe aber formulirt wird, enthüllt der Sniler gleih

Der Glaube des Kaiſers. 429

feine religiöfen Ueberzeugungen. Lieſt man diefe ſich aus dem Brief zufammen, fo ergiebt fich dem objektiv Wägenden eima folgendes Glaubensbekenntniß. Der Kaifer glaubt an einen, einigen Gott, allweife, allwiljend, all⸗ mächtig, gnädig und allgegenwärtig, Schöpfer Himmels und ber Erde. Er glaubt, daß Gott die Menfchen erfchuf nach feinem Bilde, ihnen feinen Odem einblies, ganz nach dem aftteftamentlichen Schöpfungmythus. Der Kaifer glaubt an Jeſus Chriftus, Gottes eingeborenen Sohn, Gottes größte Offenbarung, Gottes Wort, Gott jelbft in menfchliher Geftalt, Erlöfer, Heiland, Führer und Fürfprecher der Menfchen beim „Vater“. Er glaubt an die mejfianifche Verkündung Jeſu im Alten Zeftament; er glaubt, daß die ganze Gejchichte des jüdischen Volfes, ja, im Grunde die geſammte Menſch⸗ beitgefchichte eine einzige Vorbereitung de Kommens Jeſu fei. Der Kaifer glaubt an eine doppelte Dffenbarung Gottes: die hiftorifche und die religiöfe, wie er, die natürliche und die übernatürliche, wie die hriftliche Dogmatik fie nennt: die erfte vollziehe fih in Natur und Geichichte, am Klarſten in allen großen Männern der Weltgeichichte, die zweite allein in Chriftus. ‘Der Kaifer glaubt an die unbedingte Autorität des Neuen Teftamentes und hält deffen Inhalt für unantaftbar; wenigftend muß Das indirelt auß feinen Worten gefchloffen werden. Der Kaifer befennt ſich bedingunglos zu dem Inhalt der Iutherifhen Reformation und zu der Autorität des Theologen Luther. Defien Grundſätze, befonders über da8 Neue Teftament, find bie feinen. Der Kaifer glaubt, daß Gott Iehrbar, felbft den Kindern Iehrbar iſt. Er fieht noh immer im Alten Teftament das vorzüglichfte, dazu geeignetfte Lehrmittel. | Vergleicht man dies Glaubensbekenntniß mit den apoftolifch genannten, das in unferen proteftantifchen Kirchen jeden Sonntag bekannt zu werden pflegt, fo zeigen fich größere Rüden in dem. des Kaiſers. Vom „Heiligen Geift“, von der „Gemeinschaft der Heiligen“, der „chriftlichen Kirche“, ber „Vergebung der Sünden, Auferftehung des Fleifches und ewigen Leben“, alfo vom gefammten fogenannten dritten Artikel, finden wir kein Wort, von Jeſu „jungfräulicher Geburt, Höllen- und Himmelfahrt, fowie Wieberfunft am Füngften Tage“, wichtigen Beftandtheilen des zweiten Artilels, eben fo wenig eine Andeutung. Der Grund dieſes Yehlens ift deutlich aus dem ganzen, ſchon vorhin charakterifirten Zwed des Briefes zu erkennen. Für bie religiöfe Beurtheilung des Kaiferd bedeuten diefe Läden freilich nichts oder doch fo gut wie nichts. Auch fo ift diefe, ohne daß man Wilhelm dem Zweiten irgend welche Gewalt anzuthun braucht, Har: der Kaifer fteht feft auf dem Boden des überlieferten Firchlich-proteftantifchen Bekenntniſſes. Würde Admiral Hollmann den Kaifer noch um eine Ausfüllung diefer Lüden zu bitten wagen und der @ebetene auch darauf eingehen, jo wäre Hundert

430 Die Zukunft.

gegen Eins zu fegen, daß auch bie Taiferlichen Ergänzungen ganz dem Jahılt des apoftolifchen Glaubensbelenntnifjes entfprächen. Selbſt die religiöfe Au⸗ drudsweiſe des ganzen aiferlichen Briefe beweiſt es: fie bewegt ſich durdasl

in den Formeln und Bildern der kirchlichen Predigt- und Unterrihtäipmd:

bejonder8 aus dem Abfchnitt über Chriftus wird Das deutlich.

\ Aus Alledem aber ergiebt fi nun unwiderleglich eine ziemlid werk volle Schlußfolgerung. Man hat fi) in weiten Kreifen daran gewöhnt, da Kaiſer als einen durchaus modernen Menfchen aufzufaflen und zu verfrie

Sein Glaubensbelenntnig erweift das Gegentheil ala richtig. Es ſiell in in diefer Beziehung mit feinem Inhalt glatt an die Seite des vorähn Kunftbelenntniffes des Kaiſers und ergänzt diefes geradezu. Wie dort di

dem Gebiete der Kunft, fo Hält fich Hier, auf dem Gebiete ber Religion, ie Kaiſer nicht zu modernen, fondern zu den „klaſſiſchen“, zu den überlirferz

Grundfägen und Anſchauungen vergangener Jahrhunderte. Gewiß fe

„kein PhHilifter“ ; aber eben fo wenig ift er ein moderner Menid). Freilich ift er von modernen Gedanken nicht unberührt. Das it gr nicht anders möglich bei einem Dann, der, wie er, im Strubel der Oder lichkeit zu ftehen ſich freut und der mit den allerverfchiedenften Geiftern Fühly zu halten fi) bemüht. Gerade von hier aus muß es freilich zunädfl ar fallen, daß in feinem ganzen Briefe kein Wort von moderner Nature {haft und deren Ergebniffen zu finden iſt. Erklärlich ift es freilich gemf

fam: erftens bot der Brief feine direlte Beranlaflung dazu und zuveitend Id Naturwiſſenſchaft und Religion nach alter Erfahrung für Humbderttaniak

von Dienfchen zwei Gebiete, deren Inhalt ſich für fle nicht berührt. Hunde taufende laufen ihr Leben lang umber, in ihrem naturwiſſenſchaftlichen Desk befruchtet von aller modernen Forfchung, in ihrem religiöfen Leben ft m

„Bekenntniß“ hängend. Und fie empfinden gar wicht den Riß, der mi

durch ihr ganzes geiftiges Neben geht. Gerade praftifche Natnren, Dt Lebensgluck das handelnde Eingreifen in das Getriebe bes Tages anne

gehören dazu. Ob dies Alles auch auf den Kaiſer zutrifft, weiß ich ur

Es bedarf aber nicht einmal dieſes, ſondern nur des angeführten rein m malen Erklärungsgrundes für den Mangel eines Eingehens auf de3 de hältniß von Naturwiflenfchaft und Religion; außerdem war ein viel ade liegendes Problem zur Ausfprache geftellt: das des Verhäliniſſes von Ir riologie und Religion.

Und eben an diefem Punkt zeigt ih, daß aud ber Kaiſer Gehanleo gängen moderner Wiffenfchaft ſich nicht zu verfchliegen vermag. Er bier an fie ganz charakteriſtiſche Zugeftändniffe. Schon aus der Toleran g* Das hervor, womit er die dem feinen ganz entgegengejeßten refigiäfen 1

ſchauungen feines „guten Profeſſors“ Delisfch anhörte und danach hattet.

Der Glaube bes Kaifers. 431

Diefer Zug der Toleranz gegen andere religiöfe Anfchauungen geht durch den ganzen Brief; er ift vielleicht der liebenswürdigfte an ihm und befonders auf- fälig für einen Sozialdemokraten, gegen deſſen Gefinnungsgenofien der Kaifer belanntlich nicht die felbe Duldſamkeit in feinen Ausfprücden zu üben pflegt. Wäre der Kaifer ein Orthoboger nach dem Herzen der Kreuzzeitung und des „Neichsboten”: niemals wärbe er feine abweichenden Anfichten in die von ihm beliebten Formen gekleidet haben. Er hätte dann vielmehr oftentativ alle Berbindung mit Delitzſch und Genoſſen abgebrochen, fein Wehe über fie ge- rufen und nicht geduldet, daß der Profeſſor feine fegerifchen Anfichten fo frei vor der Kaiſerin auseinanderjege. Parteigänger der Kreuzzeitung und des,Reichs⸗ boten“ fchleudern bekanntlich Ts oft wie möglich ihr Anathema gegen alle moderne Forfchung, nicht nur auf dem Gebiete der Theologie, fondern eben fo auf dem der Philofophie, der Neligiongefchichte, ja, aller Geiſteswiſſen⸗ fchaften überhaupt. Ginge e8 nach ihnen, fo würde fein Profeffor an einer deutichen Univerfität angeftellt, der fich nicht mindeftens auf das apoftolifche Glaubensbekenntniß verpflichtete, und würde jeder befeitigt, der im Wider⸗ ſpruch zu ihm lehrte. Bei den Verhandlungen, die der Begründung der neuen fatholifchen Fakultät in Straßburg vorangingen, ift diefe Pofition wieder ganz deutlich geworden. Nichts von Alledem beim Kaijer. - Vielmehr gefteht er Delisfch durchaus das Recht zu, feine theologifchereligiöfen Schläffe zu ziehen; nur räth er ihm, „nur fehr vorfichtig Schritt vor Schritt zu gehen und jedenfalls feine Theſen nur in theologifchen Schriften und im Kreiſe feiner Kollegen zu ventiliven; er könne für feinen Kollegenkreis Thefen, Hypo⸗ thefen und Theorien fowie Ueberzeugungen aussprechen in Fachjchriften, welche nicht angängig auszufprechen fein würden in einem populären Vortrag oder Buch.“ Der Kaifer geht noch weiter, da er einen Theil der modern: wiflen- ſchaftlichen Hypotheſen über das Alte Teftament als erwiefen und die dadurch mobifizirte Auffafjung jeines Inhalts als berechtigt anerkennt. Noch mehr: felbft die Möglichkeit einer Weiterbildung der gefammten Weligion, von der er befanntlich vor mehreren Monaten in Görlig fo viel entfchiedener geredet hatte, giebt er zu. Das Alles zeigt den Punkt, an dem das von der Tradition übernommene Glaubensbelenntnig bes Kaiſers von modernen Anfchauungen umfpält und nur durch Kompromiffe vor diefer Fluth gefichert erfcheint. Freilich: wer mit den geiftigen Strömungen im kirchlichen Leben der Gegenwart auch nur einigermaßen befannt ift, wer gar, wie ih, Jahre lang mitten drin geftanden Hat, weiß daß auch diefe Konzeſſionen des Kaiſers an mobernere Gedanken und Bedürfniffe nichts dem Kaifer allein Eigen- thuümliches, etwa von ihm Gefundenes, ihm allein Originelles find. Sie alle find Beftandtheile eines Ideenkomplexes, der dem Schoß einer Art neuer kirch⸗ lichen Mittelpartei entftammt. Diefe ift auf Tirchlichem Boden etwa das Selbe,

432 Die Zukunft.

was auf politiſchem die freifonfervative Partei if. Ich meine mict em, beide Parteien würden von den felben Männern geführt; folche Fdentitätm des Firchlichen und politifchen Lebens find feit den Tagen ber alten aufredkn Liberalen in Deutfchland nicht mehr vorhanden. Aber die geiftige Grm richtung ift bei dieſer kirchlichen mittelparieiartigen Gruppe ähnlich wie be der politiich freilonfervativen: das „Belenntnig der Kirche” gilt ihr unantaftbar; die Autorität und Einheitlichkeit diefer Kirche ift oberſtes Zei und intenfio zu pflegen. Ju parteipolitifche Händel haben ſich ihre One nicht einzumifchen; „Chriftlih-Sozial ift Unfinn“. Der Geiftliche hat, nad der Weifungen des Sirchenregimentes, allein der Seelſorge und Predigt i feiner Gemeinde obzuliegen und deren Wirkung durch Pflege der Arbeit der inneren und äußeren Miffion und bes Guſtav Adolf-Vereins zu ver: ftärten. Jeder Geiftliche, der in feinen Predigten, feiner feelforgerlichen Bit: ſamkeit ſich agreffiv gegen das Belenntniß verhält, auf das er bei feinen Eintritt juriftifch verpflichtet wird, muß befeitigt werden; im Uebrigen ft für die Prebigtthätigfeit ein größerer Spielraum erwünfcht. Als Prebigtibel gilt etwa die Art von Dryanders Predigt: feſtes Halten an dem Firhlihe Tert, der aber nach Form und praftifcher Zufpigung in Anpaſſung an ir Bedürfniffe und Ideengänge der Dienfchen von heute ausgelegt wird. Un dingte Frieblichkeit im Verhältniß der verfchiedenen kirchlichen Strömung zu einander, Geringwerthung alles firchlichen Parteimefens, Toleranz gegm theologifch Andersgläubige. Freiheit der Wiffenfchaft, auch der theologiider: aber Befchränfung ihrer jeweiligen Ergebniffe auf ben Kreis der Fachgelehrin, fo lange diefe Ergebniffe noch Hypotheſen find. Wann fie als ganz gehdet gelten follen, wird nicht feftgeftellt. Erziehung der jungen Theologen, nad ihrer Ilniverfitätzeit, in Predigerfeminar und Pilariat, damit, wie es $ wöhnlich formulirt wird, zu ihrer wiffenfchaftlichen Ausbildung die firdlik trete, in Wahrheit, damit die Wirkungen freierer wiffenfchaftlicher Anfchauungea durch korrekt kirchliche möglichft kompenſirt werden. Schließlich Anerlenuerz wenigſtens einer gewiffen Neformbebärftigkeit des religiöfen Unterrichtes. Wie man fieht: eine Partei des überlieferten Kirchlichen Befenntnifis mit allerlei nicht tiefgehenden Konzeſſionen an den Geift der übermäctl andrängenden modernen Ideen. Ein Verſuch mit unzulänglichen Mittels. fie zu bannen, mit einer Taktik, die der Wiffenfchaft und ihren Wirfunger gegenüber völlig ohnmächtig ift. Denn felbftverftändlich läßt dieſe. au“ de theologifche im engften Sinn, fi nicht auf den geheimen Kreis der jet genofien befchränfen. Und da jie in ihr natürliches Bett des lirchlich-reli den Lebens nicht einftrömen fann, fucht und findet fie andere Ausgäng m) Wege, auf denen fie dann von außen die Inſel der Kirche umflı“ und eine erfreulihe Mifftion! ein Stüäd nad) dem anderen vor UF

Der Glaube des Kaiſers. 433

wenmt. Aber diefe Partei ift heute bei uns eine gefchichtliche Noth- ndigfeit, feit das Durchfchnittsbürgerthum fih aus der Umarmung bes aterialismus zu löſen begonnen und fich in bie neue religiöfe Welle ge fen hat. Denn da es Tängft nicht mehr die Kraft hatte, fich als ein tuck Maſſe zu einer . geläuterten Form von Religion zu erheben, fo hat wieder ben Weg in die Kirche gefunden. Gedankenlos erkennt e8 an, . 13 es einft heiß mit befämpfen half; und nur eine gewiffe Schonung ber ten Erinnerungen verlangt e8 von den „edlen Herren der Kirche”. Die en charakterijirte Partei ftellt da8 Gehege dar, in deſſen Bereich ihr dieſe chonung zu Theil wird. Darin liegt ihre Lebenskraft, Nothwendigkeit ad Bedeutung. Sie wird von den echten Tirchlichen Orthodoren ganz eben beargwöhnt wie bie politifche Gefolgfchaft be Grafen Bülow von den averfälfchten Konfervativen und Agrariern. Aber fie wird doc beargmwöhnt nd beobachtet als eine Macht, die man ſchließlich noch einmal wieder, und vor allein, zu beerben Hoff. Der befannte Typus biefer ganzen leiſen 'ompromißpartei ift der jetzige Dberhofprediger Dryander, deſſen Geift und zeſinnung auch im brandenburgifchen Konfiftorium und im preußifchen Ober- rchenrath wohl maßgebend ift und von hier aus mehr oder weniger aud) ı die übrigen preußifchen Konfiftorien eindringen Tonnte.

Mit der Nennung diefes Namens aber ift fofort auch die kirchenpoli- fe Situation klar beleuchtet, die durch den Brief des Kaiſers an Holl: ann zwar nicht erft geichaffen, aber neu befeitigt worden ift: der anze Brief bedeutet eine Verſtärkung des Einfluffes diefer Mittelpartei bei dofe. Der Borftoß der „modernen Theologie“, vertreten durch Profeſſor harnack und neuerdings durch Profeffor Delitzſch, ausgeführt mit der deuts ichen Abficht, den Kaifer und feinen Einfluß für fie zu gewinnen, ift nad tiefem Brief gänzlich mißlungen; die durchaus kirchliche und befenntnißtreue Mittelpartei bat ihre Pofition behauptet. Nicht Deligfh, fondern Dryander var der Sieger. Die ſtramm Orthodoren aber ftehen dem ganzen Vorgang chon mit fiegesfreudigeren Gefühlen gegenüber: fie find voll Jubel, daß Deligih „abgefallen“ ift, und voll Hoffnung, daß fie dereinft die Beſitznach⸗ 'olger Dryander8 und Genoſſen fein werden. Der in der Kreuzzeitung ges drudte Brief eines GenerallieutenantS von Her&berg, fozufagen eines zweiten, in den Orthodorismus verkehrten und zur Ercellenz erhöhten Egidy, brachte dafür den fchlagenden Beweis.

Ein wirklich moderner Menſch kann nad Alledem nicht zweifeln, daf er weder dad Glaubensbekenntniß des Kaiferd zu theilen noch den Bahnen diefer mittelparteilichen Kirchengruppe zu folgen vermag. Was ihn daran hindert, find die Konſequenzen, die fih ihm aus dem Punkt ergeben, an dem der Kaifer den Gegenſatz von Wiſſenſchaft und chriftlichem Glaubensbekenntniß

434 Die Zukunft.

Tonftatirte und jener zu Gunſten diefer fette Echranlen zu ziehen fuchte. Dem das innerfte Wefen eined modernen Menfchen befteht meine Erachtens gerade darin, daß er für unmöglich hält, ſolche Schranken aufzurichten, daß er vieb mehr mit feinen zwei Beinen, Törperlichen wie geiftigen, feft auf bem oben der Gegenwart und Wirklichkeit fteht, daß er diefer und nicht ber durch hohes Alter wohl ehrwürbig, aber deshalb nicht richtiger und unvergänglicher ge wordenen DBergangenheit die Priorität umd Autorität zuweifl, daß er, genen wie die einfligen Schöpfer der früheren Weltanſchauungen und Glauben: formulirungen, von dem Anfhauung: und Erfahrungstomplier feiner Zei fein Weltbild fich zu fchaffen den Muth hat und daß er dies Weltbild zu geftalten fich bemüht mit den Mitteln und Ergebniffen der Heutigen Sazis: und Naturwifienfchaft, Kunſt und Philofophie. In dem Augenblid aber, wo er konſequent fo verfährt, finkt ihm auch das gefammte überlieferte Glanbens befenntniß, fei e8 in ber flarren Form der Orthoborie, fei es im der ge milderten mittelparteilichen, fei e8 fchließlich in der umgedenteten der Tiberalen Theologie, wie ein Kartenhaus haltlos in ſich zuſammen und Feine Full der Dialektik, kein Appell an fein Pietätgefühl, keine Bitte um Nüdide nahme auf die Herzen der „Schwachen“ und der „Altgläubigen‘’ vermag es ihm wieder aufzurichten, gefchweige denn gar wieder wohnlih und benupbar zu machen. Der Komplex von ‘een, Erfahrungen und Empfindungen, ber, ein Produft mühfamfter Forſchungen, Opfer und Erlebniffe der letzten paar Jahrhunderte, den Lebenshalt des heutigen Menſchen ausmacht, um Deffes willen e8 ihm überhaupt allein zu leben lohnt, wirft wie Scheibemaffer anf alle überlieferte Form von Religion und fpeziell von Chriſtenthum: er ze fegt den Glauben an Bott als den ehrwürdigen, mit allen verflärten Tugenden ausgeitatteten Vater der Menſchen, an die Göttlichkeit Chriſti, an die Perfen des Heiligen Geifted, an Himmel und Hölle, an Sünde und Exrlöfung, as Strafe und Gnade, an Wunder, Engel und Teufel, an Schöpfung und Ente der Welt, Auferftehung des Fleiſches und ein paradieliiche® Leben. Ban Alledem bleibt für einen modernen Menſchen häufig erſt nach fchmwerfien inneren Wehen und Kämpfen nichts übrig, nicht einmal ein Häuflein Aſche. Und auch al die taufendfachen, immer verfchiedenen Kompromifie, die einzelne unferer Zeitgenofjen zwifchen der alten Pofition und der m m Tonfequenten Negation des alten Chriftenthumes fuchen und finden, find x eben fo viele Beweife für bie Richtigkeit der eben entwidelten Ichatfaı «. Denn jie jind nur der unklare Ausdrud unficheren Schwanlens zwifchen jeı er Pofition und diefer Negation. Und fie reichen hödhitens fo lange, wie tı# Leben Deſſen währt, der ſich an diefe Kompromifje Hammer. Schöpferif he und dauernde Kraft haben fie nicht. Unwiderlegbar ift die Wahrheit‘ ie moderne Weltanfhauung zerftört alle überlieferte Form von Religion

Der Glanbe des Kaiſers. 435

Aber und Das gehört fofort als eben fo bebeutfame Wahrheit daneben die moderne Weltanfchauung zerftört nicht auch das Bedürfniß nad) Religion, wedt es vielmehr mit verdoppelter Gewalt, ja, erweilt fogar das Recht der Religion als einer nothwendigen und gleichwerthigen Ergänzung aller modernen Wiflenfchaft von Neuem und mit nicht minder durchfchlagender Kraft als alle früheren Weltanfhaunngen. Es ift wohl der höchite Ruhmes⸗ titel der heute immer klarer werdenden modernen Weltanfchauung, daß fie, im Gegenfag zu allen früheren, deutlich die Grenzen ihres Herrichaftbereiches erfennt und zugefteht, daß fie freiwillig auf den Anfpruch, erfchöpfend zu fein, verzichtet. Sie hat fih, abermals im Gegenfag zu allen früheren Welt: anfchauungen, bejchränfen gelernt. Sie weiß, baß e8 ihr bis heute nicht gelungen ift und nad allem menſchlichen Ermeſſen niemal3 gelingen wird, mehr als einen Ausfchnitt des Weltganzen zu beleuchten und in der Vor⸗ ftellung des menfchlichen Geiſtes zu reproduziren, und daß ſtets rings um das beleuchtete Bild Dunkelheiten bleiben, bleiben werden, auch wenn die aufgeflärte Fläche des Weltbildes noch fo jehr ins Ungemefjene wächſt. Und fie weift weiter und fpricht es auch offen genug aus, daß fie das von ihr erleuchtete Weltbild, weil e8 rein eraft auf dem Wege des Intellektes und Erperimentes am Sinnlichen der Welt gewonnen wurde, nur nach einer ganz beftimmten Seite verftehen und verftändlich machen kann, als einen Riefen- fompler von Bewegungvorgängen allerverfchiedenfter Art, zufammengehalten durch das Geſetz der Kaufalität. So ſchildert fie die dem wiflenjchaftlichen Forſchen zugängliche Welt, wie fie ift und mach welchen offenbaren Gefegen fie zufammenhängt und fih auswirkt. Aber fie vermag weder zu fagen, was nebenan im Dunkeln, noch weniger, was hinter allem Sichtbaren und allen Bewegungvorgängen Liegt; am Allerwenigften aber vermag fie Antwort zu geben auf die Fragen: aus welchem Grund und zu weldem Bwed die Welt fo ift, wie wir fie mit ihrer Hilfe jehen und allein heute ſehen müflen, was das Biel ihrer Entwidelung, woher fie geworden ift; was des Men⸗ hen Zwed und Ziel, fein Berhältnig zu der ihn umgebenden und ihn bes dingenden Welt ift; was Wurzel und Sinn alles Lebens if. Auf all diefe Tragen hat die heutige Wiffenfchaft und die aus ihr quellende Weltanfchauung nur eiſiges Schweigen und refignirtes Achſelzucken. Und doch vermag fie diefe aufftürmenden Fragen auch nicht zu befchwichtigen, oder gar aus der Welt zu Schaffen. Immer von Neuem, bald leifer, bald lauter, werfen fie fih auf und die moderne Wiffenfchaft muß fie eben fo als eine Erjcheinung bes Lebens Fonftatiren, als eine Realität anerfennen wie Efjen und Trinken, Lieben und Hallen, Leben und Tod. Machtlos und fremd, ja, einfach ver⸗ ſtändnißlos fteht fie ihnen als Stüden einer ganz anderen, aber nicht minder wirklichen Art menjchlichen Innenlebens gegenüber.

A36 Die Zukunft.

Und eben hier fett da8 ewige Recht und die umverbräudhliche Not wendigfeit der Religion ein. Nicht für Alle natürlih, wie es einſt cie harte Vergangenheit forderte, fondern eben für Die nur, die bei Strafe inne Fried- und Glüdlofigleit Antwort fordern auf jene fie quälenden und mic zu bannenden Fragen. Die Religion, und fie allein, giebt Antwort bdaranf, Und diefe Antwort ift immer die felbe, immer nur das eine Wörtchen: Gott. Gott ift Urgrund und Urfache alles Lebendigen, Ziel aller Entwidelung; i⸗ ihm „leben, meben und find wir”; undefinirbare und doch den Glänbigen gewiſſe Strömungen verbinden fie mit ihm. Keiner fennt ihn, Niemand weiß von ihm Etwas auszufagen; jedes Experiment, da8 ihn faffen will, verjagt; jedes Logifche Konftruiren zerfchellt ihm gegenüber. Und doch ik es den Gläubigen felfenficher, daß er ift. Aus dem ganzen Zufchnitt der Wet, aus Dem, was wir wiffen, und aus Dem, was wir nicht wiſſen, aus dem Entwidelungsgefeg wie aus den Widerfprüchen des menſchlichen nme lebens, aus dem Schmug wie aus der Schönheit um fie ber, aus ber Rot und Ungerechtigkeit, wie aus den Glüdsgefühlen und höchſten ſittlichen Leiftungen, aus allen Zweifeln, aus allem Zodesröcheln, allen Todesquales, aus Alledem und nicht zulegt auß dem Zwang det eigenen Seele, bi ihn fordern muß, quillt den Gläubigen diefe felſenfeſte Gewißheit. Es gieht, um biefen inneren und wahrlich fomplizirten und gewaltigen Borgang plarıtibel zu machen, vieleicht nur ein einziges, einigermaßen zutreffendes Gegenbild: in der Gewißheit, die ein Menfch vor der inneren, geiftigen Perfönlichleit eines von ihm geliebten Mitmenſchen hat. So, wie er ihn Sieht, fieht ihn Niemand; er kann nicht einmal ordentlich childern, wie erihn fieht; geſchweige benz fchlagende und erfchöpfende Beweife dafür vorbringen; denn gerade Das, was ihm Beweis ift, da8 Leuchten der Augen, der lang der Stimme, bie Bewegung des Armes, die Haltung, der Gang der Gedanken: das Alles iſt für Andere fein oder nur nebenfächlicher Beweis, für ihn aber unbedingte Nöthigung. So ift Gott dem religiös Bedürftigen eine unbedingte Nöthigung as allem Lebenden und Toten, allem Bergangenen und Gegenwärligen, ans allem Guten und Schledhten, allem Geiftigen und Sinnliden um ihnm Ber. Ind e3 genügt ihm durchaus, fiher zu fein, daß Gott ift und irgend melde Beziehungen zu ihm möglich find. Denn diefe Sicherheit ift fein Friede, giebt ihm fein LXebensgleichgewicht, läßt ihn freudig durchs Xeben gehen uud hindert ihn nicht im Geringften, ein nach allen Seiten der Gegenwart off 1, in ihren Konfequenzen handelnder Menſch zu fein. So führt die mo* « Wilfenfhaft und Weltbetrahtung über fih felbit hinaus: zur Heli, ı Indem fie fich in hoher Selbfterlenntnig auf das ihr Mögliche beihr 1 wedt fie in Ungezählten gerade ihrer Anhänger das Bedürfniß nah Reli an und giebt ihnen im Föniglicher Freiheit auch das Necht dazu.

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Der Glaube des Kaifers,. 437

Und nod ein Weiteres. Sie wedt nicht nur das Bedürfniß nach Religion, fie rechtfertigt nicht nur das Necht auf Religion: fie weift auch den Reli- giöfen auf ihrem eigenen Gebiete die hohe Warte an, von der aus fie die Möglich- feit eines lebendigen Gottes ſich und Anderen verftänblich machen können. So fehr Religion ein abjolut anderes menjchliches Lebensbereich ift als Wiſſen⸗ ſchaft und wiſſenſchaftliche Weltbetrachtung (in diefer Beziehung deden ich alfo auch moderne Anfichten mit denen des Kaiſers), jo ſehr hat doch jeder Neligidfe das Bedürfnig und die Pflicht, den inneren Zwang zu feinem Gottglauben vor aller Welt dadurch zu rechtfertigen, daß er ihn als wohl vereinbar mit dem Weltbilde erweift, dem feine Zeitgenofien aus ber Noth⸗ wendigkeit ihrer ganzen geiftigen Entwidelung jeweilig anhängen. So ift befanntlich das ganze überlieferte chriſtliche Glaubensbekenntniß nicht Anderes als eine Zufammenfchweigung des babylonifch:alerandrinifchen Weltbildes mit dem Gottglauben der Juden, Jeſu und feiner Sünger. Und fo ift auch eine Kombinirung des heutigen Weltbilde8 mis dem Glauben an Gott möglich, fo lüdenlo8 und fonfequent, daß der Gläubige darin nun wieder eine neue Nöthigung zum Gottglauben erkennt.

Belanntlich befteht der Kern unferer modernen Weltbetrachtung in dem fogenannten pfychophyiifcden Parallelismus. Nah ihm ift Alles, was ift, gewoben aus Stofflihen und Seelifhem, Dlaterie und Geil, Sinnlihem und Unſinnlichem. Nie ift Materie ohne Geift, Geiſt ohne Materie gefunden. Jedes ift durch das Andere bedingt, Beide find wie zwei Seiten der felben Sache und doch ift Jedes feinem Weſen nach durch eine unüberbrüdbare ' Kluft von dem Anderen getrennt. Das gilt, nur in immer verjchiedenem, immer fomplizieterem Verhältniß, von jedem Stein, jeder Pflanze, jedem hier, jedem Menjchen, fchlieglih vom gefammten Univerfum. Alſo, folgert der Släubige von heute, ift diefes Univerfum der Gott, an ben ich glaube. Er ift das Al der Mauterialiften und doch nicht nur Materie: denn in diefer Allmaterie lebt die unendliche, die Allpfyche. Er ift der Geiftgott ber alten Chriſten und dennoch nicht blos Geift an einem Drt, „da Niemand zulommen fann“, fondern fluthend, zudend, leuchtend, denkend, treibend in allem Sicht: baren und Xebendigen, das uns umgiebt. Er ift der Gott der Pantheiften, in jedem Menfchenherz und Menfchenhaar, in jedem Stein und jedem Stod, und dennoch fein zerfliegendes Etwas, fondern feiner felbjt bewußt wie fein winziges Werk, der Menſch, in der Einheit feiner Allmaterie und Allpfyche eine ind Ungeheure geredte, ins Abgründige vertiefte Allperfönlichkeit, gegen bie die menjchliche nur ein Miniaturfchattenbild if. So wädhft für den heutigen Menſchen gerade aus den Nöthigungen der modernen Wiflenfchaft und Weltbetradhtung ein Gottglaube heraus, verfchieden von allen früheren und doch alles Bleibende diefer früheren in fich bergend, beglüdend und übers

wältigend Alle, die voll neuer religiöfer Sehnfuht herumgehen. Wohin ib fafle, rühre ich nun wieder an Gott. In aller Natur, in jedem Kunfiwel. in Menfchheitgefchichte wie im Leben jedes Einzelnen, in mir felbft, im jedem Geſchehen ſpure ich ihn. Und doch greife ich in Allem wieder nur den Sarı feines Gewandes, ftreift mich nur ein leiſer Hauch feines Weſens. Er felkt wie er ift, in der Bereinigung der Allmaterie und Allpſyche, bleibt immerdar verborgen, aber aus all jenen Berührungen dennoch mir inmerbar gewiß

So ſchiebt fi in unferen Tagen ein neuer Gottglaube gegen ben alten, zu dem fi) auch der Kaifer noch befennt, heran. Wem ift e8 noch zweite baft, welchem von ihnen die Zukunft gehören wird?

Behlendorf. Paul Goehre

—322 Selbſtanzeigen.

Hamburg und der Alkohol. Lufas Gräfe, Hamburg 1903. Preis 2 Matt Der Antheil des Verfaſſers am Reinertrage der Schrift dient der Une: ſtützung einer verarmten Yamilie, die dem Buttemplerorden angehört.

Dede Barteitämpfe haben in den legten Monaten das innere Leben Deut lands vergiftet. Zagend mag Mancher fhon fragen, ob denn der Sinn für greie Biele, ber uns einft ben Reichsgedanken ſchuf, unſerem Volk verloren gegangen ſei. Wer alfo zweifelt, Der richte feinen Blid auf die Bewegung gegen ber Alkohol, Da fieht er, wie aus der Seele unſeres Volkes heraus eine mächtige Fluthwelle fich erhebt, die, ftetig wadhjend, von einer Mauer, die die Borurtheik von Jahrtauſenden gethürmt Haben, Stein um Stein binwegfpült. Da erblidt er eine Schaar von Kämpfern, die, anfangs klein und verfpottet, num zum mädtigen Heer anjchwillt und feſt entichloffen ift, den grimmiten Feind, ber bie Weltherrſchaft der germaniſchen Völker bedroht, künftig bis aufs Meſſer zu be tämpfen. Mit meiner Schrift „Hamburg und ber Alkohol“ bin ich in Die Reike diefer Kämpfer getreten. Ich hoffe, dab bie Schrift auch außerhalb meiner Water ftabt Leer finden wird. Erſtens fchon, weil Alles, was die feitgefügte, eigen artige Kultur der Hanjeftädte angeht, für ganz Deutihland von Bedeutung ik. Dann aber aud, weil viele meiner Ausführungen nit nur hbamburgifche Ber bältnijfe treffen. Herr Maximilian Harden hat die Freundlichkeit gehabt, wur zu gejtatten, dieſer Selbjtanzeige den zwölften Abfchnitt meiner Schrift ann fügen. Er trägt den Titel „Ulfoholfrage und Schule. Die akademiſchen Trint- fitten”. Hier fein Inhalt:

Als Kämpferin gegen ben Alkoholismus kommt auch bie Oberſchulbe. rbe in Betradt. Auf die Dauer wird die Schule es nirgends unterlaffen Eöı cn, die Aufklärung über die Gefahren des Alkohols in den Kreis der Lehrg. em ftände aufzunehmen. Es ilt daher dringend zu wünſchen, daß in Hambur: bie Oberſchulbehörde entſprechende Anordnungen für unjere Schulen recht Hal! ed

Selbſtanzeigen. a4309

laſſe. In ſämmtlichen Lehranſtalten wird zunächſt ein rein naturwiſſenſchaftlich gehaltener Unterricht über die Alkoholſchäden zu ertheilen ſein. Dann aber wird es ſich darum handeln, Willen und Weſen der heranwachſenden Jugend ſo zu beeinfluſſen, daß die gewonnene naturwiſſenſchaftliche Erkenntniß Frucht trage. Der Weg hierzu wird, wie mir ſcheint, in den höheren und in den niederen Schulen nicht ganz der gleiche ſein. In den niederen Schulen wird vor Allem immer und immer wieder betont werden müſſen, daß dem Emporkommen ber wirthſchaftlich Schwachen kein grimmerer Feind entgegenſteht als der Alkohol, daß alle Behauptungen, alkoholiſche Getränke, insbeſondere der Branntwein, ſeien für beſtimmte körperliche Arbeiten nöthig oder fördernd, Lügen find. Was aber die höheren Schulen angeht, fo wird ihnen eine Aufgabe von höchſter nationaler Bedeutung zufallen: der Kampf gegen die akademiſchen Trinffitten.

Wir wollen doch einmal der Wahrbeit die Ehre geben und ehrlih aus- ſprechen: Wir akademiſch gebildeten Männer tragen an bem Alkoholelend in Deutichland die jchwerfte Schuld. Der Ethiker Baulfen jagt ſehr mit Recht, daß fi Alles, was in den höheren reifen ber Geſellſchaft als entichieden gemein betrachtet wird, auch in den unteren Klaſſen auf die Dauer nicht halten kann. Somit könnten wenigftens die ſchwerſten Formen ber Alkoholverderbniß in Deutjch- land längft getilgt fein, wenn die höheren fozialen Schichten die Erkenntniß und den Muth befäßen, die Dinge beim rechten Namen zu nennen und in ihrer eigenen Mitte Zuftände, die ihrer nicht würdig find, auszurotten. Daß bie höheren Befellfchaftkreife im Allgemeinen bisher Hierzu nicht gelangt find, dafür trifft wiederum die Verantwortung eine befondere Gruppe unter ihnen: eben die ala⸗ demifch Bebildeten. Denn bie auf dem Trinkzwang beruhenden Trintjitten des Untverfitätlebens, denen die Männer diejes Standes während ihrer Stubenten- zeit fajt ausnahmelos gehuldigt und die fie vielfah in ihr fpäteres Leben mit hinübergenommen baben, erzeugen durch das berechtigte joziale Anſehen ihrer Träger eine verberblide Suggeition auf andere Kreife und verhindern Viele, das Wefen der Alkoholgefahr richtig zu würdigen. Ich weiß wohl, dab bei uns in Hamburg, wo für die Sitte des Lebens aller höheren Stände die vorge fchrittenen Anſchauungen be3 banjeatiihen Kaufmannsſtandes glüdlicher Weile von je her maßgebend waren und hoffentlich maßgebend bleiben werben, ber Ein- fluß der akademiſchen Trinkfitten noch lange nicht in feiner verderblichiten Form fühlbar und fihtbar wird. Im größten. Theil des Binnenlandes fteht es, der Natur der dortigen Verhältniffe entiprechend, viel ſchlimmer. Aber die That- fache bleibt doch immer, daß auch nicht ganz wenige Hamburger durch den Trink⸗ awang des Univerfitätlebend den rim zu bauerndem Siechthum erworben haben, zu einem Siechthum, das meilt in den vierziger SSahren ober zu Unfang der fünfziger offenbar wird, Häufig aber auch ſchon viel früher. Wer fih in den reifen feiner Bekannten umficht, wird, wenn er nicht abfihılic die Augen ſchließt, die Wahrheit dieſer Feſtſtellung leicht an Beilpielen nachprüfen können. Gar manden tüdtigen Dann baden auch in Hamburg die Nachwehen des ftubentifchen Kneipens in Verbindung mit den dadurch erzeugten bleibenden ver- Tehrten Gewohnheiten dem Leben und dem Wirken vor der Zeit entriffen.

Durch die akademiſchen Zrinkfitten Tchädigen bie höheren Stände das Geſammtleben der Nation in einer Weife, wie es fein anderes germanijches

440 Die Zukunft.

Bolt heute auch nur annähernd noch zu erleiden hat. Es ift beinahe wunberher daß biefe Sitten immer noch bejtehen; denn fein ernfthafter Mann mwirb bes noch den Verſuch maden, fie ernſthaft zu vertheibigen. |

Daß fi folde Zuftände thatfächlih noch immer forterhalten, ift nur me zwei Gründen zu erklären: erftens mit dem Geſetz der Trägdeit, das ſich Sir darin äußert, daß jeder „Fuchs“ immer wieder „Burſchen“ findet, die ihn nm dieje Müyfterien einführen. Dann damit, daß ein junger Menſch zwiſchen ad: zehn und zwanzig Jahren jehr jelten Kraft, Selbftänbigleit und Selbftgefääl genug findet, um, entgegen einem moralifhen Zwang allerichärffter Art, jeimr befieren Erkenntniß folgend, einfach zu erklären: Das will ich nicht; ein freiz Mann läßt fih nicht zwingen, mehr zu trinken, als ihn jelbft gut dünkt fommt aber no Hinzu, daß in den meilten Fällen für den Fuchs ſchon zar feinem Entritt in das Leben der Hochſchule das wahre Weſen der alabemiide Trinkſitten durch einen Schleier falſcher Poefie verbedt worben ift. Den Schleir: haben Unkenntniß, NRübrfäligkeit und Furcht, die Wahrheit zu jagen, um eim Wirklichkeit gewoben, die ſchon in einigen ihrer rein äußeren Formen anfer gewöhnlich Häßlich ift; wenigſtens weift bie Geſchichte aller Kulturvölker meh nur eine mit glei) abitoßenden Begleitumftänden auf: die befannten Gei- mähler der römifchen Kaiferzeit. (Ein Eingehen auf das tertium comparatior= darf ich meinen Leſern erfparen.)

Es ift allerdings nicht ausgejchloffen, daß einmal eine Wendung z= Befjeren aus ber Mitte der Studenten felbjt hervorgehen wird. Nur werte jedem Werk zum Wohl der Geſammtheit des akademiſchen Lebens in keinem anderen Lande fo erhebliche Hemmnifje erwadjen wie in Deutſchland, beiten Studentenichaft in jo viele Gruppen zerfällt, bie fih unter einander befehden Immerhin befteht in diejer weithin zerflüfteten Bielheit eine Gruppe, der wei die Kraft innewohnte, dieje Arbeit zu thun: die im „Köjener 8. C.“ vereinigen „Corps“. Ich will die Bedeutung feines anderen ftubdentifchen Bundes verkleinen. So joll es den deutihen Burfchenfchaften ewig unvergeſſen bleiben, dab fr Ihon damals für Deutſchlands Einheit eintraten, als es no Gefahr brachte. So wird den hohen Idealismus der Vereine Deutfcher Studenten auch De nicht verfennen, der ihre politiſche Richtung nicht theilt oder ber die afademiidkr Jugend der Politif des Tages überhaupt lieber fern fähe. Aber Das wird jeder Kenner unferer Univerfitäten gern oder ungern zugeben müflen: das Anjehen der Korps des Köſener S. C. iſt Beute jo bedeutend, daß in einer Lebensfrage, me fie entſchloſſen vorangehen, die übrige Studentenjchaft [chledhterdings folgen mr. Dieje hervorragende Stellung der Corps weilt ihnen in der Reform der akade milden Trinkfitten eine hohe Aufgabe, damit aber auch eine ſchwere Beran wortung zu. Zwar wird fein ehrlich Denkender behaupten fünnen, die Trink fitten |pielten im Corps eine größere Rolle als in der übrigen Studenten Jedenfalls aber jtehen die Corps durchaus auf dem Boden des Trinlzwe & Hieraus ergeben fih Tragen fehr erniter Art. Die deutſchen Gorpsftube 1, vor Allen die vielen alten Herren des Köfener S. C., die fi zum großen 2 il eines hohen Anjehens und eines weiten Einfluffes erfreuen, werben niht m r lajjen wollen, diefe Fragen zu beantwarten. Es fteht feſt, daß die deut m alademifhen Trinfjitten eine Duelle des Verderbens für die Stubente- ' x

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und durch die Macht des Beiſpiels auch für alle anderen Klaſſen ſind. Die Corps nehmen eine ſolche Vorzugsſtellung ein, daß es in der Studentenſchaft ihnen allein möglich iſt, durch ihre Macht und ihr Anſehen jene Gebräuche auszutilgen. Das Volk darf von ihnen, einer Gemeinſchaft ſozial ſo ſtark begünſtigter Art, ſolche außergewöhnlichen Leiſtungen erwarten. Wenn ſie das Fortbeſtehen der Trinkſitten trotzdem dulden: iſt Das nicht eine Unterlaſſung, die vor der Geſchichte ſchwer zu vertreten ſein wird? Entſchließen ſie ſich aber zur rettenden That, fo ſchaffen fie ſich einen dauernden Ehrenplatz in der deutſchen Kultur und be- thätigen die Geſinnung, zu der ſich der Deutjche Kaifer befannt bat. So lange aber dieſes Gefundungwerk von innen heraus noch nicht vollbradjt ift, ift es Bflicht Derer, die wollen, daß unfere am Höchſten gebildeten Stände nicht ein Hemmſchuh, fondern ein Sporn der Aufmwärtsentwidelung unferes Volkes feien, nad Mitteln zu juden, die akademiſchen Trinkjitten von außen ber zu befämpfen. Das befte Mittel ift die geeignete Belehrung in der Schule. Freilich wird bie Aufgabe ſchwierig fein, da mit der natürlichen Oppofition des her⸗ anwadjenden jungen Mannes gerechnet werden muß; Pedanterie und falſche Methoden könnten bier leicht Alles verderben. Ich würde in Anwendung einer nicht immer befolgten &rundregel der Pädagogik nit mit einem „Du ſollſt“ oder „Du follft nicht” arbeiten, ſondern verfuchen, Erfenniniß und Willen des Schülers fo zu lenken, dab er das Rechte erkennt und beſchließt, dazu zu ftehen. Ich würde alle Dinge beim rechten Namen nennen und mich nicht ſcheuen, mir manden unter meinen Schülern, Kollegen, VBorgejegten und Mitbürgern durch Zerträmmerung feiner Gößenbdilder zum Feinde zu machen. Ich würde zu bedenken geben, ob ein jehr erhebendes Gefühl ift, den meſſerſcharfen An⸗ griffen eines Blattes von ber Art des „Simpliciffinus” ausgejegt zu jein, mit dem Bewußtjein, daß der verhaßte Gegner im. Bunkte der Trinkfitten im Grunde Recht Hat, ja, daß feine Karikaturen des alfoholifirten Typus unter den beut- chen Studenten nicht fehr viel mehr geben als ein Bild der traurigen Wirf- lichleit. Auch darüber würde ich zum Nachdenken anregen, ob es nicht vecht bezeichnend ift, daß ein fo ausgeſprochen alkoholfreundliches Blatt wie der „Stlab- deradatſch“ den deutfchen Studenten eigentlich niemals anders zeichnet als in der Figur des stud. cerev. A. Biermörder. ch würde meine Schüler bitten, fih einmal darüber zu belehren, in welchem Lichte dem Auslande unfere akade⸗ miſche Trinkſitte erfcheint. Nicht etwa den Ruſſen, Spantern, Italienern und Franzoſen deren Meinung Zönnte uns fchließlich gleichgiltig ſein —, fondern den Germanen des Nordens und bed Weftens, den Standinaven, Engländern und Norbamerifanern. Mit Recht geitehen wir diefen Brüdern feinen Vorrang an Geiſt, Sitte oder Macht zu. Unſere akademiſchen Trinkjitten aber, ein nicht umpichtiger Zug im Leben der Träger unferer Bildung, weden in ihnen Empfind- ungen, die nur zum allergeringften Theil fröhlihe Neugier, zum größten aber hochmüthiges Bedauern find. Iſt Das des Deutſchen Volles ganz würbig? Noch in anderer Richtung würde ih an die Baterlandiiebe meiner Schüler appelliren. Ich würde ihren zu bebenfen geben, daß fie als Männer der höchſten Stände berufen find, auch in der Erfüllung der Wehrpflicht einen anderen als den gewöhnlichen PBlag einzunehmen, daß aber die ſchweren gefundheitlichen Folgen der akademiſchen Trinkfitten (insbefondere Bierberz, Fettſucht und Magen⸗

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442 Die "Zukunft.

erweiterung) nicht ganz felten jo unmittelbar auftreten, dab bie Wehrfähigkelt bedenklich geſchwächt, wo nicht gar vernichtet wird. Ich würde endlid in der Jugend bie ausgeprägtefte Hochachtung vor der eigenen geiftigen und leiblichen Perfönlichfeit großzuziehen ſuchen. Sch würde ihr ihre Pflichten gegen ſich jelbft und gegen die Zukunft des Menjchengefchlechtes mit ehernem Griffel in das Ge⸗ willen graben. So könnten wir den Schüler ſchon vor feinem Abgange zur Univerfität mit ciner Feſtigkeit und mit einem Stolz erfüllen, der ihm eine Unterwerfung unter die akademiſche Trinffitte zu einer moralifchen Unmödglid- fett machen würde. Der junge Hanjeat würde, banf feinem bereditigten Selbit: gefühl, verhältnipmäßig leicht auf diefe Höhe zu bringen fein. Bon fehr maß— gebender Seite habe ich zu meiner Freude gehört, daß ein großer Theil unferer hamburgiſchen Lehrerfchaft in niederen und in höheren Schulen bereit ijt, an diejem Werk des nationalen Fortſchrittes mitzumirken, daß alfo Kräfte für einen jolden Unterricht, der fih an die zum Theil ſchon eingeführte Gejundheitlehre anzufchlicgen hätte, mehr als ausreichend vorhanden find. Möge nun bie Ober- ſchulbehörde nicht zögern, diefen Kräften freies Feld zu ihrer Bethätigung zu geben! Hamburg. Zandrichter Dr. Hermann M. Popert. s Geſchlechtskrankheiten und NRedhtsfhug- Betrachtungen vom ärztlichen, juriftifchen und eihijchen Standpunft. Bon Profelfor Dr. med. Dar Fleſch, Frauenarzt, und Dr. jur. Ludwig Wertheimer, Rechtsanwalt in Frankfurt a./M. Jena, Guftav Fischer.

Die Deutfche Gefelfchaft zur Bekämpfung der Geſchlechtskrankheiten Hat al8 erften Gegenftand der Verhandlung bie ftrafrechtliche und civilrechtliche Be- deutung der Gejchledhtsfrankheiten auf ihre Tagesordnung gefegt. In ber bor« liegenden, ſchon vor der Aufitelung der Tagesordnung begonnenen Abhandlung haben ein Arzt und ein Zurift fih zur Behandlung des Rechtsſchutzes gegenüber der venerifchen Infektion vereint, angeregt ber Eine durch den Einblid in bie ſchwerſte Zerrättung des Familienlebens nad) eingetretener Anſteckung ber Frau duch ihren vor der Ehe infizirten Dann, der Undere durch die Beichäftigung mit den Folgen diefer Zerrüttung in daraus entftandenen Sceidungprozeilen. Der ärztlichen und jurijtifchen Erörterung folgt eine Darlegung der Konſequenzen, zu denen die einfeitige hygieniſche und juridiiche Behandlung des Problemes führen mußte. Aus diefer Darlegung wird die Nothwendigkeit abgeleitet, vor Allem im Sinn weitefter Aufllärung eine Umwandlung ber heutigen Sitten anzujtreben, und zwar fo, daß dem heutigen Zuftand ein Ende gemadt wird, der darauf beruht, daß die gefeglich verlangte Beichränfung der geichlechtlichen Beziehungen auf die Che nur von einer fleinen Minderheit eingehalten ı "* Nur eine Aenderung der fittlihen Auffafjung fann die erftrebte Einjchränt der veneriſchen Krankheiten herbeiführen; wenn fie eine ſolche Aenderung Zitte vorbereitet, kann die jurijtiiche Umgejtaltung der in Strafredt und Civilr in Betracht kommenden Gejeßbeitimmungen eine ernjte ethifche Forderung erfü'

Frankfurt a./M. Profeſſor Dr. Max Fleſe

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Bankbilanzen. 443

Bankbilanzen.

Dh Pflicht, die Bilanzen unferer großen Effeftenbanfen zu kritifiren, gehört zu den unaıngenehmiten, die ber Beruf dem Beobachter der Volkswirth⸗ aft aufbürdet. Wer felbft jemals im Bankbureau des Bilanzirens ſchwere inſt geübt und gelernt bat, wie viele Wege um das Gefeb herum führen, Der iB auch, „daß wir nichts wiſſen können”, nichts von Dem nämlich, was relih in den Büchern der Banken fteht. Ich werde den Gedanken nicht los: a Tage nach der Veröffentlichung der Bilanz läßt ber Herr Direktor ſich mit niichern Lächeln vom Ardivar die Beiprechungen der Prefje vorlegen und ver erft mit innerer Genugthuung, daß es immer noch Leute giebt, die ſich be= üben, Etwas aus Zahlen herauszulefen, die doch gerade fo zulammengeitellt ıd, damit man nichts aus ihnen herauslefen könne. Ich habe im vorigen Jahr er Maßregeln vorgefchlagen, deren geleßliche Durchführung das Dunkel ber ilanzen erhellen könnte; aber noch immer hat fein Geheimrath die Pflicht fannt, Deutſchlands Aktionären eine Aenderung des Altiengefeges zu beicheren. ie Hoffnung auf ſolche Befcherung wird eigentlich immer geringer. Wenn e nüchſte Reichſtagswahl den Wünjchen des Großfapitald und der Börſe Er« Mung bringt und einigen Spezialvertretern von Börfe und Induſtrie den Weg 8 Parlament ebnet des großen Mommſen Heiner Sohn ift ja noch vor horesſchluß ſchnell auf Rickerts verwaiſten weitpreußiichen Sig befördert imor- ꝛn —, dann werben Diele Herren ficherli Alles aufbieten, um eine zeitgemäße ‚enderung des Aktiengeſetzes zu verhüten.

Bevor aber das deutfche Aktiengefeg nicht Flarere Beitimmungen über ie bilanzmäßige Vermögens und Gewinnfeititellung erhält, fteht der Leſer er Banfbilanzen immer wieder vor Räthſeln. Ich will Bier Heute nicht den Berth der einzelnen Bilanzziffern abſchätzen. Das iſt in ben Tageszeitungen bon gefchehen, deren Schreiber fich der Pflicht nicht entziehen dürfen, vergleichende zilanzkunde zu treiben. Statt ihnen nachzuhinken, will ich lieber prüfen, ob te Bilanzziffern uns lehren, daß die Wirkungen ber großen Krifis allmählich yieder verfchwinden. Von folder Prüfung iff eine Bank von vorn herein aus⸗ ufcheiden: die Berliner Handelsgefellichaft. Sie ift die einzige unter all ihren erliner Genofjinnen, die fi offen als Spekulationbank befennt; fie wird aud) anz nach den Grundjäßen eines ſpekulativen Synjtitutes verwaltet. Ihr Schwer- erwicht Liegt in den Aktiv-Geſchäften, in Gründungen und Emifjionen. Das Sffeften- und das Konjortialfunto nehmen in ihrer Bilanz den breiteften Raum in. Diefen beiden Hauptkonten find die Übrigen untertban. Das Kontoforrent- Beichäft weilt unter Debitoren wie Sreditoren ald Kontrahenten Aftiengefell: haften auf, die von der Berliner Handelsgefellfchaft gegründet wurden oder ‚och patronifirt werden. Was als Privatkundfchaft der Handelsgeſellſchaft an- yängt, jtrebt auch meilt nur nach Gewinn dringender Unterbetheiligung an ben etten Konfortien. Eine nothwendige Folge diefer Geſchäftsverfaſſung ift auch, die Handelsgejellfchaft ſich hütet, fi eine Depofitenlaft aufzupaden. Mehr ı[3 einmal mag der Berfucher an die Direktion berangetreten ſein und ihr ge- :athen haben, wie die Nachbarbanken Depolitenkafien und Filialen aufzuthun and dag billige Geld des Privatpublikums aufzujaugen. Solden Vodungen

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444 Die Zukunft.

hat bie Verwaltung bisher auch die legte Bilanz zeigt ed widerftander:

mit Recht: benn einer Bank, beren Aktiva zum größten Theil Spefulationwerk find, droht Gefahr, wenn ihr plöglich und gerade in Eritifcher Zeit tãglia fündbare Gelder in Maflen weggeholt werden. Ein Blid auf dieſe ganze Se ſchäftspraxis lehrt, daß bie Bilanz der Berliner Hanbelsgefellichaft als Grar mefler für das wirthſchaftliche Wohlergehen nicht zu benutzen ift. In ie Ziffern fpiegelt fih allenfalls die Stimmung der Börje wider, fie lafien Be» lebung ober Stodung der Gründerthätigleit erkennen; bis in die Nieberumgrr des Mirthfchaftlebens aber, bis zu ben unzähligen Einzeleriftenzen, die, ee: noch der Altiengefellichaft verfallen zu fein, dort unten Haufen: fo tief Kine reiht die Fühlung der Hanbelsgefellichaft nicht.

Die anderen berliner Banken bieten dem fritifchen Auge ein anderes Bil. Seit in ben legten Jahren auch die Disfontogefelichaft ihren Vorbildern gefele ift, gift überall das felbe Syftem. Depofitenfaflen und Filialen ſchaffen Million: auf Millionen heran, bie den Einlegern billig verzinft werden und durch Anlex in ben verfchiebenften Gejhäften den Aftionären hoher Zwilchenverdienft eb werfen. All diefe Banken find eng mit dem Gejchäftsleben ber Nation verfnäyit Alle irgendwie nennenswerthen kaufmänniſchen Gefchäfte werben an ihren Kater fchaltern regulirt und ihre Bilanzziffern müflen deshalb über den Stand unkes Wirthſchaftlebens lehrreiche Auskunft geben.

Nimmt man die Ausdehnung der Kontoforrent-Konten al3 Norm, in fommt man zu dem Schluß, daß 1902, das Jahr der Beruhigung, burdes noch nicht nee Symptome regeren Gejchäftslebens gezeigt hat. Typiſch it Fi: faft alle Bankbilanzen die ftarke Vermehrung der Srebitoren. Diefes Anwach re: der fremden Guthaben beweift deutlich, daß vorfidtige Geſchäftsleute ihr Bel in Bereitichaft Hielten, daß aber der Linternehmungsgeift noch fehlte, der der Rapitaliften drängt, beträchtliche Summen in Handel und Induſtrie fejtzulege Natürlich fonnte unter ſolchen Umftänden von einer Bergrößerung der Barl debitoren nicht die Rede fein; denn wer ſchon das eigene Geld nicht in Befchätt fteden will, wird fi) natürlid) erft recht hüten, etwa gar frembes Gelb für ſolche Zwede zu borgen. Doc auch komplizirtere Erfcheinungen bed Wirtbichaftlcher: find hinter den Bankfbilanzen zu ahnen. Ueberall find die Gewinne auf Wechſel und Zinſen ſchmaler geworden. Das ift eine natürliche Folge bes niedriger Bankzinsfußes, der während des ganzen abgelaufenen Jahres nicht wid. Wir merfen aber auch, daß zwischen dem deutichen und bem aufden Geldmärften von Rex Hork und London geltenden Zinsfuß eine zum Xheil nicht unweſentliche Sifferen beftand. Namentlich in den Bilanzen der Deutichen und ber Dresdener Bank fäkı die ſtarke Vermehrung der Beltände reportirter Effeften auf. Woher ftammt diefe Vermehrung? Aus dem Nußen, den Londons höherer Zinsfuß diefen Barken einbrachte. In beiden Yällen haben übrigens gewiſſe Sonderinterefien m gr wirft. Die Dresdener Bank hat e8 ficher für nöthig gehalten, durch Geli ar- leihungen den londoner Markt zu jtügen, um die Emiſſionen der Albagrı we zu erleichtern. Und die Deutiche Bank hatte der Stadt Wien aus dem E i& der leßten Anleihe ein Guthaben zu hohen Sägen zu verzinſen. Die Un ge dieſes Geldes in deutſchen Werthen hätte ihr Verlnſt gebradht; die Höheren & Ib: jäße des engliichen Marktes boten ihr bie willkommene Gelegenheit, ſich fr ıb

Bankbilanzen. . 445

los zu halten. Ein anderes Bild. Mitten in ber ſchlechten Zeit allgemeiner Depreifion bat die Börfe ſchon wieder ein kleines Tänzchen gewagt; beutlich fehen wir die Spur in dem überall höheren Effeftengewinn. Bejonders auf: fallend ijt er bet ber Dresdener Bank. Im vorigen Jahr ein Verluft von 348000 Marl, diesmal ein Gewinn von 4°/, Millionen. Freilich erzählt man, 5 Millionen feien allein an ber General Mining and Finance Corporation vere dient worden. Dann ift anzunehmen, daß biefer Gewinn durch alle Poren der Bilanz gefidert und auf alle Konten vertheilt worden ift. Die Veränderung ber Borſenkonjunktur zeigt am Klarſten natürlich bie Bilanz der Berliner Handels» gefellichaft, bie von ber Beilerung der Kurſe erheblich profitirt Hat.

Haben die Banken felbft nun die Kriſenwirkung ſchon überwunden? Bor ber Beantwortung diefer Frage tft eine ftrenge Scheidung der großen von ben Heinen Injtituten nöthig. Die kleinen Banken haben natürlich mehr gelitten und erholen fi nun auch jchwerer. Namentlich die Bilanz der Berliner Bank zeigt no immer die Spuren der vorjährigen Verwüſtung. Und felbjt, wo ſolche Spuren fehlen, hat man, wie bei der Mitteldeutfchen Kreditbank, den Eindrud fethargifcher Enthaltſamkeit, die natürlich au eine Folge ber Kriſenzeit fit. Meberrafchend fchnell hat die Dresdener Bank fih von den harten Schlägen des &ewitterjahres erholt. Die Vermehrung der Depofitengelder zeugt für das wieder⸗ fchrende Vertrauen des Publikums. Aehnlich fiehts in der Nationalbank für Deutihland aus. Doch erſt vom fieren Bort ars läßt ſich genau bie Gefahr überfehen, in der man geichwebt hat: gerade die relativ günftigen Abſchlüſſe zeigen jegt, wie nöthig im vorigen Jahr die jchärfite Kritit war. Auch dafür ift die Bilanz der Dresdener Bank harakteriftiih. Faſt 3 Millionen müflen auf das Konfortialfonto in dieſem Jahr wieder abgefchrieben werden, nachdem ſchon in der vorigen Bilanz .einige Milliöndhen |pringen mußten. Diele That- jache lehrt, daß man im vorigen Jahr bei richtigen Abjchreibungen, ftatt der ichließlich vertheilten 4 Prozent, feinen Pfennig Dividende geben durfte.

Ans Fabelhafte grenzt auch diesmal wieder die Entwidelung der Deut- jhen Bank. Sie war bekanntlich da3 einzige Inſtitut, das unter der Krifis nicht litt, fondern jogar verftand, aus der Noth eine Tugend zu machen. Seit die Srifenzeit mit ihren gewinn- und chancenreichen Sanirungen vorüber ift, war gerade für die Deutihe Bank eher ein Rüdichlag in den Einnahmen und Umjäßen zu erwarten. Nichts davon ift zu merken; Rieſenziffern und eine un⸗ antajtbare Liquidität: wieder jchlägt dieſe Bank jeden Neford im Nennen um die Gunft deuticher Sapitalijten.

Sntereflant ijt die Entwickelung der Bank für Handel und Induftrie, die man Darmftädter Bank nennt. Der Mißerfolg ihrer Bortugiefen Emijfion hat fie jeit dem Ende der achtziger Jahre zur Zurückhaltung beſtimmt; und aus der Burüdhaltung wurde ſchließlich völlige Unthätigkeit. Erſt als das üppige Feſt bei- nahe ſchon zu Ende war, wollte auch diefe Bank noch den Tanz um das Goldene Kalb mitmachen: fie ging Herrn Hanau ins Garn. Kurz vor dem Srach fiel fie mit Dannenbaum herein. Die Gefahr neuer Entmuthigung lag nah. Da trat Herr Dernburg als Retter an die Spitze. Er madte, nach berüdinten Muftern, bie er in der Deutihen Bank kennen gelernt hatte, aus ber Noth eine Tugend. Er ſchuf aus Dannendaum-Differdingen die Deutjch-Quremburgifche Bergwerks⸗

416 Die Zukunft,

gefellfchaft, fanirte die Deutſche Grundſchuldbank und bie Pommerſche Hypothefen- banf und machte mit cinem Schlage aus der Darmftädter Bank ein Inſtitut, das fogar den Muth fand, zwei anderen Banlen, der Breslauer Diskontobant und der Bank für Sübdeutichland, Unterfehlupf zu gewähren. Die Spuren diefes Wirkens find in der Bilanz fichtbar. Faſt 5 Millionen Marf aus der Fuſion mit ber Bank für Süödeutichland werden zu Abichreibungen und Rüditellungen benußt. Der Gewinn aus der Yufion mit der Breslauer Dis kontobank tft überhaupt noch nicht verrechnet und die Ergebniffe der übrigen Geſchäfte haben den Jahresgewinn recht Hüdjch abgerundet. Dazu kommt, ba die Neue Bobdengefellihaft in ihrem reihen Grundbeſitz für einen geichidten Moneymaker noch auf Jahre Hinaus reichliches Material für neue Gejchäfte birgt. Herr Dernburg ift eben nicht ohne Nugen in die Schule der Amerikaner gegangen. Fraglich ift nur, wie lange das Glück ihm hold bleibt, und noch fraglicher, ob bei einem Glückswechſel aud dem Tüchtigſten ift ja das Gluck felten dauernd treu bie fehr vorfigtigen und ängftliden barmftäbter Herren ruhiges Blut behalten werben.

Enttäufht Hat der Abſchluß der Diskontogeſellſchaft. Dan batte, weil Rothſchilds Erbfchaft angetreten und an ber General Mining Corporation notoriſch viel Geld verdient worden war, auf jtattlichere Ziffern gerechnet. Doc biele Geſchäftsweiterungen finden, von einzelnen Bilanzänderungen abgejehen, vor: läufig nur in dem Anwachſen der Unfoften fihtbaren Ausdrud. Die Bilanz der Disfontogefellichaft erinnert Übrigens an das hHeifle Thema der Tantiemen. Die Gefchäftsinhaber des Inſtitutes find falt fämmtlic auch Worftands- oder Auflihtrathsmitglieder der Norbdeutichen Bank, die pro forma felbjtändig weiter lebt, befanntli aber der Diskontogefellichaft gehört. Wie es fcheint, beziehen bie Herren aus beiden Banken Tantiemen. Das würde ich für bedenklich halten.

Ueberhaupt ift ein Mangel aller Bankbilanzen auch diesmal wieber die Un- Elarheit, die das Tantiemeverhältnig umnebelt. Wir find neugierige Leute und möchten, zum Beijpiel, aud) willen, wie viel an Gratifilationen den Beamten gegönnt war. Selbſt ba, wo für jolche Sratififationen beftimmte Summen an geworfen find, darf man fih nämlich nicht immer darauf verlaffen. Ein Beifpiel für wahrjcheinlich viele: Im legten Gefchäftsbericht*) der Nationalbank für Deutic- land jteht ein Bolten von 100000 Mark unter dem Rubrum ‚Beamten-Grati- fikationen“. Wenn ich richtig informirt bin, erhielten davon 30000 Mark die drei Herren Direktoren, 26000 Mark die elf Profuriften; auf bie ungefähr 450 Beamten der Banf aber entfielen rund 34000 Mark. Ganz unbegreiflid aber it, daß ein Neftbetrag von genau 6262 Mark und 62 Pfennigen vom Zantieme- auf dag SKonjortialfonto verbucht wurde. Wozu? Vielleicht kümmert ſich der neue Direktor Witting um dieſe Zuſtände und fucht rechtzeitig zu hindern, ° auch mit jeinem Namen ein ähnliches Syſtem der Verbunfelung gededt

Blut:

*) Warum, fragt hier der Herausgeber, werden die Gefchäftäherichır Banken als Inſerate in den Jeitungen veröffentliht? Warum nit Aktiond Kunden und Journaliſten ins Haus geſchickt? Die Inſertien Eoftet viel Geld. die Hoffnung, duch den fetten Annoncenauftrag die Stimmung ber Bilanzfri‘ färben zu fönnen, findet in den Dirnen der Bankbeherrſcher Doch wohl feiner ©-

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Brieffaften. 447

Briefkaſten.

ilder im Wallotbräu: Sie warten auf redlich verdientes Lob? Und ich

ſoll undankbar ſein, weil ich nicht anerkannt habe, daß meine Beleuchtung der telegraphirten Politik den Reichstag veranlaßt hat, im Etat des Auswärtigen Amtes fünfzehntaufend Mark von den Depejchenfoften zu ftreihen? Erſtens, ge- ebrter Herr, war biejer refolute Strich nicht das Werk eines Wilden, fondern mächtiger Barteiführer, die fogar die „Zukunft“ eitirten. Zweitens fchien mir gerade deshalb nicht nöthig, den kleinen Erfolg hier gleich mit lautem Wirbel auszutrommeln Und drittens war ich mit den M.d. R. nicht ganz jo zufrieden, wie Ihr Stolz wähnt. Die Vertreter des Volkes durften fich nicht jo ſchnell beſchwichtigen lafjen. Herr von Richt- hofen, den feine malcontenten Beamten den Biscount nennen, erzählt der Budget- tommiffion: Unfere Herren in Beling waren, al8 die Truppen fie aus der Gefangen: ichaft befreit hatten, natürlich ein Bischen aufgeregt und haben in biefer nationalen Hodftimmung mit den Worten nicht gefnaufert. Das genügt. Man ftreicht, um Sparelfer zu zeigen, fünfzehntaufend Mark, fordert aber nicht Auskunft Über die Telegramme, die aus der Wilhelmftraße gen China flogen. Bielleicht verdarben die mit bbſem Beifptel erft gute Sitten. Unfere im Ausland thätigen Diplomaten wundern ſich oft genug über die weitichweifigen berliner Depefchen, die ihnen irgend eine Unbeträchtlichkeit aus dem deuiſchen Weltreich beforativer Politif melden. Ein Brief thut es in folchen Fällen auch. Die Phrafeologie ift nicht fo vereinzelt, wieder Staatsſekretär Leichtgläubigenvorplaudert; wenn die Telegramme vorgelegt worden wären, die den befreiten Qegationfetretären Strahlen der Gnadenfonne zubligten, dann hätte Ihre verehrliche Kommijfion mindeſtens Hunderttaujend Mark geftrichen. Und der Dienft hätte darunter nicht gelitten. Immerhin: ein löblicher Anfang. Wenn Sie das Ohr preußifcher Kollegen haben, rathen Sie ihnen mal, fi) um bie DOrdensrechnungen zu kümmern. Am Ende fallen ihnen die Brillantenfoften auf. Einem Serdjus wie Krupp, einem reihen Mann wie dem Geheimrath Fiſcher hätte man früher faum Orden mit Brillanten verliehen. Auch Ausländern fehr jelten, wenn auf Reziprogität, wie bei Engländern, von vorn herein nicht zu rechten war.

Tante Bo: Daß Profeſſor Ludwig Pietſch, den wir mit Stolz den Un⸗ jeren nennen, auf feine alten Tage plößlich auch noch für ein Konzert Reklame macht, fallt Ihnen auf. Mit Recht. Bisher hatte er nur, aus Dienfchenfreundlichkeit, alle Teftlieferanten, Tapezirer, Blumen, Teppich und Möbelhändler e tutti quanti mit Namen und Adrejje aufgezählt und, ohne fich offen zu der Verwandtichaft zu befennen, feinen Schwiegerjohn, Herrn von Voigtländer, höher als den Generalſtab der Sezeljion geſchätzt. Nun aber neunzehn Zeilen, 2. P. drunter, für cin Konzert? Wirthſchaft, Horatio. Außer den Schwiegerfühnen giebt nämlich auch Schwieger- töchter. „Zwei nordamerifanijche Sänger, deren mädtige Stimmen in der berühm- ten Sejangidule der Frau Anna Lankow zu New York ihre Ausbildung erhalten haben, veranftalten diejen Liederabend. Die biefige nordamerifanifche Kolonie inter» eſſirt Jich lebhaft für das Konzert." Neungehn Zeilen als Reklame für ein Anfänger- konzert; und die Dauptjache dennoch vergeljen. Die Leiterin ber „berühmten Befang- ſchule“, hieß als Mädchen zwar Anna Lankow, als Frau aber: Pietſch. Und ihren Schülern hilft Schwiegerpapa mit Reklamenotizchen über das große Waffer.

An der Elbe: Stimmt beinahe. Wörtlich: „Mehr Auguft als Friedrich.“

448 Die Zukunft.

‚Weil der arıne Herr gefagt hatte, er freue fich, gerade zur Hundenusftellung gekom⸗ men zu fein. Natürlich durchgefidert. Natürlich verfchnupft. Wie immer.

Guano: Ungeſchickt waren die Offiziöfen faft inımer. Die neufte Lerftung der Norbdeutfchen ift freilich befonbers gelungen. Daß der Brief an Hollmann vom Kaiſer jelbit gefchrieben ift, konnte fein Stilfenner bezmeifeln. Hter aber wird had» und höchitoffigtös verkündet: „Die geiftige Bedeutung des Kaiſers ber;cht nicht auf

- dygantinifcher Erfindung“; und das Geſinde bezeugt feierlich Die Vaterſchaft des Herrn Als ob Kronzeugen dafür nöthig wären, daß ber Kaifer den Brief jelbft erdadt und geichrieben hat! Wahrſcheinlich Haben Pindters felige Erben einen Rüffel befommen. Wenn fie Herr Lauſer, der Schwabe, noch anführte, Lönnte mar glauben, eine Jugend⸗ erinnerung fei ihm zu unrechter Stunde febeubig geworden. In einem ſchwäbiſchen Dorf waren Schulze und Schulmeifter verfeindet. Als nun der Schulzenfohn ftarb, mochte der Vater ſich nicht an den Tehrer wenden, der für die ganze Gemeinde bie Grabkreuze bedichtete. Dem thu’ ich die Ehr’ nit an, ſprach der trauernbe Dorf tyrann, feste fi auf die Holen, und auf dem Kreuz lieſt man heute nod: Hier liegt mein lieber Sohn, Gott geb’ ihm ewigen Lohn, Jakob beißt er, In einer Nacht Selbft gemadt Ohne den Schulmeifter !

Sped-Seite: Jetzt wiſſen wir wenigftens, wie bie Sache ſteht. Die Amerı- kaner ſehnen fich alſo innig nach dem Fritzendenkmal, das ihnen Wilhem ber Zweite ge ſchenkt Hat, und nur auf des Kaiſers Wunſch, dem Specks beredter Mund Worte lieh, wirdder Transport bis ins Jahr 1904 aufgeichoben. So lafen wirs ; amtliche Meldung. Der Kaiſer hat allen Grund, über fchlechte Bedienung zu klagen. Erjchenft 1902; und 1903 fagt man ihm offiziell nad), er habe ben Repräfentanten des beichenkten Bolfes ge beten, das Geſchenk erft 1904 abliefern zu dürfen. Diefe Mär die Jeder nur in Brivatverfehrsfitten zu überfegen braucht, um die Unmöglichkeit zu erkennen jol erfreulicher Elingen als die nüchterne Wahrheit: nach dem Benezualaftreit, ber bie Yankeeſtimmung für Deutfchland gründlich verdorben hat, wagt Herr Rooſevelt nicht. den Alten rigen feierlid) in Wafhington zu enthüllen. Oxenſtjerna: Quantills prudentia! Kommersbuch: Ganz Europa wundert fi nicht wenig...

Nord-Oſtſeefahrer: Dank für die beiden Annoncen. „Sudermannd Stajperletheater”, das fid) mit feinem „großen Lacherfolg bei Yung und Alt” in tönigsberger Blättern empfichlt, hat aber mit unferem „Schaffenden“, einem ber beiten Deutjchen des Jahrhunderts, ficher nichts zu tdun. Trotz dem nach der Rebe iiber biblifche Dramen verdächtigen Sag: „Safperle hat für neues Progamm und

Ausſtattung gejorgt“. Wie konnten Sie glauben? Mehr gefiel mir das Ant aus der Neuen Hamburger Zeitung. Ein Waarenhausmeldetda: Nu | Bülow Heringe WE Wen! Mit Genehmigung Seiner Excellenz des Herrn Ri fanzlers. 20 Stüd = 48 Pfennig“. Sie find hineingegangen, haben adjtundnr" |} Pfennige geopfert und feitgeftellt, daß diefer Dofenfifch bisher Bismard-Hering So wädjt der vierte von Jahr zu Jahr mehr in die Rolle bes erften Kanzlers büı Worüber ſtaunen Sie eigentlih? Soll ein toter Mann etwa ewig im Gedäi 5 leben? Begeilterung it feine Heringswaare, die man einpdfelt auf einige ©

ö— m nn Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: M. Garden in Berlin. Verlag der Zulunft in! - Trud von Albert Damde in Berlin Schöneberg.

Berlin, den 21. März 1905. TITTEN

Dammurabi.

Amen in der Reihe der Zehn, die, in der Epiftel an Hollmann, der Kaiſer als ausermwählte Empfänger göttlicher Offenbarung nennt, ſteht Hammurabi;er ift der Erfte von Denen, die „Bott ausgefucht und feiner Gnade gewürdigt hat, für ihre Völter auf dem geiftigen wie phyſiſchen Ges biet nad) feinem Willen Herrliches, Unvergängliches zu leiſten.“ Nicht Jeder wird finden, Hammurabi habe Unvergängliches geleiftet, nicht jeder Ge- bildete auch nur wiffen, welche Leiftung diefem König zu danken fei, deſſen Name nod) im neuen Brockhaus ſucht man ihn vergebens feitein paar Jahren den Bunftfpezialiften geläufig ift. Und felbft fie erzählen von dem Jahrtauſende lang Verſchollenen nicht allzu viel. Hammurabi, fagt Herr Dr. Bindler („Das alte Weftafien" in Helmolts Weltgefhichte), regirte von 2267 bis 2213. Er war der jechSte König der aus Kanaan eingemwanderten Dynaftie, eroberte den Süden und herrſchte als Erfter über das ganze Babys lonien. Er putzte ſich mit dem Titel eines Königs von Palaeftina, war Bafall Rim-Sins, des Elamitenfönigs, baute einen Kanal und gab feinem Volk ein Bürgerliches Gefegbuch, das vor einem Jahr von dem DominifanerScheilund dem franzöfischen Archäologen Morgan in Sufa gefunden wurde. Daß erden eigenen Werth nicht gering fchägte, Ichren die Steineund Thontafeln, die feines Wirkens Spur bewahren. Nach dem Sieg über Südbabylonien ſchrieb er: „Als Anu und Bel das Land Sumer und Alkad mir verliehen hatten und ihre Zügel in meine Herrfcherhand legten, grub ich den Kanal ‚Hammurabi ift der Segen der Menfchen‘, der das Wafjer der Fruchtbarkeit nad Sumer und Allad führt; beideUfer machte ich zu beftellbarem Lande, baute Getreide 34

450 Die 3

fpeicher und forgte, daß immerdar U ritblof, dem feine Geſetze eingemest fin! deren Licht über Süd und Nord hinſtral undruft: „Wer einen Rechtöftreit hat, fpreche, froh aufathmend, dann: Ein Volke!“ Herr Profeſſor Deligfch, der I Monotheiften und giebt ung das Abbi ift, wie von Schamaſch, dem Sonnen gebung infpirirt wird. Später, fo le Hammurabis ſacht verfallen fein; den ohne große Anftrengung in das warır was wir heutewiffen; und dieſes Wen falt für gewiß, für unverlierbaren Be Erftes Bedenken: das einzig erheblid die viertaufend Jahre alt find und der entftammen. Vielleicht war Hammu um dag Heer noch) um die Verwaltun herren und Landpfleger fchalten ließ u zugefchrieben warb. Wenn von der teinelebendige Ueberlieferungumdfein blicbe als einpaar offizielle Urkunden ı müßteber ferne Enkel glauben, der beſch Wilhelm der Große genannt wird, hab fen, gegen Fährniß geſichert. Zweites! forſchung haben ſeit Niebuhrs und und ſind noch jetzt durchaus nicht ſo ſid ſich träumt. Aus der von Windler u Tage von Schrader Werk „Die Keili ſchon der Titel des feit dreißig Jahren Wahn warnen, Herr Deligich habe r Heiles Botſchaft gebracht kann m und Silben ein Dugend Lesarten gie loge Zimmern einen Entzifferungver disfutirbar hält. Vielleicht blickt ein | Erben einft mit dem felben Lächeln z miften und Aftrologen. Vielleicht wi Tages „bewieſen“, die Kanalurkund

Hammurabi. 451

entitelit, der Dioritblod von Sufa fammt feinem &efeestert ein Fäljcher- werk und nie habe ein Hammurabi über Babylonien geherricht. Das ift nicht unmöglich, trotzdem Herr Profeſſor Friedrich Deligich auch in ber Aſſyriologie die assistentia spiritus saneti, den Odem eines Welten- ſchoͤpfers fpärt; „gewiß nicht ohne Gottes Willen”, jchreibt er, „vollzieht ſich in unferer Zeit die Wiedererftehung des babylonifch-affyrifchen Schrift» thumes“. Ein größerer Friedrich pflegte zu fpotten: den lieben Gott laſſe Jeder fagen, was fein Menfchenohr gerade zu hören wünfcht.

Einerlei. Wir haben Hammurabi und laſſen ihn uns fo bald nicht wieder nehmen. Er iftrajch populär geworden, lebt jogar in den Witzblättern ſchon und wird in den nächften Supplementbänden von Meyer und Brod- haus ficher nicht fehlen. Deffentliche Dieinung, die ehrwürdige Totenrichte- rin unſerer hellen Tage, fpricht über ihn: Ein großer Dann, in dem Gott Schamaſch, Marduk, Jahwe oder ein anderer Tyrann des Orientalen- himmels ſich offenbarte, ein Allerhöchfter Herr, der Unvergängliches zu leiften vermochte, weil er von ber Gnade des Höchften zu ſolchem Thun aus- erwählt war. Daß er ſpät erft vom Chriftenfinn als ein Inſpirirter erfannt wurde, hat der König mit dem Weijen gemein, der ihm in der Epiftel an Hollmann als neunter Empfänger göttlidher Offenbarung folgt: mit Im⸗ manuel Kant. Der brauchte zwar nicht ganz fo lange zu warten, tft immer- hin aber auch erft Hundert Jahre nad feinem Tode heiliggefprochen worden. ALS feine Kritik der reinen Vernunft erſchien, war der Kronprinz von Preußen gerade Rofenkreuzer geworben. Und als diefer Kronprinz, der Freund Biſchoffwerders und Wöllners, König Friedrich Wilhelm der Zweite hieß, ging es Denen, fo nicht den rechten Glauben hatten, an Hals und Kragen. Wöllners Edikt von 1788 verhieß freilich, die friderizianifche Toleranz werde erhalten bleiben, „jolange ein Jeder ruhigals einguter Bürger des Staates feine Pflichten erfüllt, feine jedesmalige befondere Meinung aber für fich be- hält und fich jorgfältig hütet, folche nicht auszubreiten oder Anbere zu über: reden und in ihrem Glauben irr oder wankend zu machen.“ Doch wie der Kleine Deligfch, der, nach des Kaifers Anficht, „heilige Begriffe angerempelt und manchem Hörer an fein Innerſtes getaftet hat“, follte auch der große Kant von harter Rüge getroffen werden. Eben war, wieanno 1901 der Redner ber Deutfchen Orientgejellichaft, „der fo gejchichte und rechtichaffene Mann, der mit unermüdetem Eifer zum Ruhm der fönigsberger Univerfität arbeitet”, vom Monarchen ausgezeichnet worden. Da erſchien, mit dem SSmprimatur der philojophijchen Fakultät, Kants „Religion innerhalb der Grenzen der

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462 Die Zuhn

bloßen Bernunft” ; und nun griff der. Köꝛ Am erften Oktober 1794 erging eine von! die mit gnädigem Gruß begann, fehr un fere Höchfte Berfon hat ſchon feitgeraumer wie Ihr Eure Philoſophie zur Entftellun Haupts und Grundlehren der Heiligen braucht; wie Ihr Dieſes namentlich in E Grenzen der bloßen Vernunft, desgleicher gethan Habt. Wir haben Uns zu Euch ein einfehen müffet, wie unverantwortlic) Il Lehrer der Jugend und gegen Unfere Euc lichen Abfichten Handelt. Wir verlangen d antwortung unbgewärtigen Uns von Eud Ungnade, daß Ihr Euch ünftighin nicht - Tommenlaffen, fondern vielmehr Eurer Pf Talente dazu anwenden, daß Unfere landı mehr erreicht werde; wibrigenfals Ihr E fehlbarunangenehmerBerfügungenzugen ordre ftand: „Bon Gottes Gnaden Friedi Diefer König von Gottes Gnaden fand Chriſtenthumes „entftellt und herabgewi padten nennt ein anderer Preußenldnig v Männern, die „Gott ausgefucht und feir Völter auf dem geiftigen wie phyſiſchen Ge Unvergängliches zu leiſten“. Hat Kant, war, etiva widerrufen? Nein. Er ſchrieb Berleugnung ſeiner inneren Ueberzeugung in einem Fall wie der gegenwärtige iſ Alles, was man ſagt, wahr ſein muß, ſo Wahrheit offentlich zu ſagen“. Er antwo devoten wie diplomatiſchen Brief. Die gt Berhandlungen zwifchen Fakultätgelehrt ſophiſchen Faches“ zu nehmen; „um auch gen, jo halte ich fürdas Sicherfte, hiermit ı than feierlichſt zu erflären: daß ich mich fer die Religion betreffend, es fei die natürl in Vorlefungen als in Schriften gänzlich ı

Sammurabi. 453

Em. Majeſtät getreufter Unterthan” follten, fo fagte er felbft fpäter, bedeus ten: er verpflichte fich, zu ſchweigen, jo lange der König lebe. Dieſe reser- vatio mentalis gab ihm die Möglichkeit, nach dem Tode des dien Wil⸗ helm, als die reine Vernunft wieder hoffähig geworden war, in der Vorrede zum „Streit der Fakultäten” die Gejchichte feiner Ungnade zu erzählen. Er konnte daran erinnern, daß er, als ihm die Sonne noch ſchien und der Ge⸗ brauch feines antichriftlichen Buches den Univerſitätlehrern noch nicht verboten war, den Theologen fchon aufgefordert hatte, die Bernunftgründe des Bhilo- fopyen durch andere Bernunftgründeunfräftig zumachen, nicht „durch Bann ftrahlen, die er ans dem Gewölk der Hofluft auf fie fallen läßt”. Er hat nicht widerrufen. Der felbe Mann war Friedrich Wilhelm dem Zweiten ein Feind des Glaubens, Wilhelm dem Zweiten ein von göttlicher Offenbarung Er- füllter. Und beibe Könige waren „von Gottes Gnaden“.

Dieſer Disjens hätte Staunen erregt und die Frömmſten jelbft zum Nachdenken geftimmt, wenn Perfönlichkeit und Leiftung des zuerft Cenfirten und dann Kanonifirten im Vollsempfinden lebendig wären. Was aber ift dem Neudeutichen Kant? Ein Name; und Name ift Schall und Rauch. Bor einem Jahr, als in Düſſeldorf die Gewerbeausftellung eröffnet wurde, ſprach der Kanzler als zweiter Feſtredner des Deutſchen Reiches: „Unſer großer fönigsberger Weiſer Kant hat ſeiner erſten Schrift den Titel gegeben: Von der wahren Schägung der lebendigen Kräfte‘. ch glaube, daß wir nad) unjerem heutigen Rundgang indiefer Schägung reicher geworden find.” Graf Bülow glaubte aljo, der junge Immanuel habe den Werth der Wirth- ſchaftkräfte zu Schägen verfucht. Hätte der Redner auch nur den vollftändigen Titel („und Beurtheilung der Beweife, deren fich Herr von Leipniz und andere Mechaniker in diefer Streitfache bedient haben, nebft einigen vorhergeben- den Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen”), hätte er nur den Anfang des Vorwortes zu der von ihm citirten Schrift gelejen, dann wäre der grotesfe Irrthum unmöglich geweſen. Was haben Leib» nizens Kraft- und Raumbegriffe, was Descartes, Galilei und Newton mit dem Werth einer Gewerbeausftellung zu Schaffen? Im vierten Bande von Fiſchers „Geſchichte der neueren Philoſophie“ konnte der Kanzler leſen: „Als Rant ſeine, Gedanken von der wahren Schägung der lebendigen Kräfte‘ niederjchrieb, hatte er fehon das Problem vor Augen, deffen Löſung in der ‚Naturgefchichte des Himmels‘ neun Jahre fpäter erfchien. Unverfennbar trägt fih der junge Philofoph mit großen Aufgaben, .die ihn weiter führen als fein verfehlter Verſuch, die Streitfrage des Kräftemaßes durch eine Ver-

454 Die Zutunft.

mittlung zwifchen Descartes und Leibniz zu entjcheiden. Ohne den Names zu nennen, zeigt ſich Kant als einen Anhänger der Naturphiloſophie und A traftionlehre Newtons; aber ihr fehlt die metaphyfiiche Begründung mb | die Eosmogonifche Anwendung”. Der höchfte Beamte des Reiches findet ſich nach einem Gang durch die düſſeldorfer Ausftellung inder Schätzung leben diger Kräfte, reicher geworden“. Und Niemand lacht; in keiner Zeitung wird das ſinnloſe Citat nach Gebühr behandelt. Der ſelbe hoͤchfte Reichsbeamte preiũ Fichte, den von der halliſchen Cenſur verworfenen, Kritiker aller Offenbarung. in Sägen, die deutlich zeigen, daß er von dem Atheismus und Sozialiſsmus des Gefeierten nichts weiß, und ſpricht, beim Feſtmahl des Deutſchen Landwirih⸗ ſchaftrathes, von Schopenhauer in einem Ton, der feinen Zweifel daran läßt, daß auch der Begriff des fchopenhauerifchen Peſſimismus dem excellenten Redner ſich nie entjchleierthat. Und noch immerladgt Niemand; immer ned lieft man: auch wer die Politik des Kanzlers befämpfe, müffe doch zugeben, baf ein hochgebildeter, an den Quellen moderner Erfenntniß getränfter Getft die Geſchäfte des Reiches führt. Kant, Fichte, Schopenhauer gehören am Ende ja nicht zum Bezirk einer dem Laien unzugänglichen Seheimwiflenfchaft... Se fteht8 auf den Höhen der deutfchen Menfchheit aus. Wer darf ſich da wım- dern, wenn im Thal bie Menge der mittelmäßig Gebildeten mit dem Wieder⸗ fäuen der älteften Abfurditäten befchäftigt ift?

Willfommen fei drum uns, Hammurabi, Held des Südens, Sonu des Nordens, Kanalbauer, Gefetgeber, Vater des Baterlandes! Dur wähltefi die rechte Stunde und trittft als ein lieber Kömmling in die Reihe umterer Heroen. Vielleicht faheft Du nie auf blutigem Feld einen Feind, kümmerteſt Dich nicht um Kanäle noch um Geſetze gar, haft vielleicht nie gelebt. Wir wiſſens nicht. Uns aber lebft Du. Affyriologen und Theologen haben Deinen Namen unferem Gedächtniß eingefchärft; in den Zeitungen ftand er ſchon und befommt im Großen Meyer nächiteng gewiß eine ganze Spalte. lin? bift Du ein großer Dann, in dem Gott jich offenbart, den der Allerhalier zu unvergänglicher Leiftung auserwählt hat. Jeder Minifter kann Dich citi- ren, jeder ftrebjame Bürger muß fich bei Deinem Namen etwas Loyales den fen. Bor viertaufend Jahren ftarbit Du und bift dem Volle Kants nd Goethes dennod) fo lebendig wie irgend ein großer ‘Denker und Dichter, ver geboren ward, al8 von Sumer und Allad, von Elamiten und Ranaanä 7, von allem Glanz babylonifcher Dynaftien nur verwifchte Schriftzünr uf mühfälig ausgegrabenen Steinflanfen und Thontafeln noch zeugten.

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Mauthners Werl. 455

Mauthners Werk.

2; Frig Mauthners Roman „Hypatia“ lebt ein alter alerandrinifcher Jude, der, als er den Kaifer Julianus Apoſtata an ber Arbeit fieht, mit gerungenen Händen ausruft: „Er will Alles felber thun!“ Mauthner hat den Monarchen, der doch fo eifrig an der Weiterbildung ber Religion arbeitete, als eine Art Dilettanten auf dem Thron der Caeſaren aufgefaht und das Wort hat. daher "bei ihm einen Tpöttifchen Unterton. ‘Mir aber bes zieht es fich jegt mit dem Klang ftaunenden Nefpeltes auf Mauthner ſelbſt, da ich vor der Aufgabe ftehe, den Lefern zu berichten, daß der dritte Band der „Sprachkritik“ vorliegt und das Werk nun abgejchlofien if. Denn es ift eben doch nicht abgejchlofien: Mauthner verfichert e3 uns fchon im Bor: wort zum erften Band, obwohl er Das kann man getroft behaupten für feinen Gedanken mehr gethan Hat als je ein Denker für ben feinen. Aber: „Er will Alles felber thun.“

Mauthner Hatte die Wahl: in feinen ftillften und kühnſten Träumen lechzt er danach, die That, um die e8 ihm geht, zu thun nicht mit bem Wort, fondern mit der Fauft; die Sprache zu ermorden, den Geift zu töten, das Unnennbare aus der Haft des Denkens zu erlöfen. Er hatte die Wahl: er konnte diefe Sehnfucht, diefe Ahnung, diefes Neue, das in ihm nah Ge

ftaltung rang, bichterifch formen, metaphorifch paraphrafiren; er hat ed nit

gethan. Ex konnte ferner auf zweihundert oder fünfhundert Seiten feinen Gedanten in einem fchönen, wohlgegliederten Gebäude unterbringen. Auch Das hat ihm nicht genügt. Was er in Wirklichkeit gethan hat, nenne ich: die Gründung einer neum Disziplin. Ab und zu hörte ich fon von dem Syſtem Mauthner8 reden. Das ift in dem üblichen Sinn ganz falſch, wie dem Lefer dem Lefer Mauthners, meine ih ohne Weiteres klar werden wird, wenn er erwägt, daß man ftatt „Syſtem“ jedenfall8 auch „Denk⸗ ſyſtem“ oder „Wortſyſtem“ fagen kann. Ein Syftem entfteht, wenn Einer findet, die Welt fei der Ausdrud eines Gedankens, meift einer Moral; vor welch fchönem Gedanken der Autor dann ſyſtematiſch feine Nothdurft ver- richtet. Muuthner hat fein Syſtem gefchaffen. Das ſchwere Erleben, das der Entjtehung feines Werkes vorhergegangen fein muß, konnte auch nicht dazıı führen. Wenn Einem alle Nahrung, die er in den Mund nähme, wie Gift und Galle ſchmeckte und er allmählich qualvoll verhungerte, wäre mehr als der Kranke der Arzt verrüdt, der ihn einen Eyſtematiker nennen wollte. So ähnlih aber muß es Mauthner mit den Worten, den Begriffen, den Wiffenfchaften ergangen fein. Er muß es vor fich gefehen und in ſich ge fpürt haben, wie alle Worte zerrannen, alle feften Brüden zufammenbrachen, Stein und Mörtel fich verflächtigten, alle Nägel ſich löften. In biefer Ver-

456 Die Zunft.

nichtung aber entfchied er, daß es bier zu arbeiten gebe. Nicht neu aufzu= bauen, fondern mit Hilfe bes entfeglich zugerichteten Materials nene Fragen zu ftellen. Nicht nur bie Worte waren ihm im die Brüche gegangen, fonbern damit auch Das, was wir unfere Welt nennen und unjer Wiflen von ihr. Nichts von Alledem, was die Wiflenfchaft in Regale geftellt hatte, kann jest an feinem alten Fleck bleiben. Es gilt eine Neuorbnung all unferer Geiite- ſchätze, nicht um neuen Beitondes willen, fondern wegen neuer Fragwürdigkeit

So wird man verftehen, warum Mauthner fein Buch nicht einfach und eitel „Kritik der Sprache“, jondern jelbftbewußt und hoddmüthig „Beiträge zu einer Kritif der Sprache” genannt hat. Immer wieder bricht in dem Werk felbft das Gefühl des Verfaſſers durch, daß eines Mannes Kraft dieſer Niefenarbeit nicht gewachfen fei; immer aber auch kommt über den Xefer bie Bewunderung, wie ungeheuer viel Mauthner felbft gethan bat, wie er uns mindeftend den Zugang zu all den Fragen unb Gebieten eröffnet hat, bie die Sprachkritik zu belichten hat. Wie ſchäbig aber find die Kleinen Leute, bie mälelnd Das oder Jenes in diefen Beiträgen vermiflen, das ſich zufällig in die Enge ihrer Schreibftube verirrt hat! Allmählich fangen ja jetzt ſchon die Fachgelehrten an, ſich mit dem Buch zu befchäftigen und reſpektvoll davon zu fprehen. Damit aber ift es nicht gethan, ift eigentlich noch nichts gethan. Es gilt jest, zu arbeiten; in weldem Sinn, fagt Mauthner uns felbft an einer Stelle des dritten Bandes, wo er von den Neovitaliften Sprit. „Wären diefe Kritiker‘, heißt e8 da, „Erlenntnigtbeoretiler gewefen, fo hätte fie ihre Unterfuchung zunähft zu einer Kritik der technifchen Ausdrücke ihres-Faches rühren müſſen. Und befäßen wir von den beiten Köpfen aller Wiffenfchaften je eine Kritif der Terminologie ihres Spezialfacyes, fo wäre dadurch lang⸗ fam eine Kritik der Sprache angebahnt worden, die auf umfaflende Vor⸗ ftudien jich berufen könnte. Ein Einzelner kann diefe Revifton aller Wiffen- fchaften unmöglich leiſten.“

Mauthner würde irren, wenn er glaubte, ſolche Revifion aller einzelnen Willenfchaften fei vor feiner Gefammtneuanfhauung möglich geweſen. est aber, wo fein technifcher Ausdrud, fein Name für angebliche Dinge oder Eigenfchaften oder Thätigfeiten oder Beziehungen oder Gefammtheiten oder Drdnungen fi mehr anders fehen lafien darf al8 auf Bänfefüßen einher Ihwanfend, wo wir eine ganz neue Art des Sprechens und des Darftellens ung angewöhnen müſſen, immer mit dem Unterton der Ironie, des à peu pres, des Proviforifchen, des Metaphoriſchen, find auf allen Gebieten Spe, arbeiten der Immerthung dringend nöthig. Man würde Unrecht thun, gl ich, fpöttifch zu bemerfen, nur gerade auf dem Gebiet von Niegfches „Um ung aller Werthe*, der Ethik nämlich, gebe ed num nichts mehr zu thun. © recht; eben fo wenig wie in den anderen Normenwiſſenſchaften, bie mit Mi

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Mauthners Wert. 457

ſchaft nichts zu thun haben, der Aeſthetik und Jurisprudenz; nur geht Das nicht gegen Nietfche, der fi für Ethik ja nur mehr im Sinn der Gefchichte ber Moralanfhauungen, Dioralgefühle und Inftinkte intereſſirte, im Uebrigen aber Einer war, der fi) des menfchlichen Handelns als Auffordernder annahm; das Handeln aber kümmert Mauthner nicht, menn er am Schluß des Merfes auch Einiges über den praktifchen Werth der Sprachkritik ſagt. Wohl aber ift richtig worauf jüngſt auch Coßmann hinwies —, daß, theoretifch ge- nommen, Niefches Moralkritit und feine Anfäge zur Erkenntnißkritik nur entzüdende Plänfeleien auf den Außenwällen der Sprachkritik vorftellen, und ferner, daß feine Wortfreude und fein Hang, alle Fragen nur auf die Moral- verfaffung der Fragefteller hin anzufjehen, ihn dauernd gehindert haben, die Sragwärdigkeit der Sprache zu erkennen. Und zum Schluß ift er gar ein Syftematifer geworden; der „Wille zur Macht” ift ein Syftem: was er als Kennzeichen des Uebermenjchen fand, follte als wirkendes Prinzip in aller Natur nachgewiefen .werden; der Menſch war alfo wieder einmal die Krone der Schöpfung. Uebrigens gehört aber ſolches Aufforbern, wie es Niegiche übt, die ganze Politik zum Beifpiel, fo weit fie in Worten vor fich gebt, natürlich auch zum Stoff der Sprachkritiker; alfo auch hier noch Arbeit genug. Sonft nenne id) von den Gebieten, denen die Kritit der Terminologie bes ſonders nothtäut: die Medizin, die Phyfiologie, die Piychologie (Was ift Krankheit? Was Leben? Individuum? Drgan? Funktion? Gedächtniß? Was ift unbewußt und automatisch ?), allgemeine Naturwiſſenſchaft (Kaufalität Neoteleologie, Vererbung), Phyſik und Chemie (Atom, Gravitation und Affin- ität), Darwinismus. ch gebe nur Stichproben. Die Theologie, fo weit, fie nicht zur Volkergeſchichte und Piychologie gehört, braucht ſich an biefer Revifion nicht zu betheiligen; ihrer hat fich ja auch der Profeſſor Deligich angenommen. Dabei muß ich erwähnen, daß Mauthner auch für die Seil: ſchriftkunde Winke giebt, die zu beadten vielleicht gerabe jegt werthvoll wäre.

Zwei Gebiete aber hat Mauthner abgethan: die Grammatik (fo weit nicht, wie e8 die Junggrammatiker lieben, die Sprachgeſchichte unter diefem Namen getrieben wird) und die Logik.

Zu den beiten und fchlecdhteften Leſern des Buches gehören folche, die erflären, Das, wogegen Mauthner fo leidenfchaftlich kämpfe, werde eigentlich von keinem Menſchen behauptet. Das ift infofern richtig, als diefe Dinge fo, wie der Sprachkritiker fie befämpft, gar nicht behauptet werden konnten. Wenn man Etwas für fo felbiiverfländlich hält, dag Einem gar nicht in den Sinn fommt, die Fraglichleit in Betracht zu ziehen, fehlt natürlich auch jede Scharfe Formulirung. Wenn Mauthner alfo, zum Beifpiel, zeigt, daß es in der Wirklichkeitwelt weder Subftantive noch Abdjeltive gebe, jo liegt es einem einfichtigen Dberflächlichen fehr nah, mit dem Einwand aufzubegehren: ‘Das

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babe doch gewiß noch nie Jemand behauptet. Freilich nicht; man hat hd damit begnügt, die Dinge mit ihren Eigenfchaften für wirklich zu halten, . und wo man unter dem Einfluß von Locke, Berkeley, Kant ober Helmholt

fo weit ging, ihre linwirflichleit ober Idealität zu behaupten, bat man von den Kategorien des Verſtandes ober fpezififchen Sinnetenergien gefprocen, als ob unmwirklihe Wirklichkeiten wie ſolche Entitäten, undingliche Dinge gleich dem Ding an fich nicht erft recht Hauptwörter wären, Wörter zer zcayır. Ein ähnlicher Einwand, den ich fchon hörte, wäre mit Mauthners Termin logie etwa fo zu formuliren: Nichts ift im Intellekt, was nicht im ben Sinnen iſt; die Sprade ift fein Erkenntnißmittel; erlannt wirb nur, wel neu wahrgenommen wird. Das fei richtig und unbeftritten; aber bie Sprache als Gedächtniß fei eben doch ein wundervolles Mittel zur Auffpeichenung der Erkenntniſſe. Und dann immer das alte Lied über den praftifchen Werth der Sprache: ohne Sprade kein Haus, Leine Eifenbahn, kein Telegraph, feine chemifche Inbuftrie und fo weiter. Der Hund fpringe ſprachlos über den Graben; der Menſch mit feiner Sprache fahre in fünf Tagen über den Dzean. Das find Einwände, bie ſchon in Betracht kommen; und vielleich rührt Mauthner an diefes Problem, das man mit Worten Poes das Problem des Butreffens, des Stimmens, ber Uebereinftimmung, der Konſiſtenz nennen fönnte, fo oft er auch daran tippt, doch mit zu leifer und vorfichtiger Hand. Boe polemiirt in feinem Buch „Heureka“ fehr ergöglich und fcharfineig gegen Deduktion und Induktion und erklärt, daß einzige Merkmal für eine Wahrheit fei, daß fie ftimme. Diefes Räthfel, daß fo Bieles in unferen Erkenntniſſen zu ftimmen feheint, brauchbar ift, angewandt werben kann; daf wir mit unferen Bufallsfinnen faft möchte man fagen: mit unjerm faliden Sinnen —, mit unjeren unwirflihen Begriffsrubriken und mit de ganzen Ordnung unſeres Menſchendenkens ber Natur fo viel abgeminztn, ift das färkite Argument des fortfchrittsfrohen, mit Technik progenden Bildung europäers gegen Mauthners große Stepiis.

Aber vielleicht ift e8 in Mauthners Sinn, Leſſings Antwort an Jacobi, die berühmt fein follte, feit Mauthner fie und ausgelegt hat, auch hier anzu⸗ wenden. Das Wort heift: „Für den Menſchen“. Sollte es denn wunderbar fein, daß Alles, was der Menfch jehr menſchlich auß der Natur herausholt, für den Menſchen auch brauchbar ift? Ich meine, wenn wir darüber ſtaunen, daß wir rechnen, erfinden, entdeden, bauen und zerfegen können, dann müſſer it eben fo unglaublich finden, daß wir eſſen, daß wir verdauen, dag wir ®.

Mauthner leugnet alfo nicht, daß bes Menfchen Denken, fen * dächtniß, feine Sprache menschlich ift und bewirkt hat, daß wir mit: ſe dieſes befonderen Organs anders leben als andere Thiere. Ex leugnet 1 leugnet es großer Tragik voll, daß e8 uns über das Nur-Dienfhlihe "

Mauthners Bert. 459

ausbringt, daß es und zur „Natur, zum Makrokosmos führt. Den Fauft . muß und nod) Einer fchreiben: wo Fauft nicht blos am Anfang, fondern erft reht am Abſchluß feines Lebens, troß dem Teufelsbund, trog all feiner Technik, trogdem er bei den Müttern war, in die verzweifelte Klage aus: bricht, daß wir nichts wiſſen können und daß fein Flügel uns vom Boden hebt. Nur in diefer Stimmung, nur wenn man fo Großes wollen möchte, kann man Mauthnerd Gedanken irgend beifommen. Nur in diefer Stimmung bat man Sinn für die fehauerlihe Tragikomik der anthropomorphifchen Sottesvorftellung des alten Drients. Freilich ift unfere Welt, in die wir mit Sinnen, Organen und Gedanken hineingefeflelt find, nur vom Menſchen⸗ weſen erfchaffen worden. Es ift fehr menfchlich von dem alten Herrn; fehr... Der Einwand gegen Mauthner, von dem ich in biefen Betrachtungen aus⸗ gebe, ift alfo der emige Wagner im Geſpräch mit Fauſt; Wagner hat ja wohl ber naturwifenfchaftlichen Fakultät angehört. Wir haben es herrlich weit gebracht; wir ejlen mit Gabeln und telegraphiren ohne Draft.

Die Sprache ift alfo mit ber bildlichen Ausdrucksweiſe der Phyliologie zu Sprechen eine Gehirnfunktion, die nur jünger, nicht fchlechter ift als die anderen Funktionen des Centralnervenſyſtems. Wir haben Begriffe, Zahlen und Naturgefege, wir bauen mit ihrer Hilfe den Eiffeltfurm, wie wir mit Hilfe anderer Centren gehen, efjen und ung fortpflanzen. Nur: man hatte und mehr verheißen. Wir fjollten die Welt verftchen. Das heit doch wohl, wenns überhaupt Etwas heikt: zur Welt werden, aufhören, ein bloßes Menfcenthier zu fein. Man hatte und von unferer göttlichen Vernunft erzählt. Das hat jest aufgehört. Die Sprache ift ein thierifches Organ. Das it weitaus das Beſte, was von ihr. zu fagen ift,

Man wird leicht merken, daß ich hier von Dem, was gemeinhin Sprache genannt wird, fchon faft gar nicht mehr rede, fondern von der Kunſtſprache der Mechanik und Chemie, von den Zahlen vor Allem, mit den Neufchöpfungen der Mathematik, alfo von ganz jungen Spracherfcheinungen. In einem der glänzendften Kapitel des Buches wird gezeigt, daß auch die Zahl fih nur in unferem Kopf befindet, aber nicht in der Wirklichkeit, nicht in der Sinnenmelt, daß aber trogdem die Differentialrechnung die verblüffendfte, wundervollſte An- näberung an die Daten unferer Sinne, an die Natur aljo, zu Stande bringt. Den Hymnus auf die Sprache als Werkzeug, den man Mauthner entgegen: rufen will, hat er alfo ſelbſt angeftimmt, und genau da, wo er bingehört. Die Sprachkritik ift eben nicht nur Umfturz, fondern, wie jede fruchtbare Kritik: Reform und Weiterbildung. In diefem Zufammenhang wird auch die große Ahnung ausgeſprochen: was ſich heute Darwinismus nennt, die Beſchreibung der gehäuften Heinen Veränderungen in der Natur, werde einft mit Hilfe der Differentialrehnung formulirt werden. Nicht auf eine Algebra der Logik

460 | Die Zukunft.

oder der Grammatik geht es hinaus; bie will nichts anderes, als tote Ara- besfen modern aufpugen, fondern auf Etwas wie Umwandlung der Sprach⸗ werkzeuge in Rechenwerkzeug. Ein populariſirender Naturforſcher, Profeſſor Dodel-Port, hat einmal fein Programm in die Frage gebracht: Moſes oder Darwin? In unferem Zufammenhang wäre zu fagen, daß noch unendlich viel Moſes in Darwin ftedt, unendlich viel längſt geftorbenes Begriffswerk, das uns, während wir es bereden, im Munde faul. Nicht Moſes oder Darwin, fondern Darwin ohne Mofes, Darwin nicht auf den morſchen Krüden der Begriffe, fondern auf den neuen Krücken der Zahl. Auf Krüden aber immerhin und immerzu. Was unter diefen neuen Srüden zu verftehen ift, wird noch Harer, wenn man erwägt worauf Mauihner verweift —, daß es heute ſchon den Chemikern unmöglich if, ihre Methoden und Er⸗ gebniffe, ftatt in Formeln, in den Worten der Umgangsfprache auszudrüden. Die Sprache hat aufgehört, an manche Thatfächlichkeiten noch erinnern zu können; ſchwankend und fließend that fie e8 immer; nun geht es gar nicht mehr.

Schon unfere Sinne hatten die ungeheure Komplizirtheit und Mannich⸗ faltigfeit der Natur faft läppifch vereinfacht, fpezifizirt, in fünf oder fieben Schubfächer eingefperrt; die Begriffe fuhren damit fort, um unferes Gedächt- niſſes willen alle Wahrnehmungen auf unfere Intereflen, alle wirkſamen Kräfte um unfere Zwede herumzufpulen; aus hunderttaufend Einzelerſchein⸗ ungen wurde ein Baum; aus Hunderterlei Bewegungen ein Berbum. Die Zahl Hat die Aufgabe, diefes Einfache, Ausgelaugte wieder zu fompliziren, fo daß wir doch einigermaßen an die Eindrüde unferer ohnehin ver- feinerten und verbeflerten Sinne erinmert werden. Die Zahl reinigt bie Sprade von den gröbften VBermenfchlichungen; die Zahl ift aber der Bilders ſprache unferer Sinne fo ſehr entrüdt, jo fehr eine Welt für ji, fie erinnert, obwohl wir fie nur vom Bekannten her haben können, fo fehr an Unbe fanntes, ift fo eine unmetaphorifhe Metapher, daß fie uns nicht nur über unfere Intereſſen und Zmede, fondern fogar über unfere Sinne erheben kann. Für unjere Sinne ijt das Licht etwas unvergleichlid viel Realeres als die indireft erlangte Elektrizität; der rechnende Phyſiker kommt ziemlich weit über diefen Gegenfag hinaus; er ift, wie von Spradbildern, fo aud von Sinnenbildern relativ frei und lebt in Realitäten, an die er faum mehr erinnert. Ich dene, Mauthner meint das Selbe, wenn er fagt, andere Worte feien Schlechte Bılder der Wirklichkeiterinnerungen, Zahlworte aber ganz unwirkl einzig und allein gute Bilder ihrer felbft.

Was ich vorhin Moſes nannte und natürlich eben fo gut ‘\, oder Sant nennen Fünnte —, war bißher in meiner Darkegung num ein | hyperboliſcher Ausdruck für Begriffe und Worte. Die aber find doch imu nod für die Epradje al3 Werkzeug dag allenfall$ Brauchhare. Wie verhältn

Mauthners Werk. 461

mäßig erträglich wäre die Sprache, wenn fie nur Terminologie wäre; wenn bie gezierte Heuchelei der Grammatik, die Lüge der Logik nicht wäre! Zur Theologie, zur Wiffenfchaft, zur Weltanfhauung wird die Spracde erft dur den Sa oder das Urtheil, durch die Gliederung, die Beziehungen, den Aufbau. Wie Mauthner die Hohlheit, Unjicherheit, Nichtigkeit und Sinnlofigs feit der Kafusformen, der Modi, der Zeiten, des Satbaues, der Uriheile, der Schlußfolgerungen bis ind Einzelne verfolgt: Das muß ihm faft und müßte auch guten Xefern beinahe eine Erholung geweſen fein. Denn muß man fonft freilich viel arbeiten, um ihm zu folgen, um ihn zu faflen, fo ift er hier auf einem Boden, den er fi ſchon vorher ganz feft geftampft bat, "und es ift nad Mauthners Darlegungen einfach Eonftatirt: wie die orte und Begriffe Erinnerungen, alfo Verfuche der Annäherung an die MWirklichkeitwelt find, fo find die Sprachformen wie die Formen der Logik ohne jebe Beziehung zu irgend welcher Wirklichfeit, ohne jeden Werkzeug: harakter, nur werthuoll für die Wortlunft, damit zwifchen den Klängen, die Etwas bedeuten, auch Klänge find, die nichts bedeuten, durch die hindurch) wir gefühlsmäßig und rhythmiſch Unfagbares ahnen können. Infofern freilich wieder ein wundervolles Werkzeug: feine andere Kunſt kann fo ohne Miſchung der Darftellungarten, nur rein durch ihr einziges Ausdrudsmittel, die Sprache, Sinnenbilb und Muſik zugleich zum Sinnbild geftalten.

Es wäre aber wieberum ein großer Irrthum, die Selbftverftändlid- feit, von ber ich fpreche, dag die Sprachformen nichts Wirklichem entfprechen, fo zu deuten, al$ ob man auch Das ſchon immer gewußt habe. Durchaus nicht; wie fern diefe Einficht einem fo denfeifrigen Jünger Kants blieb, wie es Schiller doc; war, zeigt eine Stelle aus einem Brief an Körner ic) finde fie bei Hebbel —, die auch fonft hier von Intereſſe if. Schiller will auseinanderfegen, wie ſchwierig e8 fei, durch das Mittel der Sprache, die nur über Allgemeinbegriffe verfüge, aber nicht Individuen abbilden könne, doch den Eindrud des finnlich Keibhaften zu erweden. In diefem Zufanmen- bang fagt er: „Das Medium des Dichters find Worte: alfo abftrafte Zeichen für Arten und Gattungen, niemals für Individuen; und deren Berhältniffe ducch Regeln beſtimmt werden, davon die Grammatik das Syitem enthält... Sowohl die Worte als ihre Biegung: und Verbindungsgefege find ganz all- gemeine Dinge, die nicht einem Individuum, ſondern einer unendlichen An⸗ zahl von Individuen zum Leichen dienen . . . Das darzuftellende Objekt muß alfo, ehe es vor die Einbildungskraft gebracht und in Anfchauung ver- wandelt wird, durch das abftrafte Gebiet der Begriffe einen fehr weiten Um⸗ weg nehmen, auf welchem e8 viel von feiner Lebendigkeit (finnlichen Kraft) verliert. Der Dichter hat überall Fein anderes Mittel, um das Belondere darzuftellen, al8 die fünftliche Zufammenfegung des Allgemeinen (‚der eben

462 Die Zutunft.

jest vor mir ſtehende Keuchter fällt um“ ift ein Verbindung lauter allgemeiner Zeichen ausgebri vor den Verftand und der Dichter foll Alles vo (barftellen); bie Dichtkunſt will Anfchauungen, griffe. Die Sprache beraubt alfo den Gegen anvertraut wird, feiner Sinnlichkeit und Judir Eigenfchaft von ihr ſelbſt (Allgemeinheit) auf, wirb er entweder nicht frei dargeftellt oder gar beſchrieben.“ Man fieht: die Hemmungen, die den Weg legt, hat Schiller wundervoll Mar erfı betont, denn diefe Allgemeinheit und einſchleien ift als Kunftmittel ja auch wieder ihr großer 8 in der vorromantifchen Zeit noch nicht, die nicht auf Mufil. Daß aber die Sprache dem ! fie zwar nicht darftellen, aber befchreiben Tann, zeichnungen für wirkliche Gefammtheiten find, d ift, wodurch die Beziehungen diefer Gefammthei bezweifelt Schiller feinen Augenblid. Skeptifi - Sprache gegenüber, wo es fein Fach, die Poeſi traut er ihr gläubig. Daß. der Unterfchied z tungen nur ganz relativ ift, fei nur nebenbe über die Nealität des Individuellen und Bedeu des Nominalismus durch ein Wiederaufleben bes ber Lehre von der Wirklichteit de8 Allgemein keineswegs mehr durch fubftantivifche Allgemei alfo auch den Bann der Saufalität gefprengt in Mauthners drittem Band; auch auf mein als Welt“ möchte ih in diefem Zufammenhar Die Klage Schiller8 aber, daß der Dichte:

das Wirkliche bezwingen milffe, ift von emem genommen worden: von Hugo von Hofman wohl nicht ohne Kenntniß der Sprachkritik D bringt mid) dazu, auf die Berührungen zwifd jungen Igrifchen Kunjt der einzigen Poefie, land finde einzugehen. Mauthner zwar fag fei eine erfreuliche Veftätigung feiner Sprachkr geftellt, da ich dem Naturalismus feine künſtl zuerfenne, die er in Folge der Schwächlichkeit bei. und auftrat, aber auch ſchon wieder nahez finde vielleicht zu Mauthners Entfegen ti

Mauthner Werl. . 463

der Sprachkritik und ben Dichtern Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Richard Dehmel und Alfred Mombert. Dan möchte ja immer gern zuſammen⸗ bringen, was man gleicher Weiſe Tiebt; aber ich möchte doch zeigen, warıım dies anfcheinend weit Abliegende mir einen Zuſammenklang giebt.

In der Profadihtung, die ich nannte „Ein Brief‘ heißt fie erzählt Einer von fih: „Mir erſchien damals in einer Art von andauernder Zruntenheit da8 ganze Daſein als eine große Einheit: geiftige und körper⸗ liche Welt fchien mir feinen Gegenſatz zu bilden; und in aller Natur fühlte ich wich ſelbſt. .. Das Eine war wie das Andere; Keines gab dem Anderen, weder an traumhafter überirdifcher Natur noch an leiblicher Gewalt, nad; und fo gings fort durch die ganze Breite des Lebens, rechter und Tinker Hand; überall war ich mitten drinnen, wurde nie ein Scheinhaftes gewahr: oder e8 ahnte mir, Alles wäre Gleichniß umd jede Kreatur ein Schlüffel der anderen.” Im weiteren Verlauf erzählt num der junge Dichter, wie dieſes tiefe Gefuhl ihm wohl bleibt und nur immer mehr von ihm Befig ergreift, wie e8 ihm aber nach und nach unmöglich wird, es in Worte zu geftalten; wie e8 immer mehr in Schweigen, in Sprachlofigleit verſinkt: ... . Die abftrakten Worte, deren fich doc die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgend welches Urtheil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. Mein Geift zwang mic, alle Dinge . . . in einer unheim⸗ lichen Nähe zu fehen: fo wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stüd von der Haut meines Kleinen Fingers gefehen hatte, das einem Blach⸗ feld mit Furchen und Höhlen glich, fo ging e8 mir nun mit ben Menſchen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, fie mit dem verein- fachenden Blid der Gewohnheit zu erfaſſen. Alles zerfiel mir in Theile, die Theile wieder in Theile; und nichts mehr ließ ſich mit einem Begriff um- fpannen. Die einzelnen Worte ſchwammen um mich; fie gerannen zu Augen, die mid anftarıten und die ich wieder anftarren muß: Wirbel find fie, in die hinabzufehen mich ſchwindelt, die ſich unaufhaltſam drehen und durch die Hindurhd man ind Leere kommt.“

Dies Manifeft nicht nur, fondern auch die Kunftübung Hofmannsthals und Derer, die ich mit ihm zufammen nannte, ift bie Abkehr von Dem, was ich bisher Poefie nannte und was Rhetorik war. Schiller, der in dem Brief an Körner die plaftifche Geftaltung der Welt in Worten als das große Ziel des Dichter8 bezeichnete, hat es nur zur Rhetorik gebracht und ſchon feine jüngeren Zeitgenoffen, die Romantifer, lachten über das „Lied von der Glocke“, als e8 eben erfchienen war, daß der Tifch ſich bog. In der Rhetorik ift die Muſik, der Wohlklang, das Inftrument, das uns Worte und Begriffe beibringt; in der neuen Poeſie, die feit Goethe, Novalis und Brentano im Entftehen ift, find dagegen Worte und Begriffe das Inftrument, das uns

464 Die Zukumft.

zur Mufit führt, zum Rhythmus, zum lUnfagbaren, das in uns tn fhwingt und uns mitfchwingen läßt. Und wenn es bei Schiller nur ein aufpligende Einficht war, die fein Dichten wenig beeinflußte, dag die Sinner welt nicht fagbar ift, jo geben uns nun die Poeten nicht nur den Ahyıkad ihre8 Lebens und ihrer Gefühle, fondern eben fo die Bilder ber Sinne: welt als das Unfagbare. Diefes Ineinandereinſchwingen ber Unfagbarfeiten, die von den entgegengefeßten Enden berfirömen der Rhythmus aus de Beit, das Sinnenbild aus dem Raum, dieſes Auflöfen alles Realen m Elemente des Traumes: Das finde ih in den Dichtungen Derer, bie id genannt habe, und Das eben ſcheint mir die Stimmung zu fein, in der mar einzig unb allein von der Sprachkritik zur Wortlunft zurüdtehren lan. Mauthner hat ums gezeigt, daß die begriffliche Wiſſenſchaft unferer Sche ſucht, die Welt und unfer Eigenes anders als nur-menfchlich zu erfafen, nimmer Genüge thun kann; die Kunft aber kann es in den Momenten, wo wir in ihr leben. Wir gewinnen und fchaffen Welten und verlieren und felht. Dies alfo ift, meine ich, der praftifche Werth der Sprachkritil: daß fie uns zwar feine religiöfe Weltanfchauumg giebt, dafür aber die moi Stimmung, in der wir ihrer entrathen Tönnen. Ob es Edhards Myſtil if, die fich aus dem Schoß der Stepfis losringt, "oder die „himmelsſtille, himmels heitere Refignation der Entfagung“, die Mauthner uns als letztes Ende bringt, oder ber dionyfifche Peſſimismus, zu dem Niegfche kam: Dem, ber fie inid fühlt, hat Mauthners Sprachkritik ihr Veftes gegeben: Nuhe aus der Ber: zweiflung. Eine andere giebt es für uns nicht mehr, fofern wir erkenntriß⸗ theoretifche Keidenfchaft haben und Stolz, ung nicht gegen unferen Kopf zu frieden zu geben. Dieſe erfenntnißtheoretifche Leidenfchaft und biefer tapfer Stolz, wenn bie aus Mauthner Buch heraus zu unferer Generatim fommen könnten, zu einem Gefchlecht, in dem die Renovatoren toter Geiflet: gefpinnfte wieder einmal obenauf find, wo man aus fümmerlicher Ethik, matter Politik und etwelcher Volksbeglückung ſich entfchlieft, dem Volk die Religion zu erhalten, und ganz zu fragen vergift, was bie Erkenntniß dazu jagt die im Leugnen fo ſtark fein kann, wie fie im Erbauen machtlos if: De wäre der große praftifche Nuten des Buches für unſere Beitgenoflen. Hermsdorf (Marl). Guſtav Landaneı.”)

*) Seine in der „Zukunft“ über diefen Gegenſtand veröffentlihtenn will Herr Landauer mit anderen Arbeiten in einer Schrift vereinen, die, dem Titel: „Sfepfis und Myſtik. Verſuche im Anſchluß an Mauthners © Eritil”, im April bei F. Fontane & Co. erfcheinen foll.

BEE

Goethe als Pathe. 465

Goethe als Pathe.

74 verfchiedenen Stellen fchon habe ich auf eine von Familienforſchern und Geſchichtſchreibern bisher fast gänzlich überſehene Ericheinung hingewieſen. Als nämlich die Bfarränıter noch die Perfonenftandsverzeichniffe führten, wurde bei der Eintragung unehelider Geburten in der Regel nur, wenn es fih um Eltern geringen Standes oder wenigftend um eine Mutter niederen Standes handelte, die Unehelichkeit mit voller Deutlichkeit im Kirchenbuch hervorgehoben. Das geſchah dann meift dadurd, daß der Eintragende dem Kinde oder der Mutter ein rohes, oft nicht einmal der Sachlage entjprechendes Beimort beilegte. Ge— hörte jedoch die uneheliche Mutter oder der Vater oder Beide dem fogenannten höheren Bürgerjtande oder gar dem niederen Adel an, fo wurden oft die merk: würdigiten Kunftftüde angewandt, um die Unebelichkeit zu verfchleiern. Gehörte der Bater dem hohen Abel an, fo war joldes Berfahren die Regel. Bei der Sammlung ber Beijpiele für diefen Braud fand ich einen Tauffchein, der nicht nur für die Kenntniß des Verjchleierungverfahreng merkwürdig ift, jondern auch fonft Aufmerkjamfeit verdient.

Es iſt bekannt, daß der Herzog Karl Auguft zu Sachjen-Weimar zu Karoline Zagemann ein Verhältnig unterhielt. Die ſchöne Scaufpielerin ge- bar dem Herzog am fünfundzwangigiten Dezember 1806 einen Sohn, der am ochtzehnten Januar 1807 getauft wurde. Der Zaufjchein, den ich kürzlich im Ktirchenbuch der weimarer Hoftirche entdeckte, lautet:

„Nr. 482. Des weiland Herzogl, Sächsz. Raths und Bibliothecarii allhier Herrn Chriftian Joſeph Jagemann nachgelaszenen eheleiblichen zweiten Tochter eriter Ehe Sophia Carolina Jagemann Söhnlein ift gebohren Donnerjtags den 2öften Dechr. a. p. und Sonntags ald den 18ten Januar a. c. nachmittags 12 Uhr von dem H. Sherconfift. Rath Günther im Haufe getauft worden. Er erhielt in der Heiligen Taufe die Namen: Karl von Wolfgang.

Die hohen Zaufpathen waren:

1. Sr. Ereellenz Herr Johann Wolfgang von Göthe, Herzogl. Sid. Geheimer Rath allbier.

2. Herr Chriftian Gottfried Theodor Ortmann, Herzogl. Sigf. Kammer⸗ rath allhier.“

Als nachträgliche Zuſätze ſind in das Kirchenbuch geſchrieben:

1. neben den Namen „Karl von Wolfgang“ der Vermerk: „Geſtorben in Dresden am 17. Febr. 1895 als Generalmajor”;

2. am Ende: „Statt der unrichtig eingetragenen Vornamen der am 25. Januar 1777 geborenen Mutter Sophia Karolina Dorothea muß es zu Folge der vom Großherzoglichen StaatSminifterium unter dem 3. Juni 1875 angeordneten Berichtigung: Henriette Starolina Friederica heiszen. Sdil: ling, Hofkirchner.“

3. „Vorgenannte Henriette Karoline Friderife Jagemann war die unterın 16. Mai 1809 als Frau von Heygendorff geabelte Sängerin und Schaufpielerin am Theater zu Weimar, die ſich nach dem Tode des Großherzogs Karl Augufts nad) Dresden zurüdzog und dort am 10. Juli 1848 ftarb. Nachrichtl. W. Schilling.“

35

466 Die Zukunft.

Der Zäufling ift, wie der Zujaß ganz richtig jagt, der als kdniglich fähfifher Generalmajor am fiebenzehnten Februar 1895 zu Dresden verſtorbene Karl Wolfgang von Heygendorff, der alfo feinen einen Vornamen Karl nad feinem Bater Karl Auguft, den anderen, Wolfgang, nad) feinem Pathen Goethe erhielt. Unrichtig ijt in dem legten Zujat die Angabe des Wusfertigungtages ber Verleihung des Adels an Henriette Starolina Friderika Jagemann. Am fechzenten Mai 1809 wurde nämlich nicht fie, fondern ihr und des Herzogs Karl Auguft natürlider Sohn Karl Wolfgang vom Herzog geadelt, nachdem die Mutter ſchon am fiebenundzwanzigiten Januar 1809, als Geburtstagsgefchent, den Abel unter dem Namen „rau von Heygendorff“ erhalten batte.

Bemerfenswerth ift auch in diefem Taufichein die Verjchleierung der Un ehelichteit. Keim Wort deutet diefe Thatfache an. Selbſt der in folgen Fällen häufig vorflommende Vermerk „unehelich“ oder „spurius‘ ift vermieden. De gegen ift in dem Tauficein aus den Vornamen: „Karl Wolfgang“ ein „Het von Wolfgang“ mit dein Bornamen „Karl“ gemadt und dem Leſer anheim- geftellt, jich zu denken, weldyer „Herr von Wolfgang” der Vater des Täuflings und der Ehemann feiner Mutter fei. ,

Diefe Vorgänge find in Goethes Tagebüchern nicht erwähnt, wohl aber in den Briefen. Am fünfundzwanzigiten Dezember 1806, alſo am &eburtätag des Stnaben, jchreibt Goethe an den Herzog:

„Ew. Durdil. hätte fo gern ſchon lange nach jo manchen Uebeln ein erfreuliches Wort zugerufen; aber erſt heute gefällt es dem Heinen Ritter, feinen Wolfsgang ins Leben anzır treten. Er jcheint geſund und wader, brav wird er auch werden; denn jo hat et ſich ihon verbunden mit der Mutter in jenen Schredenszeiten gehalten.”

In der zweiten Hälfte de3 Januar 1807 ſchreibt Goethe einen Brief en den Herzog. Am einer Nachſchrift heißt es: „Die Heilige Handlung iſt ver gangenen Sonntag früh um Eilf anjtändig und heiter vorgenommen Morde, wobey wir cs an den beiten Wünjchen für Ihr Wohl und Ihre Freude nicht fehlen laſſen. Alſo gejchehe es!” Diejer Brief fol, nach der weimarer Ans gabe, die Tagesbezeidnung: „15. Januar 1807* tragen. Iſt diefe Angabe richtig, jo muß die Nachſchrift erſt am neunzehnten Januar früheſtens zugelegt fein. Die Taufe fiel, wie der Taufſchein lehrt, auf den achtzehnten armer, der thatſächlich ein Sonntag war. An der Nichtigkeit der Tagesbezeihnung im Kirchenbuch ijt nicht zu zweifeln. Goethes Nachſatz giebt obendrein aud einen Sonntag als Tag der Taufe an.

Dieſe Feftftellungen geben mir nun noch Gelegenheit, auf ein ſpaßhaftes Verſehen hinzumweijen, das in der weimarer Goetheausgabe in Bezug auf dit Abfendungzeit oder auf den Inhalt eines anderen Vriefes von Goethe an den Herzog untergelaufen ift. Diejer Brief ift unter den Briefen des Jahres 5 aufgeführt und trägt hier die Nummer 5254 Als vermuthliche Zeit der fendung find die Tage zwijchen dem neunzehnten und dem fechgundzwanzi Sktober® 1806 angegeben. Der Brief enthält den Saß: „Den neuen, | ! erwarteten Ankömmling Babe ich gejehen; er ijt wohlgebildet und hat eine Farbe und verjpricht, zu leben. Mlöge er, wenn er einft die Welt erfenn. luftiger finden, als jie uns nun ericheint! Ich bin zu alt, ihn einzuführen

Goethe als Pathe. 467

/ vielleicht kann ich ihm noch Etwas werden. Auch bie Zimmer der Mutter find wieder ordentlich hergeftellt und anjtändig und bequem, bank ſey es der Tifchler- fertigfeit, die da3 zerfchlagene und zerftoßene Holz bald wieder in Reſtauration gebracht haben”.

Nah ben Anmerkungen der Weimarer Ausgabe joll ſich diefer Sab des Briefes auf „einen Sohn Karl Aunuft3 und der Frau von Heygendorf” (ber Name ift richtiger mit zwei f zu jchreiben) beziehen. Zum Ueberfluß ift in ber Anmerkung noch auf die vorhin erwähnten Stellen aus ben beiden anderen Briefen bingewiefen. Alfo: der Brief fol zwilchen dem neunzehnten und dem fehsundzwanzigften Oftober 1806 geichrieben jein. Goethe jagt barin, er habe den „neuen, lang erwarteten Antömmling” gefehen. Der ift aber erjt am fünf- undzwanzigiten Dezember 1806 geboren. Das iſt doch höchſt jonderbar. Es giebt keine Begabınkg, die ich dem unjterblichen Dichter nicht zutraue; aber die Fähigkeit, zwei Monate vor der Geburt einen neuen Weltbürger zu jehen, jogar zu willen, daß er „wohlgebildet” iſt und „eine gute Farbe hat”, muß ich ihm doch ab- ſprechen. Da iſt alſo gar fein Zweifel möglich: entweder ijt die aus Bermuthungen bergeleitete Zeitangabe der Weimarer Ausgabe für die Abſendung des Briefcs falfch oder der „neue, lang erwartete Ankömmling“ ift nicht Karl Wolfgang von Heygendorff. Nun ergiebt, wie mir jcheint, die Faſſung Goethes, daß es id nur um einen nahen Verwandten oder einen Sprößling des Herzog oder um cinen Sprößling Goethes handeln fann. in naher Verwandter des Herzogs, ben Goethe in dieſer Zeit gefehen haben könnte, ift damals nicht geboren worden; das jüngfte und legte Kind Goethes, die nach drei Tagen verjtorbene Kathinka, fam im Sabre 1802 zur Welt; alfo kann nur Karl Wolfgang, des Herzogs natürlider Sohn, gemeint, der Brief alfo nur nach dem fünfundzwanzigiten Dezember 1806 gejchrieben fein. Daß er vor dem achtzehnten Januar 1807, dem Tage ber Taufe, gejchrieben ift, ſcheint mir die Vergleichung feines Inhaltes mit dem der beiden anderen Briefe zu ergeben. Die jelbe Tyolgerung ergiebt id aus folgender Ueberlegung. Am neunzehnten Dftober 1806 hatte ſich Goethe mit Chriftiane Vulpius trauen laffen; in dem Briefe vom fünfundzwanzigften Dezember 1806 jchrieb er dem Herzog darüber: „Da man der böjen Tage ſich oft erinnert: jo ift e$ eine Erheiterung auch der guten zu gedenden und manderley Epochen zu vergleichen, jo fiel mir auf, dasz heute vor fiebzehn Jahren mein Auguft mich mit feiner Ankunft erfreute. Er läszt fid) noch immer gut an und ih konnte mir Ew. Durdl. Einwilligung aus der Ferne verfprechen als ich, in den unficherjten Uugenbliden, durch ein gejebliches Band, ihm Vater und Mutter gab, wie er es lange verdient hatte.“

Es iſt ganz unbegreiflich, warum Goethe in einem angeblich zwiſchen dem neunzchnten und ſechsundzwanzigſten Dftober, aljo unmittelbar nach feiner Trauung gejchriebenen, noch dazu, wie der Inhalt beweist, höchſt vertraulichen Brief ſeinem Jugendfreund die Thatſache feiner Verheirathung verfjchwiegen und fte ihm erft zwei Monate fpäter mitgetheilt Haben follte. Die vermuthete Zeit— beftimmung iſt fiher falſch. Man fragt fi) auch vergeblih, wie Goethe es machen follte, in diejen Tagen an den Herzog einen Brief abzuſchicken, da er etwa am einundzwanzigiten Oktober an Knebel jchreibt: „Vom Herzog weiß man nichts.”

Großlichterfelde. Dr. Stephan Kekule von Stradonitz.. 3 35*

408 Die Zuhmft,

Das gelbe Pulver.

Een der Mann Jahre lang gelitten hatte, jchrieb er an jeinen Ar Seine Schrift ift faum wieder zu erfennen; er ſchrieb unter Schmerzen und Qualen.

„Mein lieber Doktor!

Es ift nicht mehr zum Aushalten. In legter Naht nicht eine Minute geichlafen. Das Herz tobt oder will ganz ftehen bleiben. Und biejes jchredlide Bohren! Und biefer abfcheuliche Efel! Und diefe Hinfälligkeit, Hoffnunglos! Ind die Schmerzen im Magen, im Rüdgrat: zum Wahnfinnigwerben! Ic bar Sie gejtern kniefällig und ich bitte Sie heute um Gottes willen: geben Sie mir was, das ich einjchlafen Fan. Um mid) gefund zu maden, haben Sie kein Vüttel: es giebt keins; ich bin morſch durch und durch. Aber ein Dlittel haben Sie und viele Mittel, daß ich kann einfchlafen für immer. Ich bitte Sie bei Allem, was Ihnen heilig ift: feien Cie barınherzig. Und wenn Sie bie That nicht auf fich nehmen wollen, fo vergefjen Sie Etwas bei mir, ein Fläſchchen, ein Pulver, ih werde nußen, auf meine Berantwortung. Das größte Gift habe ich ja längit in mit, das vergiftete Blut. Heilen Sie mich, Doktor, und laffen Sie mich einiclafen. Ich bin Herr meines Lebens und verfüge darüber; wen geht Das an? Ich ml eriöjt fein und ich fann nicht aufhören, zu bitten: Erbarmen, Erbarmen!“

So jchrieb der Krante an feinen Arzt. Als er verfihert war, daß ir Brief im Poftkaften lag, athmete er ſchwer auf. Nun ifts entſchieden. Abe was wird geihehen? Wird der Doktor fchreiben: Alfo, in Gottes Namen, wen Sie die Verantwortung tragen, ich will Ihr Leiden enden. Oder wird er lagen: Das iſt freveldaft, was Sie verlangen. Sie müffen, was die Natur über Cie verhängt hat, tragen, wie es taufend Andere thun, die nicht minder leiden al: Cie. Ihr Verlangen fann nimmer erfüllt werden. Was wird er fchreiben?

Allein der Doktor fchrieb nichts und fagte nichts. Er kam, wie gemöhnlid, zu jeinem Kranken, fagte, wie gewöhnlich, feine berubigenden Worte, daß ſein Körper nur fo verweidlicht, fo widerſtandlos und wehleidig, fein Geiſt jo muthles fei. Und gegen die rheumatischen, neuralgifcden und anderen Schmerzen veridri: er die lindernden Mittel, wie immer. Cinmal, als er bad von der Apotheke gr holte Fläſchchen mit der grünlichen Flüffigkeit in der Hand Hielt, fagte er mit bedeutiainem Ton: „Ich denke, mein Lieber, Das wird Ihnen gut thun. Abend, wenn die Schmerzen-unerträglich werden follten, nehmen Sie etwa fünf Tropfen zu fih, nicht weniger!“ ... Der Kranke ſchaute ihm ſcharf in die Augen; bie zueten faum mertlid. Im Uebrigen betrug fid der Arzt wie gemöhnlid und ging gelafjen davon. |

Am Abend begann, wie immer, das graufame Bohren im Haupt, der Hält ichmerz, das Angſtgefühl. Der Kranke ftarrte auf das grünliche Fläſchchen, fi ® jeine Sand danach aus, nahm es aber nicht. Er griff zu den anderen Mitteln, ? estajchen und Pulvern noch herumftanden, und nahm fie nach der Vorſchrift " Aber die Dual ftieg, er krümmte fich und ächzte und langte nach bem Flaͤſch Weniger als fünf Tropfen nicht, Hatte der Arzt gefagt. Der Kranke ließe ! einzigen Tropfen auf das Silberlöffelhen heraus, goß ihn auf bie Zunge ) versuchte vorjichtig den Geſchmack. Oelig und bitter; aber ex bemerfte & !

Das gelbe Pulver. 416%

Wirkung. Der Arzt hätte e3 wohl jagen müſſen. Er nahm zwei, nahm drei Tropfen: er merkte an feinem Zuftand feine Aenderung; die Schmerzen tobten wie immer. Alſo in des Himmels Namen! Er goß fünf Tropfen auf ben Löffel; und mit bebender Hand ſchüttete er fie in feine Gurgel. Nichts änderte fih. Die Schmerzen tobten und waren unerträglid. Knirſchend nahm er das Fläſchchen und trank es aus. Nichts geſchah. Nur fchlief ber Kranke nad) einer Weile ein Wenig ein, mit den Schmerzen mengten fich beängftigende Träume und dann erwachte er wieder in feiner dunflen, qualvollen Einſamkeit. Es waren ja wohl nur gewöhnliche Kirſchlorbertropfen geweſen, mit einem halben Promill Blaujäure, und der Arzt erweilt ihm nicht die innig erbeiene Barmherzigkeit.

Wieder vergingen die Tage. Der Arzt fam und wechfelte die Mittel und Hatte manchmal ein wunderliches, geheimnißvolle8 Benehmen, das ben Kranken beunruhigte. Am Ende befinnt er fih doch noch. Mit Hoffnung und mit Miß⸗ trauen nahm er jebe neue Medizin, fade Tränklein, widerliche Pulver, Bittere Villen. Doh wenn die Qualen nicht geradezu furdtbar waren, nahm er am Liebften gar nichts. Er Hatte fein Schreiben an den Arzt ſchon bereut. Dieje Ungewißheit! Ob er num eine Medizin nahm, eine Speiſe oder ein Getränk: wer bürgt ihm dafür, daß nicht der Doktor jein Gift Bineingelegt hat? So war zur Reibespein noch eine Seelenqual gefommen, eine immerwährende Todesangft ohne Tod, ein unerträglider Zujtand.

Und eine® Tages, als es wieder arg war, als wieder der Arzt an feiner Seite jaß, klammert der ranfe feine mageren Finger an einander und fagt: „Barum, Herr Doktor, haben Sie mir noch immer die Bitte nicht erfüllt?“

„Welche Bitte, mein Freund?”

„Sch Hätte es längft Überftanden. Sonft, wenn Sie mir nicht helfen fonnten, hatten Sie feine Schuld; es Liegt nicht in bes Menſchen Macht. Meine Lebenskraft iſt aufgebraudt. Uber nun Sie meinen Wunſch kennen und ihn nicht erfüllen, find Sie verantwortlich für mein Leiden. Sie können mir helfen und thuns nit. Sie laffen mid num ſchon Monate lang binfterben und, jtatt daß es fchnell vor fi ginge, tun Sie, daß es langjam geht. Die Qual ver- längern: Das allein liegt noch in Ihrer Madt. Sagen Sie mir doch wenig- ftend, daß Sie mir meine Bitte nicht erfüllen wollen, damit ich weiß, wie ich dran bin. Vielleicht finde ich dann noch felbft den Muth, mich beſſer zu beiten. Sp reden Sie doch!”

Hierauf fagte der Arzt: „sch will wohl reden, lieber Freund, aber id fann Ihnen nur mein Staunen ausdrüden. Sie haben mich in Ihrem Schreiben gebeten, Sie zu vergiften. Welcher Arzt wird nicht entrüftd fein, wenn ihm ein Mord zugemuthet wird? Ich aber, willen Sie, war nicht entrüftet. Sch dachte: wenn die Krankheit unbeilbar tft, weil alle Kräfte zur Neige gehen, dann it es ja wirklich gewiflenlos, ihn jo lange leiden zu lafien. Man giebt ja fein momentan und heftig wirfendes Mittel, aber man giebt ein nicht minder ſicheres, das ſacht betäubt und lähmt und auflöft. Und Das, lieber Freund, hören Sie, Das habe ich Ihnen gegeben! An jenem Tag, als ich Ihnen die gelben ‘Pulver daließ, habe ich in Gedanken von Ihnen Abjchied genommen. Morgen, dachte ih, wird nur nod ein bewußtlojes, verlöjchendes Geſchöpf daliegen. Aber Sie, der fo leidenschaftlich um den Tod bettelt, Haben die Pulver ja garnicht genommen!“

470 Die Zutunft.

„Die gelben Pulver vor einigen Tagen? Die in blaues Papier gervidelt maren? Die fo widerlich ſchmeckenden gelben Pulver? Die habe ich genommen‘“

„5a, und wahrſcheinlich zum Fenſter hinausgeworfen!“

„Bu mir genommen! Ganz nad Borfchrift, jede Stunde ein Pulver!“

Der Arzt blidte den Kranken betroffen an. „Sie hätten bie Pulver ein genommen?! Gie hätten dieſe Pulver in der That eingenommen?“

„Aber ganz gewiß!“

„Ich meinte anfangs, als Sie am nädjften Tage noch lebten, daß id mich vergriffen hätte, und verfuchte ein ſolches Pulver an meiner alten Haustate. Das Thier verfiel in Starrframpf und verendete am zweiten Tage.“

Der Kranke fchnellte aus feinem Lehnſtuhl auf.

„Ich hätte... Sie hätten mir Gift gegeben?!“

„Und Sie hatten troß Ihrer Zufage nicht die Güte, zu fterben.” Gereizt war der Doktor, geradezu aufgebracht. Lebhaft fuhr er zu fpreden fat: „Sie wollen krank fein? Ein Simulant find Sie und nichts Anderes! Eit Organismus, der von biefem Pülverchen nicht einmal ein Bischen Zudungen befommt, ift fchon ein bartgefottener Sünder!“

„Dann bin ih eben fchon zu ſehr tobt, um noch ordentlich fterben # tönnen”, antwortete der Kranke bitter.

„Sie haben Galgenhumor“, fagte der Arzt. „Doch ich verfichere: Zi haben Grund zu wirklichem Humor. Wenn Sie fi} nicht geradezu vor eine Eile bahnmaſchine legen oder in einen Hochofen fpringen, fo erreichen Sie Mriw ſalems Alter. Erzählen Sie nad hundert Jahren meinen greijen Urenteln, daß Sie mich, den Urgroßvater, erfucht hätten, Sie zu vergiften. Vielleicht if einer davon Staatsanwalt und läßt Sie nachträglich noch einjperren.”

„Ich weiß nicht, Doftor, wag Sie reden!“

„Bei meiner Treue, wenn Sie, Sie unheimlicher Menfch, die gelben Pulver wirklich verzehrt haben! ... Aber nein, Sie irren ſich wohl nur od renommiren ...“

„Bei meiner Seele Seligkeit! Ich habe die Pulver gegeſſen!“ |

„Dann find Sie immun. Dann ift Ihr fogenanntes Leiden nur die Folge überſchüſſiger Kraft, die nirgends hinauskann, weil fie nicht bethätigt wird Werfen Sie doch Ihre Kleinkunft, den Plunder, zum Satan und werden Orb ſchmied oder Maurergehilfe oder Arbeiter auf einem Frachtenbahnhof und [lagen jeden Sozialdemokraten tot, ber es auf Achtſtundenarbeit abgefehen hat. Sir bedürfen feiner Naft, Sie vertragen feine, Sie Urelement, Sie, Sie... 1%

denſch, ich ſchweige!“

Der Arzt reichte dem Kranken mit großer Geberde die Hand. Dieſer war blos verblüfft. Er war einer von Denen, die in ſolchen Momenten aid) A willen ob..., und deshalb Das annehmen, was ihrer Neigung entiprid

In der nächſten Nacht bohrte es wieder im Kopf, grub und kramp wieder in der Bruft, zudte es wieder in allen Nerven, aber nicht ganz fo Id m wie jonft. Wenn man weiß, daß es nur das Rumoren ber überfchüffigen ft ijt, erträgt mans wejentlich leichter, al8 wenn e8 das lebte Krampfen de u gehenden Lebens bedeutet. Am nächften Tage nahm er den Spaten md M in feinen Gemüfegarten. Zum Umfallen war ihm, fo ſchlecht, aber er #

Sfrael Zangmwil. 471

um. Er begann, zu graben und Erde zu jchaufeln; jeine Glieder empörten ich über die Zumuthung und thaten rajend weh, er aber dachte: Ihr Habt das gelbe Pulver ausgehalten, Ihr werdet aud) das Bischen Anjtrengung aushalten! Und fie bieltens aus. So trieb erd nun mande Stunde und manden Tag; und je mübder er fich arbeitete, um jo ſchwächer war das Bohren in feinem Haupt, dag Krampfen in feinem Magen, das Zwaden in feinen Nerven. Natürlid: weil die Kraft anderswo aufgebraudt wurde. Das Vertrauen zu fi und feiner Kraft wuchs immer mehr, bis er fi) das förperliche Urbeiten jo angemöhnte, daß er dabei blieb und allmählich vergaß, einmal frank geweſen zu jein.

Der Doktor aber hält feit diefem alle feinen Puder, mit zerrtebenen Harzlörnern vermifcht, für ein ausgezeichnetes Heilmittel; denn man macht daraus die gelben Pulver. Das Pulver kann Übrigens auch wriß fein oder roth, aus Maismehl ober aus gerichenem Kalt, aus was immer, wenn e3 nur mit der gehörigen Dofis Suggeftion verfegt wird. Den Kranken ein Heilmittel zu jug- geriven: Das ift nicht mehr neu. Doc glauben zu machen, daß der muthloje Kranke noch ſchwere Bifte zu befiegen vermöge: das Kurſtück bat mein Doktor erfunden. Seine Abrefle mag ich allerdings nicht angeben, weil man nicht willen darf, wer unter den Schlauen der Schlaueſte ift.

Bra}. Peter NRojegger.

Iſrael Sangmill.

—— Logiker haben uns gewöhnt, den Engländer als den Praktiker auf⸗ zufaſſen. Er kennt, heißt es, keinen Gefühlsüberfluß, er iſt ganz Mann der Thatſachen. Er hat den Stil geſchaffen, der nach der Forderung Klopſtocks gleich dem Gewande der Badenden dem Körper anliegt. Wenn wir den Wegen des Kritikers Ruskin folgen, müſſen wir aus tieferliegenden Quellen ſchöpfen. Nach ihm ſchreibt jede Nation ihre Autobiographie in drei Manuſkripten: in dem Buch ihrer Thaten, ihrer Werfe und ihrer Kunſt. Verjuchen wir, ben Charalter des Engländerd aus jeiner Literatur zu analyfiren, dann hilft uns das Kennwort „der Praktiker“ nicht vorwärts. Vor den Gefühlsſchätzen, die fich bier offenbaren, erfennen wir jchnell, daß der bequeme Logiker die Welt nur um ein Schlagwort bereicherte. Eben fo ergeht es uns mit ber Erfahrungfülle auf dem Gebiet der bildenden Künjte. Hier konnte eine Malerfchule erblühen, bie als höchſtes Ziel alles Schaffens die Antenfität des Gefühls proflamirte. Bon hier aus fonnte fi präraffacliicder Einfluß über alle Kulturländer ergießen. Er konnte, in und troß dem realijtiichen Zeitalter, ein feitbegründetes Bollwerf der Romantik aufrichten. Gerade auf dem Boden des Inſellandes ift ein üppiger, faft exotiſcher Flor religiöfer und wiljenfchaftliher Myſtik erblüht. Einer ber jtärkften Romanfchriftiteller des heutigen England, Iſrael Zangwill, faßte die Doppelfeitig-

472 Die Zukunft.

feit der Bollsnatur in ein Wort zufammen, das er in ein Autographenalbum ſchrieb. Sein fategorijcher Imperativ lautete: Träume und handle. (dream and do). linter ben modernen Parnassiens Englands findet bejonders die aktive Seite diefes Prin zip8 ihren Ausdruck. Aber ſelbſt unter den Praktikern zeigen fih ausgeprägte Reig- ungen für das Träumen. So entjtehen denn wunderliche Doppelnaturen wie Alfred Stevenjon und Rudyard Kipling.

In Bangwill find beide Kräfte in gleicher Stärke ausgebildet. Seinen Hang zur Romantik hat man aus der Thatſache feiner orientaliichen Abitammung hergeleitet. Aber Zangmwill ift vor Allem Dichter; und ald Dichter hat er, jenieits von allen Vererbungtheorien, das unerklärliche Etwas feiner Weſensmiſchung empfangen. Den praftifhen Gradfinn des Engländers weiß er in feinem eraften Sehen, in der Klarheit des Ausdrudes zu beweiſen. In den Bereich der frei Ichweifenden Phantafie entführt er ung und Hält uns doch energiich an die Sad Lichfeit gebunden. Zangwill zählt heute zu den standard authors in England. Sein Werk bat Vollsausgaben erlebt und ift in die Tauchnitz-Bibliothek ge drimgen. Bon der Höhe feines Ruhmes blidte er einmal zurüd und jagte, die Popularität eines Preisringers werde billiger erivgrben. Aber feine Popu⸗ larität wurzelt doch in den Schichten der Denkenden. ‚Die vornehmen Literaten tadeln die Graßheiten jeiner Ausdrudsweije, gewiffe architektoniſche Mißbildungen feiner Stompofition; das Niveau feines Geiftes aber ift auch ihnen das höchſte innerhalb der Gilde aller lebenden Schriftiteller. Den Vorwurf der Weitſchweifig feit muß er mit den meilten feiner großen Berufsgenofien theilen. Trotzdem gerade unfer Beitalter der Weltpolitik reif ijt für einen Strafparagraphen gegen die Redſeligkeit, jcheint das Gejeg ber Knappheit gegen das Weſen des Romans zu verftoßen. Zangwills Breite entftammt niemals einem geiftigen Stoffinangel: nie ijt er, nad) Tiecks Nubrizirung, zu den Verbünnern cher als zu den Dichten zu rechnen. Er überladet vielmehr feine Schilderungen und Geſpräche mit einem Ueberreichthum des Willens. Er befigt das Füllhorn der Abundantia, das nut die ganz Großen ihr Eigen nennen. Mit der auszeichenden Marke ber knappen Technik wird heute eine Reihe von Geiftesproduften verfehen, die nur den Ruhm der Gejchidlichfeit verdienen. Tadellofer Rockſchnitt täufcht über innere Defekte. Die Meifterwerfe der Weltliteratur zeigen uns blühende Fülle in wallenden Gewanden. Der Faltenwurf verhüllt und enthüllt ihre Leiber wie ber ber Par- thenonftulpturen die föniglidden Gebilde des Phidiad. Homer und Goethe waren nie vollendete Techniker im Sinn Maupaflants; Rembrandt und Tizian |paren in der Bollreifezeit ihres Schaffens nicht engherzig die reihen Mittel. In dei Beſchränkung zeigt ſich erit der Meifter, aber nur in der Beichränfung, die aus der Fülle geboren wurde. Zangwills Graßheiten find nicht fortzuleugnen. Man findet fie in al feinen Schöpfungen. Neben Momente reinfter Poeſie und ethifcher Hoheit ftellen fih diefe Allzumenfchlichkeiten. Ste werden nidt m Unredt als Schladen des Herkommens erfärt, ald Zeichen eines gewiſſen Parven thumes, das die Drillardeit zum Gentleman durchſchimmern läßt. Zangw begann feine Laufbahn mit einer politiihen Satire. Er hat dann humoriſtiſe Bücher geichrieben und eine großartige Ghettoliteratur gejchaffen. Dann gab ung einen bedeutenden Künſtlerroman und neuerdings iſt er wieder zur politild Satire zurüdgefehrt. Noch jteht er in feiner beten Schöpferzeit, am Ende

Iſrael Zangwill. 473

dreißiger Jahre. Es iſt anzunehmen, daß ſein Genie ſeinen Ruhm noch mehren wird. Heute, wie vor dreizehn Jahren, als er ſeine Laufbahn begann, lebt der Künſtler dem gleichen Motto: „Einſam, ſchweigend, ſorgenvoll und ſtark.“ Da= mals hatte er mit der bitteren Noth, mit troſtloſem Familienelend und, als Abtrünniger, mit der Verachtung der Glaubensgenoſſen zu ringen. Heute iſt er anerkannt. Er bat den Seinen und ſich ein Heim im vornehmſten Künitler- viertel Londons eingerichtet, er reift durch die Welt, aber er bat fich nicht ver« ändert. Etwas Müdes, Trauriges liegt Aber ihm, wie damals. „Die Unfterblid- feit?" fragt er; und antwortet feufzend: „Man muß ihretwegen fo fehr viel leben!”

Schon jein eriter Roman „Premierminifter und Maler”, den er unter dem Pſeudonym Yreeman Bell ericheinen ließ, mußte fi dem Gedächtniß ein- prägen. Seit Beaconsfields Tagen hatte man eine ähnliche Fähigkeit deforativer Phantaftif nicht erlebt. In diefem eigentgümlichen Gemiſch aus piychologiicher Mitrofofpie und wagemutbiger Hypotheſe, aus Realpolitif und Dichterinfpiration, aus Highlife- und Lorlife-Elementen war für die Eingeweihten bejonders bie Sicherheit eritaunlich, womit der Sohn bes Iondoner Ghettos auf dem Parquet des Hochadels einherſchritt. Man bewunderte den geiftreihen Einfall, in zwei Hauptgeſtalten des Buches nur einen einzigen Mann zu portraiticen. Zangwill hatte in dem ftreng Tonfervativen Premiermintjter und dem radifalen Stuben- maler einen merkwürdig doppelfeitigen Staatsmann gleichjam in zwei Hälften zerlegt. Ein Widerfpiel ſehr realiftiicher und jehr romantiſcher Situationen verbarg die Abjicht, bis fie fchließlich, nach allerlei Myſtifikationen, offenbar wurde. Man fühlte fih wie im Bann einer halsbrecheriſchen Gymnaſtik, die trogdem totficher ihre Aufgabe loöſt. Ein Reiz des Buches lag auch in der Ent- dedung, daß noch andere Tagesgrößen binter Verichleierungen erkennbar wurden. Der Leſer genoß die Wonnen diskreter Indiskretionen.

Aber diefer literarifche Erfolg Half dem Autor zu Feiner Eriitenz Er mußte das Joch des Journalismus weiterfchleppen. Die Schellenfappe begann er zu fchütteln, daß die Glöckchen Elangen. Man belachte feine Iuftigen Bücher „Der Junggeſellenklub“ und „Der Altejungfernfiub.“ Man glaubte Zangwill bereit im Hafen der Spaßmacer geftrandet. Das Jahr 1892 war herange- tommen, als jein Buch „Die Kinder bes Ghetto“ erjchien. Hier war ein ganzes Volksthum mit dem Reichthum feiner Typen, feiner Traditionen, feiner alteı und neuen Probleme plöglih an das Tageslicht gerüdt. Man empfand einen ſtarken Pulsichlag in unmittelbarer Nähe, wo bisher nur ſchwache Lebensſpuren undeutlich vernommen worben waren. Das Iondoner Ghetto war entdedt. Nad): barlih batte man bisher mit Menſchen zujammen gelebt, die hinter offenen Thoren ihren Sonderftaat im Staat, ihr Rafjengepräge zäh bewahrt hatten. Mit gleich ficherer Hand zeichnete Zangwill im erften Theil des Werkes das Elend der londoner Oſtend-Juden, im zweiten den Luxus der Weftend-Streife, der entnationalifirten „Großkinder“ des Ghetto. Auf beiden Seiten ftanden Vertreter der orthodoren, der reformirten und ganz freidenkeriſchen Ueberzeugung. Immer blieb des Dichters Objektivität gewahrt. Er geißelt jede Halbheit, alles Pharifäertfum, allen Fanatismus mit Thakerays Schärfe. Er gebietet über den GemüthsreihtHum des großen Didens, wenn es Züge echter Herzensgüte aufzufpüren gilt. Pathetik und echter Humor vereinten fi zu jchönem Bunde.

474 Die Zukunft.

Kunitvoll liefen die Fäden binüber und herüber. Bangwill zeigte die gewaltige Tragikomoedie eines vorwärts brängenden Prinzips im Kampf mit Jahrhunderte alten Borurtheilen. Müde und doch der Zukunft gewiß läßt er Ahasveros vor⸗ wärt3 jchreiten. Alles Leid, allcs Glück der Zujammengehörigleit mit dieler „größten und zugleich niebrigiten aller Raſſen“ wird überzeugend gejchilberı Wie Goethe, fteht auch Zangwill bewundernd vor diefem Prinzip der Beharrlich keit, „Dielen menſchlichen Paradoxen, die fid} jeder Umgebung anpaſſen, auf jedem Arbeitfeld behaupten, die allgegenwärtig find und unzerjtörbar wie eine Natur- fraft.* Diejes Buch fiherte dem Dichter den Hang. Aber es gab auch Aeftheten, die die Ghettoatmolphäre nicht mochten. Beſſer behagte ihnen der 1895 eridei- nende Künftlerroman „Der Meilter”. Die Analyfe einer großen Fünftlernanumr mußte den Dichter loden, dem fie die Möglichfeit bot, feine perfünlicdhe Kunite auffaſſung zu beiten. Er erweiterte diefe Entwickelungsgeſchichte eines be beutenden Malers zu einem glänzenden Bilde des londoner Stunftlebens. Er enthüllte die Geheimnifje einer Genienatur und zeigte fie unter der Einwirkung hemmender und fördernder Beiteinflüffe und Erlebnifie. Aus dem Naturzuftand eines in der Schneewelt Kanadas lebenden Knaben führt die Bahn in den Glan höchſten Erdenruhmes. Die eingeborene Kraft des Genius rettet fi aus falſchem afademilchen Regelzwang. In Sturm und Wirbelwinden der Leidenfchaft bleikt die Loſung: Excelsior!

Die wachſende Unduldjamfeit des Antifemitismus trieb den Dichter in: Judenviertel zurüd, arts Studium ber Geſchichte iraeld. Das neue Bud, „Die Träumer des Ghetto“, jollte die ftärfften jüdiichen Geifteshelden vorführen und bemweilen, daß in diefer Raſſe die Kraft ragender Sulturträger zu finden iit. Alle großen Theologen des Volkes mußten aus dem Dunkel auferftehen un» ih in lebendigen Thun offenbaren. Eine Brüde wurde aus dem Anfang der Beiten bis in die Gegenwart gejchlagen und über fie bin zog die ſtattliche Schanr. Ein einleitendes Gedicht giebt die Grundftimmung bes Riefengemäldes. Moſes und Chriſtus, die beiden Stammesbrüder, begegnen und grüßen einander mit frieblihem Ruf. Uber eine Kirchenhymne und ein Synagogendor ſetzen laut- Ihallend ein: und ſcheu und leidvoll wandern fie auf verjchiedenen Wegen weiter. In fünfzehn Cinzelfapiteln vollzieht fih nun ein chronologiſcher Aufmarſch. Jeder diefer Bruchtheile ift zugleich eine unabhängig in fich geſchloſſene Schöpfung. Wir werden auf den Schauplaß des älteften Ghettos, nad) Venedig, gefüßtt. Ein Knabe verirrt fich hier während der ftrengen Tyaltenzeit aus den Ghetro- manern unter die andersgläubigen Mitbürger. Als Fremdling lehrt er beim; „etwas Größeres war in fein Leben gefommen: das Bemwußtfein eines weiteren Univerſums da draußen”. Die Erjdeinungen Acoſtas, Spinozad, Moſes Diendelsfohns, Heines, Laſſalles, Beacongfields löſen einander in djarafterifti- Shen Einzelnovellen ab. Die Zioniftenbewegung wird auf einem ihrer Kong als idealiſtiſcher Verſuch gekennzeichnet. Im Epilog erjcheint der Dichter fe als Weltreifender auf dem Boden Serufalems. Dort, mo alle Sehnjudt Träumer ihren Ausgang nahm, zieht er die Summe feines Wiflend und Grüb Bemwundernswerth ift für jede Perjönlichkeit das hiſtoriſche Milieun heraı arbeitet. Immer fchmiegt fi) der Vortrag dem Stoff an. Alle Helder Buches träumen den jelben Traun von der Erlöfung des Stammes burd

Iſrael Zangmwill. 475

Miſſion. In verfchiedener Form gaufelt das Phantom durch die Köpfe. In Spinoza iſt es ein pantheijtiicher Kult, in Acofta ein Verftandesideal, in Cab- batäi BZevi der Meffiasgedante, in Mendelsjohn die reformirte Orihodorie, in Heine ein wiedergeborenes Hellenenthum, in Laſſalle der Sozialftaat, in Beacons⸗ field die Torgbemofratie und bei den Sioniften ein neulokaliſirtes Volksthum. Sp weit es mögligd war, bat Zangwill Thatfächliches aus dem Leben feiner Delden zu Grunde gelegt; er fcheut aber nicht das Bekenntniß, daß ihm, bei allem Streben nad hiſtoriſcher Treue, die dichteriſche Wahrheit höher gilt. Gemein fam ift feinen träumenden Helden eine tragiſche Schidjalsbeftimmung. Zangwill erkennt ihre Sehnſucht als unerfüllt; aber dein Optimiften jcheint die Beit reif für einen neuen religiöfen Ausdrud.

Nach der Vollendung biefes Buches muß Etwas von dem weltfremden Zu- ftand der Lotusefjer über den Dichter geflommen fein. Aber feine Xebensparole lautete: Träume und handle. Mächtig regte ſich in ihm der Drang nad) Aktion, als die Kataftrophe des füdafrifaniichen Krieges über England hereinbrach. Hier gab es für den Philofophen ein ſchweres Gegenwartproblem zu meiftern. Er hatte die Wandlung Englands vom Staatsfozialismus zum Weltimperialismus miterlebt und mußte, jeiner Natur gemäß, der Trage nad dem Woher und Wohin nach— denken. In dem Roman „Der Mantel des. Elias“ Hat er feine Anfichten über das legte Vierteljahrhundert englifcher Politik enthüllt. Ein politiſcher Roman, der zugleich anklagt und vertheibigt. Trotz der Bedeutung, die in England die Bolitit im Leben des ganzen Bolfes bet, find dort bisher nur jelten politifche Romane entitanden. Benconsfield Hatte mehr an eine Ausſaat jeiner Ideen als an Menichenichilderung gedacht. Trollop und Dleredith wollten zeittypifche Charak⸗ terbilder. Zangwill erjtrebte frappante Aehnlichkeit, ließ fich aber das Recht nicht nehmen, den Stoff mit Poetenwilllür zu geftalten. Es war nicht jchwer, in dem Idealiſten Marſhmont Gladftone und in dem ehrgeizigen Bob Brojer, dem Jünger des Propheten, Chamberlain zu erfennen. Marſhmont wird als „der größte unbewußte Humbug aller Zeiten”, wie ihn die vox populi im Gegen— lage zu Beaconsfield, „ben größten bewußten Humbug aller Zeiten“, getauft batte, dargeftellt. Brofer ift der brutale Egoiſt, der fi vom republifaniichen Volksvertreter bis zum imperialiftilchen Premierminiſter wandelt. Er thut Alles zum Wohl des Vaterlandes und zugleich zum eigenen Wohl; immer empfindet er ſich als Träger des Prophetenmantels und er ändert den Schnitt je nach der Witterung. Zangwill verurtheilt den ſüdafrikaniſchen Krieg als ungerecht, ent- iduldigt feine Mitbürger aber mit der hiſtoriſchen Beweisführung: „Sohn Bull fieht auf feiner Inſel nie die Leute, die er bedrückt. Er glaubt wirklid, daß er für die Gerechtigfeit fämpft, auch wenn er in den ungerechteften Krieg zieht.“ Sich ſelbſt aber jchildert der Dichter als Lebendig:Toten, deſſen Seele ein Maſſen⸗ grab erjtorbener Gefühle iſt. Doch fein Einpfinden ift nicht tot; und wenn er ſich eines Tages entjchließt, von der Negation zu fcheiden und das Leben froh zu bejahen, wird jeiner gereiften Kunſt noch reicherer Segen lohnen.

Jarno Jeſſen.

476 Die Zukunft.

Selbitanzeigen.

Der Deutfche und fein Vaterland. Politifh:pädagogifche Betrachtungen eines Modernen. Wiegandt & Grieben, Berlin SW. Preis 1,50 Marl. Diefe Schrift will einem lebenskräftigen Patriotismus dienen, ſucht eine Erklärung für die ſchwüle Stimmung, die trog fteigendem Wohlſtand und äußerer Machtentfaltung auf unferer Volksſeele laftet, und findet fie vor Allem in dem mehr und mehr überhandnehmenden Bureaufratisinus und dem engen, polizei lichen Beijt, dem jtarren Formalismus, der all unfer öffentliches Leben, alio aud unjere Schulen zu Überwucern droht. Sie theilt die Anſicht des Herrn Karl Zentih, daB durch die Bureaufratie das eigentlid Berwerfliche an ber Sozialdemokratie, die durch Vernichtung ber Individualität herzuftellende Uni- formität, ſchon weithin verwirklicht worden und im Grunde unfer ſtraffer bureaufratijcher Seift, mit dem man die Sozialdemokratie zu erdrüäden wänidt, recht eigentlich deren Bater jei. Weſentlich Neues will diefe Schrift nicht bringen, wohl aber gewidtige Beititimmen fammeln, aus denen ein Schluß anf das breite Öffentliche Urtheil zu ziehen ift. Ich glaube nämlich nicht, daß Heute „Ruhe die erjte Bürgerpjlicht" if. Mit dem Schimpfen am Biertiſch iſt auch nidht3 gewonnen. Wir müffen den Kampf gegen unbeftreitbare Mißſtände in unjerem Öffentlichen Leben offen aufnehmen, nicht den jchadenfrohen Feinden unjerer Staatsordnung überlaffen, fondern ihnen womöglich den Wind aus dem Segeln fangen. Meine Abficht war, nad meinen Kräften alle wahren Bater- landsfreunde zu eifrigem Kampfe für unjere Kultur aufzurufen und damit zum Kampf gegen alles Beraltete, Morſche, Unhaltbare in unferem öffentlichen Leben. wobei vergleihende Blide auf das freiere Bürgerleben in England bejonders Iehrreich jchienen. Dabei kam ich bejonders auf eine Kritik unjerer Schulver- bältnijfe, die mir troß allen bisherigen fogenannten Reformen einer wahren, gründlichen Reform noch zu bedürfen fcheinen. Darin gerade bat mir bisher das Öffentliche Urtheil mit einer beinahe erftaunliden Einmüthigleit Recht ge geben. Ich gebe ala Beleg nur das Zeugniß eines anerfannten Schulmannes, der über meine Schrift jagt: „Ein friſch gefchriebenes, vortreffliches Bud, vor Allem ſehr nüglih zu lefen für Direktoren und Lehrer höherer Lehranſtalten. Der Berfaffer iſt ein konſervativ gerichteter Gymnaſiallehrer, aber er greift trotz⸗ dem fräftig zu; oder vielleicht gerade wegen feiner Stellung und Auffaflung. Der Berfaffer kennt England und nicht nur die auf dem Feſtland reifenden Engländer. Es wäre gut, wenn alljährli eine Reihe unferer Schulrätbe, Direktoren und Lehrer nah England geichicdt würde, um ihren Blid über bie Extemporalien hinaus ein Wenig auszumeiten und zu lernen, worauf e8 bei ber Erziehung ankommt. Als Vorbereitung dazu kann Gurlitt3 Schrift dienen.“ Belonderen Werth aber wird man auf das Gejammturtheil von Houſton wart Chamberlain legen, ber an mich fchrieb: „Ach verdanke Ihnen einen S vol Genuß und Anregung, voll erniten Denkens und Heiteren Auflachens, ı manchem tieftraurigen bejahenden Zuniden und immer wieder doch mit dem G fühl, daß, fo lange e8 fo klarblickende und friichwollende Deutſche wie Sie gir man doch zuperfichtlich Hoffen darf und joll. Wie fehr ich mit jedem Worte ül einjtimme, das Sie über faljhe Methoden und Beftrebungen der Schule ar

Eeldftanzeigen. 417

führen, fann ich Ihnen gar niht jagen. Wie wahr und wie werth, weiter und eindringlicher ausgeführt zu werden, iſt Alles, was Sie jagen über die Unzu⸗ Länglichleit der Methode, die Beanlagung der Schüler nur nad ihrer ſprachlichen Befähigung oder gar nur nad ihrer Anlage zum Memoriren zu beurtgeilen und fie Dem entiprehend zu befördern!“ Dieſes Urtheil und die Thatjache, daß in fehs Monaten jehs Auflagen meiner Schrift nöthig wurden, laffen’ mich hoffen, dab mein erniter Mahnruf, zu dem ich mich nicht ohne fchwere Selbitprüfungen entjchtießen konnte, nicht nutzlos verklingen werde. Friedrih Paulſen fagt ein: mal: „Nicht, was gejchrieben, fondern, was gelefen wird, ift da8 Entſcheidende.“ Stegliß. ; Dr. Ludwig Öurlitt. Die Belämpfung der feruellen InfeltionfranfHgeiten. Neuer Frank— furter Verlag, Frankfurt a. / M. 1903.

Der Vorſchlag, die anftedenden Geſchlechtskrankheiten auf dem Wege eincs Reichsgeſetzes zu bekämpfen, iſt bekanntlich Ichon oft gemacht worben und auch im Reichstage ijt darliber debattirt worden. Noch nie hat man aber bisher verfucdht, den Entwurf eines ſolchen Geſetzes im Einzelnen fertig zu Stellen. Diejen Verſuch Habe ich num gemadt. Ich bin davon ausgegangen, daß, foll den Ge⸗ ſchlechtskrankheiten wirkſam begegnet werden, man dem däniſchen Borbild die Borjchrift der Bmangsheilung entnehmen muß. Als Storrelat ift aber aud) die Krankenpflege Denen unentgeltlich zu gewähren, die fie fordern. Ferner verlange ih: fakultative Anzeigepflicht de8 Arztes, Verbot des feruellen Verkehrs der Geſchlechtskranken, Negulirung der Proftitution durch ein gerichtliches Ber: fahren ſowohl bei der Aufnahme wie der Entlafjung der Dirnen.

Frankfurt a./M. Dr. med. ®. Hanauer.

Eros. Berlag von Karl Siegismund, Berlin 1903.

Eine Probe: Fromme Seelen. Wenn Sefuitenpater Bonifazius Die Faftenpredigt hielt in Wien zur Ufterzeit, Da jtrömten zu dem auserlejenen Genuß Biel Frauen aller Art herbei von weit und breit.

Der Bater, der noch vierzig Jahre nicht gezählt, Hat ftets nur ernite, philoſophſche Themata

Zu jeinen Auseinanderfeßungen gewählt,

In denen er der Steger Gottverleugnung jab.

Er kämpfte gegen jie mit Tyeuereifer, wild,

Im Namen des dreieingen Gottes Himmelsmacht Und bot dabei mit jeinem dunklen Bart ein Bild Bon Überwältigender, unjagbarer Pradit.

Was er jholaftiih und an Schlüffen ausgeführt, Verſtand von feinen Hörerinnen feine wohl,

478 Die Zuhnuft.

Doc bat des Redners weihe Stimme fie gerührt; So wurb’ er felbjt bald ihr gefeiertes hol.

Ein frommer Schauer riefelte durch ihren Leib, Wenn die jonore Stimm’ von Sünd’ und Buße ſprach, Wenn, wohl berecinet auf das mitleibuolle Weib, Durd Chriſti Leid er fait das Herz den Armen brad). Und doch ward mohlig ihnen bei dem Thränenjtrom, Nur kannten fie der Stimmung tiefre Urſach' nicht. So füllte ſeit Jahrhunderten mand jchönen Dom Nur das Erotifche, das durch das Mitleid bricht. 3 Joſef Öruenittein.

Leffings Leben und Werke. Mit einem Bildnig Leſſings. Stuttgart, Karl Krabbe.

Dieſes Buch wendet fi an weite Sreije; es tit beshalb gemeinverftänd- lich abgefaßt. Seine Aufgabe jah ich darin, die wefentlichen Grund» und Charafter züge des Dichterd und Menſchen Leifing in einem einheitlichen Bilde zufammen- zufaffen. Die Bieljeitigkeit diejes Mannes erfordert zum Verſtändniß auch eime Betrachtung der hHauptjächlichen geiltigen Strömungen, die fein Erdreich beipülten. Der Berfaffer ift dieſer Pflicht eingedene gemefen. Eben fo dürfte der Musilug in die Geſchichte unſerer Mutterſprache von Yuther bis Leſſing Manchem nicht um- willkommen fein. Und die im legten Abjchnitt des Buches gegebene Zuſammen jtelung inhaltlich geordnieter Ausſprüche Leſſfings 325 an der Zahl bilder eine Art Leſſing Spiegel, der das Bild diejes herrlichen Menſchen und erhabenen Geiſtes in jeiner dharakteriftiihen Eigenart wiebergiebt.

Hamburg. 2 Adolf Wilhelm Ernit.

Lieder anf einer alten Laute. Lyrifches Portrait aus dem fiebenzehnten Jahrhundert. Mit farbigem Umfchlag von Franz Naager. Im Juſel⸗ Verlag. 111/, Bogen. Preis 3 Marl.

Dein Bud) ift, wie ich wohl faum noch erft zu verfihern brauche, fein archaijtiiches. ch wende in ihn die Methode, ein Stüd Leben fünftleriich je treu wie nur irgend möglich zur geben, auf die Vergangenheit ar. Urſprünglich nur eine Art Liebhaberei, hatte das Studium der gerade verrufenften Zeit unferer Lyrik mid nach und nad fo gefeijelt, daß es mir ſchließlich Bedürfniß wurde, meine Freude an diefen Dingen, die nun Jon fo lange von Allen vergeflen ſind, auch Anderen mitzutheilen. Als „grauer Theoretiker“ verfiel ich darauf, es nicht durch eine gelehrte Nusgrabung etwa in Form einer Anthologie zu tun, wobei nad meinem Ermeſſen aud) bei durchgefiebtefter Auswahl doch in noch die Hälfte Staub geblieben wäre; jondern ich ſuchte aus einem beſtim Individuum heraus den Eindrud, den id) empfangen hatte, in eigenen Origin. felbitändig und zwar ausschließlich mit den Miteln jener Zeit widerzufpie Diefe Arbeit, deren Ergebniß aljo als Charafter:, Kultur: und Spradbil‘ gleich, aufgefaßt werden will, bereitete mir folden Genuß, daß ich hof- Theil davon wird fid) auch auf meine Leſer übertragen.

Wilmersdorf. * Arno F

Der Kampf um den Profpeft. 479

Der Rampf um den Profpelt.

Dep ern, fo fagt man ja wohl, ift plößlich eine Grundfrage des Börfen- rechtes geworden. Branditifterin: die Diskontogeſellſchaft. Sie hatte den Proſpekt für den Umtauſch der fünfprozentigen rumäniſchen Schatzbonds in eine eben jo hoch verzinslihe Aentenanleihe der Zulaſſungſtelle der berliner Börfe eingereicht. Die Behörde glaubte, gewijle Erweiterungen ber Inhaltsangabe ver- langen zu jollen. An bem jelben Tage, wo von dieſer Forderung gemunfelt wurde, that der Telegraph ber Welt fund und zu willen, die gemünfchten Unter» lagen feien vom rumäniſchen Finanzminiſterium umgehend abgefandt worben. Die Diskontogejellfhaft aber hatte e8 mit dem Umtauſch ſehr eilig: fie wartete nicht, Bis auf Grund des genehmigten Profpeftes die neue Anleihe zum Börjen- Handel zugelaffen war, fondern veröffentlichte etwas einem Proſpekt Aehnliches in den Zeitungen und forderte zur Subffription auf. Als vom rumäniſchen Yinanz- minifterium die nöthigen Unterlagen herbeigefdafft und von der Diskontogeſellſchaft die geforderten Ergänzungen in den Proſpekt eingefügt waren, wurbe er genehmigt. Aber da3 jeltfame Vorgehen der Diskontogeſellſchaft Hatte die Zulaflungitelle jo unangenehm berührt, daß fie die Frage aufwarf, ob eın folches Verfahren über- haupt gejtattet fei und ob die von der Börfenbehörde nicht genehmigte Ankündung einer Wert5papier-Emilfion im Ernſt ein Proſpekt genannt werden dürfe. Intereſſant war dabei zunädit die Haltung unſerer Preſſe. In den meisten Blättern wurde nur ganz furz, ohne Angabe bes Falles, um den es fich handelte, mitgetheilt, welche Frage die Zulafjungftelle erörtert Habe. Nur in wenigen Biättern wurde die Diskontogejellichaft genannt und in noch wenigeren gejagt, was dod gejagt werden mußte: daß die Disfontogejellfchaft in einer kaum noch loyal zu nennenden Weife verfucht habe, eine wichtige Schußbeftimmung de3 Börfjengefeges zu umgehen. Daß die Bulaffungftelle ſich nicht verleiten ließ, den van ihr nicht genehmigten Ankündungen den Namen „Profpekt” abzuſprechen, war richtig. Denn auch nach dem Börfengefeß ift nicht nur das von der Be- börde mit dem Imprimatur Verjehene ein Profpelt; das Gejeg unterjcheidet ausdrüdlich zwilchen genehmigten und nicht genehmigten Proſpekten. Nur für Werthpapiere, deren Proſpekt genehmigt ift, darf ein amtlicher Börfenpreis feſt— gejeßst werden. Der Proſpekt ijt eine Erbſchaft aus den Gründerjahren, aljo eine Einrichtung, die Schon vor dem Börfengejeg beftand. Die Gründer gaben den Aktien, die fie dem Publikum zum auf anboten, gern ein Loblied mit auf den Weg. Der Profpeft wurde möglichſt prunfvoll ausgeftattet. Das war der Leim, auf den die Gimpel gehen follten. Und damit diejer Gimpelfang nicht geitört werde, gab man der Preſſe mehr oder minder reihliche Betheiligungen, um ſie zun Schweigen zu bringen. Da diefer Proſpektunfug die Schwindel» wirthſchaft wejentlich unterjtüßt hatte, verlangten, in der Katzenjammerſtimmung der Stradjzeit, die Börſen, alle Emiſſionen einleitenden Kundgebungen follten ihnen vor der PBublifation zur Begutachtung vorgelegt werden. Die berliner Börjenbehörde hatte jih im Lauf der Jahre gewöhnt, folcde Proſpekte ziemlich Itreng zu beurtheilen, und die Grundjäße ihrer Praxis in den „Leitenden Ge- ſichtspunkten“ der früheren berliner Zulaſſung-Kommiſſion feftgelegt.

480 Tie Zuhmft.

Das Börſengeſetz konnte auf diefem dunklen Gebiet zwei Wege einjchlagen. Die zu ſchaffende Zulafjungftelle konnte zu materieller Prüfung jedes Proipeft- inhaltes verpflichtet werden. Dann aber wäre das neue Börfengejeb mit all den Mängeln belaftet worden, unter denen das alte Aktiengeſetz, das den Aon- zeifiongwang bei der Gründung von Aftiengefellichaften vorfchrieb, gelitten hatte. Wie damals dem furzfihtigen Publikum die fongeffionirende Behörde eine Ar Borjehung fchien, die jeder von ihr genehmigten Altiengefellichaft gewiffermafen die Weihen ertheilte, jo hätte e8 jetzt die Zulafjungitelle alg ein Rabbinat an- gejehen, das nur fofchere, der Geſundheit und dem Seelenheil unfchädliche Werthe pajjiren ließ. Daß diefer Weg vermieden wurde, war ein Glüd. Die Zulaffung- jtelle darf zwar Emilfionen hindern, die erhebliche allgemeine SSnterejien verlegen oder offenbar zu einer Tlebervortheilung des Publikums führen; wo fie aber einer folchen Gefährdung der res publica nicht ficher ift, braucht fie nur dafür zu forgen, daß dem Publikum die Möglichleit gegeben wird, das zur Beurtheilung der bei der Emilfion in Betracht fommenden rechtlichen und wirthichaftlichen NVerhältniffe nöthige Material nah allen Seiten zu prüfen. Das Börjengejeb übernahm alfo aus dem neuen Aktiengeſetz den Grundſatz weitelter Publizität. Auch der Gegner des Börſengeſetzes muß zugeben, daß die der Zu⸗ lajlungftelle vorgezeichneten Normen zu den brauchbariten Theilen bes Geſetzes gehören. Nicht Diilderung, jondern Verſchärfung ift Hier zu wünſchen. Wir das Publikum ausreihend und Öffentlich informirt, dann vermag der Aktien: fäufer, deſſen Verſtändniß überhaupt in diejes der Schulweisheit frembe Gebiet hineinreicht, ſich durch felbjtändiges Lirtheil gegen Uebervortheilung zu ˖ſchũtzen.

Eine ganze Weile aber hat man fih ſchon gewöhnt, neue Wertpapiere zunächſt zu emittiren und dabei zu verjprechen, die Zulaffung der Aftien werke jpäter nachgejucht werden. Die Näter des Börfengefehed waren Optimiſten und glaubten, auf Grund eiries noch nicht genehmigten Proſpektes werde eine öffent: liche Subjfription nicht mehr möglich fein. Darin haben fie ſich getäuſcht. Dian mal war folde Subjfription doch und mit redt gutem Erfolg möglid. Zu loben aber ift diefe Praxis nicht; mit Necht jagt der ficher nicht börſenfeind lihe münchener Profeſſor Walter Log im Handwörterbuchder Staatswiſſenſchaften: „Sollte diefe Praxis häufiger werden, dann würden die Garantien für die Wirt. jamfeit der Bulafjungftelen allerdings ziemlih nußlos werden“ Zum Glück find dieje Fälle immerhin aber noch felten und es entjpricht nicht den wirklichen Berbältnilien, wenn im NReichSanzeiger gejagt wird: „Die Geichäftspraris, die die Emiffionhäufer bei der Ausgabe neuer Werthpapiere beobadten, läuft in vielen Füllen darauf hinaus, daß zunächſt die betreffenden Papiere im Wege einer Zeichnung. Einladung dem Publikum angeboten werden und dab darauf die Bulaffung diefer Bapiere zum Kandel an den Börſen beantragt wird“. Noch waren nicht viele Fälle diejer Art zu verzeichnen und große Häufer wählten " jelten diefen gefährlichen Weg. Manchmal find fie freilich dazız gezwungen; | Beijpiel: bei Kapitalserhödungen von Gejellichaften, deren alte Altien fchon ; Börjenhandel zugelajlen find. Bier müſſen zunächſt die Aktionäre ihr Bez redht ausüben und dann erjt wird die Zulafjung der jungen Aktien beant‘ Bon verschiedenen Seiten, auch von mir fchon, ift vorgejchlagen wo die Genehmigung vor der SKapitalserhöhung nachzufuchen. Das erlaubt

Der Kampf um den Profpelt. 48]

das heute geltende Geſetz nicht; denn die Aktien müſſen voll eingezahlt fein, bevor die Genehmigung zur Zulaſſung ertheilt werden kann. Bier iſt eine Aenderung des Geſetzes nöthig; innerhalb einer kurz zu bemeſſenden Friſt müßte auch für die jungen Aktien die Zulafjung zum Börjenhandel beantragt werden. Und ein neuer Paragraph des Aftiengejeges müßte vorjchreiben: Bei Gejell- Schaften, deren Stammkapital ſchon an einer Börfe gehandelt wird, ift das auf junge Aftien eingezahlte Kapital jo lange getrennt und ſicher zu verwalten, bis die Genehmigung zum Handel auch für die jungen Altien erfolgt ift; wird dieſe Genehmigung aus Gründen der Öffentliden Wohlfahrt verfagt, fo iſt das ein- gezahlte Geld den Aktionären zurüdzuerftatten. Hätten wir 1900 ſchon eine folcdhe Vorjchrift gehabt, dann hätten die Aktionäre der Treber Geſellſchaft und der Preußiſchen Hypothenbanf wenigftens den auf die eben erit bezogenen jungen Aktien entfallenden Theil ihres Geldes noch zu retten vermocht.

Wenn wir von diefen Stapitalserhöhungen abjehen, finden wir nur wenige Fälle, wo die Emiſſion der Zulaſſung voranging. Allerdings klagt die Haute Banque darüber, daß bei Emifjionen, die mit ausländijchen Firmen zufammen gemacht werden, die Braris ber deutſchen Zulaſſungſtellen die Emiffion in Deutſch⸗ land verzögere.e Das mag für die betheiligte deutfche Firma nicht gerade an- genchm fein, giebt ihr aber natürlich nicht das Recht, eine Schugmaßregel des Börfengefeges zu umgehen. In der Frankfurter Beitung las ich ſtaunend den Sag: „Es dürfte doch ein Unterſchied zu machen fein zwilchen folgen Fällen, in denen die Zulaſſung Überhaupt für unjicher angejehen werden muß, und anderen, bei denen e3 fi nur um das Verlangen einer leicht zu befchaffenden Ergänzung Handelt.“ Diefer Anfchauung widerſpricht die Grundtendenz bes Brojpeftzwanges im Börjengefeß; nicht darauf fommt e8 an, ob bie Ergänzung leicht oder ſchwer zu beſchaffen, jondern ganzallein darauf, ob die Ergänzung wichtig ilt; und die Untwort auf diefe Frage hat nur die Zulaffungftelle zu geben. Fehlt eine von der Zulaffungftelle für wichtig gehaltene Auskunft im Proſpekt, fo tft er unzulänglih und der Zweck des Geſetzes wird nicht erreicht, der befürchtete Uebelftand nicht vermieden.

Schon die Thatjache, daß eine Firma auf Grund eines nad ihrem Be⸗ lieben verfaßten Proſpektes ein Werthpapier emittirt, verdient ernfte Rüge. Die Diskontogeſellſchaft aber hat, während die Zulaſſungſtelle Über den von ihr ein» gereichten Projpekt berieth und entichloffen war, ihn für unzulänglich zu erklären, diejen felben Projpeft dem Publikum vorgelegt, um es zum Nentenfauf zu animiren. Das war nicht nur ein Verfud, das Börjengefeg zu umgehen, fondern geradezu eine Verhöhnung der Zulaſſungſtelle; die beite Antwort wäre geweſen, die Zulajjung um mindeſtens ein halbes Jahr hinauszufchieben. Was hätte man gejagt, wenn nicht Herr von Hanſemann, jondern weiland Hugo Löwy ſolches Manöver gewagt hätte? Jetzt ſchweigt die Preſſe. Und in den jelben Blättern, deren politijche Redakteure eben erjt die rumäniichen Finanzen pechſchwarz malten, las man ich nehme das Berliner Tageblatt aus vor der Emiljion im Handelg- theil Artikel und Notizen, denen ber unfundige Thebaner den Glauben entnehmen mußte, rumäntjche Rente fei das feinfte Papier, das zu haben if. Plutus.

482 Die Zulunft. Notizbuch.

St Bülow hat | were Tage. Der Triumph über die Rotte Korum, ben feiner >) Leute Lebereifer ihm zufchrieb, hat nicht lange vorgehalten. Bon allen Seiten ſieht er fich jeßt bedrängt; und bie fihtbaren Gegner find nicht die gefährlichiten. Täg- lich wird in irgend einem deutſchen Barlament, einer Paftorallonferenz oder Bolks- verjammlung gegen bie geplante Wegräumung des Jeſuitengeſetzes ein dröhnender Beichluß gefaßt. Schon lafjen viele Bundesregirungen verlünden, daß fie Preußens Untrag ablehnen werden. Warum mußte der Kanzler auch allzu früh die Snftruftion der preußiichen Stimmen ausplaudern? Die Leute fogar, die in jchönen Bruft- tönen fonft für Rechtsgleichheit und wider jegliches Ausnahmegefeb donnern, Freifchen nun laut, als drohe von Loyolas wilder, verwegener Jagd Allgermanien Lebensge⸗ fahr. Natürlich wird fi im Deutfchen Reich nicht viel ändern, wenn bie der Geſell⸗ Schaft Jeſu Angehörigen nicht mehr aus dem Bundesgebiet gewieſen noch in beftimmte Orte und Bezirke gepfercht werben fünnen. Oder glaubt ein Erwachſener, Denjchland jet jeit breißig Jahren von Jeſuiten frei? Wähnt ein Ungeblendeter, im langen Or⸗ denskleid und flachen Krempenhut fei Ignatii frommer Sohn ein ſchlimmerer Feind als in Moderod und blankem Eylinder? NurderBundesrath audbaran muß hente Bergeplichkeit wieder erinnert werden hat bisher die Bejeitigung bes Yusnahmege jeßes verhindert, die von der Reichstagsmehrheit oft gefordert wurde. Uber die Zeit it dem Plan nicht günftig. Die Centrumshäuptern gefpendete Gnabenfülle hat bie Evan⸗ gelifchen beunrudigt. Daß der Stanzler den für den Yall des trierer Bifchofes zu⸗ ftändigen Richter in Rom ſuchte, gab auch Unfronmen ein Aergerniß. Alter Un- muth iſt wieder erwacht und manche Partei, die mit dem Brotwucherruf zu verhungern fürchtet, hofft, mit antiklerifalem Schlachtgelchreibefjere Wahlgejchäfte zumachen. Sc ward ein Feuerchen angefacdht, das unſchädlich bald wohl verglömme, wenn nicht non oben her in die Funken geblajen würde. Koftbare Bälge find in Bewegung. Und dem arınen Kanzler erjcheint in bangen Nächten der Weiße Mann. So gut hatte ers ge meint! Lichnowsky, Arenberg, der ſchwarze Salon am Königsplag, die Exſpiritiſten der Kamarilla: eine wundervoll gefügte Organijation, bie nie verjagt. Wer fol denn bie neuen Kähne bewilligen, die Koſten herrlich fieghafter Weltpolitil, Handels- verträge, Stanonen, Kanalund Alles, was plötzlich etwa noch gewünſcht, eritrebt werben fönnte? Ohne das Centrum find wir ja doch ſchachmatt. Und jeßt fol das mühſam geihaffene Werk Sünde fein. Jetzt wird dem emfigen Reichsfeuilletoniſten nad geziichelt, auch fein Schwiegervater Minghetti habe den offenen Kampf gegen die Bapftmacht gefcheut; im Kanzlerhaus berriche italienijcher Geilt,; und wenn es jo weiter gehe, jollteman lieber gleich einen Nuntiusan die Spree rufen. Enttäuſchung. Fein gelponnene Intriguen. Unterirdiicher Damenkrieg, den ein mädtiger General⸗ ftab leitet. Graf Bülow hat fchlaflofe Nächte und muB fi vor den Gäften zu !

gewohnten Lächeln zwingen... Da, endlich, ein Trojt in trauriger Zeit! 9

Kanzler drüdt auf den Ktlingelfnopf. „Bier; zu fehneller Verbreitung.“ Lob

der ruſſiſchen Prefje auf Deutſchlands Gedeihen. Ungeahnte Fortſchritte nach al

Seiten. Die ganze Welt bewundert bie lückenloſe Meiſterleiſtung ftaatsınännijd

Kunſt. Solche Erfolge wären unter Bismard nicht möglich gewefen. Das

Attachélächeln ijt wieder da. Draußen prüfen Geheime und Wirkliche Geheime

Preßertraft. Das wird nicht wirken, meinen bie Klügften. AusKopenhagen bezog

Notigbuch. 483

grinſt Einer; fol für Die Befuchszeit die Temperatur erhöhen. Ein Anderer zieht die Brauen hoch: Das ſchmeckt nicht nach Dänemark; der Handelsvertragsichadjer ſoll beginnen undSergej Julitſch legt die Guirlanden bereit... Das ſchnell Verbreitete bleibt unwirkſam. DasLächeln weicht wieder. Das Grübchen verjchwindet. Wechjelfieber. Der berbeigeflingelte Profefior verfchreibt Chinin. Entjeßlich! Diefes Mittel kam vor zwei⸗ bunbertunbjechzig Jahren aus Peru, ein Kardinal brachte eg beikomern und Römer- innen in bie Diode, aber der alte Spaniolenname blieb: Polvo de los Jesuitos, * *

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Herr Dr. Rudolf Breiticheid fchreibt mir:

„Irgendwo [as id) einmal eine recht amufante Schilderung ber tragikomiſchen Erfahrungen eines empfindfamen Reifenden, der Wien vor der 1859 erlaflenen freieren Gewerbeordnung beſuchte. An feiner Garderobe hatte ſich ein Defekt her- ausgeftellt und als jparfamer Hausvater wollte er fi) daran machen, den Schaden eigenhändig zu repariren. Er ging aus, um bie nöthigen Utenfilien einzufaufen; aber da von Zunft wegen verboten war, einen Gegenitand feilzuhalten, zu deſſen Anfertigung man den Befähigungnachweis nicht befaß, jo mußte der Fremde von Hinz zu Kunz laufen, ehe er das Bischen Handwerkzeug beifammen hatte, defjen man bedarf, um einen abgeriffenen Knopf zu erſetzen. Im Übrigen Deutichland lagen um diefe Zeit die Dinge nicht mehr ganz jo jchlimm wie in dem armfälig reaftionären Deiterreich; aber e8 ift befannt, daß nicht allzu lange vorher auch hier ähnliche Zu: ftände herrfchten. Weberall war mit dem Verfall des mittelalterlichen Handwerkes leerer Schematismus an die Stelle von urfprünglich geſunden und fraftuollen Orga⸗ nifationen getreten. Das Kleingewerbe fuchte das Heil, das es in fich ſelbſt nicht mehr fand, in der ftrengen Beobachtung tradittoneller, aber unzettgemäßer Formen. Die Sroßinduftrie ermachte langjam und begann, ihre Slieder zu reden. Das Handwerk, das feine Kraft verthan hatte, ahnte den gefährlichen Feind, dem es nach Art aller rüdftändigen Schwädhlinge burch um fo zäheres Tyefthalten an überlebten Regeln zu begegnen fuchte; und während der Gegner eritarkte, ſchwächte es fich ſelbſt, indem es den Glauben an die Lieberlegenheit einer Waffe lehrte und nährte, Die doc nicht3 war als ein Kinderſäbel in der Hand eines ſchwachen Greiſes. Die freie, nicht zunft⸗ gemäße Arbeit wurde mit allen Mitteln unterdrüdt und mit ängftlider Sorgfalt ward darauf geachtet, daß nicht das eine Gewerbe bie Grenze überfchreite, die e8 von dem anderen trennte. Dem, der Spinnroden anfertigte, war verboten, Flaſchenzüge berauftellen; für ben Grobbäcker war es ein beinahe todeswürbiges Vergehen, Weiß—⸗ brot zu baden und feilzuhalten; mit kindiſcher Eiferfucht wurden die wirklichen oder angeblichen Intereſſenſphären bewacht und die beitallten Zunftmeifter betrieben die Jagd auf die Pfuſcher und Störer, die ‚Bönhafen‘, wie einen Sport, der willlom- menge Abwechſelung in das jtumpflinnige Einerlei ihres Lebens brachte. Un biefe Zuftände erinnern mich manche Erörterungen, die ſich an die Babel und Bibel be- handelnden Vorträge des Profeſſors Friedrich Delitzſch geknüpft haben. Da ſind auf dem Gebiete der Wiſſenſchaft wieder einmal zünftleriſche Velleitäten laut geworden, ähnlich den Forderungen, die vor hundert oder zweihundert Jahren die Blüthezeit des Handwerks künſtlich verlängern wollten. Wie das Handwerk ängſtlich den Schema— tismus der Zunft hütete, jo tönt es jetzt beſorgt von den Lippen der Theologen, daß die Religion doch ihre Formen brauche, und das liberalere Zugeſtändniß, dieſe Formen könnten nicht unveränderlich ſein, erregt banges Kopfſchütteln oder gar Empörung.

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484 Die Zukunft.

Herr Delitzſch wird als ‚Störer“ gebrandmarlt. Die Theologie ſucht ihn in Miß⸗ fredit zu jeßen durch den Hinweis darauf,daß er nicht den von der Zunft der Gottes gelahrten vorgefchriebenen Befähigungnachweis erbracht hat; er gehört einem um deren, natürlich minderwerthigen Gewerbe an: wie Tann er fich da erbreijten, tie von ben weifen Meiftern forgfältig gezogenen Grenzen zu überfchreiten und Pro dukte feilzuhalten, von deren Herftellung er als Zunftfremder Doch fdhlechterbinge nicht8 verfteht? Das ‚Schufter, bteib bei Deinem Leiften‘, das der Staijer ‚unjerem guten Profeflor‘ mild abweijend zurief, wird bei den Bunftfanatifern ſchnell zu dem wilden Geſchrei, das die Jagd auf den Bönhafen einleitet. Der Afiyriologe bat fich eines llebergriffes in das Gebiet der Theologie ſchuldig gemadt! Auf die Schwanfenden und Zweifelnden wird der Rorhalt, daß Der, deffen Worte ſie gefangen nehmen, nicht die ber Ordnung gemäße Qualifikation befißt, zu reden, feine Wirkung nie verfehlen; und er hat den weiteren Vortheil, im Kreije der Fach genofjen bei ben Leuten, die fachlich mit dem Kollegen von ber anderen Fakultät über- einftimmen, die berufliche Eiferfucht zu erweden. Wenn man die tadelnden Säge lieft, follteman glauben, der Affyriologe fei in einevon der feinigen durch Abgründe getrennte Wiſſenſchaft eingebrochen und habe dort verſucht, altüberfommene Syiteme mit frevler Hand zu ftürzen. Und was ift die Wirklichkeit? Um Eins glei vor- weg zu nehmen: Herr Delißfch hat, wie der Brief des Kaiſers berichtet, Die Gottheit Ghrifti in Zmeifel gezogen. Aber diefe Frage wurde in einer Privatgeſellſchaft erörtert; und die Anfertigung von Gegenftänden für den eigenen Bedarf oder au& Ichließlich als Probe der Kunitfertigfeit ging felbft die alte Zunft nicht an. Nur in Dem, was der Profeffor durd Wort und Schrift der Deffentlichkeit zugänglich ge macht bat, kann nach den Indizien eines Uebergriffesin die Gerechtſame eines anderen Handwerkes gefucht werden. In jeinem zweiten Vortrag, in dem er, vielleicht im Glauben an die Zuftimmung des Kaifers, etwas mehr aus fich herausging, hat der Profeſſor mit ein paar nicht gerade wie Fanfarenſtöße Elingenden Sägen fein Zweifeln daran Ausdrud gegeben, ob das alte Teftament den Charakter ‚offen barter“ oder von ‚offenbartem‘ Geift durchwehter Schriften behaupten werde, und diefe Zweifel ergaben fich mit Nothmendigfeit aus den Prämiſſen. Das Thema der Vorträge ftand in enger Bezichungzu theologifchen und dogmatiſchen Fragen. Sollte da der Redner an den Grenzen feiner Aſſyriologie plöglich Halt machen, follte ihm nicht erlaubt fein, die Schlußfolgerungen zu ziehen und offen auszuſprechen, bie jedem denfenden Menjchen nah lagen? Nun fagt man: einem ‚gewaltigen &enie‘ hätte man die Grenzverletzung gejtattet, aber Herr Deligfch fei diefes gewaltige Genie nidt. Gewiß: der Profeſſor, dejfen Darlegungen der Altmeifter der Afiyrivlogit, Julius Oppert in Paris, ‚bochtrabende und pausbädige Phrafen‘ nannte, hat nichts Seniales. Aber gehört denn wirflid Genie dazu, Das zu wiederholen, was felbit von zahllojen Theologen ſchon ausgeſprochen ift? Ein Schufter, der feinen Leiiten verläßt und nad) einem in zahlreichen Exemplaren vorliegenden Mufter einen Rod, ein Hemd oder ein Brot herzuitellen verjucht, braucht doch weder Genie noch J

ration. Und wenn Herr Deligfch die Eigenfchaften befäße, die man ihm nicht

Grund abjpricht: die Angriffe wären darum nicht minder heftig. Als er in

afademijchen Antrittsrede die Bedeutung des Studiums ber Univerfalgeidhid

Örterte, jagte Schiller: ‚Wer hat über Neformatoren mehr geichrien als ber

der Brotgelehrten? Wer hätt den Fortgang nüglidder Revolutionen im M-'

Notizbuch. | 485

Willens mehr auf als eben Diefe? Jedes Licht, daS durch ein glüdlihes Genie, in welcher Wiljenfchaft es fei, angezündet wird, macht ihre Dürftigkeit fichtbar; fie fechten mit Erbitterung, mit Heimtüde, mit Verzweiflung. Stein bereitwilligerer Steßermacher als der Brotgelehrte.‘ Es tft nun einmal fo: unfere Brottheologen bajchen nach den Mitteln, deren ſich die verfallenden Zünfte bedienten; fie verfechten mit ihren fchartigen Waffen das Programm ber wiſſenſchaftlichen Handwerker.“

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Ein junger Philoſoph ſchreibt mir:

„Wie Allen, die dem akademiſchen Betrieb nah ſtehen, iſt auch mir bekannt, in welcher Weiſe im Allgemeinen die Doktorpromovirung an deutſchen Univerſitäten bewirkt wird und wie ſehr die Promotionziffern für die verſchiedenen Hochſchulen, je nach dem Ruf der Schwere‘ und ‚Strenge‘, der den Fakultäten anhaftet, ſchwanken. Mit fait Allem, was in dem am fiebenten März bier veröffentlichten Philologen- brief gefagt war, kann ich beshalb übereinftimmen. Noch Eins aber möchte ich betont hören. Der Doktortitel wird ja nicht aus durchſchnittlich gleichen und gleichwerthigen Motiven erworben; die Borausfegungen, unter denen ber Doktorand ins Eramen gebt, find wiſſenſchaftlich und materiell fehr verfchieden. Wie man den Doktor honoris causa von dem rite Promovirten zu unterfcheiden Hat, fo auch zwiſchen dem Promo- venden, ber in einer Wiffenfchaft, deren Staatderamen er gemacht hat, den Doftor- grad erwerben will, und zwilchen den Studirenden, denen die Promotion felbjt und nur fie den Abjchluß der Studien bedeutet. Will man ſchroff und baher mög- lichen Einzelfällen gegenüber vielleicht ungerecht trennen, fo fann man für die weit überwiegende Mehrheit der Fälle von einer Ziertitel- und von einer Berufstitel- erwerbung reden. Offiziell wird diefe Unterjcheidung nicht anerkannt; in praxi aber wird ihr befanntlich von den meisten Fakultäten aller deutfchen Univerfitäten Rechnung getragen. Der Rechtspraktikant oder Referendar, ber lehramtspraftifant und wiffen- ſchaftliche Hilfslehrer, der junge Arzt und jetzt wohl auch der ftaatlich approbirte Ingenieur: fie Alle Haben fchwere Staatseramina Hinter fi) und damit implieite die Anerkennung als wiſſenſchaftlich gebildete, mit fo und fo vielen alademijchen Bier- und anderen Semejtern öffentlich beglaubigte Vertreter ihrer Disziplin. Yür diefe Leute könnte verftändiger Weile der Doktortitel nur einen Werth haben, wenn er auf Grund abjolut neuer, felbjtändiger und bedeutender Fachleiſtungen erworben wäre; dern dag ‚genügende Willen‘ ift ihnen ia ſchon durch das Zeugniß bes Staates diplomirt. Im ftrengiten und beiten Sinn fäme daher dieje Kategorie der wifjen- Ichaftlicd) Sebildeten nur für den doctor honoris causa eigentlich in Betracht. Dem Henunnicht jo. Sondern dag epitheton ornans eines doctoris utriusque oder Der- gleichen fticht mindeftens fo lange angenehm in die Augen, wie man noch nicht Land⸗ gerichtg= oder ſonſtiger Rath irgend einer Klaſſe iſt. Man promovirtalfo. Alle Bromo- tiorordnungen ſchreiben neben der ‚willenjchaftlichenArbeit‘ ein mündlichesKigoroſum vor; esüberfchreitet jelten den Rahmen eines Hauptfaches und zweier Nebenfächer, wo- fürderjeitraum von zwei Stunden zur Prüfung feftgefegt iſt. Ach darfmohl annehmen, dap Jedem zum Bewußtſein fommt, welche Boffe im beiten Fall ein ernfthaft un- ternommenes Examen iſt, dem ein in diefer Willenfchaft längft ſtaatlich Approbirter in einem verſchwindend Kleinen Bruchtheil des Willens unterzogen wird, das dieſer Approbirte in den harten Zeiten jeines Staatserameng zur Verfügung haben mußte. Wer Das aber nicht einficht, darf fich nicht wundern, wenn einzelne Fakultäten von

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486 Die Zukunft.

diefen inhaltlofen Forınalitäten abfehen zu dürfen meinen unb jhlichlich jogar in absentia promoviren. So lange ba8 Schwergewicht diefer Promotionen darauf be⸗ rubt, daß der ftaatlichapprobirte Eraminanbein winzig Kleines fachwiſſenſchaftliches Themen, unter Ausbeutung ber ‚einjchlägigen Literatur‘, auf zwanzig Bis fünfzig Seiten leidlich ernfthaft zu behandeln weiß und baß er dann hauptfächlic im ‚Münb- lien‘ die Nachtontrole der Fakultät gegenüber dem Diktum des Staates ũberdaure: fo lange wären diefe Zierpromotionen am Beften einer einzigen, ftändigen Romil: fion überlaffen, die Tag und Nacht die neugebadenen Staatsvolontäre einer nach fichtigen Nachwäſche unterzöge. Ich wieberhole: Jedem find dieje Berhältnifie und Anſchauungen zur Gewohnheit geworden; nicht zulegt den Fakultäten. Jeder weiß: der junge Arzt, bereine künftige Stadtpraris in Ausſicht nimmt, jchreibt einen völlig gleichgiltigen Stranfenbericht aus feiner Praktilantenerfahrung nieder und „prome- virt‘ damit; feine ‚Ichriftliche Arbeit pflegt er unter Lachen und Pfeifen in den Kater: tagen nad) feinen Staatseramensfeierlichleiten zu verfaflen; fürs „‚Münblide‘ aber och3t er nochmals unter Seufzen und Stirnrunzeln das ſchon wieder vergeflene Mo- terial des Staatsexamens durd), um e8 dann zum zweiten Male endgiltig und beito gründlicher zu vergeffen und den Nachſchlagewerken zu überlafien. Mit Recht, bünft mich. Aber drei Tage danach ſteht dann auf dem Meſſingſchild: Dr. med. Das tft für die Stadtpraxis unentbehrlih. Junge Tandärzte pflegen zu ſchmunzeln und ihre drei» bis fünfhundert Marl Gebühren in ber Tafche zu behalten: bei den Bauern draußen find fie fo wie fo der Herr Doftor. Mutatis mutandis ift8 bei den anderen jungen Staat3beamten gar nicht oder um nur Weniges befler. Wie aber jtcht zum Doftortitel und defien Bräliminarien der junge Mann, dem diefe Prüfung Steat# eramen und Wiflensrigorofum zugleich vorftellen muß? Hat er ich will geredk bleiben und nur fagen: in den weitaus meiften Fällen Theil an der mit Reck mehr und mehr dem Achfelzuden anheim fallenden Doktorenfabrilation? Sein Doktortitel iſt für ihn das in angeftrengter, fcharfer wiffenichaftlicher Arbeit er- reichte Nefultat feiner gefammten Studien. Sein Doktortitel beruht am Ende meift auf einem Bud, das die fonzentrirte Leiftungfähigkeit feiner beiten Jugendjahre zeigt. Und dag mündliche Examen, das er zu überwinden hatte, war meift ein Fragenertraft aus dem weiten Gebiete des Wiflens, das von ihm verlangt wird. Oft find die unheilvoll Euren Eramensminuten bei dem überreiden Stoff für einer jolchen Doktoranden peinlicher und ſchwerer zu beitehen als ein con amore ſich ab: widelndes jchriftlihes Stantderamen. Der Biertitel wird um feiner jelbit willen erftrebt. Es erfcheint dem Petenten lächerlich, fi um ein Haar mehr anzuftrengen, als gerade unbedingt nothwendig ift, um das gewünſchte Stel eben noch zu erreichen. Auf feiner Vijitenfarte pflegt ja zu ftehen, mit welchen Präbdilaten der Titel ge ſchmückt worden ift. Der Berufstitel aber ift faſt ausnahmlos Dualitätstitel. Der junge Philoſoph oder Nationalökonom, Naturforfcher oder Literarhiiterifer werk genau, daß in den allermeiften Berufen, die ihm zugänglid find, eine ſtarke N frage nach Dualitätleiftungen befteht und daß ihm insbeſondere der afademi Beruf nur bei genügend hervorragender Leiftung offen fein wird. Diefe Män wollen nicht Doktoren jchlechtweg, jondern graduirte Doktoren mit ehrenvollen F difaten werden. Man fieht alfo: beide Kategorien tragen ben ſelben Titel und be doch ganz verjchiedene Borausiegungen und Ziele. Daran zu erinnern, war ber d" diejer Ergänzung des beachtenswerthen Philologenbricfes.”

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Notizbuch. 487

Aus einem Brief an den Herausgeber:

Am ſechzehnten Januar 1903 war ein Reiſender genöthigt, von Dresden nach der kleinen Station Gertenbach, zwiſchen Eichenberg und Kaſſel, zu fahren. Da die Schnellzüge dort nicht halten, erſchien als einzig mögliche direkte Verbindung ber

Perſonenzug Nr. 580, ber von Halle abends 10,31 abfährt und in Gertenbad 7,01 .

morgens anlommt. Obwohl im Hendichel (Nr. 347) der Zug als durchgehend be- zeichnet wird, telegraphirte man von Dresden an ben Bahnhof Halle, fragte, ob der Bug durchgehe, und bat um Reſervirung eines halben Abtheils erfter Klaſſe. Die Antwort lautete: ‚Ya. Nur Banzeoups und ohne Bettwäſche‘. Auf der Station Halle ergab fi als erſte Schwierigkeit, das Gepäd durchgehend zu expebiren, weil feine Taxen bis Gertenbach vorgejehen feien und eine Berechnung nad Kilometer: zahl unzuläffig jei. Nach langen Verhandlungen nahm man bad Gepäd an, aber nur gegen Mehrzahlung von weiteren 36 Stilometern, bis Kaffel; das Gepäd bürfe aber in ®ertenbad ausgehändigt werden. Die zweite Schwierigleit fpielte ſich im Zug ab. Der Schaffner erklärte fategorifch, die Reifenden hätten in Nordhaujen morgen32,11 den Zug zu verlaflen, bis 4,27 fi auf dem Bahnhof zu vergnügen und dann in ben felben Coupés bie Reife fortzufeben. Der zu Hilfe gerufene Zugführer erklärte, er wolleverfuchen, ben Reiſenden im Coupe zu laſſen; doch rief der Schaffner beim Schließen der Thür höhniſch: „sch glaube nicht, daß Sie e8 erreichen werden‘. Trotz bieferüblen Weisſagung inftallirtefich der Reifende wiein einem Schlafwagen ; er entkleidete jich, in der angenehmen Hoffnung, bis 7,01 jchlafen zu Fünnen. In Nordhauſen wurde um 2,11 morgens bei jchneidender Kälte, während der Abtheil ſtark geheizt war, die Thür wert aufgerifien und der Stationvorfteher forderte in hartem Befehlston auf, den Wagen zu verlaflen; auch die Wartefäle, fagte er, jeien geheizt. Daß man, um dahin zu gelangen, eine Falte Treppe auf- und abjteigen muß, bedachte er wohl nicht. Die jehr berechtigten Vorſtellungen, daß der felbe Wagen zwei Stunden fpäter die Reife fortjege und daß die Station Halle telegraphild; das Durchlaufen biefes Wagens beftätigt habe, hatte feinen Erfolg. Der Stationvor- fteher behauptete, er fönne für das Verbleiben des Reifenden nicht die Berantwortung übernehmen, weil ber Zug rangirt werde. So begann der unglüdliche Reijende denn feine Toilette, die er aber noch nicht vollendet Hatte, alö ber Wagen ſich langjam in Bewegung jebte, auf ein anderes Gleis geſchoben wurde und hier fich ſelbſt überlafjen blieb. Nun erlofch auch die Lampe im Coupé und in der Dunkelheit ging natürlich dte Toilette noch langjamer vor fih. Endlich war der Reiſende fir und fertig ange: zogen und erwartete einen Sepädträger, um, gemäß dem drafoniichen Befehl des Stationvorftehers, der jehr weit entfernten Wartehalle zuzuftreben. Uber Niemand kam auf feinen Ruf; und nad) zwei qualvollen Warteftunden jeßte fich ber Wagen gen Kafjel wieder in Bewegung. Der Reijende litt an einem ſchweren Brondial- fatarrd. Er ınußte, nach der telegraphiichen Antwort, glauben, daß er in einem durchgehenden Wagen ans Ziel kommen werde. Was fagt Herr Budde dazu?“ * *

%

Um den greifen König Georg nach langer Krankheit zu grüßen, ift der Kaiſer nad Dresden gereijt und die Monarchen haben Reden gewechfelt, deren herzlicher Ton überall gern gehört worden ift. Daß der Kaiſer gerade jeßt, nach dein eflen Quifen- lärm, bein Haupt der Wettiner eineHöflichfeit erwies, war von Elugem Takt empfohlen. Ehe der König von Sachſen gen Süben fuhr, ſprach er feine Landsleute in einem

ta.

488 Die Zuknuft

Erlaß an, deſſen ſchlichte Würde dic beiten Zeiten deutſcher Monarchie ins Gedãchtniß ruft. Offen redet der alte Herr von dem „jchweren Unglüd”, das ihn und jeine Fauilie getroffen Sat, und bittet mit befcheidenem Stolz um Bertrauen; nicht al König ven Gottes Gnaden, fondern al3 ein Mann, der immer wahrhaftig befunden wurde Der widtigite Saß des Erlaffes lautet: „Glaubet nicht Denen, die Euch vorftellen, daß hinter all dem Unglüdlichen, das uns betroffen hat, nur geheimnißvoller Zus und Trug verborgen fei, fordern glaubt dem Wort Eures Königs, den hr nie als unwahr erlannt habt, daß dem unendlich Schmerzlichen, das über ung hereingebrochen ift, lediglich die ungebändigte Reidenfchafteiner ſchon lange im Stillen tief gefallenen Frau zu Grunde liegt.” So fpricht ein Sachſenherzog zu feinen Bolksgenofſen. Das Wort muß man fi merken; nicht nur, weil der Borgang ohne Beifpiel in der Geſchichte ift, nein: als das Schlußmwort, das uns endlich von der Luiſenlegende be- freit. Eine großartige Frauennatur, hieß es, habeunerträgliche Ketten gebrochen, frei: willig dein Glanz des Trürftenpalaftes, den nahen Wonnen des Königsthrones ent: jagt und mit dem Recht fouverainer Leidenſchaft fich ein neues, ein erftes Glück zu ſchmieden verfucht, aus eigner Kraft. Leider ſei fie eines Geden und Abenieurers Beute geworden, nicht milder deshalb aber der Barbarenfinn zu beurtheilen, der Dir Mutternicht ans Bett des erkrankten Kindes rückkehren ließ. Yängft weiß mans anders. Die Frau des fächlifchen Kronprinzen, die in den Bräutigam und jungen Ehemann Friedrich Augujt recht nad) der Flitterwochenkunſt verliebt war, ging nicht freiwillig : fie wurde im Arm des Hauslehrers Andre Giron gefunden und mußte gehn, weil fie nicht bleiben durfte. Hätte der Zufall nicht die Oberhofmeifterin in die unverriegelten Freuden des Schäferftündchens gefüärt: die Tosfanerin träge noch heute Titel und Würden. Nicht der Hauslehrer, auch nicht der Zahnarzt war ihre erſte Irrung. Siewar nicht gefnechtet, nicht von harmloſeſter Lebensluſt abgejpertt, Sondern hat in Dresden, in London und anderswo ungenirter gelebt, als Prinzeſ⸗ finnen zu leben pflegen. Nach Allen, was ans Licht gelangt war, fonnteder Gedanke, fie auch) nur auf Stunden ins Mutterrecht heimkehren zu laſſen, nicht auftauchen Und mag Herr Siron ein Geck oder Geldjäger fein: Die nur ihn tadeln, ſollten bebenten, wie weit die ältere Frau feinen geheimften Wünfchen entgegengefommen jein mu, ehe der dürftige Dauslchrer auch nur wagen fonnte, der erjten Dame des König: reiches das leijejte Zeichen wärmeren Empfindens zu geben. Kein menſchlich Füh⸗ lender wird der armen Frau, deren ſchlimmſtes Vergehen nicht der Ehebruch, ſondern das jfandalöje Benehmen nad den Ehebrüchen war, Mitleid verfagen. Nur durd amtliche Reffripte ſpukt noch die Tsreiheit des Willens; Luiſe wurde, was ſie unter deter⸗ minirenden Umſtänden werden mußte. Mit der Mär von ihrer großartigen Natur, von dem Edelſinn der Heldin, die des Weſens Krone nicht brechen ließ, hat man lange genug aber leere Hirne gefüttert. Luiſe von Toskana hat das Haus der Wettiner vor Reportern geſchimpft und verhöhnt und den Angegriffenen dann verboten, die über alles Erfor hinaus beweiskräftigen Alten des Scheidungprozeſſes zu veröffentlichen. Der mußte jpredhen und hat wie ein König geſprochen. Die Legende iſt aus. Wiede mal wurde dem Philijter fein beftes Mienfchengefühl zu ſchnödem Zweck abg Wie oft ſchon? Und wie lange noch? ... Der Dichter, in deſſen mächtigfter S- Unfterbliche verlorene Kinder Himmelan tragen, gab den Deutichen das Xer'

Was Eud die heilige Prepfreiheit

Für Frommen, Vortheil und Früchte beut?

Davon habt Ihr gewifle Erſcheinung:

Tiefe Beia.ıng Öffentlicher Meinung.

Heraukaeher und Nerantmartlicder Menntftenre NM Garden in Merlin __ Nerlan Rise Uufunit ie Si

nn

Berlin, den 28. März 1905. en TUT

Das Blumenmedium.

R", Gerichtshof fo fpricht vor der Erften Straflammer des Land» gerichtes Berlin II ein Anwalt des Rechtes Hoher Gerichtshof: fern ift mir die Abficht, da8 Ergebniß der langwierigen Beweitaufnahme umftändlich zu kritiſiren, fern fogar der Wunſch, mit Worten das Gewicht einzelner Zeugenausfagen zu mindern, durch da8 Gegengewicht meiner Rede die Wagſchalen auf annähernd gleiche Höhe zu bringen und fo zu bewirfen, daß Ihnen ein den Schuldfpruc, hemmender Zweifel bleibt. Auch will ich Sie nicht ins dunlle Gebiet fupranaturaler Bedürfniffe und fupranormaler Tätigkeiten führen, nicht fragen, welchen Werth der preußische Staatsbürger dem Spiritismus, der Theofophie, allen wechſelnden Formen offultiftifchen Dranges beizumeſſen habe. Die Frage ſchon wäre Bermeffenheit; und den Verſuch, ihr in foro die Antwort zu finden, überlaffe ich gern dem Höhen» wahn der Juriften, die ſich als Allverwalter fühlen. Nein: Anna Auguſte Nothe,die Frau eines Keſſelſchmiedes, die hier vor Ihnen fauert, hat keiner⸗ lei mediale Gaben. Mit ihrer Zunge fprachen nie Ruther, Zwingli, Flemming, die Kaiſer Wilpelm und Friedrich. Keines Verftorbenen Geift hat ſich je im ihr offenbart. Die Blumen, Früchte, Zweige, Chriſtusbilder und anderen Gegenftände, die Geifter ihr apportirt haben follten, holte fie aus dem Unterrod. Daran iftnicht zu zweifeln, denn beeidete Ausfagen haden feftgeftelit, daß die Angeklagte die in den Sıgungen verwendeten Blumen felbft eingekauft hat. Eben fo wenig dürfen wır daran zweifeln, daß ihr Manager, der frühere Cognachändler und Reporter Max Jentſch derdas beffere Theil ermählte und dem nicht immer langen Arın der Gerechtigkeit 87

var

490 Die Zukunft.

entlief die Sache als einträgliches Geſchaͤft betrieb. Er fand eine hy rifche Frau von leicht geichmälertem Bewußtſein, eine kränklich ausfehende Frau, deren große, glühende Augen auf ſchwache Sinne wirken; und biete Frau war in der Welt der Dfkultiften fchon berühmt. Aus ihrem Mund iprechen, mit ihrer Hand fchreiben erlauchte Beifter; aus dem Schattenreih ruft fie Geftalten, in denen die Zuſchauer theure Toten erkennen; auf ihr

Haupt regnen Blüthen herab undihrhagerer Fingergreift Früchte, Blumen, |

Zweige aus leerer Luft. Das ift viel, ift mehr, als die berühmteften Medier

vermochten ; Eufepia Paladino felbft ſcheint übertroffen. Die Nachfragefleigt: überall wunſcht man, die Geheimlunſt der neuen Seherin kennen zu lernen. Max Jentſch aus Zittau und Anna Rothe,geborene Zahl, aus Altenburger

bünden fi). Von den Epirituofenzum Epiritismus ift, fo mögen Witzbolde denken, nur ein Schritt. Jentſch treibt das Handwerk ins Große und wird der Ausbeuter der Frau, die hier eine Ausbenterin menjchlicher Dummhei genannt worden ift. Reichthümer erwirbt fie nicht; aber ich will annehmen, daß fie ſammt ihrem Ehemann ein bequemes Austommen hatte. Kann ma dem Ankläger mehr konzediren? Ich könnte mich auf die Gutadıten dr Sachverſtändigen ftügen und da8 Moment der verminderten Buredhnmg fähigfeit, da unfer Geſetz es leider nicht kennt, wenigftens fürdas Strafmak, vielleicht auch für dieStrafart geltend machen. Auch diejen letzten Nothau— gang bedrängter Vertheidiger wähle ic; nicht. Bom Boden der Anklageans, auf den ich mich furchtlos ftelle, fordere ich die Freiſprechung der Angeklagte Anna Rothe, fordere fie im Namen des echtes und der Vernunft.

Ein Jahr lang und länger fchon fpricht man von diefer Sache. Sri dem Beginn der Hauptverhandlung hört man in vielen Gegenden unler Intelligenzſtadt überhaupt kaum noch von Anderemreden. In ganzen Sıöie werden die Prozepberichte verfauft. Nie, heißt e8, habe fich ein ſenſalie⸗ nellerer Prozeß in den rothen Mauern von Altmoabit abgefpielt. Ich mu geftehen, daß mir fürdieverheißene Senfation jedes Empfinden fehlt, dab ich nicht einmal zu erkennen vermag, wo fieeigentlich ftedt. Sind die Thatachen, die ung hier vorgeführt wurden, etwa neu, find fie nicht vielmehr fo typiſch, ſo oft geiehen, daß der Kriminalift Mühe hat, ihnen noch gefammelte uf merkſamkeit zuzumwenden? Mußten wir lange Lenztage hier verbringer zuerfahren, was wir erfuhren? Daß e8 Schlauföpfe giebt, diennebendı fa den Heerftraße ihre Gefchäftchen machen? Daß überfinnlicher Drangn mal in harte Thaler gemünzt wird ? Selbft das „KRulturbild“, von der e⸗

portereifer fo viel zu ſchwatzen weiß, dünkt mich nicht nen, verweilen‘ de |

Das Blumenmedium. 491

trachtung nicht wert. Ya: unter ung leben Leute, denen dieratio, denen das dom Berftand Meßbare längft nicht mehr genügt und die jeden Spukglau⸗ - ben dem Bofitivismus vorziehen. In der Eisregion reinen Denkens erfröre ihr fchlecht genährter Geift ; im Fuſelrauſch entfchlummert er wohlig. Das hätten wir geftern noch nicht gemußt? Typiſch find die Vorgänge, ohne.die Spur individueller Differenzirung die Geftalten de3 Mediums, des Mana⸗ gers und ihrer Kundengemeinde und typiſch ift auch die Entjchleierung des Schwindels. Das Hufteriiche Weib wird von den lauten Erfolgen den Geboten der Borficht entfremdet und die Kriminallommiffare, die ſich in die Sitzungen einfchlichen, Lönnen den Blumenſpuk leicht entlarven. So unge fähr war es immer, wirds immer fein. Neu ift nur Eins: der Verfuch, die gelungene Spekulation auf die Ertragsfähigfeit blinden Glaubens als Be- trug zu ftrafen. Neu und doch nicht in diejem Frühling erft erfonnen. Auch im Januar gab$ eine Senfation, eine wirkliche fogar. Da faß in diefem Hans ein Kurpfujcher auf der Anklagebant. Wenn mir die Aufgabe zuge- fallen wäre, ihn zu vertheidigen, dann hätte ich meine ganze Kraft dafür ein⸗ geſetzt, daß diefer Nardenfötter nur verurtheilt werde, weiler „ohne polizeiliche Erlaubniß Gifte oder Arzeneien, fo weit der Handel mitihnen nicht freigegeben ift, zubereitet, feilgehalten, verkauft‘ hatte. Paragraph 3673; Geldſtrafe bis zu einhundertfünfzig Mark oder Haft. Der Mann wurde des unlauteren Wett- - bewerbes und des Betruges fchuldig geiprochen und auf Jahre ins Gefäng⸗ niß gewieſen. Er habe mehr verſprochen, uls er leiſten fonnte. Das thut ein Wahlfandidat, ein Zeitungverleger, ein approbirter Arzt oder Bazarinhaber fiher nie; und nie hat einer meiner Kollegen einem Angellagten geſagt: Wenn Sie mir Ihre Sache übertragen und den nöthigen Vorfchuß geben, ift Ihre Freiſprechung fo gewiß wie das Amen in der Kirche. Nardenköiter follte betrogen haben, weil er ohne ärztliche Kenntniß, meift, ohne die Frans fen auch nur zu fehen, Rezepte verſchrieb; und erfonntedod) nachweiſen, daß ber Prozentjag der von ihm erzielten Heilungen mundeftens eben jo groß war wie bei DurcdhichnittSdoftoren, fonnte fidy darauf berufen, daß er wie ein richtiger Doktor... Ter Herr Vorjigende will mich unterbrechen: Und ich brauche über den Fall Nardenkötter auch nıcht mehr zu jagen; ich erwähnte ihn nur, um zu zeigen, wohin die Reife gehen foll. Damals forderten Aerzte nicht alle; jo gering jchäte ich den Stand nicht —, jetzt fordern Vertreter offulter Wiffenjchaft die ftrengfte Strafe. In beiden Fällen regt jich die ges kränkte Konkurrenz in heller Wuth., In beiden Fällen foll der Strafrichter leiften, was die Männer der W.jlenfchaft, die doch ein Monopol für ſich 37*

492 Die Zukunft.

heiichen, nicht zu leiften vermochten: er ſoll des Aberglaubens altes Bat wegichaffen. Tas aber fann niemals die Aufgabe des Strafrechtes ſem und würde ihm diefe Aufgabe geftelit, es müßte, bei aller Härte, ohnmächty verfagen. Wer die Anflagefchrift lieſt, mag ſich nad Utopia träumen oder ins Zukunftland der Kommuniften, die ſonſt als Umfturztradhter am Fran: | ger ftehen. Seit wann verbietet unfere Rechtsordnung die Ausnügung ber | Leichtgläubigfeit? Das Biel der anertannten fozialen Ordnung ift, Reh: güter zu ſchützen. Rechtsgüter, fagt Liſzt, find Lebensinterefjen, Coatereffen des Einzelnen oder der Gemeinfchaft. ft Blindheit, Dummheit nenn Sies, wie Sie wollen ein Rechtsgut, ein Lebensintereffe des Einzelum . oder der Gemeinſchaft? Wer einen Blinden zu Fall bringt, bejchädigt, im Gebrauch der Ölieder, in feiner Erwerbsfähigfeit verfürzt, taftetein Rechtegut an. Welches Rechtsgut aber iſt verletzt, wenn der Blinde in den Glauben über rebetwird,er habe fein Augenlicht wiedererlangt ? Wenn eine Witwe, eine Waik aufathmend in die Zwangsvorſtellung kriecht, fie ftehe mit ihrem Mann, wit dem Vater, ber Mutter in engem Rapport, höredielangeentbehrien Stimmen, empfange aus lieber Hand duftenden Gruß? Vielleicht fand des Priefted Wort taube Ohren. Vielleicht war der Glaube ans Himmelreich früh ent wurzelt, die Hoffnung auf ein Wiederfehen am Thron des Herrn ſchon u der Kinderftube verblüht. Glaube ift perfönlichfter Beſitz; und der Wamn. der uns thöricht dünkt, kann dem Nächſten ein ftarker Troſt fein, der einzigt, der ihn auf ſchwankem Grund hält. Gelehrten Richtern brauche ich, fo langt nad) Charcot, nicht noch von der Bedeutung der Suggeftion und Autoiu geition zu reden; und ich bin entichloffen, Alles zu meiden, was meine Nix mit dem Bleigewicht wiffenfchaftlicher und fcheinwifjenfchaftlicyer Argument befrachten, dem Ruf nad) Gerechtigkeit die Refonanz hemmen könnte. Yır warnen will ich, vor dem erften, dem entfcheidenden Schritt auf einem "et warnen, beffen Ende Se, gerade Sie mit Entiegen fügen. Hinter dem Kich ter, der im Namen Gottes, im Namen des Königs Recht fpricht, ftehen An⸗ dere, denen der Glaube an Gott und König Wahn ıft, eitier, längft veraltete Wahn, der nur in lidhtlo en Hirnzellen noch nıftet. Die horchen auf Yhret Spruch. Weider Prediger, daß eseinAluferftehen im Jenfeitsgiebt,r- mancher Talarträger, daß feine Verheißung fich nieerjüllen ann? U, WM die Gottlofen mit derber Fauft nun einen Prediger padten, ihm 1 aus Reden, aus Briefen meinetwegen, daß er die Seligleit, die fe. P preift, nicht glaubt, daß er die Oblate, die er als den Leib des Heilar* Bläubigen reicht, beim Bäder beftellt und gelauft hat, in Maffen,um" |

Das Blumenmedium. 498

zu haben: ift der „Entlarote” dann ein Betrüger? Denken Ste an den großen. Glaubenskomplex unierer fatholifchen Diitbürger, an die Wunderfraft der Gnadenbilder, Reliquien, Heiligen Nöde, an Alles, was der afatholiiche Sinn Aberwigichilt. ft hier Betrug? Man könnte einwenden, indiefen Fällen fehle der „rechtswidrige Vermögensvortheil“, den das Geſetz als Thatbeſtands⸗ mertmal verlangt Fehlt er aber wirklich? Ohne die ulte SIaubensichag- kammer feine Kirche; ohne Kirche keine Bfründe. Der Vermögensvortheil, den die Vorfpiegelung falicher Thatſachen gewährt, ließe fich in jedem der angedeuteten Fälle leicht nachweifen. Nur eben: rechtswidrig wäre er nicht; denn mit unferer Gefellfchaftordnung wurde das Recht geboren, das trans- ſzendente Sehnen menſchlicher Schwadhheit zu ftillen, dem überlebenden Glauben an fupranaturale Kräfte Nahrung zu bieten, aud) gegen Entgelt.

Bon diefem Recht hat die Angeflante auf ıhre Weife Gebrauch ge- macht. Ob fie im Trance: Zuftand ſelbſt glaubte, was ihr Mund ſprach, ob ſie immer bewußt log: ich frage nicht danach, frage hier auch den Minifter nıcht, ob er ſtets Wahrheit fündet, nicht den Heerführer, ob er in vollem Be- wußtſein nicht oft mit falichen Tharfachen Vorftellungen erregt, die ihm felbft oder der von ihm vertretenen Sache nüglich werden können. Frau Anna Rothe hat fein Rechtsgut verlegt, das Vermögen feines Anderen befcdjädigt. Was fie gab, war die zwei oder drei Mark reichlich merth, für die der Einlaß ind Sıgungzimmer zu kaufen war; wie viele YUufionen haben wir Alle ichon weſentlich theurer bezahlt! Was iſts denn,.das wir in Domen, in Wahlvers fammlungen und Schaufpielhäufern ſuchen? Die Wenigften glauben dem Pfarrer aufs Wort, lauichen der tönenden Kandidatenrede wie Heilbringen- der Botichaft, halten die gefchminfte Dame da oben für Maria Stuart. Und doch weht von der Kanzel, von der Tribüne und Bühne tröftend ein frommer Schauber herab und dennod) ſchluchzt im Saal die Menge gebildeter Bürger, wenn Dlaria auıs Schaffotgeführt wird. Die schwache Möglichkeit holder oder fräftig aufrüttelnder Ylufion wiegt unfere Bedrängniß gern mit Gold auf; dieje Möglichkeit iſt ihr jo theuer, daß der höchfte Preis nicht zu hoch jchien: wir ichufen, wir ftügen mit aller Kraft den Glauben an ein Recht, das mehr fein folle al8 der Ausdrud willfürlich herrſchender Gewalt. Und genau die jelbe Möglichkeit fuchteund fand die Gemeinde bei grau Anna Rothe. Bor Ihnen ſitzt eine Frau, die ihre Kunden reell mit Illuſionen bedient hat ; feine Betrügerin: eine Geftalt, wie fie imtrüben Zwielicht unferer Heuchelkultur in bundertfacher Differenzirung zu finden find. Am hellen

Tag erft ſchwindet der lette Spuk... Ich bitte um Ihren Spruch. $

491 Die Zutunft.

Die Lieder der neuen Frau.

ins der flärfiten Argumente der Gegner ber Frauenbewegung ift be > Hinweis auf die bisher dem weiblichen Gefchlecht fehlende kunſtleriſch oder wiflenfchaftliche Schöpferkraft, auf den Mangel an weiblicgen Genie. Und es heißt, der Sache ber Frauen mehr ſchaden als nügen, will man verfuchen, diefes Argument dadurch zu entkräften, daß man die „berühmten“ Frauen aller Zeiten aus dem meiſt wohlverdienten Reich ber Bergeflenkeit heraufbeſchwört. Thatfächlich Halten die Leitungen nur Weniger einer ernſten Kritit Stand; und auch diefe Wenigen können, fo weit meine Kenntug reicht, auf den unverwelklichen Lorber des Genies keinen Anfpruch machen. Begreiflih genug: Jahıhunderte lang fchlief die Piyche des Weibes; zuweilen nur an die Renaiffance fei erinnert, die merlwürdig ftarfgeiftige rasen bervorbrachte durfte fie ihre Flügel regen. Un des Weibes wohl behüteer Kemenate braufte der Strom der Welt vorüber; nur ein leifes, fernes Rauſchen drang von ihm an ihr Ohr. Wo aber die Noth jie herausrig in den Sırmel, da zehrte der mühfälige Kampf ums Daſein all ihre Kräfte auf.

Die Vertreter der Theorie vom weiblichen Schwachſinn pflegen dire Erklärung des Mangels an weiblicher Cchöpferkraft nicht anzuerkennen. De ganze große Gebiet künftlerifchen Schaffens, befonder8 das der Mufil m der Dichtung, fei, fo meinen fie, den Frauen nie verfchloffen geweſen und nichts beweife mehr ihre urfprüngliche geiſtige Minderwerthigkeit als de Thatfache, daß fie trogdem dem Dienfte der Diufen nur felten und aud dam nur in unzureichender Weife ſich weihten. Solche Beweisiührung zeugt, meiner Anjiht nad, von einer wahrhaft barbarifchen Unkenntniß der Ve dingungen fünftlerifcher Produktion. Ein großer Künftler repräfentirt imme eine höchſte Kulturftufe und zu den Bedingungen genialer Leiftung gehör mit in erfter Linie ein hoher Grad pſychiſcher Freiheit. Dem mit tauſend ſchmerzhaften Fıfleln gebundenen Weibe konnte Fein Gott geben, zu fogtt, was es leidet. Der befte Beweis dafür ift, dag das ihr eigenthümlide Ge fühlöfeben, in deſſen Mittelpunkt die Mutterſchaft fteht, trotz feiner Weite und Tiefe nicht zu künftlerifchem Ausdrud fam. Auch ihre Kıebe zum Dann wurde nicht, wie die Liebe de Mannes zu ihr, der Zünditoff kunſtleriſcher Begeifterung. Statt Teffen finden wir bis in die neufte Zeit hinein ein deutliches Zeichen für ihre innere Gebundenheit —, daß fie ſich, fobal ſie Liebeslieder fingt, in die Scele des Mannes hineinphantafitt. Muth g in zur Bejahung der perfünlichen Eigenart; Muth aber ift die Tugend der F n

Nun hat der Befreiungdrang der Frau immer mehr Anhänge * funden; wie weit er im Stande war, eine Befreiung de weiblichen Geil: aus den Feſſeln geiftig:feelifcher SEnechtfchaft fchon heute herbeizuführen:

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Die Lieder der neun Fran. 445

läßt fih am Beſten auf eimem Gebiete der Kunft erkennen, das der Ent⸗ widelung und dem Ausdrucd ber Berfönlichleit den weiteften Spielraum läßt: der Lyrik. Die Zahl der Iyrifchen Dichterinnen wählt von Jahr zu Jahr; das wachfende Bedurfniß, ſich auszufprechen, das mit der Schwatzhaftigkeit ber Frau von ehedem nichts zu thun bat, bedeutet an fich ſchon einen Fort- ſchritt. Es fragt fih nur, ob fie „fih“ ausſprechen. Ein taſtendes Suchen nad Ausdrudsfähigfeit, ein meift fruchtlofer Kampf mit ber hergebrachten, faft allein vom Mann gefchaffenen Ausbrudsform zeigt fi überall. Wer eine Gedichtſammlung nach der anderen vornimmt, wird oft gar nicht und wenn, meift nur durch Yeuferlichleiten daran erinnert, daß der Berfafler weiblichen Gefchlechtes war. Das fcheint mir ein wichtige Kriterium. Da⸗ mit trete ich auch ber allgemein üblichen Anficht entgegen, wonach der Eag: „Sie fehreibt wie ein Mann“ ein Lob fein fol. Der Eintritt der Frau in das geweihte Rand der Kunſt würde nicht3 als eine quantitative Bereicherung bedeuten, wenn fie nicht Neues, Eigenes zu bieten hätte.

Wo find nun die Anzeichen für das Neue, Eigene? In dem dichterifchen Ausdrud der Mutterliebe und der Liebe des Weibes zum Mannes müſſen wir fie zuerft fuchen. Die Mutterliebe kann der Mann dem Weibe nicht nachempfinden: es fehlt ihm dafür die vollkommene Igrifche Darftellung- fähigfeit; und die LKiebe des Werbe zum Manne ift dur Eitte und Kon⸗ vention in das tiefite Dunkel weiblichen Weſens zurüdgedrängt und in ihrer natürlihen Entwidelung fo gehemmt, daß auch der Seherblid des Genies ihre Geheimniffe nur felten zu ergründen vermochte. Und fie felbft vermochte nur felten den Schag ihres Innern zu heben; wenn es ihr aber auch gelang, wenn fie Liebe empfand mit der Bollfraft ihres Herzens, wenn fie fich der Kiebesjehnfucht bewußt wurde, fo veriiegelte Sitte und Konvention ihr ben Mund: fie blieb ſtumm. Chamiſſos „Frauenliebe und Leben“ war typifch für die Art, wie fie zu lieben vorgab und wie der Welt ihre Liebe erfchien.

Die neue Zeit mit ihrem Kultus der fchranfenlofen Selbftenthüllung, ihrem Suden nad) Räthieln und Räthfellöfungen, ihrem vielfach neugierig lüfternen Intereſſe am Weibe konnte nicht ohne Einfluß auf fie bleiben. Werke wie Marie Baihfirtfemd Tagebücher oder Gabriele Reuters „Aus guter Familie“ find Dokumente für den erwachenden Muth zur eigenen Per: ſönlichteit. Da es jedod unter den Frauen nur fo verfchwindend wenige Indwidualitäten giebt, es allen Frauen aber wie eine Befreiung erfcheint, empfinden und fagen zu dürfen, was fie empfinden, und nebenbei dafür be- wundert zu werden, jo war e8 eine felbitverftändliche Folge, daß auch folche Frauen ihre Stimme erhoben, die nicht zu fogen hatten, und andere wieder, in dem Bedürfniß, Etwas zu fagen, der Phantajie und der Originalität: fucht alle Zügel ſchießen liegen. Das beweift vor Allem die erotifche Lyrik der modernen Dichterinnen.

Die Lieder der neuen Frau. 497

Und öffnet weit bie Fenſter, Die Sonne lacht herein:

Boll Licht foll meine Kammer, Mein Herz voll Jauchzen fein!

Auf diefem Muth zur Liebe, diefem Löfen von aller Konvention beruht ein gutes Theil der Emanzipation des Weibes. Sie ftellt dem alten Ideal der [hüchternen Braut, die nur von Seufzern und Händebräden träumt, und dem alten Typus der Gattin, die fich der Liebesfreude ſchämt, falls fie über: haupt vorhanden ift und nicht zur efeln Tiebespflicht entartete, das lebensvolle Bild ‚der Geliebten und Liebenden gegenüber. Sie erhebt den Begriff ber Be: fiebten, den wir ung leider mit bem der fäuflichen Eintagsmaitrefie auf eine fittlicde Stufe zu ftellen gewöhnt haben, zur Höhe reiner Sittlichkeit, die immer mit der inneren Wahrhaftigkeit identifch fein muß. Wie tief aber die Frauen jelbft noch ın der alten Auffafiung befangen find, beweift eine Art ihrer Dichtungen, die man nicht ohne Grund Dirnenlyrik genannt hat. Wäre fie wenigftens als folche wahrhaftig! Aber fie trägt alle Zeichen bes Abſichtlichen und Verlogenen an der Stirn. Ihre Vertreterinnen verwechfeln Bügellofigfeit der Begierden mit Freiheit von der Konvention, oft bis zur Perverfität gefteigerte Züfternheit mit Sinnenfreude; und da es viel leichter ift, die Zunge zu befreien als bie Seele, und jedes moderne ‘Mädchen nad dem Ruhm geizt, zu Denen zur gehören, die „ſich ausleben“, fo erweckt ihr Beifpiel zahlreiche Nahahmerinnen. Marie-Madeleine führte den Reigen an. Sie hat an Prévoſts Demi-vierges, an Louys' Aphrodite und Mirbeaus Jardin des supplices ihre Phantafie entzündet; fie hat Formtalent und eine farbig fprühende Sprache wie kaum ein weiblicher Dichter vor ihr. Das ift eine nicht gering einzuichägende Eroberung, die fie für ihr Gefchlecht gemacht hat. Aber auch die einzige. Denn nur felten findet man einen echten Ton bei ihr. Nicht Liebe feiert fie bier wäre der Dichterin jeder Grad der Keidenfchaft, jeder Ausdrud für fie erlaubt —, fonbern die Lafter der Liebe in all ihren Verzerrungen. Hier einige Proben:

... Ich will jo viel Schmud und fo viel Ylimmer Wie ein uralt heidniſches Götzenbild, Aus deſſen Augen ein dunkler Schimmer Bon ſeliſamen, graufamen Laſtern quillt ... (Aus: Eine Prieſterin der Aphrodite.) Ich ſehnte mich ſo ſehr nach Dir, Nach Deiner Zimmer ſchwülen Düften, Nach Deinen götterſchlanken Hüften, Nach Deiner Ringe goldner Zier. Du lächelſt ſtolz: „Ich habs gewußt“, Und weißt doch nicht, wie ich mich ſehne, Zu graben meine Raubthierzähne In Deine nackte Jünglingsbruſt. (Aus: Ich ſah Dein Bild die ganze Nacht.)

zu mu 2!

498 Die Zukunft.

... Ich gab Dir von dem Gift, das in mir ift; Ich gab Die meiner Leidenſchaften Stärke, Und nen, da Du fo ganz entlodert bilt, Graut meiner Seele vor dem eignen Werte. Sch möchte Inien vor einem ber Altäre, Die ih zerſchlug in frevelhaftem Wagen, Madonna mit den Augen ber Hetäre, Sch felber Habe Dich ans Krenz geſchlagen! (Aus: Kruzifixa.) Wenn aber Hier die Form dem Inhalt gegenüber noch verſöhnlicher flimmt, fo fuchen andere „Dichterinnen” ihr Vorbild noch zu überbieten durch Zalentlofigfeit, durch noch mwöüftere, formlofere Phantafien, hinter der fie ihre Talentloſigkeit zu verfteden glauben. So fagt Frau Elfe Lasker-Schüler: ... Ein Giftbeet ift mein fchillernder Leib Und der Frevel dient ihm zum Zeitvertreib, Mit feinen lodenden Düften Den Lenzhauch ber Welt zu vergiften. Und Marie Stona „dichtet“ : ... Und fällt es mir ein, umprank' ih Dich wild, Und preß Did ans Herz Du Yünglingsbilb, Zerfleiſch Dir liebend die zärtliche Bruſt Sn toll aufjauchzender Nixenluſt, Und zudt Dir im Auge des Todes Graus, Dann lade ih nodh Dein Sterben aus.

Zur pſychologiſchen Erklärung folder Abnormitäten genügt es nicht, auf den mißleit:ten Yreiheitdrang hinzuweiſen; hier begiunt vielmehr das Beobachtungfeld für den Piychiater. Das zeigt ji vor Allem in dem Gedicht: band: Confirmo te chrysmate von Polorofa, einer Fran, die zuerjt von der berliner Literatengefellichaft der „Kommenden* entbedt wurde. Aber fe ift feine „Kommende*: fie ift eine Vertreterin der äußerſten geiftigen und feelifchen Defadence, der lebende Beweis dafür, wie gefährlich Freiheit für Kranke ift. Nichts fpricht deutlicher für das durchaus Krampfhafte im Wefen biefer Dolorofa als die Verquidung von Küfternheit und Frömmigkeit m ihren Dichtungen. Es ift eine alte Erfahrung, daß unbefriedigte Frauen in der Myſtik Erſatz fuchen für das ihnen Fehlende. ch erinnere nur an Ehriftine von Schweden, Anna Marie Schurmann und fo mande Ani Auf der einen Seite fommt ihnen der Katholizismus mit feiner Fugen rüdjihtigung der Bebürfniffe der Sinne, auf der-anderen der Spiritisi und alle feine Vorgänger entgegen. Dolorofa beraufcht ſich förmlich an Myſterien der Kirche. Sie ſchwelgt in Weihrauchdüften, Orgelllängen, Sünt beichten und Dornenfronen. Und von hier aus fteigert fie fi) in ihrer hyf

Die Lieder ber neuen Grau. 4099

fhen Phantafie 6i8 zum Blut- und Schmerzensraufh. So fagt fie im „Jardin des supplioes* (hier bie deutliche Spur des franzdiifchen Borbildes): ... Du entfachteft die fchlummernden Brände In mir zur efitatifchen Inbrunſt der Liebe; Laß mich küſſen, mein Yürft, Deine graufamen Hänbe Fäür das jubelnde Glück Deiner PBeitichenhiebe .... Und an einer anderen Stelle: Und als ih mid in feinem Griffe wand Und ftöhnte unter feinen Peitſchenhieben, Da bat mich jetne ſchöne, feite Hand , Mit einem graufam.jüßen Lieb beichrieben; Das ſchluchzt und fingt in mir feit jener Beit, Das glüht in meinen blutgen Wundenmalen, Das Hohelied ber rothen Grauſamkeit, Das Hohelied der Schmerzen und ber Dualen.

Üebrigens: dem „blonden Fürften“ begegnen wir ſchon bei Maries Madeleine au ein dem Pſychiater befanntes Zeichen einer ins Hyſteriſche gefteigerten weiblichen. Eitelfeit und einer Abart des Groößenwahnes, nur mit dem Unterfchied, daß fie ihm peitiht. Dolorofa aber kreuzigt ihn und fagt:

O D Du! wenn Du leideft am Kreuzespfahl, Mit blutendem Leib, zerrifien vor Schmerzen, Dann will ich den rothen Wein Deiner Dual Trinfen aus Deinem zudenden Herzen... Ich werde die Qualen, die Dich verzehren,

Mit todestrunfenen Bliden ſchauen: Die Leidenihaften, die mich zerftören, Schreien nad) Blut und Mord und Grauen...

Jedem, dem hieraus der patholegifche Charakter diefer Wefensäußerungn noch nicht Mar geworben ift, tritt er aus dem Tetten Abfchnitt des Buches deutlich hervor. Hier Löft ſich ihre Lüfternheit völig in Frommigleit auf; fie fingt Palmen zu Ehren Jehovahs, feiert Zion in altteftamentarifchen Tönen und jubelt dem Meſſias, dem Erlöfer Iſraels entgegen.

Für die Beurtheilung des modernen Weibes find Abnnrmitäten dieſer Art nicht ohne Werth. Sie find natürliche Yolgeerfcgeinurgen einer Be— freiung aus Jahrhunderte langer innerer Gebundenheit, einer Freiheit, die als ein fremdes Reis auf den alten, verdorrenden Stamm der Mädchen: erziehung aufgepfropft wurde und fo entarten mußte. ‘Der Frau fehlt nicht nur die geiftige Schulung, fondern auch die fefte Grundlage fitilicher Selb: ftändigfeit, die fie erft zur Freiheit fähig macht. Aber noch eine andere Er⸗ tenntniß gewinnen wir aus diefer Lyrif: fie zeritört die verbreitete Annahme von der urfprünglichen Verkrüppelung der Sinnlichkeit im Weibe und zeigt, welche Irrwege vielmehr die unterbrüdte, am natürlichen Ausleben verhinderte

500 Die Zukunft.

weibliche Sinnlichfeit gehen muß und immer gegangen ift; nur fehlte bisher der Muth, von ihnen zu reden.

Noch nach anderer Richtung bin läßt fich Aehnliches beobachten. Die Iandläufige Anücht ift, daß zwar im Mann mit dem Eintritt der förperlicen Reife gefchlechtliche Bedürfniſſe fich geltend machen, Bedürfniffe, Die, nad der Meinung Bieler, fo ftirfe find, day ihre Nichtbefriedigung Förperliche und geiitige Schäden bewirken fol, daß aber für das Weib durchaus nicht daB Selbe gilt. Wo fi Anmandlungen davon zeigen, gelten fie für krankhaft bei den Nachichtigen, für lajterhaft bei den Moraliiten; von der Nothwendig— feit ihrer Befriedigung wagt Keiner zu fprechen, obwohl Jeder aus den Kreiſen feiner Befanntichaft Frauen genug zu bezeichnen wüßte, bei denen die Ge: fundheit vom Tage ihrer Verheirathung datirt. Unſere Dichterinnen ent: hüllen das a.n Tiefſten Verborgene, weil am Meiften verpönte Geheimnig weiblicher Liebesſehnſucht.

. Die Nacht vergeht mit müdem, ſchwerem Schritt, O nähm’ fie ınid ind ewige Dunfel mit! Der Morgen naht. in hohlem Nebelgrau, Einjam, verzweifelt lieg ih arme Frau, Sehn' mid nad Tiebel .. . Heißt es bei E. Galen-Gube; und noch braftifcher und nech poelielojer bei Hermione von Preufchen: . Rah Wonne verihinadten mit Wonnegeſichten, Das find die Qualen, die uns vernichten.

Einen fünftlerifhen Ausdrud hat dies Gefühl aber noch nirgends ge: funden, auch nicht bei Anna Ritter, wo es heißt:

Blühend fein und doch nicht leben follen, Mit der Sehnfucht noch, der heißen, tollen, Bor der feſt verichloffnen Thüre ftehn Durſtig fein und doch nicht trinken, trinken, Wenn die golden Freudenbecher winten, Keder Wonne ſcheu vorübergehn

Lechzen, ad, nad) jeligen Genießen

Und die trunfnen Augen doch zu jchließen, Weil des Schickſals harter Sprud es will Darben, darben, wenn fih Andre füllen, Elend fein und dennod laden müjlen, Smmer laden... . ftill, mein Herz, o ftill !

AN Das ift nur ein Stammeln, ein qualvolle8 Suchen nach Ausdrud für dumpfe Empfindungen, die die Worte bisher feheuten. famer Weile aber gilt fait das Selbe für ein Gebiet weiblichen Gef. lebens, deſſen jich feine Frau jemals zu fchämen gezwungen war, das Künftler und Dichter der Welt feierten, dem gegenüber nur fie allein ſtr

Die Lieder der neuen rau. 501

blieb: für die Mutterliebe. Ich glaube, e8 giebt faum Etwas, das für den Grad

innerer Gebundenheit, in der das Weib Jahrhunderte lang lebte, für die

Dreffur zur Verjchleierung des eigenen Weſens, für die Verurtheilung zur Verſchwiegenheit über das Höchfte und Tıefite, daS fie bewegt, ein gewichtigere& Zeugniß ablegte als diefe Thatſache. Heute erjt fängt die weibliche Pſyche an, auch hier zu erwachen. |

Da find zunächſt Mia Holms innige „Dutterlieder” (bei Albert Langen in Münden erfcdhienen), die viel zu wenig Beachtung gefunden haben. Wie echt it der Ton, wenn fie, ihr Kind an der Bruft, fagt:

... Nimm mid ganz, geliebter Knabe! Trint mein Leben, trink mein Blut! Trinke meiner Seele Feuer,

Meines Herzens reine Gluth!

Glücklos, mußte all mein Fühlen Funke hier und Knospe bleiben:

Sofl, in Di binüberftrömend, Flamme werden, Blüthen treiben.

Und einen freudigen Widerhall findet es in jedem Mutterherzen,

wenn jie die Sonne begrüßt, die ihr Kind überftrahlt, und binzufügt: Dog in mir glänzt ſchönre Wonne, Hellres Licht: Eine Mutter, arme Sonne, Biſt Du nicht.

Anna Nitter8 Sedihtfammlungen bringen eine ganze Anzahl Mutter⸗ lieder, die von all den taufend Seligfeiten des Mlutterfeind reden und den Humor der Kinderwelt zu glücklichem Ausdrud bringen. Und neben ihrem „Brautlied“ fteht ebenbürtig das Lied „Selige Hofinung“:

Du ſchläfſt mir fill zur Seite Ich aber lauſche ſchon

In eine dunkle Weite.

Es klingt ein fremder Ton Durch meiner Nächte Schweigen, Gar ſüß und wunderlich,

Und alle Sterne neigen

Sich grüßend über mid... Ich hab' mein liebes Leben Nicht mehr für mich allein,

Ein andres wächſt daneben.

Im dunklen Kämmerlein

Wills leiſe ſchon ſich regen,

Ich aber träume ſacht

Dem ſelgen Tag entgegen

Da's mir im Arm erwacht!

502 | Die Zukunft.

Noch inniger Hingen Ilſe Sta von Goltzheims Berfe*):

Sch trage ein Kind unterm Herzen Mit fo viel Kummer und Schmerzen. Sch hab’ in den langen Tagen Leides erfahren wie Keine, Da fühlt’ ich fein Herzchen fchlagen, Das ſchlug mit meinem in eins. Die Thränen nun, bie ich weine,

Die werden alle feine..... ... Ich wand einen Kranz von Cypreſſen, Ich war von Thränen blind, Das kann ich mein Tag nicht vergeſſen Mein armes Rind! —... .

Aber auch die Sehnfucht nach dem Kinde drängt vielfach zu fnrifcer Geſtaltung. Es ift ein Gefühl, das gleichtall8 unter den Bannftrahl ber „guten Sitte* fteht, ſobald es ein Weib zu hegen wagt, der das Hecht bau noch nicht von Standesamt und Kirche ertheilt worden iſt. Erft menerding mehren fi) die Muthigen, bie fi dazu befennen. Aber das Lofungmwod: „Ein Find und Arbeit!“ ift noch auf eine andere und zwar Tünftlich hervor gerufene Seelenftimmung zurädzuführen: die Abfehr vom Mann. Als us umgängliches Mittel zum Zmwed wird er hingenommen; als Geliebter, al Gefährte wird er verworfen, weil eine puritanifche Moral, die von einem großen Theil der Frauenrechtlerinnen propagirt wird, es glücklich fo meit gebracht hat, daß eine wachjende Zahl moderner Mädchen aus den fogenannten gebildeten SKreifen in jedem Mann ein Monftrum an Sittenlofigfeit ſieht. Die Profaliteratur und noch mehr das Reben bieten genug Beiſpiele dafür; die Lyrik blieb bisher frei davon. |

Bei Hetwig Lachmann, einer Dichterin von eigenartiger Begabung, fommt die Schnfuht nad) dem Kinde zu ergreifendem Ausdruck in ihren Gedicht „Heimweh“ (in der Sammlung „Im Bilde):

Ich wollte, dab ein leichter Kahn mich führe Den Strom entlang in cbene Gelände

Und daß ich dort durch eine niedre Thüre

In einem ftillen Haufe Eingang fänbe

Und drinnen nur von abendlichen Kerzen

Ein mildes Dämmerlicht am eignen Herde.

Ein warmer Raum, ein Kind an meinem Herzen Und eine Seele mein auf diefer Erde,

Bei einer anderen talentvollen Dichterin, Agnes Miegel, trin Sehnſucht nad dem Kinde ftark in den Vordergrund. Sie ruft:

*) Die Kommenden, Berlin 1901. Erfte Veröffentlichung.

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Die Lieder der neuen ran. | 503

Und wenn jo warm die Sonne jcheint, Wenn fi jo froh die Blüten heben, Dann unter meinem Herzen weint Bittend das ungeborne Leben...

„oe IIch bin ein Händchen weich und rund, Das oft ſchon Deine Träume füßten, Ich bin ein rof’ger Kindermund,

Der dürftend ſucht nad Deinen Brüften. Ich bin ein Seelden fein und traut, Das heiß verlangt nad Deiner Seelen, Bin eines Stimmchens Zwitfcherlaut Und will jo Vieles Dir erzählen.

Sieh nicht, wie hell die Sonne fcheint, Sich nicht, wie fi die Blürhen heben; Hör’, wie in Deinem Schoße weint Bittend das ungeborne Leben.“

Und an anderer Stelle: Sieb am Ende meiner Wanderfchaften Wenn der Abend langſam niederſinkt, Daß ein Schall von Feierabendgloden Süß und tröftend mir zu hren, dringt. Sieb mir dann ein Haus mit hohem Giebel, Nings von Fliederhecken eingehegt, Und am Gartenthore, meiner wartend, Gieb ein Kind, das meine Züge trägt.

Iſt e8 hier das junge Mädchen, deſſen ganzes Wefen in feiner harmoni⸗ ſchen Entfaltung, feiner Karen Durchlichtigkeit in Liedern fich enthält und das feinem Sehnen weiche Worte leiht, fo tritt uns in Irene Forbes-Moſſe das Weib entgegen, dag reif wurde im Thal der Schmerzen. Ihre Sehn: ſucht ift fein Gebet, ift eher eine Hymne. In „Mezzavoce* ruft fie:

Du bift der Wein, ich bin die Hochzeitichale, Du trankft die ganze heiße Sommergluth Und nun erfülft Du mich bein Freudenmahle Mit Deiner jtarken. fonnenfroden Fluth. So rein geformt von edlen Meiſters Händen, Ward Tempeldienft der Liebe Hier mein Los... Soll ih als Preis, fol ih als Opfer enden? O heil’ges Leben! Fülle meinen Schoß! Ihre Sehnfucht aber tönt aus im den wehmüthigen Zeilen: Wie ging ich tiefbeglüdt auf allen Wegen Und ja mit felger Angit dein Tag entgegen, Da id Did würde in den Armen halten... Mein Glück war wie ein banges Hänbdefalten....

6504 Die Zukunft.

Ad, und was blieb mir? Hier in diefer Truhe Ein winzges Hembchen und zwei Eleine Schuße......

Es ift ein Alford nur in dem Lied vom Leid, das all ihre Dichtung burchllingt, fei e8 wie heißes Schluchgen, fei e8 wie banges Seufzen. Auch über feine tiefften Schmerzen fchwieg das Weib bisher; und es ift, als fcheue fie fich Heute noch, von ihnen zu reden; wo es gefchieht, tft oft eim unedter Ton darin. Bei Irene Forbes find es eigene Thränen, Die fie als Perlen aus dem Grunde ihres Weſens emporhebt. Sie lächelt, ganz ein Weib, wohl auch mitten im Weinen; und fie träumt, träumt von ber feligen Kinder: zeit und von Blumen und Märchen, von Rittern und Feen und erzählt von Alledem, wie etwa unfere Ahnen erzählt haben mögen, wenn ſie bie wilben Goͤtter⸗ und Heldenfagen für ihre Kleinen umbichteten in Dornröschen: geſchichten. Sie ift eine Dichterin, nicht, was für die Anderen vielfad gilt, nur eine dichtende Frau; die Einzige vielleicht, bie von dem fdhneidenden Web zu Münden vermöchte, das die Serlen zahllofer Frauen erfchüttert: vaz bem Bwiefpalt zwifchen Freiheit und Gebundenheit, zwifchen inneren Muth und äußerer Zaghaftigfeit, zwifchen Wollen und Können. Sie ftehen, wie bie Kinder, und warten auf die Weihnachtgabe, das Glück, aber fie wife es nicht zu erobern; fie weinen am Grabe ihrer Hoffnungen und Träume und Magen um das große Menfchheitleid, aber fie greifen nicht nad den Waffen, um gegen die grauen Schweitern innerer und Außerer Roth anzulämpfen.

Und doch liegt hier, wie mir fcheint, ein Städ Zukunft für die weib⸗ liche Dichtung; Liebe und Leid haben fie aus der Taufe gehoben; das Mit: Leid, gefteigert bi zum Mit-Kämpfen, werden fie auf eigene Füge ſtellen. Ada Negri ift heute bie erſte und beinahe einzige Vertreterin biefer Ent- widelungphafe der Frauenlyrik. Klara Müller folgt ihren Spuren, aber noch fehlt e8 ihr an Originalität, an der Wucht ber perfönlichen Ausbruds: weile. Und doch findet auch fie ſchon volle Akkorde. So, wenn fie fagt:

Ich ging mit Dir durch alles Elends Tiefen, ' Geknechtet Volk, dur einen Pfuhl von Schmach; Die Stimmen hört’ ich, die nach Freiheit riefen, Und meine Scele hallte zitternd nad).

Ich jchlief mit Dir in Deiner Armuth Hätten, | Sn bie fein Mondlicht mild verklärend ſcheint,

AN Deinen Jammer hab’ ich mitgelitten,

AU Deine Thränen Hab’ ich mitgeweint ... .

Und dann hoffnungvoll fchliekt:

Denn aus den Himmeln fällt der Wahrheit Feuer In Deine Nacht, das einft Prometheus ftahl Un ihren Brand entzündet fi ein neuer:

Der Welterlöjung leuchtend Ylammenmal!

! )

Die Lieder der neuen Frau. 505

Lichttrunken will ich dann die Arme heben Und jauchzen in den glühen Glanz hinein, Unb wenn des Liebe Babe mir gegeben, Laß mid die Stimme Deiner Freiheit fein!

Was aber ift zum Schluß das Nefultat? Welch einen Gewinn be- deutet die weibliche Dichtung für die Erkenntniß der weiblichen Pſyche?

Die Lyrik, nähft der Muſik die fubjektivfte aller künſtleriſchen Aus⸗ drudsformen, ijt gerade deshalb den Frauen am Späteften erfchloffen worden und wird darin nur von ber Muſik noch übertroffen. Der Hinweis auf Dichterinnen früherer Zeiten, von Sappho an bi3 zu Annette Droſte-Hüls⸗ hoff, ändert an diefer Thatſache nichts. Die Eine der beiden Genannten ift heute faum mehr als ein Name für uns, bie Andere, die wohl als bie erste moderne deutſche Dichterin gelten kann, wird, meil fie die Erfte war, ſtark überfhägt. Frauenlyrik konnte erft in einer Zeit entjtehen, wo die volle Menfchwendung des Weibes zur Möglichkeit wird, und fie kann zu voller individueller Schönheit, frei von allen Banden männlicher Tradition und Vorſtellungskreiſe, erſt dann ſich entwideln, wenn die Befreiung des weib⸗ Iichen Geſchlechtes nicht nur einzelner ihrer bevorrechteten Glieder aus feelifcher Snehtfchaft vollendet fein wird. Das aber kann nicht das Nefultat weniger Jahrzehnte ſein, erſt recht nicht die unmittelbare Folge der Zulaffung zu Univerjitäten und Wahlurnen, fondern erft der fpäte Preis für eine tief- gehende Umwandlung der Erziehung: und Sinnesart aller Menſchen. Die „neue“ Frau ijt heute nur ein Uebergangsgeſchöpf mit all feinen Leiden, Laſtern und Unklarheiten. Sie ftedt noch tief in dem warmen, dunklen, ftagnirenden Moorgrund ihrer Bergangenheit; nur ihren Scheitel füht die Sonne und umfpielt der Sturm. Die Helle blendet fie, darum ift fie halb blind; fie vers wechjelt Sumpfblumen mit Freiheitlränzen. Eins aber zeugt dafür, daß fie am Ende ihrer Sklavenlaufbahn fteht: ihr Muth zur Wahrheit, auch dann, wenn er jich zum felbitzerfleifchenden Wahrheitfanatismuß fteigert.

Und der Gewinn für die Kunft? Sch ftehe nicht an, ihn im Allges meinen gering einzufhägen. Unfere Zeit ift dem Künftlerthum nicht günftig; einerlei, ob dabei das weiblide oder das männliche Geſchlecht in Betracht fommt. Ihr fehlt die Stille, die Goethe für die Entwidelung de8 Talentes Sordert. Sie fehlt beſonders den Frauen, die aus der Stille ihrer Seele ınd ihres Haufes hinausgetrieben werden in ben Lärm der Welt. Hier mag ſich erft ihr Charafter entfalten und ftählen: dann wird Kunft, echte Kunft Yie Höchfte Blüthe ihrer inneren Reife fein. Lily Braun.

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06 Die Zukunft.

Shakeſpeare und Racine.

William Shakeſpeare. Hermann Seemann Nahfolger, Leipzig, 1903. Statt einer Anzeige gebe ih cin Bruchſtück: Shafefpeare und Racine. Ein Vergleich mit Shafefpcare muB zu Ungunften Nacines austallen.

\ Er joll Hier auch nicht angeftellt werden; nur eine Seite ihrer Kunft, ihre Rolle thümlichfeit, fol in Betracht gezogen werden. Im Gegenfag zu Zhafeipeare war Racine ein höfiſcher Dichter, der nur für einen Leinen Kreis, die geiftige

Elite feiner Nation, les- Alexandres de notre siecle, wie er felbit jie nennt,

ſchrieb. ALS gebildeter Mann fpricht er zu einem gebildeten Publikum, als ge lehrter Dichter zu gelchrten Hörern, an petit nombre de gens sages, wie er in

@ der Borrede zu Britannikus fagt, auxquels je m’efforce de plaire. Shafejprare

muß, um dem Verſtändniß feiner Dörerichaft entgegenzufommen, troß dem Spott | einzelner Akademiker, die gröbften Unadhronismen begehen. Die Römer haben | Thurmuhren und Trommeln, König Johann fehießt mit Kanonen und Semi | und Helena Haben die atheniſche Mädchenſchule befucht, weil fich feine braven Engländer eine Schladt ohne Kanonen und Trommeln, eine ordentlihe Stadt ohne Ihren und Schulen nicht vorftelen konnten. Racine dagegen muß immer fürchten, die archäologischen Kenntniſſe feiner Hörer zu verlegen. Wenn Junia

im „Britannikus“ Bejtalin wird, fo muß er eine Erflärung bafür liefern, weil feinen weifen Thebanern aus Aulus Gelltus bekannt ift, daB man nad) des zehnten Lebensjahr in dieje Körperfchaft nicht mehr eintreten fonnte. Staıt dr naiven und begeijterungfühigen Menge Shakefpeares hatte er einen Leinen Krat erlefener Männer vor fich, die nicht, um zu fchauen, im Theater ſaßen, jondern,

um etwas GEruftes zu hören, beſonders aber, um gelehrt und nüchtern zu friti- firen. Sie wollen nit mit dem Dichter fühlen, fondern ihn verjtandesmäit verjtchen. So wird ftatt der Phantaſie le bon sens et lu raison, bie Log, das leitende Prinzip in Racines Tragoedien. Seine Theoretifer haben nidtum | fonft ihren Euripides und Ariftoteles gelefen, dag Evangelium, auf das ik ſchwören; ein Stüd kann ihnen ungemein gefallen, wie ber Dichter ſelbſt em zählt: es it doc) fchlecht, wenn es dem Flaffifchen Grundjägen, ben Regeln, nidt entjpricht. Racine felbit ftand dem Regelzwang zweifelnb gegenüber. 1.3 priß- eipale regle, meint er im Vorwort zur Beränice, est de plaire et de toucher: toutes les autres ne sont faites quo pour parvenir à cette premiere; abt leider glaubt er, einen gefälligen und rührenden Eindrud nur durch die Einheiten erreichen zu können, und hält ſich krampfhaft an fie. Allerdings mar er an bit Einheit des Ortes auch durch die hiftoriiche Entwidelung der franzöfijcgen Bühn gebunden, die eine feſtſtehende Stätte uud Feine beliebig wechfelnde wie das eng liſche und jpanijche Theater daritellte. Für Shakeſpeare haben bie Geicht, Die Ariftoteles vor zweitauſend Jahren von der Tragoedie feines Volkes adftr feine zwingende Bedeutung; im Gegentheil: ihm ijt zu danken, daß die ziltiichen Iendenzen, die auch in England dag Schaufpiel dem Bolf ze fremden juchten, nicht zum Durdbruch gelangten. Im „Sturm hat ere die Einheit der Zeit beobadjtet, die des Ortes niemals; und felbjt um - der Handlung veritcht er etwas ganz Nuderes als der Phtlofoph ven oder Racine. Für den Franzoſen bejteht fie in einer möglichſt einfaf

Shafefpeare und Racine. 507

fung ohne jebes Bei- oder Nebenwerk, während Shafefpeare unbedenklich zwei und mehrere Handlungen in einem Drama verbindet. Wenn bie Erflärer be- Haupten, im „Kaufmann von Benedig” jchildere der Dichter das Verhältnig bes Menſchen zum Befig, fo liegt in dem gequälten Verſuch, das gemeinfame Band der einzelnen Handlungen zu entdeden, das Zugeſtändniß, daB eine Einheit der Handlung in der hergebrachten Weife nicht vorhanden if. Schon bie Epiiode wird von der Hafliichen und müßte eigentlich auch von der heutigen Theorie ver- worfen werden; Shafefpeare verwendet fie überall. In breitefter Mannichfaltigkeit und Buntheit bauen ſich ſeine Dramen, wie die alten Volksſtücke, auf. Die ver⸗ Schiedenen Vorgänge werben durd; weite Klammern nur Iofe verbunden, meiftens durd die Einheit der Perjonen; manchmal fehlt auch diefe und eine Einheit des Intereſſes tritt an ihrer Stelle. Doch je weiter wir vorjchreiten, defto enger werden die Bwilchenräume zwiſchen den einzelnen Theilen, deſto en:rgifcher drängen bie verfchiedenen Handlungen centripetal zulammen, bis fie in die ge- meinjame Sataftrophe auslaufen. Einheit der Kataftrophe tritt bei Shakeſpeare an die Stelle der einheitlichen Handlung. Das ift nicht der Standpunkt der Regel Iofigkeit, fondern das überlegte Prinzip einer anderen nationalen und volksthüm— lichen Kunſt, bie fih nicht in importirte theoretiiche Feſſeln einengen laffen will. Alle Verſuche der Gerpinus und -Ulrici, eine Einheit der dee zu ermitteln, Lönnen die Kluft nicht verdeden, die zwiſchen Ariftoteles und Shakeſpeare bejteht. Macbeth wäre allenfall3 noch ein einheitliches Drama im Sinn des Philofophen gewejen, Zear oder gar der Kaufmann nimmermehr.

War Racines gelehrtes Publitum in der Frage der Einheiten beruhigt, jo trat es mit weiteren Forderungen an den Dichter heran, die fi befonderd in der Wahl des Stoffes geltend machten. Die Handlung Sollte in der Vers gangenpeit liegen, und zwar jo weit zurüd, daß eine objektive Betrachtung mög» Lich und fein aktuelles Intereſſe mit ihe verbunden wäre. Am Belten entſprach das klaſſiſche Alterthum ihren Wünſchen, jo daß die Geſtalten des Dramas mit dem doppelten Nimbus ber Hoheit umgeben find, bie die Verehrung der gebildeten Hörer für die Antike und der Schimmer der großen Vergangenheit verleihen. Racine verlangt respect für feine Helden, und der Reſpekt wächſt mit der Entfernung som Zuſchauer; denn „die tragiihen Perfonen müſſen mit einem anderen Auge betrachtet werden als die uns umgebende, wohlbefannte Welt“. Greift der Dichter einmal nicht ind Altertum, wie im „Bajazet”, fo muß bie zeitliche Trennung durch eine räumliche erfeßt werben, denn „eine Entfernung von tanjend Meilen ijt jo gut wie eine ſolche von tauſend Jahren“. Daß da= durch ſeine Tragoedien an allgemeinem Intereſſe verlieren, vor Allem dem Volke fremd bleiben müſſen, dad bei Mithridates und Berenice nit zu Haufe ift, fümmert Racine nicht, denn er jchreibt nicht für das Volt. Shakeſpeare verlangt feine Hochachtung für jeine Geſtalten, jondern Mitgefühl; und Mitgefühl findet er überall, wo ein großes Menſchenherz kämpft und leibet. Ob feine Handlung in der Vergangenheit ſpielt oder in der Gegenwart, ob in Altertfum oder Neu« zeit, bei Griehen und Römern oder bei Engländern und Yranzofen: ihm ift es gleichgiltig, wenn es nur Menſchen find. Aus Elaffifhen Schriften und Chroniken, aus Volksſagen und mittelalterliden Novellenbüchern greift er jeine Stoffe und feine Zuſchauer find mit Allem einverjtanden, wenn die Vorgänge

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508 Die Zukunft.

nur padenb find und überhaupt möglichit viel auf ber Bühne vorgeht. Denn fein naives Publikum will im Theater vor allen Dingen Etwas jehen. Genägt eine Handlung nicht, fo muß eine zweite mit ihr verbunden werden; ober eine Abjchweifung, zum Beifpiel die Abenteuer des populären Helben Talbot, wiıd eingeflochten, wie in „Heintich dem Sechsten”. Kampf und Streit, Mord unb Selbftmord: Alles will man leibhaftig vor ſich jehen; und mo bie ſzeniſche Ein- richtung verlagt, Hilft die eigene Phantafie nad. Je toller und bunter es anf der Bühne zugeht, deſto zufriedener find die Leute und: defto lauter ertönt ihr Beifall. Auf diefer Grundlage baut fi Shakeſpeares Drama auf, während Nacine fomohl mit der Nüchternheit feines Publikums zu kämpfen Hat als auch mit der angeblichen Vorſchrift des Ariftoteles, die alle Handlung ven ber Bühne verbannt und Hinter die Eouliffen verweilt. Seine Zuſchauer in ihrer phantafır- armen Gelehrſamkeit beſitzen nicht die naive Freude am Ereigniß; nicht die Arion, jondern bie Reaktion auf die Menfchen ift für fie die Hauptfadde im Drama, nicht die Handlung, fondern: welche Betrachtungen und Gefühle die Handlungen in den Menjchen hervorrufen und wie fie zum Ausdruck fommen; la beaut« des sentiments et l'élé gance de l’expression, wie er jelbft jagt. So fünuen fie fi, ftatt ber objektiven Darftellung, mit einer fubjeltiven Erzählung ter dramatifchen Torgänge begnügen, die bie Handlung nur ang zweiter Hand gicht, nicht fie felbit, fondern ihr Spiegelbild in der Seele der Berichteritaiter und ſonſtiger Intereſſenten. Das Drama ewedt nur eine mittelbare Theilnahme.

Aber nicht nur äußerlich, für die Stoffwahl, ben Aufbau und die Führung der Tragvedie, fommt der Unterſchied des volksthümlichen vom gelehrten Dichter in Betracht, fondern aud) innerlich, bejonders für die Menichendarftellung, ift er von entfcheidender Bedeutung. Shafefpeare wendet fi an ein ganzes Wolf und jucht es durch die Macht feiner Phantafie und Leidenfchaft zu entflammen, Racine [pricht zu wenigen Gebildeten und fucht ihnen zu beweijen, daß es, jo wie er dichtet, richtig ift. Sein Publikum ift feine organische Maſſe, jondern eine Anzahl einzelner Individuen, die überzeugt, aber nicht hingeriſſen und begeijtert jein wollen. Im Gegentheil: fie fämpfen gegen die Gefühle an, die nur geeignet find, iht klares Urtheil, von dem ihr äfthetifcher Genuß allein abhängt, zu ver- dunfeln. Sie wollen nicht den Rauſch, den ſchönen Wahnfinn bes Dichters theiler, jondern ihn verftandesmäßig begreifen und logiſch durchdringen. Um aber vor der nüchternen Prüfung Stand zu halten, muß bie Dichtung verftändlich fein, darf alſo nicht3 enthalten, was über das Maß des logiſchen Denkens binaus- geht und nur der Phantaſie erfaßbar ift. Alles Uebernatütliche ift unnatürlich und demnach unbegreiflih. Wie glüdlich ift Racine, da er in ber Iphigenie ohne den Eingriff der Göttin Diana auskommt! Bei Shatefpeare dagegen giebt es Heren und Elfen, gute und böſe Beifter, Zeichen und Wunder; das Gelt« ſamſte wird auf jeiner Bühne lebendig. Der Volfsglaube gewährt dem Did was Goethe ſo hoch ſchätzte und fo ſchmerzlich entbehrte, daß er ins a land Erjaß ſuchen ging: eine Diythologie.

In dem Inftigen Neich der Dichtkunſt giebt c3 nichts Unmdgi« man muß die Flügel der Phantafie befigen, um fliegen zu können, und fie f. den Bufchauern Nacines; ihnen ift nur äfthetifirender Verſtand gege Alles müſſen fie Gründe haben, und biefer Forderung entipr-*-

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Chaleipeare ımb Nacine. 509

ftalten des Dichters; von jeber ihrer Handlungen und Empfindungen geben fie fi und den kritiſchen Hörern Rechenſchaft. Der freie Impuls, das unbewußte Handeln Shakeſpeares ift ihnen fremd; fie verfahren immer wohlüberlegt, nad) Gründen: fie lieben nad Gründen und fie Hafen nad Gründen. Nicht, daß fie lieben, Tondern, ob fie ein Motiv zur Liebe haben, beichäftigt fie. Im höchften Jubel über Pyrrhus' unerwartete Rückkehr zu ihr vergißt Hermione (Andro- maque) nicht, die Gründe für ihre Gefühle anzugeben, denn Jemand Eönnte fragen: Wie kann fie einen Mann lieben, der ihrer Neigung fo wenig würdig ift? Warum liebt Romeo jeine Julia, Helena ihren Bertrand? Aus Gründen gewiß nicht. In der Art, dab fie immer die Motive angeben Fönnen und angeben, liegt ein Seraustreten ber raciniſchen Gejtalten aus ſich felbit; es icheint fajt, als fpräcen fie nicht von ſich felbft, jondern von einem fremben Individuum, das fie verftanbesmäßig beobachten, ähnlich wie Prinz Heinz in feinem Monolog: „Sch kenn Euch Alle”, der auch Über den Rahmen der Perſon binausgeht. Diejer Eindrud wird bei Racine dadurch noch verftärkt, dab feine . Helben beftändig von fi in der dritten Perjon als Orefte, ald Sohn Adills oder als König ber Könige reden. Sie find nur bie Schaufpieler ihrer ftolzen Namen, die fi bemühen, ihren großen Originalen nah zu fommen. Deshalb müſſen fie fih immer ermahnen, des Agantemnon oder ber Anbromache würdig zu fein, und wenn fie in Gefahr find, von dem Ideal abzuweichen, fteht ihnen ehr Erzicher, wie Phönix bem Pyrrhus, Burrhus dem Nero, oder ein Bertrauter uud guter Freund zur Seite, ber fie auf fich jelbft und ihre eigene Würde auf- merkſam madt. Im Bemußtfein ihrer perjönlichen Bedeutung und zweitaufend- jährigen, ftolzen Vergangenheit handeln fie. Die meilten Tragoedien Racines örchen fih um einen großen Entſchluß, ber zu faſſen tft: „Iphigenie“ um den Agamemnons, feine Tochter zu opfern, „Berenice“ um den des Titus, ſich von ber Geliebten zu trennen, „Andromache“ um die Entſcheidung des Pyrrhus zwiſchen zwei Frauen. Der Entſchluß tft eine Trage der Selbftüberwindung, ber Be⸗ zwingung des natürlichen Gefühles, des Heroismus. Die Leidvenichaft als folche, die ſich nicht auf moraliſche Gründe jtügt, wie die des Pyrrhus oder der Phaedra, iſt bei Racine immer etwas Ber)erbliches und Sträfliches, das überwunden werden muß. Die Größe des Menfchen liegt nicht in der Stärke feiner Affekte, fondern in der Selbftbeherrfhung, wie fie Foͤnelon in feinem Telemach predigt, als unbedingte Borausjegung für ein gedeihliches Zulammenleben hochkultivirter Menſchen. Die Leidenichaften können ihren Verein nur ftören; fie müſſen zurück⸗ gedrängt werden und an ihre Stelle tritt vernunftgemäßes, Elares Hanbeln nad fittliden Prinzipien. Es wird dieſen Leuten fchwer, einen Entſchluß zu fallen meiſtens dauert es fünf Alte —, denn es ijt nicht leicht, wie Agameınnon und wie Achilles zu handeln; fie bürfen nicht der Stimme in ihrer Bruft unmittel- bar gehorchen, fondern werben dur unendliche Rückſichten auf Sitte, Würbe, Wohlanftand und Erziehung geleitet; fie begehen nicht die That, die ihrer Natur ım Meiſten entipricht, jondern bie, bie fie und ihre Mitmenſchen die jchönfte dünkt (l’action noble) und bie um fo erhabener ijt, je mehr Opfer fie erfordert, aljo je fremder fie dem Charakter des Handelnden if. Wenn Pyrrhus dem Ideal nicht entjpricht, jo weiſt Ractne treffend darauf hin, daß er feine fran- zöſiſchen Romane gelejen hat, aljo Fein Celadon fein kann; aber troßdem ver:

510 Die Zukunft.

fucht er, ihn wenigftens fo weit wie möglich diefem Typus anzunähern (adoueir sa f6rocite), Das Streben nach heroifcher Erhabenheit zicht ber franzöfiiden Tragvedie eine Ionventionelle Schranke in ähnlicher Weife wie die Ehre der Calderons; nur fteht Nacine mindeitens an einem Punlte höher als der ſpaniſche Dichter: bei ihn kommt die Beihränfung nicht durch eine äußerliche Sapung, fondern durch eine lebendige Kraft, durch eine wenn aud) konventionelle Idee, die das Herz jedes Einzelnen erfüllt.

Shakeſpeares Menſch dagegen tft fret von allem Heroismus, von aller Erhabenheit und Würde. Er iſt ausfchlieglich Broduft der Leidenschaft, entkleidet aller beengenden Hüllen der Livilifation, ber moralifden Erziehung und ber Ueberlegung. Wenn er handelt, jo Hat er nicht die Abficht, auf Grund jorg: famer Erwägung die bejtmögliche That zu begehen, jondern er vollbringz, was er feinem Charakter gemäß mit Nothwendigfeit vollbringen muß, einerlei, ob es gut oder böje ift. Wenn feine Menſchen haſſen, jo haſſen fie ganz und es giebt feine Macht der Welt, die fie in iprem Haß aufhalten fönnte, am Wenigiten die Frage, ob dies Gefühl ihrer würdig fei. allen fie in Liebe und jei es jelbft eine fündige und jhäpliche Liebe wie bei Untonius oder König Eduard —, fo leiden fie darunter nicht, gleich Titus und Phaedra, denn mit dem Erwaden des Affeltes find alle Nüdfihten auf Moral oder Stantswohl verjtummt. Ste ihwanten auch nicht zwiſchen zwei Frauen bin und ber wie Pyrrhus, denn das eine Gefühl ift bei ihnen fo gewaltig, daß es jedes andere ertötet. Shakeipeares Leidenſchaft ift das Gegentheil von allem vernunftgemäßen Thun und Denken Lear und Cordelia, Desdemona und Othello handeln fo thöricht mie nur mög: lich, wie der erwägende Menſch Nacines niemals handeln würde. Macbeth weiß, dab feine That weder im Himmelnoc auf Erden gedeihen lann, aber er muß ſie doch begehen. Die Leidenichaft übertönt alle Einwände, mag fie aus dein eigenen Herzen oder aus dem Munde Underer kommen. Titus läßt ſich durch Paulinus, Pyrthus durch Phönix bejtimmen; bei Shakeſpeares Helden find Ermahnungen und gute Reben fruchtlos ; fie reizen höchitens zum Gegentbeil, indem fie den Widerjpruch heraus fordern. Dankbarkeit, VBaterlandliebe, Recht und Gemeinſinn: alle abgeleiteten Gefühle fommen dem Menſchen Shafefpeares kaum zum Bewußtſein oder brechen, wenn fie es thun, vor der Leidenſchaft zufammen wie Binfen im Sturm; bei Racine jmd fie von der hödjften Bedeutung und ihr Triumph Über die Begierden iſt bie Beſtimmung feiner wohlergogenen Geſchöpfe. Die Geftalten des engliſchen Dichters find wie die Natur felbft, roh, graufam und egoiftiih und gerade in ihrem Egoismus der höchſten Erhebung und Aufopferung fähig, fie find maßlos in ihrem Wünjchen und Handeln und ftürzen fi ohne Bedenken, ohne Belinner auf ihr Biel. Die des Franzoſen find Produkte einer beftimmten boden Aultur- jtufe, die fich würdig und maßvoll in den ihnen durch Sitte und Geſetz gezogenen Grenzen zu benehmen verfuchen. Gelingt es ihnen auch nicht immer, brid Leidenjchaft einmal dur die Schranten, jo thut fie e8 doch in möglidit wi Weije unter ſchweren fittlichen Bedenken und unter ſorgſamer Schonun- entgegenftehenden Intereſſen.

In dem franzöfiihen Drama fängt der Menſch erjt beim Paron wo er jih durch Stellung und Hoffähigfeit Über die Allgemeinheit empor Nönige und hochdero Germnahlinnen und fürftliche Geliebten, weile Minin—

Shafefpeare und Racine. 511

Tehr tapfere Generale ſchreiten über den gemweihten Boden der höfiſchen Bühne, Die ber gemeine Fuß der Bauern und Bürger nicht betreten darf. Sie regiren, fie halten falbungvolle Reden, fie befänpfen einander und fchlagen die größten Scdladten. Für wen? Das bleibt Geheimnig. Denn ein Bolf, das den Staat ausmacht, giebt es nicht; von ihm wird in den königlichen Salons niemals ge ſprochen. Dagegen fehlt feinem von Shalefpeares volksthümlichen Dramen die Beziehung auf das gewöhnliche Boll. Hinter dein Fürften und dem Nitter er- Scheinen die derben @eftalten der Bürger und der Bauern, hinter dem Philos fophen der Narr und der Betrüger, Hinter der feinen Dame die Dirne und der Zuhälter. Seine vornehme Welt fteht nicht, wie bei Racine, Tosgeldft von jedem nationalen Zuſammenhang in abjoluter Größe da, fondern fie iſt ein Theil der Nation, wie der König nur Einer aus dem Bolfe, wenn auch der Erfte, und ber Feldherr zwar ber Führer, aber auch nur einer von feinen Soldaten ift. Und wie wenig königlich find feine Könige im Vergleich zu denen Racines, wie unheroiſch, wie menjchlich find feine Helden!

Der franzdfiiche Dichter zeigt feine Geitalten nur von ihrer heroiſchen Seite, in ber Fülle ihrer Würde; alles Unheroiſche, allgemein Menſchliche unter- drückt er, denn e8 gehört nicht in die Tragoedie und ijt für ihre heroiſche Hand- lung ohne Bedeutung. Seine Menſchen find wie Könige, die im Glanz der Majeſtät vor das Volk treten und fich ihre prädtige Rolle gut eingeübt haben. Shakeſpeare unterläßt feine Gelegenheit, darauf hinzuweiſen, daß ber großartige Acteur auch nur ein Menſch ift, daß er efjen, trinfen und ſchlafen muß wie jeder andere, und gerade dadurch erreicht er die unmittelbarjte Lebenswahrheit. Die Welt ift fein Theater, das Leben feine Tragoedie, wo der Menſch nur in feiner edelften Größe auftritt, fondern neben bem Heroismus fteht bie Alltäglichkeit und die Kleinheit. Shakeſpeares Könige Schlagen Schlachten, aber in der Sieges⸗ freude betrinten fie fi, fie lachen über: die Zoten ihrer Narren, fpielen mit ihren Kindern und ſchimpfen im Zorn wie bie Marktweiber; feine Prinzen lärmen in den Sncipen herum; jene Eblen prügeln ihre Frauen, laufen in das Bordell und wetteifern mit ihren Damen in unanftändigen Witen. In feiner tragifchen ©ituation hat Hamlet Zeit, mit den wortgewandten Totengräbern Silben zu ftehen, Desdemona in ihrer Beſorgniß um Othello, über Jagos unfeine Wibe zu laden, und Julius Caejar muß fi) erft in einer intimen häuslichen Szene mit feiner. Gattin auseinanderjegen, ehe er auf das Kapitol gehen darf. Das Publikum des englifchen Dichters will nicht nur ftaunend zu dem Theaterhelden aufs bliden, fondern Leid und Luft mit ihm fühlen; und bejonders will es über ihn laden, wie man über feinen guten Nachbar Did oder Will lacht, wenn er in einer komiſchen Situation fibt. Wie im Leben, fo fließen in Shakeſpeares Dramen Tragik und Komik, Hohes und Niedriges in einander, ohne daß ihre Verbindung ein künſtleriſches Gefeß für feine Tragoedie ift. Sie ift einfach bie Logifche Folge feines Standpunftes, von dem aus der Dichter nicht zwiſchen bühnen- fähigen, heroifchen und bühnenunfähigen, alltäglichen Menfchen unterſcheidet. Wie er fie Alle dramatiſch behandeln kann, jo giebt es überhaupt nichts im menſch⸗ lien Leben, feine That und Leine Zage, die fih der Darftellung auf feiner Bühne entzieht. Er folgt dem Menſchen überallhin, zu den ſtolzeſten Höhen empor und in bie furdhtbarften Tiefen hinab. Dr. Mar Wolff.

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512 Die Zukunft.

Der Seitungroman.

ch Habe einen Roman geichrieben. Ich will fein Geheimnißß daraus machen.

Es würde ja doch herauskommen, auch wenn er nicht herauskommt. Yon ber Ausfichtlofigkeit diejes Beginnend war ich im Voraus überzeugt, bemm die Herftellung von Romanen ift eine feminine Angelegenheit geworben ; bie deutſchen Romanverzehrer find gegen männliche Autornamen längft mißtrauiſch nub die literarichen Heimarbeiterinnen werden von ben Herausgebern ſehr geichäßt, weil fie die dickſten Manuffripte für cin Margarindrot bingeben. Die Kunſt ber Schriftjtellerei zerfällt aber in zwei Theile: in bie, eine Arbeit anzubringen, und in die des Schreibens jelbjt. Gemeinhin denkt der Autor, wenn er bei einem Roman fein des Romans Ende gekommen fießt, zunächſt an den Ab- drud im einem Tagesjournal. Die politiihen Zeitungen haben ja immer Bedarl an fortlaufenden Erzählungen, durch die fie die Abonnenten verlocken wollen, bei der Stange zu bleiben, und alljährlich verfinfen in ber einen kurzen Kreislauf durcheilenden Mafulatur der Tagesblätter viele taujend Kilometer „ipanmender” Romane. Man könnte mit ben darin vorfommenden Konflikten und Berwide lungen ba8 Tempelhofer Feld bededen. Ich geftehe, daß ſich meine allgemeine Unbelefenheit auch auf den Zeitungroman erftredt; ich hatte bisher in der That nicht einen einzigen gelefen. Mir ift nur befannt, daß fie gewöhnlich: „Im Banne ber Pflicht”, „Im Banne der Schuld“, „Im Banne der Leidenſchaft“, „Im Banne der Sünde‘ u. f. w. betitelt find. Das find die „Bannı-Romane*”, von deren es in der porangegangenen Anfündigung ſchon hieß: „Der Leſer bleibt vom erften bis zum legten Kapital im Panne des phantafievollen Erzählers!" Dann kommen bie Titel „Geſühnt“, „Schuld und Sühne“, „Geſprengte Feſſeln“, „Im Tode ver eint“ u. f. w. Bon Dem, was in biefen nad der Schablone betitelten Zei: tungromanen vorgeht, wußte ich bisher nichts. Leider! Ach feufze: „Leider“, denn ich mußte mich eines Schlechteren belehren laſſen und die Hoffnung, die in ftillen Schaffensftunden gezeitigte Frucht meines Fleißes an Den ‚Zeitung mann zu bringen, getäufcht Tehen.

Die Zeitungherausgeber „eritflaffige“ natürlid —, denen id das Werk anbot mehr als Dreien konnte ich Einficht in das Manujfript nid gewähren, weil die Eden der Blätter dann ſchon zu unappetitli wurden erklärten mir, wie auf Verabredung, daß mein Eleiner Roman reich an piyde logiſchen Einzelheiten, an glänzenden Milieu: und Charakterfchilderungen und an unendlich fein beobachteten Zügen jet, aber nun kommt das dide Ende in einem Zeitungroman handle es fi um Vorgänge, da müſſe fi immer etwas Be deutendes ereignen und der bei „Fortſetzung folgt” angelangte Leſer müſſe ſich, wenn er das Blatt aus der Hand legt, mit Hopfendem Kerzen fragen: „Wat wird morgen gejchegen? Einer der Juroren bediente fich eines medizi Bildes: „ihre reizende Sejchichte Hat einen zu ruhigen Puls, den Be’--- muß die ‚siebertemperatur zwilchen 40 und 45 Graden anszeichnen

Dieſe weijen Richter find nicht zu widerlegen. Ich erkannte zureichende, die Stümperei meiner zahmen Phantafiearbeit. Es fei .. stattet, ein Beifpiel zu geben; ich werde mich dadurch vielleicht am Beite ftändlid) machen können; man wird dann zu beurtheilen vermög“- —"-

Der Zeitungroman. 513

"Temperaturen und Tonarten der Beitungromane von jenen der Buchromane unter- jcheiden. Abfichtlich wähle ich für dieſes Schulbeifpiel einen recht fimplen Vorgang.

Herr Braun bittet einen Herrn Weber um Teuer für feine Eigarre und Weber wieder erkundigt fi bei Braun, wie ſpät es ſei. Zur Schilderung Diejer unbedbeutenden Vorgänge würde ih, in meiner Manier, nur ein paar Worte brauchen. Dos ift eben das Zweckwidrige. Verſpätetes Studium des Zeitung. romans hat mich belehrt, da die Angelegenheit ungefähr jo gefaßt werben müßte:

„Herr Braun näherte fih mit einem wilden Saß, wie ein feine lebende Beute erhajchendes Raubthier, dem vor Schred ſtarren, wachsbleichen Herrn Weber. Er jchwang feine Cigarre wie einen Dold in der Luft und es war ihm anzufehen, daß etwas Furchtbares in ihm vorging.

Was ift Ihnen? Treifchte Weber.

Braun rang fichtlic nad) Athen. ‚Feuer! Ich flehe Sie an: Feuer!“ beſchwor er ihn und Falter Schweiß trat auf feine Stirn, auf der die pralle Bornader wie ein Baumftamm lag.

‚Gern!‘ verjeßte Weber, am ganzen Leibe zitternd, und ftredite mit lagen: artiger Behendigleit dem Anderen die Cigarre entgegen, beren Spitze unheim⸗ dich glühte, dab e3 im Dunkeln ausjah wie ein Waldbrand.

- Einige bange Augenblicke verftriden. Endlich hatte der wüthende Brand auch Brauns Cigarre ergriffen.

‚Dante!‘ ftöhnte er, wie ein Sterbender, und ber unheimliche Glanz jeiner Augen wetteiferte mit der Gluth der lodernden Cigarre; er bohrte feine Blicke in das Innerſte feines vom böſen Gewiſſen gefolterten Freundes, der noch immer aſchfahl an der Wand lehnte und deilen jchlotternde Knie bem Körper ihre ftügenden Dienfte aufzulündigen drohten. Er behielt ihn mit einem zwingenden, bändigenden Blid im Wuge; es war ein heißer Kampf, den die beiden Männer nit den Bliden ausfochten.

Plöglih richtete fi Weber in jeiner ganzen, mächtigen Länge auf; feine Geſichtszüge verzerrten fih und man konnte an ber krampfhaft geballten Fauſt des leidenſchaftlich Erregten merken, daß alle Muskeln feines herfulifchen Körpers angeipannt waren. Noch Eins!“ herrſchte er Braun plöglid an.

‚Nun? ächzte Braun; und er fühlte, daß er grau wurde.

„Wie ſpät? fchrie Weber; feine Donnerftimme jchlug dabei in ein heiſeres Falſett um.

Bram wankte. Ein langgezogenes jchmerzliches ‚up entrang ſich feiner Bruſt. Dann taftete er mit fliegender Haft und zitternden Händen nad ber Stelle, wo er fonft die Uhr trug. Wilde Berwünjchungen begleiteten dieſe fieber- haften Bewegungen. Er gli in diefem Augenblick nicht mehr fi) felber.

Weber jtarrte ihn mit entjegten Augen, die weit aus den Höhlen traten, an. ‚Nun?!‘ rödelte er.

‚Gleich!!‘' kam es aus Brauns Kehle; eine Sekunde jpäter riß er die Uhr aus einer verborgenen Taſche jeines Beinkleides und Hielt fie hoch ...

„Sechs vorbei!" braufte Weber auf, mit beiden Händen nach feinem Kopf greifend und in jtarres Entfeßen verlinfend.“

Das ift der Stil; nicht allzu arg übertrieben. Da Tann ich nicht mit.

Wien. E Baul von Schönthan. 3 .

514 Die Zukunft.

Politiſche Raufleute.

Dr Hörfaal des Langenbed-Haufes, wo bie Mediziniiche Geſellſchaft ihren ftändigen Sib bat, waren neulich bie Vertreter der offiziellen Handels» körperſchaften Deutichlands verfammelt. Alljährlich kommen fie jeit einem Viertel⸗ jahrhundert auf zwei Tage nad Berlin; und die Anftitution, die fie einberuft, trägt den ftolzen Namen „Deutſcher Handelstag.” Kinft war diefe oberfte Or- ganifation aller deutſchen Handelsfammern ein mächtiger Faktor in unjerem MWirthichaftleben. ALS deutjche Kaufleute fie 1861 ſchufen, war der Liberalismus auf bem Weg zur Höhe und der Zujammenfchluß der deutſchen Kaufmannswelt wirkte wie cine Verheißung naher politifcher Einheit. Während ber Kinderjahre der Induſtrie und des induftrielen Großlapitalismus herrſchte natärli des Handelstapital; in ihm fand der Einheitgedanfe, der lange nur in den Träumen deutfcher Ideologen gelebt hatte, eine Träftige Stüße. Die Grenzpfähle ber vielen deutfchen Staaten hemmten den Güterverkehr; und der begreifliche Wunſch, diefen Wirthſchaftſchaden zu befeitigen, machte aus Großhändlern und Sapite- lijten eifrige Förderer des Zuſammenſchluſſes zu einem ftarfen deutſchen Staat ohne Grenzbeläftigung. So ift im Zeitalter des Kapitalismus der Gang dir Entwidelung: das deal, deffen Propagation deutſche Burſchenſchafter im Kerker gebüßt Hatten, wurde in dem Augenblid hoffähig, wo das Bebürfniß einer auf jteigenden Klaſſe diefem Sehnen eine wirthichaftlicde Bafıs ſchuf. Das Deutide Reich fam und mit ihın der Höhepunkt liberaler Madt. Als ber Spießbürger im Kongreß Deutfcher Volkswirthe die Summe höchſter Weisheit jah, jtrahlte aud) dem Handelstag die Sonne des Nuhmes. Dann folgten die Gründerjahie und der Krach. Die deutihe Schußzollwirthichaft begann, ihre erſten Bollwerke zu errichten, und dem Liberalismus, der politifh noch in Gunft ftand, brödelie der ökonomiſche Unterbau ſchon fat ab. Auch der Deutiche Handelstag mußte die Krijis fpüren. In der Oftoberverfjammlung des Jahres 1878 praflten die Meinungen hart auf einander; der Gegenfag zwiſchen Freihänblern und Shut zöllnern war unüberbrüdbar. Die Schußzöllner fiegten. An der Spige ber unterliegenden Minderheit ftanden die Hanfeftädte, die, wie ihr Intereſſe ge bietet, ja bis heute der Freihandelstheorie treu geblieben find. In bie meilter Handelsfammern aber war der Schußzöllnergeift eingedrungen. Das Handri fapital hatte jeine führende Rolle cben ausgefpielt; das Snduftriefapital herrſchte nun und die heranwachſende Großinduftrie mies das Händlerthum in die Ber mittlerfchranfen zurüd. Je geringer die politifche Geltung des Handels wurde, defto mehr verlor natürlich au) der Handelstag an Autorität. Trotz alleır Ber- ſuchen, wirkſamere Organifationen zu ſchaffen, blieb er einflußlos; und was die Zeitftrömung von feinem Anjehen übrig ließ, wurde durch die [leitenden Perjön- lichfeiten vernichtet. Schließlich entjtand das Zerrbild einer Antereflenvertret‘”" deren hilflofe Greifenhaftigkeit wir jüngft wieder Im Langenbeck Haus wim hörten. Zwei wichtige Fragen, Handelsverträge und Kaufmanndgerichte, w

auf die Tagesordnung geftellt worden. Ueber die Handelsverträge gab, nad Deutichlands langweiligiter Kommerzienrath, Herr Frentzel, die Sitzung end! hatte, ein nicht minder langweiliger Sekretär, der ben einft jo klangvollen N Soetbeer trägt, ein trodenes Referat. Weber im Bortrag felbft ned !'

Politiſche Kaufleute. 515

kläglichen Diskuſſion irgend ein felbftändiger, fruchtbarer Gedanke; nur Kirch— thume⸗politik und Ueberfhägung der wirklichen Kräfte. Dazu das obligate Ge⸗ ſchimpf auf die Sozialdemokratie, die heute doc, neben einem winzigen Häuflein bürgerlicher Rarlamentarier, ganz allein die wahren Handelsintereflen in großem Stil und wirkſam vertritt. Ein Handelstag freilich, der für die Thaten der Kardorff und Genoſſen jo viele Entſchuldigungen bat und naiv genug ift, das geſchickt inſzenirte Spiel nicht zu durchſchauen, das von Regirung und Mehrheit mit vertheilten Rollen aufgeführt wurde, kann aud für die Partei der Zukunft fein Berftändniß, zu ihrer Bedeutung feine Diftanz haben. Die den Handels: derträgen gemwibmeten Erörterungen waren wenigftend nur farblos und nichtig; doch als dann über die Kaufmannsgerichte geredet wurde, merkte man erjt, wie furdtbar cine dde, flache Intereſſenpolitik die Gemuther verwäftet hat. Wieder ein höchſt unfluges Geſchwätz über fozialdemofratifche Berfeuhung; ein falt fana⸗ tifcher Haß gegen die Gemerbegerichte, die nur von wenigen Rednern vertheidigt wurden. Spurlos ift alles feit Jahrzehnten über joziale Probleme Gejagte an diejen ehrenwerthen Vertretern des Handels vorübergegangen; noch immer liefert ihr Hauptbuch ihnen das Bild der Welt. Dun fonnte ſich in ben Kentralverband Deutſcher Induſtriellen verfeßt ‚glauben, wo ähnliche Anjchauungen zum Wort fommen; aber die Induſtriellen find immerhin klüger und ſehen weiter.

Am erjten VBerhandlungtage ſaß auf den Ehrenplägen neben dem ‚langen Möller” Graf Poſadowsky, deffen nervös zudenden Züge von Ueberanjtrengung zeugen.. Er hatte die Staufleute in einer Rede begrüßt, die Beachtung verdient. Der Anhalt war nit allzu beträchtlich, die Tonart zeigte aber, womit unfere Minijter den Handel zu bewirtden wagen. Graf Poſadowsky mahnte die Händler zur Beicheidenheit. Wer fich der Reden erinnert, die Herr von Podbielski in Agrarier: verfammlungen zu halten pflegt, kann, wenn erd noch nicht wußte, aus dem Bergleich lernen, wie verjieden von unferen „Maßgebenden“ Aderbau und Handel eingefhäßt werden. Im Cirkus Buſch würde ein Minifter ausgeziicht und ausgepfiffen, ber Bauern und Junkern mönchiſche Entjagung predigte. Die Kaufleute aber find heutzutage jchon jelig, wenn ein wirklicher Miniſter fih über— haupt zu ihnen bemüßt. Ein klaſſiſches Beifpiel dafür war vor ein paar Jahren der denfwürbige Abend im SKaiferhof, wo den Mitgliedern des Vereins Berliner Kaufleute und Induftrieller der urwüchſige Bobbielski, angethan mit dem blauen Atilla der Hufaren und ermuntert von den Geiſtern des vorher bei einem Höfifchen Felt genofjenen Weines, unter lauten Jubel der Hörer eine von Hohn förmlich tric- fende Rede hielt. Poſadowsky ift fonzilianter als der Naturburfche Podbielsfi. Seine Rede brachte allerlei Artigfeiten ımd barg die Mahnung zur Aſkeſe unter Rojen. Während der langweiligen Berhandlungen hat er ficher eingefehen, daß dieje Berfammlung nit ein Machtfaktor ift, den ein deuticher Staatsſekretär zärtlid) ihonen muß. Sollte nad) dem Berfehr mit diefen Stüßen des Gegenwart: ftantes, denen er ja feine fozialdemofratifchen Gegner vergleichen fann, dem Grafen Poſadowsky die Angft vor einem Zufunftitaat nicht ein Bischen lächerlich ſcheinen? Dabei ſah ich auf dem Handelstag verftändige, fozialpolitfch gefchulte Männer von weitem kaufmänniſchen Blid. Kaum Einer aber gab ſich die Mühe, auch nur durch ein Wort das Niveau der Berathungen zu erhöhen.

Abends fprach an ber Feſttafel der Handelsminijter Möller. ft und

516 Die Zukunft.

mit fichtlicher Vorliebe Hat er in letzter Zeit ben Gedanken variirt, ein Mi niſter tönne den Kaufleuten nicht helfen, wenn fie ihm nicht eine jtarfe Schußtrupge ins Parlament fhiden; die Kaufleute, räıh-er, follten ſich politiſch eifriger be: thätigen. Man hat auf dem Handelstag ausgerechnet, dag un Reichstag min⸗ beiteng 130 Landwirte und wenn man bie Sozialdemofraten nicht mitrechnet nur ungefähr 40 Kaufleute fiten. ‘Mag diefe Rechnung falſch oder richtig ſein: find etwa Vierzig nicht genug, um zur Aufklärung ihre Stimme au erheben und fi Gehör zu Schaffen? Danach wurde nicht gefragt. Man läßt fi von Mölers Neben köbern und denkt ernitlih daran, bei ber nüchſten Wahl Kauf leute ohne Rückſicht auf ihre Parteiftellung in den Neichätag zu Tchiden, wenn fie fi nur verpflichten, gegen das Börfengefeg und gegen eine ſchärfere Ueber: wachung der Aktiengejellichaften zu ftimmen. Die Kandidaten find aud ſchon ansgeſucht: Stadtrath Kaempf für bie Freifinnige Volkspartei, Inſtizrath Rießer für die Nationalliberalen, Geheimer Finanzrath Müller für die Freikonſervatiden. Ein verflucht geſcheiter Gedanke, den man auch herzlich dumm nennen könnte. Kaempf iſt überflüſſig, denn Herr Eugen Richter genügt doch wohl als Aller⸗ getreufter des Handels und der Börſe und auf dem anderen Sreilinnöflägel wirft all in feiner Emfigleit Herr Barth. Und was fol Saulns Rieber unter den nationalliberalen Propheten vom Schlage des Buderprofefiors Paaſche, mas der Müller der Dresdener Bank neben den Karborff und Gamp? Glauben bir Händler denn wirklich, das Dogma der Fraktionen fei durch Künfte der Ueber- redung zu erjhüttern? Wir werden höchſtens cin paar vernünftigere Reden hören und Rießers ungewöhnliches oratoriſches Talent wird Feinſchmeckern Freude ber reiten; auf politiſche Wirkung ift aber nicht zu rechnen. Man erinnert und immer an Georg von Siemend. Der ſaß eritens aber in ber rafıion, die fi die Vertretung der Großhändlerinterejlen zur Aufgabe gemacht hat, ſaß unter Leuten, die genau jo dachten wie er; und zweitens galt er als der kommende Mann, der das Ohr des Monarchen Hatte. Auch muß felbft der Gegner jagen, daß die heutigen Helden im Vergleich zu Siemens nur trijte Cpigonen find. Schreien, heißt$ immer, follen die Händler, fo laut ſchreien wie die Agrarter. Als ob die Agrarier ihre Erfolge allein dem Schreien zu banfen hätten! Sie hätten ſich totgejchrien und nie Gehör gefunden, wenn fie nicht das Intereſſe der im preußiichen Deutſchland politifch mächtigften Klaſſe verträten. Am Schreien fehlts auch in der Welt der Kaufleute jegt nicht; kaum findet man fi) in Berlin noch unter den Händlervereinigungen zurecht. Seit die Rationalölonomie modern geworden ift, gehört fie nicht mehr zu den Brotlofen Künſten. Der Doftor der Staatswijjenfchaft wird heutzntage nur allzu gern zum Hausknecht her zahlung⸗ fähigen Gevatter Schneider und Handſchuhmacher. Jeder Ehrgeizige oder Un⸗ zufriedene findet, wenn feine Mittel e8 ihm erlauben, einen Akademiker, der bereit it, das Mäntelchen feiner Wiſſenſchaft über ein Ileines Intereſſe zu auf daß man Ungeheures darunter vermutbe. ben erft ift wieder ei Bereinigiing gegründet worden: der Bund der Kaufleute. Was er will, wı.., trog dem umfangreichen Programm noch nit genau; aber zum Schreien | auch er hübſche Anlage zu haben. Nein: das Mißgeſchick des Hanbeltftandes hat andere Urſachen. Die Herren, die ftet auf England binweifen, fol auch den Muth zu dem Geftändniß haben, daß die englifchen Pr«ft-

Ter Schleier der Beatrice. 51%

anderem Kaliber als unfere find. Die lafien ſich nicht von ddarafterlofen Leuten führen, deren ganzes Sehnen ein Titel oder Orden iſt. Unter jolder Führung ijt eine wirkſame Politit unmöglid. Nur an das Schidjal des Handelsvertrage- vereind braucht man zu benfen, um zu erfennen, daß jchon die unbedeutendften . Intereſſengegenſätze bei uns jede kanfmänniſche Aktion lähmen. Die Sudt jedes Standes, Vertreter feiner engen Intereſſen ins Parlament zu fenden, fann uns allmählich in das Dunkel ftändiicher Verfaſſung zurüidführen. Die Soyialbemo- fratie ſoll, jagt man, zuerft den Weg ſolcher Standesintereflenpolitif betreten haben. Erftens aber vertritt fie die an Zahl größte Klaffe, Alle, die im Dienft fremden Kapitals Frohnarbeit leiften, und zweitens erjtrebt fie eine Ummälzung der Wirthſchaftordnung, eine gänzlich veränderte Art der Produktion, die und von Klaſſen und Klaffengegenfägen überhaupt befreien würde. Den Kampf einer folden Bartei, die noch dazu alle von Liberalismus aufgegebenen Ideale über» nommen Bat, darf man nicht den Bänfereien und Pfennigfuchſereien Kleiner oder größerer Gruppen vergleichen. Immer wieder muB daran erinnert werden, daß die deutfche Arbeiterfchaft die jtändifche Politik der britiſchen Trade-Unions, die befondere Kandidaten der Schneider, Töpfer, Schufter, Bergarbeiter u. ſ. w. ind Parlament fenden, ſtets ſchroff und energiich von fich gewiefen Hat. Un den Arbeitern follten fi die Kaufleute ein Beilpiel nehmen. Wenn fie nütz⸗ life Politik treiben wollen, müflen fie fih zunädft einmal von den Elementen befreien, die nach Gnaden Streben. Politiſche Kaufleute Fönnen nur ein lohnendes Ziel vor fi fehen: foziale Neformarbeit größten Stiles muB auf dem heimiſchen Markt eine Konfumentenmenge fchaffen, die Alles, was die deutſche Induſtrie innerhalb der weiteften Produktionmöglichkeiten berftellt, aufzunehmen, zu be- zablen vermag. Die ſchlimmſten Feinde des Händlerftandes find: foziale Kurz» fit und weltpolitifcher Dunkel. Plutus.

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Der Schleier der Beatrice.

Sy Schloß und Garten des Herzogs von Bologna raſt trunkene Gier. Lüſte fuchen, Lüſte finden, umjchlingen einander und auf der Wiefe, die fich Hinter Terraſſe und Garten dehnt, vermählt das Geftöhn der lechzen» den und der fatten Paare fic zu einem langen, paufenlofen Brunftfeufzen, deifen Anhauch die Fadeln zufammenzuden und wieder auffladern läßt, als lauchteten fie unruhvoll dem Phallusfeft, möchten in Scham verglühen und feinen Alt des Wolluftichaufpicls doch milfen. Was fonft verboten, ift heute erlaubt. Buhlerinnen, fremde und am Reno heimische, wittern umher und birfchen nach dem fetteften Rapitalmildpret, daS in Bologna la grassa erwuchs. Mannbare Jugend lockt mit ſchlauer Voglerfunft verängitete, lockt verlangende Jungfern ins Garn. Alte ſpähen nach rüſtigen Schätzchen aus,

518 Die Zukunft.

erfahrenen Helferinnen, mit denen ba nicht mehr mühloje Spiel mohl noch zu gutem Ende gediche. Auf dein weiten Wiejenplan winkt e8 und rıngt es, gleitet und fällt, wehrt ſich Viragowuth und feucht gleich drauf in Wonne, ftammelt verzüdt und reift in nymphomaniſchem Nafen felbft fich die legie Hülle vom heißen Leib. Staunend fhütteln ob folcher Maſſenpaarung Kaftanienbäume die Greifenhäupter. Und in die wilde Erosfeier klingt von fern her. leife Muſik; wie ein Schluchzen, ein Kichern, längft erjehnter Selig: feit irrerWiderhall. Unter ewigen Sternen das große, beraufchende, graufe Nachtbild ſchamloſer Menjchheit; nicht einer, die Scham noch nicht ternte, in feinem Eden je fcheu den Baum der Erfenntniß fah, nein: einer aus engen Banden der Ehriftenfurcht zu kurzem Taumel in Priaps Tempel geladenen, die Gut nad) alter Satung von Böſe zu ſcheiden weiß und endlich nım, end⸗ Lich ohne Gewiffenshemmung den Hunger nad) verbotener Frucht ftillen will. In dieſer Nacht darfſies. Erftmitder Sonne kehrt der Zwang des Geſetzes wir: der, der Spuk ſozialer Sittenregeln zurück. Kein in dieſer Nacht geſchloſſener Bund entehrt und keiner verpflichtet. Flecklos und frei fteigen die von jäher Laune Öepaartenausdem grünen, zerwühlten Brautbett undledig der Laſt, die der Alltag dem Brennpunkt des Willens aufbürbet, trennt fich im Morgen⸗ grau der Sproffer von der müden Nachtgefährtin, das Mädchen vom Mann. Und mit der Saat neuen Lebens trägt jede Schöne noch die Hoffnung heim, in edlem Blute ſich fortzupflanzen; denn als adelig geboren fol gelten, was im Palaft, im Bart, auf dem Anger des Herrn der alten Felfinagezeugt ward. Eo mill es der Herzog. Doc ohnmächtig bliebe über jo Viele fein Wollen, wenn nicht Lebensangſt mit heftigem Schnaufen in den Sinnen das euer anjhürte. Bor Bolognas Thoren fteht Gefare Borgia, Aleranders Sohn, des Unheil brauenden Papjtes, der von Helden gefürchtete Bruder der Thai Lufrezia, und morgen ſchon ftürmt wohl fein Herr, ber Schrecken Italiens, die Schwache Verſchanzung der Etrusterftadt. Die wehrfähige Mannichaft hat fich gewaffnet, freiwillig Itefen Bürgerföhne, Knaben fogar den Söldner: ſchaaren der Edlen zu und Alles ſtellt fich, als könnte Sieg den muthigen Eifer Frönen. Im Innerſten aberglaubt es Keiner. Sorge ſchleicht durch dir Bogengänge, ſchielt über die Mauern undniftet wie Nachtgevögel in den Höhlen der Handwer!sleute und Krämer. Was bringt uns der Borgia, den das C renglückſchirmt? Knechtſchaft, Armuth gewiß; und ſeine Horde ſchont ſichel nochſoſchüchternes Jüngferchen, keine ſäugende Mutter. Die letzte Nacht! daſollten nicht Hundert Stimmen, nicht tauſend dem Ruf des Herzogs Ant jauchjen?... Oft, fagt Renan, „habeid) mir vorzuftellen verfucht, welche!

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Der Schleier der Beatrice. 519

rei der Liebe wir ſaͤhen, wenn die Menſchheit von derNähe des Weltunterganges überzeugt würde; nur diebändigende Pflicht fittlicher Selbſterhaltung hemmt ja die Liebe in ihrem Lauf. Im Ungeficht des Todes ſpräche nur die Natur; der mächtigfte ihrer Xriebe entwände fich allzu lange ertragenen Bügeln und riſſe feine Urrechte an ſich; wenn man ohne Furcht vor Strafe dem von ſo vielen Bannflüchen umdräuten Baum nahen dürfte, ſtiege aus Aller Bruſt ein einziger Schrei. Jeder wüßte: dieſer Liebe leuchtet kein Morgen mehr; Jeder ſuchte Unendlichkeit in das Raummaß kurzer Stunden zu preſſen; Jeder ließe ſich einer Luſt, die den verrinnenden Lebensborn nun nicht mehr beſchmutzen könnte. Am vollen Zügen genöſſe die Menſchheit das Aphrodi⸗ ſiakum, das ſeligen Tod verheißt.“ So hat Lionardo Bentivoglio es gewollt. Solches Ende in Wolluſt wünſchte er den Bologneſen, deren Welt Borgias unabwendbarer Sieg den Untergang bringt. Und lächelnd ſieht deshalb fein Auge in Schloß und Garten das Rajen trunkener Gier. Er hatte für diefe letzte Nacht feinere Freude geträumt. Einen Poeten, deſſen Lieder er lieben lernte, wollte er jehen, den Dienfchen zum erjten Male der Menſch, und von des Dichters Lippe den Wohllaut hören, der, wie kunft⸗ vol gefchmiedetes Gold, das Edelgeftein ftarfer Gedanken umſchließt. Doch Filippo Loschi verfagt ſich dem gnädigen Ruf; er weiß: dem Herrn empfiehlt ihn ein Verlöbniß, das er im Herzen fchon brach und deſſen Zwang er morgen vor Aller Augen entichlüpfen wird. ‘Der Bruder der verlaffenen Braut ift des Herzogs nächſter Freund; wie träte der Ungetreue da vor feinen Fürften? Filippos Weigerung wird FilipposVerhängniß. Der Herzog nimmt, ohne es zu ahnen, dem Dichter das erfte Wefen, in deſſen Arm der ſpröde Schwädhling ſich einen Schöpfer wähnte. Da Apoll die Saiten nicht rühren mag, foll Benus derlegten Nacht Zröfterin fein. Aphrodite Barthenos ;die Schänftein Bologna undrein ;recht gejchaffen, eines Helden Todesfchauer zu ſüßen. Aufder Straße fand fie der Fürſt. Schlechter Leute Kind. Dem Bater, einem gefchieften Wap⸗ penfchneider, Haben die ſchlimmen Ruderftreiche der Frau den Sinn verwirrt; und wie die Mutter fcheint auch die ältefte Tochter mit Kanthariden genäfrt. Des Hauſes Jüngſte aber, Beatrice Nardi, fchreitet in prangendem Lenzreiz durch Jammer und Schmach; und wann fragte beraufchter Sinn ein holdes Menfchenwunder nad) feiner Sippe? Eben hat ihr der Bruder den Gatten gefreit, einen tüchligen Handwerfsgejellen, der fie noch heute dem Schmug des Haufes und der Noth der Heimath entführen joll. In der Kirche harrt ſchon der Priefter des Paares. Da heiſcht der Herzog die Braut als ſein letztes Liebchen. Nicht ungeftüm drängt er, befiehlt nicht und iſt bereit, dem blons

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Der Schleier der Beatrice. 591

irrt der Fürſt durch Palaft und Park. Hätte er doch die Stunde, feit er Bea⸗ trice Ehgemahl nennen durjte, genützt, um ihres Weſens Schrein zu entrie- gein! Dann wüßte er jett, wo fein Wunfch fie zu fuchen hätte, ahnte wenig- ftens ihres Wollens Biel. Uber er röftete ſich an der Gewißheit, die gute Beute für eine Nacht ficher zu haben, fragte ihrer Art, ihrem Trachten nicht _ nad, und fteht nun und kann nicht entjcheiden, ob eines Kindes Laune

ihn narrt, ob liftige Tücke den Unachtſamen um hoben Kaufpreis prelft... Doch

die Erfehnte kehrt ihm zurück. Bleich tritt fie aus dem Säulengang in den Saal; tim Brautkleid; ohme den Schleier, das reichte Geſchenk feiner Bärt- fichkeit. Woher kommſt Du? Aus der Kirche. Und wo blieb der Schleier ? Yın Gebet entglitt er mir wohl. Was die blafje Lippe bebend fpricht, ift leicht als Lüge entlarvt. Nicht wie ein roher Tyrann will Bentivoglio fchals ten; mitfchuldig fühlt er fi) an der Wirrniß folchen Erlebens und will, was auch geichehen fein mag, verzeihen, wenn bie Frau den Schleier zurück⸗ Schafft. Sie fträubt ſich. Nie die Stätte wieberfehen, wo fie den Schleier ließ; in einfames Elend lieber. Erſt das Grauſen vor jchmählichem Folter⸗ tod bricht den ftarren Sinn. Gut alfo; da e8 denn fein muß, wird fie den Schleier holen. Doch nicht allein kann fie den Schrediensweg betreten. ‘Der Mann muß mit ihr gehen, ihre Hand feft in feiner halten und jchwören, daß feine Frage die zitternde Gefährtin quälen, zu Härender Rede zwingen ſoll.

So ſchreiten fie; Handin Hand, mit ſchneller ſtets pochendem Herzen. Schreiten durch nächtige Gaſſen, anden Nachzüglern des Teftgewühles vor- über, die finnlos lachen, in Trunkenheit lallen und das ftille Paar nicht er- fennen, durch dunkle Alleen in den bämmernden Morgen. Die Herzogin weiß den Weg. Viermal ging ihn Beatrice; viermal nur. Am erften Abend war hier, als das Gartenthor hinter ihr ins Schloß fiel, ihr Fächer zerbrochen und fie hatte jo bitterlich geweint. Um den Fächer? Im Born wirfts ihr der Freund vor: Sobift Du ;immer Thränen, geiternumein hübſches Nichts, heute um eines Mannes verwirktes Leben. Leidenſchaft ift Leicht ungerecht. Bor der Stadt, beim lauten Volksfeſt, hatte er ſie gefunden. Ein fchöner Jungling, vornehm und zart, anders, fo ganz anders als Alles, was ihr Auge im Kleinbürgerftande jefah. Am felben Abend noch war fie ihm gefolgt; . nicht als ein bethörtes Kind, nein: in freiem Entfchluß, Diefem nicht, was jo Biele begehrten, zu weigern. Und fie follte nicht weinen, da das Thor zu» Ichlug, die Mauer fie von aller Sippfchaft trennte und ein Bittern bewußt werden ließ, was fie dem Entzückten aufs Lager trug? Zweimal lag fte felig in feinem Arın. Am dritten Tage... In einem Jahr lernt die Klügſte den

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622 ‚Die Zutunft.

Mann nicht aus; tote follte ein unerfahrenes Mädchen ihn nach zwei Tagen kennen? Einen Traum hatte fie ihm erzählt; er würde gewiß lachen. Ani ihrem Bett war fie, als fie fich für ihn ſchmücken wollte, eingefchlummeit, für Minuten nur; und im Traum wie drollig! fah fie ſich im Brautbett der Herzogin, fühlte den heißen Athem des Fürften dicht an ihren Lippen und fuhr jähauf.SowunderlihenZraummußmandocherzählen. Aber derFreumd lacht nicht. Einen Schöpfer hatteerfichgewähnt. Und fein Geſchöpf träumtſich aufs Buhlbett eines Anderen? Du follft feine Götter haben neben mir! Jeder Schöpferwahn befiehlt fo. Liebe könnte verzeihen; Manneseitelleit kann nie vergefien. Mitrauhem Wort jagt der Freund das Mädchen hinaus. Beſchmutzt bift Du, Deines Traumes Dirne, nieumfängt Dich wieder mein Arm! Beatrice faßts nicht. Ganz betäubt kehtt fie ins enge Haus heim. Der Bruder bringt ihr den Bräutigam: fie fügt fi. Der Herzog wirbt: fie wird Herzogin. Nım aber, ba ber Traum Wahrheit werben foll, da die Mägde ſchon das Braut« gemach rüften, nyn pact fie die Scham. Bei ihm nur war Leben geweien. Buppen Hatte feine Rede zu Menfchen gewandelt. Aus dem Palaſt Läuft fie zuihm. Sterben, gemeinfam fterben mit ihm, ber fie leben Ichrte! Eines Mädchenhirns dünnes Gefpinnft. Nardis fchöne Tochter ift keine Heldin. Als der Geltebte ihr, ſie zu prüfen, den Glauben einfpricht, fie Habe Gift ge: trunfen, flackert bie Lebensfucht aller Kreatur auf. Schmach und Küge lieber als Tod. Von des Freundes Leiche eilt fle zum Herzog zurück, ind Leben. Und nun muß fie zum dritten Male an diefem Tag der Wirrung den wohl⸗ befannten Weg gehen, muß den Mann, dem fie angetraut ward, in ben Raum führen, der ihres Glückes Brautkammer war, ihres Liebften legte Ruhflaͤtte iſt. Die Kerzen ſind herabgebrannt. Auf dem Tiſch die Refte eines Mahles, bei dem der Hausherr mit florentiniſchen Metzen troͤſtenden Rauſch geſucht hatte. Und da liegt der Schleier; auf ſein Geheiß ließ ſie ihn fallen. Schnell wieder fort. Iſt nicht unſere Hochzeitnacht, Lionardo? Leiſe naht ſchon die Sonne dem erglühenden Erdball. Früh mußt Du ins Feld. Schnell ins Schloß heim! Iſt die Sehnſucht nach meinem Kuß denn verraucht? Das arme, von Todesſchauern gefchüttelte Weib müht ſich, bräutliche Luft zu heucheln. Doch in dieſer Nacht ſoll ihr nichts mehr gelingen. Hier, wo cin Ar- derer ihren Leib wärmte, will der Herzog fein Eheherrnrecht; wozu in die * "" Pracht erſt zurück? Da ſieht er, am Fuß des Bettes, den Körper des G lichen, deſſen Reiz eine Fürſtin vom Thron gelockt hat. Der alſo iſts. ſchläft, kann ſchlafen, wie ein Stallknecht, der nach viehiſch gierigem S an der Krippe hinſank. Wach auf, Du Lümmel, Du lahmer Buhl

Der Schleier ber Beatrice. 523

Schuft, endlihaufl.. Der Mann iſt tot. Der Mann, Herzog, hieß Filippo Loschi. So ſieht Bentivoglio ſeinen Dichter, den Menſchen zum erſten Male der Menſch. Für dieſe Nacht hatte er ſich die feinfte Freude aufgeipart; und fteht, in diefer Nacht, num vor des Sängers Leiche. Alfe Heinen Gefühle fallen, wie bunte Plunderfegen von einem nackten Leib, und in der Seele bleibt nur ein großes Staunen. Der ftarb um Dich), Beatrice? Den ließeft Du um ein Bischen Prunk? Und aus dem Staunen wird andächtiges Weltempfin- den. So Vieles geſchah ini fo wenigen Stunden; fo blind tappten wir in Ver⸗ hängniffe. Wer wagt, zu enträthfeln, was ums der neue Morgen heraufbringt, der eben erwacht? Kaum zuckt das Herz noch, da die Herzogin vom Dolch Francesco, ihres Bruders, fällt. Hundert werden fallen, Zaufend vielleicht, ehe der Sonne heißefter Strahl unferen Scheitel fengt; ob ihre Leiber: die Siegesſtraße pflaftern oder den Weg des Todes: wer weiße8? Noch der nächfte Augenblick ift weit. Durch Schleier nur, die wir felbft webten, wir Klugen, ſchauen wir ihn, und wundern uns dann, wenn das Gewebe reißt und eine Wirkfichleit dröhnend ins Erleben tritt. Dort liegt ein Dichter, bier ſteht ein Fürſt und zwilchen Beiden verbiutet die fchönfte Frau von Bologna. Der Dichter wollte ihr Gott fein, ihr Himmel, ihr Weltgericht;; der Fürſt nahm fie, fragte den Wurzeln ihres Weſens nicht nad) und glaubte, Alles, was ihr vorher ins Bewußtjein gedrungen war, fei in der Glühhite feiner Gunft big auf die legte TFafer weggebrannt ; und der Bruder forderte, fie ſolle dem Ideal feiner bürgerlichen Ehrbarkeit gleichen. Keiner jah fie, juchte in ihr den be- fonderen Menſchen. Jeder jah fie anders ; und als aus Morgen und Abend ein Tag geworden war, zeigte ſich, daß alle Drei, der Geliebte, der Gatte, der Bruder, ein verfchleiertes Bild in die Arme gefchloffen hatten und daß die Klügften nicht viel klüger find als der irre Greis, der die tote Tochter fragt, ob der ungefchictte unge Francesco ihr auch nicht wehgethan habe. | Ein ſchönes, von feinem Gewebe verhülltes Weib, um deffen Saum die Männer fich drängen, in defien Schleierfalten, wie auf glatter Waſſer⸗ fläche, die wechjelnde Spiegelung alles Gewordenen ſichtbar wird: die Oſt⸗ provinz ältefter Mythologie thut fich auf und das Erinnern führt Frau Maja heraus, die ewigsunfterbliche Trugſchafferin, die Jeden täujcht, Jeden als Werkzug des Geſchlechtswillens verbraucht. An ſie magHerr ArthurSchnitzler gedacht haben, als er die reifende Kraft ſammelte und ein Werk beſann, das mehr ſein ſollte als ſaubere Wiedergabe kleinenLebensſpieles. Allerlei Weibchen hatte fein behender Finger ſchon geformt, meift nach Modellen vom Tändels markt. Das genügte ihm nicht. Staunend ſtand der Arzt, der Dichter, der 39*

Der Schleier der Beatrice, 526

fhnüffelt. Der junge Doktor fhienin verba magistriMephiftozu ſchwören, der den Füchfen predigt, alles Weh und Ach ber Weibheit fet aus einem Punkt zu kuriren. Das jchmeichelt; man pflückt erblühende Roͤslein, reißt im Lenz ſchon Primeln und Himmelsjchlüffel an ſich und brüftet ſich, män- niſch ftolz, als Berfluchten Kerl. DieWeiber? Tota mulier in utero! Aber man ift auch ein Bischen fentimental, ift ein Dichter, ein Dichter aus Wien, weich und mit offenem Ohr für die Flüſterſtimme des Miitleids. Und man wird älter und merkt, daß die Sache nicht ganz jo einfach ift, wie emfige Jugend träumt. Mephiftos Weisheit wuchs auf dem Blocksberg und feine Rezepte wirken im Umgang mit Hexen. Menfchenfrauen find nicht nur Luſt⸗ thierchen, find auch Mütter, Schweftern, Gefährtinnen, manchmal fogar Menichen. Der Befruchter wird ſchnell mit ihnen fertig: Da haft Du Dein Theil; jei nun der Gattung Gefäß! Wie aber fteht Frau Maja vor unferem Blick, wenn fie zu ihrer Hauptrolle der großen Gebärerin gar nicht erft tommt? Wer jo fie zu bilden vermöchte! Nicht aus dem Urſchleim fordernder und gefättiger Sinnlichkeit, fondern als intelligibles Wefen. Der käme hinter das ewige Geheimniß. Der hielte den Schleier in feiner Hand und dürfte dreiſt unter das nackte Gebild fchreiben: Ecce femina.

Siehe: das Weib! BeatriceNarbiiftdem Serualtrieb nicht blind unter- than; im Haus mäütterlicher, jehwefterlicher Schande fühlte vielleicht Ekel das junge Blut. Steläßt ſich lieben. Nicht der Jünglingsleib Filippos lockt ſie: dem Zauber feiner adeligen Poetenjeele ergtebt fie ſich. Wäre jie finn- Lich, ihr Fleiſch vergäßenicht ſchon am zweiten Tage, ahnte fich nicht inden Arm eines Anderen. Sie hat im Erwachien vor fic Hin geträumt ;fortaus Engeund Niedrigkeit. Ohne den bewußten Drang, die Räthſel des Dafeins zu löfen, die wache Augen jchreden, ohne andächtiges Staunen vor dem Unerforjchten, Unnennbaren, das der Mühen armen Verftandes fpottet. Kinderfinn denkt nur in Märchenbildern. Als im Hirn des Vaters noch ein Lichtſtümpfchen glomm, erzählte er von Einem, der den Kopf ins Waſſer tauchte und in einer Minute jo viele Abenteuer träumte, daß fie faum in zwanzig Jahren zu er» leben gewejen wären. Seitdem träumt Beatrice von Abenteuern und wun- dert ich nicht, da fie fommen, in wirrer Buntheit fich häufen. Warum ſollte fie ſich nicht geben, wiefie ift, warum einen Traum verfchweigen? Der Freund deutet ihn wohl; er jteht jo hoch und es ift fo jchön, von feinem Geift aus dumpfem Thal ſich auf Gipfel leiten zu laſſen. Manche Grau empfand jolche Sehnſucht, ſolches Glück; faſt jede möchte höher hinauf, das Geiftesleben bes geliebten Mannes mitleben, aus einem Bergquell mitihm trinken. Wenn

626 Die Zukunft.

die Herren Erzieher nurnichtgar fo ſchnell die Geduld verlören! Diefer Filippo Loschi möchte ein Schöpfer fein und fcheut die Anftrengung des Schaffens. Sechs Tagelang hat, von Morgen zu Abend, ein Allmächtiger fich geplagt: und biefer Feine Herrgott will in vierundzwanzig Stunden mit feiner Welt fertig fein. Zweimal hat erdie ſchoͤne Freundin umarmt und fordert ſchon un⸗ geſtüm, ihr Herz ſolle in dem Takt pochen, den er befiehlt. Ein Dichter; Einer von Denen, aus deren Schule Muſſet geplaudert hat: Is se regardent vivre ets’&coutentparler, DerfeinfteWortgauffer. Narcissus poeticus. Einer, der Liebe braucht, um ſich jelbft lieben zu können, und des Lebens Laft nicht weiter zu tragen vermag, wenn er. an feiner Gottähnlichleit zweifeln muß. Ibſens Borkman und Ibſens Irene würden ihn im Ton tieffter Ver⸗ achtung einen Dichter nennen, den Dann ohne Mark, der immer nur malt, was Andere thaten, immer mehr will, als er kann. Er fühlt feine Schwach⸗ heit, möchtedem Treibhauſe feiner Phantafieentfliehen, hinaus im frifche Luft, und lernt doch nie die Gewiffenlofigfeit, die den Handelnden aufrechthaͤlt. Soflammerter ſich an des Mädchens jufge Seele. Macht über einen Menſchen gewinnen, ſchrankenloſe Macht: Das reizt ihn, der endlich müde ift, fein Glück nur zu dichten. Statt aber zu warten, bis deransgeftreute Same unter zärt: licher Sonne keimt, ftatt mit leiſer Bildnerhand das kaum noch be- rübhrte Seelchen zu formen, will er die Wonnen des Gottes an fich reifen, auf deſſen Wink das Gefchöpf lebt und wandelt, So häuft er dem Mädchen die jchwerften Proben. Schimpf ſoll fie dulden, nur zu ihrem Filippo beten, auf fein Geheiß mit ihm fterben; er malt ihr, rechtwieein Poet, die Schreden bes Todes und die warmen Freuden des Lebens und kanns nicht faften, daß fie das Leben wählt und nicht die edelſte Luft: einem Dichter zufterben. Keine Macht über Dienfchen, nicht einmal über diefes ſchwache Kind: Daswarfein letzter Trug; davon erholt feine Eitelkeit fid nicht. Wie fähe er, der ftolz ftets nad) feines Schatteng jchöner Linie ſpähte, ſich morgen im Spiegel? Lieber noch raſchen Tod. Als Reiſetroſt nimmt er die Gewißheit mit, daß an ſeinem ſtrahlenden Genius ein Weib mit ruchloſem Undank gefrevelt hat. Gewiß⸗ heit? Beatrice that, was fiefonnte. ‘Der Liebfte will fliehen: fie wird ihn ge- leiten. Er jagt fiefort: fie geht. Als Gefährtin auf finfterfter Straße hei” ' er fie: und fie kehrt zurück. Nur allzu ſchwer darf mans ihr nicht mad; folgfam zu fein; täglich erneuten Schimpf trüge fie nicht; und warum Graus des Sterbens mit ſchwelgendem Wort noch übergraufen? Sie h

beit immer natürlich; doch der aller Natur entfremdete Fabulirer verj. das Natürliche nicht. Sie fügt fi, nimmt ohne Grübeln die bunte Fi

Der Schleier der Beatrice. 527

und zaudert nicht, mit der Lüge, des Schwachen ftärkfter Waffe, um ihr Dafein zu fämpfen. Natur in ung zittert vor dem Tod, in Jedem, mag El ftafe oder Heldenpofe auch den Betrachter täufchen. Beatrice ſchämt fich der Todesfurcht nicht, die fie im Kojenden Arm wohl vergefien hätte. Erſt als alle Gitter brechen, an die fte fich lehnt, als die drei Männer, denen fie gut war, ber Freund, der Herzog, der Bruder, fie hart, unbarmherzig verdam- men, ift fie jo matt, fo wund, fo abgehett, daß die Lebensfucht keinen Flügel mehr regt. Beatrice wäre im engen Handwerkerhaus, als Mutter eines Blondlopfes, vielleicht glücklich geworden. Doch es riß fie ins Weite, in großes Erleben; und die Männer, die um fie warben, wollten nur nehmen, nicht geben. Keinem ſann fieBöfes; fie fehnte fich nach ficherer Leitung, hätte eben gern mit einer Lüge beglüdt und fand mit unbeirrtem Trieb auch immer die Stufen zur Zügenbrüde. Aber die Strengen wollten, fie ſolle ihr Ebenbild fein und den Frauenreiz dennoch bewahren, forderten, was fie nicht geben konnte, und hatten für die dem Anfturm Erliegende faum einen Blid. Siehe: das Weib!

Nach Abenteuern tauchte Nardis Tochter hinab und von Abenteuern träumten die beiden Männer, dieihr Schickſal wurden: ber Dichter, der Fürft. Filippos Wunſch langt in den feſten Pflichtenkreis männlichen Handelns, wo die That nicht in der Zropenhiteeinbildnerifcher Kräfte verfümmert ; und in Bentivoglio tft die Luft an der Senfation des Neuen, Unbelannten ſo ſtark, daß er im Tod noch ein letztes Abenteuer fieht, „von allen das gewaltigfte.” Beide bewundern, Beide verkennen einander. Dem Fürften ift der Dichter . „ein Bote, ausgejandt, das Grüßen einer hingeſchwundnen Welt lebendig jeder neuen zu bejtellenund hinzuwandeln über allen Tod” ; und Loschi war gewiß nur Einer aus der Schaar, der Niepfche die Epigonenaufgabe zumies, „erlojchene, verblichene Vorftellungen ein Wenig wieder aufzufärben”, ein Poftumus, ein jchmaler Byron höchſtens, keın Dante. Und dem Dichter wiederum ift der Herzog ein ftrogender Held, der über Menſchen hinfchreitet wie über feuchtes Gras, „daß ihm der Fuß vom Thau des lebens dampft, das er zertrat” ; und diefer Herzog Lionardo, der fich felbft neben Borgia winzig fühlt, tft doc) ein Dilettant, ein Sucher verfeinerter Freuden, ber, während ber Feind ſich zum Sturm auf die Stadtmauer rüftet, die Abfage eines Poeten nicht verwinden kann. Er wird tapfer fterben, nicht, wie Filippo, mit einer Märtyrergrimaffe, fondern im Bewußtſein goethifcher Entelechie, auch er in der Zuverſicht, „die Natur werde verpflichtet fein, ihm eine andere Form des

Daſeins anzuweiſen, wenn die jetige feinen Geift nicht ferner auszuhalten

528 Die Zunft.

vermag“. Ein Held aber, den Gewiſſen nie hemmte, war er nicht. Ein Poet, daneben ein fentimentaler Genußfüchtling: aus anderem Stoff ſchuf Natur die Schüger schwacher Weibheit. Arme Beatrice! In beiden Mänuern, die nach ihrer täubchenhaft flatternden Seele bafchten, war des Mannes zu wenig, in Beiden vereint nicht fo viel wie in dem Herafliden, der in Hebbels Fabel⸗ Iydien den Herrfcherreif trug. Der befannte freien Muthes vermeſſene Thor- heit vor der rau: „Dein Schleier ift ein Theil von Deinem Selbft umd dennoch zerr’ und zupf’ ich ftets ag ihm und hätt’ ihn geftern gern Dir ab- geriſſen.“ Derrichtet, da er fich ſchuldig findet, fich jelbftin ruhiger Würde. Fi⸗ lippo undLionardo können ben Schleier nicht miſſen, den ihre eitle Phantaſie um das Mädchen mob: fürjie verliert Beatrice jeden Reiz,da ſie ſchleierlos vor ihnen ſteht. Der Herzog, vonluhlerer Art und deshalb der befjereSeelenerkeuner,merkt ſpät noch den Fehler: „Jeder von uns wollte nicht nur das einzige Spielzeug fein, nein, mehr: die ganze Welt!“ Und er hat jchuell tröſtende Erffärung: Sie war ein Kind. Nicht ein Weib, das immer ber Natur näher ift als der Dann, näher bleiben mußte, weiles den Wuft ber Sittengefete, bes Glaubens und Wiſſens nicht durch die Jahrtauſende zu fchleppen hatte, weil es, ftatt über Büchern und Bapier zu figen, gebar und Jäugte und in natürlicher Funk⸗ tion dieLeben fihernden Organe nicht verzwergen und fiech werden ließ? Ecce femina. Aber die ftolzen Herren ber Schöpfung wollten nicht jeden. Auf Abenteuer gingen fie aus, mochten nicht lange beim Beftellen des Feldes weilen und wurden fehr ungnädig, da fie fanden, fie feien, all in ihrer Herrlichkeit, einem Mädchenkopf nicht die ganze Welt. Siehe: der Dann! Sich felbft weiß Loschi ewigen Geſetzen unterthan, wie das Blatt, ben Ader, ringsum alles Geſträuch, und lacht alter Spüfe von Sündenfchuld ; gleich aber verurtheilt er, ohne Erbarmen, die Fran, die ſich von anderer Vorftellung determinirt zeigt. Nur ein Weib! Den Adam ſchuf der Herr der Himmelsvefte „zu Gottes Bild”, die Eva aber baute er aus der Rippe des Menjchen. Der Diy thos wirft fort, hemmt die Erfenntniß, daß jeder Menſch eine Welt für ſich it, und führt, heute noch, zu der Forderung, die Frau müſſe des Dan: nes Ebenbild fein. Herr Oger ftarb nicht; und unzählige Weiber Hähnen die Klage nach), die Shakefpeares Fähnrichsfrau gegen die Männer Sie Alle find nur Magen, wir nur Koft; Sie ſchlingen uns hinab, und find fie ſatt, Spein jie ung aus. ... Wer weiß? Vielleicht würde Herr Schnigler feines vr ganz anders deuten. Ich zeigte es, wie ich8 Jah, wie e8, er