Google

This is a digital copy of a book that was prcscrvod for gcncrations on library shclvcs bcforc it was carcfully scannod by Google as pari of a projcct

to make the world's books discoverablc online.

It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject

to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books

are our gateways to the past, representing a wealth of history, cultuie and knowledge that's often difficult to discover.

Marks, notations and other maiginalia present in the original volume will appear in this flle - a reminder of this book's long journcy from the

publisher to a library and finally to you.

Usage guidelines

Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to prcvcnt abuse by commcrcial parties, including placing technical restrictions on automatcd qucrying. We also ask that you:

+ Make non-commercial use ofthefiles We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for personal, non-commercial purposes.

+ Refrain from automated querying Do not send aulomated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machinc translation, optical character recognition or other areas where access to a laige amount of text is helpful, please contact us. We encouragc the use of public domain materials for these purposes and may be able to help.

+ Maintain attributionTht GoogX'S "watermark" you see on each flle is essential for informingpcoplcabout this projcct andhclping them lind additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.

+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are lesponsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can'l offer guidance on whether any speciflc use of any speciflc book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search mcans it can bc used in any manner anywhere in the world. Copyright infringement liabili^ can be quite severe.

Äbout Google Book Search

Google's mission is to organizc the world's Information and to make it univcrsally accessible and uscful. Google Book Search hclps rcadcrs discover the world's books while hclping authors and publishers reach new audiences. You can search through the füll icxi of ihis book on the web

at|http : //books . google . com/|

Google

IJber dieses Buch

Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Realen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfugbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde. Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch, das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.

Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin- nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.

Nu tzungsrichtlinien

Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nie htsdesto trotz ist diese Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch kommerzielle Parteien zu veihindem. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen. Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:

+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.

+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen unter Umständen helfen.

+ Beibehaltung von Google-MarkenelementenDas "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.

+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein, sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA öffentlich zugänglich ist, auch fiir Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.

Über Google Buchsuche

Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppcn zu erreichen. Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter|http: //books . google .corül durchsuchen.

V .

\l

- : 'a'-v^-'

*"

'."V-;,

?^

./L.r*.

V "

_«,

' ..; -J'

,-_ "

''*

>

- * r

-

I

FÜHRER DURCH DEN KONZERTSAAL

VON

HERMANN KRETZSCHMAß

n. ABTEILUNÖ BAND I

KIRCHLICHE WERKE

PASSIONIN, MESSEN, HYMNEN, PSALMEN, MOTETTEN, KANTATEN

FÜNFTE AUFLAGE

LEIPZIG

*DRÜOK UND VERLAG VON BRBITKOPP & HÄRTEL

1921

I

Alle ßeohte, auch das der Übersetzung, vorbehalten. <

Das Recht des Einzelabdruckes und dessen Weitervergebung steht ausschließlich den Verlegern Breitkopf & Härtel

in Leipzig zu.

Copyright 1916 by Breitkopf & Härtel, Leipzig.

Vorwort zur dritten Auflage.

Die Erweiterung der dritten Auflage wurde hauptsächlich durch die zahlreichen im letzten Jahrzehnt erschienenen Neudrucke alter Kirchenmusik nötig; zur Vervollständigung des geschichtlichen Bildes ist auch eine größere Anzahl weiterer Handschriften herangezogen worden. Zweck und Anlage des Buches sind unverändert geblieben.

Schlachtensee bei Berlin, Juni 1905.

Kretzsehmar.

Vorwort zur vierten Auflage.

Diese neue Auflage gleicht in der Anlage der voran- gegangenen. Erweiterungen wurden durch die in Messen und Motetten beträchtlichen Neudrucke alter Werke nötig, in zweiter Linie waren Kompositionen aus neuester Zeit aufzunehmen, jedoch nur solche, die sich bereits weiter eingebürgert haben.

Das Ausland gab äußerst geringe Veranlassung zur Berücksichtigung. Ich schließe mit dem Danke für das Wohlwollen, das auch dieser Band erfahren hat.

Schlachtensee bei Berlin, Juli 1916.

H. Kretzschmur.

INHALT.

Seite Vorwort III

Erstes Kapitel. Passionen . * B

Zweites Kapitel. Messen 135

Drittes Kapitel. Hymnen, Psalmen . . . 340

Viertes Kapitel. Motetten nnd Kantaten ....... 447

Register 611

\

BAND I

KIRCHLICHE WERKE

I

PASSIONEN, MESSEN, HYMNEN, PSALMEN, MOTETTEN, KANTATEN

II, 4.

Üi-stes Kapitel. Passionen.

Kfflffiler Konzertsaal hat in neuerer Zeit von einer Reihe I^wSm größerer Gesan'gwerke Besitz ergriFFen, welche ur- ■=3™ aprünglich Dicht für ihn, sondern für den Gottes- dienst bestimmt waren.

Hach der Bedeutung des Teirtes nehmen in dieser Klasse die Passionen die erste Stelle ein.

Die neuere Zeit kannte bis vor kurzem, wenn wir von den einschlagenden Werken Grauns und F. Schnei- ders absehen, nur die Passionsmusiken von Seb. Bach; erat kürzlich trat zu diesem in einsamer Höhe thronen- den Meister in Heinrich Schütz ein ebenbürtiger Name. Die Verschiedenheit, in welcher diese beiden gleich großen Kübsüer die Leidensgeschichte Christi musikäliach dargestellt haben, drängt allein schon dazu, nach der Geschichte der Gattung zu fragen. Wir dürfen aber auf diesem Wege anch noch darauf rechnen, unsere Einsicht in die herrlichen, aber rein künstlerisch nicht völlig ver- ständlichen Passionen Seb. Bachs zu vertiefen, and zweitens darauf, daß wir einzelne Werke oder ganze Gruppen aas der Familie der Passionsmusiken kennen lernen, welche verdienen entweder wegen ihres noch ungebrochenen Gebrauchswertes oder wegen der Auf- fassung und Durchführung der Aufgabe , der Ver- gessenheit entrissen zu werden.

* 4 ^

Unter der großen Menge von Passionsmusiken, welche im Druck oder in Handschrift vorhanden sind, unter- scheiden wir drei Hauptgruppen: die Ghoralpassion, die Motettenpassion und die oratorische Passion.

Die erstgenannte Gruppe hat den Altersvortritt Nach dem gegenwärtigen Standpunkt der Forschung gehen die direkten Nachrichten üher Ghoralpassionen allerdings nur bis ins 45. Jahrhundert zurück; das von Mone*} beschrie- bene Exemplar ist das älteste in Noten vorhandene, von dem wir wissen. Aber Charakter und Form der Musik in den Ghoralpassionen des 45., 4 6., 4 7. Jahrhunderts tragen die deutlichsten Spuren einer viel früheren Ent- stehungszeit. Der Altargesang, wie er in den ersten Jahrhunderten unserer Kirche war, bildet ihre Seele.

Es war im 43. Jahrhundert**), als man aus den allgemeinen Evangelienlektionen, welche als eins der wichtigsten Glieder in dem wi^derbaren Kunstbau der altchristlichen Liturgik bis in die apostolischen Zeiten zurückreichen***), die Passionslektionen loslöste. Während jene der Diakon allein sang, zeichnete man die letzteren dadurch aus, daß man sie von nun ab mit verteilten Rollen vortrug. Der Diakon behielt nur den Evangelisten, ein zweiter Kleriker sang den Ghhstus, ein dritter alle übrigen Einzelpersonen. Diese drei Solisten oder >Soli- loquenten« (deren Zahl dann in protestantischer Zeit ver- mehrt wurde) traten bei den Worten der Menge turbae: Jünger, Hohepriester, jüdisches Volk, Soldaten msw. als Ghor zusammen und wurden als solcher bald auch durch die Gesamtheit der anwesenden Kleriker verstärkt.

Bekanntlich ging aus dieser Lesungsform der Pas- sionsgeschichte auch das geistliche Schauspiel des Mittel- alters hervor. Während aber in diesem letzteren das dramatische Element den kirchlichen Ursprung und Zu-

*) Mone, F. L., Schauspiele des Mittetalten, I, 60. **) Kienle, Ohorahcliule, I, 79. ***) SchSberleln, Schatz des liturgischen Chor- und Ge- meindegesanges, I, 192, 236.

sammeDhang bald vergaß und vernichtete, erhielten sich Geist und Form der alten Passionslektion bei den Choral- passionen in ursprünglicher Reinheit und Einfachheit noch lange fort. An ihnen hat die Kirche ihre konservierende Natur mit besonderer Macht erwiesen. Die im 4 8. Jahr- hundert geschriebenen, sogar die auf evangelischem Boden verfaßten Nachzügler dieser Gattung, sehen im Rezitativ- teile wenigstens noch genau so aus, wie die zwei Jahr- hundert älteren, und die dem i 6. Jahrhundert an gehörigen bringen uns wie in einer Versteinerung die Gesangformen eines Zeitalters vor die Augen, welches noch nicht die Sequenzen. Notkers, ja nicht einmal die Hymnen des Ambrosius gekannt hat.

Mit dem evangelischen Kirchenliede hat die Choral- passion keine Blutsbeziehungen. Sie leitet ihren Namen von dem sogenannten Gregorianischen Choral, d. i. von jener Stilgattung liturgischen Gesanges ab, welche, in der frühesten Zeit der christlichen Kirche im absichts- vollen und weisen Gegensatz zu den sinnlichen Formen heidnischer Musik ausgebildet, angeblich durch Gregor den Großen Gesetzesgeltung für die abendländischen Gemeinden erhielt. Sie ist heute noch, oder vielmehr heute wieder, das Fundament kirchlicher Musik auf römisch-katholischer Erde. Die Gesänge des Gregoria- nischen Chorals zerfallen in zwei Gruppen: concentus und accentus. Der concentus umfaßt wirkliche Gesänge, kleine und große Melodien im neueren Sinne dieses Wortes, in denen musikalischer Reichtum, Schönheit und Charakter die denkbar höchsten Maße erreichen. Einzelne dieser ausdrucksvollen, köstlichen und eingäng- lichen Melodien aus dem Schatze des Gregorianischen Gesangs haben Jahrhunderte lang den Meistern der Poly- phonie immer von neuem wieder Anlaß und StofT zu herrlichen, mehrstimmigen Kunstsätzen geboten. Die Sätze des accentus sind weniger Gesang als Deklamation, Seine einfachen Tonreihen unterscheiden sich von ge- sprochener Deklamation nur dadurch, daß die Stimme eine musikalisch kontrollierbare Höhe einhält und daß

die grammatische Einteilung durch bescheidene Hülfsmit- tel melodischer und rhythmisdher Natur verschärft wird. Der accentus weist auf eine besonders frühe Entstehungs- zeit hin , auf eine Zeit, in welcher singen (canere) und laut sprechen (alte dicere) als gleichbedeutend gelten durften, wie es tatsächlich in den Büchern der Kirchenväter auch für gleich genommen wird. Zu dieser zweiten Gruppe des Gregorianischen Rezitativgesanges gehören nun mit den Lektionen im allgemeinen auch die dramatisierten Passionslektionen im besonderen, und aus letzteren gingen die Choralpassionen hervor. Der Beweis hierfür liegt eben in der Tatsache, daß die Solopartien dieser Choralpassio- nen den vorgeschriebenen Stil der Lektion strengstens ein- halten.

Protestantische Leser, welchen der Lektionston der katholischen Liturgie fremd ist, können sich von dem Rezitativstil in diesen Choralpassionen einen Begriff machen, wenn sie an den Gesang ihrer Versikeln und Kollekten denken. Wie hier, so wird dort der Hauptteil des Textes auf demselben Ton (Tenor, Reperkussion, Akzentton) deklamiert, das musikalische Element ist nur durch wenige schlichte melodische Formeln vertreten, welche an denselben grammatischen Stellen immer wieder- kehren. Manche ältere Agenden schicken den verschiede- nen Akzentstücken eine Tabelle ihrer Formeln voraus. Da haben dann alle Interpunktionen, das Komma, das Kolon, das Semikolon, der Punkt, das Fragezeichen, das Aus- rufungszeichen, besondere Tonfälle, die der Sänger im Kopfe haben und richtig einsetzen muß. Bei einem Teil der Akzentstücke wird der Anfang der Sätze im Haupt- ton gegeben. Zu denjenigen, die auch für den Anfang eine Formel (das initium) verlangen, gehört die Lektion. Das gebräuchlichste Initium der Passionslektionen bildet die aufsteigende kleine Terz. Mit ihr beginnt der Evange- list in der Tenorlage '^ J -fj yj p p Christus bringt alle seine Einsätze: "«^i^ i be.gtb iL ' sie, in der Baß- lage, wenigstens zum An- >ji j i* (* i* ^ p= fang der Nebensätze immer: *-~J [ J J ^ J~ ^^

^ Dms ib du Vu.Mf bal

nnd die übrigen Soliloquenten machen von ihr ebenfalls einen sehr weitgehenden Gebrauch: Der Falsettist (Petrus, Pilatus) in der Form d f eine Oktav höher als Christus und der spätere Soprc^nist (Magd usw.) in der Form a c uin eine Oktav höher als der Evangelist. Mehr noch als durch die verschiedene Stimmlage unterscheiden sich aber der Evangelist und von ihm und unter einander die im Evan- gelium auftretenden Personen durch die melodischen Wen- dungen am Ende der Satzteile, d. i. durch die Schlußfor- meln. Der Evangehst schließt kleine Abschnitte in der Regel mit -^j^ ^ t . i » ^ ^^ J i sein musikali-

C a wie ^ DaWdie.eR«de.<,Ue»dctlL.U. ' ^Ches Stich-

satz des Christus ist: ff * ^ '^'^^ ^ f y j

odsr

wie in

f ^ '} \\ ['■ r ^ O ^; für den Choreinsatz :

spraeh er sn sd.nea Jlin « gcra

i i tT\ n m-

Sie -tpr» . chto t.lHNr:

Die wesentlichsten Schlußwendungen für die anderen Soliloquenten sind c d e f und f e d c, z. B. : Judas

i f f " '' ^ \ \ ^ \ n \

Ww tiolk ihr mir ye . b«n, m will idi iha tndi ver . ra . dwü

und Petrus:

*Wnin sie «odi liUi» ddi an & är.gerii, m viU ich midido<hnimmcnndur ir^ra

"Die erste der beiden letzterwähnten Formeln kommt auch in den Reden Christi vor und ist im Lektionston der vor* geschriebene musikalische Ausdruck der Fragesätze. Da die Reden der Nebenpersonen durchschnittlich nur kurz sind, so haben sie mehr Formeln als eintönige Dekla- mationsstellen und sehen musikalisch belebter aus. Aber nichtsdestoweniger stehen sie im Eindruck hinter den Partiein Christi und des Evangelisten weit zurück, vor- ausgesetzt, daß dieselben mit der ganzen Kunst musi- kalischer Deklamation ausgeführt werden.

8

An einer Stelle geben alle Choralpassionen das wür- dige Einerlei des Akzentensystems auf. Das ist beim »Eli, Eli lama asabthani«. Hier setzt auf einmal Concent, ecbter, warmer Gesang ein und im Gegensatz zu der Einfach- heit einer halbstündigen Deklamation wirken die letzten Worte Christi wie eine Stimme aus der ^anderen Welt. Unter den drei nachweisbaren Hauptmelodien des »£li< ist die am meisten gebrauchte:

zugleich die er-

^ greifen dste und

' £, ift.m» a.Mb. tb* . I I . aU feierlichste, faie anderen haben nicht die schone, weit gesch\9rungene Ton- linie, aber schon in der bloßen Wiederholung des Namens Eli besitzen auch sie ein starkes musikalisches Macht- mittel. Die Übersetzung der hebräischen Worte über- nimmt in der Regel der Evangelist, zuweilen auch merk- würdiger Weise Christus selbst; ausnahmsweise fehlt die Verdeutschung. Einzelne der späteren Motettenpassionen haben das hier angeführte schöne Eli ebenfalls als Ober- stimme im vielstimmigen Satze, und der Hinblick auf die gewaltige Wirkung, welche der Choralpassion an dieser Stelle eigen ist, hat auch die Komponisten in den ora- torischen Passionen immer gezwungen, für das Eli etwas ganz Außerordentliches zu tun: die einen, indem sie den Kunststil aufs höchste anspannen, die anderen und sie bilden die Mehrzahl indem sie, im umgekehrten Verfahren der Choralpassion, ihn hier mit Tönen von der größten Einfachheit vertauschen.

Der Solopartien wegen hätte man kaum Veranlassung gehabt, Choralpassionen aufzuschreiben und zu drucken. Solche Halbgesänge, die sich in ganz glatten und fest- geränderten Geleisen bewegen, zu behalten, reicht die Oberlieferung von Ohr zu Ohr ziemlich aus. Karl Löwe, der Balladenkomponist, erzählt in seiner Selbstbiogra- phie, daß in seiner Heimat Löbejun noch am Anfang des

49. J<ahrhunderts die Solisten in der Karfreitagspassion, Schnlknaben und Männer aus der Gemeinde, ihre Partien improvisierten. Allerdings wichen die einzelnen Provinzen der Kirche trotz Gregor in den Kirchenakzenten schon früh wieder vielfach von einander ab, und für die Passions- lektionen im besonderen gesellte sich zu dem Römischen bald ein Kölnischer, Münsterscher und noch mancher andere. Unter den späteren gelangte der Passionston Luthers (nach welchem die obigen Zitate gegeben sind) im Protestantischen Gebiet schnell zu allgemeiner Gel- tung; auch katholische Komponisten ver\^enden ihn als »gewöhnliche Passionsmelodey«. Aber alle diese Ab- weichungen in den Akzenten sind bis weit ins 47. Jahr- hundert hinein nicht so wesentlich. ^ Es ist nicht zufällig, daß uns notierte Ghoralpassionen erst vom 4 5. Jahrhundert ab vorliegen. Da kam bekannt- lich der mehrstimmige, der » Figuralgesang c auf und von da ab reizten die Chorsätze die Tonsetzer nun immer häufiger, Choralpassionen aufzuschreiben. Fast jeder biographische Gang in die Kantorengeschichte des 4 6. und 4 7 . Jahrhunderts bringt weitere Passionskomponisten ans Licht*). Beson- ders eifrig waren die Thüringer Musiker**). In der vorher- liegenden Zeit waren die Chöre nichts als einstimmige Tonsätze, die nur in rbehrfacher Besetzung vorgetragen > wurden. Die Massigkeit des Stimmklangs unterschied sie von den Soloreden; in der melodischen Beschränkung gingen sie noch weiter als die letzteren. Solche ein- fach unisono, dahin rezitierte »Chöre« finden sich noch in der Zeit, wo die Kunst des mehrstimmigen Satzes bereits hochentwickelt war. So in der Passion (nach Matthäus) des Luc. Lossius (4 570}, so auch in den beiden L. Lossins. ersten Matthäuspassionen, welche das Vesperale des Matth. Ludecus (4 588) bringt. Der Brauch hatte das Alter und die M. Lndeous.

*) Vgl. ans jüngster Zeit: K. Held, Das Kreuzkantorat in Dresden.

**) Fr. Zainke in »0. Reuter als Passionsdichter« gibt hierüber ausführliche Mitteilungen«

Bequemlichkeit für sich. Aber Ghoralpassionen mit solchen Scheinchören bilden Ausnahmen. Die Regel ist ein gleich- mäßiger vierstimmiger Satz: Note gegen Note. Freilich blieben diese mehrstimmigen Ghorsätze bei vielen Kom- ponisten, — in einigen untergeordneten Punkten wie Fest-, halten an Einsatzakkord und Tonart: bei allen, in den Banden des Ghoraltons. Die wenigen Takte über, welche G. Stepkani. diese Chöre überhaupt dauern, haben wir es bei C. Ste- K. Sehieooer. phani (4 570^, bei Selneccer (4587), in der bei Welak ge- Welak. druckten Wittenberger Passion vom Jahre 4 590, auch Yopelias. noch bei Vopelius (4 684) fast ausschließlich mit dem Fdur- Akkord zu tun. Die Oberstimme weicht, um ihre wenigen Akzente zu geben, von a nur nach g und b; es ist ein großer Schluß, wenn sie (zuweilen über h) das obere c aufsucht ; in der Harmonie begegnen uns nur noch C- und B dur. Fast ist, wie in der Jugendzeit der mehr- stimmigen Komposition überhaupt, die rhythmische Aus- beute ergiebiger als die melodische und harmonische: in Synkopen und Fermaten sucht sich die durch die mecha- nische und unfreie Gesamtbewegung der zugleich sin- genden Stimmen gefesselte Macht der natürlichen Rede einen notdürftigen Ausdruck.

Die Kunst schritt über die hier geschilderte Stufe der Choralpassion weiter; die Kirche hatte eine gewisse Be- rechtigung, bei ihr zu beharren. Noch heute werden nich t blos in der Sixtina zu Rom, sondern auchin anderen katholischen Domen die Passionsevangelien in jener altertümlichen Schlichtheit vorgetragen: die Soloreden im Lektionston, die Chöre in einem von L. da Vittoria herrührenden Satze, welcher im wesentlichen noch der Kinderzeit der Harmonie, dem alten System der Falsobordone angehört. Ähnlich ist auch die Matthäuspassion des Francesco Soriano (4 649) gehalten*). Als F. Mendelssohn im Jahre 4832, voll Bach- scher Erwartungen, einer Passions- Aufführung in Rom bei- wohnte, war er natürlich enttäuscht, wie das Jedermann

*) Die Chöre aus Yittorias Passionen nnd aus der von Soriano sind in Haberls »Kiichenmudkalischem Jahrbuch < neugedrackt.

ergehen muß, welcher eine solche Chörälpassion aus dem liturgischen Zusammenhang herausgenommen betrachtet. Aus diesem Grunde erscheint auch der von Schöberlein a. a. 0. gemachte Vorschlag, den Gottesdienst der protestan- ^ tischen Kirche am Karfreitage oder an einem andern Tage der stillen Woche durch Aufnahme der Choralpassion des Mancinus [i 620) oder eines anderen Werkes der gleichen Gat* Th. Manoinne. tung zu bereichern, so lange gewagt, als nicht die protestan- tische Liturgie zum Lektionsgesang iiberhaupt zurückkehrt. Nur wenn, wie im katholischen Kultus, das Akzentsystem noch vollständig lebt, erklärt ein Lektionston den anderen auch geistig. Vergleicht man das Hauptmotiv des Evan- gelisten in der Passion , das früher schon angeführte

£ J ' p- vJ '• sprechenden in .^ J^^ '^ ,. ? [' ^=, *'' T der Osterhistorie da *«» s»b . baSh

so nehmen die starren Formeln Leben und Charakter an: das eine wird zur Klage, das andere zum Jubelausdruck -der Freu- de. In die verarmte Liturgie der heutigen protestantischen Kirche hineingestellt, müßte die alte Choralpassion befrem- den. Es ist aber das glänzendste Zeugnis für die Macht, welche sie in alter Zeit auf die Gemüter geübt haben muß» daß sie auch in der stockfremden Umgebung des protestan- tischen Kultus zur Zeit der Pietisten und der Rationalisten sich noch behauptete, wenn auch nicht gerade in den großen Städten. Die in den Rezitativen dem Choralsystem vollstän- dig angehörende Passion des Kantor Kram er (1735) enjt- Chr. Sramer* stand in Dosdorf bei Arnstadt, eine andere *), deren Autor unbekannt, aber nach dem Buxtehudesche Spuren tragen- den Stile der Chöre zweifellos ebenfalls ein Musiker des 4 8. Jahrhunderts ist, weist in Reimen wie »Werk« » stark < und anderen Spracheigentümlichkeiten die deutsche Ostsee- küste als Heimat auf. Eine dritte gleichartige, über welche J. Richter **) berichtet, fand sich in Glashütte. In Leipzig

*) Früher im Besitze des Herrn Geh.-R. Ph. Spitta in Berlin. BibUotheksnummer 2099.

*♦) Monatshefte für Musikgeschichte, Jahrgang 1879, S. 72.

hielten sich die Choralpassionen, wie Spitta mitteilt (J. S. Bach, II, 908) bis zum Jahre 1 766. Das weitere Zeugnis Karl Lowes wurde bereits erwähnt Im Harz und im Mannsfeldi- schen hat sich die evangelische Ghoralpassion sogar bis in die Gegenwart behauptet"*).

Den ersten Anlaß, von der geschilderten alten Grundart der Ghoralpassion abzuweichen, gaben die bereits berührten landschaftlichen Unterschiede in den Kirchenakzenten selbst. Wenn aber die Tonsetzer mit der Zeit viel tiefer in das Wesen der Ghoralpassion eingri£fen, sich von ihr und der Kirche schUeßhch trennten, so lag der Anstoß hierfür in der Ent- wickelung der Musik. An der Leidensgeschichte des Herrn, als an dem höchsten Gegenstande christlichen Denkens, ver- suchten Dichter und Musiker mit besonderem Stolze, was an geeigneten Formen neuer Kunst zutage kam. So wird die Passionsgeschichte später noch dem Liede und der Kan- tate angepaßt. Zunächst aber galt es, das musikalische Wunderwerk des i 6. Jahrhunderts, di^Kunst der Harmonie, an der Passionsgeschichte voll zu erproben. Bei der be- scheidenen Umwandelung der Partien der turbae aus Unisonorezitativen in einfache Chorsätze, welche den Lek- tionenton einhielten und das Wesen der Choralpassion in Geltung ließen, blieb man nicht lange stehen; das 4 6. Jahrhundert schuf die Motetten passion.

In der Motettenpassion ist der ge s am te Text des Pas- sionsevangehums mehrstimmig komponiert. Der Evangelist, Christus, die Nebenpersonen, die Scharen der Jünger, der Priester, des Volks usw. alle Partien singt der Chor. Auch der innere Stil der Choralpassion ist hier einer viel reicheren Musikweise gewichen. Das ist die Sprache und der Geist einer neuen Zeit und eines neuen Geschlechts, welches das Evangelium nicht länger nur mit regungsloser Ehrfurcht entgegennehmen, nein, welches auch zeigen will, daß es mit Herz und mit Phantasie den Worten folgt. An Stelle der al- ten, ruhig vornehmen, liturgischen Deklamation tritt nun

*) M. Schneider, Die. alte Ghoralpassion in der Gegenwart (Zeltschrift der Internationalen Musikgesellschaft VI, S. 491 ff.).

durchweg ein bewegtes, oft von Gefühl überquellendes Singen. Die Seele ladet die Bilder, welche sie schaut und fühlt, in Melodien aus, die mit Koloraturen und anderen Mitteln musi* kalischer Malerei bemerkens^i^ert ausgestattet sind. Be- deutungsvolle Worte, bedeutungsvolle Tonfiguren werden wiederholt und zu gesteigertem Ausdruck geführt. Was Har- monie und Rhythmus innerhalb der Grenzen der mehrstim- migen Gesangmusik zu leisten vermögen, das wird benutzt, um die Personen und die Szenen auch in ihrem Charakter und in ihrem Kolorit erscheinen zu lassen. Kurzum, die Mo- tettenpassionen sind als Ganzes genommen Hauptleistungen aus der Blütezeit dßr mehrstimmigen, unbegleiteten Gesang- musik, und es wäre den gegenwärtigen Ghorinstituten, welche sich der Wiedererschließung jener wichtigen Kunstperiode gewidmet haben, nur zu empfehlen, daß sie sich dieser Mo- tettenpassionen annehmen. Diese stehen auch ihrer ganzen Natur nach dem modernen geistlichen Konzert nicht so fem und lassen einen leichten Zusammenhang mitChoralpassio- nen und Gottesdienst nur an den Stellen erkennen, wo die Menge spricht. Hier sind die Bibelworte mit absichtlicher Ein- fachheit und mit einer geringeren Charakteristik komponiert. Alle Motettenpassionen sind in drei Teile gegliedert: der erste schließt in der Regel mit dem Verhör beim Hohen- priester, der zweite mit der Verspottung Christi, der dritte bringt Kreuzigung und Tod. In einer ähnhchen Welse findet sich die Leidensgeschichte auch in der Form von Hymnen für den Gebrauch bei den Hören, bei Vigilien undMatutinen in 1 2 Szenen zerlegt, und diese Ähnlichkeit läßt darauf sdiHe- ßen, daß die Motettenpassionen ausschließlich für Andachten und Nebengottesdienste bestimmt waren. Die Kirche sprach ihnen also den Lektionencharakter gerade so ab, wie denspä- deren oratorischen Passionen. Auch diese kamen zuweilen auf mehrere Tage zerstückelt zur Aufführung. Dem moder- nen nur halbliturgischen Charakter der Motettenpassion ^derspricht es nicht, daß sie lateinischen, der Vulgata entnommenen Text haben. Auch die protestantischen. Hält ja doch der ganze evangelische Figuralgesang, im Gegensatz zum Gemeindeüed, noch bis weit ins 4 7. Jahr-

hundert hinein grundsätzUch die lateinische Sprache fest. So wird in Frankfurt a. d. 0. noch im Jahre 1607 eine la- teinische Motettenpassion (nach dem Evangelisten Mat- thäus) von der Komposition des Barth. Gesius gedruckt. Die Zahl der augenblicklich bekannten Motettenpassio-^ nen gibt ö. Kade *), der spezielle Geschichtsschreiber der Gattung, mit sechzehn erstaunlich gering an**). Nach dem

J. Obreokt. Niederländer Ol) recht, dessen vierstimmige, gegen 4305 komponierte Matthäuspassion, die 1538 in G. Rahws »Har- moniae selectäe« gedruckt und in der Zusammenstellung des Textes aus allen vier Evangelien vorbildlich wurde***), stellt das Ausland nachweislich freilich blos in dem Italiener Cypr. de Eore. Cy p rian de Rore (i 557) noch einen bekannten Namen für die Gattung. Aber Italiener und Spanier, wahrscheinlich auch Franzosen und Engländer werden das ganze 4 6. Jahrhundert hindurch diese neue Art musikalischer Passionskunst ge- pflegt haben. Allerdings scheinen die Deutschen auf diesem Gebiet besonders fleißig gewesen zu sein. Die deutschen J. T. Bnrgk. Hauptwerke sind: zwei Passionen von Joachim v. Burgk i 568 und 1 574 (deutsch), ferner die Johannespassion von Lu d. L. Daser. Daser4578 (lateinisch), ein Werk, welches wegen seines rei- chen und schwungvollen Ausdrucks ganz besonders hervor- gehoben zu werden verdient, die Johannespassion (lateinisch)

Jac. Öallns. von Jac. Gallu s 1 587, eine achtstimmige Komposition, wel- che als das äußerlich wirkungsvollste und interessanteste Exemplar der Gattung angesehen werden darf, eine (deut-

J. Machold. sehe) Matthäuspassion von Machold 1593, die schon er-

B. GeilQB. wähnte (lateinische) Passion nach Matthäus von B. Gesius

1 607, und die sechsstimmige (deutsche) Johannespassion von

*) 0. Kade, Die ältere Passionskomposition bis zum Jahre 1631, Gütersloh 1893.

**) Diese Annahme ist inzwischen durch Adolf Sandbergers Mitteilangeu über Passionen von Stephan, Meiland und Haupt verstärkt worden. (Denkmäler der Tonkunst In Bayern, V, S. XXVI, XXXYI, LXn.)

***) Sie ist außer von Kade auch von der »Vereeniging voör Koord-Nederlands Muzickgeschiedenisc neu herausgegeben.

Chr. Dem'antius 1634. Der Umstand, daß alle diese ge-Chr. Bemantivi. nannten Werke sich in sehr großer Entfernung von ihren Heimatsorten vorgefunden haben, läßt auf eine weite Ver- breitung der Motettenpassion als Gattung schließen. Eine der Passionen desThüringer Burgk war ganz besonders berühmt. Machold schickt seine Passion mit dem Wunsche hinaus, daß man sie abwechselnd mit der des Burgk aufführen und »nicht stets auf einer Saite geigen möge«. Welche dies igewesen, ist nicht festzustellen. Von Burg]cs Jo- hannespassion besitzt die Gymnasialbibliothek zu Brieg ein unvollständiges Exemplar, welches nur drei Stimmen enthält Soweit sich daraus die Komposition übersehen läßt, beruht ihre musikalische Wirkung hauptsächlich auf dem Wechsel der Stimmgruppen und auf einer frap- panten Verwendung schneller Rhythmen. Wie die Kom- ponisten der niederländischen Schule liebt B. kleine Malereien. Der Ausdruck ist knapp, besonders- gelungen in dem Spottchor: >Sei gegrüßet, lieber Judenkönig«. Merkwürdigerweise folgt der durchaus deutschen Passion nach der Gonclusio -^ letztere hat den abweichenden Wortlaut: »Wir glauben, lieber ;Herr, mehre unseren Glauben! Amen!« noch ein Anhang aus der latei- nischen Vulgata. Es ist die Erzählung von den Marien, die zum Grabe gehen, den Herrn zu salben. Den sechs- stimmigen Tonsatz hat Joachim Kn«fel komponiert. Auch j. Knefel. die Geschichte der Motettenpassion gibt einen neuen Beweis dafür, wie hoch das Deutschland des il. Jahr- hunderts in der Kunst des Ghorgesanges stand. Die Fund- orte von einem großen Teile der genannten schwierigen Werke sind die Kirchenbibliotheken kleiner Städte.

Die Motettenpassion ist geschichtlich als ein Vor- läufer und Seitenstück zu der der Oper vorhergehenden Madrigalenkomödie zu betrachten, welche der Anfipar- nasso des Orazio Vecchi in allen unseren Handbüchern der Musikgeschichte zu vertreten pflegt. Beide Gattungen waren kurzlebig. Das Geschick der Motettenpassion ver- mögen wir zur Zeit nicht über das Werk des Demantius und über das Jahr 4 634 hinaus zu verfolgen. Aber klar

läßt sich erkennen, daß sie über ihre nächste Bestim- mung hinaus einen großen künstlerischen Einfluß übte: die Motettenpassion bereitete der oratorischen den Boden und sie zog die Ghoralpassion in den Kreis der leben- digen Kunst hinein.

Es sieht wie der Versuch eines gütlichen Ausgleichs zwischen zwei Interessengruppen aus, wenn wir von der Mitte des 4 6. Jahrhunderts ab Passionsmusiken begegnen, in welcher Elemente der Ghoralpassion neben denen der Motettenpassion stehen. Aus der ersteren sind die' Reden des Evangelisten, zuweilen auch die des Heilands im Lek- tionston herübergenommen, alle übrigen Solopartien sind wie die Ghorpartien im vielstimmigen Satze komponiert. Noch heute kommt die Passion in italienischen und an- deren katholischen Kirchen in diesem Mischstil zum Vor- trag. Auf protestantischer Seite begegnet uns als erste Frucht der Verschmelzung von Ghoral- und Motetten - passion die (von Gommer in der Musica sacra neu herausgegebene) Johannespassion des bereits genannten I B. Gesius (Wittenberg 1658). Von katholischen Kom-

I ponisten scheint diese vermittelnde Form schon früher

I Orlando Lasso, angewendet zu sein. Zu Orlando Lasso und Jacob Jao. Beiner. Reiner ist hier noch der Breslauer Kantor Samuel 8. Besler. Besler zuzufügen, welcher i. J. 4621 die choraliter ge- A. Scandelli. haltene Johannespassion des Ant. Scandelli »mit der GR^rstimme vermehrte«. Der Evangelist singt in einem mit freien und ausdruckvolien Wendungen allerdings be. risicherten Lektionston, Ghristus vierstimmig, die Magd in einem Satze von drei hohen Stimmen, Petrus von drei tiefen, der Diener zweistimmig, Pilatus bald in zwei bald in drei Stimmen. Alle mehrstimmigen Sätze sind knapp aber charaktervoll. Einzelne Stellen wie »Siehe, das ist deine Mutter«, »Mich dürstet« und andere in der Ghristus- nartie machen einen außerordentlich mächtigen und schör nen Eindruck.

Wichtiger als diese bloße Vermischung von Ghoral- und Motettenstil, welche in der Passion nur selten gebraucht, dagegen aber bei der Komposition der

/

Auferstehungsgeschichte die normale Forhi wurde, war die Wirkung, welche die Motettenpässioh im eigenen Hause der Cboralpassicm selbst äußerte. Am stärksten macht sich dieselbe zunächst in den Sätzen der turbae, den ^

eigentlichen Ghorsätzen, bemerkbar. Besonders wird die Melodik viel reicher. Der erste Komponist, an dessen Ghoralpassionen man diese Beobachtung machen kann, ist der Freund und musikalische Mitarbeiter Luthers: der Torgauer Kapellmeister Joh. Walther, Seine dritte Joh. Walther. Passion, im Jahre 4 5 52 komponiert, im Text der sogenannten seit Obrecht für die Passion gern benutzten Evangelien- harmonie folgend, bringt namentlich in den Sätzen »Gott grüss dich, lieber Judenkönig«, »Kreuzige« und »Andren hat er geholfen« Tonbilder, die in ihrer An- schaulichkeit jeden Vergleich mit dem Stile in der alten Ghoralpassion verbieten. Auf einer ähnlichen Stufe, welche man immerhin schon dramatisch nennen könnnte, stehen die meisten Ghorsätze in der Matthäuspassion des Keuchenthalschen Gesangbuchs (4 573). Nur in Eenohenthal den Schlüssen folgen sie einer fertigen Schablone. Auch der vorhin schon genannte S. Besler^) hat in 8. Bflsler. seinen vier Passionen, welche i. J. 4 644 gedruckt sind, einzelne Ghöre im' freieren Stile. Bemerkenswert sind in der Matthäuspassion die Nummern: »Herr, bin ichs?«, »Weissage uns«, »Wer ist's, der dich schlug«, in denen große Intervalle und Pausen in der Deklamation viel wirken , und neben diesen die ganz kurzen Sätze : »Barrabam« und iEr rufet den Elias«. Wie schon aus

der Ober- a^ I I l jp ^ i ^^* Besler in stimme zu ^ ^ i|» f i ^ ^ \ f f I « I n^ den letzteren ersehen: Er rupfet den b . u . m. einen Zug des

*) Nach Kade (a. a. 0.) ist es wahrscheinlich, daß Besler diese Pafsionen nicht selbständig komponiert, sondern aju aus älteren Werken, Drucken und (mittlerweile Tcrloren gegangenen) Handschriften entnommen und bearbeitet hat. Neben Besler wird auch Stephan! Ton Kade aus der Reihe der Komponisten In die der »Herausgeber und Kompilatoren« verwiesen.

II. 4. 2

18

Bedauerns gelegt In der Passion nach Markus ist eben- falls der Chor »Herr, bin Ichs« beachtenswert, in der nach Lukas besonders die Nummer >Herr, sollen wir mit dem ' Schwerte dreinschlagen?«, welcher durch rhythmische

Mittel (Pausen und Synkopen) ein trotziger Ausdruck gegeben ist. In der Passion nach Johannes wirkt das »Kreuzige« durch die spannenden Fermaten mächtig.

Das bedeutendste, was vor den entsprechenden Werken von Heinrich Schütz innerhalb der Choralpas- sion an Naturwahrheit und Lebendigkeit des Ausdrucks im Ghorsatz bis je^t bekannt geworden ist, das haben zwei Thüringer Kantoren geleistet, der Weimarsche M. Kt Volpini. Vulpius in seiner Matthäuspassion (1643) und Christoph Chr. Sohvlts. Schultz in Delitzsch in einer Lukaspassion vom Jahre 1 653. Beide lösen schwierige Deklamationsaufgaben mit großer Leichtigkeit. Einfach und natürlich trifft Vulpius z. B. den Ton gleichgiiltiger Frivolität in dem Sätzchen der Hohenprister und Ältesten:

6opnA. Alt.

IBM».

m

Schultz den der naiven Verwun- derungin der Re- de des versam- melten Rates:

IMst dB deaa OoT", ' , u% Sda?

4l

3P^

^^

1^

Vi/

Besonders auffallend ist aber die Sicherheit, mit welcher diese Tonsetzer in ihren kurzen Choralsätzen den Fanatismus der Menge gezeichnet haben. Daß »Barrabam« bei Vulpius jagt in hoher Stimmlage in überstürzenden Rhythmen hin. Noch bedeutender ist sein »Laß ihn kreuzigen«, für das er Diskant und Tenor verdoppelt, wie er nach der anderen

19

Seite seinen von vornherein vierstimmigen Satz gegebenen Falls auch zusammenzieht, bei der Vernehmung der fal; sehen Zeugen z. B. in einen zweistimmigen. Der sechs- stimmige Satz: »Laß ihn kreuzigen« sieht aus wie folgt:

LDiseant.

».DiMiSk Alt.

Btss.

l«MBa^eadge9t

las» Dm knii«i9n,UMilmfa«Qfi.gnI

LusOiikivQagaBtlus QmkreosifenJbtfsQm

Lmk Dmkwqiigen.kttDuitreiiiiya,h«Bml

Mit einer noch wilderen Entschiedenheit herrschen die Juden bei Schultz dem Landpfieger zu:

LDiseuii

2.DiiBeaiit. Alt

LTttor. Siss.

Knoilg», lawiuig«,knniigeQm!Kreiizlge,l(reiuige, kravxLge Qm!

^ Kreiingo, lDMasig*,ltfeuigeilmJiUeQkigo. knotige, kreiiA^e ita!

Kraisige, UBnsige.lcreiuigefluiiKreittige, kreuzige, kreniLg» Ihnl

Etwas gemächUcher und kaltblütiger ist das dem letzten Satze vovausgehende

20

LDiseant. ^.OisöaAt.

ßi.

t.Tenor.

;9.Tenor.

Bass.

jt»T J)p J?r r^ ip {■ f

Hinweg, hiiLweg, hin . weg mit dem.

i

Hinweg, hin .weg, Üii . wegmftdem, ^7. 1.. hin-weg,hin_weg, hin .

M J' |) J' r r. i

hb.weg,fain.%eg, hin .

I ,.. ^ ^1 p J'l

Hin.weg,lün.w8g, Hin . weg.Unjveg,

^^tf^ p p r

Hin . weg,)iinjve|

^»n P P l' =

Hin . weg,lun.weg,

Hin . weg.hin.weg,

Un.weg, hin .

.11 .HM' , ^

hin 1 weg.l^n.weg,

p' f p I) i'i" 1" r " ' inir i"'i

^

hinweg mit die.sem tmd gieb uns

m

-gieb

Bar.rabam , IobI

inwesmit die.sem nnd gieb vns Bar.fftbnm loi!

hinweg

wegmitdnn,hinweg,hinwegmit die.sem nndgiebnnsBar.rnbam losl

temnndgleb «ns Bar.ra.bam losl

weg, Ain . ireg,mnweg'mu ue.aemnnagMD xaa ov.Ta.ouu wsi

^n^ 2>p j^pfiFj r I I I'I I 'I i^^i

hinweg, hinweg.hinweg mit die.sem und gieb uns Bar.rabam losl

Es ist nicht alles reif und schön in diesen Sätzchen. Die einzehien Stimmen gehen zuweilen steif und gezwungen, und uns, die wir der lateinischen Zeit fern stehen, stören undeutsche Silhenbetonungen wie die am Schlüsse des Vulpiusschen Satzes empfindlich. Aber es liegt doch entschiedener Situationscharakter in diesen Chören, und wir glauben nichts hinein zu interpretieren, wenn wir in der etwas übertriebenen Beweglichkeit auch das besondere jüdische Element angedeutet erblicken. Diese Gabe, sich

«1

realistisch auszudrückea, welche die Mehrzahl der deut- schen Musiker in Italien aufsuchten, erwarben sich jene Thüringer in ihrer Heimat. In den thüringischen Kur- rendengesängen in jener Zeit bildet dieser weltliche, realir stische Zug ein kennzeichnendes Merkmal. Auch Sebastian Bach ist durch diese Schule gegangen, und es wird wohl mehr als bloßer Zufall sein, wenn seine Matthäuspassion in den Chorstellen >So steig herab vom Kreuz«, > Anderen hat er geholfen«, »Er rufet den Elias« in kleinen und größeren Zügen mit Vulpius ÄhnHchkeit zeigt.

Außer den durch den Bibeltext selbst gegebenen Ghorsätzen, haben die spätem Choralpassionen in der Regel noch zwei mehrstimmige Nummern: den »Introitus« und die >Conclusio«. Der Introitus, auch Präfation genannt, ist eine kurze feierliche Einleitung mit dem Wortlaut , »Das Leiden unseres Herrn Jesu Christi, wie es St. Matthäus (Markus, Lukas, Johannes oder die vier Evangelisten) beschreibet«. Dieser Überschriftenstil wird zuweilen durch ein vorausgeschicktes »höret an« in einen Aufforderungssatz umgestaltet. In der lakonischen Fassung sowohl, wie in der erweiterten kommt der Introir tus bekanntlich auch vor anderen liturgischen Stückep vor. Händel hat diesen feierlichen Brauch im »Israel in Ägypten« bei dem Lobgesang der Kinder Israel ins Ora- torium hinübergenommen. Die Conclusio oder Gratiarum actio ist ein die Stelle des Respons vertretender Schluß- gesang über die Worte »Dank sei unserem Herrn Jesu Christo, der uns erlöset hat durch sein Leiden von der Hölle« oder ähnliche. Die Gratiarum actio fehlt häufig, in katholischen Choralnassionen sehr oft; der Introitus dagegen nie. Wohl aber ist er häufig dem Evangelisten allein im Choralton übertragen, so auch in der Waltherschen Passion vom Jahre 4 552. Wenn aber in den Choralpassionen, welche in den biblischen Chören den alten Stil verlassen haben, die beiden Zusätze da und mehrstimmig komponiert sind, so zeigen sie ebenfalls die Einwirkung der Motettenpassion und zwar sie ganz besonders durch reichere Einmischung von Koloraturen und Melismen.

n

Diejenigen Komponisten, welche in den Chorsäizen der Choralpassion über den alten Stil hinausgingen, haben auch in den Partien der >Soliloquenten€ sich mannigfache sinnreiche Abweichungen vom Lektionston erlaubt. Auch hier ist Walther, vielleicht von Luther be- einflußt, wieder der Erste*). Manche neue Wendungen, die er dem Evangelisten und den Nebenpersonen gibt, können auf Rechnung des römischen Passionstons ge- setzt werden. Die ganze Haltung der Ghristuspartie geht aber über den Einfluß eines bestimmten Vorbildes hinaus; sie ist das Werk einer starken eigenen künstlerischen An- schauung und einer allgemeinen Zeitströmung. Das Stre- ben nach Individualisierung ergreift im 16, Jahrhundert auch den Accent und modernisiert seinen Stil. Wir dür- fen Walther noch nach einer anderen Richtung einen refor- matorischen Schritt in der Geschichte der Choralpässion ztischreiben.. Er fügte den herkömmlichen drei Solisten einen vierten hinzu: einen Sopran, welcher dem ehemaligen Vertreter der sämtlichen Nebenpartien, dem falsettieren- den Succentor die Mägde, die Türhüterin und seltsamer Weise auch den Hohenpriester abnahm. Es ist nicht das einzige Mal, daß in der Geschichte der Musik gegen die dramatische Wahrscheinlichkeit verstoßen worden ist. Da die Kunstmusik des 1 6. Jahrhunderts weit davon ent- fernt war, Männer und Frauen nach dem Stimmklang zu scheiden, fand Walthers Passionssopran durchaus nicht schnelle Zustimmung; die Magd blieb bis tief ins siebzehnte Jahrhundert hinein noch Eigentum des Fal- settisten.

Vereinzelte liebevolle Züge im Accent fehleij auch in solchen Choralpassionen nicht, die im allgemeinen streng im vorgeschriebenen Tone gehalten sind. So hat z. B. Lossius eine unverkennbar freundliche Wendung am Anfang seines Werkes für das Wort discipuli (Schüler).

*) Yergl. Walthers Bericht über die Einsetzungsworte von Lnthers »Deutscher Messe« im Syntagma des Prätorius. (I, 449 u. fif.)

«

Auch bei Keachenthal stellt sich an demselben Orte »sprach er zvL seinen Jüngern c ein vollständiger Abschnitt herz- lichen deut- ,Jl >**, i>i > i I I .M,) y , i Und fast sehen Lied- 'ff^^ F \j P f ■' If '^^^^. genau gesangesein: '^'^ •* « »d.ae« JVa.g«» g^ ^^^^

auch S. Besler in seiner Matthäuspassion diese Worte. Bei ihm ist das Bestreben, wichtige Einzelheiten in Handlung und Rede der Solopersonen aus dem Choraltone heraus- zuheben, schon ein grundsätzliches. Er verläßt bei be- deutenden Worten wie »töten« und »kreuzigen den gleichen Ton der Deklamation, er läßt den Evangelisten die Betrübnis der Jünger mit einem kurzen melodischen Striche malen, sein Pilatus (in der Johannespassion) ruft von Rührung und Bewunderung ergriffen: »Sehet, welch ein Mensch« ; Besler sagt sich sogar von den Schlußfällen des Evangelisten los, welche andere nie antasten. Nament- lich die Ghristuspartie hat in allen Passionen Beslers Ab- schnitte, in denen der Choralton ganz vergessen ist Das »Petre, ich sage dir« in der Lukaspassion, die Einsetzungs- worte in dieser, wie auch in Beslers Matthäuspassion sind musterhafte Beispiele eines schönen, gehaltvollen, einfach würdigen Gesangstils.

Auch Vulpius und Schultz bauen den Choralton melodisch aus, sie geben logische Accente mit Wechsel- noten und gestalten in Schlüssen und auch in Einsätzen frei ohne Rücksicht auf das Herkommen. Letzteres tut besonders Schultz, der bereits im Begriffe steht, Äußerlich- keiten der Geschichte ^ , , I , > Gerade für malen zu wollen, z. B. ,y J J ■* -Lf , =. Petrus zeigt wenn er anfängt: «^ •» •«•«* «^ sich in den Sünden gegen den Choralton ein besonderes guther- slges Interesse. Bei ^ ^ _, _ , ,, , , j . In der Schultz heißt es: »Der y p, p f M rL i ,H =. Lukas- Herr wandte sich »4 •»- »»• - tn» « passion von Schütz ist dieselbe Stelle (mit Ausnahme einer un- bedeutenden Note im Auftakt) genau so komponiert; doch aber bleibt die Wirkung gering, weil das Motiv schon vor- her verbraucht ist,

* 24 -9»—

Es iist nicht zufällig, daß die Choralpassionen mit dem Anfang des 4 7. Jahrhunderts sich so merkbar von dem einfachen Accentton abwenden. Zu den früheren Gegnern seines Systems, dem Gefühlsbedürfnis und dem Einfluß des Volkslieds, war da ein mächtiger Verbündeter gekommen: Der neue begleitete Sologesang mit seinem Rezitativstil. Von ihm geleitet führt nun Heinrich Et Schütz. Schütz alle die bisherigen Versuche, im Schema der Ghoralpassion musikalisch reicheren Ausdruck zu ge- winnen, bis ans Ende. Die Passionen von Schütz hängen mit den Choralpassionen äußerlich noch zusammen. Sie beschränken sich auf die zwei hergebrachten musikalischen Formen, den unbegleiteten Einzelgesang für den Evange- listen und die Soliloquenten und den unbegleiteten Chor- satz für die turbae. Innerlich aber hat Schütz mit der Gat- tung nahezu gebrochen. Seine Einzelgesänge stehen dem modernen Rezitative viel näher als dem vorgeschriebenen Lektionston, seine Chöre sind schlechtweg dramatisch und nicht etwa blos, wie bei Vulpius, Schultz und anderen Vorgängern hier und da, sondern grundsätzlich vom An- fang des Evangeliums bis zum Schluß. Sie sind im engsten Anschluß an Charakter von Personen und Situ- ation ersonnen, sie zeichnen aufs feinste und schärfste - alles, was bei den augenblicklichen Äußerungen der Parteien in Betracht kommt, sie geben Leidenschaften und Stimmungen mit fortwährendem Hinblick auf den Zusammenhang des Ganzen wieder, sogar mit Berück- sichtigung äußerlicher Dinge, wie die gesellschaftliche Stellung der Sprecher und der Angesprochenen. Sie lassen endlich den Grundton, durch welchen sich die Berichte der einzelnen Evangelisten unterscheiden, jedes- mal in besonderen Färbungen der Musik durchklingen. Und das alles in einem einfach belebten Stile, wie er für den vierstimmigen Chorsatz kaum natürlicher sein kann.

In der von Ph. Spitta redigierten Gesamtausgabe der Werke von Heinrich Schütz*), von deren praktischer

•) Leipzig, Breitkopf & Härtel.

25

Benutzung wir viel Segen für die weitere Entwickelung der Tonkunst erwarten dürfen, stehen die vier Passionen im ersten Bande gedruckt. Aber gerade die Passionen sind schon fast zwei Jahrzehnte vor dieser Gesamtausgabe, allerdings nicht originalgetreu und vollständig, wieder be- kannt und in die Praxis eingefügt worden und zwar in einer Bearbeitung von Carl Riedel*), welcher nach Art der Evangelienharmonie Sologesänge und Chöre aus allen 4 Passionen zu einem neuen Ganzen aneinandergereiht und mit Orgelbegleitung versehen hat. Trotz der berechtig- ten Bedenken, welche gegen ihre Methode am stärksten von M. Hauptmann erhoben worden sind, ist diese Be- arbeitung für zahlreiche Aufführungen benutzt worden; in ihr und durch sie ist Schütz in großen und kleinen Städten Deutschlands wieder als eine bedeutende Erscheinung der deutschen Musikgeschichte bekannt geworden, und Carl Riedel wird das Verdienst bleiben, daß er in einer Zeit, in welcher der historische Sinn noch schlummerte, für einen unserer besten alten Tonmeister einen zwar nicht korrekten, aber erfolgreichen Sieg gewonnen hat. Dabei darf picht unerwähnt bleiben, dass Riedel selbst auf Schütz durch v. Winterfelds und namentlich durch Chry- sanders Arbeiten hingeführt worden ist. Die Matthäus- passion allein ist neuerdings von Arnold Mendelssohn in einer nach Riedelscher Art modernisierenden Bearbeitung herausgegeben worden. Mendelssohn hat die Schützsche Choralrezitation in begleitetesRezitativ verwandeltund auch bei den Chören gehen Orgel oderKlavier mit. Diesen Ver- suchen •♦) ist zuerst Bernhard Richter entgegengetreten und hat, bald von andren gefolgt, seit 4 892 in der Leip- ziger Lutherkirche Schützsche Passionen originalgetreu im Gottesdienst aufgeführt und an dieser Stelle, für

•) Leipzig, E. W. Fritzsch. **) Auch Friedrich Spitta (der Brudei des Baohbiographen), der die Passionen von Schütz in einer besonderen Monographie bebandelt hat, hält die Beigabe einer Begleitung für ein not- wendiges »Zugeständnis« an die Gegenwart.

26

H. Bohflti,

MatthSas-

pasBion.

die sie bestimmt sind, haben sie erbaulich gewirkt Ins Kon- zert, auch ins Kirchenkonzert gehören sie nicht, sondern nur in die Liturgie. Deren Anforderungen entspricht ihre Knappheit und ihr Eigenstes liegt darin, daß sie Oestalt und Zeitdauer der alten Lektion einhalten und doch den -Text zum reichsten Ausdruck bringen. Dieser wesent- lichste Zug witd durch Orgelbegleitung und eingelegte Choräle vernichtet Das Riedeische Experiment hat seine Schuldigkeit getan; es mag nun ruhen! Die Hauptaufgabe, die jetzt diesen Werken gegenüber gelöst werden muß, ist: die Solisten im richtigen Vortrag des Redegesangs auszu- bilden.

Aus dem Lebenslauf, welchen der Oberhofprediger Geier in Dresden der Leichenrede auf den Komponisten hinzufügte, wissen wir, daß Schütz drei seiner Passionen im hohen Alter geschrieben hat Zwei von diesen drei sind in der Matthäuspassion und der Johannespassion der Gesamtausgabe festgestellt. Für die erstere ist hand- schriftlich 4 666, für die andere 4 665 als Entstehungsjahr angegeben. Aus guten Gründen wird die Lukaspassion ein gutes Stück vor diese beiden Werke gesetzt werden müssei^. Die Matthäuspassion gilt unter diesen dreien für die bedeutendste wegen ihrer »Rezitative«. Dem mo- dernen Hörer, welcher für den unbegleiteten Sologesang mangelhaft oder garnicht geschult ist, werden allerdings diese Rezitative zunächst mehr fremdartig und eintönig als gehaltvoll vorkommen. Sie sind auch kunstgeschicht- lich eine Ausnahme, sie suchen zwischen zwei ganz ent- gegengesetzten Stilarten, der neuen Monodie der Italiener und dem alten Choralton, einen Mittelweg zu finden. Es ist neuer Geist in alter Form! Das ist wohl sicher: Jeder, der sich in diese Sologesänge tiefer einlebt, sie im richtigen, nicht im verschleppten Tempo hört, der wird in ihnen den Qriffel eines großen Künstlers spüren und mit Bewunderung sehen, wie viel Schütz mit den erweiterten Mitteln des Accents angedeutet oder klar ausgedrückt hat. Erweiterter Accent! Das ist die ge- gebene Bezeichnung für diese Art von Sologesang. Die

t7 ♦^

Erweiterung geschieht nach der Methode Luthers und Walthers durch Einmischung von Wendungen, die zum Concent gehören, aber viel reicher, als bei allen Vor- gängern. Dennoch stehen diese Sologesänge auf dem Boden der unbegleiteten Monodie, beigegebene Harmonie macht ihre Melodik schwerfällig und zerstört ihren Cha- rakter. Dadurch unterscheiden sie sich vom neueren Rezitativ. Indes ist es kein Schaden, wenn man sie Re- zitative nennt Geht man den Zielen nach, die Schütz zu seinem erweiterten Accent geführt haben, so fallen am schnellsten die malerischen Einzelheiten ins Auge, welche der bildliche Gehalt von Worten und Sätzen dem Tonsetzer unterbreitete. Tiefer liegen die bedeutenden Züge bewegten Mitempfindens, an welchen namentlich die Partie des Evangelisten außerordentlich reich ist. Er weiß uns zu rühren und zu spannen. Einmal unterbricht er den Qioralton mit wenigen herzlichen Gesangnoten, ein andermal verläßt er ihn ganz, um in motivischen Steigerungen, die den speziellen Einfluß Monteverdis deut- lich zeigen, die besondere Wichtigkeit eines dramatischen Vorgangs entsprechend wiederzugeben. Interessant ist besonders, wie der Evangelist in vielen Schlüssen seiner Erzählung den inneren Ton der folgenden Reden vorbe- reitet Die übrigen Einzelpersonen der Leidensgeschichte sind mit kurzen aber scharfen Strichen hingestellt Christus in der Matthäuspassion: ernst, in edler Wehmut, trauernd; Petrus: weich, erreglich; Pilatus: freundlich gemessen; Caiphas: gespreizt; Judas keck, vordringlich frivol.

Deutlicher als Besler und andere Tonsetzer, welche die Passion mehrmals nach den verschiedenen Berichten der Evangelisten komponiert haben, versteht Schütz jedes Evangelium durch eine besondere Tonart zu zeichnen. Seine Passion nach Matthäus hat die dorische. Der In- troitus bringt deren Wesen eindringlich zum Ausdruck: hervorstechend ist die Verwendung des CmoU- Akkords: sein schmerzlicher Klang wird durch die eingefügte Vor- haltsdissonanz noch herber. Schützens Einleitungsgesänge ;nnd in deo anderen Passionen länger als bei seinen

--♦ 28

Vorgängern; der nach Matthäus macht hierin eine Aus- nahme, zßigt aber im Charakter die allen gemeinsame Mischung von choralartig anklingender kirchlicher Musik und beschreibender Beweglichkeit ebenfalls.

Der Evangelist beginnt nur wenig von dem Stile des Choraltons verschieden. Erst am Schlüsse wird seine Erzählung individuell belebt. Christi Rede klingt trüb, an einzelnen . Stellen klagend. Nach ihr nimmt das Rezitativ des Evangelisten einen lebhafteren Cha- rakter an: er sieht die Dämonen des Passionsdramas pahen; die Hohenpriester und Schriftgelehrten beginnen ihren ersten Chor »Ja nicht auf das Fest«. Schütz zeichnet sie als kluge, wohl berechnende Männer. Wie in den meisten der Passionschöre stützt sich Ausdruck und Charakter auf ein kurzes Hauptmotiv, welches die Stim- men sehr frei, lebendig und natürlich untereinander ver- teilen: Es j welches der Tenor zuerst an- ist hier ^V i T f . 1^ hebt. Anfang und Schlußteil das kurze : ^^^ des nur \ 5 Takte betragenden Satzes sind über diese zwei Noten aufgebaut, in der Mitte steht eine Episode erregterer Natur, in welcher die Hohen- priester und Gelehrten ihrer Besorgnis wegen des Auf- standes einen halb launigen Ausdruck geben. Ihr Motiv kehrt in dem gleichen Chore der Markuspassion bei dem Worte »Aufruhr« wieder. In dem folgenden Rezitative ist die Stelle von besonderer Schönheit, an welcher der Evangelist malt, wie das Weib das köstliche Wasser auf Jesus Haupt ausgießt. Die jetzt anschließenden zwei Chöre der Jünger: »Wozu dienet dieser Unrat«, »Wo willst du, dass wir dir bereiten«, haben einen harten, trockenen, nahezu unfreundlichen Zug, der gegen den innigen Ton, welchen Schütz den Jüngern in den anderen Evangelien gegeben hat, ganz auffällig absticht. Der Grund für diese Auffassung des Komponisten liegt in der Gethsemaneszene. Denn gerade Matthäus schildert in dieser mit viel grösserem Nachdruck als die anderen Evangelisten das Verhalten der Jünger als unrühmlich, gleichgültig und lieblos. Der dritte Chor »Herr, bin ichs«

bringt eine Wendung; aus seinem Schlüsse klingt die Liebe. Er ist trotz seiner Kürze (7 Takte) ein Meisterstück der Seelenmalerei nud schildert ergreifend den Übergang von Verlegenheit zu herzlichster Wärme. Aus den Rezitativen, welche diesen Chören vorausgeheil , tritt besonders die Stelle des Judas hervor, >Was wollt ihr mir gebenc. Der Verräter macht den Hohenpriestern sein Angebot in der freudigen, prahlerischen Aufregung eines eitlen Patrons, der einen besonders glücklichen Gedanken zu haben glaubt. Die Wiederholung des 9lchc ist hierfür bezeichnend. Nur ganz am Schlüsse lässt er merken, daß er in dem Handel doch etwas Dunkles fühlt. Den herausfordernden Ton tragen auch die Worte, mit denen Judas die feier- hche trübe Anklage gegen den »Menschen, durch welchen des Menschen Sohn verraten vnrd< beantwortet: »Bin ichs, bin Ichs, Rabbi?« Die Wiederholungen von Worten und Sätzen und so entschiedene Melodieschritte wie in der Partie des Judas kommen bei keinem der übrigen Soläoquenten. vor. Den Schluß dieser Szene bilden die Einsetzungsworte, deren liturgischer feierücher Ton in den Erläuterungssätzen Jesu »Ich sage Euch, ich werde von nun an von dem Gewächs des Weinstocks nicht mehr trinken« ein wehmütiges Nachspiel erhält. In der kurzen Szene am ölberg sind die innig herz- lichen Worte des Petrus »Und wenn ich mit dir sterben müßte etc.« von besonderem Eindruck. Der nun fol- gende längere Abschnitt: Jesus auf Gethsemane, ist eine der bedeutendsten Partien in dem Rezitativteile der Matthäuspassion. Der Evangelist schildert hier ein- zelne Züge (wie Christus zum Gebete hinfällt, wie er enttäuscht ist, die Jünger schlafend zu finden) in besonders anschaulichen Tonwendungen, und aus seinem ganzen Vortrage spricht die tiefste und leben- digste Teilnahme. Aus den Reden Christi klingt eine schmerzliche Resignation; von hervorragendem Ein- druck ist der Schluß »Stehet auf, laßt uns gehen«, in welchem die mutige Fassung mit der Verzweiflung ringt.

Aus der Szene, wo Jesus verhaftet und zu Caiphas geführt wird, ist die Stelle in der Erzählung des Evan- gelisten hervorzuheben, welche von dem Angriff auf den Knecht des Hohenpriesters berichtet.

Die Worte der beiden falschen Zeugen sind in einem Kanon wiedergegeben, welcher in der ersten Hälfte die obere Sekunde, in der zweiten die untere einhält. Ohne Zweifel hat Schütz die Form des Kanons als ein scharfes Mittel der Charakteristik gewählt. Die übertrieben feier- lich einsetzende und dann zwischen Schwulst und Leicht- fertigkeit einherschwankende Aussage wird durch das mechanische Mit- und Nachplappern des zweiten Zeugen doppelt widerwärtig und lächerlich.

Die Antworten , ' welche Christus dem Hohenpriester Caiphas gibt, tragen einen Ton vornehmer Ruhe und Hbheit, welcher, verglichen mit der Stimmung, die in Jesu Reden auf Gethsemane zum Ausdruck .kam, sofort verständUch sein muss. Der Chor der Schriftgelehrten und Ältesten, »Er ist des Todes schuldig« zeigt nichts von der Erregung und der Bitterkeit, welche man in diesen Worten erwarten könnte. Dieses Urteil wird vielmehr in dem leichten Tone eingesetzt, mit dem man etwas ganz Selbstverständliches zu sagen pflegt. Schützens Absicht geht hier, wie das auch schon in der Nummer der falschen Zeugen der Fall war, darauf hin, in dem Verhalten der Ankläger das abgekartete Spiel durch- merken zu lassen. Das ganze Verhör über nehmen sie die Sache vorwiegend leicht, kurz und mit einem bru- talen Humor. Am stechendsten drückt diesen der nächste Chor aus: »Weissage uns, Christe, wer ist es, der dich schlug?« In roher Lustigkeit tänzelnd fängt er an, dann wird der Titel »Christe« höhnisch feierlich in breiten Rhyth- men gegeben. In quälerischen Steigerungen wiederholen sie die trocken stilisierte Frage »wer ist es, der dich schlug«, und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen; heucheln sie aufhörend auch noch Mitleid. Man wäre kaum verwundert, diesen Chor noch durch einen Takt nackten Gelächters verlängert zu sehen. Das zwischen

diesen beiden Chören liegende k;urze Rezitativ des Evan- gelisten hat den Ton tiefer Betrübnis.

Die Szene von Fetri Verleugnung ist als besondere Episode auch in der Tonart kenntlich gemacht Der F dur-Einsatz bei den Worten »Petrus aber saß draußen« nach dem A dur-Schluss des letzten Chors führt anschau- lich aus dem Palast hinaus. Über der Partie des Evan-' gelisten liegt in dieser ganzen Szene ein Tön der Ver- wunderung und des Bedauerns. Das letztere findet seinen größten Ausdruck am Schlüsse, wo der Hahn gekräht hat und Petrus bitterlich weint. In den Reden Petri wird man die steigende Aufregung beobachten können; seine dritte Beteuerung: »Ich kenne des Menschen nicht« setzt er forziert mit hohem Ton ein. . Aus der Reihe der Belastungszeugen des Jüngers tritt natürlich der Chor am meisten hervor. Er setzt das »Wahrlich« mit breitem und entscheidendem Nachdruck ein, die Worte »du bist auch einer von denen« sind leicht hingegeben, wie des Beweises und der Erörterung nicht bedürftig.

In der kurzen Episode, welche die Reue' und den Selbstmord des Judas enthält, sind zunächst die Worte des Judas selbst sehr bemerkenswert. Wie kleinlaut klingt das »Ich habe übel getan« gegen das frühere »Was wollt ihr mir geben« des unglücklichen Tors. Der Ausdruck auf dem Worte »übel« und der Schluss hat etwas Ver- söhnendes. Die Hohenpriester behandeln den Zwischenfall mit mühsam erheuchelter Gleichgültigkeit Das schnelle vorzeitige Abschliessen auf »Was geht uns das an«, die Fortsetzung, die sich in übereinanderstürzenden kurzen Imitationen des »Da siehe du zu« weiter hilft, sind be- zeichnend. In dem zweiten Chor »Es taugt nichts« ist die Verlegenheit noch ersichtlicher; aus dem halb schauer- lichen Schlüsse »denn es ist Blutgeld« spricht das böse Gewissen.

Der langen Szene, wo Christus vor Pilatus steht und der Landpfleger mit den Juden über Freigebung ver- handelt, hat Schütz durch die Tonschlüsse in den Partien des Evangelisten und des Pilatus einen spannenden

t!harakter zu geben versucht. Eiaen für Uneingeweihte faßlicheren Anhalt gewinnt sie mit dem Eintritt der Chöre, in denen zum ersten Male das Volk der Juden das Wort nimmt Schätz schreibt: »der ganze Haufe«. Der erste Chor »Barrabam« hat nichts von Fanatismus, aber etwas Uebermut und er gibt das unruhige 'Bild einer Menge, in welcher der Eine vom Änderen gereizt und in einen äußerlichen Eifer hineingedrängt wird. In^ dem nach einem kurzen Rezitative wiederholten >Laß ihn kreuzigen« tritt dieser Obermut noch stärker her- vor; besonders frivol und hart klingt das kurz und schnell herausgestoßene Wort »kreuzigen«. Nachdem Pilatus sehr ausdrucksvoll und bewegt erklärt »Ich bin un- schuldig an dem Blut dieses Gerechten«, nimmt der Haufe das eigene Wort des Pilatus »Sein Blut« mit einem Nach- druck auf, der in seiner höhnischen Breite etwas Belei- digendes hat. Die parodierende Absicht wird durch den hastig hingeworfenen Vortrag des Nachsatzes »komme über uns« noch deutlicher. Die Partie des Evangelisten, welche den Spottchor der Kriegsknechte einleitet, ist hervorragend reich an malerischen Wendungen: Das Geißeln, das Kreuzigen ist in kurzen Tonbiegungen ange- deutet, das Umlegen des Purpurmantels, das Flechten und Aufsetzen der Domenkrone, das Kniebeugen in breiteren Melodiezügen ausgeführt. Der Spottchor selbst bewegt sich wieder in Kontrasten: gesuchte Feierlichkeit wechselt im »Gegrüßet« mit lächerlicher Beweglichkeit; mit nicht mißzu verstehender Realistik saust das »du, du« schneidend hinein. Von hier an bis zum Ende Jesu nimmt der Bericht des Evangelisten eine^ aufgeregten Ton an; die Melodik hebt die Einzelheiten der Vorgänge nach- drücklich heraus und wird zuweilen ganz modern. Voll- ständig leiden schafthch, wie vom wilden Schmerz ge- packt, singt der Evangelist namentlich die Worte: »Aber Jesus schrie abermals laut und verschied«. Ein guter Sänger, welcher die nötigen Pausen einschaltet, wird mit dieser Stelle erschüttern. Auch die Schilderung von dem Zerreißen des Vorhangs und dem Erdbeben ist

^ 33

höchst dramatisch. Den Höhepunkt in dem rezitativi- schen Teil der Kreuzigungsszene , ja, wohl der ganzen Matthäuspassion bildet aber, dem alten Brauch der Cho- ralpassion entsprechend, das »Eli« Christi*]:

II 'ü'l \i\^\

fr . K. £ . II« £ lii U . ma a . c - sab.th» , - nil

Es kann kein einfacheres und sprechenderes Bild der Seelennot geben, als diese mühsame Melodie: der natur- wahre Ausdruck der letzten um Hilfe ringenden Kraft- anstrengung und des letzten stoßweisen Ermattens und Erlöschens.

In den Chören, welche die Hohenpriester, Schrift- gelehrten und die Juden während der Kreuzigungsszene singen, ist der leichtfertige Ton einem ernsteren gewichen. Am freiesten treiben sie ihren Spott noch am Schlüsse von »Anderen hat er geholfen« mit den parodierenden Wiederholungen des »^Ich«. Am schärfsten kommt die in der Stimmung und Gesinnung der Menge eingetretene Wen- dung zum Ausdruck in dem Chor des »Hauptmann samt den Kriegsknechten« bei den Einsatzworten: »Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen«. Der Schreck des Erd- bebens läßt sie ihr Glaubensbekenntnis in wirren Tönen sprechen. Auch die Haltung der Hohenpriester gegen! den Pilatus ist eine andere geworden, als sie in der Verhörszene war. Ohne jeden herausfordernden Bei- klang, aber mit wohlstudierter Betonung und künstlicher Ruhe, tragen sie ihm das Verlangen, das Grab zu ver- wahren, vor.

An Stelle der üblichen Qonclusio, der Gratiarum actio mit ihren stehenden Textworten: »Dank sei unsrem Herrn etc.« hat Schütz einen Gesangbuch vers genommen, die letzte Strophe des Liedes: »Ach, wir armen Sünder!« Die Melodie dieses Chorals hat er jedoch nicht benutzt, sondern zu dem »Ehre sei dir, Christe« etc. eine freie

*) Dynamik und Rhythmik u ach A. Mendelssohn.

n, 1. a

und sehr reiche Musik gesetzt, wie man sie in keinem Schlußsatze der früheren Choralpassionen kennt und wie man sie an dieser Stelle auch in den anderen Passionen von Schütz selbst nicht wiederfindet. Die erste Hälfte des, mit dem bisherigen Brauch verglichen, außergewöhn- lich langen Satzes ist deklamatorisch mit kurzer Beto- nung einzelner Textbilder: wie Todesleiden, ewige Herr- schaft. Mit den liitaneiworten »»Hilfuns armen Sündern« schlägt aber der Chor einen innigen melodischen Weg ein, der über die Höhe freudiger Glaubensbegeisterung in das Gebiet frommer Zuversicht und Hoffnung aus- mündet. HiSohüts, Schützens Lukas passion ist wahrscheinlich be-

Lttkaspassion. deutend älter als die Passionen nach Matthäus und Jo- hannes! Wenn die inneren Eigenschaften eines Musik- werks genügten, um sein Alter zu bestimmen, so dürfte man geneigt sein, diese Passion in die Jugendzeit des Komponisten zu setzen, wenigstens soweit es sich um die Partie des. Evangelisten handelt; denn dessen Hezi- tative halten mit denen in der Johannes- oder gar Mat- thäuspassion keinen Vergleich aus; ja, sie verfehlen so- gar vielfach den Charakter der Erzählung. Schützens ^ unleugbar feines Gefühl für Stil und Wesen der einzel-

nen Evangelisten und die Tatsache, daß Lukas grelle Einzelheiten der Leidensgeschichte übergeht, daß er freundliche Episoden berichtet, welche die anderen Evan- gelisten nur flüchtig berühren oder gar nicht, daß im ganzen über seinem Berichte ein Ton der Milde liegt, diese Umstände alle reichen nicht aus, um das halb ver- gnügliche, verbindliche Gesicht zu erklären, mit welchem der Evangelist in Schützens Lukaspassion seinen Bericht vorträgt. Schütz ist hier auf halbem Wege stehen ge- blieben. Er glaubte im wesentlichen den Choralton bei- behalten zu dürfen und hielt es für genügend, wenn er demselben noch einige typische Züge hinzufügte. Diese Zutat von Typen hat aber mehr entstellend als berei- chernd gewirkt; namentlich ist es der dem alten choral- mäßigen a-c neu angetritute höhere Terzengang c d e c,

-—fr 35 *—

der in seiner übermäßig häufigen Verwendung dem Vor- trag des Evangelisten einen unpassenden wohlbefriedigten Grundton gibt. Einzelne Stellen in dem Berichte des Evan- gelisten stehen über dieser geringen Stufe. Es sind vorwie- gend solche, die kleinere Malereien bei geeigneten Worten (fürchten, kreuzigen etc.) enthalten. Ein größerer Abschnitt freien und bewegten Vortrags findet sich bei der Gebets- % szene am ölberg: »Es erschien ihm aber ein Engel usw.«

Ganz anders als der Evangelist sind die anderen Soliloquenten ausgearbeitet« Über alle ragen die Reden Jesu hervor, obwohl auch sie an einzelnen Choralschlüssen festhalten. Sie sind in einem weichen liebevollen Ton gehalten, welcher namentlich in den Gesprächen mit den Jüngern rührend wirkt. So spricht der ältere Bruder, wenn er in der Stunde des Abschieds denen noch einmal die ganze Herzlichkeit erweisen will, die seiner Sorge an- vertraut waren. Dieser weiche zusprechende Ton macht einem ernsteren Platz, wenn Christus dem Petrus den Abfall und den Verrat vorhersagt. Wehmut und Trauer klingt aus Jesu Gebet zum Vater, Vorwurf aus der An- rede an Judas, Hoheit aus den Worten, mit denen er den Hohenpriestern entgegentritt. Aber von der düstern und schwülen Stimmung, welche in der Matthäuspassion die Reden des Heilands beherrscht, ist hier nirgends eine Spur. Der bedeutendste und reichste Abschnitt der Christuspartie in der Lukaspassion ist die Rede an die nach Golgatha folgenden Weiber: »Ihr Töchter von Jerusalem usw.«

Bei den Nebenpersonen ist der größte Teil ausdrucks- voller Deklamation auf Pilatus gefallen. Hervorragend ist die Stelle, wo er auf das erregte »Kreuzige« der Juden ebenso erregt fragt: »Was hat denn dieser Übels getan?« Daß Schütz auf diesen Abschnitt besonderen Wert gelegt, ersieht man daraus, daß er ihm ausnahmsweise eine Vortragsbezeichnung (bei den Worten: »des Todes« steht: adagio) überschrieb.

Als den wertvollsten Teil der Lukaspässion wird man jedoch die Chöre zu betrachten haben.

z*

36 ^—

Diejenigen der Jünger bilden mit den Heden Jesu zusammengefaßt eine liebliche Idylle. Diese Jünger sind Gestalten, welche in dem ganzen Zauber liebenswürdiger, jugendlicher Naivetät vor uns hintreten: Es klingt etwas Kindliches aus der Zuneigung und Anhänglichkeit, mit

fragen: »Wowillt 1|6 " rl U ^M J «1 J «1 I ^^^ J J i

du, daß wir usw.« V^^^ *»• dass wir , rei . . ten.

aus der ahnungslosen Einfachheit, mit welcher sie ver- sichern, daß ^ niokei.nen.mc' kei.Bep gelittejtt«.

sie »Nie kei- jfc if , 'J ri ^M 6 8 o I Und als

nen Mangel ^ ni« keLnen. nie ^i.Mn. GhlistUS

ihnen die kommende Gefahr angedeutet hat, da äußern sie

in: »Herr, siehe, j _ _ i i _ K.' _ K l i i ' i hier sind zwei ^ f ■:^ P' I ^ f ^' p. '^LJ^N■ i,

. »■■ »w 1. V* !_• i-s a » o i_

Schwert« nicht ^"' Harr. sie. bD>lüer,bierJ)iv und 9«äS«bwert,

Sorge, sondern lediglich einen fröhlichen Mut; ja, als die Schar, die Jesum gefangen nehmen will, schon vor ihnen steht, fassen sie die Situation in ihrem munter rüstigen: »Herr, sollen wir mit g_ __ _ ___ k,_

dem Schwert drein schla- ^ \ ^P'P ppp «^Hrrrfr

gen« nicht von einer ^^^^ Herr, «ol-len "wir mit dem Sdnrert

gefährlichen Seite auf, sondern wie ein erfreuliches ritter- liches Abenteuer.

Die Juden, welche Jesum mit ihrem: i Weissage, wer ist's, der dich schlug« verhöhnen, machen den Eindruck irregeleiteter Tölpel. Ihr Spott kommt in schwerfälligem Rhythmus zu Tage. In der Matthäuspassion fallen die- selben Worte auf einen späteren Zeitpunkt und finden eine bereits erregte Masse.

Die Chöre der Hohenpriester und Schriftgelehrten, welche, fünf an der Zahl, nur durch kurze Rezitatrve auseinandergehalten werden, sind als eine geschlossene Gruppe zu betrachten. Mit scheinheiliger Freundlichkeit, wie unverfänglich und wie mit wohlwollender Dringlich- keit fragen sie zuerst: »Bist du Christus, sage es uns«: Ober die Antwort Christi verwundert und leicht ge- ärgert, stellen sie dieselbe Frage nochmals, aber in

-— ^ 37

einem umständlicheren und wichtigeren Ton mit dem zweiten Chor: »Bist du denn Gattes Sohn?« Als Christus bejaht hat, . kommt der wahre Charakter dieser bisher liebenswürdigen Fragesteller zum Vorschein: Mit platter und gemeiner Heftigkeit setzt der dritte Chor ein: »Was dürfen wir weiter Zeugnis« und in gleichem Tone geht es nun weiter. Mit prahlerischer Entschiedenheit erklären sie dem Landpfleger: »Diesen finden wir, daß er das Volk abwende«, und als Pilatus sich eine Einwendung erlaubt hat, vergessen sie ganz, daß sie den Statthalter des Kaisers vor sich haben. Der betreffende Schlußchor: »Er hat das Volk erregt« setzt im Ton des sich über- stürzenden Eifers ein. Der Trugschluß im zweiten Takte drückt das sehr anschaulich aus. Nun erst bemühen sich die Aufgeregten um eine passendere Redeweise und über- bieten sich in ruhigen Versicherungeu. Am Schlüsse des vierten Chors dieser Gru^ipe fällt es auf, daß bei den Worten »und spricht: er sei Christus, der König« ein feierlicher Stil eintritt. Friedrich Spitta*) hat mit Glück den Grund dieser Wendung in der von Schütz dem grie- chischen Text entnommenen Lesart »der König« aufge- funden. , »Ein König«, wie Luther übersetzt hat, würde den spottenden Ton vertragen haben, aber »der König« war den Juden etwas Heiliges : der erwartete und ersehnte Messias. Von den beiden Chören der Menge ragt der zweite: »Kreuzige ihn« durch Schärfe des Ausdrucks hervor. Namentlich der Einsatz, wo der Tenor eine ganze Oktav hinaufsteigt, während die andern Stimmen kurze Motive wild dagegenstoßen, hat etwas Dämonisches. Man kann auf den Gedanken kommen, daß das »Kreuzige« in der Johannespassion Bachs nach, diesem Vorbild entworfen sei. Der erste der betreffenden Chöre gleicht in der Be- handlung des Wortes »Barrabam« ganz dem entsprechen- den in Schützens Matthäuspassion. Auch für die beiden letzten ddramatischen Chöre der Lukaspassion, den Chor der Obersten: »Andern hat er geholfen« und de^ grausam

♦) Friedrich Spitta a. a. 0.

38

H. Sohüts,

JolianneB-

passlon.

höhnenden der Kriegsknechte : >Bist du der Juden K&nig«, finden sich in der Matthäuspassion Seitenstücke.

Sämtlichen Chören der Lukaspassion, auch dem In- troitus und dem Schlußchor, liegt die lydische Tonart zu Grunde. Der Introitus hat in allen Schütz'schen Passionen ziemlich denselben Zuschnitt: einen feierlichen Anfang und dann einen lebhaften Ton, wenn der Satz an das Wort >beschreibet« und an den Namen des Evangelisten heranrückt. Es ist eine ähnliche Stimmungsfolge wie in der' gleichzeitigen Orchesterpaduane. Der >Beschluß<, wie Schütz die alte Gratiarum actio nennt, wird in der Lukas- passion mit dem 9. Verse des Gesangbuchliedes: »Da Jesu an dem Kreuze stand« gemacht: Auch hier hat Schütz nicht die Ghoralmelodie benutzt, sondern die Worte: »Wer Gottes Marter in Ehren hat« mit einer eignen Musik ver- sehen, die zwischen gehaltenem altkirchlichen Stile und frohem Liedton merkwürdig abwechselt.

Die Johannespassion steht in der phrygischen Tonart. Wenn es bei der Matthäuspassion und bei der Lukaspassion ein geringeres Interesse hat zu wissen, wel- ches System des Kirchentons zu Grunde liegt, so ist das bei der Johannespassion anders ; denn in ihr machen sich die Eigentümlichkeiten in Melodie- und Harmoniebildung, die aus der phrygischen Skala hervorgehen, viel stärker geltend, als in jenen beiden Werken, welche dem Gesetze ihrer besonderen Tonart vorwiegend nur in den Chören gehorchen. Die spezifisch phrygischen Schlüsse treten aber in der Johannespassion nicht blos in den Chören sehr merklich hervor. Auch in den sämtlichen Rezitativ- partien kehren bestimmte phrygische Melodiewendungen immer wieder; am häufigsten der bekannte und bezeich- nende Gang zum Grundton über die kleine Sekund: g f e e. Das gibt sämtlichen Teilen des Werkes eine gleichmäßigere Färbung, als wir sie in den Übrigen Passionen Schützens gefunden haben. Daß unter diesem gedämpfteR Licht, das sich Über das ganze Werk ohne Unterschied ergießt, die Vorgänge aber klar dargestellt sein und die Personen als gesonderte Gestalten erscheinen können, lehrt ein

-* 39

kurzer Blick auf die Hauptfiguren. Der Evangelist nähert sich in Bezug auf Mitempfinden und Lebhaftigkeit des Vortrags wieder dem in der Matthäuspassion; der Christus der Johannespassion unterscheidet sich von dem der anderen beiden Passionen durch einen gebieterischen, abweisenden Zug. Fast nimmt der Pilatus das größte Interesse in Anspruch; so abweichend ist seine Haltung hier im Vergleich zu der in den andern Evangelien. Nicht blos, daß er jetzt im Tenor singt; seine Reden sind so reich mit melodischen Illustrationen geschmückt, daß er den Evangelisten an Teilnahme und Christo zu- gewandtem erregten Gefühle oft zu übertreffen scheint. Ein Teil der dramatischen Chöre bekommt durch den phrygischen Halbschluß (A : E) einen finsteren Zug. Eigen ist auch der Mehrzahl die Neigung zu einem ver- haltenen, fast möchte man sagen: phlegmatischen Aus- druck, der die Entschiedenheit durchBreite ersetzt. In diese Gruppe gehören die Nummern: »Jesum von Nazarethc, >Wäre dieser nicht ein Übeltäter«, »Nicht diesen, sondern Barrabam«, »Wir haben ein Gesetz« und mit Ausnahme des erregten Eingangs und des stark auftragenden Motivs: .1»^"^ ^ ^ p auch noch der Chor: »Läs-

■"^ r r '^ I ' ^^~^— ' j ' ' *= sest du diesen los«. Einen

das ist MTi^ der den Kai.ser leidenschaftlichen Gegen- satz zu dieser Gruppe bilden der in schneidenden Kontra- sten geführte Chor der Kriegsknechte: »Sei gegrüßet«, das immer wilder anlaufende »Kreuzige« des ganzen Haufens, dessen Musik in dem »Weg, weg« variiert wiederkehrt, und die beiden Nummern der Hohenpriester: »Wir haben keinen König« und »Schreibe nicht der Judenkönig«. Die beiden kleinen Chöre: »Bist du nicht« und »Wir dürfen Niemand töten« haben sehr deutlich sprechende Wen- dungen in den Grundmotiven: im i p -fr^ ^^^ l^^z- jener in der einsetzenden, -"^ ^ ^- ==fe=> tere in den Erstaunen malenden Oktav: ^^^ ^ "^*^* naiv ab-

den Quar- .j^ rl f p I p jtJ J. I |^.

tenfällen : ^^ dOr-fon Nlenund tSd . teiu

In dem Chore: »Wäre dieser uicht ein Übeltäter« finden wir bei dem Worte »überantworten« ein Lieblings- motiv von Schütz, den in gelirochenem Rhythmus hinab- steigenden, von

Gegenstimmen £ 'j) U L * _hA iil'^v - .'/^J bald aufgehalte- nen, bald fortgezo- genen Skalengang: der noch von der Barrabasstelle in Matthäus und Lukas erinnerlich sein wird. Der Chor: »Schreibe nicht der Judenkönig« hat den in den Psalmen und den Cantioni- bus sacris sehr häufig angewandten Effekt einer gegen die lebhafte Bewegung sämtlicher andern allein in langen Tönen anliegenden Stimme. Bekannt ist die wunder- bare Wirkung dieses Schütz'schen Choraufbaues wohl am meisten aus der großartigen phantastischen Szene: »Saul, Saul, was verfolgst du mich?«

Der Introitus der Johannespassion ist länger als der zu Matthäus und Lukas; mit einer wahrhaft schwär- merischen Innigkeit, die ganz am Schlüsse nochmals im Tenor und Sopran in verzückten Zuruf ausbricht, wird hier der Name des geliebten Evangelisten angestimmt und immer wieder lang hinklingend hinausgesungen. Der »Beschluß« hat den Choralvers: »0 hilf, Christe, Gottes Sohn« zum Text und führt ihn auf die Melodie des Kir- chenliedes, Strophe für Strophe in dem kurzen motetten- artigen Stile durch, in welchem man zu der Zeit Schützens eben die Charalmelodien zu behandeln be- gann. Von hervortretender Schönheit sind die Stellen, wo die Stimmen zu zwei, paarweise, sich die Motive abnehmen.

Noch auffallender als in der Lukaspassion ist die

H. Sohtttt, ^7) Ungleichheit der Teile in der Markuspassion von

Markus- Schütz. Sie ist so stark, daß man neuerdings dahin

passion. neigt, die Echtheit dieser Passion überhaupt in Frage

zu stellen, obwohl das Werk von demselben Musiker,

dem nachmaligen Kantor der Dresdner Kreuzschule,

J. Z. Grundig, dem wir auch die Handschrift*) der andern drei Passionen verdanken, zu gleicher Zeit wie diese letzteren, nämlich am Ende des 17. Jahrhunderts, aufgeschrieben und mit ihnen in demselben Bande zu- sammengestellt ist.

Für den Evangelisten, für Christus und die einzelnen Nebenpersonen ist in dieser Markuspassion vollständig auf den alten Choralton zurückgegriffen worden. Nur bei dem Verscheiden Christi sind Erzählung, und Rede in mehr rezitativartigem Stile gehalten und in Wendungen deklamiert, die mit ähnlichen in der Lukaspassion über- einstimmen.

Die Chöre, welche in der jonischen Tonart, dem modernen F dur, stehen, weichen von der sonstigen Weise Schützens bedeutend ab. Auf einzelne Äußerlichkeiten, wie die, daß die Soprane, die Schütz in seinen andern Werken nur ausnahmsweise bis T oder g^ führt, sich hier viel häufiger in den hohen Lagen bewegen, ist weniger Gewicht zu legen; denn die hohen Soprane kommen bei den deutschen Komponisten am Anfang des 47. Jahr* hunderts vor, wie wir bei Vulpius sehen können. Ge- setzt den Fall, daß Schütz seine Markuspassion als sehr junger Mann geschrieben, könnte er sich diesem Brauche angeschlossen haben. Aber die Harmonik in den Chören weist nicht auf .den Anfang, sondern auf das Ende des 4 7. Jahrhunderts; namenthch* die Verwendung der Domi- nantseptime und die Bevorzugung der weichen Dominant- harmonie an den Satzschlüssen ist hierfür entscheidend. Ferner sind einzelne Sätze in der Erfindung der Themen so nichtssagend und ersichtlich nur aufs Formelle gerich- tet, daß man das Konto von Schütz damit nicht gern belasten möchte. In diese Gruppe gehören vor allen der Chor der Jünger Jesu: >Wo willt du, daß wir hingehen< und der auf äußerliche Abrundung und guten Klang

*} Sie befindet sich in der Leipziger Stadtbibliothek. Von der Jobannespassion allein bat Wolfenbüttel eine von Scbütz selbst hergestellte mit mancherlei Abwelcbungen.

49

H. Sohtttii.

Die sieben

Worte.

angelegte, aber im Hinblick auf Situation und Inhalt ganz unpassende Chor der falschen Zeugen: >Wir, wir haben gehört«. Trotzdem wird man sich nur schwer entschlie- ßen können, die Markuspassion ganz aus der Liste der SchÜtzschen Werke zu streichen; denn sie enthält zu viel Material, das in Form und Geist das Gepräge Schützens trägt. Der größte Teil des Introitus und des Beschlusses, ferner der Chöre: »Ja nicht«, »Was soll doch dieser Unrat«, »Bin ich's«. »Wahrlich, wahrlich«, »Pfui dich«, »Andern hat er geholfen« könnte von ihm sein. Wir sagen, der größte Teü dieser Nummern, weil sie in einem Reste die Zeichen einer eingreifenden frem- den Hand tragen. Es wäre möglich, daß ein Bearbeiter vielleicht schon bald nach dem Tode von Schütz, sich überdessen Markuspassion gemacht und sie einem neueren, aufs Gefällige des Ausdrucks und auf breitere Formen gerichteten Geschmack angepaßt hat. Der größte Teil der Schütz'schen Motive blieb, wurde aber in der Ausführung in die Länge gezogen und sämtliche Sätze erhielten ganz neue Schlüsse. Daß dieser Bearbeiter kein Stümper war, zeigen die Chöre »Weissage« und »Kreuzige«, an denen nichts Schütz^sches ist, die man aber trotzdem als meisterlich geformte, wirkungsvolle und auch im Ausdruck treffende Tonbilder wird müssen gelten lassen.

Seine Hinneigung zu äem modernen italienischen Rezitativ, welche den Solosatz der Passionen so bemer- kenswert macht, hat Schütz in zwei andern Werken, welche mit der Leidensgeschichte des Herrn in nahem Zusammenhang stehen,, offen und formell unzweideutig bekannt. Es sind dies die ebenfalls durch Riedel zuerst wieder veröffentlichten und in die Kirchenkonzerte ein- geführten »Sieben Worte« und die »Historia von der Auf- erstehung Jesu Christi.«*)

Die »Sieben Worte Jesu Christi am Kreuz« beginnen mit einem fünf stimmigen Introitus (zwei Tenöre)

*) Beide Werke iu Bd. I der Geäamtausgabe.

über den Choral: >Da Jesus an dem Kreuze stund<. Schütz hat für die durch ihre dorische Färbung inter- essante, aus dem alten Volkslied: »Wer das Elend bauen will« herstammende Choralmelodie eine Vorliebe. Sie klingt in verschiedenen seiner Werke leicht an: unter anderen auch in dem Introitus seiner Johannespassion. In dem Introitus der »Sieben Worte« führt er sie ziem- Uch vollständig durch, in einfachen, aber aus vollem Herzen heraus deklamierten Kontrapunkten. Es ist oft als ob eine Stimme die andere in Hingebung überbieten wollte. Besonders schön ist am Eingang, wie der Sopran, während die andern in ihren Betrachtungen schon weiter- gehen, gar nicht von dem Gedanken und dem Bilde los- lassen kann: »Da Jesus an dem Kreuze stund«; höchst eindringlich auch die scharfe Dissonanz an der Stelle, wo die Stimmen mit den Worten »bittere Schmerzen« nach langem Einzelgehen wieder zusammentreten. Von dem Passionenstil weicht dieser Introitus, außer durch seine Länge, auch noch dadurch ab,^ daß ihm eine In- strumentalbegleitung beigegeben ist. Sie ist für den so- genannten Continuo (in Generalbaßnotierung) skizziert und für ihre Ausführung müssen wir uns nach dem Brauche des 47. Jahrhunderts einen ganzen Chor von verschiedenartigen Tasteninstrumenten und lauten- oder harfenartigen Spielwerken denken. Diese Continuostimme wirkt in allen Teilen der »Sieben Worte« mit, ein sicheres Zeichen, daß dieses Werk in seiner Form auf italienischem Boden steht.

Von dem Introitus geht Schütz nicht direkt ins Evan- gelium, sondern es folgt ebenfalls nach italienischem Vorbild, noch ein zweiter Prolog: eine instrumentale »Symphonia« für fünf Stimmen, deren Besetzung dem freien Ermessen der Direktoren überlassen ist. Dem Charakter nach ist diese Symphonie eine Trauermusik. Während die spätem Italiener für solche Instrumental- prologe an der dreisätzigen Form festhalten, gibt hier Schütz eine freie einsätzige Phantasie. Sie gehört for- mell mit den Orchestersätzen in den »österreichischen

Kaiserwerken«*) zu den ersten deutschen Nachkommen der Gabrieli'schen Sonate und schheßt sich auch im inneren Stile der bei Gabrieh und andern Venetianern für feier- liche Gelegenheiten eingehaltenen Weise an. Schützens Symphonia beginnt in dem Tone eines schwermütigen Liedes:

^^^^^^^

'Aus dem zögernden Schritt geht sie bald in einen lebhaf- teren Gang über, spricht einige warme Worte der liebenden Begeisterung und sinkt in dem Moment, wo das Drama beginnen muß, wieder in Trauer zurück.

Der Evangelist, welcher zunächst als hoher Tenor (im Altschlüssel notiert) auftritt, vollzieht im Laufe des Werkes einige musikalische Metamorphosen. Nach dem dritten Worte Jesu erscheint er als Sopran; als aber die bedeutungsvolle Stelle des »EH« kommt, da verwandelt er sich in einen vierstimmigen Chor. Noch einmal, nachdem Christus das letzte Wort gesprochen, findet sich in der Partie des EvangeUsten dieses Übergreifen in den Stil der Motettenpassion. Die Wirkung ist tief mystisch. Als Nebenpersonen haben die »Sieben Worte« nur die beiden Schacher. Der erste ist dem Altfalsettisten, der andere dem Baß gegeben. Die Partie des Christus ist äußerlich dadurch ausgezeichnet , daß bei ihr zur Begleitung des Continuo noch zwei (nicht näher bezeichnete) Instrumente, unter denen wir uns Violen denken können, hinzutreten. Die Anregung hierzu mag Schütz wie später Bach der Oper entnommen haben, in welcher bereits bei Monte- verdi besonders wichtige Reden der Hauptpersonen außer mit dem Continuo auch noch durch Streichinstrumente begleitet werden. In der zweiten Hälfte des 4 7. Jahr- hunderts findet man in der altvenetianischen Oper als ständige Erscheinung, daß die Rezitative der in den

*) Musikalische Werke der Kaiser Ferdinand III. etc. heraus- gegeben von Guido Adler.

'

häufigen Beschwörungsszenen auftretenden Geister (om- brae) von hohen und äusgehaltenen Geigenakkorden ge- stützt werden. Auch Steffani hat in seinem »Trionfo di fato« diese geheimnisvollen Violintöne, da wo sich die Schatten des Hektor und des Anchises treffen. Als in die Passion Instrumentalmusik eingeführt war, entnahm sie der Oper diese wirksame Begleitungsformel als ein willkommenes Mittel des feiertichen Ausdrucks. So fin- det es sich zuerst bei Sebastiani, später gleichzeitig mit Seb. Bach, der es in der Matthäuspassion ganz besonders eindringlich verwertete, in Passionen von Keiser und Telemann, welche es jedoch nicht für alle Reden Christi verwenden.

Man hat den treffenden Vergleich gemacht, daß Bach und die mit ihm genannten Passionskomponisten die be- sondere Klangfarbe der Violinfen wie einen Heiligenschein um die Gestalt Christi legen. Schütz verwendet seine begleitenden Instrumente anders, in einer lebhafteren Weise. Als der Herr zum Sterben kommt und in den überwältigenden Sätzen, welche Schütz über die Worte: >Es ist vollbrachte und »Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände« geschrieben hat, seine Stimme ins Stocken kommt^ da tönt aus den Melodien und aus den kurz hingetropften Rhythmen der Begleitung Klagen und Zittern. An andern Stellen vervielfältigen die Instru- mente die Worte Christi in bedeutungsvollem Echo und zuweilen hüllen sie dieselben wie in feierliche Dämme- rung.

Der tiefe Eindruck, welchen die eigenen Reden Christi in der Komposition von Schütz machen, wird noch ver- stärkt durch die sie umgebenden Rezitative des Evan- gelisten. Dieser edel ruhige Ton erhabener Ergriffenheit, welcher die meisten Sätze des Erzählers kennzeichnet, ist nie wieder übertroffen und nur selten erreicht worden. Wer nicht Musterstücke aus der Jugendzeit des begleiteten Sologesanges kennt, wie den Schluß des Combattimento von Monteverdi, seinen Klagegesang der Arianna, die Eingangsszene seiner >Incoronazione«, wird an Stellen

t

46

wie »Es stund aber bei dem Kreuze Jesu Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, Gieophas^ Weib« sich ganz modern berührt fühlen. Das Pathos dieser Deklama- tion ist von einem Gehalt, welcher alle Zeiten überdauert.

Nachdem Jesus verschieden, deckt das Orchester mit derselben Symphonia, die wir am Anfange hörten, das kurze, ergreifende Passionsbild wieder zu, und eine fünf- stimmige Conclusio, welche im Anfang dem Introitus ähnelt, im Tone frommer Hoffnung mit nachdrücklichem Verweis auf das »Dort« des ewigen Lebens ausklingt, schließt die andächtige Feierlichkeit.

Das Entstehungsjahr der »Sieben Worte« kennen wir E. Sohflts. nicht. Für die »Historia von der Auferstehung Die Historia Christi« steht 4623 als Datum des von Schütz selbst von der Auf- veranstalteten Druckes fest. Wir dürfen aber aus der erstehang. Musik schließen, daß die »Sieben Worte« das spätere Werk sind; denn wo sie sich mit der Auferstehungsge- schichte in den gleichen Formen begegnen, zeigen sie eine unvergleichlich größere Reife. Die »Sieben Worte« können als dasjenige Werk bezeichnet werden, welches am besten geeignet ist, die Bekanntschaft mit Schütz zu vermitteln: es zeigt auf einmal viele Seiten seiner Kunst und es zeigt ihn in allen alsMeister. Auf die »Auferstehung« hat Schütz selbst, wenigstens in dem Augenblicke, wo er sie vollendet hatte, viel gehalten. An ihrem Schlüsse stehen die beiden Verse:

OhrlBte, Resurrexit, cecinit,

mea Musica, Christa, beatiflcum, dicquoqne,

Sarge, mllii. Sic nunc mortall cecini qnod

voce, resargens Voce immortali tunc tibi Christe

canam,<

Herr Christ, hienieden hat mirs gelungen

Das ich dein' Urständ hab ge- sungen,

Herr Christ, heiß mich am jüngsten Tag

Auch auferstehen aus meinem Grab,

So will ich dich mit ewiger Stimm'

Im Himmel loben mit Sera phim.

Aber das Werk als Ganzes ist für die praktische Wieder- belebung verloren. Es ist ein unfertiges Gemisch von alten und neuen Formen. Der Evangelist singt Choralton in der für die Osterlektion hergebrachten (oben, S. 41, im Hauptmotiv skizzierten) Formel. Das ist das Alte. Das Neue in der Partie des Evangelisten besteht darin, daß vier Gambenviolen diesen Choralton mit Akkorden beglei- ten. Eine oder die andere soll (nach niederländischer Or- ganistenweise) Passagen in die ruhende Harmonie hinein- spielen dürfen. Auch ohne diese Improvisationen sind schon Dissonanzen genug da. An bedeutenden Schluß- stellen der Erzählung, oder auch wenn ein malerisches Bild lockt, verläßt der Evangelist mit seinen Gamben den Choralton und begibt sich ins Bereich der rhythmisierten Melodik. Christus, Maria Magdalena und der Jüngling im Grabe sind im Stil der Motettenpassion gehalten und singen der eipe, wie die andere zweistimmige Sätze. Doch ist. in der Vorrede das moderne Zugeständnis gemacht, daß die zweite Stimme durch ein Instrument er- setzt werden oder wegbleiben kann. Der untergeschrie- bene Viadan ansehe Generalbaß erlaubt auch diese zweite Form. In den Gesängen der drei Marien haben wir rich- tige dramatische Terzette, in den Reden des Cleophas und seines Gesellen, in denen der zwei Engel, der zwei Männer im Grab ebensolche Duette. Sie und diejenigen Sätze, in welchen sich Christus, ebenso die kürzeren Abschnitte, in welchen sich der Evangelist auf den Boden des neuen Sologesanges stellt, sind aber nichts weniger als Muster der Gattung. Vielmehr stehen sie auf der untern Stufe der Entwickelung, die wir in der Florentinischen Oper ungefähr bei Gagliano antreffen. Der Melodienbau bewegt sich in Extremen: Trockenheit und Überschwang. Unvermittelt geht es aus regelrechten, aber sehr stückweise zusammengesetzten Kantilenen in Koloraturen und Läufe, für welche im Text gar keine Veranlassung vorliegt. Wenn die Oper »Daphne«, welche Schütz vier Jahre nach dieser Auferstehungsgeschichte komponierte, nicht besser gewesen ist, so haben wir ihren

Verlust nicht sehr zu bedauern. Es ist selbstverständlich, daß bei einem Genie, wie das Schützens, auch in einem im Ganzen verfehlten Werke doch noch sehr viel Packen- des und Bedeutendes übrig bleibt. Es findet sich nament- lich in dem herrlichen Tone, der in den Gesprächen herrscht, welche Cleophas und sein Geselle mit Jesu halten. Auch die Reden des Letzteren enthalten Stellen von mächtiger Hoheit. Eine solche ist z.B. das erste >Friede sei mit Euch«. Geniale Detailmalereien ziehen sich in reicher Zahl durch das Werk: Eine der bedeutendsten ist in dem Gesang der Hohenpriester »Saget, seine Jüng6r kamen« bei dem Worte »schliefen« zu finden, eine andere noch bedeutendere in der Rede Jesu, auf dem Wege nach U 4 l^ /^ Emmaus. Die Modulation, in der er die Vi _ '^ y^ 1*^^^ ^ beiden Jünger wegen ihrer Traurig- f f ' ** ' keit be&agt^jzeigt wieder ganz direkt ^** "

den Einfluß, den die Werke Monteverdi's auf Schütz geübt haben.

Wirklich groß sind in der »Historie der Auferstehung« die Stücke, welche der alten Kunst angehören : der Chor- komposition. Das Werk hat nur einen dramatischen Chor, die Rede der elf Jünger: »Der Herr ist wahrhaftig auf- erstanden usw.« Schütz hat in ihm, ähnlich wie in sei- nen Psalmen, versucht die einfache Deklamationsweise des Choraltons auf den Chorgesang zu übertragen, und dieser halb wie Stammeln wirkende Vortrag paßt hier ganz treffend zu der Lage der mehr erschrockenen als er- freuten Jünger. Außer diesem dramatischen Chor hat die Auferstehung nur noch die beiden üblichen betrach- tenden Chöre, den Introitus und die Conclusio. Der In- troitus hat die aus den Passionsevangelien bekannte An- lage, nur am Schlüsse ist die Freude über die »Beschrei- bung« bis zu einem naiven Übermut gesteigert, der in einer Kette leichter Dissonanzen dahinspringt. Die Con- clusio des AuferstehungseVangeliums hat auch bei den- jenigen Komponisten, welche dasselbe, wie Scandelli und Besler,im Motettenstile behandeln, einen sehr reah- stischen Zug: Der Evangelist ruft von Anfang an in das

"-< 49 ♦—

fromme: »Dank sei Gott, der uns den Sieg gegeben hat, durch unsren Herrn Jesum Christum« immer kräftig »Vic- toria« hinein, bis der ganze Chor in diesen Freudenruf mit einstimmt. Diesen Zug, welcher wohl aus den alten verweltlichten Osterspielen in die Osterlektionen hinüber- gerettet ist, hat Schütz mit ersichtlicher Lust durchge- führt. Die ganze zweite Hälfte seiner Gonclusio ist ein allgemeines Victoriajubeln und führt die Phantasie aus den feierlichen Hallen der Kirche hinaus in das unge- zwungen fröhlich laute Treiben eines Volksfestes. Wir sind bei diesem Stück mitten auf dem Weg von Palestrina zu Händel.

In der von Schütz in den Passionen vorgeniommenen Annäherung des Ghoraltons der Soliloquenten an das Rezitativ, in der vollen Einführung des modernen Solo- gesangs in den »Sieben Worten», in* der durchgeführ- ten Instrumentalbegleitung, welche diesem Werke mit der Auferstehungsgeschichte gemeinsam ist, haben wir Elemente zu erblicken, welche der italienischen Oper und dem italienischen Oratorium entstammen. Beide Kunst- arten entstanden am Ende des 4 6. Jahrhunderts zu glei- cher Zeit und unterschieden sich in\ihrer späteren Jugend- periode im wesentlichen nur durch die verschiedenen Stoffgebiete. Das des Oratoriums war die biblische Ge- schichte, mehr noch die Heiligenlegende und das allego- rische Drama. Als die Florentiner Hellenisten die durch die Ausbildung des begleiteten Sologesanges umgestaltete Musik zur Mitwirkung im Drama herbeizogen, leitete sie die Illusion, daß die enge Verbindung des Dichterwortes mit dem Geniuis der neuen Tonkunst das sichere Mittel sei, das italienische Drama von Rohheit und Unnatur zu reinigen und dasselbe der Form und dem Geiste des an« tikeii Schauspiels zu nähern.

Doch es kam anders. Herrschsüchtig und unreif zugleich, bahnte sich die Musik bald bequemere und dankbarere Wege neben dem Drama her und brachte es bald dahin, daß durch ihre ununterbrochene Mit- wirkung die Führung der Handlung mehr geschädigt als

U, 4. 4

50 «=>

gefördert wurde. Schon um die Mitte des 17. Jahrhunderts dringt dieGommediadeirarte, die Stegreifposse, in das welt- liche und geistliche Musikdrama ein. Opern und Oratorien füllen sich mit kleinen und großen Liedern, mit arienartigen und anderen Neubildungen des vorwärtssttirmenden und von der Menge in seiner Selbstherrlichkeit begünstigten Sologesanges. Ihr Textinhalt bildet zum größten Teil nur einen Mißbrauch der dramatischen Gelegenheit. Das Vor- drängen des betrachtenden und empfindsamen Elements, das überwuchern einer in vielfache Gestalt gekleideten Lyrik bildet von da ab einen wesentlichen Grundzug auch der Passionen. Bibeltext und biblische Handlung werden in Oratorienart lyrisch ausgeschmückt oder er- drückt. Es entsteht im 18. Jahrhundert dieoratorische Passion und tritt nicht blos musikalisch, durch Instru- mentalbegleitung und Rezitativ, sondern noch vielmehr textlich in Gegensatz zu ihren Vorgängern: der Choral- und Motettenpassion. Dieser Grundzug kennzeichnet die oratorische Passion. Nicht blos Rezitativ und Instrum eutal- begleitung unterscheidet sie von den beiden andern Grup- pen der Passionskompositionen, sondern vor allem die lyrische Ausschmückung der biblischen Handlung.

In Deutschland hatte sich der Passionstext sowohl in der Choralpassion wie auch in der Motettenpassion bisher streng auf das Bibelwort beschränkt. Introitus und Conclusio stehen wie Rahmenleisten außerhalb des Evangelienbildes. An der letzteren fing man schon frü- her an zu ändern : Zusätze zu machen, wie mit dem >Ecce quomodo« des Gallus, welches siph bei Vopelius findet, oder wie Burgk und Schütz ein liturgisches Stück von ganz anderem Inhalt an ihre Stelle zu Bringen. Daser hat gar statt der Danksagung ein » Miserere <. In die Er» Zählung und Darstellung der Leidensgeschichte selbst aber drängt sich nirgends ein fremdes Wort. Es sei denn das > Pater noster«, welches in katholischen Passionen regel- mäßig nach dem Verscheiden des Herrn vorgeschriel)en ist Ähnlich sind noch Hammerschmidts Passionen gehalten. Auch Schütz hat in seihen > Sieben Worten« und

in der Auferstehungsgeschichte nur die musikalischen Elemente des Oratoriums zugelassen , der Text dieser Werke ist rein biblisch; immer den Einleitungs- und Schlußchor abgerechnet. Die erste deutsche Passion, in welcher zu der biblischen Darstellung oratorienmäßige Text-Zutaten treten, ist, soweit bis jetzt bekannt, die des Königsberger Kapellmeisters Joh. Sebastiani*), eines Joh, Sebastiasi, aus Weimar gebürtigen Thüringers. Sie ward in dem Matthäus- I Jahre gedruckt, in welchem Schjltz starb: 4 672. In diesem passlon.

Werke begegnet uns zum ersten Male fest nachweislich das Luthersche Kirchenlied. Die Choräle nehmen hier in erster Linie die Stelle ein, welche die Arie im italienischen I Oratorium hat, nicht bloß in dem Sinne der Dichtung,

I sondern auch nach der musikalischen Form. Es sind

i Sologesänge für den Sopran, der vom Continuo**) und

4 Violen begleitet wird. Jedoch sollte, wie in dem 1686 erschienenen Auszug bemerkt wird, die Gemeinde, we- nigstens bei einigen, mitsingen können. Die benutzten Kirchenlieder sind: >0 Welt, ich muß dich lassen«, »Gott sei gelobt und gebenedeiet«, »Vater unser im j Himmelreich«, »0 Lamb Gottes« (dreimal an verschiedenen

! Stellen), »Erbarm dich mein « , »Führ uns, Herr, in Versuchung

nicht«, Herr Jesu Christ, wahr'r Mensch und Gott«, »Herr, ' meinen Geist befehl ich dir«, »Mit Fried' und Freud' fahr

I ich dahin«, »0 Traurigkeit, o Herzeleid«. Dem Sopran sind

außer der Chorallyrik auch dramatische Partien, nämlich das »Weib des Pilati« und die »zwei Mägde« übertragen. Der Evangelist, vom Continuo begleitet, stützt sich in seiner

*) Handschriftlich Berlin : Kgl. Bibliothek, Ein gedrucktes Exemplar (Königsberg 1672 bei Reußer) in der Universitätsbib- liothek zu Königsberg. 1686 wnrde eine Fassung veröffentlicht : »DerGemeine zum Besten, woraus sie selbst mit lesen und singen kann«. Das Werk liegt seit kurzem als Band 17 der »Denk- mäler deutscher Tonkunst« im Neudruck vor.

••) Für seine Besetzung sind außer Orgel, Positiv und Oembalo aach noch als »subtilere Instrumente« Lauten und Theorben vom Komponisten gewünscht.

Rezitation allerdings auf gewisse stereotype Schlußformeln, wie ja auch in Italien die Bezitative in der ersten Periode die Madrigalenreste noch mit sich herum tragen. Aber er deklamiert doch im Ganzen immer mit einfachem Aus- druck und hebt einzelne Details der Erzählung sehr ein- dringlich hervor. Besonders bemerkenswert ist die Stelle

i T 1^ .fi J) >i I h. ii| II I ii I I

und f is , gen an su ttan . orn vaä n , gßu

und die Episode bei der Gefangennahme Jesu, wo der eine Jünger dem Knecht des Hohenpriesters das Ohr ab- schlägt.. Die Partie Christi ist in dem zuweilen unbehol- fenen häufiger aber sehr machtvollen Stile gescturieben, der für die Baßgesänge in der ganzen Anfangszeit der Monodie bis auf Carissimi hin beliebt war : Der singende Solobaß ist an den Harmoniebaß gekettet. Mit anderen Deutschen pflegt ihn auch Schütz z. B. in der Aufersteli- ungfthistorie und in den »Sieben Worten c. Freier stilisierte Stellen, in denen zugleich der Ausdruck leichter zu ver- stehen ist, finden sich bei »Ich werde den Hirten schlagen« und bei »Ehe denn der Hahn krähet«. Das »Eli« läßt in eignen Wendungen die Oktaven sind eigentümlich einen Typus erkennen, der dem in der Schütz^schen Matthäuspassion verwandt ist: Langsam.

&. iL E . 1i. E . U.

Die VioUnen begleiten außer Christus keinen zweiten Solisten, aber sie spielen noch in den Chören mit. Soweit letztere zur Handlung gehören, sind sie einfach und knapp, jedoch scharf gezeichnet und entschieden im Aus- druck. Wir geben eine Probe:

^

Sopran. Alt.

Tenor. Baas

Sein Blut koi

%.. ber «BS

vaA ^A>n

S«b Blut

fi . Mr sn» md va^fjn Kin

'<^ 53

IB

se . te

Klo . derl

I '^'' I

i^

V

^^m

M/

Der Gonclasio »Dank sei dem Herrn« folgt noch ein zweites Danksagungslied, »welches ganz zum Beschluß nach den Kollekten kann gesungen werden.«

Der Introitus wird durch folgende Sinfonie der 4 Violen mit dem Gontinuo eingeleitet:

Unmittelbar an den letzten Akkprd schließt sich der Chor an-

^ 54 ^^—

HS . ret das Lei

•den und Ster .. ben «n.serjiHer.

(4.VioIa und Cotatintto gleieUaatend mit Singbass.)

ren Je.sa Chri

sti nadi dem hei. liegen Mat . thä

Ol

1^

Mk ,- I n 1 . , I . ,-Ä-,

Prri|n-| I ,1 ij 1 1 i| ni ii.i j II'' r^i

pr if I I iJ jifyi.^— 1^ V'-^m

hl! ifrri . ir j j ii ^'i ji

Ä

-<^ 5 5 -o^—

Das Gahrieli'sche Muster ist in diesen beiden Stücken ebenso deutlich zu erkennen wie in der Einleitung der »Sieben Worte« von Schütz. Sebastiani folgt der ita- lienischen Schule weiter als der Dresdner Meister » er folgt ihr bis in die Vorrede seiner Passion, welche nach dem Vorbilde in den venetianiscfhen Öpernlihrettis in zwei Teilen gegeben wird. Der zweite, an den Leser gerichtete, welcher nebenbei auch mitteilt, daß der Komponist auf dieselbe Manier wie diese Passion einen ganzen Jahrgang Evangelien ausgesetzt und mit Kirchen- liedern versehen habe, ist besonders interessant durch die Notiz, daß an zwei Stellen der Passion Pausen ein- treten und während derselben auf die Leidensgeschichte bezügliche Bibelabschnitte verlesen werden sollen. Daraus geht hervor, daß der Zusammenhang der Passionsmusik mit dar alten Evangelienlektion ganz aus dem Bewußt- sein geschwunden war, und daß das ernstlichste Hinder- nis für die weitere oratorienmäßige Ausgestaltung der ersteren, wenigstens in Königsberg, als beseitigt gelten konnte.

Ton einigen steifen Stellen abgesehen, darf die Pas- sion ^bastianis auch heute noch für musikalisch lebens- fähig erklärt werden. Höher ist ihr kunstgeschichtlicher Wert Mit ihr ist der Obergang zur oratorischen Passion, zu welcher am Ende des 47. Jahrhunderts die Neigung in allen Musikländern, auch in Frankreich, drängte, gegen welchen aber Schütz noch seine Einwände und Bedenken haben mochte, für Deutschland grundsätzlich vollzogen. Schon das Jahr 1673 brachte eine Passion von Th eile*), in der ebenfalls Choräle unter dem Titel »Arien« einge- legt sind. Derartige Werke mehren sich; gegen das Ende des Jahrhunderts finden wir in den Gesangbüchern Pas- sionstexte mit eingelegten Liedern, ein weiteres Zeichen, daß die Gemeinde diese Lieder mit sang. Daneben bleibt aber der Choral auch für eine Solostimme, als Ersatz der

*) In den »Denkmälern deutscher Tonkunst« mit der von Sebastiani in demselben Band neugedruckt.

kunstvollen Arie bestehen. Drittens machen die Choräle der wirklichen Kunstarie Platz. Sie wird in den ^ßeren Städten die herrschende Form für die Passionseinlagen; aber ganz mochte man auch auf dem Dorfe und in der Provinz nicht auf sie verzichten.

Die Motettenpassion hatte die einfachen musikali- schen Formen der Ghoralpassion nur vorübergehend in Schatten gestellt Die oratörische Passion untergrub sie oder wandelte sie völlig um. Aber sie gefährdete auch das- Bibelwort, verdrängte es überhaupt oder setzte es an zweite Stelle. Lyrische und dramatische Umschrei* bungen von geringem Geschmack treten an die Stelle des Evangelientextes. Es gibt aus den Jahren 4700 80 eine ziemliche Reihe von Passionsmusiken, die ganz aus gereimten Betrachtungen bestehen. Der Text der Evan- gelien wird npi in der Form von Oberschriften verwendet, die die einzelnen Teile, häufig als »Actus« nummeriert, trennen, oder aber er wird zwischen diesen einzelnen Teilen verlesen. Die Betrachtungen sind den Personen der Leidensgeschichte in den Mund gelegt, aber nicht ihnen allein. Man gesellt ihnen aus den P assions spielen und aus anderen Quellen, dem italienischen Oratorium z. B., alttestamentliche, frei erdichtete und allegorische Figuren hinzu. Besonders beliebt sind unter ihnen die Sulamith des Hohenliedes, die gläubige Seele imd die Tochter Zions. Die letzteren wirken bekanntlich auch noch bei S. Bach mehr verwirrend als bereichernd mit. In der Musik über diese Texte herrscht der Sologesang ; ganz wie in der italienischen Oper ist der Chor abgesetzt Die Instrumentalmusik tritt breiter vor, aber nicht blos in der Form von guten Lamentos, sondern auch unpassend mit Virtuosensätzen. Diese Art von Passionen waren ursprünglich für außerliturgische Andächten bestimmt; sie drängten sich aber auch in den Gottesdienst Das Telemann, Hauptstück dieser Gattung ist Telemanns dreiteiliges Seliges Erwägen. Passionsoratorium: »Seliges Erwägen des Leidens und

Sterbens unseres Herrn usw.«, welches sich besondere Berühmtheit erworben hatte. Es ist durchweg Solomusik,

y

welche Ansprüche an die Ausführung stellt. Nach dem Plane -Telemanns, dem Gerber 44 Passionsmusiken zu- schreibt, der also auf diesem Gebiet schon durch seine Fruchtbarkeit eine Autorität war, arbeiteten die Lokal- komponisten hier und da etwas Ähnliches für die vor- handenen Krsifte zurecht.'*') Teile der Leidensgeschichte, welche sich den gegebenen musikalischen Mitteln nicht anpassen wollten, ließ man sprechen. So entstanden Passionsmusiken mit verbindendem Text. ^ Einen Anteil der Zuhörerschaft oder Gemeinde an diesen Mischwerken künstlerisch-liturgischer Passionsfeier geben hier und da ausgeschriebene oder nur angemerkte Choräle kund.

Schon in diese betrachtenden Umschreibungen des Evangelientextes mischen sich hie und da dramatisch auf das italienische Oratorium weisende Liebhabereien. Es kommen Dialoge zwischen Christus und ^> dem Passions- schüler« vor; die Hauptpersonen, Petrus besonders, halten lange Monologe (Soliloquien). Bald bemächtigte sich diese theatralische Richtung der ganzen Leidensgeschichte und zwängte sie in Opernform. ]>as erste Werk dieser Gattung ist »Der blutige und sterbende Jesus«, von Hunold in Hamburg gedichtet, von R. Keiser in Musik gesetzt und fi. Xeiser, in der Karwoche 4704 aufgeführt. Der Evangelist ist PasBion von hier einfach gestrichen, alles Bibelwort umgedichtet und Hanold. die ganze Handlung vollständig bühnengerecht ausgeführt. In den alten Passionsspielen, die am -Anfange des 18. Jahr- hunderts noch in lebhafterer Erinnerung des Volks waren, hatte man es ebenso gemacht und kein Bedenken ge- tragen, noch weiter zu gehen. War doch in ihnen sogar die lustige Person der Stegreifkomödie eingeschoben worden : man übertrug sie dem Knecht Malchus, der sich das abgehauene Ohr besah, oder einem ganz frei zuge-

*) Johannespassion (Dnrlach 1719): »Seliges Erwägen« von Ph. Müller, 1727 der Henogin EliBabetb von Würtemberg ge- widmet. Seliges Erwägen, Schwerin (ohne Prnckjahr). Seliges Erwägen, Passionsandacht in der geistlichen Seelenmnslk von St Gallen -^727). Passion in sechs Teilen, Lndwigslnst 1770.

dichtetei^ Quacksalber, der den weinendei^ Frauen steinen Kram anpries. Außerdem war diese theatralische 'Zurich- tung der Passionsmusik nur der letzte, folgerichtige Schritt, der aus dem Vergessen ihres Lektionscharakters und ihrer Verbindung mit dem Oratorium hervorging. Denn in seiner Heimat Italien wurde das Oratorium lange ganz opernmäßig behandelt; selbst Carissimi folgt im Grunde dieser Anlage. Gleichwohl drang aber die oratorische Passion in der Form der Oper nicht durch. Es üanden sich in Benjamin Neukirch und Ulrich König nur zwei Dichter, welche sich Hunold anschlössen. Des letzteren: »Tränen unter dem Kreuze Jesu« kamen, ebenfalls wieder mit Musik von R. Keiser, in der stillen Woche des Jahres '47H zu Hamburg zur Aufführung. Seebach und Bricau, zwei weitere Poeten, wdche die Passion ebenfalls als Theaterstück behandelten, lassen insofern schon den Rück- zug merken, als sie das ßibelwort wenigstens in der Form szenischer Bemerkungen'*'} mit hereinziehen. In dieser Form begegnet uns, weit weg von Hamburg, eine Passions- oper: »Der leidende und sterbende Jesus« im Jahre 4749 zu Durlach in der Komposition des dortigen badischen J. P. Käfer, Hofkapellmeisters Joh. Philipp Käfer. Dieses Werk ist Der leidende auf mehrere Tage verteilt , jeden Tag ein Abschnitt in und sterbende zwei Hälften aufzuführen, die eine vor der Predigt, die Jesus. andere nach der Predigt. Interessant ist, daß in sie Solochoräle hineingezogen sind: Christus singt zu ver- schiedenen Malen passende Gesangbuchverse, Petrus ein- mal ein ganzes choralisches Bußlied von acht Versen.

Die Geistlichkeit in Hamburg erhob gegen die voll- ständige Umwandlung der oratorischen Passion in die Oper entschiedenen Widerspruch und sie ward darin durch Dichter und Musiker praktisch unterstützt. Zu gleicher Zeit mit dem Hunold-Keiserschen »Blutigen und sterben- den Jesus« vom Jahre 1704, möglicherweise noch vorher, wurde in Hamburg eine »Passion nach dem Evangelisten

*) Diese szenischen Bemerkungen sind auf das italienisehe Oratorium des 16. Jahrhunderts zurückzuführen.

-— ^ 59

Johannes« aufgeführt, welche de^r zu jener Zeit in der Stadt weilende junge G. F. Händel komponiert hatte. 0. F. Bündel, In ihr ist das Bibelwort und der Evangelist in seinem Johannes- Rechte belassen; der Dichter, der Lizentiat Postel, hat passion yon das oratorische Element auf frei gedichtete Verse be- Postel. trachtenden Inhalts beschränkt. Diese Verse sind oft geschmacklos genug: Als die Kriegsknechte die Kleider Jesu verteilen, empfängt der erste von ihnen den ihm zufallenden Teil mit den durch mehrfache Wiederholung immer lächerlicher werdenden Worten: »Du mußt den Rock verlieren«. Sie erhalten musikalisch die Form der Arie. Choräle kommen in dieser Passion nicht vor. Die Musik im Werke setzt ziemlich schwach ein. Die Arien, auch wenn sie der Taktzahl nach kurz erscheinen, sind durch unnötige Zwischenspiele ins Breite gezogen, die Chöre ermangeln des dramatischen Ausdrucks, sie haben in der Mehrzahl kaum einen erkennbaren Charakter. Gegen die Mitte des Werkes zu erhebt sich aber der wahre Händel. Man merkt ihn zuerst an der Baßarie: »Er- schüttere mit Krachen«, einer seltsamen und großartigen Nummer, vor der man erschrecken kann. Wo die Unter- handlungen zwischen Pilatus und dem Volke erregter werden, kommt auch in die Chöre Leben und Feuer. Christus singt Baß und durchweg in einem edel gehaltenen Tone. Nur an der Stelle: »Es ist vollbracht« erscheint eine ausgeführte Koloratur, die in der Intention schön ge- nannt werden muß, schlecht ausgeführt aber wohl leicht mißverstanden werden und als Abfall vom Stil getadelt werden kann. Mit besonderer musikahscher Kunst ist der Pilatus behandelt. Von den tonmalerischen Zügen, an denen später Händeis Musik immer reich ist und für welche die Passionsmusik herkömmliche Gelegenheit bot, findet sich in dieser Johannespassion wenig. Hervor- tretend ist in dieser Beziehung nur eine Stelle am Ein- gang, wo Händel das Geißeln zeichnet. Das tremolierende Streichorchester nach Venetianischem Vorgang, zum Aus- druck stark bewegter Affekte von dem späteren Händel gern benutzt, findet sich in einer Nummer des Soprans:

»Bebet, ihr Bergec. Der Schlaßchor: »Schlafe wohl nach deinen Leiden« ist hervorragend durch die schöne Be- handlung der Singstimmen: Sopran und Alt lösen sich abwechselnd vom Tutti der anderen mit tief ausdrucks- vollen Melodien los. Lange Zeit war die^e Passion nur durch eine sehr hämische Rezension Mattiiesons, welche in der »Gritica musica« fast soviel Seiten einnimmt, als das Notenwerk selbst enthält, bekannt. Die Gesamtaus- gabe der Deutschen Händelgesellschaft bringt es im neun- ten Bande, und Ghrysander hat sehr Recht, wenn er dort im Vorwort den musikalischen Gehalt dieses kleinen Pas- sionsoratoriums als erheblich, bedeutend und von echt Händelschem Gepräge bezeichnet '*').

Wir begegnen Händel in der Geschichte der Passion noch zweimal. Zuerst mit einem kleinen Osteroratorium 0. F. Händeli »La Resurrezione«, welches beim zweiten Aufenthält des Resnrrezione. Komponisten in Rom, im Frühjahr 4 708, entstand und vollständig im Stil der damaligen italienischen Oper gehalten ist. Nur zwei kurze Chöre finden sich darin. Die »Resurrezione« hat zwei Teile; der erste spielt in der Ostemacht: Johannes verkündet der trauernden Mad- dalena, daß Christus am kommenden Morgen sein Grab verlassen werde. Der zweite Teil führt an das Grab: Der Herr ist auferstanden. Als dramatische Füllperson ist der sehr schönen Dichtung noch die Figur des Lucifer eingefügt worden. Händel stellt ihn in mehreren furiosen Baßarien dar, welche von bedeutender Wirkung aber auch sehr schwierig sind. Noch mehr als Polyphem in »Aci e Galatea« bewegt sich der Fürst der Hölle in Riesen- intervallen, — auf dem Worte >abisso<d-Gis, gleichlautend mit einer Stelle in dem Rezitative des Claudio in Hän- deis > Agrippina« wie sie die damaligen Italiener liebten, um musikalisch anzudeuten. Auf »lunghi« setzt Scarlatti einmal eine Undecime, und an ähnlichen Beispielen ist die Kantatenkomposition der damaligen Zeit reich. Das

*) Ihm widersprechend hat neuerdings Ed. D. Rendall die Echtheit der Johannespassion bestritten (Zeitsch. d. I. M. G. VI, S. 143 ff.).

musikalische Hanptstück der »Resurrezione« ist die Arie der Maddalena: '»Ferma Tali«. Ihr Hauptsatz ruht auf einem Orgelpunkte, freundliche Melodien ziehen kanonisch darüber hin ; der Klang gedämpfter Violinen, sanfter Flöten und weich arpeggierender Gambenviolen vollendet das eigentümliche, nächtliche Kolorit Überhaupt ist die Instrumentierung dieses Oratoriums s«hr bemerkenswert. Man sieht ihr das Bestreben an, außergewöhnlich zu sein; das Orchester hat zuweilen förmlichen Konzertcharakter und glänzt durch die Fülle (vier- fache Violinen) und die Art der Besetzung. Das Werk kam in der Kapelle des Kardinal P. Ottoboni zur Aufführung.

Die dritte Passionsmusik Händeis entstand im Jahre ^716 zu Hannover, wo ihm »Der für die Sünde der Welt - gemarterte und sterbende Jesus« des Hamburger Ratsherrn Brockes in die Hände kam. Der Unnatur in der Dichtung, Ch< F. E&ndel, wie in der Oper so auch hier kühl gegenüberstehend, hat Passion von Händel in diesem Werke einen großen Teil gewöhnlicher Brockes. Musik geschrieben. Aber mit der Situation wird auch die Musik groß. Sehr bedeutend ist die ganze Szene von dem Gebet in Gethsemane an bis zur Verleugnung des Petrus. Besonders treten daraus hervor : Christi Arie: »Mein Vater, schau, wie ich mich quäle«, eine Arie der Tochter Zion: »Brich, mein Herz, zerfließ in Tränen« und ganz beson- ders die (später für »Esther« verwertete) Nummer: »Er- wachet doch« ein ganz merkwürdiger Vorläufer einer erst später zur Ausbildung gekommenen Musikform: des dramatischen Ensembles. Sebastian Bach hat sich die erste Hälfte dieser Passion, Händeis letzte größere deutsche Vokalkomposition, eigenhändig abgeschrieben; die Abend- mahlsszene in der Matthäuspassion ist aber das Einzige, was auf dieses genaue Studium hinweist.

Die genannte Dichtung von Brockes hat in der Ge- schichte der Passionsmusiken eine große Bedeutung. Sie schlug alle weiteren Versuche zu einer rein opemmäßigen Behandlung der Leidensgeschichte einstweilen in Nord- deutschland aus dem Felde und söhnte die Vertreter der Kirche mit der oratorischen Passion wieder aus. Uns kommt die Dichtung von Brockes, der in G. Reuter,

dem Verfasser des »Scbelmuffsky«, einen Vorgänger hat*), allerdings noch opemhaft genug Yor. Ganz nach dem Muster des italienischen Dramas erdrückt eine Unmasse empfindender Betrachtungen die Handlung. Die Sprache jagt nach Bildern und verliert sich in ihrer Sucht nach Deutlichkeit bis ins Ekelhafte. Die Leidensgeschichte ist dargestellt im Lichte einer krankhaften Phantasie, die zwi- schen Rohlieit und Überfeinerung hin- und herschwankt und der Gesamteindruck ist der einer prunkenden und ' übertreibenden Geschmacklosigkeit. Nichtsdestoweniger

galt die Dichtung von Brockes lange Zeit für ein Muster. Dem kirchlichen Sinne kam sie dadurch ent- gegen, daß sie den Evangelisten beibehielt, der den Bibel- text in freier Umdichtung vorträgt, und daß sie unter die madrigalischen für den Ariengesang bestimmten Ein- lagen auch bekannte choralische Kirchenlieder einflocht. Den Musikern aber bot sie in der Einteilung der Hand- lung in abgeschlossene Szenen dankbare Aufgaben moderner Natur. Die Fassionsdichtung von Brockes wurde wahrhaft populär: man las sie und erbaute sich an ihr auch ohne Musik. Sie war mehr verbreitet, als später Klopslocks »Messias«; im Süden wie im Norden kannte man und zitierte den berühmten Brockes, und wie sehr »Der gemarterte und sterbende Jesus« allenthalben ge- läufig war, kann man daraus ersehen, daß er an sehr vielen Orten ohne Nennung eines Dichters aufgeführt und neu gedruckt wurde. Er ward zum Gemeingut, und wenn irge'ndwo für eine in der Hauptanlage biblische Passionsmusik ein paar Arieneinlagen gebraucht wurden^ nahm man die Verse am einfachsten aus Brockes. Auch Bach hat das bekanntlich in seiner Johannespassion getan.

Der erste Komponist, welcher die Passion von Brockes

&. Kelter, in Musik setzte, war R.K eiser im Jahre 4 71 2. Man kann

Passion yon dieses Werk nicht schlechtweg ungenügend nennen. Die

Brockes. ganze Eingangsszene bis zur Einsetzung des Abendmahles

*) F. Zarnke, a. a. 0.

y

^ 63 ^—

ist würdig und charaktervoll: der Einleitungschör; »Mich voih Stricke meiner Sünden« klingt ernst und schwer; die Reden Jesu sind weihevoll und stellen sich über den weichlichen und süßlichen Ton, der aus der breiten Sprache des Dichters hervordringt; hinreißend und rüh- rend, an die ähnlichen Nummern der Schützschen Lukas- pasadon erinnernd, wirken die kindlich liebevpllen Chöre der Jünger. Gut ist auch die Arie der Tochter Zion: »Brich, mein Herz«, ein Stück von schwerer Empfindung beherrscht. Schwächer sind die Arien oder Arietten der gläubigen Seele (Sopran), weil zu leicht im Ton, und die Rezitative des Evangelisten weil zu sehr nach dem Reim deklamiert und deshalb zerstückelt. Von dem Punkte an, wo die Leidensgeschichte einen erregteren Charakter annimmt, von der Gefangennahme ab', wird die Kompo- sition hahnebüchen und roh. Das Quartett Christi und der drei Jünger: »Erwachet doch«, der Chor der Schergen: »Greift zu, schlagt tot«, auch die Arie des Petrus: »Gift und Blut« sind Nummern, die in einer komischen Oper wegen ihrer Realistik Lob verdienen würden; in die Umgebung von Chorälen und gläubigen Bekenntnissen passen sie nicht. Die Hauptschuld an dieser Stillosigkeit des Werkes trägt freilich Brockes, und er hat dafür gesorgt, daß der Komponist bis ans Ende nicht wieder aus ihr heraus kann. Auch die Tochter Zion verfällt mit in die Sprache des Hamburger Janhagel : »Was Bärentatzen Löwenklauen«. Nach der Verleugnung Petri wird der Ton in Dichtung und Musik für eine Weile wieder feiner. Mit der Arie des Judas: »Laßt diese Tat nicht ungerochen, zerreißt mein Fleisch, zerquetscht die Knochen usw.« tritt ein heftiger Rückfall ein.

In demselben Jahre 1746, wo Händel diese Passion vonlBrockes komponierte, wurde sie noch von Mattheson J.JCattheson n. und Telemann in Musik gesetzt. Proben aus diesen und Ot, F. Telemuin, anderen oratorischen Passionen derselben Periode findet Passion von der Leser zahlreich in Winterfelds »Evangelischem Kir- Brockes. chengesang« und m Bitters »Beiträgen zur Geschichte des Oratoriums«. Am berühmtesten und verbreitetsten war

Telemanns Komposition der Passion von Broekes. Wir finden sie 4719 in Durlach, auf Früh- und Abendgoties- dienst in vier Abschnitten verteilt, mit der Bemerkung aufgeführt, daß Se. Hochfürstliche Durchlaucht an diesem Werke nach dem Vorgang von Hamburg und Frankfurt (a. M.) ein besonderes Seelenvergnügen gefunden. An letztgenanntem Orte war das Werk entstanden.

Dem . fiSrockesschen Werke wurden viele Passionen nachgedichtet; zuweilen mit noch geringerem Geschmacke, als ihn das Original zeigt In einer der vielen Passionen 0. H. Btsiiel, des Gothaischen Kapellmeisters Stölzel ihre Zahl wird^ Passion vom auf 14 geschätzt wird die ffgLUze Leidensgeschichte in Jal&ie 1727. Form einer Unterhaltung abgehandelt, welche Christus und die anderen aktiven Personen des Evangeliums mit einer Reihe von Schafen (dem gläubigen, dem demütigen, dem reuigen usw.) führen. Ein ungeheuerlicher allegorischer Apparat dringt auch in diejenigen Passionen ein, welche im wesentlichen an dem Texte der Evangelien festhalten. G. H. Telemann So finden wir in der zweiten Markuspassion von Tele- Matkus- mann [vom Jahre i 759) die Andacht, den Eifer, die Treue, passionen vondie Klugheit, die Nachahmung, den Mut, die Liebe, die 1729 u. 1769. Gerechtigkeit, die Stimme Gottes; daneben noch den Christ und den Sünder. In seiner ersten Markuspassion vom Jahre 4729 begnügt sich Telemann noch mit der gläubigen Seele allein. Sie singt da zärtliche, zuweilen schmachtende Baßarien. Auch Christus ist in diesem Werke mehr anmutig, als würdig behandelt. Seine Worte zum Schutze des Weibes, welches das Wasser auf sein Haupt gegossen: »Laßt sie mit Frieden«, tänzeln im Vs-Takt. Die Einsetzungsworte _ , f. ^_.f . ^, . . ^

fangen mit übertrie- .^1*'' \ LT I ' f ^ T P ?P P ^^. benem Pathos an: KeiL-Äet. «s.tet ^a» u% »rf» LeJbi

Die Stelle: »Ich werde den Hirten schlagen« ist der von S. Bach in der Matthäuspassion gewählten Fassung ähn- lich. Eine plötzliche Beweglichkeit bei diesen Worten darf für die oratorische Passion als tra- ^^i""^ W

ditionell angenommen werden. Von 3

hervorragender Schönheit ist das x . . lu.

Zu der aus diesem Motive gebildeten, wie in Bedräng- nis und ans umdämmertem Sinn, aus überirdischer Sehnsucht heraus fragenden und suchenden Melodie gibt das^ Orchester, in Achteln zitternd, spannende yer- minderte Akkorde. Die Chöre nähern sich der Realistik Keisers. Die der Juden sind alle im Presto zu dng:en. Hervorragend ist das »Kreuzige« durch ein mächtiges Unisono aller vier Stimmen, welches dann in kurze har- monisierte Motive übergebt, welche die Massen als vor Wut bebend hinmalen. Hasse in Dresden schrieb sich diese Markuspassion Telemanns eigenhändig ab. In der dreißig Jahre später vorgenommenen zweiten Bearbei- tung desselben Evangeliums hat Telemann den Haupt- nachdruck auf eine dramatische Wirkung seiner Arien gelegt Alle die personifizierten Tugenden, welche die Besetzung dieses Werkes bilden, singen in einem auf- geregten Stile, der durch die wiederholt vorkommenden Vortragsbezeichnungen: »plötzlich«, »hurtig«, »aufgebracht« auch äußerlich kenntlich gemacht wird. Sie treten da- durch in einen schön Wirkenden Gegensatz zu den Redea Christi, welche durchweg in einem ruhigen und edlen Rezitativton gehalten sind, der die frühere Markuspassion weit hinter sich läßt. Sehr fein an die alte Weise Hammerschmidts anknüpfend, ist am Ende des Werkes der Choral: »Lobt Gott, ihr Christen, allzugleich« als Instrumen^almelodie in die Arie der »Stimme Gottes« und in die der »Religion« eingewebt, bei der ersten durch die Flöte, bei der letzten durchs Fagott.

Als Sebastian Bach in die Fassionskomposition ein- trat, war die ganze Gattung, wie wir aus dem Vorher- gehenden ersehen, in einem Zustande des Schwankens begriffen und in einen Kampf verwickelt, in welchem die geistigen Anschauungen verschiedener Zeitalter und ganz entgegengesetzte Richtungen der musikalischen Kunst auf einander stießen. Di^ Choralpassion bestand noch in doppelter Gestalt: in der alten ursprünglichen und in einer modernisierten. Neben ihr drang die oratorische Passion vor, noch unklar darüber, ob als das Hauptziel

II, 4. 5

die Kirche oder das Theater ins Auge zu fassen sei. Auch Bachs Passionen tragen die Zeichen schwankenden Wesens an sich; aber was sie außer der musikalischen Genialität aus der Menge der gleichzeitigen Werke her- aushebt — das ist die Klarheit und Entschiedenheit, mit welcher Bach für die kirchlichen Elemente der Passion eingetreten ist.

S. Bach hat fünf Passionen geschrieben: vier nach den Evangelisten und eine nach einem Text von Pican- der, in welcher dieser bekannte dichterische Mitarbeiter des Leipziger Thomaskantors die Leidensgeschichte in ähnlicher Weise wie Brockes behandelt hatte. Diese Pi- candersche Passion ist ganz verloren gegangen; von der Passion nach dem Evangelisten Markus sind nur fünf lyrische Stücke in Bachs Trauerode auf den Tod' der Königin Christiane Eberhardine erhalten. 8. Baoh (?) Von den drei andern ist die Lukaspassion erst in

LukaspMBion. jüngster Zeit in einem von Alfred Dörffel gearbeiteten Klavierauszug gedruckt worden. Es steht aber dahin, ob das ein Bachsches Werk ist. Sie ist handschriftlich nicht beglaubigt*): in der Musik aber ist manches, was Verwun- derung erregt. Daß sich Bach im Ton hie und da, wie im Einleitungschor »Furcht und Zittern« mit geringeren Mu- sikern begegnet, ist weniger hoch anzuschlagen ; denn das ist ihm auch noch in Werken passiert, die wie das Weih- nachtsoratorium, zu seinen reichsten zählen. Auch die Ein- fachheit der Harmonie und Stimmführung, in den Chorälen namentlich, findet sich ähnlich in Bachschen Jugendarbeiten vor der Weimarschen Zeit. Aber befremdend ist die Tat- sache, daß diese Lukaspassion in holprigen Baßgängen und unreifen Modulationen manche Elemente birgt, welche man sich mit Bach nur schwer zusammendenken kann. Jedenfalls nicht mit einem 25jährigen Bach. Auf den kommt man jedoch, wenn man mit Spitta die Entstehung

*) Max Schneider hat in einem Aufsatz über Bachs Lukas- passion (Bach -Jahrbuch 1911) nachgewiesen, daß die Handschrift des Werks (Berlin, Kgl. Bibliothek) kein Autograph S. Bachs ist.

des Werkes gegen das Jahr 474 0 setzt. Auf der andern Seite enthält aber diese Passion auch Nummern und Stellen, die Bachs nicht blos würdig, sondern die spezi- lisch Bachisch sind. Sie berechtigen zu der Annahme, daß wir es in dieser Lukaspassion doch vielleicht mit einer Arbeit aus der Schulzeit zu tun haben, auf die der Autor in den Jahren, aus welchen die Handschrift stammt (4 732 bis 4 734], zurückgriff. Die Ansprüche des Kircheudienstes waren nicht immer mit lauter neuen und lauter Meisterwerken zu decken. So gut Bach Pas- sionen von Keiser und Stölzel kopierte und aufführte, konnte er in einer Zeit der Verlegenheit sich auch seiner alten Lukaspassion erinnern. ,

Ein von der Johannes- oder Matthäuspassion Bachs abgenommener Maßstab paßt auf diese Lukaspassion gar nicht. Sie vertritt die Kindheit der oratorlschen Passion und gehört in den Sebastianischen Kreis. Ist sie unecht, was man mit sogenannten inneren Gründen allein in diesem Fall nicht für bewiesen halten darf, so ist sie doch wahrscheinlich Thüringisch. Dafür spricht die Verwendung des evangehschen Kirchenlieds und des protestantischen Altargesangs als Ersatz der Kunstarie, welche die bescheidenen Mittel kleiner Kantoreien nicht immer zuließen. Eine solche oratorische Landpassion von Christian Wolff z. B., der von 4 730-— 63 in dem Christ. Wolff, sächsischen Städtchen Dahlen wirkte, ein sehr anständiges MaTkuspusion« und für den Zustand der Musikpflege Sachsens im 4 8. Jahr- hundert rühmlich zeugendes Werk, hat nur 3 kurze Arien und alle für Sopran. Die Lukaspassion hat 6 Arien gegenüber 84 Chorälen. Unter den Arien sind einige nicht unbedeutend; von den 3 Tenorarien kann die letzte >Laßt mich ihn nur noch einmal küssen« entschieden als hervorragend, gehaltvoll und originell bezeichnet werden. Die Altarie >Du gibst mir Blut« erinnert leise an das »Esurientes« in Bachs »Magnificat«. Aber auch die schwächeren haben in der Instrumentation Bachsche Züge. Zu den Arien tritt, ~ eine für die Zeit höchst seltene Erscheinung noch ein Terzett für i Soprane

5*

^ 68 4—

und Alt, welches auch für Chor gedacht sein kann: »Weh und Schmerz in dem Gehären«. £s ist eine Nummer von sehr einfachem Ausdruck, aher von großer Wir- kung, zu welcher namentlich das Kolorit der des Baß- tons entbehrenden Begleitung beiträgt. In diesem seinem fahlen haltlosen Klang gleicht es ganz unverkennbar der wunderbaren Sopranarie »Es zittern und schwanken« der Bachschen Kantate: »Herr, gehe nicht ins Gericht«.

In der Chorpartie der Lukaspassion ist das orato- rische Element nur in dem Einleitungschor »Furcht und Zittern« bemerklich, welcher an die Stelle des alten halb- biblischen Introitus getreten ist, und in den eingelegten Chorälen. ^ Die biblisch dramatischen Chöre haben das knappe Maß, wie es in der modernisierten Choralpassion übhch ist. Von den Chören der Jünger stimmen beson- ders die beiden letzten »Herr, hier sind zwei Schwert« und »Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen« mit Schütz in der Auffassung überein. Sie bringen nicht den Grimm, sondern den jugendlichen Mut zum Ausdruck. In den Chören der Schriftgelehrteu und Juden tritt die Erregung in den Vordergrund; stilistisch haben sie ein starkes Bachsches Gepräge.

Was die Lukaspassion aber ganz besonders aus- zeichnet — das ist die poetische Verwendung der Choräle und der kleinen Einlagen, welche aus der Litanei, dem Tedeum und dem Vaterunser entnommen sind. Nament- lich mit den kurzen liturgischen Zitaten, in denen sie einem Brauche folgt, der in Thüringer Passionen wieder- holt vorkommt, werden sehr große Wirkungen erzielt. Wenn an der Stelle, wo auf Gethsemane Christi Seelen- angst beginnt, der Chor an Stelle der schlafenden Jünger zu beten anfängt und aus der Litanei die weni- gen Takte einsetzt: »Wir armen Sünder bitten«, wenn er da, wo Petrus seinen Herrn verleugnen will, aus dem Vaterunser singt »Führe uns nicht in Versuchung«, so ist das, was die Situation zu empfinden gibt, «o fein und eindringlich angedeutet, als es mit den glänzendsten Mitteln der oratorischen Kunst nur immer geschehen

—^ 69 ^^—

kann und ohne daß die Darstellung der Handlung lange aufgehalten wird. Von den Chorälen, die in der Lukas- passion verwendet sind, haben drei eine Hauptbedeutung. Es sind solche, die heute nicht mehr gebraucht werden und die auch zu ihrer Zeit nur eine beschränkte Ver- breitung genossen: Der erste ist: »Ich hab^ mein Sach^ Gott heimgestellt«. Er erklingt zum erstenmal in der Form einer an Schütz und Sebastiani erinnernden Trauer- Sinfonie nach dem Verscheiden Christi. Gleich darauf nimmt ihn der Chor auf zu den Worten: »Derselbe mein Herr Jesu Christ, vor air mein Sund gestorben ist«. Zum letztenmal tritt er in die Tenorarie »Laßt mich ihn« hinein. Der zweite ist: »Stille, stille ist die Losung«.

Stil . le, ttU . le Ut die Lo.tung dex Gott.lo . a«ii in derWtlt

Der dritte ist das Flittnersche Lied »Jesu, meines Herzens Freud'«, welches wegen seiner freieren Rhyth- mik niemals eigentliche kirchliche Geltung erlangt hat. Zum ersten Male setzt es ein, wo Christus den Auftrag

ZU eSäen* ^ei. de mich und uuidk midi satt,, Himmels, tpei . sei

und zwar in einer Solostimme, die deutlich auf Sebastiani hinweist Dieser Flittnersche Halbchoral durchzieht die Lukaspassion, besonders erkenntlich und gibt ihr, wenn man so sagen darf, einen gewissen traulichen Charakter. Es ist nichts Großartiges in diesem Werke, aber ungemein viel Sinniges. Kein »Barrabam« erschüttert uns, kein »Sind Blitze, sind Donner« macht uns beben ; aber wenn der letzte Akkord dieser Lukaspassion

vorüber ist, dann singt es A v' f ^ f T \ f* ^ (' l- in uns noch lange nach: '^ ^ ' ' ^" '

Von den ausführenden Kräften verlangt das Werk nur wenig.

Die Lukaspassion, ob von Bach oder nicht, ist jeden- falls ein liebenswürdiges Denkmal aus der Jugendzeit der oratorischen Passion. Bachs Johannespassion und

Matthäuspassion stehen in der £nt£altung eigentlich ora- torischer Anpassung und Kunst weit höher. Aber in einem Zuge gleichen sie ihr. So hoch Bach in ihnen als Musiker aufwärts schreitet, immer hält er die Richtung aufs Kirch- Uch- Volks tümUche ein; seine in der Heimat eingesogene liebe zum Choral und zum Bibelwort unterscheidet ihn von den Passionskomponisten der Hamburger Schule. In dieser Beziehung stehen sich die zweifelhafte Lukaspassion und die Bachsche Matthäuspassion ganz nahe ; aus beiden blickt dasselbe Auge, dort das des Kindes, hier das des Mannes. Die Johannespassion ist musikalisch wohl eben- so bedeutend wie die nach Matthäus. Ja, Schumann und andere haben sie der letzteren voranstellen wollen. Aber wenn sie in einem Punkte einen Schritt hinter der Matthäuspassion zurückbleibt, so ist das eben in ihrem Verhältnis zu den kirchhch volkstümhchen Elementen. 8. Bach, Bach hat dem Vermuten nach die Johannespassion

Johannes- in Aussicht auf den Antritt des Thomaskantorats schon passion. im letzten Jahre söines Cöthner Aufenthalts komponiert. In Leipzig kam das Werk erst am Karfreitag 4 724 zur Aufführung*) und erlebte während der Amtszeit des Kom- ponisten mehrere Wiederholungen. Noch einige Jahrzehnte nach Bachs Tode kannten, wie wir aus einem Berichte von Rochhtz schließen, der selbst Alumnus war, die Thömas- schüler die Johannespassion. Dann verschwand sie mit der Mehrzahl der Bachschen Vokalkompi)sitionen auch aus dem Gesichtskreise der Leipziger und kam erst im Gefolge der wiederentdeckten Matthäuspassion aufs neue zum Vorschein; zuerst in einer Ausgabe bei Trautwein, nach welcher die erste Aufführung des Werkes durch die Ber- liner Singakademie (21. Febr. 4 833) erfolgte. Die Gesamt- ausgabe der Bach-Gesellschaft veröffentUchte das Werk im Jahre 4 863 (Bd. XH) in der Redaktion von W. Rust.

Von der Form, in welcher die Johannespassion an dieser letztgenannten Stelle vorliegt, war die ursprüngliche

*) So Spitta; nach B. F. Richter (Bach-Jahrbuch I90ö, S. 49) schon 1723,

Fassung einigermaßen verschieden. Der Einleitungschor, der ScUaßchor und die Hälfte der Arien waren andere als jetzt Die lyrische Partie hat dem Komponisten in dieser Passion ersichtlich viele Schwierigkeiten gemacht Lag ihm doch für diesen Teil, welchen er zum erstenmal in größeren Formen zu behandeln hatte, kein fertiges Gre- dicht vor, wie später bei der Matthäuspassion. Bach half sich mit Bibelzitaten und Gesangbuchversen; wo es ihm passend schien, griff auch er zu Brockes: Aber die wieder- holten Umarbeitungen scheinen darauf hinzudeuten, daß iBach selbst mit der lyrischen Ausstattung der Passion nicht recht zufrieden war, und sicher ist es, daß in diesem Funkte die Mängel des ersten Entwurfs noch bis heute sich empfindbar machen. Ein Teil der Arien, so vortrefflich sie an sich sein mögen, steht nicht an der richtigen Stelle. Der Einleitungschor der Johannespassion >Herr unser

Herrscher zeig* uns durch deine Passion, daß du der

wahre Gottessohn usw.«, welcher erst mit der zweiten Be- arbeitung, gegen das Jahr 4 727, in das Werk kam, ist unter allen Karfreitagsbildern, welche in der Tonkunst geschaffen worden sind, eins der eigentümlichsten und gewaltigsten. Eine merkwürdig dunkle Färbung zeichnet ihn aus, und durch das Gebet der Menge, die hier unterm Kreuze zusammentritt, geht ein zagender und klagender Grundton. Der Preis des Herrschers, »dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist«, klingt wie aus gepreßter Brust: er setzt mit schweren stockenden Akkorden ein und untermischt die Figuren des Jubels mit schmerzlidien und wehmütigen Wendungen, bricht sie ab im Tone der Resignation. Über allen den Partien, in wel- chen der Chor in immer wieder wechselnden Motiven nach dem Ausdruck freudiger Bewunderung sucht, herrschen die Holzinstrumente (Flöten und Andante

Oboen) mit der Durchföh- X^H i rJOl p,.!^. rung des klagenden Motivs: ^ '

Unsere heutigen starken Chöre und unsere Geigenmassen überdecken diese geblasene Melodie allerdings; Bach aber schrieb für einen nur dünn besetzten Chor und rechnete damit, daß auf je 2 VioUnen i Oboe kam. Wer demnach^

^ 72

heute seine Werke mit i 0 oder 1 6 ersten Geigen aufführt, muß ihnen 5 oder 8 erste Oboen usw. gegenübersteHen. Die Harmonie liegt in langen Orgelpunkten fest; in dem Geigenchor drängt unaufhörlich eine wogende Sech- zehntelfigur von unten nach oben. Erst mit dem Thema:

^ kA ^ Ct^ setzt sich die

P r M [L/ ^n^ schwankende

Stimmung fest.

on

Zeig mdanh dei .. bo Pas . . . . sl

Schon im ersten Teil des Chors (als Oberdominant: Ddur) kurz berührt, wird dieses Thema beim zweiten Auftreten (Esdur) zu einem längeren Satze, den man als Mittelteil ' der Nummer, jedenfalls als ihren geistigen Mittelpunkt be- trachten kann. Er ist ganz in Passionsbetrachtung getaucht :

die Stimmen überbieten einander in der , ^

Inbrunst, mit welcher sie zum Kreuze *^ ^l» p T Cj |P", blicken und klagen. Daß das Motiv, "™ "^

welches diese warmen, ausdrucksvollen Melodien trägt, symbolische Bedeutung hat, lehrt der Vergleich. Immer wenn Bach das Bild des Kreuzigens vor die Phantasie stellt, in dem Motiv a (S. 79) des Kreuzigungschors der J^hannespassion, in dem Hauptthema von »Laßt ihn kreuzigen« in der Matthäuspassion, an zahlreichen Rezi- tativstellen beider Werke, tut er dies in der eigentüm- lichen Verbindung von Synkope und Quart (oder einem höheren Intervall). Als Kunstwerk betrachtet ist der Pro- log der Johannespassion eine der großartigsten Leistungen; keine der Hamburger Passionen hat eine Einleitung, die mit dieser nur verglichen werden könnte. Und Bach selbst hat diesen Chor kaum überbieten können. In allen Gruppen, die sich an seiner Durchführung beteiligen Chor, Streichorchester, Bläser ist ein derartiger Reich- tum und eine solche Selbständigkeit der Ideen und des Ausdrucks, daß, wie man aus den vorhandenen Klavier- auszügen sieht, selbst geübte Musiker sich zwischen Haupt- nnd Nebenstimmen geirrt haben. Und bei der größten Ein- heit der Form und dem Festhalten an der Grundstimmung hat Bach doch noch so viele Einzelheiten rührend betont. Man sehe nur die Wiedergabe des BegrifiTs »Niedrigkeit«.

Im ersten Teil der Johannespassion wird der Chor sonst nur für dramatische Sätze und für Choräle ver- wendet. Unter den ersteren ist der an den leugnen- den Petrus gerichtete: »Bist du nicht« von längerer Ausdehnung, eine den Ton der Verwunderung sehr lehendig wiedergebende Durchführung des Themas: u > p r ±-^ Die beiden anderen sind

y^h p p-'T PNI r ^^^- kurze dramatische Ant- But do niehft seLae» J8a.g«? «i.nw? worteu der neugierigen Menge auf die Frage des Heilandes >Wen suchet ihr«. In verschiedenen Tonarten liegt beiden dasselbe

gründe: Je-»um, Je-»oin, .Je.ram tod Nft.swflOu chesters, welches die ^ ^ ^ kehrt auch in Chö-

Singstimmen A b!' h f ^^JjJ/JN ren des zweiten Teils umspielt: *" ■■*=■■■■== ^^g^j^j.^ ^^ ^^^ ^^^^

fen Niemand töten«, »Nicht diesen, sondern Barrabam« und »Wir haben keinen König denn den Kaiser«. Die Choräle, deren dieser erste Teil vier hat, zeichnen sich vor denen aller anderen Komponisten durch ausdrucks- vpUe, kunstreiche Harmonien und durch eine Melodik aus, welche in der \yeise Eccards auch die Nebenstimmen in hervortretenden kurzen Wendungen, manches Eigene und Schöne sagen läßt. Ob in Leipzig zu Bachs Zeiten die Gemeinde die Oberstimme dieser einfachen Choräle mitsang, steht urkundlich nicht fest, aber die Wahr- scheinlichkeit spricht dafür. Darauf, daß die Gemeinde auch bei kunstvoller gesetzten Chorälen doch mitsingen sollte, haben einzelne Komponisten selbst aufmerksam gemacht, Eccatd z. B. und M. Altenburg. Für die Passions- choräle liegen noch besondere Zeugnisse vor. Dem be- reits (S. 54) angeführten aus Königsberg ist ein weiterer aus Mecklenburg'*') hinzuzufügen. In der Dresdener Kreuzkirche wurden bei den Karfreitagspassionen die

*) Bachmann , J. : Geschichte des evapgelischen Kirchen- gesanges in Mecklenburg 93, 122.

vorkommenden Choräle auf der Liedtafel mit ihrer Gesang- bnchsnummer noch heute vor fünfzig Jahren ausgesteckt, und sogar in Haydns »Sieben Worte« und Beethovens »Christus« Gemeindelieder eingelegt. Nur waren die in der Partitur enthaltenen Choräle, ebenso wie di« Arien, >ad libitum« gemeint. Sie bei einer Aufführung sämt- lich zu bringen, verstößt gegen Usus und Verstand.

Der Hauptchoral der Johannespassion, das Stock- mann'sche Passionslied »Jesu Leiden, Pein und Tod«, er- scheint zum erstenmal ganz am Schlüsse des ersten Teiles zu den Worten »Petrus, der nicht denkt zurück«. Eine kunstvollere Bearbeitung desselben Chorals in der Form eines Duetts zwischen Sopran und Baß »Himmel reiße, Welt erbebe«, die in der ersten Fassung der Jo- hannespassion unmittelbar auf den Choral »Wer hat dich so geschlagen« folgte, hat Bach später gestrichen.

Mit der Wahl des Stockmannschen Passionsliedes hat es seine besondere Bewandtnis. Wie noch bis in die neueste Zeit die Evangelien Dichtern und Dichter- lingen immer wieder StofT zu schönen oder gutgemeinten Paraphrasen geboten haben, so war es auch im Mittel- alter. Insbesondere wurde die Leidensgeschichte, in der lateinischen wie in der deutschen Zeit, allen^ Formen der freien Dichtung angepaßt; zuweilen allerdings mit mehr Gelehrsamkeit als Geschmack. So begann noch Enoch Klitzing im Jahre 4708 seine lange »Karfreitagsbetrach- tung einer gläubigen Seele« mit der Blasphemie »Der große Pan ist tot«. Selbstverständlich übertrug man die Darstellung der Passion auch bald in die Form des evangelischen Kirchenliedes. Alle Gesangbücher vom An- fang des 16. Jahrhunderts ab enthalten solche Lieder, mit oder ohne beigedruckte Musik, Zum Unterschiede von den bloßen »Passionsandachten«, Liedern be- trachtenden Inhalts, unter denen die von Rist, komponiert von Martin Colerus (Köhler], dem »einzig wahren Phöbus unsers ganzen Deutschland« (Hamburg 4 664), besondere Beachtung verdienen -^ tragen sie den Titel »Historie des Leidens' .... nach den Evangelisten« , also genau

/

75

denselben wie die Passionslektionen und Choralpassionen, als deren Ersatz sie gemeint waren. Die Zahl der Verse in diesen in Liedform gegebenen Passionshistorien schwankt zwischen 20 und 40;- sie ist bei allen sehr groß. Die größere Anzahl dieser dem proteistantischen Choral angepaßten Passionsgeschichten fand keine Verbreitung, aber einige wurden zum Gemeingut des evangelischen Deutschlands. Unter ihnen sind die wichtigsten »Da Jesus an dem Kreuze stund«, >0 Mensch bewein' dein Sünden groß«, Gottes Lamm unschuldig« und unser >Jesu Leiden, Pein und Tod«. Es war demnach ein sinniges und poetisches Verfahren, wenn S. Bach diese drei letztgenannten Choräle, den einen in der Johannes- passion, die anderen in der Matthäuspassion so außer- ordenthch bevorzugte: ein Schritt der Liebe zu Heimat und Volk, der auf Bach den Künstler und den Menschen ein helles und herrliches Licht wirft.

Arien hat der erste Teil der Johannespassion nur drei. Die erste setzt an der Stelle ein, wo Jesus ge- bunden zu Hannas geführt wird. An dieses Binden knüpft der Text an >Von den Stricken meiner Sünden mich zu entbinden, wird mein Heil gebunden«. Er ist von Brockes und bildet den Eingang seiner Passions- dichtung. Die meisten Komponisten haben ihn als Chor behandelt und sich dabei mit Synkopen und schleifen- den Dissonanzen eine anschauliche Wiedergabe der Mechanik des Bindens angelegen sein lassen. Bach hat nichts auszudrücken gesucht als das Mitleid und ' die dankbare Rührung, welche der Anblick der ersten Marter des Herra in dem Christen erwecken muß. Zum Hauptträger dieses Gefühls nimmt er das Thema

Andante. ^^ ^ dessen Durcharbei-

^F ^ ' [ I f "p^ ±^!^aUsiJ I r stimme und . zwei Oboen ziemlich gleichmäßig teilen. Erstere hat vor den Instrumenten nur einige kurze Stellen voraus, in wel- chen sie die Stimmung in schneidenden Interjektionen äußert. Der klare Vortrag ist ebensowenig leicht vwie

^ 76 *>—

das Verständnis des vielleicht etwas zu langen Stückes. Doch aber tut man sehr unrecht, wenn man es lediglich für kontrapunktisch wertvoll hält*

Dieser Altarie schickt Bach sofort, nach nur 3 Takten Rezitativ eine zweite Arie nach, deren Zusammenhang mit der Erzählung auf die Worte des Evangelisten ge- stützt ist: »Simon Petrus aber folgte Jesu nach«. Der Sopran setzt sie mit den Worten ein »Ich folge dir gleich- falls mit freudigen Schritten«. Die dramatische Begrün- dung dieses Stückes ist also ersichtlich schwach; es soU wahrscheinlich auch nur für den Notfall verwandt werden, daß die Altarie mangels eines guten Solisten wegbleiben muß. Musikalisch ist die Komposition vorzüglich. Die Singstimme »folgt« naiv und tändelnd wie ein Rind in Sechzehntelfiguren, welche die Flöte vorspielt und zu sehr interessanten Gebinden erweitert. Auch hat die Arie Stellen, an welchen sie aus dem leichten Ton in die Tiefe der Empfindung übergeht, und einige Malereien, nament- . lieh auf die Worte »ziehen und schieben«, die merk- würdig genug sind. Aus den K!onzertaufführungen der Johannespassion wird man die Arie wegen des Wider- spruchs der Sopranistin nur schwer beseitigen können. In England soll si» eine besondere Popularität erlangt haben. Ganz anders steht die Tenorarie »Ach, lüein Sinn!« an ihrem Platze, welche das letzte Stück vom ersten Teil der Johannespassion bildet. Mit ihr hat Bach der Szene der Verleugnung Petri, welche er aus dem Matthäus- in das Johannesevangelium dichterisch ergän- zend herübergenommen, einen rührenden und versöhnen- den Abschluß gegeben. Der weiche, suchende, fragende und klagende Ton, in welchen diese unablässigen und eifrigen Vorwürfe gekleidet sind, bildet die schönste Ver- teidigung des reuigen und irrenden Jüngers und die Arie ist eins der schönsten Solostücke nicht bloß der Johannes- passion, eine Probe feinster Seelenmalerei. Sie schließt viel trefflicher an den vorausgehenden Schluß des Rezi- tativs, an die Worte »er weinte bitterlich« an, als die Arie »Zerschmettert mich, ihr Felsen und ihr Hügel«,

77 ♦—

welche in der ersten Fassung der Johannespassion an dieser Stelle stand. Letztere malt einen zornigen, die jetzige Arie aher den weinenden Petrus. Es ist übrigens ein weiterer Beweis für die große Pietät, mit welcher Bach dem Bibelwort gegenübersteht, daß diese Arie, die doch ganz aus der. Seele des Petrus heraus gedacht ist, in einen neutralen Mund gelegt wird. Ein Tenor singt sie; Petrus aber, wo er im Rezitativ selbst auftritt, hat Baß. Die Stelle, wo der Evangelist von dem Weinen Petri berichtet, ist eine der glänzendsten in dem an Malereien und empfindungsvollem Ausdruck reichen Rezi- tativ der Johannespassion. In seinen Passionsrezitativen ist Bach ganz frei schöpferisch vorgegangen. In ihrer Tendenz berührt er sich einigermäßen mit Schütz, und für gewisse Einzelheiten der Form, den schnellen und häufigen Wechsel zwischen Deklamation und Gesang, mögen ihm seine Studien Albinonis und anderer früh- venetianischer Meister einige Anregungen geboten haben. Aber das meiste beruht auf eigener Auffassung und Erfindung. Die Rezitativpartie ist voll von kleinen und sinnigen Randzeichnungen, zu deren klarer Wiedergabe vonfi Sänger und vom Zuhörer liebevolles Eingehen, namentlich aber von dem den Continuo ausführenden Begleiter Elastizität im Auffassen und Ausführen voraus- gesetzt wird. Viele der schönsten Züge , wie der beim Krähen des Hahnes, sind der Phantasie des letzteren fast ganz allein anvertraut Auch für die Charakteristik der Personen müssen die Vortragenden das Entscheidende tun. Das gilt insbesondere, und auch für den zweiten Teil der Passion von den Reden Jesu, den der Evan- gelist selbst sehr wortkarg vorgestellt hat. Bach hat nur an wenigen Stellen, mit Wiederholung bei den Worten »soll ich den Kelch nicht trinken«, mit dezenten Kolora- turen bei den Worten »wäre mein Reich von dieser Welt, ineine Diener würden darob käinpfen« nachgeholfen.

Im zweiten Teile der Johannespassion treten die dramatischen Chöre bedeutend in den Vordergrund, so- wohl durch ihre Menge, wie auch durch die breite Anlage,

welche einzelnen von ihnen gegeben ist. Im ersten Abschnitt, welcher durch die Geißelung markiert ist, haben wir ihrer drei: Der dritte: »Nicht diesen, son- dern Barrabam« ist ein kurzes, dramatisches Stück, welches die heftige Entschiedenheit der fordernden Menge in knappen, schärfen Strichen wiedergibt. Die ersten beiden: »Wäre dieser nicht ein Übeltäter« und »Wir dürfen Niemand töten« hat Bach wie selbständige Szenen breit ausgeführt. Die Juden sind sich, nach Bachs Auffassung, der Schwäche ihrer Gründe bewuBt und helfen durch eine aufdringhche Deutlichkeit und Um- ständlichkeit des Vortrags nach. Die Musik beider Num- mern ist ziemlich dieselbe. Sie ruht auf zwei Hauptmotiven

1^ > J) J>ip p p p T \ l.r T Fe und» wirhätten dirihn

Wtf^n di«.^er nicht ein Ü.bel. ,t6r.

Im zweiten Chor ist auf das chromatische Motiv und die Koloratur, wo sie vorkommt, das entscheidende Wort »töten« eingesetzt. Durch die Harmonien und die Dekla- mation dieser beiden Nummern geht ein unheimlich dä- monischer Zug. Es liegt der in Heuchelei verhaltene Fanatismus darin ; im ersten bricht er häufig in . den zischend herausgeschleuderten Achteln auf das Wort »nicht« offen hervor.

Den ersten kleinen Ruhepunkt in dem Abschnitt bildet der Choral: »Herzliebster Jesu, was hast du ver- brochen«, dem hier die Worte: »Ach großer König, groß zu allen Zeiten« untergesetzt sind. Sie knüpfen an die Erklärung Christi an: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt«. Das Ende des Abschnitts ist Weiter markiert durch das Arioso des Basses: »Betrachte meine SeeF«, eine herrliche tiefgehende Nummer aus jener mild erhabenen Gattung von Baßgesängen, die bei Bach und Händel vielfach vertreten, in neuerer Zeit höchst selten geworden ist. Den Text hat Bach aus Brockes mit Änderungen

genommen, die keine Verbesserungen sind. Dem Arioso folgt in der Partitur noch eine große Tenorarie: »Er- wäge, wie sein blutgefärbter Rücken«, die mit Recht ge- wöhnlich übergangen wird. Sie arbeitet im wesentlichen nur das Motiv der Geißelung, -mit welchism der Evangelist seine Erzählung naiv malend abgeschlossen hat, zu einem großen, selbständigen Instrumentalbild aus.

Die zweite Szene der zweiten Abteilung ist fast rein chorisch. Die langen Sätze der turbae sind nur durch kurze Rezitative des Evangehsten und des Pilatus, zu denen an einer einzigen Stelle auch Christus tritt, unterbrochen.

Die erste Nummer des Chors ist der Spottchpr der Kriegsknechte (die Bach in alter Weise auch mit Sopran und Alt auftreten läßt): »Sei gegrüßet, lieber Judenkönig«. Um das höhnische Element des Textes zum Ausdruck zu bringen, muß hier der Vortrag der Chorstimmen das beste tun: es empfiehlt sich ein leiserer Anfang, crescendo beim Einsatz jeder weiteren Periode, staccato auf die kurzen Noten und

ein nicht über- _^, > . ^ -^ ^ ^ >^

treibender Accent jl ^'' Jt f ^ If T P P T f [}' I rp

auf die langen : Sei ge . grft.sstC UeJb« la . dm . KB.oi(i

und scharfes Hervorheben des gegen den Schluß ein- tretenden mun- ^ l'* ft' - I * . : ^^ Orchester unter- teilen ausgelas- .fli ^ r p I T f .. stützt die Absichten senen Motivs: ••* ««- fö^»«ü des Textes nur in den

Blasinstrumenten: Flöten, Oboen reden in scharf absetzen- den, lachenden Figuren eine deutliche Gebärdensprache:

•^^^^^^ /T-^. rr^, ^^ ^^* interessant den jh ^ ^^^T^^T^tfJ I Cil^^- z^^i^^^ Chor: »Kreu-

. "■ ' *^^*= 2jgg^ Kreuzige ihn« mit

dem über die ähnlichen Worte: »Laß ihn kreuzigen« in der Matthäuspassion zu vergleichen. Der letztere ist in seiner Kälte teuflischer, der der Johannes- passion bringt die Wut der sinnlos empörten Menge mit elementarer Gewalt zum Aus- ^ , ^ a j^j J j t ! druck: greulich in Dissonan- a) -A i l ii« |I p ^ ^ | zen heulend die eine Partei: lUtu . li^fti

/ I

die an(}ere wie im Fieber wetternd und schnatternd:

I&' fi n ji I fl h. h. n JL - f^ l -r" Und diese Motive immer

h) ff ^ r ■■ P. (? M f /f? r P p r feg mit einander und durch

xre«u.ge, kreaiL«».kreittLg«.itteuiLcoJ einander! Zum Schlusse

hat Bach durch Verlängerungen des zweiten Motivs noch eine erschreckende Steigerung angebracht, die in dem durch den verwirrenden Lärm der übrigen durchdröh- nenden, von Mißklängen gekreuzten langen und hohen Machtschrei der Bässe (auf d) ihre Spitze findet.

Nach diesem wilden Ausbruch plötzlicher Roheit gibt der nächste Chor in seinem gesetzten, gemessenen Gang einen eigenen Gegensatz: Mit künstlicher Ruhe und gesucht deutlicher Betonung stellen die Juden dem über den Fanatismus verwunderten und für Christus eintreten- den Pilatus streng abweisend ihr:

wir hahm dnCteLset«, undnaAdemOejeti soll «r stw .... ^b

entgegen. Das Thema wird in Fugenform regelrecht durchgeführt. Der demonstrativ bedauernde Ausdruck auf »sterben« tritt darin besonders hervor und wird ganz , am Schlusse auch auf das zweite, leichtgehaltene Motiv auf die Worte »denn er hat sich selbst zu Gottes Sohn gemacht« übertragen.

Der Choral: »Durch dein Gefängnis, Jesu Christ«, der den Worten folgt: »Von da an trachtete Pilatus, wie er ihn losließe«, stört die Einheit der Szene. Wird die Passion beim Gottesdienste benutzt, so ist er an seinem Platze. In Konzertaufführungen, wo nur eine zuhörende Gemeinde vorhanden ist, wird besser in der Erzählung und zu den beiden Chören : »Lassest . du diesen lo$« und »Weg, weg mit dem« fortgegangen werden. Ersterer ist identisch mit: »Wir haben ein Gesetz«, letzterer bringt mit einer verschärfenden Einleitung die Musik des »Kreu- zige« wieder. Mögen auch prosaische Gründe und Tra- ditionen (vgl. Schütz) Bach zu diesen Repetitionen mit veranlaßt haben; sicher ist, daß sie passen. Die Szene schließt mit einem kurzen Chor: »Wir haben keinen

König, denn den Kaiser<, in dem die BetonuAß des »Wir« sehr wirksam ist.

Zwischen ihr und dem nun auf Golgatha spielenden Abschnitt hat Bach eine madrigalische Nummer einge- schoben: »Eilt, ihr angefochtenen Seelen«, einen Dialog zwischen dem Solobaß und dreistimmigen Chor (Sopran, Alt, Tenor). Dem Text (aus Brockes* Passion entnommen) liegt ein ähnliches dramatisches Bild zugrunde, wie dem großen Eingangschor der Matthäuspassion: Die Tochter Zion fordert die gläubigen Seelen auf, sie auf dem Gang dort nach dem Kalvarienberg, hier in der Johannespassion nach Golgatha, zu begleiten. Es ist ein Wechselgesang, im letzten Falle einfachster Art. Der Baß führt lange, eifrige, erregte Reden; der Chor, in die Hast mit hinein- gerissen, wirft in höchster Spannung nur immer wieder die kurze Frage: »Wohin?« dazwischenT Keiser hat das Bild dieses in phantastischer Begeisterung hinstürmenden Zuges ähnlich wie Bach in rollenden Figuren wiedergegeben, nur sind die Maße ' kürzer. Was aber die Komposition Bachs so groß macht, das ist die geniale Deklama- tion der Worte »Nach Golgatha« mit denen die Tochter Zion (Baß) den gläubigen Seelen (Frauenchor) geheimnisvoll, wuchtig und gebieterisch antwortend die Richtung bestimmt.

Die dritte, Kreuzigung und Tod des Herrn umfassende Szene hat nur zwei dramatische Chöre, den der Hohen- priester: »Schreibe nicht der Juden König«, welcher in wenig passender Weise einfach die Musik des Spott- chors: »Sei gegrüßet« aus der vorigen Szene wiederholt, und den Chor der Kriegsknechte: »Lasset uns den nicht zerteilen«. Aus letzterem hat Bach eine Fuge gemacht über folgendes, das platte Behagen der Landsknechte sehr gut zeichnende Thema:

1=M=^^ ^ I {"^"^^{i I ' II II I

Lu.Mt sieht ser , tbei . , . Im, toiudera da.riUB

«««^A ^^ # Zum Schluß wird

r^^=£££a=fl I * ' r [f r^. aer Ton immer

lo . . tm. wMs «r s«ia loui lebhafter und

II, 1. 6

ausgelaßne^ Naturlaute schlagen dämonisch daraus hervor Qct Anfang des Chores ist ein realistisches Genrebild im Hamburger Stil, zu welchem die Vor- würfe aus dem 48. Jahrhundert, aus dem gemütlich philiströsen Kreise der fürstlichen Torwachen und städti- schen Söldner genommen scheinen. Den schönen Ab- schnitt der Erzählung, wo Jesus seine Mutter dem Jo- hannes übergibt, zeichnet Bach durch den Eintritt des Chorals: > Jesu Leiden, Pein und Tod« aus [zu den Worten: >Er nahm alles wohl in Acht«). Bald darauf, wo es heißt: »Und neigte das Haupt und verschied«, kommt dieser selbe Choral wieder. Diesmal in einer kunstvollen Bearbeitung. - Er ist, im Munde des Chors, einer Arie ein- geflochten, welche der Baß auf die der Brockesschen Passion nachgedichteten Worte: >Mein teurer Heiland, laß dich fragen« singt. Es sind ungemein liebevolle und hingebende Weisen. Zwischen dem einfachen Choral und der Choralfantasie steht noch eine weitere Arie, welche an Jesu letztes Wort anknüpft. Es ist die schönste der ganzen Johannespassion, die Altarie: »Es ist vollbracht«. Sie besteht aus zwei Teilen, einem schwermütigen Adagio, in welchem die Altstimme sich mit der Viola da gamba (gewöhnlich durch Violoncello ersetzt) in klagenden und trauernden Melodien vereint und ablöst. Der Allegro- satz erhält durch den Zutritt des vollen Streichorchesters einen bedeutenden Glanz. In visionärem und entzücktem Ton feiert er den Sieg des Helden aus Juda. Statt des üblichen da capo der Wiederholung des ersten Teils klingt nach dem Schlüsse des Mittelteils der Hauptsatz nur wieder an. Der Übergang in diese Reprise zeigt ganz besonders den freien und lebendigen Geist, mit welchem Bach innerhalb der Johannespassion sich in den hergebrachten Formen bewegt.

Nach dem Verscheiden Christi und der Fantasie über den Stockmannschen Choral fuhr die Johannespassion in der ersten Bearbeitung mit einer Instrumentalsinfonie fort. Diese ist später durch die (aus dem Matthäus ent- lehnte) Erzählung von dem Erdbeben durch ein im Stile

des begleiteten Rezitativs gehaltenes, im Inhalt stark be« wegtes, sehr eigentümlich abschließendes Arioso (Tenor: »Mein Herzt In dem die ganze Welt«) und durch eine Sopranarie: »Zerfließe, mein Herze, in Fluten der Zähren« ersetzt worden. Zu beiden Stücken lieh wieder Brockes den Text. Die Sopranarie ist eins der eigentümlichsten Stücke der Passion: Rokoko in den zierlichea feinen For- men und die bewegteste Romantik in dem Ausdruck der Trauer. Kindliche und tragische Töne spielen hier in- einander. Namentlich der ganze Schluß des Mittelteils mit der Stelle »dein Jesus ist tot« ist hierdurch tief er- greifend.

An Stelle der alten Gratiarum actio war schon in der moderhisierten Choralpassion eine sogenannte Chor- arie getreten, deren Text in den meisten Werken der gleiche ist: Die Sänger nahmen am Grabe von dem Ent- schlafenen Abschied und bitten für ihr eigenes einstiges Ende um eine sanfte Ruhe. Auch die Musik dieser Chor- arien stimmt im allgemeinen Charakter überein. Sie wollen einen milden, versöhnenden Abschluß geben. Die beiden in den Bachschen Passionen zu Johannes und Matthäus stehen mit dieser Absicht ebenfalls in der all- gemeinen Reihe, aber sie sind wie die Eingangschöre dieser Werke durch ihre großen Dimensionen ohne Glei- chen. Untereinander teilen sie auch Taktart und Tonart und gleichen sich überdies in den Themen des Mittel- satzes ziemlich genau. Der Schlußchor der Johannes- passion ist aber etwas leidenschaftlicher. Der Zug einer im tiefsten Grunde noch sehr erregten Empfindung tritt namentlich an den Stellen offen hervor, wo es heißt: »Und bringt auch mich zur Ruh«. Dieser Umstand und nicht der kirchliche Brauch allein mag Bach veranlaßt haben, seine Johannespassion nicht mit dieser Chorarie zu schließen, sondern ihr noch den Choral: »Herzlich lieb hab ich dich, o Herr« auf die Worte: »0 Herr, laß dein lieb Engelein« zuzugeben. Baoh«

Die Matthäuspassion stimmt im wesentlichen der Matthius- Anlage und Richtung mit Bachs Passion nach Johannes passion.

6*

^ 61 ^

überein. Auch sie ist in diesen Punkten als ein Werk der Reform zu betrachten, als ein Versuch Bachs, die oratorische Passion auf altkirchlichem und volkstümlichem Boden aufzubauen. Im musikalischen Wert der einzelnen Sätze steht die Johannespassion der späteren wohl nicht nach. Aber es ist nicht zu verkennen, daß. Bach in der Matthäuspassion das oratorische Element sowohl als da? kirchlich volkstümliche breiter entfaltet und beide in innigere Verbindung gebracht hat als in der Johannes- passion. Auch im Text der Matthäuspassion stört uns der starke allegorische und lyrische Ballast, den die Ent- stehungszeit verlangte. Abier, soweit es die Musik be- trifft, kann diese Passion als die ideale Lösung der Auf- gabe gelten, die Leidensgeschichte zugleich mit höchster Kunst und in größter Einfachheit und Verständlichkeit darzustellen. Manches andere hat die Matthäuspassion auch noch durch den Bericht des Evangelisten selbst voraus, der den des Johannes an Lebendigkeit und durch die Menge spannender Episoden übertrifft. Sein größter Vorzug liegt darin, daß er die Gestalt des Heilands so herrlich hervortreten läßt. Bach hat diesen Vorzug durch die Musik verstärkt. Die Rezitative des Evangelisten und der Nebenpersonen werden in der üblichen Weise vom Cembalo und Streichbaß begleitet. Sobald aber Christus spricht, setzt das volle Streichquartett mit langgezogenen Tönen ein, >webt< wie man gesagt hat, um Jesu Haupt einen »Heiligenscheine. Allerdings ist dieser »Heihgen- schein« weder eine Originalerfindung noch ein Monopol Bachs, sondern, wie schon erwähnt, eine Entlehnung aus der Venetianischen Oper. Diese unbekannte Tatsache nimmt aber den Christusrezitativen nichts von ihrer Wir- kung und Bach nichts von seinem Verdienste. Schließlich gibt auch der reiche musikalische Apparat: die Teilung in zwei Chöre, die größere Mannigfaltigkeit, die in den Formen der Arie, des Chorals und auch des Rezitativs herrscht, der Matthäuspassion einen weiteren äußeren Vorsprung. So wie wir die Matthäuspassion heute aufführen, ist sie das Produkt einer Umarbeitung, welche nicht vor 4 740

'^ 85 ^Gt~

erfolgt sein kann. Als Bach das Werk zum erstenmal im Nachmittagsgottesdienste des Karfreitags 4 729 es war der 45. April hören ließ, war die Ghoralfantasie über: >0 Mensch, bewein« noch nicht drin. An Stelle dieses ursprünglich als Eingang zur Johannespassion komponierte^ überschwanglichen Satzes schloß ein sehr einfacher Choral: >Jesum laß ich nicht von mir« den ersten Teil der Matthäuspassion.

Der Dichter der Matthäuspassion, oder besser ihres oratorischen Teils, wan der schon erwähnte Picander, ein Leipziger Postbeamter, welcher mit seinem bürger- lichen Namen Henrici hieß. Picander, dem Bach manche eigene Winke gab der Text zu »Am Abend, da es kühle ward« scheint*) auf diesem Wege einem Lied des von Bach besonders geliebten Franck nachgebildet zu sein war einfacher und natürlicher in seiner Sprache als Brockes, hat sich aber diesem in der Motivierung seiner oratorischen Zutaten angeschlossen. Auch er ver- mehrt die Personen der Leidensgeschichte um die wesen- lose Figur der »Tochter Zion« und des zu ihr gehörigen Chors der »gläubigen Seelen«. Bach unterscheidet sich in der Matthäuspassion noch mehr als in der zu Johannes in der Behandlung dieser Tochter Zion von den Ham- burger Komponisten. Er löst ihren persönlichen Charakter vollständig auf, indem er ihr musikalisch eine eigene Stimme verweigert. Die Tochter Zion singt ihre Reden als Einzelstimme in Alt, Sopran, Tenor und Baß; sie singt in Form von Duetten und als Chor. In letzterer Gestalt eröffnet sie die Passion mit dem großen Dialog: »Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen«.' Mit ganz ähn- lichen Worten luden die sogenannten Leichenbitter noch bis in die Mitte des 49. Jahrhunderts auf dem Lande zu großen BegräbnisfeierUchkeiten ein. Bach führt nun das Bild in der Weise durch, daß die Tochter Zion (4. Chor) als nächste Leidtragende die Klage um das Leiden und den Tod des Herrn in beweglichen Melodien anstimmt

•) Ph. Spltta, J. S. Bach, II, 386.

86 <f>

und durchführt. Die Hauptthemen, welche er der Klage unterlegt) sind:

und das vom Eintritt der Singstimmen als ständiger Ge- nosse mit ihm bald zur Rechten» bald zur Linken gehende (im System des doppelten Kontrapunktes entworfene) Gegenthema:

Es wird auf diesen einfachen Unterlagen eine große Skala des Schmerzes durchgespielt; von dem stillen wehmütigen Betrachten geht sie über in langen Tränengujß und in Ausbrüche des lauten leidenschaftlichen Jammers, eines Jammers, der in den Dissonanzen, in welchen das Motiv •f^r\ fT) r vorzudringen sucht, die Hände zu ringen ■fr iM "T I scheint. Immer bricht die Tochter Zion dann mit einer kurzen Wendung der Niedergescfilagen- heit ab, um in ruhigerer, hellerer Fassung denen, welche geladen sind, klagen zu helfen und das Geleit zu geben, zu sagen, für wen sie zur Trauer entboten sind: »Seht ihn, den Bräutigame Die gläubigen Seelen (2. Chor] stehen den Mitteilungen der Tochter Zion zunächst wie fassungs- los gegenüber und antworten mit kurzen heftigen Fragen : »Wen, Wie«, die als vereinzelte Akkorde hervorgestoßen werden -^ Bach hat extra ein forte vorgeschrieben und aus denen Überraschung und Entsetzen deutlich spricht. Erst nach längerer Zeit werden sie wortreicher, um am Schlüsse endlich mit der Tochter Zion in die lang hinströmenden Melodien der Klage einzustimmen. Bach hat diese rührende und reiche dramatische Szene allein noch nicht genügt. Wie Rafael in der Sixtinischen Madonna läßt er aus dem Himmel, der sich über dem Bilde dieses heihgen Begräbnisses wölbt, noch eine Schar Engelsköpfe herausbHcken. Als die Tochter Zion den gläubigen Seelen zuruft: »Seht ihn als wie ein Lamm«, stimmt ein Chor von Knabenstimmen im unisono den

alten Passionschoral: >0 Gottes Lamm nnschuldig« an. Er geht in seinen sieben Zeilen durch und steht in seiner feierlichen Einfachheit über den kunstvollen Gebilden der fugierenden Stimmen wie eine lichte Erscheinung aus der andern Welt. Wir haben es also auch bei' diesem Satz, wie bei der Mehrzahl der madrigalischen Chor- nummem der Mattbäuspassion, formell mit einer Choral- bearbeitung zu tun.

Den hierauf einsetzenden ersten Teil der Matthäus- passion kann man in drei Hauptbilder teilen: a) Jesus mit seinen Jüngern und die Einsetzung des Abendmahls, b) Jesus auf Gethsemane, c) Die Gefangennehmung.

Die erste Szene ;st zum größten Teil mit den Reden von Jesus und den Reden der Jünger ausgefüllt. Der erste Chor, der uns begegnet, ist der der Hohenpriester und Schriftgelehrten: ein geteilter achtstimmiger Satz, dessen kluge, ruhige Berechnung zeigender Ausdruck hauptsächlich auf dem Quartintervall ruht, mit welchem das »Ja nicht« betont ist. Mit der Malerei auf das Wort »Aufruhr« hat sich Bach älteren Mustern ange- schlossen, wie sich eine ähnliche Rücksicht auf die ein- gebürgerten Züge der älteren Choralpassion durch die ganze Matthäuspassion hindurch ver- j folgen läßt. Das Motiv, in dem die ^ J f "f 2^)^=, Jünger in ihrem letzten Chore fragen Herr, bb ieUtt

ist ein solches Zitat, welches wir fast wörtlich in einer großen Zahl älterer Choralpassionen treffen. Aber nirgends ist es innerhalb weniger Takte mit einer so reichen Modulation des Ausdrucks durchgeführt. Wie wunderbar schön der Übergang aus der steigenden Un- ruhe und Erregung in die demütig klagende Ergebung des Schlusses! Der Chor: »Wo willst du, daß wir dir be- reiten das Osterlamm?« klingt mild und fromm. Das erste Auftreten der Jünger in »Wozu dienet dieser Un- rat?« hat einen unfreundlichen Charakter in der Heftig- keit der ein- , ^ _ p^ _ ^ einen altklugen in der setzenden ^ ^ r ^ f p trocken gespreizten De- Sechzehntel Wo.xud»jiet ' klamation des Mittel-

t

Satzes (»Dieses Wasser hätte mögen teuer verkauft«) und einer übertriebenen Weichherzigkeit bei den Worten »den Armen«.

An den zänkischen Ton dieses Chors knüpft die Tochter Zioh ihre erste Einmischung in die Handlung an. Sie will das »törichte Streiten der Jünger« durch den Ausdruck ihrer eigenen Liebe wett machen und bringt ihm ein Herz voll Büß' und Reue dar. Denn das ist der Zwischengedanke, der zum Verständnis dieser Arie ins Auge gefaßt werden muß durch die Sünde der Tochter Zion, das ist: der Menschheit im Allgemeinen, muß der Heiland leiden. Die Mehrzahl der Sologesänge in der Matthäuspassion besteht außer der Arie noch aus einem Vorgesang, den Bach einfach mit Rezitativ be- zeichnet hat. Es ist das sogenannte Recitativo accom- pagnato: die von den Italienern in Oper und Oratorium für die Wiedergabe hochpathetischer Empfindungen be- stimmte Sonderform des Sologesanges, von der Arie durch das Hervortreten des deklamatorischen Elements unter- schieden. In der Johannespassion erscheint diese Rezi- tativform unter dem Titel Arioso und zwar nur an zwei Stellen. In der Matthäuspassion sind diese zahlreichen kurzen Ariosos ein Hauptschmuck, durchweg so voll Musik und Ausdruck, daß man viele der an sich auch schönen und bedeutenden Arien, welche durch jene nur eingeleitet werden sollen, in Anbetracht der Länge des Werkes in der Regel wegläßt und auch weglassen kann. Die zweite Arie unserer Szene, mit welcher die Tochter Zion die Nachricht von den verräterischen Absichten des Judas begleitet (Sopran »Blute nur«), ist eine der wenigen, welchen kein solches Arioso vorhergeht. Eine dritte Arie (ebenfalls des Soprans) schließt die erste Szene ab: »Wie wohl mein Herz in Tränen schwimmt«. Auch sie hat den wehmütig liebevollen Grundton, in welchem in diesem Abschnitte der Passion alle Arien gehalten sind. Bach instrumentiert sie alle mit Flö- ten und sanften Instrumenten und läßt die Worte mit Figuren umspielen, welche zärtlichen Gebärden

t

V

gleichen, wie sie Rinder und Mutter unter einander aus- tauschen. Die eigentliche Arie dieser hier in Rede stehenden Soprannummer: >Ich will dir mein Herze schenken« kommt selten zum Vortrag. Sie ist eine der wenigen madrigalischen Nummern des Werks, in welchen der Passionston ganz zurücktritt: es ist die freudige Er- klärung der gläubigen Seele an den Bräutigam, an Christum als Seelenbräutigam. Das Arioso >'Wie wohU nimmt seinen Bezug auf die in der Handlung eben vor- geführte Einsetzung des Abendmahls, welches sie als das > Testament Christi« in einer eigentümlichen Mischung von Entzücken^ und Abschiedstrauer feiert.

Die eben erwähnte Einsetzung des Abendmahls ist auch musikalisch der hervorragendste Abschnitt in den Reden Christi, weniger wegen des Reichtums in den Einzelheiten des Ausdrucks als wegen der Form, welche an dieser Stelle ausnahmsweise einen bewegten Cha- rakter annimmt und einhält. Während Christus «sonst deklamiert, singt er hier, und die begleitenden Instrumente vorher, wenn Christus spricht, auf langen Tönen fest- gebannt — singen mit. Das gesangliche Element, welches die Einsetzungsworte ganz durchdringt, kommt in den vorhergehenden Reden des Herrn nur an vereinzelten Funkten zum Ausdruck bei Worten, welche geeignet sind, die Fantasie lebhafter aufzurütteln: >gekreuzigt«, »begra- ben«, »verraten«. Ganz in derselben Methode, nur ohne den verklärenden Schimmer des Geigenklangs sind auch die Reden der Nebenpersonen und die Erzählung des Evan- gelisten behandelt. Es ist eine lebhafte, den Einzelheiten des Textbildes nachgehende Deklamation, die an wichtigen Punkten in musikalische Figuren übergeht, um zu malen. Auch dafür haben die Venetianer das Muster gegeben.

Mit einem ähnlichen geschlossenen, aber auf wenige Takte beschränkten selbständigen musikalischen Bilde, wie es die Einsetzungsworte enthalten, beginnt auch die zweite Szene: »Jesus am ölberg imd auf Gethsemane«. Es ist die kurze Stelle: »Ich werde den Hirten schla- gen«. Sie besonders herauszuheben und durch Mittel der

-^ 90

Tonmalerei anschaulich zu machen, ist eine alte Tradi- tion, die sich in der oratorischen Passion Deutschlands bis zu Sebastiani zurückverfolgen läßt. Auch in Choral- passionen aus dem Anfang des 4 7. Jahrhunderts ist sie schon, und mit ihr die Einsetzung des Abendmahls, durch reichere Bewegung ^.i:o^?zeichnet. Speziell mit der Schützschen Matthäuspassion stimmt Bach nament- lich in der feierlichen Behandlung der Worte: »Wenn ich aber auferstehe < ganz auffallend über ein.

Wenn irgendwo die oratorischen Hilfsmittel am Platze sind, so ist es in der Szene auf Gethsemane: Der Herr in höchster Seelennot, von Verzweiflung gefaßt, bittet seine Jünger wieder und wieder ihn nicht zu verlassen, mit ihm zu wachen und sie schlafen. Niemand wird an dieser Stelle ruhig weiter lesen, ruhig weiter hören können. Hier ist es zu viel der schonungsvollen Objek- tivität des Evangelienberichtes. Das Herz will dazwischen reden. Diesem Gefühle hat Bach in der schönsten Weise Rechnung getragen. Den größten Teil der Geth- semaneszene füllt er mit einem betrachtenden Stücke, welches zu den empfindungsvollsten und eindringlichsten der ganzen Matthäuspassion gehört. Es zählt in seiner Form wieder zu jenen für die Matthäuspassion bezeich- nenden Doppelarien, von welchen bereits gesprochen worden ist. Der Vorgesang: >0 Schmerz, hier zittert das gequälte Herz< besteht aus einer Ghoralbearbeitung von jener einfacheren Art, wie wir ihr bereits in der Tenorarie der Lukaspassion: »Laßt mich ihn nur noch ein- mal küssen < begegnet sind und wie sie Bach in der früheren Zeit häufiger pflegte. Dort spielte das Orchester den Choral, hier singt ihn ein Singechor. Die Melodie ist die in der Matthäuspassion mehrmals (im einfachen Satze) wiederkehrende von »Herzliebster Jesu«, die Worte dazu: »Was ist die ürsach aller solcher Plagen«. Der Ab- schnitt beginnt mit einem ^;-s^ auch die Vorspiel, dessen schwer ' £ ^\ n % T\^ \ f ; Form und klagendes Hauptmotiv iX ^^^ Stim- mung der längeren Zwischenspiele trägt, in welchen Solist

91

und Orchester die einzelnen Strophen des Chorals trennen, und ebenso das heißen Ausdrucks volle Nachspiel. Auch in der eigentlichen Hauptarie : »Ich will bei meinem Jesus wachen« ist die Zweiteilung des einleitenden Ariosos weiter geführt. Der Solist gelobt dem Heiland Treue und der Chor malt wie aus der Feme den Erfolg dieses Gelöbnisses. Der Tenor, der vorhin so mächtig klagte, singt jetzt eine Melodie ernster Freudigkeit, noch beredter als er spricht die Solooboe ihm die Weise vor und mit eigen- tümlichen schweren und trüben Akzenten gemischt ; aus dem Chor tönt über die Worte: >So schlafen unsere Sünden ein« eine sanfte und zarte Schlummermusik. Zwei Bilder in der Form streng gesondert und im Inhalt, das eine der Reflex des anderen; in beiden eine Einfachheit der Motive, eine schaffe und leidenschaftliche Gruppierung wie im Volkslied! Den ersten Augenblick der Entrüstung, wo Christus die Jünger schlafend findet, hat Bach durch eine kürzere Einlage markiert: eine Baßarie mit vorausgehendem Recitativo accompagnato: »Der Heiland fällt vor seinem Vater nieder« die gewöhnlich wegbleibt, da sie, nur im ernsteren und gedrängteren Ton, dasselbe sagt, wie der vorausgehende große Satz von Tenor und ' Chor. Den Schluß des großen Kampfes, die Stelle, wo Christus sich in den Willen des Vaters ergibt, verdeutlicht der Choral : »Was mein Gott will, das g'scheh allzeit«.

Den Akt der Gefangennehmung, die Schlußszene des ersten Teils, führt Bach in einem Tonsatze aus, in wel- chem wir eins der gewaltigsten dramatischen Bilder zu erblicken haben, welche die Musik kennt. Dieser Satz ist ein Meisterstück eines genialen Realisten, in großen und kühnen Freskozügen hingeworfen und doch reich an fein beobachteten und naturgetreu wiedergegebenen Ein- zelheiten. Man täuscht sich kaum, wenn man in diesem von elementarem Schwung erfüllten Bilde auch Äußer- lichkeiten veranschaulicht glaubt, welche der biblische Bericht nur im Vorbeigehen streift. Sie betreffen das Orchesterkolorit des Satzes. In dem gedämpften Klang der unisono spielenden Geigeninstrumente, in ihren jetzt

^ 92 ^

stockenden, jetzt unheimlich flutenden Rhythmen liegt wohl ein Hinweis auf das unheimliche Leben am nächtlichen Himmel. Der Mond verbarg sich, als sie Christum banden und fortführten. So will auch das Licht äes Klanges in diesem Satze mehrmals erlöschen, bis in dem Schlußteil (S/g-Takt: >Sind Blitze und Don- ner«) in den dröhnenden und rollenden Baßfiguren und den zischenden und bebenden Violinen alle Wetter los- brechen. Im Gesangsatze vereinigen sich die Toch- ter Zion und der Chor der gläubigen Seelen. Jene spricht (in Form eines Zwiegesanges von Sopran und Alt)

in heftig ^ ^^^ die in das

klagenden r^ ' ,, p ^ | J, J) J. ^fT^^ , ^^ere, dro- Melodien: ÜP ^ ' P' V ^^ hende Dun-

kel des Instrumentensatzes schneidend hineinklingen, und in weinenden Gängen. Der Chor steht der Szene in entgegengesetzter Haltung gegenüber: er donnert den Schergen kurze Zurufe zu, deren empörter und entrüsteter Inhalt sich in dem schon bezeichneten Schlußteile des Satzes zu einer zusammenhängenden und erschreckenden Tonflut verdichtet. Hier wird der Chorsatz achtstimmig, die beiden Gruppen treiben sich zur höchsten Spitze der Wut, wo eine Generalpause das »Nicht weiter« bezeichnen muß. Von da an lenkt der Satz in seinem Charakter etwas um und ganz am Schlüsse in den Ton der Klage ein. Dieser Satz ist derjenige, wo Bach sich der Opernnatur des italienischen Oratoriums um einen bemerkbaren Schritt genähert hat Man würde durch Text und Musik berechtigt sein, den Chor- satz dieser Nummer in den Mund der Jünger zu legen. Den kirchlichen Charakter der Passion am Schlüsse ihres ersten Teils nochmals nachdrücklich festzustellen, hat deshalb Bach an diese Stelle eine seiner umfangreichsten. Ghoralfantasien hingesetzt: die große Komposition über den altklassischen Passionschoral: >0 Mensch, bewein dein Sünde groß«. Die Melodie singt der Sopran, die übrigen Stimmen umschreiben mit selbständigen Themen und geben ab und zu auch einen ausdrucksvollen Anhang.

9

Das Orchester vervollständigt das großartige Stimmungs- bild mit einem sehr beweglichen Gewinde über die Figur:

deren* einfaches Grund- motiv alle Stufen der Klage von dem zarten wehmütigen Sinnen bis zum pathetischen Ausbruch des bitteren Schmerzes durch- wandert. >. Die rasch, und reich bewegte Handlung im zweiten

Teile der Matthäuspassion ist in vier Abschnitte geglie- dert. Der erste, die Vernehmung Christi vor dem Hohen- priester umfassend, wird durch eine madrigalische Ein- lage (Altsolo und Chor) eingeleitet, welche an den Punkt der Handlung anknüpft, bei welchem sie am Ende des ersten Teils verlassen wurde. Die Tochter Zion sucht den Herrn und klagt in tiefbekümmerten Melodien »nun ist mein Jesus hin«. Es ist eine der rührendsten Szenen der Passion, ein Bild, über dessen tiefe Traurigkeit eine wunderbare Anmut gebreitet ist. Wie die Tochter Zion so dasteht und, während die Instrumente spielen, in einem langen Ton Umschau hält, wie die gläubigen Seelen als liebevolle Gefährten in den kurzen fugierten Chorsätzen ihr freundlich zusprechen und sich regen eifrig mitzu- suchen eine herzhchere Idylle im Kreise leidtragender Menschen läßt sich nicht denken. Es ist nicht unwich- tig, daß Bach die Solostimme dem ersten Chor entnom- men haben will, den Chorsatz selbst dem zweiten Chor zuweist. Mit dieser Vorschrift, die uns ähnlich noch bei anderen Nummern begegnet, ist augenscheinlich eine gewisse szenische Wirkung beabsichtigt. Der erste ge- schlossene dramatische Tonsatz in dem Abschnitte ist das Duett der beiden falschen Zeugen: »Er hat gesagt«, ein kleiner Kanon in der Oktav, durch welchen ähnlich wie- bei Schütz das mechanische gedankenlose Hinplappern angedeutet werden soll. Mit beabsichtigter Übertreibung ist das Bild des »Aufbauens« koloriert. Die Wichtigkeit der Aussage hat zur Einlage' einer Arie für Tenor »Mein Jesus schweigt zu falschen Lügen stille« Veranlassung

04 ^—

gegeben, die in der Regel übergangen wird. In ihrem Rezitativ ist das Orchester in leisem Staccato geführt, jeder Akkord dfirch eine Pause gefolgt, die Span- nung anzudeuten, welche das Schweigen Christi erregt. Die Arie selbst wirkt mit der Deklamation des Wortes > Gedulde und greift durch ihren helleren l'on über den Kreis der Passionsstimmung hinaus. Als Christus end- lich spricht, beginnen die Violinen zu den Worten von »dem Sitze zur Rechten der Kraftt ein myst^ches Figuren- spiel. Auch hierfür liegt ältere Tradition vor. Der Doppel- chor >Er ist des Todes schuldig«, mit welchem die an- gebliche Gotteslästerung von den Hohenpriestern beant- wortet wird, zeigt eine gewisse freudige Aufregung: End- lich ist ein Anhalt gefunden. Nur die SchluBtakte haben einen drohenden GbarakteK Der ebenfalls sehr kurze Chor »Weissage, wer ist es, der dich schlugt offenbart den frechen Übermut der Pfa£fenpartei. In seinen Sech- zehntelfiguren ist das höhnische Gelächter, in den kurzen Rhythmen, mit denen sich die Chöre ablösen, das grau- same Necken und Spielen gezeichnet. Mit ihm schließt dieser erste Abschnitt des zweiten Teils, ^d der ein- fache Choral »Wer hat dich so geschlagen« markiert diesen Schluß.

Als Anhang sind ihm zwei Episoden beigegeben : die Verleugnung des Petrus und der Tod des Judas. Die Episode der Verleugnung des Petrus war ein Abschnitt der Leidensgeschichte, welchem die Zuhörer besonderes Interesse entgegenbrachten. Hier wirkte die Erinnerung an die handgreifliche Natürlichkeit der alten Passions- spiele noch lebendig weiter. Wenn die Kurrenden in den mitteldeutschen Städten ihren Passionsumzug hielten •— und dieser blieb bis ins 4 9. Jahrhundert hinein noch ge- bräuchlich — da warteten die Leute unter den Türen und auf der Gasse mit Spannung auf das Auftreten der beiden Mägde und auf das Krähen des Hahnes*). Auch

*) Th. Kiiebitzsch: Du Oiatoiium (Muslkal. Wochenblatt, 1870).

Bach hat auf diese naiven Kunstansprüche der großen Masse freundlich Rücksicht genommen. In seiner Johannes- passion, wie in der zu Matthäus ist das Krähen des Hahnes leicht angedeutet; ernster ausgeführt ist das Weinen Petri eine von den Darstellern des Evange- listen gefürchtete Stelle, für welche die Kunst des Fal- settierens in einem Grade vorausgesetzt wird, wie er im 48. Jahrhundert noch allgemein verbreitet war. Ein Zug ironischer Art äußert sich am Anfatige dieses nach dem kurzen Chor: »Wahrlich, du bist auch Einer etc.« ein- setzenden Rezitativs. Bach setzt die Worte des Evan- gelii^en:»Und alsbald krähete der Hahn« auf genau die- selbe Tonreihe, in der Petrus unmittelbar vorher be- teuert: >Ich kenne des Menschen nicht«. Wenn Bach hier und auch in der Johannespassion den Evangelisten das Weinen des Petrus so geflissentlich verbildlichen läßt, so war ihm dabei um mehr als eine wirkungsvolle Tonmalerei zu tun. In anderen oratorischen Passionen verurteilt die Tochter Zion den Abfall des Petrus mit einem zornigen Erguß; in den beiden genannten Bach- schen Passionen aber spricht sie ihn frei um seines Wei- nens willen. In der herrlichen Arie »Erbarme dich«, welche den Schluß der Petrusepisode bildet, weint sie mit Es ist wohl kein Zufall, daß dieses kunstvolle Duett der Altstimme und der Solovioline, trotz seiner langgemessenen schwierigen Melodieperioden, einer der populärsten Sologesänge geworden ist. Der Naturton darin ist unwiderstehlich.

Die Episode von der Reue und dem Tode des Judas bringt in dem Satze: >Was gehet uns das an« wieder einen kurzen Doppelchor, dessen anfänglich gleichgül- tiger Ton am Schlüsse den Ärger und die Gereiztheit zu Tage treten läßt, und ein Duett zweier Bässe, welche Bach als »Pontifex primus« und >P. secundus« bezeichnet hat, über die Worte: >Es taugt nicht, daß wir sie in den Gotteskasten legen«. Bei dem Worte »Blutgeld« äußert diese vorher absichtlich etwas bombastisch gehaltene Musik deutlich den Schauder. Den Abschluß dieser

Judasepisode macht die Tochter Zion mit einer Baßarie ohne Rezitativ »Gebt mir meinen Jesum wieder c, welche sehr breit ausgeführt ist und auffällig behagliche Bestandteile enthält.

Der zweite Abschnitt, Christi Verhörung durch Pila- tus umfassend, hat den musikalischen Schwerpunkt in den dramatischen Chören, den erregten Äußerungen der Volksmassen. Da ist das in seiner plötzlichen, bhtz- artigen Wucht niederschmetternde: »Barrabam«. Seine Kürze dankt es wahrscheinlich der Erinnerung Bachs an die alten Choralpassionen. Die in ihrer Bedeutung einen ganzen langen Satz überbietende Dissonanz, in welche der Ruf gekleidet wird, ist Bachs eigenste Idee. Da ist femer das dämonisch kalte »Kreuzige« mit dem unge- duldig und ungebärdig wie eine Drohung gegen den Land- pfleger abbrechenden Schlüsse: und da ist das leichtfertig verwegene »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder«; Bach hat in diesem letzten Stück die törichte Verblen- dung der Menge hervorgehoben, nicht ihren Fanatismus : die tänzelnden Rhythmen, die auf Tonleitergängen hinr tändelnde Melodik, würden auf einen Text ganz fröhlichen Inhalts schließen lassen, wenn nicht in der Harmonie der Mollcharakter vorherrschte. In Bezug auf malerische Kraft in der Motiverfindung und in scharfer Durchführung der bildlichen Vorstellung ist der Spottchor der Kriegs- knechte »Gegrüßet seist du« eins der hervorragendsten Stücke unter den dramatischen Chören der Passion. In diesen vier Takten steht alles, was zu dem Bilde gehört, die grotesken Verbeugungen, das Kichern und Lachen und das hart herausfahrende verächtliche Schimpfen. Diesen Höhepunkt der Schmach hat Bach in für ihn be- zeichnender Weise nicht mit einer Arie oder einer anderen Art des oratorischen Kunstgesanges ausgestattet, sondern mit dem Choral »0 Haupt voll Blut und Wunden« und zwar in der einfachsten Satzform. Es sind in diesem Abschnitte nur noch zwei Stellen, an welchen der bibli- sche Text durch oratorische Einlagen unterbrochen wird. Das erste Mal singt der Sopran auf die Frage des Land-

pflegers: »Was hat er dfenn Übles getan« eine Arie mit vorausgeheadem Arioso: »Er hat uns Allen wohlgetan«. Das Wort des Pilatus zwang nicht zum Verweilen, aber dem Komponisten war es wünschenswert, zwischen dem Chor »Laß ihn kreuzigen« und seiner Wiederholung etwas Zeit vergehen zu lassen. Zudem ist die Arie in ihrem fahlen, wie von Flor bedeckten Kolorit un^ in ihrem auf Fermaten absetzenden Bau eine der eigentümlichsten Nummern der Passion. Die andere Stelle, an welcher die Tochter Zion mit einer Arie einsetzt, ist die, wo das Verhör durch den Beschluß beendigt wird, daß Jesus ge- kreuzigt werde. Die Arie (Alt: »Erbarm es Gott«) besteht wieder aus Einleitung, Arioso und Hauptsatz. Beiden Sätzen ist die unruhige Sprache der erschütterten, aus der Fassung gebrachten Seele gegeben. Im Arioso folgt Bach dem tonmalerischen Zuge seiner Zeit und führt im Orchester das Bild des Geißeins durch.

Der dritte Abschnitt des zweiten Teils, welcher die Kreuzigung' auf Golgatha enthält, wird mit einer Arie eingeleitet »Ja freilich will in uns das Fleisch und Blut zum Kreuz gezwungen sein«, in welcher ein Solobaß mit der Viola da Gamba konzertiert. Der Teit knüpft an die Stelle der Erzählung an, wo Simon von Kyrene dem Herrn das Kreuz abnimmt. Die Tochter Zion erklärt, daß sie dem Heiland, der das Kreuz der Menschheit ge- tragen, einen gleichen Liebesdienst mit süßer Lust* er- weisen will. Die Musik hat jene Mischung von Ernst und inniger Schwärmerei, die Bach eigen ist; das Solo- instrument drückt Kraft und Freudigkeit in freundlichen und lieblichen Figuren aus. In den beiden Chören »Der du den Tempel Gottes zerbrichst« und »Andern hat er geholfen« wechselt der leicht scherzende und spöttelnde mit einem harten verweisenden und barschen Ton. Eine Stelle, deren höhnischer Ausdruck leicht verkannt wird, ist in dem letztgenannten bei den Worten: »Er hat Gott vertrauet«. Beide Chöre sind voll absichtlich gespreizter Malereien; besonders wird das »Herabsteigen vom Kreuze« ausgeführt. An der Stelle, wo der Evangelist erzählt, daß

II, 4. 7

auch die Mörder, die mit gekreuzigt wurden, den Heiland schmäheten, klagt die Tochter Zion in einem ausdrucks- vollen Aribso: >Ach Golgatha«. Namentlich das Ende dieses Satzes bringt eine Schwere der Empfindung zum Ausdruck, welche die Grenzen der musikalischen Form fast überschreitet. Die Singstimme schreit ihr: »Ach Golgatha« noch einmal laut auf und sinkt dann wie ge« brochen hinab, um auf einer Dissonanz zu verklingen, welche die Instrumente allein aufzulösen haben. Die darauffolgende Arie: »Sehet, Jesu hat die Hand uns zu fassen ausgespannt«, wird in der Regel ausgelassen. Sie wirkt* auf den naturalistischen Ausbruch des herben Schmerzes, mit dem das Arioso zu Ende ging, wie ein weicher Balsam. Der Zutritt des Chors der gläubigen Seelen, welche hier genau so wie in der schönen Baß- arie der Johannespassion »Eilt usw.« der Tochter Zion mit ihren kurzen Fragen »Wie, Wo« entgegentreten, stört den Charakter des Satzes mehr als daß er ihn hebt. Die ergreifenden Worte Christi: »Eli usw.« sind ohne das ob- ligate Streichquartett begleitet, welches bis dahin den Reden Christi beigegeben war. Auf den Zusammenhang, in welchem diese einfachere Behandlung mit der alten Choralpassion steht, ist schon früher hingewiesen worden. Die beiden Chöre, in welchen die Menge diesen Scheide- ruf Christi auslegt, sind sehr kurz gehalten, der erste im Töne der einfachen Verwunderung, der zweite mit einem Beisatz gehässiger Kritik. Der dramatische Hauptpunkt auch dieses Abschnittes, die Stelle wo es heißt: »Jesus schrie abermals laut und verschied« ist wieder mit einem einfachen Choral bezeichnet: »0 Haupt voll Blut und Wunden« jetzt mit dem Text »Wenn ich einmal soll scheiden« und diesmal das erste und einzige Mal, so oft der Choral in der Passion vorkommt nicht in der Durtonart, sondern in der alten phrygischen Weise, die unsrem Moll etwas verwandt ist.

Die Szene der Kreuzigung hat in der Erzählung von dem Erdbeben und in dem kurzen frommen Satze des Hauptmanns und seiner Gefährten »Wahrlich, dieser ist

Gottes Sohn gewesen« ein aufregendes und feierliches NachspieL In der Darstellung des Erdhehens ist, der Skizze des Continuo nach zu schließen, auf eine reichere Entfaltung der Orgelkünste gerechnet. Manche alte Orgeln fiatten für das »terraemoto« ein besonderes Register.

Der vierte Abschnitt des zweiten Teils, der letzte der ' Passion überhaupt, enthält nur drei ausgeführtere Stücke: Das mittlere allein ist dramatischen Charakters: der Chor der Hohenpriester: »Herr, wir haben gedacht«, einer derjenigen Sätze unter den dramatischen Chören, welche inbezug auf Charakteristik in zweiter Linie stehen. Die beiden anderen Sätze sind madrigalische Ergänzungen des Bibeltextes und in der Stimmung ein- ander verwandt. Der erste ist ein Sologesang des Basses: Arioso und Arie: »Am Abend, da es kühle ward«. Unter den vielen Ariosos der Matthäuspassion ist dieses das- jenige, welches am meisten singt und von dem Charakter eines pathetisch deklamierenden Yorbereitungssatzes sich am weitesten entfernt. Ein bedeutendes Stück roman- tischen Sinnes liegt in ihm in den warmen lyrischen Akzenten, mit welchen die Singstimme der »schönen Zeit« der Abendstunde gedenkt, und in den zart und sanft in die Tiefe hingleitenden Figuren, mit welchen die Geigen die Schatten der nahenden Nacht vor . der Fan- tasie aufsteigen lassen. Gleich schön und von eigener Schwärmerei erfüllt ist die zu diesem Arioso gehörige Arie. Wie schade, daß sie, von deren edel populärer Melo- dik schon der .,.,,„, , - ^ ■■ ^ , so gut wie Anfang einen }^V' ^^ ' ? r P f-TI^ I^S unbekannt

Begriff gibt, Ma-«te dich mein ar^ie, refail jg^

Oft liest und hört man: es sei unpassend, daß der Sänger, welcher die Partie des Christus durchgeführt hat, nachdem der Heiland verschieden ist, wieder auftritt und das »Am Abend, da es kühle ward« vorträgt. Diese Be- merkung macht der feinen dramatischen Empfindung unserer Zeit Ehre, aber sie geht über die eigenen An- sprüche des Komponisten hinaus, der nicht blos bei dieser Arie, sondern auch bei zwei anderen, die noch in die

7*

400 <^

Abschnitte vor der Kreuzigung fallen, denselben Sänger aus dem Coro I, der den Christus singt, zu verwenden erlaubt. In den alten Choralpassionen war man so wenig bedenklich in dergleichen Fällen, daß Christus auch ruhig den Baß in den Judenchören mitsang. Eine strenge Trennung in der Besetzung der dramatischen Partien der Passion und der madrigalisch -oratorischen würde wenigstens für die Chöre einen zurückschreckenden Auf- wand von Personal und von Aufstellungsplatz erfordern. Vielleicht gelangt man aber noch einmal dahin. Wenn die Tochter Zion und der Chor der gläubigen Seelen auf einen Raum für sich unten im Orchester, oben Christus, die Soliloquenten und die dramatischen Chöre, der Evan- gelist mit dem Dirigenten in neutraler Mitte untergebracht werden könnten und die einfachen Choräle von der Ge- meinde oder Zuhörerschaft mitgesungen würden, so wäre das Ideal von Deutlichkeit erreicht und manchem Miß- verständnis vorgebeugt, dem ein unvorbereiteter Besucner einer Passionsaufführung öfters unterliegen kann.

Die alte Gtatiarum actio der Choralpassion ist in der Matthäuspassioti ebenso wie in der zu Johannes durch eine lange, wehmütig mild gestimmte Chorarie ersetzt. In der Matthäuspassion geht ihr wie der Mehrzahl der Soloarien des Werkes ein rezitativisches Arioso voraus: >Nun ist der Herr zur Ruh gebrachte, in dessen Vortrag sich die Solisten der vier Stimmen teilen.

Man weiß allgemein, daß die Matthäuspassion erst dem 49. Jahrhundert zugute gekommen ist Sie gehört heute in allen deutschen Städten, wo die musikalischen Zustände geordnet siiid, zu den regelmäßigen Erschei- nungen der Charwoche: Jahr für Jahr oder Jahr um Jahr. Auch im Ausland beginnt sie sich einzubürgern. Wir verdanken dies dem jungen Mendelssohn, der das Werk aus dem Archive hervorzog und kühn und frisch mit der Berliner Singakademie (4 4. März 4 829) aufführte. Der Erfolg war in Berlin schnell entschieden. In anderen Städten fand man die Stellung zu dem Werke nicht so- fort. Aus Königsberg, dem vierten Ort, wo man sich {im

Jahre 4 832 unter Musikdirektor Saemann) an das Werk wagte, wurde berichtet: »Ein Teil der Zuhörer lief schon in der ersten Hälfte zur Türe heraus, andere nannten das Werk veralteten Trödel«. Der Referent schließt sich der dritten Gruppe an, weljche Bachs Passion einer kolos- salen ägyptischen Pyramide vergleicht, der sie den »Tod Jesu« von Graun als den anmutigen griechischen Tempel vorzieht. Nach der ersten Dresdner Aufführung (4 833 Palmsonntag) heißt es ziemlich schüchtern: »Bachs Passionsmusik kann neben jeder neueren Tondichtung bestehen«. Nach und nach erkannte man ihr dann wohl auch die Überlegenheit zu. Das Wiedererscheinen der Matthäuspassion bezeichnet einen der wichtigsten Wende- punkte in der neueren Musikgeschichte und eröffnete zu- nächst für Deutschland, allmählich dann für die gesamte Kulturwelt eine Periode der musikalischen Renaissance, in der wir noch mitten drinne stehen. Die Matthäus- passion hat uns' den ganzen Bach, sie hat uns die Werke von Schütz, Palestrina und eine ganze Reihe eigentüm- licher und bedeutender Meister wiedergebracht, die bis dahin fast nur in den Wörterbüchern fortlebten; dem Studium uüd dem Genuß ist eine große Kunstwelt neu erschlossen worden, das geistige Band zwischen ' Gegen- wart und vergangnen Zeiten wieder festgeknüpft.

Gänzlich unbekannt blieb übrigens die Matthäus- passion den Zeitgenossen Bachs nicht. Abgesehen von Leipzig, wo nach Rochlitz am Ende des 4 8. Jahrhunderts die Aufführung Bach scher Passionen allemal ein »künst- leriscli christliches. Fest« für die ganze Stadt gewesen sein soll, muß das Werk auch nach außen gedrungen sein, wenigstens in die Kreise der Kollegen. Stölzel hat in einer seiner Passionen ein Seitenstück zu d^m Arioso »Am Abend, da es kühle ward« in Bachs Matthäuspassion, das zu diesem in einer Verwandtschaft steht, die nicht auf bloßer zufälhger Gedankenbegegnung beruhen kann, sondern auf das Studium des Bachschen Originals zurück- geführt werden muß. Ähnlich wird es sich mit einzelnen, schon früher berührten Zügen der zweiten Markuspassion

* \0t *—

Telemanns (vom Jahre 4759) verhalten. Eine Anspielung in Mizlers Musikalischer Bibliothek (Bd. IV, S. 4 09) auf eine »unvergleichliche Passionsmusik, welche wegen der allzuheftigen in ihr ausgedrückten Affekte in der Kammer eine gute, in der Kirche aber eine widrige Wirkung ge* habt habe«, könnte auf die Matthäuspassion bezogen werden, auch eine Bemerkung Marpurgs (in »Legende einiger Musikheiligen«) über »ein gewisses sehr künst- liches Passionsoratorium eines gewissen großen Doppel- kontrapunktisten« geht wahrscheinlich auf sie*). Mögen aber diese Sticheleien gelten, wem sie wollen eine weite und allgemeine Verbreitung der Matthäuspassion wäre im 4 8. Jahrhundert auch dann nicht möglich ge- wesen, , wenn Bachs musikalischer Stil überall geliebt worden wäre. Die großen technischen Schwierigkeiten, die das Werk den mutigen und erleuchteten Dirigenten noch verursachte, welche dem Beispiele Mendelssohns zunächst folgten aus dem Bericht von Mosevius lassen sie sich ersehen existierten für die kleinen, aber sichren Schulchöre des 48. Jahrhunderts zwar nicht; auch der vermeintHchen Länge des vierstündigen Werkes, wielche die gegenwärtige Generation in Verlegenheit setzt, wurde die daihallge Praxis einfach Herr. Aber die Zeitgenossen Bachs hatten für das, was sein Ideal war, die Verbindung alter und neuer Kunst, die Mischung von Elementen, die noch mit der Ghoralpassion in Zusammenhang standen, und solchen des Oratoriums, wenig Sinn. Der allgemeine Geschmack war bereits zu bestimmt in die Bahnen des italienischen Oratoriums eingelenkt. Bachs Werke büe- ben, kaum als Merkwürdigkeit erkannt und beachtet, bei Seite stehen, und von den Passionen seiner Schüler, die nach den Grundsätzen des Leipziger Meisters gebaut habensollen, wie Krebs, ging noch weniger Wirkung aus. Die Bachschen Passionen bilden Enklaven in der Geschichte der Passion, Inseln im großen Entwicklungs- strome der Gattung. Von der Mitte des 4 8. Jahrhunderts

*) Vgl. Ph. Spitta a. a. 0.

—^ 403 ♦—

ab kommt das nach den ersten Hamburger Versuchen zeitweilig zurückgedrängte italienische Element in den Passionsmusiken deutscher Komponisten wieder und als- bald ausschließlich zur Geltung. Von dieser Zeit ab wird die Leidensgeschichte vorwiegend in zwei Formen dar- gestellt, welche beide den Zusammenhang mit der alten Passionslektion fallen lassen und, die eine im Geist, die andere auch in der äußeren Anlage, der Oper vollständig folgen. Die Passion wird als Kantate behandelt, oder als freies, opernmäßiges Oratorium.

Die Passionskantate gibt den Inhalt der Leidens- geschichte in Form einer lebhaften Betrachtung wieder, die in den Mund eines frommen Zuschauers gelegt ist. Dieser äußert in Rezitativ, Arie und Chor, was er sieht und was er fühlt. Der Hauptnachdruck liegt aber im Ausdruck des Gefühls. Mit dem Evangelisten und dem Bibelwort sind auch die redenden und handelnden Per^ sonen des Evangeliums beseitigt. Die Erzählung der Vorgänge, die Wiedergabe der Reden sind aufs äußerste zusammengedrängt, das Rezitativ, welches sie enthält, ist im Text mit zählreichen »Achs« und »Obs« unter- mischt, und mit diesem Text wetteifert die Musik in Empfindsamkeit. Wie die Oper und das italienische Oratorium des 4 8. Jahrhunderts ist auch die Passions- kantate ein eigenstes und treuestes Kind der Zeit der »schönen Seelen« und ganz und gar dem Drang ent- sprungen in unaufhörlichen lyrischen Ergüssen den Reich- tum der weichen Herzen an den Tag zu bringen. Die Ereignisse der Leidensgeschichte selbst werden dem Zu- hörer nur in halber Deutlichkeit vorgeführt, der Dichter eüt durch die Rezitative hindurch, um sobald als mög- lich in breiten Formen, für Arien und Chöre bestimmt, die Grefühle zu entladen, in welche er sich aus dem be- treffenden Anlaß eifrig, oft sehr mühsam und gekünstelt, versenkt hat. Ein Zug von Eitelkeit und Heuchelei liegt in der ganzen Methode, und wenn er irgendwo unan- genehm berührt, so ist es bei einem Gegenstande wie die Passion. Die Passionskantate entsprach aber nicht

104 ♦—

bloß dem allgemeinen Geschmack der Periode, sondern auch dem musikalischen, und sie war selbst kirchlidi durch den Pietismus vorbereitet. Dem Wesen der alten auf den schUchten, aller Reflexion baren Vortrag der Leidensgeschichte gerichteten Ghoralpassion diametral entgegengesetzt, näherte sie sich dieser doch von einer Seite: in der Brauchbarkeit für den Gottesdienst. Sie war verhältnismäßig kurz und sie hatte außerdem noch, mit den an Brockes anknüpfenden Reformversuchen verglichen, den Vorzug größerer Einheitlichkeit.

Die Anfänge der Passionskantate finden wir schon in den ersten Jahrzehnten des 48. Jahrhunderts. Einer der frühesten Tonsetzer, welche sie pflegten, war C.H. Graun, der Kapellmeister Friedrichs des Großen. Als Schüler hat Graun noch eine Lukaspassion iAi Stile der Hamburger ger schrieben. Von 1730 ab wendete er sich der Passions- kantate zu. Fünf Werke, die zu ihr gehören, sind von C. Hl Qrann, ihm bekannt. Das letzte, »Der Tod Jesu«; wurde zum Der Tod Jesu. Hauptdenkmal der ganzen Gattung und erlangte eine unvergleichliche Berümtheit. In Berlin, wo dieser »Tod Jesu« mit Spannung erwartet, den 26. März 4 755 zur ersten Aufführung kam, ist er bis in die neuere Zeit ein Lieb- lingswerk geblieben und früher in der Charwoche zu- weilen mehrfach aufgeführt worden. Er kam schnell in Druck, erlebte in Partitur und Klavierauszug Auflage um Auflage und fand die allgemeiijste Verbreitung. Der »Tod Jesu« trat an die Stelle von Telemanns »Seligem Erwägen« und wurde auf Jahrzehnte in Nord und Süd die beliebteste Passionsmusik; in vielen Orten die stän- dige, zu der man Jahr für Jahr wiederkehrte. Das Werk ist aus dieser Stellung erst im 49. Jahrhundert und nur langsam durch die Matthäuspassion von S. Bach verdrängt worden. Wenn heute vollständige Aufführungen der Graunschen Kantate seltener sind, so gibt es doch- auch jetzt nur wenige Musikfreunde, welche nichts von dem »Tod Jesu« gehört haben und nicht wenigstens das eine oder das andere Bruchstück daraus kennen.

Der Text zu dem Werk, welcher von dem bekannten und angesehenen Ästhetiker Ramler herrührt, ist stark getadelt worden. Herder hat ihn zum Gegenstand eines Angriffs gemacht. Ramlers Dichtung leidet an dem Familienfehler aller oratorischen Passionsgedichte: dem Mangel an Anschaulichkeit tind Plastik, an klarer Aus- prägung von Ort, Zeit und Personen der Geschichte. Man weiß nie, wer spricht: der Vortrag eines Augen- zeugen der Leidensszenen und die Betrachtungen, die ein gläubiger Christ achtzehn Jahrhunderte später über das Ereignis anstellt, laufen ungesondert durcheinander. Aber Ramlers Kantate hat den doppelten Vorzug einer einfachen Gruppierung, und eines ausgezeichneten musi- kalischen Gusses. Sie ist mit einem feinen Sinn für Alles das entworfen, was die Generation, für welche diese Passion bestimmt war, in der Musik suchte und für das, was Graun besonders konnte. Ramler ent- wickelt die Leidensgeschichte in sieben Bildern, und ob- wohl für die Anlage und Ausführung dieser einzelnen Bilder immer ziemlich dasselbe Verfahren eingeschlagen ist, so erscheinen doch die Formen mannigfaltig und wechselnd.

So ist der Eingang der Dichtung sehr geschickt ge- dacht. Der Erzähler tritt mit der Frage auf: »Wo ist das Tal, die Höhle, die, Jesu, dich verbirgt? Verfolger seiner Seele, habt Ihr ihn schon erwürgt ?€ Das ist dra- matisch, — aufregend. Um des rein kirchlichen Effekts willen hat aber Graun diesen Eingang als Choral, auf die Melodie: »0 Haupt voll Blut und Wunden« für vier- stimmigen Chor (und Gemeinde) komponiert. Der Chor fährt in der Nummer 2 (Largo: >Sein Odem ist schwach«) in der Rolle des pathetischen Erzählers fort und schil- dert, daß er Jesus gefunden und wie elend er ihn ge- funden hat. Am Anfang und Schluß von schüchtern er- greifenden Ausdruck, fugiert dieser Satz zwischen den genannten Endpunkten über zwei Themen von denen man das erstere sowohl in bezug auf seinen Charakter wie seine Durchführung vorziehen wird. Nach dieser Nummer geht die Partie des Erzählers an den SoUsten

^ 406 ♦—

über und wird Rezitativ: »Gethsemane! Gethsemane! Wen hören deine Mauern usw.« Von hier ab bleibt die vom Dichter vorwiegend in die Form hochbewegter Fra- gen und Ausrufungssätze gekleidete Erzählung musikaUsch in den Händen der Solisten. Graun wählte für ihre Wieder- gabe die Form des Recitativo accompagnato, welches er wie überhaupt die musikalische Deklamation, meisterhch beherrschte. Auch seine Opern, von denen der »Monte- zumac seit kurzem gedruckt vorliegt*), sind darin muster- haft. Die Rezitative von Grauns >Tod Jesu« gehören zu den gehaltvollsten Lebenszeichen der Musik in Händeis und Bachs Zeit; sie sind in der Begleitung reich an fan- tasievollen und von tiefer Empfindung getränkten Zügen; in der Singstimme herrscht ein bewegter, aber immer edler und maßvoller Ausdruck. Das Publikum' wurde nicht zum geringsten durch diese Rezitative an den »Tod Jesu« gefesselt, und die Sänger beneideten einander um die schönen Stellen, die in diesem Teile ihrer Partien jedem Einzelnen zufielen: In einer Mannheimer Partitur, die zur Zeit, wo die berühmte Wendling und der Bassist Gern der dortigen Hofoper angehörten, dem Dirigenten als Handexemplar gedient hat, ist das kurze eben hier in Rede stehende Rezitativ > Gethsemane« auf drei So- Usten verteilt worden. An wichtigen Stellen, wo Reden Jesu eintreten, geht Graun aus dem Rezitativton in einen gesangmäßigen über. So bei den Worten Jesu: >Meine Seele ist betrübt bis in den Tod«. Der Dichter schreitet von solchen Höhepunkten der Situation regelmäßig zu einer breiten Betrachtung fort, deren Inhalt entweder darauf zielt, den Zuhörern zu sagen: Nehmt euch ein Beispiel an dem, was der Heiland hier für uns getan, oder: Sehet, das ist geschehen, weil wir gesündigt haben. Nur ausnahmsweise schwingt sich Ramlers Fantasie aus diesen beiden, Gleisen hinaus. Noch klarer ist der musi- kalische Zweck dieser Einschaltungen ersichtlich. Sie sollen dem Komponisten Gelegenheit zu einer ausgeführten

♦) Denkmäler Deutscher Tonkunst, 16. Band.

--♦ 407

Arie geben. So erhalten wir an der hier in Betracht kommenden Stelle eine Arie »Du Held, auf den die Köcher des Todes ausgeleert usw.«, deren Inhalt die Bitte an Christus bildet: unser Schutzgeist in der Stunde des Todes zu sein. Der erste und Hauptteil der Musik in dieser Arie stützt sich auf den Begriff des Helden,, der dem Kompo- nisten Veranlassung und Vorwand zur Ausführung bra- Youratmender Motive wird; dei: Schlußteil, welcher ziem- lich spät kommt, bringt die Bitte allein. Ein Choral »Wen hab ich sonst, als dich allein c, von Chor und Gemeinde auf die Melodie »Nun ruhen alle ^älder« gesungen, bildet noch eine Ergänzung des Gebetsteils und schließt dieses erste Bild des Graunschen »Tod Jesu«.

Den weiteren sechs Bildern liegt in Dichtung und Musik so ziemlich genau dasselbe Modell unter, wie dem hier geschilderten ersten. Das zweite fi;hrt die Erzählung im Rezitativ bis zu dem Punkte, wo Christus seine Jünger bittet, mit ihm zu beten, und knüpft hieran eine mit milder Musik umgebene Arie, die den Segen des Gebets behandelt. Das dritte Bild schildert weiter bis zur Verleugnung Petri. Auch Graun hat eine kleine Malerei für das Weinen dieses Jüngers, und Ramler hat das Weinen des Petrus zu einer Betrachtung über den Unterschied benutzt, welcher zwischen den Vergehen »weichgeschaffner Seelen« und den Verbrechen der »hart- gesottnen Sünder« besteht. Dieser Gegensatz, dem Kom- ponisten von Haus aus willkommen, hat in dem weichen Hauptteile Graun Veranlassung geboten, sein Bestes zu geben. Das lag nicht in dem Gebiet der starken Affekte, sondern da, wo Mitleid und zarte Regungen auszudrücken waren. Doch war er sehr wohl befähigt, jene glücklich zu skizzieren. Einen Beweis davon bildet der mächtig am Herzen rütteliide Aufschrei: »0 wehei in dem Chore: »Unsere Seele ist gebeugt, daß wir so gesün- digt«, welcher den Schluß des Petribildes und eine der schönsten, in der^erbindung von Tiefe und Ein- fachheit eigensten Nummern der Graunschen Passion bildet.

—^ 108 ^

Das vierte Bild trägt in der ersten Hälfte der Solo- baß. Die Erzählung geht bis an die Stelle, wo Christus den Frajien, die ihn nach Golgatha begleiten, zuruft: »Ihr Töchter Zions, weinet nicht«. Ramler erscheint diese Anrede als Akt des Heroismus, und er schreibt eine Arie über den Held aus Kanaan, der wie ein Fels im Unge- witter steht. Grauns Komposition dieser Verse ist eine Huldigung an den Bravourgesang, ein sehr schwieriges und für einen guten Virtuosen auch wirkungsvolles, d. h. äußerlich wirkungsvolles Stück. Wenn Friedrich der Große wirklich den »Tod Jesu« für Grauns »beste Oper« erklärt hat, so liegt die Berechtigung zu dieser zweideutigen Kritik, die schon in der ganzen Anlage des Werkes ihre Stütze findet, in solchen Nummern, wie dieser Baßarie, noch besonders vor. Ergänzt wird der Textinhalt der Arie noch durch den Chor: »Christus hat uns ein Vorbild gelassen«, eine flüssige, an Ausdruck nicht eben reiche Doppelfuge, die wegen ihrer gut voka- len Natur und trotz der Banalität ihrer Themen einen ganz ungemeinen Privaterfolg davongetragen hat. Das Stück ist heute noch auf dem Repertoire vieler Kirchen- und Schulchöre, es ist in Fantasien und anderen freien Bearbeitungen für Orgel usw. verherrlicht worden und ist selbst in Lehrbüchern des Kontrapunkts als Muster der Fugengattung behandelt worden! Der Choral: »Herz- Uebster Jesu« auf die Worte: »Ich werde dir zu Ehren Alles wagen« schließt den Abschnitt.

Dasselbe Schema, welches bisher die Grundlage für die Dichtung und die Musik des »Tod Jesu« bildet, können wir bis zum Schlüsse des Werkes weiter verfolgen. Es ist das Schema der Szene in der italienischen Oper des 48. Jahrhunderts, nur ist der ewige eintönige Wechsel zwischen Rezitativ und Arie dadurch gemildert, daß den Zwecken der Betrachtung außer den Arien auch noch Chöre gewidmet sind, und dadurch, daß die Rezitative an und für sich höheren Wert besitzen, als er dem trockenen Redegesang, dem sogenannten Seccorezitativ, der wirklichen Oper jener Zeit durchschnittlich zukommt.

-—4 109 *—

Auch an Holzbauers > Günther«'*') kann man sehen, daß die deutschen Musiker der Graunschen Zeit über diesen Durch- schnitt hinauszukommen suchten. In den Arien der Passion bewegt sich Graun in einem ziemlich kleinen Kreise see- lischen Lebens, und dieser Kreis erscheint noch kleiner, als er wirklich ist, weil der Komponist im Ausdruck un- frei auf von vornherein gegebene Formen und auf eine bestimmte Stilart hinarbeitet. Es waren daher auch die Arien, denen gegenüber die unbedingte Verehrung für den »Tod Jesu« zuerst erschüttert wurde. Bereits im Jahre \ 820 befahl der Großherzog von Hessen-Darmstadt, der ebenfalls diese Graunsche Passion in jeder Ghar- woche auffuhren ließ, seinem Kapellmeister Wagner, die Arien sämtlich zu kürzen. Und diesen Darmstädter Strichen, die in der Allgemeinen Musikalisc^ien Zeitung veröffentlicht wurden, folgten von da ab die meisten Aufführungen. Eine jener Arien, die den rein virtuosen Zwecken zu Liebe den Geist des Tiextes vollständig ver- nichten, ist das Duett: »Feinde, die ihr mich betrübet«. In der Richtung verwandt, aber Dichtung und Musik doch einigermaßen in Ober einstimmun g haltend, ist die große Sopranarie: »Singt dem göttlichen Propheten«, welche zu ihrer Zeit zu den berühmtesten Nummern der Passion 'Zählte und noch bis an die Gegenwart heran unter den unentbehrlichen Paradestücken aller Koloratur- sängerinnen ihren Platz behauptet hat. Auch sie steht mit der Erzählung in einem nur schwachen Zusammen- hang. Besser schließt sich an das Stichwort: »Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein« der Chor: »Freuet euch Alle, ihr Frommen«, der die Worte: »Und ^as er zusagt, das hält er gewiß« in einer jener platten, und handwerksmäßigen Fugen durchführt, welche lange Zeit und auch bis in unsere Zeit herein für das notwen- dige Kennzeichen des oratorischen Stils gehalten worden sind. Eine der wenigen Nummern der letzten Hälfte des »Tod Jesu«, welche von wirklicher Poesie getragen

/

*) Denkmäler Deutscher Tonkunst, Bd. 8 u. 9.

-* HO ^^—

erscheinen, und zugleich ein kirchlich gerichtetes Stück ist das Quartett: »Ihr Augen, weint«. Die drei oheren Stimmen führen in ihm, von den Streichinstrumenten mit tropfenden Tönen umspielt, die Ghoralmelodie: >0 Traurigkeit, o Herze- leid« durch. Der Baß singt zwischen den einzelnen Strophen freundlich tröstende Weisen. Der Schlußchor : »Hier liegen wir g^hrte Sünder« hat in der Dichtung noch einen leichten Zu- sammenhang mit der alten Gratiarum actio. Die Musik bringt noch einmal sehr entschieden und würdig den Charakter eines pathetischen und ergreifenden Trauerakts zum Ausdruck. Auch andere Tonsetzer haben das Gedicht Ramlers kom- poniert, darunter Telemann und Ph. E. Bach. Neue Dichter fanden sich gleichfalls. So schrieb die bekannte Karschin eine Ph. E. Baoh. Passionskantate, welche ebenfalls der Hamburger Bach in Musik setzte. Unter den 21 Passionsmusiken, welch dieser Komponist geschrieben, gilt sie für eine der besten. Nament- lich die Trauermusik, mit welcher in ihr das Orchester nach dem Verscheiden des Heilands einsetzt, machte einen grollen Eindruck'*'). Die nächste Passionskantate, welche nach dem »Tod Jesu« in Druck erschien und zwar auf Veranlassung 6. A. Homüiiu. J. A. Hillers war die Ton G. A. Ho m i li u s , deren Text von dem Dresdener Magister Buschmann herrührt. Dichter und Komponist sind in derAusbreitung der gefühlvollen Elemente etwas übereifrig; die Chöre des Werkes haben in ihrer mÜden Schönheit bleibenden Wert. Wie überall in diesen Passionen, sind die Rezitative voll Malereien und gleichfalls wie immer ragt unter diesen das Weinen Petri hervor. Von Homilius, einem der begabtesten Schüler S. Bachs, existieren hand- schriftlich noch M Passionskompositionen*'*'), unter denen eine Markuspassion und das frei gedichtete Passionsorato- rium » So gehst du nun, mein Jesu, hin « mit vorzügüchen dra- . matischen Chören besonders hervorragen. Die Hauptmasse der in der zweiten Hälfte des 4 8. Jahrhunderts verfaßten

*) Von einem andern Mitglied der Bachschen Familie, dem iBisenacher Job. Ernst B., ist ein nach Grannschem Muster ge- staltetes »Passlonsoratoriom« (1762) unl&ngst als 48. Bd. der Denkmäler D. T. veröffentllcbt worden. **) K. Held a. a. 0.

Passionskantaten ist un gedruckt geblieben und über den Kreis des Entstehungsorts nicht weit hinausgedrungen. Darunter gehören auch zwei Arbeiten des Kopenhagener Johann Ernst Hartmann*). Erst ziemlich spät haben wir erfahren, daß auch Mozart in seiner Jugend ein Werk in dieser Gattung geschrieben hat; Rochlitz**) nennt als Passionskantaten von großer, von gleicher oder höherer Bedeutung als der Graunsche »Tod Jesu« die Werke von Seifert in Augsburg, von den beiden Opemkomponisten Schweitzer in Gotha, Wolf in Weimar und von dem Magdeburger Rolle. Aus der Passion des letzteren J. H. Soll«. Tonsetzers sind die beiden ausdrucksvollen Rezitative: >Noch ringt im Todesschweiß« und »Wen seh ich dort am Kreuze angespannt« noch heute zuweilen zu hören. Eine Altistin, welche die Kunst der Deklamation beherrscht, wird mit ihnen einen tieferen Eindruck erzielen. Doch ist diese Passion nicht unter die Kantatengattung zu rechnen, der Dichter Patzke nennt sie sogar ein Musikdrama. Außer den biblischen Personen treten darin auch noch frei hin- zugefügte Figuren auf. Das Gespräch eines Fremdlings, der verwundert nach dem Grund der Aufregung in der Stadt Jerusalem fragt, mit einem Blindgeborenen, den der Heüänd geheilt hat, leitet dieses Passionsdrama ein. Bibelworte und, Choräle finden sich nicht in ihm.

In Norddeutschland taucht das frei dramatische Pas- sionsoratorium erst gegen das Ende des Jahrhunderts wieder aut Zwischen Hunold-Keiser und Patzke-Rolle liegt eine große Lücke. In Italien und an denjenigen deutschen Höfen, wo Komponisten der italienischen Schule wirkten, wurde seine Geschichte niemals unter- brochen. Besonders berühmt waren die Passionen von A. Scarlatti, Jomelli, f^aisiello. Die Dresdener Kapellmeister zum Teil, die Wiener, von Fux bis auf Weigl sämtlich, sind mit einer Reihe solcher italienischer

*) August Hammerich: J. P. £. Hartmaun (Sammelbände der I. M. G. 1901, S. 466).

♦♦) Allg. MuB. Ztg. 1831, S. 297.

-— Ht

Passionsoratorien vertreten,, welche sich von den Opern der Periode nur durch eine reichere Einflechtung von Chor und Ensemblenummern unterscheiden. Über die oft erwähnten Hamburger Versuche ragen sie sämtlich durch die Würde der dichterischen Sprache hervor: Me- tastasio, der Gottsched "der italienischen Oper, gab auch hier den Ton an.

Das einzige Werk dieser Gattung, welches für unsere L. T. Beethoven. Zeit noch nähere praktische Bedeutung hat, ist Beet- ChiiBtosam hovens > Christus am ölbergc. Dieses kleine Ora- Ölberg. torium, von F. X- Huber, wahrscheinlich dem italienischen »Gesu al Calvariot (u. A. von Zelenka komponiert) nach- gedichtet, behandelt nur einen Abschnitt aus der Leidens- geschichte: Christi Gebet und Seelennot am ölberge und seine Gefangennahme. In dem Augenl^licke, wo die Schergen den Heiland vor Gericht schleppen, fällt der Engelchor ein und zieht mit der Apotheose: »Welten singen Dank und Ehre dem erhabnen Gottessohn« den Schlußvorhang über den grausamsten Teil des Dramas. Die Komposition ist 1803 entstanden und in demselben Jahre in Wien wiederholt aufgeführt wordeü. Erst 484 0 ge- langte sie in den Druck, ward aber von da ab die stärkste Stütze für Beethovens Stellung in Deutschland. Sie ist neben dem »Tod Jesu« lange genug eine der bevorzugte- sten Passionsmusiken gewesen. Auch ihre Glanzzeit erlosch nach dem Wiedererscheinen von Bachs Matthäuspassion; aber trotzdem wurde sie noch bis in die Wagnersche Zeit hinein häufig aufgeführt und siBlbst hier und da im Char- freitagsgottesdienst verwendet. Beethoven selbst soll in seinen späteren Jahren auf den »Christus« nicht gerade stolz gewesen sein, und gewiß kann man dieses Oratorium heute nicht mehr zu seinen Hauptwerken zählen. Aber es trägt in vielen Stellen die Züge des großen Meister^, und die Vorwürfe, die man früher halblaut, später mit großem Nachdruck gegen Beethovens Behandlung der Passion erhoben hat, beruhen wohl alle auf der Natur der Dichtung; denn. bei Huber hat Jesus den größten Teil der Würde und Erhabenheit eingebüßt, in welcher

-— * H3 ♦—

er bei den Evangelisten erscheint, und auch die Jünger des Herrn sind sehr klägliche Gestalten.

Eine der bedeutendsten Partien des »Christus« bildet das Instrumentalvorspiel, mit welchem das Werk eröfibiet und die erste Szene eingeleitet wird. Es ist ein Seelen- gemälde, in welchem die schmerzliche Klage mit der Ergebung rin^. ^ , Adagio . ^

f ärMit ^^^^^^^

in den Streichinstrumenten durchgeführt, ist der Haupt- träger dieser ergreifenden Musik, in deren Fugen überall die Verzweiflung rüttelt. Die Hörner rufen heftig Wehe; in zitternden Akkorden bäumt sich das ganze Orchester auf und bricht in Pausen ab, welche die Pauken schauer- lieh mit dumpfen Tönen füllen. Es sind einige kleine Episoden von zwei Takten Länge darin, in denen die Hoffnung unter Klängen, die an Florestan erinnern,

das Haupt erheben will. Aber ß 'ia. , r » . ... . - - i sie endigen in einem resig- % ^\i\^ L^^^j-^^ . nierten Motiv der Holzbläser ^- T^. b

Der erste Monolog des Christus ist vom Dichter in dem ^yortreichtum gehalten, den wir als im Widerspruch mit dem in der Bibel eingehaltenen göttlichen Wesen des Heilands an diesem Oratorium zu allererst störend empfinden. Beethoven steht hier zum größten Teil be- deutend über dem Text. Sein Rezitativ ist im großen Stile gehalten und hat einzelne Stellen, die in ihrer Einfachheit geradezu erschüttern. Eine ist der rhyth- misch und harmonisch feierlich markierte Satz der Blasinstrumente bei den Worten: »Des Seraphs Donner- stimme«, der wie eine überirdische Erscheinung herein- tritt. Eine andere liegt an dem Schlüsse des Rezitativs, wo Christus nach dem erregten Tremolo der Streich- instrumente sein Klagelied zum Vater: »Ach sieh, wie Bangigkeit usw.« in die Nacht hinaussendet. Die darauf- folgende Arie: »Meine Seele ist erschüttert« gibt ein Bild gährender Erregung, das vom musikalischen Stand- punkt aus wegen der Geniahtät, mit der die Farben

n, 4. 8

* f i 4 ^

gewählt und gemischt sind, Bewunderung verdient. Aber dieser furchtbare Ausdruck der Seelenangst ist für den Heiland zu menschlich leidenschaftlich; der göttliche Christus, wie wir ihn aus der Bibel kennen, erscheint erst in der zweiten Hälfte der Arie: von da ab, wo die Holzbläser das herrliche, mild erhabene und fromme Thema zu den Worten: > Vater, tief gebeugt und klägliche intonieren. Wie die Dichter dieser Art Passions- oratorien in der Regel mit dem dramatischen Apparat des Evangelienberichtes allein nicht ausreichen, S9 ver- stärkt ihn auch Huber. um einen Seraph und den zu diesem gehörigen Chor der Engel. Ihnen gehört die zweite Szene. Ein Paukenwirbel kündet den Seraph an, unter rauschenden Geigenfiguren schwebt er zur Erde. Sein Gesang ist streng geteilt: der erste Teil an die Er- > lösten gerichtet: »0, Heil euch, ihr Erlösten«, der andere Teil ruft denen Fluch und Wehe zu, welche das Blut entehren, das für sie floß. Diese zweite drohende Hälfte kommt zu ihrer gewaltigen Bedeutung erst gegen den Schluß der Szene, wo §ich der Chor der Engel mit dem Seraph vereint: Fluch und Weh sind hier von der Orchester- masse mit einer erschreckenden, finsteren Entschiedenheit deklamiert. Und wunderbar schön ist es, wie von dieser unheimlichen Stelle ganz sanft und schnell die Musik in den freundlich milden Hauptteil: »Doch Heil euch« zurück- geleitet wird. Sehr reich ist die ganze Szene an schön gestimmten Klangwirkungen: die hohen Töne der Engel- stimmen, die Verbindung des Solosoprans mit dem Chor, über welchen er sich hoch hinauf erhebt und in ein- samer Höhe dahinschwebt, genügen allein schon, die Fantasie des Hörers zu fesseln und Bilder sehen zu lassen. Nun erscheint Jesus wieder und der Engel kündet ihm in einem hochfeierlichen, ganz mystisch wirkenden Satze, den die Blasinstrumente wieder aus- zuführen haben: den Willen des himmlischen Vaters. Christus erwidert hierauf in einem Adagio: »So ruhe denn mit ganzer Schwere auf mir, mein Vater, dein Ge- richt!«, welches in einfachen herrlichen Gesangtönen

ausspricht, daß der Heiland bereit ist, zu leiden und zu sterben. Wenn in einem der Sätze seines >Christus<, so hat Beethoven in diesem Adagio etwas von der himm- lischen Größe, in der wir uns die Seele des Erlösers denken, niedergelegt. Daß der Engel gerührt und hin- gerissen in die Weisen Jesu mit einstimmt, ist an und für sich motiviert, auch mit besonderen musikalisch malerischen Erfolgen ausgeführt. Doch aber wäre die Wirkung dieses Adagios reiner, wenn es nicht in ein Duett ausliefe. Mit ihm schließt der erste Teil des Ora- toriums und dier Akt der Gefangennahme beginnt. Seine Musik hat die genaue Form eines Opemfinales und auch den Geist eines gewöhnlichen, tumultreichen und spannen- den Bühnenstückes. Ein pikanter Marsch, der wie der bekannte Derwischmarsch in den > Ruinen von Athen« leise wie aus der Ferne einsetzt, meldet den Anmarsch der Krieger, welche Jesum fangen sollen. Man hört und sieht sie ebenso geschäftig als vorsichtig suchen. Bald kommen sie näher, bald schlagen sie wieder die ent- gegengesetzte Richtung ein. Gewiß ist es ein großer Effekt, als sie endlich den betenden Heiland vor sich er- blickend, in das triumphierende: >Hier ist er« ausbrechen. Aber es ist der Fehler dieser Art von Oratorien, daß sie Äußerlichkeiten, die an und für sich nicht weiter wichtig sind, mit soviel Behagen und Aufwand von Zeit und Kunst ausmalen. Es ist dieselbe künstlerische Unreife, die uns so häufig an instrumentaler Programmmusik stört. Zu dem wilden Jubel der Krieger bildet das un- männliche Jammern der Jünger einen Gegensatz, der sich fast an die Lachmuskeln wendet. Dann tritt Petrus stark bramarbasierend auf. Jesus und der Seraph ver- einen sich mit ihm zu einem längeren, ganz opern- mäßigen und im Ausdruck verfehlten Terzett, dem erst der endlich wieder einsetzende Chor der Krieger: »Auf, ergreifet den Verräter« ein Ende macht. Als ein Situa- tionsbild ist diese ganze musikalische Szene gar nicht übel, manche Abschnitte sind packend in der Wirkung. Aber es ist nichts darin, was uns zwingt, dieses Bild in

8*

L. .

* H6 ♦—

die Passion hineinzudenken, und es ist eine für dieses Verhältnis bezeichnende Tatsache, daß die Reden Jesu, welche in diesem Finale vorkommen, nirgends auch nur annähernd an den weihevollen Ton anklingen, welchen sie in dem ersten Teile des Oratoriums, wenn auch nicht immer, so doch vorwiegend haben. Mit einer ziemlich gewaltsamen Wendung reißt sich Beethoven efndlich aus dem Kreise der Alltäglichkeit heraus und lenkt in den fugierenden Chor der Engel ein, dessen dithyrambische Stimmung in dem auf wogenden Violin figuren ruhenden Mittelteile: > Welten singen Dank und Ehre< einen sehr schönen, der Sammlung und dem neuen Aufschwung gewidmeten Mittelpunkt hat. '

Andere Werke aus der Gattung des frei dramatischen Passionsoratoriums, welche zur Zeit und in der Periode ihrer Entstehung hochgewürdigt waren, sind heute gänz- lich verschwunden. Wir nennen aus dieser Klasse vor J, 0. Sobioht, allem: »Das Ende des Gerechten« von J.G.Schicht, Das Ende des einem der bedeutendsten Musiker, welche nach J. S. Bach Qerechten. das Kantorat der Leipziger Thomasschule bekleidet haben. Besonders ausgeführt, von mächtiger äußerer Wirkung in den knappen Ghorsätzen, ist in diesem Oratorium die Szene der falschen Zeugen. Sie bekräftigen ihre Aus- sagen mit feierlichen Schwüren; immer neue Ankläger, geführt von dem alten fanatischen Philo (einer eigenen Erfindung des Textverfassers Rochlitz), treten hinzu; die Menge wiederholt die Versicherung der einzelnen Kläger und allemal schließt die Vernehmung mit dem Satze.- >Ich bekräftige mit heiligem Eid, daß ichs vernommen aus seinem Munde«. Der Partei der Feinde ist eine Partei von Freunden und Freundinnen Jesu gegenüber- gestellt. Eine Hauptfigur des Oratoriums ist Johannes der Jünger. Er berichtet die Vorgänge, welche sich nicht im Oratorium selbst abspielen, und er interpretiert sie ahnungsvoll. Aus seinem Munde erfahren wir gleich am Eingang des Werkes, daß dem Judas nicht getraut wird. Judas selbst ist originell, aber nach dem Brauche der rationalistischen Schule, als leichtsinniger Spekulant

aufgefaßt. Als er sieht, daß sich der Herr wider Be- rechnung den Händen der Feinde übergibt, ist seine Verzweiflung groß. Außer den sehr wirksamen drama- tischen Chören hat >Das Ende des Gerechten < auch viele sinnige Stellen. Der Dichter schreibt nach den Worten: »Es ist vollbracht« einen Instrumentalsatz vor, »der die letzten Augenblicke des schwindenden Lebens« bezeich- nen soll. Schicht hat in seine fugierende Motive den Choraji: >0 Traurigkeit« eingewoben. (Siehe: Graun.) Noch bis in die jüngste Zeit konnte man den Schluß- chor des Oratoriums: »Wir drücken dir die Augen zu« hier und da als Begräbnischor hören. Als Ganzes scheint das i^Ende des Gerechten« nur wenige Jahrzehnte lang festen Fuß gefaßt zu haben. Im Jahre 4 806 zum ersten Male aufgeführt, erst nach dem Tode des Kom- ponisten in den Druck gebracht, wurde das Oratorium schon im Jahre 1838 wieder verdrängt und zwar durch *

Spohrs Passionsoratorium: »Des Heilands letzte L, Spohr, Stunden«, welchem ganz dieselbe Dichtung von Roch- Des Heilands litz zu Grunde liegt, wie dem Werke von Schi chtJetzte Stunden. Spohrs Oratorium enthält in den Chören der Freunde und Freundinnen Jesu, in den Ariosos der Maria viel schöne weiche Musik, in der Partie des Johannes vor- trefflich deklamierte Rezitative. Von größerer eindring- licher Bedeutung ist der letzte Abschnitt des Werkes, von dem Augenblick ab, wo der sterbende Heiland die Worte ruft: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen«. Der in feierlicher Stille hingebetete vierstimmige Kanon: >Iti seiner Todesnot dich zu ihm wende, gib ihih ein sanftes Ende«, das Oktett: »Wir sinken in den Staub und feiern deinen Tod«, die geistreich auf die Gerichts- szene zurückgreifende Schilderung des »Erdbebens« sind Stücke einer grandiosen Stimmung und eines wirklieh großen Stils; ihr Eindruck ist tief und bleibend.

Zu diesen beiden Passionsoratorien von Schicht und Spohr tritt als ein Werk von gleicher Anlage und ahn- Pr. Schneider, lieh starker Verbreitung das Charfreitagsoratorium: Gethsemane »Gethsemane und Golgatha« von Fr. Schneider, und Golgatha«

H8

Das Werk hat sich von seinem Erscheinen (1838) an mehrere Jahrzehnte hindurch behauptet und ist nament- lich häufig im Gottesdienst verwendet worden. Die reichliche Einlage von Chorälen, bei denen die Gemeinde mit einstimmen soll, macht es dazu geeignet Sie ist ihm eigen und bedeutet einen Abfall von dem rein dra- matischen Prinzip, zu welchem wahrscheinlich ebenfalls die mittlerweile erfolgte Verbreitung von Bachs Matthäus- passion Veranlassung gegeben hat. Der Dichter, Prediger Schubert in Zerbst, hat zu den dramatischen Personen des Evangeliums noch einen Chor der Bekenner und Stimmen von oben hinzugedichtet Dadurch ist dem Komponisten Gelegenheit zu Doppelchören und zur Ent- faltung starker Gegensätze *^egeben. . Sehr wirkungsvoll ist sie in dem Nacheinander des Judenchors: »Sein Blut komme über uns< und des Bekennerchors: »Wehe, die ihr Zion bauet mit Blut« benutzt worden. Im letzeren ist eine aus Mitleid und Grausen gemischte Stimmung sehr anschaulich wiedergegeben. Unter den Doppel- chören zeichnet sich der Chor der Jesum suchenden Wächter aus; zu ümen treten die Stimmen von oben in einfachen edilen Weisen. Gemeinsam ist diesen drei letztgenannten Passionsoratbrien die Annäherung ans Bibelwort. In dem Schneiderschen Werke erfolgt sie auch in einzelnen Chören; die anderen geben wenigstens die Reden Jesu getreu nach den Evangelien wieder und beschränken sich auf die dort beglaubigten Worte. Im musikalischen Ausdruck der Reden Jesu erstreben die Komponisten eine feierliche Einfachheit und heben sie durch die Begleitung bestimmter Blasinstrumente in einen besonderen Klangkreis. Alle haben dadurch die Ähnlichkeit mit der Oper wenigstens in der Christus- partie glücklich vermieden. Das würdigste Bild von Jesus gibt unter den dreien Schicht. Das zu derselben Klasse, wie die Werke von Schicht, Spohr, Schneider, gehörige Passionsoratorium »Das Sühnopfer des neuen Bundes« von Karl Löwe hat wenig Beachtung ge- funden.

Wie Beethovens > Christus am Ölbergc sich auf einen Abschnitt der Leidensgeschichte beschränkt, so gibt es in derselben oratorischen Gattung Werke, die für den Ge- brauch in der Charwoche bestimmt waren, obwohl sie auf die Leidensgeschichte nur einen indirekten Bezug nehmen. Die einen knüpfen im Text, z. B.. die von vielen namhaften Tonsetzern komponierte Dichtung >la deposizione della croce«, noch unmittelbar an die Vor- gänge der Passion an. In anderen handelt es sich um Vorgänge, die von dem großen Ereignis des Kreuzes- todes Jesu Christi durch Jahrhunderte getrennt sind. Im wesentlichen besteht, gerade so wie im »Tod Jesu< Ramlers, ihr Inhalt in Passionsbetrachtungen. Nur sind sie in die Form einer Geschichte geflochten und dra- , matisiert. Die beiden berühmtesten Werke aus dieser zweiten Klasse sind Hasses >Sant* Elena al Calvarioc J. A. Hasse, und seine >Pellegrini al sepolcro di nostro Salvatore«. Sant' Elena al Die Dichtung in beiden Werken ist von Metastasio. Die Galvaiio und >Sant' Elena« ist die Dramatisierung der Legende von Ipellegrini. der Kaiserin Helena, die bei dem Besuche von Jerusalem auf wunderbare Weise das Kreuz entdeckt, an welches der Heiland geschlagen war. Der Schluß der Dichtung preist die Monarchen. Schon früher ist diese Geschichte bearbeitet und komponiert worden. So von L. Leo. Die >Pellegrini al sepolcro« schildern die Ankunft von vier Pilgern in der heiligen Stadt und ihren Aufenthalt da- selbst in Gesprächen und Betrachtungen, die das Passions- drama zum Gegenstand haben. Beide Werke, für Dres- den geschrieben, waren am Wiener Hofe und anderen Residenzen italienischer Richtung ein behebter Bestand- teil der Charfreitagmusik; die »Pilgrimme« wurden auch ins Deutsche übersetzt und von J. A. Hiller im Klavier- auszug veröffentlicht. An ihrer Musik fesselten die schönen ausdrucksvollen Rezitative mit Begleitung und noch mehr als etwas Neues und Ungewöhnliches die Wechselgesänge, in welchen in den Ensemblenummern die Frauen- und die Männerstimmen sich ablösten. Der J. Qt» Naumann, Amtsnachfolger Hasses, J. G. Naumann, komponierte Die Pilger.

J. &. Sohioht,

Die Feier der

Christen auf

Golgatha.

8. Neakomnii

DieGrablegung

Christi.

Ji Haydiii

Die sieben

Worte.

no

die »Pilgrimme« ebenfalls. Aus seiner Komposition hat sich der traulich fromme Chor: >Zagt nicht auf dunklen Wegen«, in welchem die Knabenstimmen gleichfalls mit den Tenören und Bässen wechseln, bis nahe an die Gegenwart im Repertoire einzelner Kirchenchöre erhalten. Auch Schicht hat ein Oratorium: »Die Feier der Christen auf Golgatha« geschrieben, weleheä die Passion in Form stimmungsvoller, mitleidender und verzückter Rückblicke darstellt. Von der Musik die mehr veraltet ist, als in dem »Ende des Gerechten«, hat der Schlußchor des ersten Teils: »Vor deinem Angesicht, Erlöser, stehen wir« seiner Zeit besonderen Erfolg davongetragen. Da in dem Werke keine dramatischen Personen auftreten, wird man es besser der Gattung der Kantate zuweisen. In dieselbe Kategorie fällt »Die Grablegung Christi« von S. Neu- komm, nach einem Abschnitt aus Klopstocks Messiade komponiert. Ein gehaltvolles Werk: namentlich in der Instrumentalpartie die bedeutendste Leistung, welche wir von dem einst sehr gefeierten Komponisten besitzen; reicher als sein viel gesungener »Ostermorgen«.

Auch »Die sieben Worte« von J. Haydn oder wie der vollständige Titel heißt: »Die Worte des Erlösers am Kreuz«, sind von dem Komponisten selbst als Ora- torium bezeichnet worden. Sie gehören zu der Gattung nur dann, wenn man den Begriff des Wortes in jenem allgemeinsten Sinne zuläßt, wie wir ihn in der ersten Hälfte des 1 8. Jahrhunderts hier und da bräuchlich ge- funden haben. Man nannte da jede Art geistlicher An- dachten, bei der die Musik, gleichviel in welchen Formen, einen wesentlichen Bestandteil bildete, ein Oratorium; darunter finden sich auch Werke, welche die Passion als Melodram behandeln, z. B. eins von Baron Dal- berg. Die sieben Worte des Erlösers am Kreuze sind als besondere Episode der Leidensgeschichte oft kompo- niert worden; aber in der Regel nur im Zusammenhange mit dem Text des Evangelisten. So behandelt sie Schütz (s. S. 43), so sind sie von Vorgängern dieses Meisters wie Senfl und auch von späteren Komponisten aller Länder (Lutz,

121 , ^>—

Mercadante, Gounod) in Musik gesetzt worden. Im 17. Jahr- hundert kommen sie in der Komposition von Joh. Glück (Leipzig 1 666) auch als Madrigale mitBasso continuo vor*). Die Form, in welcher sie Haydn bringt, hat ihre eigen- tümliche Entstehungsgeschichte. Ein Domherr in Cadix bestellte bei dem auch in Andalusien berühmten Haydn sieben langsame Instrumentalsätze mit Vorspiel und Schluß zur Verwendung in der Passionsandacht der dortigen Kathedrale. Den Gang dieser Passionsandacht, Oratorium genannt, beschreibt Haydn selbst in dem Vorbericht der i. J. 1804 veröffentlichten Partitur fol- gendermaßen: »Nach einem zweckmäßigen Vorspiel be- stieg der Bischof die Kanzel, sprach eins der ^ sieben Worte aus und stellte eine Betrachtung darüber an. So wie sie geendigt war, stieg er von der Kanzel herab und fiel knieend vor dem Altare nieder. Diese Pause wurde von der Musik ausgefüllt. Der Bischof betrat und ver- ließ zum zweiten, drittenmal usw. die Kanzel und jedes, mal fiel das Orchester nach dem Schlüsse der Rede wieder ein.< Im Jahre 1785 waren die Adagios fertig. Der Komponist nannte sie Sonaten und hat sie mit dieser Bezeichnung in einem Arrangement für Streichinstrumente bekanntlich auch unter seine Originalquartette aufgenom-

. men. In dieser Gestalt, die später der Mailänder Graf von Castelbarco nachgeahmt hat**), als reine Instrumental- musik, — nur ein gesungenes Baßrezitativ, welches das betreffende Wort enthielt, ging jedem Satze voraus drangen bald die > Sieben Worte« von Wien aus, wo sie im Jahre 1787 zuerst aufgeführt wurden, hinaus ins Reich und ins Ausland: nach Bonn, Breslau, Berlin, London, Paris und Neapel. Die Umarbeitung in ein Chorwerk erfolgte, nachdem Haydn (1794) auf der Reise nach

London begriffen, in Passau einet Aufführung seiner »Sieben Worte« beigewohnt hatte, zu welcher der dortige

•) Albert Göhler, Verzeichnis usw.

•♦) F^tis: Biographie ngw. und 0. F. Pohl: Haydn und Mozart in London, II, 136. .

\

*^ \f^ *

Kapellmeister Joseph Friebert Singstimmen hinzukompo-^ niert hatte. Haydn fühlte/ daß er das selbst besser machen könnte, scheint aber den Text des Passauer Kollegen bei dieser Umarbeitung, nachdem ihn van Swie- ten einer Redaktion unterzogen, und nach neuen Unter« suchungen*] auch einen großen Teil des Vokalsatzes Frieberts beibelialten zu haben. Außerdem übertrug Haydn die Solorezitative auf den Chor, fügte nach dem vierten Worte einen neuen selbständigen Orchestersatz ein und änderte an einzelnen Stellen die Instrumen- tierung. Klarinetten und Posaunen sind durchaus n^u. In diesei; neuen Form kamen die »Sieben Worte« zuerst i. J. 1796 in Wien zu Gehör und erwarben sich bald zahlreiche Freunde und Bewunderer. In Konzert und Kirch« ist das Werk bis heute eine der angesehensten Passionsmusiken geblieben. Die Methode, aus der >Die sieben Worte« hervorgingen, ist weiter verfolgt worden: Chr. Schulz veröffentlichte i. J. 184 4 ein Passions- oratorium: »Der Versöhnungstod«, welches mit Hin- zufügung von Chorälen aus Haydnschen Adagios kompo- niert war.

Die Introduktion der »Sieben Worte« ist eine kurze Fantasie Maestoso. ^ Mitleid, Klage, Trauer, über das !j|^ Ir h | T J^^rJ^^' ^^^^ werden nur kurz Motiv "ff J L— 3 'l— ' . =2= gestreift. Der Haupt- inhalt dieses gedrungenen Prologs ist ehrfurchtsvolles Staunen, und durch den Ton und Stil, in dem . er dies ausdrückt, ist er ein Meisterstück, das in der neueren Musik fast ganz vereinzelt steht. Die nächsten geschicht- lichen Anknüpfungspunkte bieten Oratorienouvertüren L. Leos.

In der Konstruktion der einzelnen Chorsätze leuchtet der instrumentale Ursprung noch deutlich durch. Sie sind in der Grundform sämtlich langsame Rondos: In jedem

*) Ad. Sandberger: Zur Entstehungsgeschichte von Haydns »Sieben Worten« (Jahrbuch der Musikbibliothek Peters für 1903).

* 123 ^>—

herrscht ein regelmäßig und symetrisch gebautes Haupt- thema, dessen Wiederkehr durch selbständige, unterein- ander verschiedene Zwischensätze unterbrochen wird. Der nach dem ersten Worte: > Vater, vergib ihnen usw.« eintretende Satz hat folgendes Hauptthema:

welches die Orchesterstimmen mit Betonung des Anfangs- motivs mannigfach variieren. Die Ghorstimmen über- decken in der Regel gerade dieses bezeichnende Motiv oder pausieren, während es in kleinen Sätzchen durch- geführt wird. Mit dem milden Gesamtcharakter des Satzes" stimmen die Episoden mit ihren sanft klagen- den und bittenden Melodien überein. Einer der gewal- tigsten Zwischensätze tritt mit den Worten auf: »Das Blut des Lammes schreit nicht um Räch«. Das chro- matische Motiv der mittleren und unteren Instrumente und die überraschende Modulation von ,F nach Des heben ihn heraus. Der zweite Satz: »Ganz Erbarmen, Gnad und Liebe usw.« ruht auf einer breiten, wehmütig freundhchen Liedmelodie, deren Hauptglieder das Motiv

undsei- ^^^ -^ bilden,

^^^^^^ne Va.- ibVrfltrr A«s_ dem •«T ' ^^ ' nante ^ elegischen

Gesamtton treten die beiden mit Fermaten gekennzeich- neten Gdur-Schlüsse bei den Worten »kommst du in mein Reich, so denke mein« und »heute wirst du mit mir im Paradiese sein« hervor. Die feierliche Hoheit der Musik geht hier mit den Worten so schön zu- sammen, daß man die nachträgliche Entstehung des Textes kaum glauben mag. Der zweite Teil des Satzes vertauscht das Cmoll mit Cdur und bringt an der Stelle: »Gib uns auch zur letzten Stunde« einen melo- dischen Gang, der äußerlich wenigstens mit: »Gott er- halte Franz den Kaiser« genau übereinstimmt. Densel- ben Anklang hat auch ein noch früheres Werk Haydns:

'^ U4

seine achte Messe. Das Hauptthema im dritten Satze:

> Mutter Jesu, Grare.

die du trost. IHh » JjiV. |J |u -| j .rnn 1^^. los usw.c ist^J^ ^ ^ ^— ^ CT

Seine ersten beiden Noten durchklingen den Satz wie freundliche Zurufe, die zwischen Mutter und Sohn gewechselt werden. Wunderbar ergreifend ist nament- lich die Stelle, wo der Satz nach dem in Grabesstille beginnenden Zwischensatze: »Wenn wir mit dem Tode ringen < diesem freundlichen Motive wieder zustrebt. Die schöne Idylle der Passion, in der der sterbende Christus die Mutter unter den Schutz seines Lieblings- jüngers stellt, hat in diesem rührenden Tonbilde Haydns eine Wiedergabe gefunden, deren Einfachheit und Herz- lichkeit kaum übertroffen werden kann. Der Satz ist einer der beliebtesten der ganzen Literatur der Ps^ssions- musik; er ist zugleich in den »Sieben Worten c einer der- jenigen, welche in der Behandlung der Ghorstimmen voranstehen. Sie machen durchaus nicht den Eindruck nachkomponierter, und auf den fertigen Satz aufgelegter Partien, sondern einen natürlichen und selbständigen« Der melodische Segen hat sich nicht bloß auf die Ober« stimme, sondern über alle vier ziemlich gleichmäßig er- gossen. Dex vierte Satz »Warum hast du mich verlassen« schließt sich an das »Eli, Eli«,, die Hauptstelle der Pas- sionsmusiken von alters her, an. Er ist dunkler gefärbt als die vorhergehenden und schlägt einen lauteren Klage- ton an. Aber auch ihn beherrscht der Grundgedanke, in welchem Haydn die ganze Leidensgeschichte in diesem Werke zur Darstellung bringen wollte: Dankgefühl für die Erlösungstat. Nur in einem Zwischenspiele, welches (vor dem Abschnitt in Gesdur) die Instrumente allein haben, kommt der Schmerz auf einen Augenblick zu einem leiden- schaftlichen Ausdruck. Möglicherweise fehlt an dieser Stelle (S. 50 der Partitur] vor dem Quartsextakkord auf des ein Takt. Der von Haydn erst bei der Bearbeitung einge- fügte Instrumentalsatz (für Blasinstrumente), welcher das Werk in zwei Teile zu scheiden bestimmt erscheint, ist eine

^ ns

ernste Trauermusik über das zuerst von Posauuea vorge- tragene, dann von Gruppe zu Gruppe wandernde Thema:

^ ][«"gg- , . I ^-i I i-H Stärker als aus irgend

.fc i j J i j J| J |/^ ^J.-^ ^' einem anderen Satze der ^^ >Sieben Worte« spricht

aus ihm eine tief schmerzliche Passionsstimmung. Den fünften Satz, der sich an diese Instrumentalnummer un- mittelbar anschließt: > Jesus rufet: ^ Adagig>^ Ach, mich dürstet« durchklingt wie [ £ *tr " pp - S ein großer Seufzer das kurze Motiv : ' •^ " '

Dieser Satz ist der erregteste des ganzen Werkes: Der Unwille spricht namentlich von den Worten ab: >Kann Grausamkeit noch weiter gehn?« in dramatischer Deut- lichkeit und in mannigfaltigen lebendigen und anschau- lichen Melodiege]}ärden. Besonders eindrucksvoll sind die chromatischen Gänge an der Stelle: >Ihm reicht man Wein, den man mit Galle mischt«. Der sechste Satz >£s ist vollbracht« will dem Gefühle der Freude Ausdruck geben, daß nun das Leiden des Heilands be- endet und die Erlösung der Menschheit vollzogen ist. Seine Musik mischt deshalb zwischen schwere und ernst sinnende auch solche Motive, die eine edle Heiterkeit ausdrücken. Aber für diese letzteren sind die Worte nicht immer glücklich untergelegt, namentlich nicht an der Stelle: >Weh euch Bösen«. Wer den Zusammenhang, das Verhältnis von Text und Musik nicht kennt und seine Auffassung von ersterem aus bestimmt, wird hier dem Komponisten leicht den Vorwurf der Trivialität machen. Selbst C. F. Pohl, der verdienstliche Biograph Haydns, hat sich zu dieser Ungerechtigkeit verleiten lassen. Aus derselben milden und verklärenden Auffassung her- aus, die Haydn in den meisten Sätzen des ersten Teils leitete, die ihm auch die friedlich freudigen Motive des Chors »Es ist vollbracht« an die Hand gab, ist auch die Musik zu dem letzten der sieben Worte >In deine Hand o Herr, befehP ich meinen Geist« geschrieben. Sie ist aus dem Grund einer Seele heraus empfunden, die ihren .Frieden mit Gott gemacht hat. Daher das bewegliche

—^ 126 V

kosende Figurenleben in der ersten Violine, und daher , die unschuldig pastorale Hornmelodie, die den Eingang und den Schluß des Satzes bildet. Als Finale bringen die »Sieben Worte« eine Schilderung des Erdbebens, wie wir sie in vielen Passionen und in manchen viel besser finden. Den Text zu diesem Satze »Er ist nicht mehr«, der nicht recht paßt, nahm Haydn kurzer Hand aus Pamlers »Tod Jesu«.

Schneiders »Golgatha und Gethsemane« war für lange Zeit die letzte Passionsmusik von Bedeutung. Unsere pro- testantische Liturgie wenigstens hat ihre musikalischen Bedürfnisse auf das Geringste eingeschränkt, und unser modernes Kopzert, auch das geistliche, vermeidet die Berührung wenn nicht mit der Religion, so doch die mit dem Dogma. Mendelssohn und Liszt haben einen »Christus« komponiert, aber bei ihnen bildet wie in Händeis »Messias« die Leidensgeschichte nur einen Teil im Ganzen. Genau so verhält es sich mit G. Schrecks »Christus der Auferstandene« und mit Edgar Elgars »Aposteln«. Beide, der neuesten Zeit angehörende Werke, sind ebenso wie die genannten Vorgänger besser unter den Oratorien zu buchen. Die Passionen von Eisner und Fr. v. Roda aber, sind nicht über die Entstehungsorte hinausgekommen und Manuskript geblieben. Die einzige wirkliche Passions- mnsik, die in Deutschland am Ende des 1 9. Jahrhunderts in Druck und auch in Umlauf bei den Chorvereinen ge-

F. Cial, kommen, ist der »Christus« von F. Kiel.

OhiiBtns. Dieses Oratoriums eigentliche musikalische Originali-

tät beschränkt sich auf einzelne Nummern und einzelne Stellen. In den Motiven Hegt oft ein Mendelssohnscher Zug, in ihrer Durchführung wechselt Heichtum mit Trockenheit, und selbst in der äußeren Form mancher Stücke, in der Art der gemeinschaftlichen Bewegung der Stimmen lehnt sich der Komponist an bekannte Vor- bilder, besonders gern an Bach. Gleichwohl ist aber der »Christus« Kiels durch den Geist in Anlage und Aufbau, durch die Feinheit und Schärfe der Auffassung, das Temperament in der Deklamation ein Werk von

-^ 127 o>—

Bedeutung: eine Passionsmusik die nicht einen Musiker ersten Ranges, aber eine vornehme, reiche und fesselnde Künstlerseele zum Verfasser hat.

Kiels »Christust gehört zur dramatischen Gattung. Er stellt ohne Evangelisten die Handlung dar; unter- scheidet sich aber von früheren Werken derselben Klasse dadurch, daß der dramatische Dialog ganz mit dem Evan- gelientext übereinstimmt. Auch die lyrischen Einlagen, die der Komponist in den Mund eines Mezzosoprans und des Chors gelegt hat, sind der* heiligen Schrift ent- nommen. Kiel selbst hat sie aus den Psalmen, den Epi- steln und der Offenbarung sehr treffend ausgesucht. Eingeteilt wird das Werk in Szenen. Die erste trägt die Überschrift: »Christi Einzug in Jerusalem«. Ein sehr glücklicher Gedanke: der Darstellung der Passion das helle und grelle Gegenbild, den Empfang des Hei- lands am Palmsonntag, vorauszuschicken! Die Szene beginnt mit Klängen, die unbestimmt von der Tiefe heranwogen; man lauscht erwartungsvoll und hört in Abständen und noch wie aus der Ferne mild festliche Weisen. Sie klingen näher und rücken mit dem Auf- treten des Sblotenors, der wie ein Herold der wartenden Menge zuruft: »Bereitet dem Herrn den Weg«, zum ge- schlossenen Gesang zusammen. Da mit einem Male wendet sich die Harmonie von A nach Gdur: der fest- liche Zug ist allen sichtbar auf den freien Platz einge- schwenkt und wird von hier, von dort, immer lauter und stärker, je mehr ihn sehen, mit »Hosianna« begrüßt, bis endlich zwei Chöre zu je vier Stimmen feierlich »Ge- lobt sei der da kommt im Namen des Herrn« anstimmen. Es geht ein hoher Schwung durch die Seele der Menge, der in dem breiten Chor natürhch und anschaulich zum Ausdruck kommt. Mit den Weisen der frommen Ehrfurcht wechseln die fröhlichen lustigen Motive des Volksfestes. Eine Solostimme (Mezzosopran:^ »Das zerstoßene Rohr usw.«) spricht die Erwartungen aus, die das Volk auf den Messias als den Retter aus Elend setzt. Der Chor schließt sich mit dem milden Satze ^Wenn der Herr die

428 ^^-

Gefangenen«, der auf »Träumen« prächtig malt, diesem Ausdruck von Hoffnung und Bitte an und leitet in ein bewegtes Bild von Frieden, Glück und Freude über, wel- ches schließlich zu dem Ausgangspunkt der Szene, dem »Hosianna«, zurückkommt und, hier angelangt, dem Jubel und der Freude einen neuen energischen Ausdruck in der Doppelfuge »Singet dem Herrn ein neues Lied« gibt. Eine kurze Episode, in Welcher die Interpellation eines Phari- säers die Existenz einer feindlichen Partei ahnen läßt, hebt die Wirkung dieses hochgestimmten Schlußteils wesentlich. Jetzt ergreift Christus wieder das Wort und zwar zum ersten Male zu einer längeren ernsten Rede, die auf eine trübe Zukunft hinweist. Der Chor antwortet mit »Unser Reigen ist in Wehklagen Verkehret«, einer Nummer, die die festlich und jubelnd begonnene Einzugs- szene mit einem eigentümlich traurigen Tone abschließt. Es ist eine große Macht der Stimmung in diesem Chore, der einfach melodisch dahinfließt. In den ruhigen Gang der Klage si^hlagen die Akzente bei »0 Wehe« auf- schreckend hinein. Kaum eine andere Nummer des »Christus« prägt sich dem Gemüt so tief ein wie dieser umflorte Gesang. Kenner werden bemerken, daß die Erfindung darin etwas von Grauns »Tod Jesu« (»Unsere Seele ist gebeuget«) beeinflußt ist.

Die zweite Szene »Christi Abendmahl mit seinen Jüngern« geht über den Inhalt ihres Titels hinaus bis zum Verrate des Judas und zur Gefangennahme des Herrn. Einen längeren musikalischen Ruhepunkt findet sie erst in dem altertümlich gefärbten, sechsstimmig fugierenden Schlußchor: »Wir gingen Alle in der Irre«. An Umfang ihm nachstehend, an Gehalt und Entschie- denheit der Tonsprache aber überragend ist der Chor »Wehe, wehe, sie haben ein Bubenstück usw.« zu be- zeichnen. Die Szene wechselt sehr lebendig zwischen dramatischen und betrachtenden Sätzen. Die biblischen Reden der Jünger sind in ausdrucksvoller Kürze ein- gereiht. Unter den knapperen betrachtenden Num- mern ist die eigentümlichste der Chor »Siehe, ich

^ U9 ^—

stehe vor der Tür usw.«, den die Altstimmen allein vor- tragen.

Mit der folgenden Szene »Petrus verleugnet Chris- tum« beginnt Kiel die zweite Abteilung seines Oratoriums. Die Szene der Verleugnung ist nur kurz ausgeführt aber sehr geistvoll. Nach dem Chor »Wahrlich usw.« spielen die Instrumente eine Reihe von Motiven, mit welchen die Jünger in der vorhergehenden Abendmahlszene die Versicherung der Treue und des Todesmuts »Und wenn ich mit dir sterben müßte«, »Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen?« gaben. In der nächsten Szene »Christus vor dem Hohenpriester« hat Kiel zwei Priesterchöre: »Er ist des Todes schuldig« und »Weis- sage,' wer ist es, -^ der dich schlug« in einen Satz zu- sammengefaßt und in einer eigentümlichen Kombination diesen in den Männerstimmen spielenden Ausbrüchen der Wut und des rohen Spottes in dem Unisono von Sopran und Alt einen choralartigen Gesang gegenüber- gestellt, welcher diese Szene der Grausamkeit mit einem heiligen, verklärenden Licht überstrahlt. Die nun fol- gende Szene »Christus vor Pilato« ist die imposanteste des ganzen Werkes und muß als Meisterstück moderner Passionsrealistik angesehen werden. Nur bei Schicht ist ein ähnlicher Aufbau der langen Gerichtsszene versucht worden: Es ist ein einziger großer Satz, der in den er- öffnenden Akkorden der Bläser die Feierlichkeit des Hoch- gerichts kurz andeutet und dann in einer wahren Flut von leidenschaftlicher Erregung, in einem gewaltigen un- aufhaltsamen Zuge dahinstürmt. Kiel folgt hier nicht dem Matthäus oder Johannes allein; alle die Züge, wel- che diese beiden Evangelisten, und die anderen dazu, von dem Fanatismus des Volkes mitteilen, sind in das Bild aufgenommen. Aber Kiel hat sie nicht in geson- derten Nummern der Reihe nach ausgeführt, sondern genial zusammengedrängt, hier kurz skizzierend, dort einen Augenblick verweilend. Die Einheit der Szene sichert der Hauptsatz, das »Kreuzige, kreuzige«, zu wel- chem die Menge in allen Lagen der Verhandlungen, im

II, 4. 9

Übermut wie in der Verlegenheit, immer wieder zurück- kehrt wie zu .einem ausgegebenen Losungswort. Den Höhepunkt bildet der Satz: »Sein Blut komme über uns*, der mit einer dämonischen Entschiedenheit ge- geben ist. Von da ab beruhigt sich der Ton der Szene; der Spott und die Wut flackern n^ch dem Arioso von Christus nur noch einmal auf in »Der du den Tempel Gottes zerbrichst«. Für lyrische Einlagen war diese Szene nicht der Ort; nur ein* kurzer Choräatz, der wie von Eccard klingt: »Siehe, das ist Gottes Lamm«, taucht in der zweiten Hälfte auf. Erst ganz am Schlüsse kommt die hochgeschwellte Stimmung des christlichen Herzens zum Wort. Es ist in dem Choral: »Mein Jesu stirbt, die Felsen beben« nach der Stelle »es ist voll- bracht«. Während die Stimmen die Weise in ihrer schlichtesten Form hinsingen, grollt in dem Orchester ein Nachklang des Erdbebens, welches nach der Bibel das Scheiden des Herrn begleitete. Dann wird der Choral zum zweiten Male zu einem kunstvolleren Satze mit fugierenden Stimmen, in Bachscher Weise, aufge- nommen. Die Originalmelodie des Chorals ist die alte Neumarksche von »Wer nur den lieben Gott läßt walten«.

Wie Kiel der Passion als Vorgeschichte den Einzug am Palmsonntag vorausgeschickt hat, so läßt er zu ihr auch als Epilog eine Skizze der ihr nächstfolgenden wunderbaren Ereignisse hinzutreten: Auferstehung und Himmelfahrt. Aus diesem dritten Teile des »Christus« sind besonders das Duett der beiden Marien, hervor- zuheben und der nachkomponierte an innigen Wen- dungen reiche Dialog zwischen Christus und Petrus. Kurz ehe das Werk mit dem »Hallelujah« und der auf ein seltsam weit ausschreitendes Thema »Das ist der Stein« aufgebauten Fuge abschließt, klingen nochmals die friedlichen Motive seiner Einleitung an.

Nach Kiel hat es Felix ^Woyrsch versucht, den Bann zu durchbrechen, in den Bachs Matthäuspassion den neueren Anbau der Gattung unverkennbar gelegt hat. Das Riesenwerk drückt auf den Mut der musikalischen

Passionstalente noch weit mehr wie Beethovens >Neunte< auf den der Symphoniker. Bach zu überbieten, wird man besser garnicht erst versuchen. Daß es möglich ist, trotz der unvermeidlichen Berührungspunkte mit ihm, doch die Leidensgeschichte selbständig und bedeutend musikalisch darzustellen, hat Kiel bewiesen.

An Kiel schließt sich nun Woyrsch mit seinem >Pas- F, Woyrioli, sionsoratoriumc (op. 45) für gemischten Chor, Soli, Or- Passions- ehester und Orgel, wohl unbeabsichtigt, aber tatsächlich Oratorium, sehr eng an. Der entscheidende Verwandtschaftszug liegt darin, daß beide die für die oratorische Form notwendigen Textergänzungen der Bibel entnehmen. Dieses Verfahren, von dem S. Bach beachtenswerterweise trotz seines Eifers für Kirche und Bibel abgesehen hat, ist durch Mendels- sohns »Paulus« in die neue Passionskomposition hinein- gekommen. Es würde ^ sich leicht nachweisen lassen, daß auch Kiel durch diese Schranke beengt worden ist. Woyrsch ist aber in der Wahl der eingelegten Bibel- worte noch viel weniger glücklich gewesen als sein Vor- gänger. Seine Einschaltungen kommen häufig zur Un- zeit und sie sagen nicht das, was die Situation verlangt. Insbesondere fällt in dieser Beziehung auf, daß Woyrsch, da wo die Vorgänge empören und entrüsten, nur Klage und Trauer hat. Der dramatischen Schärfe der biblischen Passionsschilderung ist hierdurch mehr als einmal die Spitze abgebrochen. So fehlt, obgleich der Komponist nicht einem einzelnen Evangelisten, sondern der sogenannten Evan- gelienharmonie folgt, die Episode mit Barrabas, die die Worte' »Laß ihn kreuzigen« so entsetzlich macht. So wird die Erklärung der Juden »Wir haben keinen König usw.« des beißenden Charakters, den sie als Antwort auf die Frage des Pilatus hat, dadurch entkleidet, daß sie in Verkoppelung mit »Laß ihn kreuzigen« eintritt.

Zum Teil sind diese Abschwächungen der allgemeinen Unklarheit darüber entsprungen, ob die Passion als litur- gisches oder als dramatisches Kunstwerk aufzufassen ist; die Erinnerung an die Bachschen Choräle hat in den Entwurf mit hineingespielt, obwohl der Komponist auf

9*

132

L.-Perosi, Markus- passion.

Choräle verzichtet. Zum Teil beruhen sie auf individuellen Mängeln. Bei einer besseren Anlage des Textes hätte dieses Passionsoratorium wahrscheinlich viel mehr Ver- breitung gefunden, als das der Fall gewesen ist. Denn seine musikalischen Quahtäten sind nach mehreren Rich- tungen bedeutend. Ernste Hingabe, warme Empfindung, schöne einfache Erfindung fehlen fast nirgends. Der Chorsatz ist mannigfaltig, reich, frei und immer reif und meisterlich. Auch die Soli sind gehaltvoll; nur haben die Rezitative des Evangelisten zu viel Ausdruck und die Reden des Heilands treten nicht genug hervor. An ein- zelnen Stellen schädigt sie der Komponist dadurch, daß er den Instrumenten die Hauptstimme gibt, obgleich das Wort den ersten Anspruch hat, gehört zu werden. An andern Stellen vermißt man die selbständige Betätigung des Orchesters. Einen solchen Fall bietet namentlich der Augenblick, wo auf Gethsemane die Jünger fliehen. Da galt es den Seelenzustand des Herrn so zu malen, wie es nur die Instrumente können. Statt auf diesem moder- nen Wege seine Aufgabe zu lösen, betritt der Komponist mit dem Chor: »Jerusalem, die du tötest usw.« einen Gemeinplatz. Mit sinnreichen und beziehungsvollen Nach- spielen, mit der Verwendung des Chorals »0 Gottes Lamm unschuldig«, hat aber auch Woyrsch auf die Mittel hin- gewiesen, die es der zukünftigen Passionskomposition er- möglichen werden, sich neben S. Bach zu behaupten.

Daß das heutige, über L. v. Beethoven und über Wagner gegangene Orchester als lyrischer Dolmetsch auch für die Passion vortrefflich verwertet werden kann, zeigt der jüngste, weiter bekannte Vertreter der Gattung Lorenzo Perosi. Seine Markuspassion la Pas- sione di Cristo secondo S. Marco, Trilogia sacra lautet der ausführliche Titel fällt durch die Menge selb- ständiger Orchestersätze auf, die als längere und ktlrzere Vorspiele, Nachspiele und Zwischenspiele die Passions- vorgänge einleiten oder schließen. Sie bewähren sich als Mittel den Gefühlsgehalt der Szene, unter Um- ständen eindringlicher und reicher, jedenfalls aber in

U3 ^

viel kürzerer Zeit und ohne den Fortgang der Handlang wesentlich aufzuhalten, auszusprechen als durch ein- gelegte Gesänge, seien es nun Chor- oder Solosätze. Perosi, dem das große Verdienst nicht abgesprochen werden kann, in Italien den abgestorbenen Sinn für das Oratorium wieder erwefckt zu haben, hat auch für die Passionskomposition durch diese freie Anwendung eines Prinzips des neuen Musikdramas eine für alle Länder bedeutende Anregung gegeben. Die reformatorischen Wendungen seiner Markuspassion gehen jedoch noch viel weiter. Es kommt ihm nicht bloß auf die Zu- ziehung modernster Ausdrucksmittel an, sondern in der Form eines praktischen Experiments stellt er den Grund- satz auf: der Komponist soll die Kunst aller Zeiten, auch der ältesten, kennen und alles benützen, was sich er- probt hat. Ein zweiter Garissimi versucht er mit außer- ordentlicher Kühnheit die Verschmelzung jetziger und früherer Kunst an einem der bedeutendsten Kompositions- entwürfe. Es ist ihm dabei gelungen zu zeigen, daß die musikalische Darstellung der Passion auch heute noch den Rahmen der alten Lektion und den liturgischen Charakter einhalten und dabei doch den Forderungen des modernen Empfindungslebens Rechnung tragen kann. Die Aufführung der drei Abteilungen, in die der Kompo- nist das ganze Werk zerlegt: das Abendmahl, das GQbet Christi am ölberg, der Tod des Erlösers nimmt nur soviel Zeit in Anspruch, als es der Gottesdienst er- laubt Die wichtige Frage, ob eine Passionskomposition streng kirchlich und doch modern gehalten sein könne, ist also von Perosi durchaus befriedigend gelöst und darin liegt der Wert seiner Markuspassion und zugleich der Hinweis darauf, daß sie mit den Ansprüchen einer Konzertpassion nicht gemessen werden darf. Sie würde aber auch als solche Bedeutung erlangt haben, wenn dem nicht beträchtliche Schwächen des innern Stils ent- gegenständen. Man bemerkt sie sofort, wenn man nur die Behandlung der Erzählerpartie prüft. Diese ist bald einem Solisten, bald dem Chor übergeben. Die erzählenden

Solisten wechseln, sie singen bald im Ghoralton, bald in der modernen Weise der begleiteten Monodie. Der er- zählende Chor ist ein Stück aus der Rnnst der Motetten- passion, aber innerhalb dieser Sphäre wandelt er die Physiognomie höchst wunderlich. Bald singt er harmo- nisierten Akzent und Falsobordoni, bald fugiert er und bald folgt er ganz frei den Impulsen des natürUchen Aus- drucks. Nicht der Wechsel der musikalischen Mittel an sich ist das Anstößige an diesem Verfahren, sondern der befremdende Eindruck ruht darauf, daß diesem Wechsel keine klar erkennbaren Prinzipien zugrunde liegen, daß er sich nicht aus dem Charakter der Situation erklärt und somit willkürlich erscheint.

Es kommt ein zweiter Umstand hinzu, die Zensur der Leistung Perosis herabzudrücken. Das ist die Un- gleichheit im Wert der Erfindung. In den Orchester- sätzen und noch mehr in den Reden Christi kommen Passionstöne ergreifendster Art vor, Äußerungen des Schmerzes, die dem »Parsifal« zur Zierde gereichen würden. Daneben stehen aber mehr als einmal Motive, die zu leicht wiegen, ja, selbst offenbare Floskeln.

Eine weitblickende, auf breiter Bildung stehende Persönlichkeit, ein großes, sowohl musikalisch, als all- gemein künstlerisch großes Talent zeigt diese Markus- passio^ Perosis. Kommt der Komponist über den Ek- lektizismus hinweg zur Reife und Geschlossenheit, so wird die italienische und die internationale Musik- geschichte seinen Namen an einen hervorragenden Platz zu stellen haben.

r

* Zweites Kapitel

Messen.

Liturgisch wichtiger als die Passion ist die Messe. Passionsmusiken kommen nur in der Charzeit vor, Mes- sen das ganze Kirchenjahr hindurch bei jedem Haupt- «gottesdienst. Die Messe ist in der katholischen Kirche das >Hochamt« und dazu bestimmt, den wichtigsten, erhebendsten und geheimnisvollsten religiösen Akt, die Darbringung des Opfers, vorzubereiten und zu begleiten. Die Protestanten haben diesen Zweck der Messe ih die Feier des Abendmahls gelegt. Auf ihrer Seite begann die Trennung der Meßmüsik von den heiligen Zeremonien, zu welchen sie gehört, am Ende des 48. Jahrhunderts. In katholischen Ländern hat man sich erst später entschlos- sen Messen ganz oder in Bruchstücken im Konzert zuzu- lassen. Als Beethoven im Jahre 4808 in einer Akademie zwei Sätze seiner C dur-Messe, und noch 4 824, als er drei Stücke seiner »Missa solemnist aufführte, mußte er sie hinter den Titel »Hymnen im kirchlichen Stile« verstecken. Auch in Norddeutschland haben sich am Beginn des 4 9. 'Jahrhunderts Stimmen erhoben, welche die Aufführung von Messen außerhalb des Gottesdienstes als eine »Ent- weihung« verurteilten*). Diese Auffassung ist wohl zu i^treng. Gewiß wird ein »Agnus dei« den gläubigen

*) Allgemeine Musikal. Zeitung, Jahrgang 1814: Alte und neue Eiichenmusik.

\

4^6 ♦>—

Christen in dem Augenblicke am mächtigsten ergreifen, in welchem er zur heiligen Handlung am Altare nieder- kniet. Wenn er aber zu.^iner anderen Zeit denselben Satz wieder hört und sich durch ihn an die gehoben- sten Stunden erinnert und ermahnt fühlt, die er im Gottesdienst erlebt hat ist das Entweihung? Das Agnus dei und wie dieses alle Me^sätze haben einen selbständigen Inhalt, der auch dann noch erhebend, die Frömmigkeit erweckend, die Menschengedanken auf die göttliche Gnade und Herrlichkeit, aufs Ewige .fahrend, wirken wird, wenn der liturgische Zusammenhang dieser Sätze ganz vergessen sein sollte. Dieses Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Agnus dei enthalten Gedanken, welche der Christ zu jeder Zeit und an jedem Orte versteht. Das Kyrie bringt in spruchartiger Kürze ein Gebet um die Hülfe Gottes und seines Sohnes. Wie die des Sanctus und Agnus dei, kehren seine Worte außer in der Messe auch in anderen liturgischen Stücken wieder. Das Gloria, ursprünglich zur Morgen- hymne bestimmt und leim Aufgang der Sonne ange- stimmt, ist ein Lobgesang. Sein jubelnder und dankender Grundcharakter erhält nur in dem Abschnitt: >Qui tollis peccata mundi usw.« einen Gegensatz demütig bittender Art: »miserere nobis« und »suscipe deprecationem nos- tram«. Das Credo ist der wortreichste und längste,' für die Komposition der schwierigste der Meßsätze. Seinen Inhalt bildet das christliche Glaubensbekenntnis in der Fassung des Nicäischen Konzils. Die Tonsetzer gaben ihm in der Regel eine feste, feierliche und schwung- volle Musik; besonders tritt in ihr der Abschnitt hervor, welcher Christi Menschwerdung und sein Leiden und Sterben behandelt. An den Stellen: »et incarnatus est«, »et homo factus est«, »crucifixus est« darf man in der besten Zeit der musikalischen Messe das Erhabenste suchen, was sich musikalisch denken läßt. Das Sanc- tus, welches den Eingang zur eigentlichen Kommum^, zur heiligen Wandlung bildet, ist das dreimalige »Heilig«, der bekannte Gesang, welchen Jesaias aus dem Munde

—^ U7 ^—

der den Thron Gottes umschwebenden Seraphim hörte. An- gefügt sind die Jabebrufe,mit welchen die Juden Christum am Palmsonntage bei seinem Einzüge in Jerusalem begrüßten: das »Benedictus« und »Osanna«. Das Agnus deiwar in der ältesten Zeit der eigentliche Kommuniongesang. Es enthält in wenigen schlichten Worten den Ausdru^ demütigster, liebe- vollster Hingebung zu dem Heiland, der sich für die Mensch- heit geopfert hat, und die Bitte um Gnade und Frieden. In älteren Messen wird der Satz in dreifach verschiedener Mu- sik wiederholt. Das >Dona nobis pacem« ist erst im späteren Mittelalter hineingekommen und heute noch nicht als allge- mein gültig anerkannt, z. B. nicht im Lateran, wo noch drei- mal »miserere nobis« gesungen wird. Diese fünf Hauptsätze des Messentextes sind zwar alle sehr alt (am ältesten das Sanctus), aber doch zu verschiedenen Zeiten entstanden. Erst später faßte man sie zu einem zusammenhängenden Ganzen zusammen, welches als das Ordinarium der Messe, d, h. der im Text stets gleichbleibende Teil, bezeichnet wird. Vervollständigt wird dieses Ordinarium durch Introitus, Gra- duale, Alleluja, Tractus, Sequenz und Communio, Gesänge, welche im Text je nach den Festzeiten {de tempore] wech- seln*). Mit Rücksichten auf den Text, seine Geschichte und sein Wesen, läßt sich demnach ein Einspruch gegen den Konzertgebrauch von bedeutenden Messen nicht begründen. Ganz anders aber verhält es sich mit der Frage, ob ihre Musik die Verpflanzung in den fremden Boden erlaubt? Diese Frage kann, soweit es sich um ganze Messen han- delt, nicht für sehr viele Werke bejaht werden. Sie muß für alle unbegleiteten Messen verneint werden. Auch die besten Meister der a capella-Periode, auch die Dufay und die Palestrina, auch die Gabrieli, Haßler, die mit sechzehn Stimmen operierenden Venetianer und auch ihre neuesten Nachläufer vertragen es nicht, daß voll- ständige Messen von ihnen im Konzert aufgeführt werden. Nur der Lehrzweck kann es entschuldigen, wenn in der

♦) Näheres bei Peter Wagner, Geschichte der Messe (I. TeU bis 1600), Leipzig, 1913.

Gegenwart der Versuch doch 2uweilen gewagt wird. Wirklich erhauea kann man immer nur mit der Vorfüh- rung einzelner, bedachtsam ausgewählter Sätze. Will man den organischen Zusammenhang zwischen den Teilen des Ordinariums, der ja ein wesentlicher Zug in der Meister- schaft der alten a capella-Messe ist, zeigen, so hat man sich auf zwei Sätze, etwa ein Kyrie und das dazu ge- j hörige Gloria, ein Credo und das dazu gehörige Sanctus S oder Agnus Dei zu beschränken. Schon drei Sätze sind i zuviel; ein ganzes Ordinarium ermüdet aber auch den X willigsten Zuhörer und gibt dem Un gelehrten einen ganz falschen Begriff von den alten Meistern. Denn die Musik des Ordinariums ist nur Stückwerk. Zum musikalischen Ganzen gehören noch die oben genannten »de tempore« wechselnden Einleitungs- und Zwischengesänge, die vom Introitus ab die Stimmung des kirchlichen Festtags immer wieder beleben, immer anders aber doch einheitlich auf das zu feiernde Ereignis zurückkommen. Damit rechnet die Musik des Ordinariums. Sie rechnet ferner mit den zuweilen sehr langen Unterbrechungen zwischen den einzelnen Sätzen, mit den heiligen Zeremonien, mit den einfachen litmrgischen Intonationen der Priester, mit den Glöckchen und Glocken, die in die stillen Gebete von Priester und Gemeinde hineinklingen. Daran können sich Fantasie und musikalische Aufnahmefähigkeit der Ge- meinde immer wieder erfrischen. Die « Liturgie ist also ! die Seele und die unentbehrliche Stütze jeder a capella- ; Messe. Sobald sie fehlt, reichen die natürlichen Mittel ( des unbegleiteten Ghorsatzes für eine halbstündige Be- i lastung nicht aus und daran vermag die größte Virtuosi- . tat der Komposition und des Vortrags nichts wesentliches zu ändern. Eine andere Schwierigkeit für die Verwen- dung von a capella- Messen im heutigen Konzert liegt daran, daß sie für ganz andere Chöre gedacht sind, als wir hei^e besitzen. Sie wollen in allen Stimmen solistisch geschulte Sänger, sie wollen den Alt mit Männern besetzt sehen und im Sopran höchstens Knaben aber niemals Frauenstimmen. Auch aus diesem Grunde tun Dutzende

(

—<♦ U9 ♦— '

von Aufführangen bester Chorvereine für das volle Verständnis einer Palestrinaschen Messe nicht ein Zehn- tel von dem, was hierzu ein einziges Hochamt, etwa im Regensbnrger Dom, beiträgt

Die begleitete Messe, der die reichen und mannig- faltigen Darstellungsmittel des modernen Orchesters zu Gebote stehen, ist musikalisch selbständiger und zur vollständigen Verwendung im Konzert geeigneter, als die reine Vokalmesse. Aber auch hier sind die Aus- nahmen zahlreich und viele bedeutende Werke der Gat- tung schöpfen einen beträchtlichen Teil ihrer Lebens- kraft aus der Szenerie des Gottesdienstes. Dahin gehört z. B. Gherubinis Requiem für Männerstimmen.

Im katholischen Gottesdienste begegnen wir noch einer dritten Stilart der musikalischen Messe: der Messe im gregorianischen Choralton. Sie ist die älteste Form des Messengesangs und hat vor den beiden jüngeren den Vorzug, daß sie den Text knapp und deutlich, nämlich in einstimmigen, unbegleiteten Melodien wiedergibt Von dem Choralton der Passion unterscheidet sich aber der der Messe dadurch, daß er nicht accentus, sondern con- centus, nicht Deklamation, sondern wirklicher Gesang ist, daß er aus Melodien besteht, die durch Intervallenwechsel zwischen Worten und Silben, durch kürzere oder längere Tonfiguren auf bedeutungsvollen Wort- und Satzteilen die inneren seelischen Eindrücke des Textes äußern, die Empfindung und Phantasie des Hörers beleben. Der gregorianische Choral hat das Schönste und Reichste, was seine Melodik bietet, in den Rezitationen der Meß- texte. Mit Recht wehren darum die päpstlichen Bestim- mungen der neuesten Zeit der Vernachlässigung der Choralmesse. Auch Luther suchte die innigen und feu- rigen Messintonationen wenigstens zum Teil seiner Kirche zu erhalten und nach seinem Sinn sind sie von einigen wenigen protestantischen Reformagenden jüngst wieder aufgenommen worden. Bei einem Vergleich der drei Stilarten wird die kirchliche Glanzpartie der Messen- ^lusik von der Vok^messe gebildet; im engeren Sinne

^ 440 ♦—

von den für den a capella-Chor geschriebenen Messen, welche in der großen Vokalperiode des 4 5. und i 6. Jahr- hunderts entstanden sind. Eine durch den fortwährenden Wettbewerb auf gleichem Gebiete immer wieder ergänzte Reihe großer Meister, eine Fantasie und gestaltende Hand fast ausschließlich im kirchlichen Dienst festhaltende Schulung, eine glückliche Übereinstimmung im Grund- wesen der musikalischen Mittel und der dichterischen Ideen kommen zusammen, um den Werken dieser Periode einen Vorsprung zu geben, welcher von der späteren Zeit noch nicht wieder hat eingeholt werden können. Der Kenner dieser Zeit wird einem Bach und Beethoven seine Bewunderung nicht versagen; aber er wird von ihren Messen immer wieder mit Liebe und Sehnsucht zu seinem Palestrina zurückkehren. Nur in dieser Periode erscheint ihm kirchliches und künstlerisches Ideal voll- ständig sich deckend. Ihre Musik kommt aus dem Himmel; in den Werken der späteren Meister drängt sich das Menschliche, der irdische Jammer und die irdische Leiden- schaft stark vor.

Die Menge der in jener großen Vokalperiode ent- standenen Messen ist erstaunlich bedeutend. Wir haben Anekdoten, welche die Fruchtbarkeit der alten Meister auf diesem Gebiete beleuchten, wir sehen sie tatsächlich bestätigt, wenn wir in den Bibliotheken Urtischau halten nach den Notendrucken aus jener Periode. Die Petrucci in Venedig, die Petrejus in Nürnberg, Moderne in Lyon, di^ Druckerpressen in allen Ländern waren unablässig beschäftigt, in groß Folio Stimmbücher von Messen her- zustellen. Vorher und daneben her ging aber das Ab- schreiben mit der Feder, das Malen jener fast finger- großen Noten, deren Tintenreichtum im Laufe der Zeit nicht selten das Papier zerfressen hat. Die Messe galt den Tonsetzern als Hauptziel ihres Ehrgeizes ; die Meister verö£fentlichten die Werke dieser Gattung bändeweise, und unternehmende Verleger stellten aus den Bänden verschiedener Meister wieder neue als Mustersammlungen her. Wir übersehen heute den Reichtum immer noch nicht

U4 ♦—

vollständig; erst eine Durchforschung sämtlicher Archive in den Kulturländern kann ein genaues statistisches Bild ergeben. Sie sowohl als der weitere Teil der Auf- gabe: die Übertragung der alten Vorlagen aus der Men- suralnote in die neue, aus den Stimmen in Partitur, setzt eine Arbeitsteilung nach gemeinsamem Plane voraus Bis ans Ende des 4 9. Jahrhunderts gingen die Unter- nehmer von Neudrucken ohne Fühlung untereinander vor. Dabei erhielten wir, um nur ein Beispiel anzuführen, die herrliche Messe: »Assumpta est Maria« von Palestrina, seit 4 850 in drei verschiedenen Ausgaben. Dagegen war ein Meister wie Clemens non papa, welcher in den Mustersammlungen des 4 6. Jahrhunderts eine erste Stelle einnimmt und wegen seiner frischen, kecken Themen verdient, als Komponist von Messen in keiner Sammlung vertreten; ja selbst Ambros scheint ihn als solchen nur wenig zu kennen. Ähnlich verhielt es sich mit Morales und anderen Lieblingskomponisten der alten Sammel- werke von Messen.

Den Anstoß zu Neuausgaben haben die musikalischen Geschichtsschreiber gegeben: Martini, Forkel, Burney, Kiesewetter, denen neuere, wie Ambros und Schlecht gefolgt sind. Auch Theoretiker, wie H. Bellermann, schlössen sich dem Vorgang der älteren Fachgenossen: Glarean, L. Heyden, Kircher, getreu, dieser Veröffent- lichung von Bruchstücken aus alten Messen an. Als erste selbständige Sammlung alter Musik erschien von 4 760 ab in London die von Boyce und Arnold redigierte »GathedralMusic«. In Deutschland beginnt die Geschichte der Wiederbelebung alter Tonkunst durch Partitur drucke mit Kirnbergers Ausgabe Haßlerscher Kirchengesänge im Jahre 4774, in Frankreich ein Menschenalter später mit den verschiedenen Veröffentlichungen Kt Chorons (4808: Principes de composition, 4 827: Journal de Chant usw.). Fr. Rochlitz, B. Braune, St. Lück, F. Commer, F. Proske, Niedermayer, Eslava, Maldeghem, H. Expert, haben dann die Arbeit mit verschiedenen Zielen fortgesetzt; als sie immer weitere Beachtung fand, widmeten sich ihr

große besondere Interessen verbände, wie die Eitnersche Gesellschaft für Musikforschung, die »Vereeniging for Nord-Nederlands Muziekgeschiedenis«, die Musical Anti- quarian Society, die Plainsong and Mediaeval Musical Society, die Gesellschaft zur Herausgabe dänischer Musik usw. Einen wichtigen Aufschwung machte die Bewe- gung unter dem Einfluß der Gesamtausgabe von Werken einzelner Großmeister. Wiederum waren hier die Eng- länder für Händel, für Purcell vorgegangen, die Deutschen brachten mit der Bachausgabe die Entscheidung. Sie hat bewirkt, daß Palestrina, Lasso, Schütz, Händel, Ra- meau. Gluck mit ihren gesamten erhaltenen Werken in kritisch zuverlässigen Ausgaben vor uns stehen. Die Wohl- tat dieses Verfahrens kommt bereits auch Komponisten der neueren Zeit zu gute. Für die ältere Musik hat es die weitere Folge gehabt, . daß ihre Interessen jetzt in einem großen Stil uns nach einheitlichem Plan gesichert sind. Deutschland und Österreich haben die Veröffent- lichung bedeutender Komponisten aus früheren Jahr- hunderten zur Staatssache gemacht, die Gesellschaften, die in diesen beiden Ländern »Denkmäler detr Tonkunst« aufstellen, arbeiten im Auftrag und mit Unterstützung der Kultusministerien von Berlin, München und Wien. Es kann nicht ausbleiben, daß die übrigen Kulturstaaten diesem Beispiele folgen und damit die Musikgeschichte in den Stand setzen, der Geschichte der bildenden Künste überall ebenbürtig zu sein. Zu wünschen ist nur, daß das Tempo der Nachfolge nicht gar zu langsam ge- nommen wird.

Immerhin ist die Masse der in hundertjähriger Arbeit zu Tage geförderten Neuausgaben alter Musik eine statt- liche Leistung und sie reicht schon heute dazu aus, dem höher strebenden Musikfreunde auch ein halbwegs ge- nügendes Bild von der Entwicklung der Messe zu geben. Eine Hauptlücke besteht hier noch für die jerste Periode der mehrstimmigen Vokalmesse. Die Gradualien, die Allelujagesänge, also die Nebenstücke des Messentextes, waren es, an denen zuerst der neue Stil probiert

wurde ♦) und zwar vorwiegend in der Weise des Perotinus, der zwar mehrstimmig anfängt und schließt, die Mitte aber einstimmig hält. Was das für eine Art von Mehrstimmig- keit war, läßt sich aus den Proben, die Coussemaker in seiner »Historie de l'Harmonie« nach dem Codex von Montpellier gibt, nicht sicher genug beurteilen. Auch wenn man mit dam berüchtigten Organum rechnet, bleibt in dieser Quelle harmonisch zu vieles befremdlich. Melo- disch hingegen wirken die einzelnen Stimmen, nament- lich die oberste (das Triplum) auch bei Coussemaker reich und fesselnd, ipiteinander verglichen bilden sie scharf unterschiedene Individuen, Mitglieder eines fast dramatisch gedachten Ensembles. Was für Gründe da- für gesprochen haben mögen, die Hauptsätze der Messe zunächst noch dem einstimmigen Vortrag vorzubehalten, wissen wir nicht. Tatsächlich hat es in einzelnen Gegen- den sehr lange gedauert, ehe sich auch für die eigent- liche Messe der Figuralgesang einbürgerte, in Lübeck z. B. bis zum Jahre 4 486, in Lüneburg bis 4 546**).

Die miehrstimmige Komposition des Ordinariums be- ginnt im Anfang des U. Jahrhunderts, ihr frühestes bis jetzt bekanntes Dokument ist die sogenannte »Messe von Tournai«, die ebenfalls Coussemaker in Partiturform (Tournai 4 864) und in einer Übertragung veröffentlicht hat, die wiederum, am meisten wegen der ununterbrochen tänzelnden Triolen, sehr bedenklich erscheint.

Für die weiteren Leistungen auf diesem Gebiete lagen bis vor kurzem nur französische, mittel- und ober- italienische, sowie englische Handschriften vor. Nachdem Davey, Stainer, Wooldridge u. a. in den letzten Jahren Proben aus ihren heimischen Quellen veröffentlicht

*) Fr. Ludwig: Die mehrstimmige Musik des ^4. Jahr- hunderts (SammeU>ände der Internationalen Mnsikgesellschaft IV, 6) und derselbe: Studien über die Geschichte der mehr- stimmigen Musik im Mittelalter (ebenda Y, 2).

**) G. Stiehl: Zur Geschichte des Kirchenchors usw. in Lübeck (Lübecksche Blätter 1886).

hatten, gab dann Johannes Wolf*) mit wohlgewählten Auszügen über dieses gesamte Material einen Über- blick, der die Wichtigkeit der Pariser und Florentiner Schule voll aufdeckt, die Bedeutung Dunstables für die Polyphonie neu bestätigt. Mit drei- und vierstimmigen Meßsätzen sind neben diesem »Vater der Polyphonie« nun auch G. de Machaut, B. de Padua, C. de Feltre, A. de Givitate, J. B. Anglicus vertreten und zwar mit wenigstens sinnvollen Arbeiten. Auch de Vitry und Matteo de Perugia können jetzt nicht lange mehr fremd bleiben.

Die früher genannten neuen Sammelwerke kommen erst für die Messen der Dufay sehen Zeit zu Hülfe. Mit ihm, mit Ockeghem und Obrecht treten bekai^ntlich die Nieder- länder, die Hauptträger damaliger Kultur, die Führung in der Musik an und liefern 4 50 Jahre lang den Residenzen und Metropolen aller Länder die Sänger und Komponisten. Mit den Messen dieser Meister zuerst weitere Kreise be- kannt gemacht zu haben, ist das Verdienst Rochlitzens. Er brachte in seiner » Sammlung vorzüglicher Gesangstücke der anerkannt größten .... Meister usw.« (Leipzig 4833 bis 4 840) kürzere und längere Bruchstücke aus Messen jener Meister. Sie sind indessen wenig benutzt worden. Wohl äußert sich in ihnen ein starkes poetisches, gern ans Volks- tümliche anknüpfendes Vermögen in herzlichen Gesang- wendungen^ aber man stieß sich an die scheinbar leeren und ungelenken Harmonien. Wurden doch seit Forkel die Leistungen der ersten Niederländischen Periode in den Handbüchern der Musikgeschichte als Vorstufe der Kunst, als abschreckendes Beispiel einer in bloßen Künsteleien steckengebliebenen Richtung behandelt. Auch die be- geisterten Darstellungen, in denen Kiesewetter und sein Neffe Ambros für die Bedeutung dieser Werke eintraten, vermochten das Vorurteil nicht zu brechen. Selbst Männer, wie Carl Riedel, gingen an Dufay und Genossen vorbei.

Diese Ansicht hat sich erst geändert, als im Jahre 4 892 ein von Daniel de Lange in Amsterdam aus

•) J. Wolf: Geschichte der Mensnralnotatlon, 1904.

U5 ♦—

wirklichen Solisten und Kunstsängern gebildeter Elitechor sich mit Dufay und Genossen auf die Reise begab. Die Leistungen dieses Amsterdamer Kirchenchores haben wohl überall, wo sie in deutschen Städten gehört wurden, den Schleier weggezogen und die Niederländische Musik des 15. Jahrhunderts in ihrem wahrem Lichte gezeigt, in dem Lichte einer vollen Kunst, einer Kunst, in der nichts von Archaismus, von Anfängerschaft, von unfertiger Ent- wicklung und Experiment zu bemerken ist. Im Gegen- teil, diese Werke und diese Meister bedeuten, soweit es natürliche und wirksame Ausnützung der Menschenstimme, Macht, Freiheit und Schöheit der Melodik betrifft, die höchste Blütezeit der mehrstimmigen Vokalmusik. Nach dieser Richtung ist die erste niederländische Zeit nie- mals übelrtroffen, nur hie und da von Einzelnen, wie von S.Bach (z.B. in »Komm Jesu, komm«) annähernd erreicht worden. Dieser ihr Vorzug hängt eng zusammen mit der Natur der sogenannten »Chöre«, für welche diese Kompositionen geschrieben worden sind. - Komponisten wie Dufay, Ockeghem waren Sänger in diesen Chören. Für Bachsche Motetten, Beethovensche Messen, für die Mehrzahl der neueren Chorwerke möchten wir unsere starken Dilettantenvereine nicht missen, sie sind außer- dem für die musikalische Volkserziehung unersetzlich. Aber wollen wir die a capella- Musik der frühesten Peri- oden nicht bloß gelegentlich kosten, sondern wirklich wieder aufleben und den musikaüschen Geist unsrer Zeit von ihr befruchten sehen, so müssen wir wieder nach Chören streben, die jenen de Langeschen Chor zum Muster haben. Daß das möghch ist und was dabei er- reicht wird, beweist heute wieder in Amsterdam A. Aver- kamps bekannter »Klein-Koor ä Cappella«.

Von dem heutigen Gebrauchswert der Werke dieser ersten Niederländer abgesehen, haben sie geschichtlich bedeutend gewirkt. Sie beherrschen zwei Jahrhunderte hindurch fast ausschli^lich die Gestaltung des kunst- ra^ßigen Tonsatzes mit dem Gesetze, welches sie für die Gedankenentwicklung ausgebildet hatten. Dieses Gesetz

II, 1. <0

—^ U6 *—

hieß: Einheit in der Mehrheit, Festhalten am gegebenen Thema, gründliche Ausnutzung seiner wesentlichen Züge. Von diesem Gesichtspunkte gingen auch die viel ge- tadelten Künsteleien, die ausgeklügelten und ausgetiftelten Nachahmungen aus, welche von den Messen der Ockeghem und Obrecht aus den Sinn der auf Josquin folgenden Nie- derländer so ungebührüch gefangen nehmen. In dieser Periode wurde es der höchste Triumph, mit einer einzigen Notenzeile sämtliche mit einander singende Stimmen ver- sorgen zu können. Die erste singt das Thema, wie es geschrieben steht, die zweite schneller oder langsamer in einem ganz anderen Rhythmus, eine dritte läßt alle Pausen weg, fängt das Thema beim Ende an, die vierte kehrt vom Anfang aus alle Intervalle um usw. Zur An- deutung dieser Kunstgriffe bildete man ein verwickeltes Zeichensystem aus, welches die Notenlehre dieser Zeit mit den Schwierigkeiten einer raffinierten Geheimschrift umgibt. Wir haben es bei dieser . Satzweise mit einer Übertreibung eines an und für sich vorzüglichen Prinzips zu tun. Die Auswüchse schwinden am Ende -des 4 6. Jahr- hunderts wieder. Aber auf dem Grunde des Systems, wel- chen jene Niederländer des 45. Jahrhunderts gelegt haben, stehen auch Orlando die Lasso und ebenfalls Palestrina. Es ist bekannt genug, daß den Messen der hier in Rede stehenden Vokalperiode Gesangmelodien zu Grunde gelegt wurden, welche offen oder versteckt alle einzelnen Sätze des Werkes durchziehen. Diese Merkmelodien cantus finnus ist ihr Name waren ursprünglich dem gre- gorianischen Choral entnommen. Bald aber trat, bis zum Trienter Konzil, neben diese Quelle das Volkslied, dessen einfachere und bekanntere Weisen den Hörern mehr entgegenkamen und auch den Sängern die Ent- zifferung der Notenrätsel erleichterten. Gerade die un- scheinbarsten und leichtesten Weisen aus der letzteren Klasse wurden am häufigsten benutzt. Über das The-

»l'homme arm^« W ' ' ' ^' -^

haben fast alle Komponisten ihre Messe geschrieben;

U7 «-—

einzelne mehrere*;. Ähnlich belieht waren die sogenannten

yoces musicales, die sechs ersten Töne unserer heutigen ' |

Durtonleiter (das Hexachord) als cantus firmus. Von diesem cantus firmus bekamen die Messen ihren Namen. '

In alten Sammlungen sind oft nur diese Titel >Si bona suscepimus«, »Mort»ma' priv^« usw. angegeben und die Namen der Tonsetzer nicht. Es leuchtet ein, wie das Fest- halten an einem solchen Grundthema dem einheitlichen Charakter eines vielsätzigen Werkes zugute kommen konnte. Die Weise, in welcher der cantus firmus in den Messen behandelt wurde, ist außerordentUch mannig- faltig. In der früheren Zeit vorwiegend dem Tenor zugewiesen, rückt er später auch in andere Stimmen, besonders gern in den Sopran vor. Den einen dient der cantus firmns nur als mechanischer Anhalt. Die Notenreihe wird so ins Breite gezogen, daß von einer melodischen Wirkung . keine Rede sein kann. Von anderen wird das Grundthema geistig ausgenutzt: bald in der Art der Bachschen Choralfigurationen , bald in dem Stile unserer neuesten Motiveniwicklung und the- matischen Umgestaltung, welcher gerade in den Messen der Vokalperiode einen bedeutenden Vorläufer hat. Man trifft da Arbeiten* in reicher Anzahl, die den Uneingeweih- ten durch die völlige Übereinstimmung mit der neuesten Instrumentalperiode Beethoven -Liszt in der Gedanken- technik überraschen. Kaum unterliegt es auch dem Zweifel, daß die ganze Satzkunst der Niederländer, vonDufay bis zu Sweelinck, von instrumentalen Einflüssen mitbeherrscbt worden ist**). Daß in der zweiten Hälfte des 4 6. Jahrhun- derts für die Sängerchöre Positive angeschafft wurden, ist sicher belegt***), die Mitwirkung von Zinken und Posaunen

*) Baini gibt in seiner Palestrinabiogiaphle ein vollstan- diges Verzeichnis.

**) Davon ausgebend, hat Arnold Schering die Messenkom- position der Niederländer im -wesentlichen für Orgelmusik er-* klirt (Die niederländische Orgelmesse usw., Leipzig, 1912).

***) ü. a. durch 0. Stiehl a. a. 0., durch PedreU In der Einleitung zur Victoria-Ausgabe.

40*

-♦ 148 ♦—

steht schon für frühere Zeiten fest. Die in großen und kleinen Zügen in vielen Werken der ganzen Periode her- vortretende Gleichgültigkeit gegen Wort und Text, die Hin- neigung zu kompakteren, massigen und derhen Wirkungen, das Vordringen des akkordischen Elements, hängt mit jenen instrumentalen Einflüssen zusammAi. Die Unterlegung d^s Textes nach bestimmten Regeln war Sache der Sänger*), denen .nur der liturgische Anfangswortlaut hingeschrieben wurde. Von ihm lenkten sie dann oft in Improvisationen ab, die profan und unpassend waren. Daß in das Gloria an Marientagen eine Stanze an die heilige Jungfrau hineingesungen wurde, an anderen Hei- ligenfesten Entsprechendes, erregt kaum Anstoß. Den gewählten cantus firmus, wenn er aus dem Volkslied entnommen war, mit seinen eigenen Worten zu geben, war allgemein gebräuchlich: Es kommt in den früheren Werken Palestrinas noch vor: z. B. in seiner Messe: »Ecce sacerdos«. An sich war diese Textm engerei eine Konsequenz der Mehrstimmigkeit: andre Weisen, andre Worte! Wie sie heute noch im dramatischen Ensemble herrscht, war sie die Norm in der Motette des H. Jahr- hunderts gewesen. Die berühmte Reform der Kirchen- musik durch das Trienter Konzil suchte vor allem den hierbei eingerissenen Mißbrauch in der Textbehandlung, soweit die Komponisten dazu durch die Benutzung von Volksliedern Veranlassung gaben, zu steuern. Trotzdem kehrt die Einmischung fremder Worte in den Meßtext und der Aufbau der Sätze über Volkslieder, auch später, wie Ambros in seiner > Geschichte der Musik« belegt, ver- einzelt wieder. Die guten Messen des 4 5. Jahrhunderts lassen sich jedenfalls mit reinem und einfachem Text singen. Geschah dies nicht, so war es Schuld der Sänger. Die Komponisten haben die Aufgabe höchstens hie und da im Tenor dadurch erschwert, daß sie dessen Sätze

*) Siebe J. Qaadflieg: Über Textanterlage und Textbehand- lung in kirchlichen Vokalwerken (Haberls Kirchenmusikalisches Jahrbuch 1903. S. 95. u. ff.).

-U9

durcli Pausen zerreißen. Ein »Qui« fängt an, erst zwölf Takte später folgt dann »toUis peccata mundi«. Oder aber sie unterbrechen im Credo von Heiligenmessen durch ein

»Sancte'' ora pro nobisc, wohl auch durch Einschaltung

eines Stückes der dem Festtag gewidmeten Antiphon. Auch die kontrapunktischen Künste drängen sich bei den frühe- ren Niederländern noch nicht vor. Der Tenor singt in jedem der fünf Sätze wieder dieselbe Grundmelodie voll- ständig durch, im Gloria und Credo sogar zwei- und dreimal, aber in so breiten Rhythmen, daß sie als Ganzes gar nicht melodisch wirken kann. So isf s wenigstens die Regel. Ausnahmen finden sich, wenn in den langen Sätzen der cantus firmus zum drittenmal angestimmt wird. Da kommt er gewöhnlich in seiner natürlichen Gestalt, als Solo- stimme und als Hauptstimme und wirkt durch seinen geistigen Gehalt unmittelbar. Im allgemeinen aber wurde diese Grundmelodie in erster Linie als technisches Gerüst der Komposition verwendet, in zweiter gab sie motivisches Material für die kontrapunktierenden Stimmen ab. Die Melodien, mit denen der Sopran die Hauptsätze anfängt, sind dem cantus firmus fast immer wörtlich oder häufiger durch Umb&dungen entnommen. In D u f ay s Messe über »Se Dnfay. la face ay pale« heißt die erste Strophe des Cantus firmus : A TeBÄR ^ Ihre letzten

^ft."('°'Jirrr'^"ri"^"f

5E Noten kehrt

Ky. ri . e e . lei (Be la/aceay pa .

son der Komponist '*^ zu dem Motiv

^

f

JüC.

m

um und mit diesem Motiv an der Spitze beginnen nun alle Teile entweder mit: oder mit:

iiitnurpiii ri|ijE,|«i^i pjji ^fJUk

Auch Motive aus der Mitte und dem Ende des Grundgesangs werden von den Nebenstimmen übernommen und verarbei- tet. So erhalten in der zitierten Messe fast ^ ^ alle Satzschlüsse ein naives Gepräge durch fe ^ j | J: die Verwendung der Dreiklangsnoten: *'• "* .

^ «50- ♦—

Gewiß also ist die Mehrstimmigkeit in den Messen von Dufay und Genossen sinnvoll und kunstvoll. Aber trotz- dem ist das nicht der Hauptzug, durch den jene Musik fesselt und musterhaft wirkt. Sondern der liegt, wie schon erwähnt, in der Melodik der einzelnen Stimmen. Aus diesen langen, schönen Gängen strömt eine Fülle von Fan- tasie und Empfindung; natürlich und einfach setzt sich Ton an Ton und doch in lauter gewählten, mit immer wieder überraschenden und eigenen Wendungen. Es ist, als wolle dieser Dufay der neuen Zeit noch einmal den ganzen Wert der früheren Kunst zeigen, den Segen der tausendjährigen Arbeit um die Ausbildung des unbegleiteten einstimmigen Gesangs, der sich in dem Namen »Gregorianischer Choral« birgt. Die neuen Mittel verwendet er schlicht und sekundär, aber nichtsdestoweniger oft mit durchschlagender Wirkung. Am erstaunlichsten da, wo er den Vortritt im Ensemble wechseln läßt. Es sind fast immer Augenblicke köstlicher Spannung, wenn die neue Führerin einsetzt! Auch seine Nachahmungen, insbesondere die zahlreichen Kanons ha- ben den Reiz der Ursprünglichkeit und entsprechen dem unwillkürlichen Verlangen des Zuhörers, einem schönen Gedanken nachzusinnen. Ebenso ist seine Harmonie, wo sie von der Ruhe und dem Zusehen zur Tätigkeit über- geht, Ausdruck inneren Lebens. Sie unterstützt die Be- tonung der führenden Stimme und die Wiedergabe der Stimmung. Dahin gehören auch die zahlreichen Akkord- schlüsse ohne Terz. Ihre geschlechtslose N|itur schärft namentUch am Ende großer Sätze den Eindruck einer erhabenen Gottes Verehrung. Nimmt man hinzu, was Du- fays Messen auch, für die Vergrößerung der Satzformen, somit für die Erweiterung des musikalischen Gedanken- lebens bedeuten, so ergibt sich, daß er als ein Meister erster Ordnung zu betrachten und zu behandeln, als solcher aber in dei^ musikalischen Geschichtsschreibung, ge- schweige denn in der Praxis, noch nicht zu seinem Rechte gekommen ist. Er leidet immer noch unter dem Irrtum des Hermann Fink und des Goclicus, die ihn bekanntlich unter die Mathematiker gestellt haben. Die österreichischen

\

Denkmäler der Tonkunst haben sich darum durch den Druck zweier vollständigen Messen Dufays ein Verdienst erworben*). Mit der ersten, der hier eben behandelten über >Se la face ay pale«, teilt die zweite, die sog. Caput- Messe a. d. Jahre 4 463 den formellen Aufbau der Sätze über denselben cantus firmus, ein Lied, oder ein Hymnus, von dessen Text nur das erste Wort »caputc feststeht. Ferner fangen auch in ihr alle Sätze mit dem gleichen Motive an und drittens ist die oberste Stimme wieder in einem Grade Hauptstimme, daß viele Stücke wie beglei- teter Sologesang wirken. Neu ist aber, daß an ihrer Be- weglichkeit und Bevorzugung auch der Alt (Contra I) teil- nimmt. Von der ersten weicht die zweite Messe weiter darin ab, daß sämtliche fünf Abteilungen und auch ein- zelne Unterabteilungen zweistimmig (Sopran und Alt) beginnen und erst nach 4 6 oder mehr einmal nach 40 Takten der cantus firmus (Tenor) nebst unterster Stimme (Contra II) und damit der volle vierstimmige Chor einsetzt. Auch dkrin unterscheidet sich die Caput-Messe von der vorigen, daß die Motive des durchaus gesanglich und flüssig gehaltenen cantus firmus nur wenig für die Kontrapunkte benutzt werden und daß Nachahmungen spärlich auftauchen. Die Arbeit zeigt also wenig hohe Kunst, aber um so mehr Andacht und Hingabe an den Text. Hierin ragen besonders das Christe eleison, das Qui tollis, Crucifixus, Benedictus und im allgemeinen die Stellen hervor, an denen Demut und Bitte herrschen.

Unter den an derselben Stelle mitgeteilten Bruchstücken aus. Messen Dufays fesselt am stärksten ein Gloria mit der Bezeichnung »ad modum tubae«. Die beiden obern Stimmen (Sopran) singen im Kanon breite Melodien über den liturgi- schen Text, die zwei Unterstimmen werdeirgeblasen und lö- sen einander mit dem Ostinato-Motiv c cg | c g | ab. Das Kunst- stück erinnert etwas an die berühmte vox regis des Josquin, in der Wirkung gleicht es einem Gesang mit Glockengeläute.

*) Denkmäler der Tonkunst in Östeneicb. Siebenter und neunzehnter Jahrgang.

—^ 152 ^—

Die Trienter Handschriften, denen die Österreichischen Denkmäler die Dufkyschen Stücke entnommen haben, enthalten noch sehr viele Messen des 4 5. Jahrhunderts, darunter neben Arbeiten von Dunstable, Binchois und Ockeghem auch solche von ungenannten Komponisten. In letztere Kategorie hineinzublicken, hat ein großes Interesse. Denn sie bildet in der Regel die Folie zu den Meisterwerken und enthüllt Können und Methode des Durchschnitts. Es ist daher sehr, willkommen, daß die genannten Denkmäler auch drei Messen aus dieser Klasse veröffentlichten*). Sie haben alle drei als can- tus, firmus das im 4 5. Jahrhundert sel^r beliebte Lied >0 rosa bella*; die erste und zweite ist im dreistimmigen, die dritte, hiernach wohl die jüngere, im vierstimmigen Satz durchgeführt. Auch diese Messen schöpfen noch aus der melodisch reichen Vergangenheit, aber sie stehen in der Kunst, Maß zu halten, unendlich weit hinter Dufay zurück. In diesem Stimmkolleg versteht niemand, sich unterzuordnen, die besten Gedanken Verden durch die geschäftigen Begleitstimmen und ihre unruhige Harmonie^ meistens verdorben. Die dritte Messe wird außer nach dem Trienter Codex noch in einer zweiten, einer Mode- neser Handschrift entnommenen Lesart mitgeteilt. In der

ersten setzt die 0 ,|. ,, i r-, r-.i i 1 R n ^^ ^^^ oberste Stimme ^V j J* Jj J JJlJ J f'^JJ l Modene- das Kyrie mit: *^ Ky.ri'T ~ . .^« ser mit: Q \ . , I _-, , I u. k I ^i^ uiid so bis ans Ende des ro ^'' j^ J J JD I J^f JU I Agnus weiter. Vielleicht sang

J^y-" - ® man die Melodie auch in Mo- dena so, wie man sie in Trient schrieb. Daß aber die Trienter Handschrift die Existenz der später als »wesent- liche Manieren« allgemein gebräuchlichen melodischen Improvisationen, aus denen der begleitete Sologesang mit hervorging, schon für das 15. Jahrhundert nachweist, ist wichtig. Ookegbem, Daß mit Ockeghem eine Verschiebung der Satz-

") Denkmäler der Tonkunst in Österreich. Elfter Jahrgang.

—^ 103 ♦—

technik zu Gunsten verwickelterer Nachahmungen und eifrigerer Ausnutzung von Themen und Motiven eintritt, ist unbestreitbar. Ookeghem bewegt sich in diesem Stil- gebiet mit einem zuweilen dem Übermut nahen Selbst- bewußtsein und Kraftgefühl und würde sich darüber ge- freut haben, daß die Theoretiker seit Glarean immer wieder diese Seite seiner Kunst betont und mit Beispielen aus seinen Messen belegt haben. Sie ist aber trotzdem nicht die wesentliche, und Josquin hätte die schöne »Deploration« auf den Tod-Ockeghems nicht komponiert, wenn Ockeghem sich nicht tief ins Herz und ins Gemüt seiner Zeit eingesungen hätte. De Lange, auch Aver- kamp haben mit den Aufführungen Ockeghemscher Sätze die Gegenwart hierüber wiederholt belehrt, und seit kurzem liegen endlich auch zwei vollständige Messen Ockeghems im Neudruck vor*). Die erste zwingt, weil ihr cantus firmus ebenfalls aus der Melodie des »Caput usw.« be- steht, zum Vergleich mit Dufay. Dabei ergibt sich als hauptsächlichster äußrer Unterschied, daß der^weistimmige Satz zu Gunsten des vierstimmigen beschränkt ist. An planmäßiger Führung der Stimmen, Ausnutzung der Motive, an sinnvoller Kunst bietet sie sehr wenig; mit Ausnahme des weichen und vertrauensvollen Kyrie ist sie auch an Stellen zwingenden Ausdrucks sehr arm. Der einzige eigen- tümliche Zug, der durch die ganze Messe festgehalten wird, besteht in einer Schrulle : der cantus firmus setzt im Schlußtakt der einzelnen Sätze unerwartet nach kürzeren und längeren Pausen noch einmal mit dem Grundton ein. An Gehalt steht diese Caput-Messe tief unter der des Dufay. Sie kann kaum echt und nicht die Frucht dessel- ben Baumes sein, von dem die an derselben Stelle ver- öffentlichte Serviteur-Messe Ockeghems stammt. Dort die tastende Mittelmäßigkeit, hier der Meister, wie er in der Geschichte seit Jahrhunderten gelebt hat. Schon im ersten Kyrie beginnen die Nachahmungen und Kanons und durchziehen nun alle Sätze des Werks in wechselnder

♦) Denkmäler der Tonkunst in Österreich, Jahrgang XIX.

Gestalt, im Einklang, in der Oktave und der Quint, hie und da auf lange Melodieperioden, häufiger auf kurze Motive gestellt, hald auf zwei Stimmen beschränkt, bald von allen . vieren eng hintereinander aufgenommen. Wir stehen vor einem Künstler, der die Form in der Gewalt hat und durch sie fesselt Diese Form aber belebt ein Geist von ent- schiedener Eigentümlichkeit, eine überraschend leidenschaft- liche und feurige Auffassung des Textes, die sich mit Vorliebe rhythmisch äußert. Die dunkle Glutj die so oft die Musik dieser Messe durchleuchtet, beruht in den meisten Fällen auf dem einfachen Mittel einer Ausweichung nach ' dem unteren Halbton. Namentüch der Schluß des Gloria wirkt dadurch erhaben, auch die zahlreichen Einschnitte steigern die Feierhchkeit. Das an Kanons besonders reiche Credo bringt diesen Schluß ziemlich wörtlich wieder. Im Sanctus überrascht der Einsatz des Osanna mit einem naiv weltlichen, an leicht beschwingten Reigen «mkhngenden Ton. Das durch Innigkeit ausgezeichnete Agnus Dei greift am Ende abrundend auf den Schluß des Kyrie zurück.

Der gleiche Band der Österreichischen Denkmäler bringt über das Lied vom »Serviteurc noch eine zweite Messe von einem ungenannten Komponisten, der dem Stil nach der Übergangszeit zwischen Dufay 'und Ockeghem anzu- gehören scheint. Sie ist nur dreistimmig, ziemlich kraftlos, im Ausdruck ungleich, aber durch die reichere Verwendung sogenannter Sequenzen im Melodienbau bemerkenswert.

Der letzten an derselben Stelle veröffentlichten, ebenfalls dreistimmigen Messe, deren Komponist wieder unbekannt ist, liegt als cantus firmus ein hübsches deutsches Lied von der »grünen Linde« zugrunde. Im »Confiteor« stimmen es die drei Stimmen im unverfälschten Volkston an. Es ist aber auf den Stil der ganzen Messe etwas vom Wesen des Volksliedes übergegangen, besonders eine ungewöhn- liche Knappheit der Perioden und Einfachheit des melodi- schen Ausdrucks. Im Gloria und Credo verzichtet der Komponist fast auf alle Melismen, weiß aber auch hier mit sinnigen Nachahmungen zu fesseln. Die merkwürdigste Stelle ist das »Et homo factus est«. Sie ist syllabisch und

homophon gesetzt, aber Fermaten über jedem Akkord be- kunden das Wunder und die Ergriffenheit.

Ockeghems Messen sind von dem der Entstehungszeit nähen Verlag nicht und erst seit Glarean von den Theore- tikern beachtet worden*).

Sein Nachfolger Jakob Obrecht ist dagegen gleich obreoht in den ersten Meßdrucken Petruccis und den weitem Sammelwerken verhältnismäßig reich vertreten. Dem ent- spricht es, daß die »Vereeniging voor Noord-Nederlands Muzickgeschiedenis« seit Jahren mit einer auf zwanzig Werke berechneten Gesamtausgabe der Messen Obrechts**), die gegenwärtig bis zum i 5. Stück gediehen ist, vorgeht. Da erregt im ersten Band die Messe über »Fortuna desperata« das Interesse, weil ihr noch heute eine große geschicht- liche Bedeutung als Denkmal einer Übergangszeit zukommt. Sie weist deutlich mit einer Menge schön geschwungener, stimmungsmächtiger, klar und frei dahinziehender Me- lodien auf Dufay hin. Die schönsten stehen im Credo beim »Deum verum«, beim »Confiteor«, dann im »Pleni sunt coeU« und im zweiten »Agnus Dei«. Der Sinn für die gewaltige poetische Wirkung der einzelnen Stimme äußert sich bei Obrecht zuweilen ganz originell. Eine Hauptstelle dieser Art ist das Osanna, wo der Tenor ganz unerwartet in den Akkord der anderen dreimal das »in exelsis« hineinruft. Mit der Schule Ockeghems hat sie die fugierenden Satzanfange und eine Reihe von Kunst- stücken gemein, die ausnahmsweise sich auch einmal dem Barocken nähern. Das Äußerste ist in dieser Be- ziehung im Benedictus getan, wo die Oberstimme des »qui venit in nomine Domini« siebenmal, immer von demselben Ton aus ansetzt. Das erstemal heißt es:

ji -J»J J I „^, das zweitemal: ^.JjJ JJ J^

*) Über Münchner Aufführungen Ockeghemscher Messen unter Lasso siehe Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 1910, S. 55. ♦♦} Unter Leitung von Professor Dr. Johannes Wolf,

-^ 4 56 ♦—

und so geht es allmählich die ganze Skala hinab in immer längeren Strecken, bis endUch das kleine f erreicht ist. Dazu kommen aber ganz neue Stilprinzipi^n; das wich- tigste ist die Wirkung mit Kontrasten: Feierliche, breite Rhythmen wechseln mit kurzen, lebhaften, und ähnlich löst homophoner Vollklang des ganzen Chors häufig plötzHch einzeln singende Stimmen ab. Man trifft auch Steige- rungen im Ausdruck durch das später so allgemein ange- wendete Mittel der Sequenz. Besonders schön wirkt hier- durch das >misererec im zweiten Agnus Dei. Hier folgt auch der Steigerung der Gegensatz der Abtönung. Die Messe ist nicht bloß ein Denkmal der Zeit, sondern mehr noch zeigt sie den besonderen Komponisten als eine durchaus selb- ständige, bedeutende und liebenswürdige Persönhchkeit. Eine Neigung zur Überschwenglichkeit ist ihr markantester Zug. Aus ihr kommen die freudevollen Wiederholungen naiver Motive, die sich durch alle Sätze ziehen. Einer rechnerischen Kunst ganz fremd sind sie nur der Begeiste- rung und Kindlichkeit möghch. Im q j. jr_ " _ . jr dritten Agnus Dei singt der zweite Te- fef^rTl' Tp^

■rtfw oi rt 11 nrl7tirnn viermal 1iint«»rckinaTir1ar V ' ' <•

nor einundzwanzigmal hintereinander: und sonst nichts. Eine Schwäche der Messe hegt in der Menge und Gleichheit der Kadenzen. Die Wirkung scheitert aber hieran nicht. Schwierig wird sie durch die Besetzung. Der Alt, der ihre höchste Stimme bildet, ist ein Männer- alt. Wir werden um solcher Werke willen die Kunst des Falsettierens wieder lernen müssen.

Die weiteren, mittlerweile neu veröffentlichten Messen Obrechts überraschen äußerlich dadurch, daß in jeder der cantu$ firmus anders behandelt ist. In der einen erscheint er vollständig, in der anderen stückweise, bald dienen seine Motive dem Ausdruck, bald vermag sie das Ohr überhaupt nicht zu fassen. Das Vorrecht des Tenors ist grundsätzUch gebrochen, und besonders zahlreich sind die Stellen, an denen die Grundmelodie von der Oberstimme in langen, breiten Noten vorgetragen und von den Begleit- stimmen iii bewegten Rhythmen umkreist wird. Sie weisen sowohl auf den Gemeindegesang, wie auf die spätere Kunst-

r

form des »Chorals mit Motiven« hin und bilden einen der volkstümlichen Züge, die in der Kunst Obrechts mehrfach hervortreten. Zu ihnen gehören auch di6 Parallelbewe- gungen, die in jeder Art von mehrstimmigem Satz bei ihm häufiger sind als bei seinen Vorgängern, ganz besonders aber äußern sie sich in seiner exemplarischen Neigung zu ^ melodischen Sequenzen. Nur ausnahmsweise beruhen sie auf Übermut oder gar Lässigkeit, meistens sind sie der Aus- druck kühner, schwärmerischer, inbrünstiger Empfindung, üriter den weiteren formellen Neuerungen Obrechts ist noch die Zurt^ckstellung des ungeraden Taktes zu erwähnen, in einzelnen Messen nimmt er mit einem ganz bescheidenen Anteü vorlieb, in anderen steht er mit dem geraden gleich. Die musikalisch geistige Bedeutung der neu veröffent- lichten Obrecht-Messen ist verschieden, aber keiner fehlt in der Auffassung größerer oder kleinerer Textgruppen der Stempel einer phantasiereichen und trotz der reichen Verwendung zeitücher Formeln ursprüngUchen Persönlich- keit. In derMissa »Je ne dem an de«, wo im Kyrie und Gloria schon die leittonlosen Schlüsse so eigen wirken, tritt sie zuerst mächtiger beim Qui tollis mit der Über- schwenglichkeit der vom Tenor und Alt gebrachten Se- quenzen hervor: Beim Et incarnatus überrascht der Auf- schwung, mit dem das De spiritu sancto einsetzt, beim Confiteor der schwere Ernst des Bekenntnisses, im Agnus Dei die Bedrücktheit der immer nach unten fallenden Melodie, beim Qui tollis peccata mundi die Feierlichkeit der langgehaltenen Akkorde. Mehr als diese knüpft die folgende, die wohl nach der griechischen Herkunft ihres cantus firmus als MissaGraecorum bezeichnete an den Stil der Vorzeit an. Ihren schönen und tiefen Eindruck bestimmen die in Dufays Art sich vom Stimmennetz ab- lösenden ausdrucksvollen Einzelmelodien. Zuerst und am höchsten zeichnet sich hierdurch das Miserere nobis im Gloria aus und von da ab beruht namentlich die Schönheit der Satzschlüsse darauf, daß eine rührige Mittel- etimme in den ausklingenden Chorakkord einen letzten sindringlichen Spruch hineinsingt In der Auffassung tritt

das Suscipe deprecationem durch den schuldbeladenen Ton, das Altissimus, Jesu Christe durch die siebenmahge Wiederholung desselben Motivs^ hervor. Nahe verwandt mit dieser Stelle ist im Credo das Visibilium omnium. Am wärmsten kommt das Dankgefühl, das die ganze Messe durchströmt, im Agnus Dei zum Ausdruck. Beim cum sancto spiritu (dem Schlußsatz des Gloria) begegnet uns zum ersten Male die Obrechtsche Eigenheit, wichtige Text- teile als kurzen Anhang zu geben.

Die MessQ über > Malheur me batc gipfelt im ersten Agnus Dei, eine der schönsten und frömmsten Komposi- tionen des Textes. Das Christe eleison, dem ein durch Kürze und phrygische Bedrücktheit eigenes Kyrie vorher- geht, zeichnet sich durch den drängenden , Charakter der Bitte aus. Im übrigen ist diese Messe reicher als andere an Akkordwirkungen, die bedeutendsten enthalten Credo, und Osanna.

Auch die folgende Messe, der die Hymne »Salvfe dive parens« zugrunde liegt, schließt mit einem außer- ordentlich eindrucksvollen Agnus Dei. Besonders wirkt es durch die Klarheit, mit der die drei Sätze über den gleichen Text sich von einander abheben; fragend der erste, zu- sprechend der zweite, der dritte, in dem zum ersten Male an Stelle des Miserere das Dona nobis pacem gesungen wird, im seligen Ton der Erhörung, der Ruhe und des Friedens. Reicher als andere ist diese Messe an Stellen ungewöhnücher Textauffassung. Dahin gehört vor allem der Eingang des Gloria, bei dem die oberen Stimmen gegen die Starrheit des orgelpunktartig (auf e) festliegenden Basses fast wild in synkopierten Rhythmen anrüttehir Im Credo zeichnet sich der Abschnitt von Et incarnatus bis zum Sepultus est durch eine stille Feierlichkeit aus, zu der das Qui cum Patre usw. einen sehr kräftigen, eine längere Strecke als Kanon zweier Bässe verlaufenden Gegensatz bildet. Im Sanctus äußert sich beim Pleni sunt coeli die Freude in einem liebenswürdig tändelnden Ton^ von dem wieder die feierliche Ergriffenheit des Osanna stark absticht. Das Klangbild des ganzen Werkes erhält sein besonderes

-^ 159 ♦—

Gepräge durjch den ziemlich orgelmäßigen Wechsel von zweistimmigem und vierstimmigem Satz.

Die Messe »Sub tuum praesidium«, die dreistim- mig beginnt und siebenstimmig schließt, unterscheidet sich von anderen durch die durchgehenden motettenartigen, Uturgiewidrigen Textmischungen. Der erste Sopran singt in alle Sätze des Ordinariums das Sub tuum praesidium, andere Stimmen singen weitere Hymnentexte hinein. Hier- durdi und durch das Vorwalten des ungeraden Taktes wird es wahrscheinlich, daß diese Messe eine der frühesten Arbeiten Obrechts ist. Auch^ an Gehalt der Erfindung und Arbeit steht sie hinter anderen zurück und ist besonders reich an instrumentalen Wendungen.

Dagegen ist die ihr in der Gesamtausgabe folgende Messe über das deutsche lied »Maria zart« eine der bedeutendsten Leistungen des Meisters, besonders ergreift sie durch den tiefen Ernst in der Textauffassung. Mit einzelnen Stellen, dem Schluß des Credo besonders, auch mit den schwärmerisch schweifenden Melodien des Sanctus schlägt sie hierdurch eine unmittelbare Brücke hinüber zum 19. Jahrhundert und zu Cherubini. Diesem Sanctus verwandt und ebenbürtig ist das der Messe >De sancto Marti no, ihr Agnus Dei dagegen ist vom gleichen Stamm, wie das in »Salve dive parens«. Zu den leichter wiegen- den Messen gehört wieder die über »Si dedero«. For- mell eigen ist ihr die häufig fugenartige Behandlung des cantus firmus und die Menge instrumentaler Stellen. Die Messe über » 0 quam suayis est« hat ihren besonderen Zug in dem lieblichen und fröhlichen Grundton. Nach- denklichkeit, Ernst und Tiefe, die in ihr auf das Qui toUis (des Gloria) und das Et resurrexit beschränkt sind, herr- schen in der nächsten Messe, der über »Sicut spina rosam« wieder vor. Besonders fallen in ihr die Ver- wandtschaft von Kyrie und Sanctus und der sehr wirk- same Kanon bei Ex Maria Virgine (Sopran und Alt) auf.

Zu Obrechts reichsten Leistungen gehören die beiden Messen über »Ave Regina Coelorum« und über > Petrus Apostolicus«. Die letztere enthält den an

—-* 4 60 ^^—

Stimmung und Erfindung bedeutendsten Gloriasatz, den wir von Obrecht besitzen, die andere zeigt die Gegensätze seiner merkwürdigen und großen Künstlernatur ungewöhn- lich dicht beieinander. Schon das Kyrie überrascht durch seine Unruhe und Aufregung. Das Gloria folgt in einer freudigen Kraft, die beim Laudamus te zu einem förmUchen Sequenzenerguß führt. Dann setzen beim Domine fili herrliche und verschiedenthch geformte Kanons dreier Stimmen ein. Ihr bewegtes Sinnen und Preisen geht beim Qui tollis in einen durch Ruhe rührenden Ton des Mit- leids über. Das Credo, das mit dem Gloria gleichlautend als von Tenor und Baß wiederholter Zwiegesang von Sopran und Alt anfangt, kargt in dem Abschnitt der Menschwerdung und der Passion aufs äußerste mit Aus- druck, um so begeisterter kUngt dann das Et iterum,'bei cujus regni non erit finis sind sogar für Obrecht eine große Ausnahme malerische Wendungen eingestreut. AußerordentUch schön wirkt auch das »Et unam sanctam catholicam ecclesiam«, das ist unverkennbar der Ton der innigsten liebe und Hingabe. Im Sanctus, das mit einem gewissen Eigensinn an bestimmten Formeln festhält, ent- faltet die Musik ihr Herz heiid Osanna. Der Kanon, den hier die beiden Mittelstimmen ausführen, ist eine der schönsten und wärmsten, Sopran und Baß scheinen in- strumentale Begleitstimmen zu sein.

Das vorläufig letzte Stück der Gesamtausgabe, die Messe > Adieu, mes amoursc, der das Kyrie, das Benedictus und das Agnus Dei fehlen, neigt zu einem gleichmäßig vollen Satz, bevorzugt in ihm auffällig die oberste Stimme und tritt nach Kunst und Ausdruck unter den /Werken des Meisters zurück.

Der Hauptwert von Obrechts Messenschatz liegt darin, daß in den besten Stücken außer der reichen und eigenen Persönlichkeit des Komponisten sich auch die Stimme einer musikalisch bedeutenden und besonderen Zeit ausspricht. Der reiche melodische Segen der gregorianischen Periode lebt in ihnen nochmals auf und gelangt durch die neu hinzugetretene Kunst, insbesondere die des kanonischen

Satzes zu gesteigerter Geltung. Etwas geschichtlichen Sinn verlangt allerdings die Obrechtsche Kunst. Wer sie voll würdigen will, muß auf die harten Dissonanzen und die scharfen Sprachmittel der neueren Musik verzichten können, muß sich in den religiösen Geist des Mittelalters und sogar in die weiten Domeshallen zu versetzen wissen, für die diese Messen geschrieben wurden. Auch ihre lebensvolle Aufführung begegnet heute beträchtlichen Schwierigkeiten bezüglich der Besetzung und des Vortrags. Mit Ausnahme von »Malheur me batc und »Salve diveparens« schließen sie die Mitwirkung von eigentlichen Sopranstim- men aus, verlangen überall Sänger mit leichter Technik und vollendeter Beherrschung des melodischen Ausdrucks, hie und da deren Ersatz durch Instrumente.

Von Dufay bis Obrecht ist die Vokalmesse wesentlich Solistenmesse, am besten mit einem Terzett, einem Quar- tett vollendeter Gesangskünstler zu besetzen. Nach Obrecht wird sie allmählich Chormesse, Chor nicht im heutigen, sondern im Sinne des i 6. Jahrhunderts verstanden. Zum vorläufigen Abschluß gelangt dieser Prozeß mit Jos quin JoBquin de Pr6s. de Pr6s. Er ist den modernen Chorvereinen bekannter. Mit seinem großen »Stabat mater« hat seiner Zeit Carl Riedel in Berlin und Dresden große Erfolge gehabt. Sie sind auch den beiden Messen »Pahge lingua« und »l'homme arm6«, den einzigen, welche bis jetzt im Neudruck voll- ständig vorliegen (Ambros, Gesch., 5. Bd., und Eitner, Publi- kationen usw., 6. Bd.), sicher. Bei den Kennern gelten sie als die bedeutendsten unter den ungefähr zwanzig Messen, welche von Jos quin erhalten sind (alte Drucke: Petrucci, Petrejus), und bringen die eigentümlichen Züge des Mei- sters zu deutlicher Anschauung, dessen Kunst Dr. Martin Luther dem Lerchenschlag zu vergleichen pflegte, dem seine Zeit ohne weiteres jedes schöne Stück Musik, des- sen Autor nicht genannt war, zuschrieb. Noch stärker als bei Obrecht treffen wir in diesen Messen jene herz- liche Naivität, jene Neigung zum Genre und zur Natur- idylle, die die Tonsetzer der Niederlande mit den Malern ihrer Heimat teilen. Im zweiten Kyrie und auch im

^ 462

Gloria von »Fange lingua« kommen wir an Stellen, wo die Musik plötzlich, wider den üblichen Brauch, sich auf einem freundlichen Motive festsetzt und in seligem Be- hagen die liebe Wendung, stehen bleibend, auf- und ab- steigend, wiederholt. Es wirkt wie ein Anklang von Wiegengesang und fernem Glockerigeläute. Viele rührt diese trauliche Einmischung einfach menschlicher Poesie und erinnert sie an die vorraphaelischen Maler der heiligen Geschichte, die gelegentlich dem Christkind drollige und harmlose Kinderstreiche anzudichten pflegen. Daß aber ein solcher Abfall vom strengsten Stile mit sehr scharfen Augen angesehen und hart verdammt wer- den kann, lehrt ein Blick in den Artikel, welchen das eng- Usche Musiklexikon von Grove über >Maß« bringt. Diese freundlichen Episoden in den Messen Josquins sind doch etwas ganz anderes als die fröhliche Kirchenmusik Haydns. Es sind Äußerungen jenes »übersprudelnden Genies«, von dem Glarean spricht. Dann wirft aber Jos- quin in den munteren Fluß seiner Chorstimmen wieder Sätze von einer schauerlich erhabenen, ruhigen und dunklen Feierlichkeit, wie das »Incarnatus est« im Credo von >Pange lingua«*). Dieses »Incarnatus« fst im Zu- sammenhang zugleich ein Beispiel für die Meisterschaft, mit welcher Josquin die Mittel des Chores zu großen Wirkungen verwendet. Daß seine zweistimmigen und dreistimmigen Sätze z. B. in dem Agnus seiner Messe »l'homme arm^« nicht immer formell vollendet sind, war schon dem i 6. Jahrhundert klar. Aber der Eintritt seiner Chorregister wirft stets schlagende Lichter auf den Text. Die Messe »Fange lingua« kann noch dazu dienen, zu zeigen, wie die Tonsetzer jetzt den cantus firmus ergiebiger ausnutzten. Der Anfang der Ritualmelodie der Hymne . r-^ r^ steht am Eingang aller

^ii J I j J J J I J"7^ [M Hauptsätze, melodisch

Pan-ge lin-gua gio-ri - o - sa Und rhythmisch jedesmal frei behandelt, von den vier Stimmen des Chores in

*) Für sich gedruckt auch bei Rochlitz.

—^ 463 ^>>—

Nachahmungen durchgeführt, ähnlich also, wie es schon Dufay, Ockeghem und Obrecht hielten. Aber Josquin ver- wendet die Nebenmotive eifriger und wirksamer als seine Vorgänger. Hier sind es die unter a und b eingezeichneten Melodieteile. Der Hymnus gibt somit der ganzen Messe ihre Signatur und einen hohen Grad geistiger Einheit.

Daß heute auch Musiker und Musikfreunde, ohne Spezialisten der Mensuralforschung zu sein, sich über die weitere Entwicklung der Niederländischen Messe ein Bild machen können, haben J. v. Maldeghem und H. Expert*) dadurch ermöglicht, daß sie in ihren Sammelwerken von P. de laRue, J. F6vin, J. Mouton, Ph. Rogier, Fr. Säle je eine, von Ant. Brumel, J. de Cleve je zwei, von Jacob de Kerle sechs und von Philipp de Monte, acht vollständige Messen veröffentlichten. Die Lücke, die in dem allgemein zugänglichen Anschauungsmaterial zwi- schen Josquin und Lasso bestand, ist mit Hülfe dieser Steinchen nun einigermaßen passierbar, und von den sich bietenden Beobachtungen hat wenigstens ein Teil allgemeine Gültigkeit.

Josquins Auftreten brachte Unruhe in die Nieder- ländische Kunst. Das melodische Prinzip ändert seinen Charakter und seine Stellung. Die Volksmusik drängt sich mit ihren kurzgeschürzten Weisen heran, die präch- tigen langen Melodien werden seltener und wollen nicht mehr recht gelingen. Neben der melodischen versuchen es einzelne Tonsetzer mit iei akkordischen Wirkung oder mit Ansätzen dazu. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts erfolgt dann die Reaktion: Riickkehr zur Polyphonic^ und da beginnt allerdings die Übertreibung, die mit Unrecht der ganzen Niederländischen Schule, auch der Zeit der Dufay, Obrecht, Josquin vorgeworfen wird.

Die Zusammenstellung der gemeinsam singenden Stimmen büßt an Übersichtlichkeit ein, alle möch- ten zugleich Hauptstimmen sein. Die Unfähigkeit zur

*) A. J. ▼. M&ideghem: »Ti^sor Mu8ical«^und Henry Expert: »Maitres Musioiens de la Renaissance fian^aise«.

ii*

464

Unterordnung wächst mit der Zahl der verwendeten Stim- men. Man überladet namentlich die fünfstimmigen Sätze so mit kunstvollen Kombinationen, daß eine die andere erdrückt. Auch Themen und Motive, die zum erstenmal aufgestellt werden, die überhaupt wenig eindringlich sind, kommen sofort in Engführungen aller Stimmen und es wird allmählich zur Regel, daß die Komponisten ihre Einfälle in erster Linie auf die kontrapunktische Ver- wendbarkeit hin prüfen. Die Durchschnittskomposition des 1 6. Jahrhunderts wird wirklich und besonders in der Messe von einer Polyphonie beherrscht, die nicht auf das Konto der Renaissance, sondern auf das der Scholastik gehört. Die krankhafte, maßlose Sucht nach Tiefsinn charakterisiert sie.

Doch konnte dieser polyphone Überschwang sich auf die Dauer nicht allein behaupten. Vor allem ließen sich diejenigen Klangphänomene und Ausdrucksmittel nicht abweisen, die sich unwillkürlich eingebürgert hatten^ seit man mit mehr als drei Stimmen arbeitete: Grup- pierung, Antiphonie, völler Akkordsatz. Auch die nähe- ren Zeitgenossen Josquins bringen sie. J. F4vin führt in der Messe über »Mente tota« mit Teilung und Samm- lung der Chorgruppen ein System durch: Sopran und Alt beginnen, Tenor und Baß folgen, der vierstimmige Chor schließt die Abschnitte. Gar zu oft wiederholt, wie im Gloria, wirkt dieses Verfahren mechanisch, maßvoll an- gewendet belebt es Geist und Fotm. Auch im gleich- zeitigen Chorlied ist paarweises Ablösen und Zusammen- gehen der Stimmen beliebt. Brümel greift in die alte Zeit der , Fauxboudons damit zurück, daß er ganze Textzeilen schlicht auf den Akkord hin deklamiert, genau so wie es in der gleichzeitigen Motettenpassion und wie es in der Psalmenkomposition noch später üblich ist.

Zu einer Umbildung des Niederländischen Stils von innen heraus führten allerdings diese Methoden nicht, seine Herrschaft wurde von außen her gebrochen durch die Venetianische Schule Willaerts und ihren sinnlich zwingenden Effekt der Wechselchöre. Daß die alte

^ 165 *—

Polyphonie zeitweilig bereit war yqx dieser neuen Kunst gänzlich abzudanken, zeigt sehr interessant die Messe »Exultandi tempus« von Fr. Säle, die gegen 1589 in Hall F. Säle, (bei Innsbruck) geschrieben worden ist. Darin ist nur das . Christe eleison Niederländisch, den übrigen Text tragen zwei Chöre antiphonisch, von vier zu vier oder sechs zu sechs Takten wechselnd, an den Hauptstellen zusammentretend, vor. Liedergeist beherrscht die Melodik, die Harmonie be- wegt sich im einfachen akkordischen Satz. Weil aber in Hall die Gesangkräfte nicht zur Bildung zweier eben- bürtiger fünf- und sechsstimmiger Chöre ausreichten, be- setzt Säle den ersten nur mit drei oder vier Solisten, die mit Orgelbegleitung singen. Wieder einmal ein Stück Vorgeschichte von Monodie und Generalbaß! Das Prin- zip der niederländischen Polyphonie vollständig fallen zu lassen, hinderten zwei Tatsachen: Die natürliche Be- rechtigung, die es für jede Art von Mehrstimmigkeit immer wieder erweist^und die ausgezeichneten Leistungen, welche die Schule auch noch in der nach Josquin beginnenden Obergangszeit hervorgebracht hatte.

Solche Meistersätze sind in Brümels unbenannter A. Brtimel. Messe das Gloria, das Credo und das Osanna. Allerdings wird in ihrem Kolorit, in der äußerlichen Malerei ein- zelner Wortbegriflfe, die Berechnung bemerkbar, aber im Ganzen sind diese Kpmpo'sitionen Produkte einer feurigen Empfindung, die unwillkürlich originell gestaltet. Die zu- weilen, namentlich an Hauptschlüssen, echoartig gedach- ten Wiederholungen gelungener Stellen zeigen das im kleinen; die Wirkung im großen beruht auf der Energie, mit der Brümel besondre bedeutende Motive dem Hörer einprägt^ und auf der Einheithchkeit des technischen Mate- rials. Im Credo ist sie am gewaltigsten: ein kurzer, freu- diger Tonspruch durchklingt die verschiedensten Vor- stellungen.

In Brümels Messe »de Beata virgine« ist der Schluß- teil vom Sanctus ab für Aufführungen im geistlichen Kon- zert durch sofort und allgemein verständliche Schönheit sehr geeignet. Das ist eine Musik im Munde seliger Engel

^ 166 ^—

gedacht. Sie schweben im Chore daher, sie teilen sich und vereinen sich wieder. Sie schwelgen in schwärmeri- schen, überschwenglichen Melodien, die an Dufay er- innern, aber die alte Form der bicinia ist durch einen neuen, Sequenz und Steigerung reichlich verwendenden Periodenbau verjüngt. Auch die vorderen Sätze dieser Messe sind dadurch ausgezeichnet, daß sie bei kunst- vollster Technik übersichtlich bleiben. Das ganze Werk gehört zur besten niederländischen Kunst. Die »Ave P. delaRue. Maria« -Messe P. de la Rue's bereichert das heutige Bild der Zeit Josquins nach einer andern Richtung. Sie weist besonders deutlich auf den Einfluß hin, den die Volksmusik auf die geistliche Komposition nahm. Er äußert sich hier architektonisch in den liedmäßigen Wiederholungen kleiner Abschnitte, in dem Festhalten plastischer gewinnender Motive, noch mehr aber melo- disch und rhythmisch in der Hinneigung zu großen unge- wöhnlichen Intervallen und zu symmetrischen Taktformen. Das Gloria hat zeitweilig die Entschiedenheit eines Mar- sches. Dabei läßt de laRue keinen Zweifel darüber, daß er die hohe Kunst versteht; aber er bringt auch die schwierigsten Nachahmungen zu klarer Wirkung und er- findet originell.

J. F^Tin. J. Fövins Messe über »Mente tota«, deren Eigen-

heiten der Stimmführung schon erwähnt wurden, zeigt diese volkstümliche Richtung eben- p 1 1 J. | J 1 1 J i falls, am stärksten in den zweistim- ^tf pT'rrr l P"

migen Abschnitten. Themen wie: '

sind da die Regel und auch die Nachahmungen steuern kurz J iJ I. *^^ einfachste Verständlichkeit

und fe^ ^' g|^^'»r Jl ^^°* ^^ ^®* wirklich Renaissance- ßut: •y^ r'rn r' aeist. da ist die Nähe Josauins

^ gut: «n*^ r I n r geist, da ist die Nähe Josquins

zu spüren und da beginnt der naive Kirchenton, zu dem sich mit Händel und Bach das Deutschland des i 8. Jahr- hunderts bekennt. Wie bei Brümel ist auch an der Archi- tektur F6vins die Sequenz stark beteiligt. J. Itootott, Aus J. Moutons Messe »Alma Redemptorisc wäre

den Chören besonders das Agnus Dei zu empfehlen. Es i

bringt den Text nach dem Brauch des 46. Jahrhunderts in drei selbständig durchgeführten Sätzen. Der erste be« ginnt mit der Musik des ersten Kyrie als voller Chor, der zweite ist Duett, der dritte ein Chorlied von wunder- schöner Einfachheit, auch in den Nachahmungen lebendig und auf jene ruhige Andacht abgestimmt, die der Vor- zug glaubenssichrer Zeiten und Seelen bleibt. Vielleicht wirkt dieses Agnus noch ergreifender, wenn man ihm das Kyrie, das Gloria oder das Credo der Me$se voraus- gehen läßt. Denn in diesen Sätzen zeigt Mouton heißes Blut, drängt und stürmt vorwärts, immer auf kurze mäch- tige Kontraste hin. Am bedeutendsten wirkt seine wild- kräftige Natur im Kyrie. Da wartet er mit dem demütigen kleinlauten Grundton, den der Text voraussetzt, bis zu den letzten Akkorden. ,

^u den schwierigeren Proben niederländischer Kunst gehören die beiden Messen J. deCleves. Die über >Dum J. de GIoto. transisset« kommt dem Hörer noch etwas durch glückliche Motive und durch Festhalten an wenigen entgegen, die andere aber über »Tribulatio et angustia« ist ein Para- digma für die Exzesse der Reaktion. Der Grundsatz »Omnes ex una< ist die Seele dieses Kunstwerks; man freut sich, wenn wenigstens einmal ein zwei- oder drei- stimmiger Satz kommt

Viel eingängliclier ist Ph. Rogiers Messe über »Jus- Ph. Bogier. ta stirps- Jesse«. Sie bleibt trotz schwerer Künste meist frisch und übersichtlich, weil Rogier seine eignen Ein- fälle ganz hinter den cantus firmus versteckt und dessen schönste Wendungen immer vorklingen läßt.

Wie unendlich viel wissenschaftlich noch für Auf- hellung der niederländischen Periode zu tun bleibt, zeigt sich wieder daran, daß der bedeutendste unter den von Maldeghem vorgestellten Komponisten -bisher deshalb so gut wie unbekannt war, weil ihn Glarean nicht kennt. Nur Proske hat ihn mit zwei kleinen Motettensätzen be- rücksichtigt, auch bessre Handbücher, wie das von A. von Dommer nennen ihn nicht; unter den neueren Lexikogra- phen tritt allein F^tis auf Grund von Notenbekanntschaft

, * V68 ^

J, de Kerle, warm für ihn ein. Es ist Jacob de Kerle, ein Künst- ler, dessen Wert dem Josquins wenig nachsteht. Nur liegt er im Stil nicht so offen zutage. Die Originalität seiner Einfälle ist geringer, sorglose Keckheit ist ihm ganz fremd. Mit großen Melodien in Dufays Art ist er ebenso sparsam wie mit vollem Chorklang, er sucht sinn- liche Wirkungen nirgends auf und hält sich in der Motiv- , bildung, in Modulationen und Kadenzen in der Regel im engen Kreise und ans Übliche. In der Regel! Um so ge- waltiger wirkt er mit den Ausnahmen und fast jeder Satz seiner Messen enthält solche. Vor allem lassen sie de Kerle als einen Deklamator bewundern, der mit kurzen, einfachen Wendungen eigne Bilder hinstellt. Das ge- waltigste Beispiel von Inspirationsstärke enthält die fünf- stimmige Messe über: »Resurrexit Pastor bonusc im Credo beim >Incarnatus est«. Schon die Feierlichkeit, mit der bei diesem Einsatz die Homophonie wirkt, ist außerordentlich, noch eindrucksvoller ist die Ausprägung der beiden Wunder: der unbefleckten Empfängnis (ex Maria virgine) und der Menschwerdung des Gottessohnes (homo factus est). An der ersten Stelle bricht die Musik den Schluß mit einer Generalpause ab, an der zweiten weicht sie in fremde Harmonie, wie ins Reich des Un- begreiflichen aus und in ihr singt Stimme nach- Stimme ergriffen und dankvoll: »Homo factus est«. So wie hier ist de Kerle überall ein Virtuos der kleinen Mittel. Wenn er in der Motivbildung weite Intervalle verwendet, wenn er die Perioden aus häufigeren Wiederholungen desselben Motivs in denselben Stimmen aufbaut, wenn er die Me- thode des Zusammenklangs wechselt stets haben diese Kleinigkeiten viel für den Ausdruck zu bedeuten. Immer unterscheiden sich die Abschnitte, die läagern Sätze und die ganzen Teile der Messen in der Stimmung klar von- einander, ja auch die einzelnen Messen prägen sich deut- lich durch einen besonderen Grundcharakter ein. Seine vierstimmige Messe über ut re mi fa sol la von 1362, eine der reichsten und geistig bedeutendsten Fantasien, die über die Skala geschrieben worden sind, ist erregt, die

^ 169 ^—

über »Lauda Sion Salvatorem« herb und wie bei ihnen, drängt sich für jede weitere ein kurzes bezeichnendes Stichwort auf.

Und doch ist mit all diesem Lob die Hauptseite der Kunst de Kerles nocji kaum berührt. Sie liegt in der Reinheit, in der bei ihm das Wesen der niederländischen Polyphonie erscheint. Auch er kennt und verwendet die Monaden und Dyaden, die dreißigerlei Arten von Kanons und beherrscht alle die verschlungenen Wege der Nach- ahmungen, auf denen seine Landsleute und Zeitgenossen zuhause sind. Aber er ist nie zügellos und ausgelassen, sondern immer ein Muster im Maßhalten. Vom Stand- punkte des kontrapunktischen Technikers kann man häufig genug bedauern, daß die nachkommenden Stim- men den führenden nur auf eine kurze Strecke folgen; vom ästhetischen aus liegt in dieser Beschränkung die Größe de Kerles. Leicht zu genießen ist er deshalb noch lange nicht, er mach ts den Hörern sogar schwerer als Josquin, weil die homophonen und die klanghch einschlagenden Episoden bei ihm seltener sind. Er setzt in noch höherem Grade als seine Vorgänger und Neben- männer Verständnis für das Nachsingen, für das Ver- weben und Verstellen einfach sinniger Motive und The- men voraus. Er bedeutet einen Höhepunkt dieser Kunst, überschreitet aber nie die Linie, bei der die Künstelei beginnt und ist deshalb mehr als andre geeignet in der Gegenwart eine Schule zu vertreten, die zur Vertiefung musikalischen Empfindens außerordentlich viel beige- tragen hat.

Auch bei de Kerle wird die Aufführung ganzer Messen nur in Ausnahmsfällen ratsam sein. Wohl aber sollten auf Bildung bedachte Gesanginstitute Teile aus solchen in ihre ständigen Aufgaben einziehen. Da empfehlen sich außer den bereits genannten Bruchstücken beson- ders noch Gloria und Credo der Messe über »ut re mi«, Kyrie und Osanna aus der über >Beate virgine«, das Gloria aus der über »Resurrexit Pastor«. Einen äußern Eindruck hat man immer sicher, wenn man zu einem

no

Satz aus einem der vordren Teile des Ordinariums das Agnus Dei fügt. Denn im Agnus treten wie bei den Messenkomponisten des i 6. Jahrhunderts gewöhnlich neue Stimmen hinzu. Kleine, auserlesene Männerchöre seien auf die Messe »Regina coelic verwiesen.

J. de Kerle steht außerhalb der Sphäre Josquins. Er ist von ihrer Volksfreundlichkeit, aber auch von dem Wirrwarr, der ihr folgte, unberührt geblieben und hat als maßvoller, aristokratischer Vertreter späterer nie- derländischer Kunst kaum seines gleichen. Auch der Pb. de Monte, berühmte Philipp de Monte erreicht diese Vornehm- heit und Abgeklärtheit nur^ ausnahmsweise. Die Mehr- zahl seiner Messen kultiviert in der Stimmführung die Kunstfertigkeit auf Kosten von Eindruck und Ausdruck, das Ohr müht sich meistens mit einem gleichmäßig dicken, aus langen Themen entwickelten Satz ab, die nach den ersten Tönen schon in drei-, vier- und fünf- fache Engführungen verschlungen werden. Das ist der Stil, der die Messe über »Quomodo dilexi«, auch die »ad modulum: Benedicta est« beherrscht. ^ Nur ist er in letzterer durch das überall ^ J JJ|^^ durchklingende freundliche Grundmotiv: " «^ ^^

gemildert. Hauptbeispiele dieser papierenen Polyphonie bietet die Messe »Emitte Domine«. Ihr »Qui tolhs usw.« beginnt:

i

JSS.

TT.

^

cta

1^

^bf»

f

XE

U

-&»-

:mx.

tf

no . bis

Qui toi . lis pec .

^m

catamunLdi,

mi . 6e.rere

EC

Qui

^^

«-

XE

m

■&*-

£

^

xz

a

^

Qui

ol.ÜB pecca.ta

man

di.

mi . se.re . re

st

^

i

m

no

^^

o «

e

xr

?

t

P

Qui

toi. He pecxata mun.dtiini .

zt

i^

^

8e.re .

. rfr no.

^

—4t k

P

noc

xx:

f rJ

&t

Qui

ol.Iiß,

qui

toUis pec . cata inun.di, ini.M.re

m

^

re no.

2Z

rr

t

w

"■■ ^J

Qui toi . lispeccata mundiinu.M . re.re no.

Auf der andern Seite überzeugt aber auch gerade dieses Werk vollständig von der Größe de Montes. Ein- mal durch außergewöhnlich gewaltige, zum andern durch elementar einfache Stellen herzlichen innigen Ausdrucks. Das Credo ist der Satz, in dem der Komponist den gan- zen Reichtum seiner Natur ausbreitet, die höchste Kraft der Empfindung und Fantasie an der Stelle «Et in unum Dominum«, die äußerste Zartheit beim »Deum verum de Deo vero«. Noch stärker als die große vielseitige Be- gabung spricht aus der Musik de Montes ein romanti- scher Geist, derselbe, den wir auch aus Lassos Werken hören, den wir verhüllter auch in den Bildern Dürers und andrer Reformationszeugen sehen, der in allen inner- lich erregten Zeiten wiederkehrt. Kein Wunder darum, daß de Monte und Lasso sich auch in den äußeren Mitteln begegnen. Romantisch ist bei de Monte die reiche Modulation, die Wiederholung derselben Worte im entgegengesetzten Sinn, das plötzliche Wechseln und Um- schlagen von Stimmung uf d Kolorit, das unvermittelte Nebeneinander von hell und dunkel; romantisch sind die Trugschlüsse, die raschen Obergänge von Moll nach Dur, von polyphoner und homophoner Stimmführung, die überraschenden akkordischen Akzente. Durch alle diese Einzelheiten wirken de Montes Messen ausgeprägt germanisch und eben dadurch kommen sie dem modernen Empfinden entgegen. Die Probe darauf zu machen, würde sich am meisten das Incarnatus est und das Agnus Dei der eben erwähnten Messe über »Emitte Domine«, das Kyrie und das Agnus Dei aus >Si ambulavero«, das Gloria und das Grucifixus aus der Messe »Confiteor tibi« eignen.

Für Orlando di Lasso selbst, mit dem die Nieder- Orlando di länder als selbständige Schule verschwinden, sind wir Lasso, augenblicklich noch in der Hauptsache auf die »Musica divina« Proskes und auf Commers »Operum Batavorum CoUectio« angewiesen.

Orlandos Werke, unter welchen die Magnificats und die Bußpsalmen am höchsten stehen, sind die Spitzen gereinigter und neugetränkter niederländischer Kunst.

47« *—

Wenn erst die soeben (ebenfalls von Breitkopf & Härtel) in Angriff genommene, von A. Sandberger redigierte kolossale Gesamtausgabe seiner Kompositionen vorliegt, wird des Staunens über die Vielseitigkeit, den Reichtum und die fast schroffe Originalität dieser Künstlernatur kein Ende sein. Namentlich in der weltlichen Vokalmusik wird es Über- raschungen genug geben. In seinen Mensen jedoch ist er, der technisch vielseitig und frei über die Stilarten aller Schulen schaltet, geistig außerordentlich ungleich und oft zur Be- quemhchkeit geneigt. Die Erfahrung, daß unter den Meister werken der Vokalperiode, besonders unter den Messen, auch viele handwerksmäßige Arbeiten unterlaufen, bleibt uns auch in den Messen Orlandos nicht erspart. Er pflegt allzu- häufig den trägen Stil der sogenannten »missae familiäres«, und auf solche Unterlagen gestützt, mag Baini, Palestrinas Biograph, dazu gekommen sein, den genialen Orlando als »arm an schönen Gedanken, ohne Seele, ohne Feuer« ab- zutun. Seine vierstimmige Messe octavi toni (im i . Bd. d. »M. d.«) ist in ihren ersten drei Sätzen ein solcher dürftiger Mißwachs: kunstlos in der Form, leblos: alle vier Stimmen immer Note gegen Note hindeklamiert, im Ausdruck auf das AUernotwendigste beschränkt, nur hier und da an Stellen wie »Domine Jesu Chris te« und »et homo factus est« von . dem Blitze einer großen Fantasie durchleuchtet. Erst von dem Sanctus an, in welchem die Stimlnen auf Senflschen Leitern nebeneinander hinauf- und hinuntergleiten, verrät dieses Werk seinen Meister. Bedeutender ist die Messe über »Puisque j'ai perdu«, und das bedeutendste Stück, welches die Proskesche Sammlung von Messen Orlandos bringt, die über das Thema: »Qual donna attende usw.« (fünfstimmig). Aus den von Commer veröffentüchten Messen Orlandos wer- den ungefähr sechs regelmäßiger gesungen, an erster Stelle: »Gredidi«, »Doulce memoir«. »II me suffit«, »Je ne mange«. Lassos Stil weist auf neue nationale Schulen hin, die, von den Niederländern ausgehend, im Laufe des i 6. Jahr- hunderts zu selbständiger Bedeutung gelangten. Zu ihnen gehört auch eine deutsche, deren Hauptvertreter A. von Fulda, A. Agricola,H.Finck,L. Senfl und L. Lechner

-^ 473 «^~

sind. Heinrich Isaak steht ihr ebenfalls nahe, obwojil ihij die neuesten Forschungen als gebürtigen Niederländer zeigen. Was diese Schule in der Messe geleistet hat, werden binnen kurzem die Publikationen der deutschen und österreichischen Denkmäler weiteren Kreisen ersicht- lich machen. Bisher haben die Neudrucke davon eben- sowenig mitgeteilt, wie von der früheren Messenkomposition der italienischen Schulen, welche der Herrschaft der Niederländer ein Ende mächten. Nur die von Goudimel*) begründete römische Schule war von jeher in den Sam- melwerken mit Messen G. P. da Palestrinas reicher vertreten, und seit zwanzig Jahren liegen sie in der von X. F. H a b e r 1 durchgeführten Gesamtausgabe dieses größten römischen Meisters vollständig in Partiturform vor.

Aus alten Bibliotheksvei;zeiQhnissen ergibt sich, daß Palestrinas Werke in Deutschland sich weit weniger ein G. P. da Pale- bürgerten, als die der venetianischen Hauptkomponisten. strlna. In Italien dagegen würdigte man sie sofort in ihrer vollen Bedeutung. Mit Ausnahme von zweien wurden alle Messen Palestrinas zu seinen Lebzeiten (13 Bücher in Stimmen) gedruckt und einzelne Lieblings werke aller Kirchenchöre. Unter ihnen nimmt die schon erwähnte Messe »Assumpta est Maria« die erste Stelle ein. Diese herrliche, von Ra- phaelscher Milde, Lieblichkeit und Klarheit erfüllte Kom- position vereinigt stilistische Vorzüge Baini, der das Schaffen P.s in nicht weniger als zehn Stilperioden zerlegt, weist die >Assumpta est« der achten zu verschiedener Meisterwerke P.s in sich: die Lebendigkeit des Ausdrucks, welche das »Hoheüed« auszeichnet, und die Großartigkeit und Einfachheit der Farbengebung, welche der berühmten Preismesse »Papae Marcelli« eigen ist. Baini, der lang- jährige Direktor der päpstlichen Kapelle, erzählt, daß das Werk, welches bei Maria Himmelfahrt 1585 zum erstenmal zu Gehör kam, allemal, so oft er es bei dem gleichen Feste selbst wieder zur Aufführung brachte, ununterrichtete

*) In M. Brenets Studie über Ooudimel wird das in Ab- rede gestellt.

-— * Mi ♦—

Zuhörer nach einem lebenden Komponisten fragen ließ. Es bleibt immer unverwüstlich frisch und neu. Einen Teil dieser unversieglichen Jugendkraft dankt es dem eignen musikalischen Grundgehalt seiner Leitmelodie, der schönen lebendigen Antiphone : >Assumpta est«, derselben Melodie, welche auch Mendelssohn zu der anmutigen Motette : »Lau- date pueri« (für die Nonnen zu St. Trinitä de' Monti ge- schrieben) benutzt hat. Neben dieser Messe stehen als gleichberühmt und durch die Bewunderung der Zeitgenossen ausgezeichnet, die Missa >Papae Marcelli« vom Jahre 1 565, die Missa »super voces musicales« vom Jahre 4 562 und »Ecce Johannes« (zwischen 1585 und 1590 entstanden). Die Missa »Papae Marcelli«, die dritte von drei Werken, welche Palestrina auf Veranlassung der zur Abstellung von Miß- bräuchen in der Kirchenmusik vom Trienter Konzil einge- setzten Kommission verfajßte*), gehört in ihrem Gedanken- fluge zu den bescheideneren Messen des Tonsetzers. Mit Ausnahme des Kyrie, welches in klarer Weise dem nach- ahmenden Stil der Niederländer folgt, wiegt in ihren sämt- lichen Sätzen eine ähnlich einfach deklamatorische Behand- lung der Worte vor, wie wir sie in einem anderen, wohl dem bekanntesten Hauptwerke des Meisters finden : seinem »Stabat mater«. Nur die mit wenigen Stimmen besetzten kürzeren Zwischensätze (»Crucifixus« und »Benedictus«) greifen melodisch weiter aus. Aber diese thematische Zu- rückhaltung läßt die Überlegenheit, mit welcher Palestrina von dieser Messe ab ein altes stilistisches Mittel verwendet, um so wirksamer und mächtiger hervortreten. Es ist der Klangwechsel und die Gruppierung der Chorstimmen. Durch sie erhalten die Tonbilder der Messe eine Schärfe des Um- risses, wie sie kaum vorher gekannt war; die Deutlichkeit, mit welcher die Worte in dem einfach deklamierenden Stile hörbar waren, ließ den Meßtext selbst eindringlicher als je zum Gemüt dringen und umgab das ganze Werk mit dem Schimmer eines feierlichen Ernstes. Die Gruppierung der

*) In Haberls Kirchenmasikalischem Jahrbuch für 189*2 wird diese Annahme bestritten.

476 «—

Stimmen zu antiphonierenden Teilchören war ja vor der Missa Marcelli längst bekannt, aber neu war diese vir- tuose Handhabung. In der Missa »super voces musicales«, die den Improperien vom Jahre 1 560 als das zeitlich nächste Hauptwerk folgte, ist es ein Chor von vier hohen, das »Cru- cifixus« singenden Stimmen, der mit seinem seraphischen Klang das Entzücken des Papstes und der Kardinäle bildete. Dieses »Crudfixus«, neben welchem die anderen Sätze mit bedeutenden Gedanken und mannigfaltiger sinnlicher Wir- kung als gleich fesselnd stehen, war die Hauptveranlässung mit, daß Palestrina den erwähnten Reformauftrag erhielt. Als gleichbedeutend mit diesen genannten Hauptmessen P.s ist vor allem noch die Messe »l'homme arm^« aus der Aus- gabe von 4 570 (im zwölften Band der Gesamtausgabe mit- geteilt) zu nennen*). Bedeutend sind wohl alle Messen dieses Meisters : eine Fülle heiliger Klänge, das höchste Ideal kirch- licher Tonkunst! In Italien ist dieser Tatsache jederzeitRech- nung getragen worden. Palestrina war und blieb der popu- lärste Kirchenmusiker. In Florenz hört Burney tagtäglich Palestrina, in Rom beherrschte er noch anfangs des 4 9. Jahr- hunderts auch die Hausmusik. Allwöchentlich werden bei Frau von Bunsen von päpstlichen Kapellsängern Palestrina- sehe Messen und wie in der alten Zeit in kleiner Besetzung aufgeführt. Die Zahl der von ihm heute in den katholischen Kirchenchören gesungenen Messen ist verhältnismäßig be- deutend. Es sind außer den durch Proske eingeführten folgende: »Tu es Petrus«, »Ecce ego Joannes«, »Alma redemp- toris«, »Viri Galilaei«, »0 magnum mysterium«, »0 admirabile commercium«, »0 sacrum convivium«, »Beatus Laurentius«, femer die durch die abfallige Kritik Sixtus V. bedeutungsvoll gewordene »Tu es pastor ovium«, sowie die zwei vierstimmi- gen Messen »sine nomine« und »Quem dicunt homines«. Das geistliche Konzert der Gegenwart arbeitet mit einem sehr Mei- nen Palestrinarepertoire, die Männerchöre beschränken sich fast ganz auf: »Ohone Jesu«. Sie seien auf das »Plenisunt«

*) Sie wird In der Autobiographie Zacconis als Studien weik ersten Ranges hervorgehoben.

476 ^>—

in der Messe: »Ecce sacerdos«, in »Virtudo magna«, in »Ad coenam agni« , in »Ad fugam « , auf die Cnicifixussätze in »0 re- gem coeli« und in »Spem inalium«, auf das Benedictus in der »Missa de feria«, in der Messe »Iste confessor« hingewiesen. Ähnlich wie 200 Jahre später in der neapolitanischen, ragen in der römischen Schule spanische durch Ignaz von Loyola nach der ewigen Stadt gezogene Musiker hervor. L. de Victoria. Unter ihnen ist Tomas Luis de Victoria, als Messenkom- ponist bereits durch Proskes »Musica divina« reichlicher bedacht, heute mit zehn vier- und fünfstimmigen Messen vertreten, die den zweiten Band der von Ph. Pedrell redigierten Gesamtausgabe der Werke Victorias bilden. Weitere mit mehr Stimmen und wohl auch Messen von M orales und Guerrero werden folgen. Die von Victoria vorgelegten gehören zu den bedeutendsten Leistungen der Vokalmesse überhaupt und stehen den Arbeiten Palestrinas im Gehalt nicht nach. Die Unterschiede beider Meister sind teils nationalen, teils persönlichen Ursprungs. Dem Palestrina, welcher das weiche, liebenswürdige, anmutige, klare Wesen italienischer Kunst in einer besonders rei- chen und für die sinnliche Wirkung äußerst begabten Individualität zeigt, steht Victoria als die männliche Natur gegenüber. Die knappe Behandlung der Kyrie- sätze, die scharfe Gegensätzlichkeit, in denen er den Text des Christe zu dem Hauptsatz stellt, läßt das so- fort deutlich merken. Der Spanier liebt tiefe Lagen, dunkle Modulationen, breite und verschlungene Kaden- f zen; aus der Form und aus der Seele seiner Messenkom-

position spricht der ungewöhnliche Ernst, mit dem er den Text überdenkt Keine seiner Einzelheiten übergeht er, aber er bringt sie streng und ganz schlicht zum Aus- druck. Seine Hauptstärke liegt in einer gehaltvollen Me- lodik, deren Eigenheit darin besteht, daß sie oft ganz plötz- lich die Wärme zur Glut steigert. Außer in der Art der Begabung unterscheidet sich Victoria aber auch durch die Schule von Palestrina. Er wurzelt viel tiefer in nieder- ländischem Boden. Vom Jahre 4 583 ab wendet er sich allerdings der Homophonie mehr zu, bleibt aber in diesem

-^ 177. ^k—

Stil mit dem Sinn für das Kolorit hinter Palestrina zurück. Victorias Messen sind darum mehr für die Kenner, als für die Menge, alle aber reich an Stellen von unmittelbarer Wirkung, einzelne auch des Gesamteindrucks sicher. Aus der letzten Klasse wäre die vierstimmige Messe über »Ave Maria Stella« mit ihrer Choralfeierlichkeit, die über »0 quam gloriosum«, eine der frischsten und erfindungs- reichsten Arbeiten des Komponisten, ferner die durch Weich- heit und Mannigfaltigkeit ausgezeichnete fünfstimmige Messe: >Trahe me« und die (von Proske gebrachte) sechs- stimmige kraft- und klangvolle Messe: >Vidi speciosam« nachzusehen. Das hervorragendste Beispiel für die Be- handlung einzelner Stellen dürfte das Gloria der Messe: »Simile est regnum coelorum« sein. Wie Victoria da im »Qui toUis« die Bitten »Miserere« und »Suscipe usw.« zur einschneidendsten Wirkung einfach dadurch bringt, daß er sie dem Sopran vorbehält, das genügt um darüber aufzuklären, daß man es mit einem außerordentlichen Meister zu tun hat. Unter den weiteren Musterstücken sei auf das Sanctus in »de beata Maria« aufmerksam gemacht. Ohne weitere Wahl wird man sich mit jedem behäbigen Agnus Dei von Victorias Bedeutung über* zeugen können, am stärksten mit dem aus »Simile est regnum«.

Im übrigen ist auch die römische Schule mit Neu- drucken von Messen nur ungenügend vertreten. Proske bringt noch eine schöne, kunstreiche Arbeit »super voces musicales« des im vorhergehenden Kapitel als Passions- komponist erwähnten Fr. Suri an 0. Als Beispiel dessen, Ft Snriano. was sich auf einem technisch so schwierigen Grunde an eigentümlicher Poesie entwickeln läßt, sind besonders das Sanctus und noch mehi: der mit dem Motto: »Justitia et pax osculatae sunt« bezeichnete, in Gegen- bewegung gehaltene Kanon des Agnus beachtenswert Eine für die Zeit der Entstehung ganz seltene Kühn- heit bringt der Schluß des Gloria in_dem gegen die F dur- und D ^ur-Harmonie anliegenden g^ des i . Soprans. F. Anerio, der Nachfolger Palestrinas im Amte, ist mit T. Anorioi

n, i. \^

—— <^

1.78

einer Messe >sine nomine« vertreten, welche im Stile der frührömischen Schule gehalten ist.

Alle italienischen und sonstigen Schulen wurden gegen das Ende des 4 6. Jahrhunderts von der venetianischen an Einfluß übertrofifen. Sie J)rachte auf drei Generationen die Führung in geistlicher und weltlicher Musik an sich und machte Oberitalien zum Herd aller jener Neuer- ungen, auf denen Chor- und selbständige Instrumental- musik, auf denen die ga^ze moderne Tonkunst ruht. Ihre erste Tat war die prinzipielle Steigerung der Mehr- stimmigkeit und die Ausbildung einer Chorantiphonie größten Stils. Dazu halten frühere Zeiten und andere Länder schon angesetzt: wir hören von einer sechsund- dreißigstimmigen Motette Ockeghems und von Kompo- sitionen für vier Chöre, die in Spanien um die Mitte des 4 6. Jahrhunderts geschrieben wurden, wir besitzen von englischen um dieselbe Zeit geschri^bnen Monstrechören ein Hauptstück, ThomasTalli s' vierzigstimmige Motette : »Spem in alium« im Neudruck. Durch die Venetianer wurden solche Versuche allmählich zur Norm für den festhchen Chorstil und insbesondere in der Messe. Daß die niederländische Art der Polyphonie zunächst auch in Venedig weiter gepflegt wurde, ergibt sich aus den (in Proskes »Musica divina« enthaltenen) kurzen Messen A. Gabrioli. Andrea Gabrielis, ebenso wie aus denen Giovanni G. Croce. Croces*), frischen, klaren zur satzweisen Konzertver- wendung wohl geeigneten Kompositionen. Die des Neu- J. Qallns. drucks noch harrenden Messen des J. Gallus gehören in dieselbe Kategorie und ebenso die Leo Haßlers, der bekanntlich Andreas Schüler war. Zur größeren Hälfte bereits durch Neudrucke von Proske und Genossen seit längerer Zeit allgemeiner zugänglich, sind sie jüngst sämt- lich veröffentlicht worden**) und haben dadurch eine Auszeichnung erfahren, die ihnen wohl gebührt. Hier

♦) In autographierten Partituren von F. X. Haberl Ter- Vffentlißlit.

**) Denkmäler Deutscher Tonkunst, Bd. VU.

r

479 ^>—

vereinigen sich Reichtum und Schlichtheit der Form, Adel L. Häßler.

und Gemeinverständlichkeit der Gedanken, alte und neue

Zeit ungewöhnlich frei und innig. Stärker als die Ge-*

meinsamkeit ist zwischen Andrea Gabrieli und Haßler

die Verschiedenheit. Es. klingt nicht bloß der deutsche

Liederton herzhaft in den Messen des Jüngern mit, sondern

er ist auch viel ungebundener im Stil. Wie später Haydn

in der Symphonie, so verschmilzt Haßler in der Vokalmesse

die Eigenheiten verschiedener Schulen zu einem neuen

Organismus. Man kann, ohne ^gewaltsam zu werden, mit

vier Stimmen nicht mannigfaltiger und wirkungsvoller

schreiben, als er es tut. Das ist ein Punkt mehr, der

seine Messensätze für das Konzert empfiehlt. Das Sanctus

aus »Dixit Maria«, das Gloria aus der ersten Messe sine.

nomine, auch das Credo, ja so ziemlich alle Sätze aller

Messen wären geeignet. Es ist ein Unrecht, auszulesen,

wo überall Charakter, Fantasie, Fülle der Empfindung

und Originalität des Ausdrucks so außerordentlich sind.

Venetianisch zweichörig ist nur die letzte Messe.

Auch die nur in alten Stimmendrucken vorliegenden Messen Monteverdis sind in ihrer rücksichtslosen mo- C. MonteTerdi. tivischen Konsequenz ganz Niederländisch. Erst von Giovanni Gabrieli ab wird die Auftürmung von Q. &sbrioli. Stimmen, die Menge getrennter Chorscharen häufiger und verbreitet sich über andere Länder. Im 17. Jahrhundert erreicht der Stil wahrscheinlich mit Orazio Benevolis Salzburger Messe von 4 628 seinen Gipfel. Die Österreich- ischen Denkmäler haben dieses Werk, das mit dreiund- fünfzig Stimmen arbeitet, jüngst veröffentlicht *"), und da- mit jedermann eine bequeme Bekanntschaft mit dieser erstaunlichen Meßkunst, die bisher nur mit bescheidenen Proben in Rochlitz und anderen Neudrucken vertreten war, ermöglicht. Von der kontrapunktisch technischen Seite betrachtet, sehen derartige Leistungen allerdings größer aus, als sie sind. In Wirklichkeit haben wir es bei Benevoli mit einem zweichörigen Werke zu tun, bei

*) DenkmUer der Tonkunst In Österreich, Bd. X.

CO 180 ^—

0. BeneToll. dem jeder Chor aus acht Singstimmen und einem Orchester von Streichern, Bläsern und Orgel besteht. Diese Masse wird in einem vorwiegend vierstimmigen, jedenfalls immer so einfachen Satze geführt, daß sich jeder Vergleich mit den Niederländern oder auch nur mit Seb. Bach ver- bietet. Der künstlerische Schwerpunkt der Komposition liegt nicht in der meisterhaften Verkettung verschiedener Gedanken, sondern im Klang und im Kolorit. Durch die Teilung der Chöre in kleine und kleinste Gruppen, durQh ihren Wechsel, durch ihre variationenreiche Zusammen- führung, durch die beständige Ausnutzung räumlicher Wirkung ein Darstellungsmittel, das die heutige Musik fast nicht mehr kennt ist Benevoli originell und mächtig. Die Kirchenhalle ist als, ein Ausschnitt des Weltalls ge- dacht; jedes Stückchen Gotteswort, das in ihr ertönt, wird wie von Engeln nach allen Enden getragen, erweckt aus allen Richtungen, aus Höhen und Tiefen geheimnis- vollen Widerhall. Auf dieses unablässige Widerklingen und Nachklingen, auf die Verständlichkeit im verschlun- gensten und fernsten Echo ist alle Erfindung gerichtet Vor allem ist der Charakter der Motive darauf berechnet; sie nähern sich in äußerster Schlichtheit Naturlauten und Signalen und vertreten in ihrer Einfachheit zugleich den reinsten und höchsten Geist der Renaissance. In ihren Kunstkreis gehört die Messe vielmehr als in den der Barock- periode. Sie ist ein Denkmal kühnen und gewaltigen Sinnes schon durch das ungeheure und prachtvolle äußere Gerüst. Es entsprechend auszubauen setzte Tonsetzer von majestä- tischer Fantasie voraus. Die hat Benevoli nicht überall zur Verfügung gestanden, aber einzelne Stellen seiner Messe sind auch geistig kolossal. Dem Bild z. B., das er von der Macht der »una sancta catholica ecclesiat im Credo gibt, hat viel- leicht die ganze Geschichte der Messe nichts an die Seite zu setzen. Die Einbürgerung dieser Messe würde der gegen- wärtigen Musik eine neue Welt erschließen. Doch sind die Aussichten dazu sehr gering, weil wir ganz verlernt haben, uns um Aufstellung und Herrichtung von Emporen und ähnliche wesentliche Außendinge Mühe zu geben.

^ 184 ^—

i \

Gleichzeitig mit der Vermehrung der obligaten Stimmen des Chorsatzes wird auch die selbständige Instrumentalbegleitung üblich. Sie entwickelt sich zu- erst um die Mitte des i 6. Jahrhunderts als Notersatz bei Sängermangel; der Klangreiz hebt sie aber schnell zu eigner Bedeutung, auf einer dritten Stufe wird sie ein ge- , waltiges Mittel des Ausdrucks. Bereits vom Anfang des 4 7. Jahrhunderts ab ist bei jedem Ghorstück der General- baß — um mit R. Ahle zu sprechen >aus Notwendig- keit oder Gewohnheit« d. h. der Mode halber zu finden.

Die Stimmenvermehrung vertrug sich selbst in den übertriebenen Fällen mit dem Wesen kirchlicher Musik. Bedenkliche Stöße erhielt es erst, als s^us der Oper Solo- gesang und dramatischer Geist herüberdrangen. Sie drängten die Fantasie der Komponisten von der Grund- linie frommer verklärter Andacht nach rechts und links ab: Auf der einen Seite zu einer bis zum Erschrecken /

aufgeregten Wiedergabe der Textstellen, auf der andern zu einer bis ans Selbstgefällige streifenden Ausbreitung der subjektiven Gefühls- und Empfindungskraft. Als Beispiel für die erste Klasse kirchlich fraglicher Musik kann das bekannte an und für sich ausgezeichnete sechs- stimmige »Crucifixus« von A. Lotti gelten. Lotti, der auch A. Lotti. sehr gute Messen im rein kirchlichen Stile geschrieben'*') eine begleitete (in GmoU) hat S. Bach eigenhändig kopiert , hat die dramatische Kraft, mit welcher die ersten Takte dieses »Crucifixus« das Bild einer unter dem Eintreffen einer Schreckensnachricht aufschreienden Menge wiedergeben, in keiner seiner Opern auch nur annähernd erreicht. Dieser Anfang und das ganze Stück ist als plastisches Tonbild ein Treffer ersten Ranges; als Teil eines Credo so passend, wie ein Pistolenschuß von der Kanzel. Für die zweite, die im empfindsamen Ge- biete sich ausbreitende Klasse von Messen, bieten die Tonsetzer der neapolitanischen Schule zahlreiche Bei- spiele. Sie gab sich den Einflüsseti des Musikdramas

*) Binnen kurzem steht ein Neudruck in den Denkmälern D.T.bevor.

^ 182 ^

nach andern Richtungen ziemlich unbeschränkt hin und schrieb Meßsätze, in denen an Stelle des kirchlichen Geistes der Kultus der Melodie und das sinnliche Ton- vergnügen getreten ist

Dieser Vor\vurf trifft nicht alle Messen und Messen- H, Scarlatti. sätze der Neapolitaner. A. Scarlattis Arbeiten sind, wie man sich in den Sammelwerken von Rochlitz, Choron, Braune und Proske überzeugen kann, ebenso würdig als frisch. Auch die von Commer mitgeteilte, Fadre Martini, für Männerstimmen gesetzte Messe des Padre .Martini beweist, daß in Italien der alte Stil und Geist des musi- kalischen Hochamts in der Blütezeit der neapolitanischen Oper noch lebte. Aber im allgemeinen war für die geist- liche Komposition die Gefahr der Verweltlichung schon durch das Prinzip der Renaissancemusik nahegerückt. Palestrinastll , Luthersches Kirchenlied, die frühesten Produkte des Madrigals, die unbegleitete Monodie gleichen sich darin, daß sie die Forderung der Gemeinverständ- lichkeit, der äußern und Innern Einfachheit voranstellen. Wie diese volkstümliche Tendenz in den dem Jubel und der Freude gewidmeten Sätzen der Messe schon im 47. Jahrhundert nahe an die Trivialität heranführen konnte, das zeigt im Osanna die Missa angelica des Leopold I. Kaisers Leopold I.*) Durch die Einflüsse der neapo- litanischen Oper kam aber der kirchliche Geist der Musik in eine immer schwierigere Lage; gleich am Anfang des i 8. Jahrhunderts und selbst in Werken von Meistern wie Leo, Durante, Pergolesi ist in der Messe die Ver- weltlichung weit vorgerückt. J. Füx. Weil er das klar erkannte, stellte Joseph Fux mit

seinem berühmten »Gradus ad Pamassum« in das i 8. Jahrhundert Palestrinas Vorbild hinein. In seinen a capella-Messen geht Fux noch weiter, nämlich zu den Niederländern zurück und bildet ihren Stil in einer ganz bewundernswerten Weise nach. Höhere Leistungen

•) »Musikalische Werke der Kaiser Ferdinand 111. usw.« herausgegeben von Guido Adler.

archaisierender Kunst hat die neuere Zeit, auch mit Einbezug von Poesie und Bildnerei, wohl kaum auf- zuweisen. Da paart sich Strenge mit Freiheit, alte Form mit frischester, lebendiger Erfindung aufs vollkommenste. Voran steht die vierstimmige >Missa canonica«, die auf den österreichischen Kirchenchören jederzeit ihre' ge- bührende Stellung behauptet, in Norddeutschland aber, obgleich sie am Anfang des 49. Jahrhunderts zwei Par- titurausgaben erfuhr, sich nicht verbreitet hat. Die Denkmäler der Tonkunst in Österreich legen sie noch- mals und in Gesellschaft einer andern vierstimmigen Vokalmesse Fuxens, einer Missa Quadragesimalis, d. i. Fastenmesse, und zweier Instrumentalmessen vor"*). Diese Missa canonica ist wieder einmal ein Studienwerk und eine Fundgrube für schwierigere und leichtere For- men des Kanons, die Fastenmesse bevorzugt die Fugen- methode. Aber das alte Gewand erhält durch Fux neue Aufschläge durch Modulationen, die den Kirchentönen fremd sind. An größern Satzschlüssen angebrachte Aus- weichungen nach der Unterdominante zeichnen sich darunter besonders aus. Der Vergleichstoff, den die Messen auf Verwandtschaft und Verschiedenheit mit den ersten Niederländern, auf Vorzüge und kleine Nachteile bieten, ist bedeutend genug. Aber sie haben auch einen über alle Schulinteressen hinausreichenden Kunstwert, durch die Fülle, Klarheit und Anschaulichkeit der musi- kalischen Gedanken, in denen Text und Situation auf- leben. Wo die Vokalmesse durch Meisterwerke illustriert werden soll, darf deshalb Fux nicht übergangen werden. Er bringt im Herbst noch einmal den Glanz der schönen Jahreszeit zurück.

Die Instrumentalmesse vertritt er neben J. Kerll als einer der frühesten Deutschen, er ist aber in ihr keineswegs ein bloßer Vorläufer größerer Meister, sondern ein selbstän- diger, geistig durchaus eigner Verwalter neuen, reicheren Gutes. Die »Missa Purificationis« ist zwar nur knapp

*) Denkmäler der Tonkunst in Österreich, Bd. I.

«- 184

durchgeführt , aber wie geschmackvoll und 'mit welcher sicheren und schönen Wirkung sind Sologesang und instrumentale Zwischenspiele benutzt Was aber den Ausdruck betrifft, so genügt der Schluß des ersten Kyrie, die Einführung des Septimenakkords der vierten Stufe dai^ber aufzuklären, daß dieser Komponist mehr als Durchschnittliches zu bieten hat.

Bedeutender in Anlage und Wirkung ist die achtstim- mige »Missa Sanctissimae Trinitatis«. Fux gleicht auch darin den Größen ersten Ranges, daß fast jedes seiner Werke seinen StÜ für sich hat. Hier tritt namentlich die Kunst hervor, bei breit gelagerter, ruhiger Harmonie durch die Stimmführung zu fesseln. Es ist gewaltig und erhaben, wie die Motive durcheinanderfluten, wie die Chöre sich zusammenballen. Die Soli fesseln durch die schönen Nachahmungen und durch die Farben, welche die Instru- mente hereintragen. Besonders tief prägt sich da das >In- carnatus« durch die Zwischenspiele der Posaunen ein^ Der Aufbau der Formen zeigt venetianischen Operneinfluß in, der Hinneigung zu scharfen Tempogegensätzen. Auch in dieser Messe sind Kunststücke versteckt. Durch alle Sätze geht ein dem Komponisten

von einem Freund gegebe- (h^^ V* "

-^

f

*j

ja:

xr

nes Thema von fünf Tönen: ^

als cantus firmus. Hoffentlich berücksichtigen unsere Chorvereine in Zukunft dieses Meisterwerk.

Es hat sich in der Messe Österreichs und Süddeutsch- lands im 4 8. Jahrhundert an Fux eine Schule gebildet. I. Holzbaner. Einen tieferen Einfluß hat Fux auf Ignaz Holzbauer ausgeübt, dessen Werke (größtenteils handschriftlich in Mün- chen) zum Teil eines Neudrucks wert sind. Antonio Cal- dara dagegen, von dessen 30 Messen die Missa dolorosa (Emoll) neuerdings veröffentlicht worden ist*), arbeitet zwar sehr geschickt und leicht; seiner Erfindung fehlt aber Tiefe und Wert. Bedeutend ist nur sein i 6 stimmiges Crucifixus. Fux selbst hielt sich, wie bereits bemerkt, als a capella-Kom- ponist, seine Instrumentalmessen müssen aber schnell ver- gessen worden sein. Die Wiener »Spiritualkonzerte«, die von

♦) Denkmäler der Tonkunst in Österreich, XIII, 1.

.\'

4 84 9 verhältnismäßig viele begleitete Messen aufführen, bringen Werke von Seyfried, Cherubini, Hummel, Haydn, An- dre, Winter, Hasse, Beethoven, Vogler, Sßchter; Fux kennen sie nicht. Dasjenige Werk, welches in unseren Konzerten als das erste die Periode der Instrumentalmesse vertritt, ist die »HoheMesse« von Seb.Bach, dieArbeit eines Protestanten. Die Abkehr von der katholischen Kirche bedeutete keines- wegs überall die Abschaffung der Me9se im allgemeinen, der Figuralmesse insbesondere. Sie wird in England, wie die (neugedruckte) sechsstimmige Messe von Chr. Tye beweist, noch das ganze 4 6. Jahrhundert weiter gepflegt, noch viel länger behauptet sie sich im evangelischen Deutschland. Nur halten es schon im 4 7. Jahrhundert die einzelnen Länder und Orte sehr verschieden mit ihr. Sie ist da bei Med er, bei H. Prätorius, bei Scheidt und Hammerschmidt . noch mit Kompositionen des ganzen Textes, bei Stob aus, Schein, Schütz, Sebastiani gar nicht oder nur mit Bruchstücken vertreten. Im 4 8. Jahrhundert weicht sie dann der Kantate, die zur eigentlichen »Kirchenmusikc wird, immer mehr. Da ist's um so merkwürdiger, daß diese Bachsche Messe die ganze Gattung so unvergleichlich überragt.

In der Hauptsache hält sich auch die Bachsche Hmoll- s. Baoh, oder Hohe Messe an die bekannten fünf Abteilungen, an H moll-Mess. das sogenannte Ordinarium des Hochamts. Was sie aber von allen bekannten Kompositionen des uralten Kirchentextes unterscheidet, das ist die kolossale Breite in der Anlage fast aller Abteilungen, welche mit den in der Vokalmesse üblichen Maßen jeden Vergleich ausschließt und auch alles das weit hinter sich läßt, was die sich schon mehr aus'brei- tenden neapolitanischen Vertreter der Instrumentalmesse geboten haben. An die praktische Verwendung bei der Litur- gie, welche die letzteren doch immer im Auge hatten, ist bei dieser H moll-Mess e gar nicht zu denken. Eine oder zwei ihrer Abteilungen an einem Sonntage, wie sie Bach tatsäch- lich auch in Leipzig zu Gehör brachte, nehmen die musi- kalische Tragfähigkeit eines Gottesdienstes schon vollständig in Anspruch. Die Form, welche Bach bei der Komposition der einzelnen Sätze dieser Messe zugrunde legte, war

^ 486 ^

die ihm geläufige der aus Solo- und Chorgesängen zusammengesetzten Kantate. Aber jede der einzelnen Abteilungen wurde ihm zu einer Kantate im Riesenfor- mat. Das Gloria und Credo mit ihren je acht Nummern übersteigen alle bekannten Kantatenverhältnisse. Ganz kurze Textgruppen, oft bloße Nebensätze, sind hier zu selbständigen und abgeschlossenen Tonbildem entwickelt: zu Sologesängen in ausgeführter Arienform oder zu Chören, die ihre Themata wiederholt durchfugieren. In keinem andern Werke hat Bach wieder so sich selbst zur Lust, aller praktischen Rücksichten ledig, für die Kirche komponiert: In der Erschöpfung der musikalischen Grundgedanken kann er sich zuweilen gar nicht Genüse tun. Wenn wir glauben, nun sei er der ganzen Aus- drucksfähigkeit der Worte bis in ihre letzten Spitzen und Tiefen nachgegangen, da nimmt er sie frisch weg von einer andern ^eite und entwirft ein neues, ergänzendes und packendes Bild, welches in der Regel als ein Meister- stück von Fantasie und Kunst das vorangegangene noch überbietet

Die naheliegende Vermutung, daß Bach mit dieser Messe etwas Außerordentliches habe leisten wollen, wird durch ihre Entstehungsgeschichte bestätigt. Er schrieb zunächst i. J. 4 783 Kyrie und Gloria und überreichte sie dem Kurfürsten in Dresden mit der Bitte, ihni, der »in Leipzig beim Direktorium der Musik ein und andre Bekränkung empfinden müssen« wie es im Dedikations- schreiben heißt »ein Prädikat von Dero Hofkapelle konferieren zu wollen«. Das »Prädikat« eines Hofkompo- siteurs ließ drei Jahre auf sich warten. Bis 4738 wurden dann die andern Sätze vollendet und, mit Ausnahme des Agnus Dei, in dem grandiosen Stile der ersten beiden Abteilungen weitergeführt.

Neben der breiten Anlage, welche die HmoU-Messe ganz ungewöhnlich erscheinen läßt, ist es eine zweite Eigenschaft, welche die HmoU-Messe so bedeutend und ergreifend macht. Das ist die eindringliche und anschau- liche Beredtsamkeit ihrer Tonsprache, welche in erster

^ 187 *

Linie auf der glücklichen Gestaltung der Grundthemen der Sätze beruht. Auch wer vom Texte keine Notiz nimmt, kann nicht mißverstehen, was die Seufzerketten des ersten Kyrie, was der friedliche uhd kindUche Weihnachtston des >Et in terra pax€, was der Jubel des »Gloria in excelsis Deo€, des »cum sancto spiritu«, des »Et resurrexit«, des zweiten »Et vitam venturi saeculi« und des »Pleni sunt coeli« sagen wollen. Das sind Musikstücke, welche bei all ihrer kunstreichen Ausführung einen vollständig volkstümlichen Zuschnitt besitzen, und in Orten, wo, wie in Leipzig, die HmoU-Messe eingedrungen ist, haben diese Chöre auch ihre populäre Kraft drastisch bewiesen. Aber auch die Arien und Duette mit ihren breiten, herzlichen und naiven Melodien teilen diesen Zug edler Gemein- verständlichkeit selbst in Fällen, wo sie, wie in »Domine^ rex coelesiis« im »Et in unum« ausgesucht tiefsinnig gestaltet sind. Wenn er an ihnen schwerer heraus- gefunden wird, so liegt das in der Regel an der mangel- haften Ausführung, insbesondere des ohne eine gute Orgel- stimme oft verwirrenden Akkompagnements. Wieviel hier die Praxis noch zu lernen hat, zeigen die platten undx miserablen Bearbeitungen, in welchen einzelne der vor- handenen Klavier auszüge der HmoU-Messe die von Bach nur skizzierte Begleitung der bekanhten Arien: »Benedic- tus€ und »Agnus Deic wiedergeben. Sogar an durchaus falschen Harmonien fehlt es da nicht.

Der häßliche Begriff der »gelehrten Musik« wenn überhaupt jemals bei Bach zutreffend ist auf diese Hohe Messe nirgends anzuwenden. Wohl aber verlangt das Werk, wie alle Musik, in der große Strecken aus demselben Grundgedanken entwickelt sind, eine gewisse Fertigkeit im Hören. Doch beschränkt sich diese Fertig- keit auf ein Geringes: darauf, daß man ein Thema merken und verfolgen kann, und diese Aufgabe wird durch den packenden und verständlichen Charakter der Themen selbst wesentlich erleichtert.

Den Zusammenhang und die Einheitlichkeit der 24 Nummern, in die wir die Hmoll-Messe teilen, hat Bach

188

;

im Sinn und Brauch seiner Zeit nicht äußerlich markiert, etwa so, wie es die Meister der Vokalperiode mit dem durchgehenden Cantus firmus, neuere Tonsetzer durch Anwendung von Leitmotiven versucht haben. Wer aher dem Gedankengang genauer folgt, wird das Bund, das sich durch das Innere der Sätze durchzieht, wohl finden. Nur ist es unbedingt nötig, daß der Vortrag Nummern, die zu derselben Abteilung gehören, nicht durch Pausen auseinanderreißt.

Die erste Abteilung, das Kyrie, besteht aus drei Nummern, von denen die eröte und dritte Ghorfugen sind über den Text: »Kyrie eleison«. Vor dem Anfang des ersten Chors stehen vier Takte Adagio : eine lapidare Überschrift, aus welcher der Hilferuf zum Herrn wie der Notschrei eines schwerbelasteten Volkes klingt. Dann beginnt zu- nächst im Orchester das sprechende Thema:

Laxgo ed an poco piano. .^..«^

f tti^ttiImi nr rrrr

, eine Klageszene einzuleiten, deren gewaltige Anlage in der gesamten musikalischen Literatur nur wenige Seiten- stücke hat: Der Introitus der Matthäuspassion, der Einleitungschor zu Händeis Israel *sind verwandte Leistungen. Was das Bachsche Bild schwerster Seelen- betrübnis so eigentümlich macht, das ist der durchaus aktive Zug, in der sie der Komponist aufgefaßt und dar- gestellt hat: das mühsame und verzweifelte Ringen und Aufraffen, welches die in kleinen chromatischen Schritten aufsteigenden und mit den Seufzern der Oboenarie der Matthäuspassion zurückfallenden Urmotive des Themas schon andeuten. Dieses Verhältnis wiederholen die Satz- gruppen der riesigen Fuge nur in größeren Proportionen. Der unaufhaltsame Zug, mit dem die Klage zum Aus- druck dringt, findet erst nach einer doppelten Durch- führung des Themas in den fünf Stimmen seinen Halt in einem großen Cis moU-Schluß. Er führt zu einer in der Stimmung heller beginnenden Episode über das Thema:

<89

fl t„ rT- . "T^ ^^® jedoch schon bald wieder, * 'ff p 8J},.r ^J I EJ/ f ' nach einer aufregenden Be- 5 . w - T - .- »in. gegnung mit dem chromati- schen Motiv des Hauptthemas, in das letztere zurücklenkt. Mit Tönen der Resignation endet der Satz. Da seine zweite Hälfte im wesentlichen nur Wiederholung der ersten ist, empfiehlt es sich, diese nur solistisch zu besetzen und den vollen Chor der Stimmen und Instrumente auf jene aufzu- sparen. Durch einen ähnlichen Wechsel gewinnen auch andere Chöre außerardentlich, z. B. Anfang und Schluß- satz des Gloria. Der zweite Chor der ersten Abteilung über denselben Text > Kyrie eleison« und über das Thema:

Andante

Ky . ri . . e, a . lei

. soa, «

bi . «on,

klingt trotz der kleinlauten verminderten Terz im Einsatz

doch ruhiger und ge-

faßter und wirft na- tw,»* t ß .tV> ^ ^h#T^ . mentlichandenSteUen, ^ V' ^ T [V f T ^ T Vf r | f wo das Nebenthema: kt-'^^^ •• * -^ w - - «o».

die Führung hat, einige hoffnungsvollere Blicke in die Zukunfl. Die Vermittlung zwischen den beiden Chören bildet das >Christe eleison«, ein Duett zwischen Sopran und Alt, dem Bach den zutraulichen, der Erhörung gewissen Ton gegeben hat, in welchem Kinder sich von einem lieben Freunde etwas Besonderes erbitten. Von hervorragender Schönheit ist in dieser Nummer auch die lange Melodie, welche Bach den einleitenden und zwischenspielenden Violinen (I und l\ im unisono) gegeben hat.

Die erste der acht Nummern des Gloria ist einer der freudevollsten Chöre, die wir haben. Er beginnt unter Trompetengeschmetter, wie eine schwungvolle Volksszene über das Thema:

Vivace.

|i'"iiLJir.im;ii'i !\^^^^u

190

^ ^ welches Bach auch in anderen Werken,

lCüiX£/ 11^ ^' ^* ^™ Gloria seiner kleinen Fdur-

Mosse, anklingen läßt. Der Chor endigt mit einer Doppelfuge, in welcher das beschauliche, friedlich dahinglei- AUegro moderato. und das

tende, bei seinem f »n |^>^ TiH n._n Tl J anf-

ersten Einsatz un- 1!P^""OT!f '''ü CJ T jauch- endlich rührende: ^ ^ ter.»» p«x. zende

sinnreich und wirkungsvoll ineinander gewoben sind. Darauf folgt in einer Sopranarie das »Laudamus tec eine musikalische Naturstudie, zu welcher Vogelgesang das Modell gegeben zu haben scheint. Nach einer Rich- tung kann sie als Typus für die meisten Sologesänge der Hmoil-Messe dienen. Sie haben in der Mehrzahl etwas Idyllisches und erscheinen den Chören gegenüber, zwi- schen welche sie gesetzt sind, mit Spitta zu reden, wie die freundlichen Täler im Hochgebirge. Der an die Arie anknüpfende Chor: >Gratias agimusc weicht von dem Stile, in welchem diese Worte in der Instrumentalmesse üb- licher Weise wiedergegeben werden, merkbar ab. Von den Zeitgenossen leicht und anmutig behandelt, trägt der Satz bei Bach einen zurückhaltenderen, ernsteren Charakter frommer Demut. Wir haben Anzeichen dafür, daß gerade dieses Stück, welches auch die HmoU-Messe auf die Worte des »Dona nobis pacem« abschließt, dem Komponisten be- sonders lieb war. Die vierte Nummer des Gloria ist das Duett: (Sopran und Tenor) >Domine, rex coelestis, domine, Uli unigenite!« Ein lieb- Apdante^

HchesFlötensolomitdem /* (^t^frf}r^rt\f^ bedeutungsvollen Motiv: ff "**■.' y^kd UM ' ' ^r" einsetzend, führt den Chor der Instrumente; die Sing- stimmen tragen dicht hintereinander dieselbe Melodie (im Kanon) vor. Der Begriff der Einheit von Gott Vater und Gott Sohn, den die Worte >fili unigenitec enthal- ten, hat ersichtlich zu dieser niederländischen Form des

Gesangsatzes die Veranlassung gegeben. Von Kennern ist. es bereits häufig bemerkt worden, daß gerade die Hmoll- Messe von Bach an ähnlichen Zügen musikalischer Sym- bolik reich ist. Einen der schärfsten bringt das Credo in dem Duett: »Et in unum«. Der hier im Gloria zur Rede stehende Zweigesang: »Domine, rex usw.« besteht im Text nur aus Titulaturen. Zum Satze ergänzt werden sie erst durch den unmittelbar anschließenden Chor: »Qui toUis peccata mundi«, welcher in tiefer Ergriffenheit über den Versöhnungstod Christi, die Bitte um Erbarmen aus- spricht Das ist eins der Hauptbeispiele, wo der nummer- weise trennende Vortrag alter Musik zum schweren Ver- gehen wird. DieNummerierung gilt nur für das Einstudieren. Das Duett: »Domine« (No. 7) wird erst durch den Chor »Qui toUis« (No. 8) zu einem Ganzen. Die Altarie: »Qui sedes ad dexteram Patris« und die Baßarie: »Quoniam« setzen die Darstellung des Wesens Christi fort. Die erstere, im Klange durch die obligate Oboe besonders gezeichnet, legt ded Nachdruck mehr auf eine rüstig freudige Schil- derung der Würde des zur Rechten des Vaters sitzenden Christus, als auf die Bitte. Das »Miserere nöbis« wird mehr nebensächlich behandelt. Da muß der Vortrag nachhelfen. In der Baßarie, welcher Bach durch das durchgeführte Hom- solo und die mitgehenden obligaten Fagotte ebenfalls einen eigentümlichen Beiklang gegeben hat, ist ein stolzer Zug unverkennbar. Sie ist das feierlichere Seitenstück zu der bekannten Arie des Weihnachtsoratoriums: »Großer Gott und starker König«, setzt aber für ihre Wirkung noch entschiedener als diese eine schwere, in der Mittellage namentlich mächtige und volle Baßstimme voraus. Auch das Akkompagnement der Blasinstrumente macht diese Arie zu einem Stück schwerer Sorge für den Dirigenten. Ohne eine gute ergänzende Orgelstimme wird es immer befremdend, unverständlich bleiben. Wer den Charakter der Musik in den drei letztgenannten Sätzen auf sein Ver- hältnis zu den Textworten prüft, wird mit Bewunderung gewahren, wie diese Nummern doch und mit größter Feinheit in dem Hinblick auf den Zusammenhang unter-

* i9t <^

einander und als Teile einer größeren Gruppe von Sätzen entworfen sind. Das schließende Glied bringt Gipfel und Krone. Diesen Abschluß der Gruppe und zugleich auch des ganzen Gloria bildet der fünfstimmige Chor: »Cum sancto spiritu«, einer der mächtigsten und schwungvoll- sten Sätze der ganzen Messe: jauchzend, lachend und zugleich erhaben; überaus kunstvoll und doch auch vöUig gemeinverständhch und fortreißend. Nach einer präludierenden, die späteren Hauptmotive, jetzt aus dem Granit schwerer Akkordmassen, jetzt aus den mächtigen Fluten mehrstimmiger Figuren auftauchen lassenden Ein- leitung lenkt der Satz mit dem Einsatz der Tenöre

Vivace . , _^

if'i" ^ "'iiifl püpip^.rM'lffrfrrn

Cum Mn.cto- ipi . . ri . tn In glo

in die Form der Fuge ein.

Er wahrt aber innerhalb

UA ft-trit» A . meni derselben die Freiheit in

ganz außerordentlicher Weise. Wenn das Motiv a über die Tonmassen hinwegjauchzt, wenn mit dem anderen (b) die Stimmen in die höchsten Regionen steigen, nimmt der Satz den Charakter einer übermütig kräftigen und grandiosen, zwanglosen Freude an. Niemand denkt hier an musikalische Form und an die Strenge des Stils aber auch niemand an die bloße Möglichkeit Bach für den Pietismus in Anspruch zu nehmen.

In den Vokalmessen und auch in den meisten Instrumen- talmessen wird die Anfangszeile vom Gloria und vom Credo dem Liturgen am Altar allein überlassen; der Chor setzt in dem ers.ten Satz mit >Et in terra«, in dem andern mit >Patrem« ein. Bach hat diese liturgische Intonation mit in den Kunstsatz hineingezogen und beide Male dem Chor übergeben, beim Credo aber in einer sehr eignen Weise; denn das Thema, welches zu den Worten »Credo in unum deum« gesetzt ist, stammt aus dem Gregorianischen Choral. Es hat namentUch in dem breiten Rhythmus, welchen ihm Bach gegeben hat, einen sehr ehrwürdigen,

^ <93 ^—

altertümlichen Charakter, der durch die strenge Art der Durchführung, an welcher sich außer den fünf Sing- stimmen auch noch die beiden Violinen beteiligen, noch erhöht wird. Das Gewebe dieses Satzes ist nach nieder- ländischem Rezept mit einigen Kunststücken; Ver- längerungen, und mehrfachen Engführungen des Themas, versehen. Der Instrumentalbaß pendelt in unveränderten gleichmäßigen Schlägen darunter hin. Die starre Feier- lichkeit des Satzes will daran erinnern, wie das Bekennt- nis seit ewigen Zeiten gilt und weiter gelten soll. In einem unmittelbar anschließenden Chore, der in rüstigen, ent- schiedenen Rhythmen einsetzt, nimmt Bach die Worte > Credo in unum deum« noch einmal auf, bringt die Fortsetzung >Patrem usw.« gleich mit und feiert den Schöpfer Himmels und der Erden mit der vollen Freudig- keit, welche das gläubige Bekenntnis einem echt christ- lichen Herzen gibt. Hieran schließt sich das bereits er- wähnte Duett: »Et in unum«. Die Symbolik des »unum« gibt Bach da- Andante. zwischen Bläsern (stac-

mit wieder, daß •£ ^ j f }) S^ cato) und Geigern (le- er das Motiv *? gato) und zwischen beiden Duettstimmen (Sopran und Alt) in der denkbar engsten Nachahmung, nämlich in der Entfernung eines einzigen Viertels, abwechseln läßt? Auch andere Teile der Gesangthemen werden in Imitationen durchgeführt. Zuweilen treten die Singstimmen zusammen und Hand in Hand den Instrumenten gegenüber. Am Schluß der sehr sinnreichen Nummer, bei den Worten »descen- dit de coelis« legen sich überraschende Schatten . über die Harmonien und bereiten die Mystik der folgenden Nummer vor, d. i. des Chors: »Et incarnatus est«. Dieser, in welchem die Menschwerdung Christi geschil- dert wird, gehört mit dem »Qui tollis« des Gloria und mit dem unmittelbar folgenden »Crucifixus« zu den ein- fachsten Chören der Messe, was den Stil betrifft: vor- wiegend Deklamation, aus der kleine Melodiebiegungeu herausragen, in den Singstimmen; das Orchester bildet einen Schleier darüber, der aus einer in Dissonanzen II, 4. 4 3

«

schillernden und immer nach der Tiefe suchenden Figur gewoben ist: Alle vier Takte Periodenschluß! Aber was für ein Reichtum an Ausdruck und Stimmung unter die- ser einfachen Hülle! Alles, was der Gegenstand einer tiefen Seele entlocken kann, das ist in diesem kurzen Stücke zusammengedrängt und verschmolzen. Und nun folgt der vielleicht bewundernswerteste Satz der Hmoll- Messe, das »Crucifixus«. Starr das kurze Baßthema

Largo.

von Bach auch in anderen Werken gebraucht, bei ande- ren Komponisten in der chromatischen Zeit um 4 600 bis 1650 ebenfalls sehr beliebt, kehrt dreizehnmal wieder das Auge auf das halbverschleierte Bild des Gekreuzigten gerichtet, klagt der Chor in Wendungen, welche das Un- erhörte fühlen lassen, ohne die Leidenschaft zu streifen, welche Schmerz und tiefe Trauer in die edle Form eines Gebets fassen. Am Schlüsse stirbt der Gesang, der sich erst allmählich aus der Vorstufe von einzelnen Inter- jektionen entwickelt hat, wieder hin; der Mund versagt: unhörbares pia- ywace .^-— r**^

^ SrLt i'"i 'i'i iiriiMi

über die Worte: »Et resurr exit tertia diec im hellsten Glänze von vollem Chor und Orchester. Es ist der schärfste Gegensatz, der sich denken läßt, um Charfrei- tag und Ostern zu sondern. Die Auferstehung wird hier in einem Chore gefeiert, welcher reinste Volksmusik ge- nannt werden kann und dessen Freudigkeit, in der Triole gehörig gekennzeichnet, die Ausgelassenheit zuweilen berührt. Auch in der Instrumentation sind Elemente, deren populäre Herkunft sich nachweisen läßt, so das durch LuUy aus der alten französischen Instru- mentalmusik in die Oper gebrachte Trio von Flöten, Hoboen und Violinen (letztere als Baß), welches Bach den Ritornellen dieses Satzes wiederholt auf einen flüch- tigen Augenblick einschaltet. Der naive Zug, welcher

<95

der kirchlichen Kunst der Bachschen Zeit eigen war, in welchen" sich aber Bach wie auch Händel von den Neapolitanern dadurch unterscheidet, daß er nie ge- wöhnhch wird, dieser Zug kommt in der Schluß* nummer des Credo noch einmal und zwar nach einem ganz ähnlichen Plane, wie er hier zwischen »Crucifixus« und dem »Et resurrexit«; vorher zwischen den beiden Credosätzen besteht, zum Ausdruck. £s handelt sich bei diesem Schlüsse um die Worte: »Et e^specto vitam ven- turi saeculi«, welche Bach zuerst von dem Standpunkte des vor dem Tode bangenden Menschen in einem schwer- mütigen, thematisch strengen Adagio behandelt Dann aber nimmt er sie als der gläubige Christ, der den Freu- den des besseren Lebens entgegengeht, in einem über- wältigenden zuversichtlichen Vivace auf. Zwischen diesen beiden Hauptchören, dem »Et resurrexit« und dem »Et exspecto« steht die Baßarie: »Et in spiritum sanctum«, welche in kindlich glücklichen Melodien schwelgt. Beim Sanctus rollt uns eine Tonflut entgegen, die man sich kaum erklären kann. Die Tonsetzer des 4 8. Jahrhunderts verstanden durch rhythmische Mischungen und andere einfache Mittel dem Chorsatze Wirkungen zu entlocken, welche heute nicht so zur Hand liegen. Bei dem Ent- würfe der Stimmenverteilung mag auch Bach die Stelle aus dem Jesaias vorgeschwebt haben, in der es von dem Seraphim heißt: »Und einer rief zum andern«. Selig dahinschwebend tragen die Gruppen einander das »Sanc- tus« entgegen, um sich dann auf langen, prächtigen und glänzenden Vollklängen zu vereinen. Dieselbe Grundidee hat Bach auch in dem »Pleni sunt« und dem »Osanna« festgehalten. Letzteres ist ein sehr stattlicher, nicht gerade kirchlich, aber festlich wirksamer Doppelchor, In dem vollen Glänze des »Pleni« bilden kleine, für die Auf- führung sehr heikle, dreistimmige Sätzchen, die über die Sechzehntelmotive des Hauptthemas dahintrillem, freund* *• liehe Idyllen. Das »Benedictus«, eine Tenorarie, deren poetische Begründung weniger in der Singstimme als in den dieselbe umschwebenden, zarten und hohen Klängen

43*

^ 496 ^-T

der Soloviolme zu suchen ist, steht, abweichend, nach dem >Osanna«. Bach grappierte überhaupt die Schluß- teile der Messe vollständig gegen den kathoHschen Brauch. Aus >Sanctus« und »Pleni« bildete er eine Gruppe; ihre Musik wurde zur Einleitung der Abendmahlsfeier ver- wendet, ^u eigentUcher Abendmahlsmusik benutzte er die folgenden Sätze, stellte aber das >Osanna« an die Spitze dieser Gruppe, weil es den freudig danksagenden Charakter, welcher der letzteren nach ihrem liturgischen Zwecke eigen sein sollte, entschiedencfr hinstellt,' als das »Benedictus«. Die Altarie, in welcher Bach das ganze Agnus dei wiedergibt, ist eins der klassischen Zeug- nisse für die Möglichkeit, daß auch in den Formen der neuen Musik dem reinen Geist der alten Messe Gerechtig- keit widerfahren kann. Bach hat diese Möglichkeit durch- schnittlich in allen Nummern seiner »Hohen Messe c be- wiesen; unter denjenigen, welche sich in dieser Hinsicht noch besonders auszeichnen, ist aber das Agnus dei eine der ersten. Erfreulicherweise ist diese Arie auch ein populärer Sologesang geworden und dies trotz des schweren Stils, in welchem in ihr, ebenso wie in den anderen Sologesängen, die Singstimme mit den Instru- menten zusammengekoppelt ist Den Umstand, aus einer früheren Komposition für die Verwendung in der Messe umgearbeitet zu sein, teilt das Agnus mit einer Reihe der hervorragendsten Partien des )Yerkes: mit dem >Gra- tias agimus«, dem »Qui tollis«, dem zweiten > Credo c, dem »Crucifixusc und dem »Osanna«.

Bach hat seine Hmoll-Messe stückweise doch beim Leipziger Gottesdienste verwendet. Daß das Werk in der Dresdner Hofkapelle oder sonstwo in einer katholischen Kirche aufgeführt worden sei, ist nicht anzunehmen. Trotzdem war sie in dem Kreis der Bachschen Schüler und Enkelschüler so berühmt, daß im Jahre 4818 zwei Verleger zugleich ihre Veröffentlichung ankündigen*). Erst durch die Bachgesellschaft ist diese Absicht würdig

") Gesamtausgabe der Werke S.Bachs, 46. Jahrgang, S. XXIII,

verwirklicht, dem praktischen Musikhetrieh aber das unver- gleichliche, durch die Macht und Universalität der religiösen Empfindung, der poetisch künstlerischen Durchführung über Jahrhunderte hinweg leuchtende Werk schon bald nach der neuen Bekanntwerdung der Matthäuspassion wiedergewon- nen worden. Schelble in Frankfui^, Mendelssohn, nach ihm Hauptmann in Leipzig,brachten einzelne Sätze des ungeheuer schwierigen Werkes zu Gehör. Vollständige Aufführungen der ganzen Messe, denen die Berliner Singakademie bereits 1 835 die Bahn zu brechen suchte, haben sich in den letzten Menschenaltern eingebürgert. Neben dem Berhner Institut hat daran der Leipziger Riedelverein ein Hauptverdienst. Auch neben und nach S.Bach haben protestantische Ton- setzer, wie der ältre Fas ch , wie S t ölz el , wie derMeininger Ludwig Bach, von dem heute vor hundert Jahren eine zweichörige Messe als Sebastians Werk galt*), das Ordinarium einmal öder vielmals durchkomponiert. Es wird aber immer seltener. Einzelne Teile desselben dagegen sind auch von Protestanten noch sehr oft und sehr lange in Musik gesetzt worden. Ein solches berühmtes Bruchstück war das zwei- chörige »Sanctus« des Hamburger Ph. Em. Bach**). In Sachsen und Thüringen, dem alten Stammgebiet der Kanto- reien, erhielt sich der Brauch wenigstens an Festtagen, außer der gewöhnlichen, vor das Hauptlied gestellten Kirchenmusik auch noch Kyrie und Gloria>solemniterc aufzuführen, bis über die Mitte des 4 9. Jahrhunderts und bis in die kleineren Städte. Die beiden Sätze nannte man »KleineMesse« oder die >Mis s a b r e vi s«. Solche protestantische Missae breves sind hand- schriftlich noch in Menge vorhanden. Im Neudruck hegt aus dem i 7. Jahrhundert eine sehr schwache von R. A h 1 e **♦) und eine weit gehaltvollere von F.W. Zachowf) vor; für das

♦) B. W., Ebenda. **) Mit deutschem Text in der Sammlung Ton Rochlitz Teröffentllchtr

»♦♦) Denkmäler Deutscher Tonkunst, Bd. V. f) Ebenda. Bd. XXH. Ihre beiden Sätze ftind über den Choral: »Christ lag in Todesbandenc gearbeitet.

4 8. Jahrhundert ist die Gattung durch vier Kompositionen S. Bachs vertreten. Die dem Leipziger Bedarf gegenüber ge- ringe Zahl erklärt sich vielleicht daraus, daß Bach sich für ge- wöhnlich mit fremden, besonders mit italienischen Komposi- tionen behalf. Auch mit den vier eignen kleinen Messen hat er es sich leicht gemacht, zwei setzt er gänzlich, zwei zum Teil aus älteren Kantaten zusammen. Die Ton- art«i sind Fdur, Gdur, GmoU und Adur, die Ent- stehungszeit liegt in der Nähe der HmoU-Messe. Der achte Band der Bachgesellschaft bringt sie zusammen; die in Gdur und Adur sind bereits in. den zwanziger Jahren einzeln bei Simrock veröffentlicht worden. Die einzige von ihnen, welche uns häufiger in Kirchenkonzerten begegnet, ist die in Adur. Von besonderer Bedeutung ist ihr »Christe eleisonc als eines der ältesten und mächtig- sten Chorrezitative, welche wir besitzen. Annähernd originell und ungemein zart, rührend wirken in dem Chor- satze, welcher das Gloria eröffnet, die das brausende AUegro unterbrechenden langsamen Episoden (Adagio 3/4). Unter der sanften Musik zweier Flöten deklamieren die Chorstimmen, reihum, in jedem Abschnitt immer nur eine. Es ist nur ein spärliches Singen in diesen Stellen mehr ein verzücktes und ergriffenes Lauschen und Auf- blicken. Kaum wird jemand auf die Idee kommen, daß diese Musik nicht zu dem Texte entworfen sei. Und doch ist der Satz nur eine fast wörtliche Übertragung aus der Kantate: >Halt im Gedächtnis Jesum Christ«, in welcher allerdings die originelle Idee Bachs noch ursprünglicher zum Ausdruck Jcommt. Unter den Sätzen, die eigens für die Meßtexte komponiert sind, ist das Kyrie der Fdur-Messe der interessanteste. Er bildet eine Choral- fuge. Die fugierenden Stimmen sind Sopran, Alt und Tenor, der Baß hat sein Thema für sieb: die Schluß- zeilen der Litanei; der [Choral, welcher der Fuge (in Hörnern und Oboen) gegenüber gestellt wird, ist: »Christe, du Lamm Gottes«. Der Gedanke, das evangelische Kir- chenlied in die ^ößeren Kunstformen der protestantischen

499 ^

Kirchenmusik hereinzuziehen, den Bach in seinen Kan- taten am glänzendsten durchgeführt hat, läßt sich in der Messe bis auf Hammerschmidt zurückverfolgen. Die Namen der Vertreter dieser Methode wolle man in Ghry- Sanders >Händelc und Spittas »Bache nachlesen.

Von Bach geht das heutige Konzert in der Auswahl der aufgeführten Messen sogleich zu Beethoven über. Und es tut mit diesem Sprunge recht. Will man in Zukunft auf diesem Gebiete den Kreis der Tonsetzer des 48. Jahrhunderts mehr erweitern, so wird das in der Hauptsache nur mit Werken geschehen können, deren Schöpfer der ersten Hälfte dieses Zeitabschnittes angehören, mit kritisch ausgewählten Messen von Leo, Durante, Pergolesi, Perti vielleicht. Nach 4750 bilden Messen in einem guten," heute erträglichen Stile für längere Zeit nur Ausnahmeerscheinungen. Solche finden sich bei F. Tuma, bei Michael Haydn, dem Bruder F. Tnma. des Symphonienmeisters, bei J. G. Naumann. Den M. Haydn« durch 0. Schmidt Wieder zu Ehren gebrachten Böhmen J. 0. Vanmann. F. Tuma zeichnet Strenge der Arbeit und Ernst in den Ge- danken, die andren beiden vor ihren Zeitgenossen das Maßhalten in der Redefreiheit der Instrumente aus. Den Salzburger noch mehr als den Dresdner, welcher dem herrschenden Geschmack in, wenn auch kurzen und meist sinnvollen Solls der Holzbläser, vor allem der Flöten, kleine Opfer bringt. Auch spiegelt Naumann in dem weichen Grundtone seiner Messen, von denen die schöne klargefbrmte in As als die bedeutendste gelten kann, den empfindsamen Geist des 48. Jahrhunderts in ähnlicher, aber reinerer Weise wieder, wie auf dem Gebiete der Passion dies Grauns >Tod Jesu« tut. Nau- manns Vorgänger im Amte, der bedeutende Opemkom- ponist A. Hasse, steht an der Spitze einer Richtung der A. Hasse. Instrumentalmesse, die eine der größten in der Kunst- geschichte vorkommenden Verirrungen bedeutet. Der ganze geistige Kreis dieser in zahllosen Einzelwerken ver- tretenen Richtung ist so textwidrig als möglich: die An- lage der Sätze auf äußerliche Wirkungen, namentlich, auf

200 *—

Sologesang und Solospiel, gerichtet. Die Erfindung in den Themen nimmt häufig gar keine Rücksicht auf den Charakter der Worte und erscheint formell durchschnitt- lich ebenso einseitig wie billig. Die Singstimmen arbeiten mit kurzen Motiven vorwiegend munterer Art; werden sie breiter, so sind es in der. Mehrzahl schmachtende Phrasen oder handwerksmäßige, nichtssagende Fugen- leisten. In dem Orchester hört man mehr Eingebungen der komischen Oper und wohl auch des Tanzsaals, als solche einer kirchlichen Fantasie. Der Gesamteindruck der Messen dieser Schule erinnert an die Wechslertische im Tempel und an die korbbeladenen , auf Viktualien sinnenden Weiber, die den Weg zum Markt durch den Dom nehmen, um schnell auch ein wenig ziu beten. Heute, wo diese Richtung, in Deutschland wenigstens, für überwunden gelten kann und nur noch in obskuren Lan<knessen * nachspukt, können wir kaum begreifen, wie sie möglich gewesen. Sie hat verschiedene, zum Teil äußerliche Ursachen, die wichtigste in der Vernach- lässigung der Kirchenchöre und in der Stilverschiebung der kirchlichen Instrumentalmusik. Der Bachsche Thoma- nerchor, der häufig als Muster von Mangelhaftigkeit an- gesehen wird, erscheint als Eliteinstitut, wenn man den Durchschnittszustand der gleichzeitigen Kirchenchöre in Italien und im katholischen Deutschland nach den Be- richten von Gr^try, Burney und Schubart kennt. Eine Besetzung des Soprans mit einem oder zwei ganzen Knaben war die Regel; nimmt man dazu, daß an Orten wie Mailand ein einziger Kapellmeister (San Martini] die Hälfte aller Kirchen zu versorgen hatte, so ergibt sich der Schluß «auf die Leistungen allein. Eine erträgliche Chormusik fand man nur ausnahmsweise, etwa in Padua und München, solchen Ausnahmen steht die Tatsache gegenüber, daß der römische Chorgesang als > Geschrei« bezeichnet wird, daß in Ulm beim Beginn der Figural- musik die Gemeinde davonging. Was war natürlicher als daß da die Komponisten in ihren Messen den Schwer- punkt auf den Sologesang und in den instrumentalen Teil

legten? Für jenen konnten sie auf die Kunst der Kastra- ten, für diesen mindestens auf eine fertige Technik rech- nen. Beide standen, nachdem die Kirchensonaten und das Kirchenkonzert iJIre Selbständigkeit aufgegeben und sich in Form und Charakter der Kammermusik ange- schlossen, im Zeitgeschmack gleich hoch, insbesondere nahmen in der Meßmusik Symphonien und Konzerte einen sehr breiten Platz als Eingangs-, Ausgangs- und Zwischenstücke ein. Ihre Ausstaffierung mit Konzerten wird am reichlichsten durch die Autobiographien von Dittersdorf und Gyrowetz belegt, die Rolle, die die Sym- phonie darin spielte, ergibt sich aus Burney, der in Venedig mehrere Messensymphonien für zwei Orchester, von Galuppi sogar eine für sechs Orchester hörte. Bruch- stücke solcher Symphonien aus Messen Habermanns sind kürzlich veröffentlicht worden*). Wie die selb- ständige Instrumentalmusik in Kirche und Messe, ver- weltlichte folgerichtig auch die Orchesterbegleitung in den Messen. Das lag schon in dem Übergewicht der Violinen. In Deutschland ist es der jüngere G. Reutter, der alle diese Elemente der Entkirchlichung in der Messe sammelte und damit die Arbeit von Fux vernichtete. Auch Joseph Haydn und W. A. Mozart sind von seinem Einfluß soweit ergriffen worden, daß ihre Messen weder zu ihren noch zu den Hauptwerken der Gattung gezählt werden können.

J. Haydn den Symphoniker gegen Unterschätzung J, Haydn. zu verteidigen ist eine zeitgemäße Pflicht, aber sich für Haydn den Messenkomponisten zu ereifern, darf füglich den blinden Verehrern des großen Meisters, darf Leuten überlassen bleiben, die es an der Ordnung finden, wenn Messen ohne Kenntnis des Textes angehört und beur- teilt werden, für die an Festtagen ein Kyrie aufhört ein Kyrie zu sein. Es ist viel hebenswürdige, kindliche und rührende Musik in diesen Haydnschen Messen, durch

♦) M. Seiffert: F. J. Habermann (in F. X. Haberls Jahr- buch für 1903).

—^ 202 ♦—

die Naivität und die Herzenseinfalt des gebomen Volks- mannes sind sie alle köstlich. Aus Menschenfreundlichkeit und um den Ungelehrten entgegenzukommen, schreibt Haydn« wo es nur angeht, liedmäfifg, bevorzugt die jeder- mann vertrauten Formen der Arie und der Sonate und hält auch die Fugen schlicht und sinnfällig. Mit diesen Fugen sind Haydns Messen in der Auffuhrungszeit stark populär geworden uüd es in England, auch in Osterreich bis heute geblieben. In ihrem Verhältnis zu den kirch- lichen Forderungen lassen sie sich in zwei Gruppen scheiden; die vom Jahre 4782 ab geschriebenen sind durchschnittlich ernster und weniger ungeniert Aber auch die besten, die Cäcilienmesse, die Nelsonmesse, die Theresienmesse sind in sich ungleich. Diese Ungleichheit zeigt sich zunächst einmal darin, daß die Solosätze durch- schnittlich hinter den Chören zurückstehen. Auch bei letzteren ist zuweilen, z. B. in der heroischen Kyhefuge der Theresienmesse, der Ton vergriffen, aber durchschnitt- lich sind sie freier von anstößigen Stellen. Zweitens sind die Abschnitte des Lobens, Preisens, Dankens besser als die des Mitleides, des Klagens und Trauerns. Zwar ist Haydns Gottesfreude der stärkste Jubel und die tiefste Ehrfurcht versagt, sie variiert am liebsten den Ton der Chöre der »Schöpfung,« deren Arien klingen sogar direkt an. Aber er bleibt hier doch der Aufgabe nirgend soviel schuldig, wie so oft bei der Wiedergabe der dogmatisch tiefsinnigen und ergreifenden Stellen: Wie äußerlich kontrapunktisch das »Qui tolhs« in der Messe »in tem- pore belUc und in der Theresienmesse! Was für ein oberflächliches »Et incarnatus« hier und in der Nelson- messe! Der Haydn, der die »Sieben Worte«, der so schöne Motetten wie »Insanae vanae curae« komponiert hat, ist in den Messen nicht recht zu erkennen. Wir müssen es ihm aufs Wort glauben, wenn er seinem Griesinger*) ver- sichert, daß ihm die Messe zu schreiben nahe gehe und das Höchste sei. Wir müssen uns über das Gelungene

♦) Giie»inger, A: BiograpMBche Notizen, S. 116, 118.

-^ 203 ♦—

und Geniale, was auch diese Werke enthalten, gerade so freuen wie in der Architektur über den Wunderbau des Markusdoms. Aber wie diesen niemand als Muster eines christlichen Gotteshauses ansieht, so müssen wir auch dem Erzbischof von Hohenwarth recht geben und ihn dafür loben, daß er kurzerhand seinerzeit für die Wiener Kirchen die Aufführung Haydnscher Messen verbot! Unter diejenigen, welche mit dem Erzbischof gegen die Wende unseres Jahrhunderts die Schwächen der Messen Haydns und der ganzen Hasse-Reutterschen Schule erkannten, gehört Tieck. Im zweiten Teile des »Phantasus« verwirft er alle zeitgenössische Kirchen- musik und stellt (vor Thibaut) die alten Italiener als Vor- bild auf.

Mozarts Messen, welche jetzt, 4 6 an der Zahl, in Wi Ai Uoiaitt der Gesamtausgabe von Breitkopf & Härtel vorhegen, sind bis auf einzelne Ausnahmen Jugendarbeiten. Bio- graphisches Interesse bieten alle, entweder durch rührende Naivität, oder durch Anklänge an Mozartsche Meister- werke. Wird aber ihr Stil an der Hoheit des Textes ge- messen, so genügt er nur zum Teil. Denn Mozart stand bei seinen Massen unter den Überiieferungen der neapo- litanischen Schulen und war auch innerhalb dieser Gren- zen noch an den persönlichen Geschmack seines Salz- burger Brotherrn gebunden. Selbst die verhältnismäßig reifste unter seinen Jugendmessen (Nr. 6, Fdur), die durch kontrapunktische Arbeit durchweg auf eine höhere Stufe gelangt, vergreift hie und da den Ton, am auffälligsten im Kyrie.

Die hervorragendste Arbeit ist eine unvollendet ge- bUebene CmoU-Messe, die Mozart im Jahre 1782 begann und als eine Art Votivmesse in Salzburg aufführen wollte, wenn er Constanze als Frau dahin brächte. Sie ist am 25. August des folgenden Jahres auch . wirklich in der dortigen Feterskirche *- in den Lücken durch ältere Arbeiten ergänzt gesungen und von Mozart später zum größten Teil für den »Davide penitente« benutzt worden. Die früheren Messen überragt dieser Torso durch

—^ 204

die größere Anlage der Sätze > durch einen strengeren an Bach und Händel genährten Stil. Den Chören ist er allen zugute gekommen, und einzelne (das Kyrie, das »Gratias,« das »Qui tollis«) sind Perlen Mozartscher Kunst, die den Vergleich mit der Kantate »Misericordias Dominic, mit den >Confutatis, maledictisc und ähnlichen Sätzen seines Requiems wohl aushalten. An andern Sätzen aber zeigt sichs, daß der Meister noch nicht durch die Schule des Lebens gegangen war, am deutlichsten an den Sologe- sängen. Die Sopranarien »Laudamus te< und »Incamatus estc fallen sogar nicht bloß aus dem Gesamtton der Messe heraus, sondern in den altmodischsten äußerUchen Bravourstil herein. Es ist somit auch diese Messe eine stark ungleiche Arbeit. Indes enthält sie soviel schönes und eigenes^ daß der Versuch Alois Schmitts, diese Messe zu vervollständigen und dem geistlichen Konzert zuzu- führen, Anerkennung verdient. Der Bearbeiter hat für das fehlende »Agnus Dei< nach dem auch von Süßmayer im Requiem Mozarts benutzten Verfahren einzelner Ver- treter der alten Vokalmesse einfach die Musik des Kyrie wiederholt, für das Credo, das Mozart vor dem »Cruci- fixus« abbricht, unbekanntere Kirchenstücke des Meisters benutzt. Freilich bleibt auch jetzt noch zwischen dieser Messe Mozarts und seinem Requiem oder gar zwischen ihr und der Hmoll-Messe S. Bachs und der Beethoven- schen Festmesse ein Abstand, auf den man nicht erst durch herausfordernde Vergleiche aufmerksam machen sollte. BeethoTen, Beethoven hat zwei Messen geschrieben, von

Messe in G. welchen die erste (Cdur, op. 80) zwar nicht von den Chorvereinen, aber von der Kritik in einem ähnlichen Grade hintangesetzt zu werden pflegt, wie des Meisters zwei erste Symphonien und andere Jugendwerke. Diese Cdur-Messe hat allerdings an Beethovens >Missa solem- nis€ einen unüberwindlichen Nebenbuhler; aber sie ist keineswegs ein unbedeutendes, sondern vielmehr ein in der Geschichte der Instrumentalmesse vollgültiges und merkwürdiges Werk. In den Einzelheiten läßt diese

. -^ 205 ♦—

Messe berechtigte Wünsche offen, aber in der musika- lischen Stimmung der einzelnen Sätze, in der Wahl der meisten ihnen zugrunde gelegten Tongedanken darf sie ein würdiges und herrliches Werk genannt werden. Die Messe in C ist Beethovens erste Arbeit in dem eigentlich großen Stüe geistlicher Chorkomposition. Wir wissen nicht, ob Beethoven, sei es durch die Praxis der Bonner Hofkapelle, sei es durch den weiten Blick seines hoch* gebildeten Lehrers Neefe, in diesem Stile auf bessere Muster als die in der Zeit herrschenden hingeführt wurde. Oder war es die Kraft des eignen Geistes, welche ihn hier, ähnlich wie in der »Trauerkantate auf den Tod Josephs des Zweiten« und in den geistlichen Liedern auf einen höheren Weg hob? Tatsache ist es, daß sich Beethoven mit dieser Gdur-Messe auf einen ganz anderen Boden stellte, als der war, auf welchem die Messen seiner Zeit, auch die Haydns und Mozarts, zu entstehen pflegten. Diese Abweichung von dem Hasse-Wienerischen Kirchen- stile ist dem Werke lange Zeit übel vermerkt worden. Der Fürst Esterhazy, in dessen Kapelle Beethoven die Messe zur nachträglichen Feier des (^eburtstags der Fürstin, an Maria Namensfest am 45. September 4 807 zum erstenmal aufführte, empfing den Komponisten nach beendigtem Gottesdienst mit der Frage: »Aber, lieber Beethoven, was haben Sie denn da wieder gemacht?« und den zur Seite dabei stehenden fürstlichen Kapell- meister (Hummel)* sah Beethoven, nach Schindlers Bericht, lachen. Noch viel später war es Brauch, den kirchlichen Charakter dieser Messe, und zwar immer im Hinblick auf die Werke Haydn^s, zu bemängeln. Der Erste j welcher unter den musikalischen Schriftstellern entschieden für die absolute und relative geistige und religiöse Über- legenheit dieser Cdur-Messe eingetreten ist, verdient rtÜ^mend hier angeführt zu werden. Es ist Dr. F. P. Graf Laurencin*).

*) Dr. F. P. Graf Laurencin, Zui Geschichte der Kiichen- miiglk. Leipzig 18Ö6*

Wie an einem Geiste, der in der Messe lange nicht so nachdrücklich gesprochen, so ist die Cdor-Messe Beethoveh's auch an neuen Formen. reich. Am meisten tritt unter ihnen die enge Verbindung von Chor und Solo hervor, welche Beethoven hier angewendet hat. Ein Wechsel von Chorsätzen und Solopartien, bald in längeren, bald in kürzeren Abständen, war in der Instrumental- messe von Anfang an üblich, aber das Ineinandergreifen und Zusammenwirken beider Gruppen, wie es Beethoven hat, ist eine taktisch viel reichere und belebtere Form, deren Vorbilder auf dramatischem Boden, wenn auf dem geistlicher Musik: in weiter zurückliegenden Zeiten zu suchen sind: den antiphonischen Chorbauten der vene- tiaüischen Schule. Das durchgehende Soloquartett, V9[elches mit dem Chor addiert, den Vokalsatz der C dur-Messe als einen achtstimmigen erscheinen läßt, hat die letztere mit der >Missa solemnisc gemein.

Das Kyrie hat die Anlage einer dreiteiligen Arie. Die Sonderung dieses Teils in drei getrennte, selbst- ständige und thematisch verschiedene Sätze, wie sie in der alten Vokalmesse üblich war und wie wir sie noch in den Messen Bachs treffen, war in der Instrumental- messe schon lange vor Haydn aufgegeben. Sie kommt noch vor, z. B. bei Cherubini, aber nicht als Regel. Der Hauptsatz und die mit ihm gleichlautende Wiederholungs- partie des dritten Teils im Kyrie der .Cdur-Messe be- ginnen mit einem liedartigen viertaktigen Thema von frommem, hoffnungsvollem Ausdruck. Er schließt mit einer Wendung ins höhere Pathos und bringt am Ende eine schöne und , Andante. taucht in der

kühne Modulation. jE 18 J T "J 1 -I : Orchesterpartie Sein erstes Motiv ^ '' * der Messe wie-

derholt auf und dient im Hauptsatze des Kyrie den Singstimmen noch weiter dazu, die angeschlagene Ge- betsstimmung weiter zu entwickeln. Sie wird unruhige]: und trüber, bis die Bläser das Wort ergreifen und mit einigen wenigen Takten in den schönen warmen Mittel- teil des »Christe eleison c (Edur) einlenken. Er ist

—^ toi

einfach, innig und kurz. Nach wenigen Perioden^ an deren Schluß die Zuversicht auf die Hilfe des Gottes- sohnes mit echt Beethoven^scher Entschiedenheit und Dringlichkeit ausgesprochen ist, steigt das ohen mitge- teilte Anfangsmotiv d^s Kyriesatzes aus der Tiefe, zu- nächst aus den Fagotten und nach ihnen den Männer- stimmen, wieder auf und führt uns hald in den Haupt- satz zurück, der his auf eine dunkle Äkkordnuance am Schluß und ein sehr s.chön gedachtes Unisono der still vor sich hinhetenden Sin^stimmen wörtlich wie- derholt wird. Das Gloria hat ebenfalls dreiteilige An- lage. Der erste Teil, vor dem »Qui toUis« abschließend, ist ein AUegro im raschen C- Takte. Seine erste Hälfte rauscht in freudigem Drange vorüber; Aufent- halt wird nur bei »bonae voluntatis« genommen und beim >Glorificamus te«. Die Musik des Chors hat den Charakter eines schwungvollen, feierlichen Anrufens der Gottheit, durch kürze Stellen frommer Demut sehr packend unterbrochen: Die bedeutendste letztere]^ Art ist die von den Hörnern eingeleitete bei »Et in terra pax«. Die Einheit des ganzen Abschnittes wird formell durch e ' j. . , ausgeprägt,

das immer wie- ^" j ^ J JJ J ' J ^ ^ Die zweite

derkehrende Motiv Hälfte des

ersten Teils besteht aus einem innig und ruhig ge- haltenen Tenorsolo auf die Worte: »Gratias agimus tibic, in dessen Satzendungen der Chor bekräftigend einfällt Der zweite Teil des Gloria ift ein Andante mosso im ^/^-Taki (Fmoll), vom Soloquartett mit herr- lichen Gebetsmelodien, aus denen Hingebung und auch ein leises Zagen spricht, ausgeführt. Der Chor schließt sich nur einmal psalmodierend an und tritt erst in der zweiten Hälfte, von dem feierlich erstaunten >Qui sedes« an, in Wirksamkeit. Nachdem er zuerst das »Misererec in angstvoller Steigerung ausgesprochen hat, führt er es in dem vertrauensvollen kindlichen Tone weiter, mit welchem das Kyrie begann, auch mit Benutzung des Hauptmotivs desselben. Den dritten

208

Teil, d. i. den Schluß des ^^__^_.

Gloria bildet ein kräftiger A n p* p | J p | p |i j und Satz; in welchem die Motive qlao.al. «d tn to.£u

I I I 7| I I

'M r 1 1 r I I r r f p MT r

CiuB tui^t« ipi.ri.ta bfio.ci.s Oe.l P».fr{s.

in engen kontrapunktischen Verbindungen, in einzelnen Abschnitten fugenartig, durchgeführt werden. Das »Amen« erhält eine besondere Auszeichnung durch Harmonien, Deklamation und eigenen thematischen Nachgesang.

Im Credo, dem gefürchtetsten Text, den die geist- liche Vokalkomposition überhaupt bietet, tritt das Beethoven von seinen unmittelbaren Vorgängern und Mitarbeitern unterscheidende Prinzip des musikalischen Entwurfs der Messe am klarsten hervor. Es ist die Be- achtung des Sinns aller einzelnen Sätze, Satzteile und bedeutungsvoller Einzelworte. Während andre sich darauf beschränken, die Hauptstimmung eines ganzen Abschnitts wiederzugeben und auch diese Aufgabe wohl der Bequemlichkeit des formellen Entwurfs unterordnen, geht Beethoven an keinem Begriffe vorbei, welcher eine eigne Geltung hat. Die Folge davon ist, daß der Chor- satz im ersten Teile des Credo (bis zum »Et incamatus est«), dem Hörer keinen thematischen Anhalt bietet. So- viel Motive, als der Text Begriffe bietet. Doch ist der Empfindungsgrund, aus welchem sie geschöpft sind, der gemeinsame einer des Staunens vollen, manchmal in scheuem Tone sich äußernden Bewunderung. Im Orchester hat Beethoven die Zusammengehörigkeit dieser vielzah- ligen Deklamationsab- Aüegro. auszudrücken schnittchen durch das '^ i| J^J | J J | n = gesucht. In Festhalten des Motivs ff * i V den Biogra- phien des Tonsetzers wird über den Ursprung dieses Mo- tivs eine Anekdote erzählt. Mit dem Eintritt der Worte: »Qui propter nos homines« wird der etwas starre Dekla^ mationston des Satzes weicher, und leitet sehr schön in den Mittelteil des Credo, den Abschnitt von »Et incar- natus< bis zum »Et sepultus est« über. Die ganze

-3^ t09 *

Partie, an der das Soloquartett wieder hervorragend be- teiligt ist, klingt wie in Andacht getaucht. Besonders treten die schmerzlichen Rufe beim »passus« hervor; femer die eingeschalteten Klagemotive der Instrumente und der mit einer stechenden Dissonanz der Altstimme gefärbte, hinsterbende Schluß des Chors. Mit dem »Et resurrexit«, welches den Schlußteil des Credo beginnt, wird der Ausdrux^k wieder freudig, zuweilen bis zu einem stürmischen Grade. Die Deklamation hat stellenweise einen geradezu streitbaren Charakter. Ruhiger gehalten, breiter aussingend, ist fast nur der Abschnitt des Solo- quartetts: »Et in spiritum sanctum«. Auch in diesem dritten Teile des Credo bleibt die Genialität wieder zu bewundern, mit welcher Beethoven die Einzelheiten im Text mit einem einzigen Strich eindringlich veranschau- Ucht. Man vergleiche die Töne und Farben beim Er- scheinen der.Propheten (»Qui locutus est usw.«) und dann wieder an der Stelle, wo der Toten gedacht wird. Die herkömmliche Fuge beim »Et vitam venturi saeculi« be- setzt Beethoven mit einem rollenden Thema und bedient sich in seiner Ausführung verschiedener Mittel der Span- nung; namentlich am Schlüsse des Ganzen.

Das Sanctus ist ein sehr kurzer Satz. Die Bläser eröffnen ihn mit einer erwartungsvollen zarten Musik, welche von den Singstimmen aufgenommen und mit feierlich fremdartigen Modulationen weitergeführt wird. Das »Pleni« ist festlich mit schmetterndem Ausklang, ebenfalls sehr kurz; das »Osanna« ein fugierender Satz über ein Thema, welches Glück und Dankbarkeit zu atmen scheint. Während in diesem Teile alle Weisen rasch ab- brechen, hat das »Benedictus« eine außerordentlich breite Anlage. Es beginnt im Soloquartett in sehr einfacher, frohfrommer Stimmung, die allmählich in ein Schwelgen von Se]:inen und Begrüßen übergeht. Der Chor summt erst leise nach, gerät dann aber in Begeisterung und Ver- zückung. Beethoven führt ihn in diesem Satze vorwiegend in Unisonos. Die Wiederholung des »Osanna« schließt die Abteilung.

II, 1. U

Das Agnus dei beginnt mit zitterndem Orchester, der Chor ruft in heftiger Angst: die Stimmung des Satzes ist außerordentlich unruhig und gedrückt; fast das einzige freundliche Element in ihm die Achtelfigur der Instru- mente. Mit letzterer leitet die Oboe den Übergang ein zu dem »Dona nobis«. * Der Einsat? des unbegleiteten Solo- quartetts, der ruhige Ton sicherer Hoffnung, der daraus klingt, läßt dieses einfache Sätzchen wirken wie reinen Himmel nach schwarzen Wolken. Lang hin breiten sich die Akkorde auf das »pacem« aus; der Chor wiederholt den Friedensklaiig, zuweilen heftig, wie von einem Rest der Beklommenheit getrieben. Sie bricht auch wirklich nochmals hervor und äußert sich bei der Wiederholung des »Agnus dei, qui toUisc noch einmal kurz in dem Schreckenscharakter, mit dem der Satz anfing.

Im Jahre 4 813 erschien eine Partitur ausgäbe der Cdur-Messe (bei Breitkopf & Härtel) mit dem Nebentitel »Drei Hymnen usw.<. Diese Bezeichni^ng, ersichtlich auf die Verwendung des Werkes im Konzert berechnet, läßt sich, bezüglich der Dreiteilung, wenigstens aus dem liturgischen Verhältnis der Sätze rechtfertigen. Denn im Hochamte bilden Kyrie und Gloria, und ebenso Sanctus und Agnus dei geschlossene und zusammenhängende Akte. Die dieser Ausgabe beigegebene deutsche Ober- setzung — »Tief im Staub anbeten wir dich, den ew'gen Weltenherrscher usw.« wird den Deklamationseigen- tümlichkeiten der Beethovenschen Musik sehr wenig ge- recht und ist glücklicherweise gegenwärtig wieder außer Brauch gesetzt. L. y. Beeihorea, Die zweite Messe Beethovens, seine ebenso bewun-» Missa derte als gefürchtete »Missa solemnis« (Ddur, op. 128), ist solemnis. das Werk des in doppelter Schule von Leben und Kunst zu vollster Eigentümlichkeit ausgereiften Meisters. Zeit- lich und geistig eine Art Nachbarin der neunten Sinfonie (op. 125), steht sie über der Vorgängerin in C durch die Freiheit und Bestimmtheit, mit welcher Beethoven in dem neuen Werke seine IndividuaUtät walten läßt, durch die Größe und Fülle der musikalischen Formen. Aber im

2n ^^

technischen Plane und in den geistigen Anschauungen zeigen sich heide Werke als Geschwister. Gemeinsam ist ihnen der hohe Ernst in der Erfassung, des Textes im ganzen, gemeinsam die Richtung auf anschauliche Aus- gestaltung aller einzelnen Worte von Bedeutung. Die verwandtschaftliche Ähnlichkeit läßt sich bis auf die ziemlich wörtliche Übereinstimmung in der Wiedergabe bestimmter Züge verfolgen. Beim Vergleich deir Stelle »passusc in beiden Messen dürfte sie am klarsten hervor- treten.

Beethovens Messe in D gehört unter den auf Er- neuerung der Kunst gerichteten Werken seiner dritten Periode zu denjenigen, bei welchen es sich der so wie S3 kritischste aller Tonsetzer ganz besonders hat sauer werden lassen. Schindler, dem wir in diesem Punkte . Glauben schenken dürfen, schildert drastisch den Zustand der Aufregung, in welchem sich der Meister zu wieder- holten Malen während der Zeit befunden hat, in welcher das neue Hochamt in seinem Innern nach Gestaltung rang. Die Skizzen zu dem Werke, wie sie uns neuer- dings aus Nottebohms Nachlasse*) vorgelegt worden sind, bilden klassische Zeugnisse für die einzelnen Stationen dieses heißen Mühens und bestätigen wieder die ganz eigentümliche Art, in welcher Beethoven die Form dem Geist unterzwang. Wie in einer poetischen Vision leuchtete ihm der Punkt voraus, welcher der geistige Mittelpunkt eines, großen Gebildes werden sollte. Ihn festhaltend, steuerte er sein Schiff in tausend Wendungen, kreuzte und kämpfte wie ein Cohimbus, bis der sichere Weg gefunden war. Eine Stelle, die dieses Verfahren in ähnlicher Deutlichkeit und Besonderheit, wie -die be- rühmte Hornstelle in der »Eroicac veranschaulicht, ist in der Ddur- Messe die Einführung der Kriegsmusik im Agnus dei. Sie wurde zur fixen Idee bei dem Entwurf dieses Satzes, der Pol, um den die Fantasie des Meisters in immer neuen Versuchen kreiste. Die Skizzen zu der

•) Nottebohm, G., Zweite Beethovenlana, Leipzig 1887.

U*

242 ♦>—

»Missa solemnis« umfassen die Jahre 4 848 bis 4822, eine Zeit, die in der äußeren Geschichte des Meisters sich ziemlich schm.erzlich auszeichnet. Beethoven begann die Komposition, als die Ernennung des Erzherzogs Rudolf, seines Schülers, zum Erzbischof von Olmütz be- kannt wurde. Sie sollte als Festmesse bei der Einführung im nächsten Jahre dienen, wurde aber erst Ende des Jahres 4 822 > fertig. Von der Aufführung einzelner Sätze des Werkes i. J. 4 823 ist oben schon die Rede gewesen. Vollständig kam die Messe zuerst im Jahre 4 824 zu Gehör ui^ zwar in Petersburg, wo Fürst Galitzin das Werk für ein Konzert der Musikerwitwenkasse erworben hatte, ein Ereignis, welches aber, abgesehen von einem kurzen,, entzückten Bericht in der Allgemeinen musikalischen Zeitung für jene Zeit spurlos vorüberging! Die nächste nachweisbare Aufführung fand in einem jener stillen,, musikalisch aber schwungvollen und reichen Winkel statt, an denen Deutschland auch jetzt, in der Zeit der hereinbrechenden Zentralisation glücklicherweise noch nicht ganz verwaist ist: in der böhmischen Lausitz zu Warnsdorf, i. J. 4830 unter Leitung des Kantors J. V. Richter. Weihnachten 4 832 dirigierte sie Moscheies in einem Privat- konzert des Mr. Alsager zu London. Die Aufmerksam- keit größerer Kreise und die Popularität, welche Beethoven, trotz der hohen Meinung, die er von seiner »Missa so- lemnisc hegte, selbst erst von einer späteren Generation erwartete, kam, nachdem das Werk i. J. 4 844 auf einem rheinischen Musikfeste durch H. Dorn vorgeführt worden. Gleich im folgenden Jahre, 4845, brachte sie E. F. Richter, der spätere Thomaskaiitor, einer der trefflichsten unter den Musikern, welche prunklos in dieser Stadt gewirkt haben, in Leipzig zu Gehör. Es kann nicht die Aufgabe sein, hier die langsamen Schritte in der Statistik der praktischen Einführung der »Missa solemnis« alle nach- zuzeichnen. Einen Wendepunkt, von dem aus es rascher ging, bildet das Jahr 4868 dadurch, daß von jetzt ab Carl Riedel mit seinem Verein für das Werk in regel- mäßigen Aufführungen nicht bloß in Leipzig, sondern

--^ 2U >—

auch auf den Festen des AllgemeinenDeutschenMusikvereins eintritt. Heute ist es allen bedeutenden Chorvereinen pflicht- , mäßig bekannt. Die einzige Stelle, wo es alljährlich auch im Gottesdienst erscheint, ist der Dom zu Preßburg*).

Dem Vergleich von Beethovens >Missa solemnis« mit Bachs »Hoher Messe« ist wohl jeder Leser schon begegnet. Die beiden Werke haben Äußerlichkeiten gemein: die Schwierigkeit der Ausführung und, in verschiedenem Grade, auch des Verständnisses, die große Länge, welche sie für die Liturgie ungeeignet macht Aber die inneren Berührungspunkte sind nicht zahlreich. Schon der Ent- wurf der Form, das musikalische Gewebe beider Werke, zeigt auf einen ganz verschiedenen Geistesgrund: Bach vertieft sich ruhig in breiten Einzelbildern, die er zu großen Zyklen aneinanderreiht, Beethoven drängt Ereig- nisse und Figuren in große Gemälde zusammen und sucht die Massen durch scharfe Charakteristik aller einzelnen Erscheinungen und Gruppen zu sondern und zu klären. Die Methode des Entwurfs unterscheidet sich bei beiden Meistern wie Stollen und Schacht. Der Vortrag der Ge- danken ist bei Bach durchaus melodisch-kontrapunktisch, bei Beethoven zur guten Hälfte deklamatorisch. Beethovens Messe macht nach Anschauung und Ausdruck an die geistige Mitarbeit des Zuhörers größere Ansprüche als die Bachs und setzt namentlich in den großen Sätzen: Gloria und Credo einen schnellen und beweglichen Geist und ein scharfes Tonverständnis voraus.

Diejenigen Sätze, welche die wenigsten Schwierigkeiten bieten, sind Kyrie und Sanctus.

Das Kyrie ist, wie in dei^ Cdur-Messe, dreiteilig; erster und dritter Teil sind nahezu gleichlautend. Der Satz, welchem Beethoven die Vortragsbezeichnung »Mit Andacht« gegeben hat, beginnt mit einem Vorspiel des Orchesters, in welchem die Blasinstrumente das Haupt- thema des Kyriesatzes vortragen. Beethoven hat in

*) Hans Volkmann: B. Volkmann, S. 109. Um 1845 scheint sie anch Moritz Hauptmann Tersnchsweise für die Leipziger Kirchen benatzt zu haben (Hauptmanns Briefe an F. Hauser, II, 28).

t

seiner D dur-Messe den Blasinstrumenten besondere Auf^ merksamkeit geschenkt; hier im Kyrie beruht ein Teil der feierlichen Wirkung des Satzes auf der Verwendung ihrer Klänge. In dem Band von Skizzenheften , welche den Jahren 4 819 bis 4822 angehören, befindet sich eine Bemerkung: »Das Kyrie in der Neuen Messe bloß mit blasenden Instrumenten und Orgel«. Wir wissen nicht, ob sie sich auf das Kyrie einer etwaigen, geplanten dritten Messe oder auf das Kyrie der >solemnis« bezieht. In letzterem Falle müßte dieses später entstanden sein als die ihm folgenden Sätze. Jedenfalls beweist sie, daß Beethoven den Blasinstrumenten in der Kirchenmusik eine außerordentliche Bedeutung beilegte.

Nachdem das Orchester so den Grundton für die Stimmung des Kyrie gegeben hat , naht sich die Sänger- schar, Chor und Soli, in ehrfurchtsvollem Schritt. Dreimal wird der Name des Herrn, wie unter langen Verbeugungen, angerufen, sie treten dem Throne in gemessenen Absätzen näher und nun erst spricht der Führer die Bitte aus: »eleison«. Es ist ein Gnadenruf aus frommen guten Herzen, aus reiner, aber demütiger Seele. Das ganze Thema sieht folgendermaßen aus:

Assai sostenvto. Jen.Soio ' S«p.Soto

Chor Ky - - .- ri . e, Choj_ Ky_

AltSdo »i - •. Ckor Ky . . . ri . e . lel . . »<»|.

Ky . . ti .

Es ist wieder in ganz eigner, lebendiger Art aus dem Zusammenwirken von Chor und Soli entwickelt Für den thematischen Aufbau des Satzes ist das eingehakte Motiv wichtig, namentlich die Quar- . ...'-^^'''■■■"'"'"Vr"^

tenwendung. Aus ihr ist auch j^ r^ljT T Fl das herzliche Zwischenspiel HF ' ' ' ' "^ '

gezogen, mit welchem die Bläser der auf einem gemein- schaftlichen Ton schlicht hinhetenden Chorgemeinde wiederholt im Satze Vertranen und freudige Zuversicht . zuzusingen scheinen. Und tatsächlich beherrschen diese Empfindungen den Satz und heben sich zum Ausdruck einer unverhohlenen naiven Freude, als sich der Gebetsakt mit dem »Ghriste eleisonc dem Sohne Gottes zuwendet. £s liegt in diesem mit dem frischen, muntern Rhythmus einsetzenden Teil des Kyrie, in diesen unaufhörlichen, freundlich lebendigen Zurufen, in diesen kosenden Figuren etwas vom Reize einer Kinderszene. Doch bleibt der ehrfürchtige Charakter gewahrt und kommt namentüch

, in dem leisen, auch den, Abschiedsschmerz andeutenden

I Schlüsse zum bestimmten Ausdruck.

Das Gloria hat vier Hauptteile: die mittleren sind kürzer, der anfangende und schließende sehr ausgedehnt und gliederreich. Der erste Teil, dessen letztes Glied das »Domine Dens rex Christe« bildet, ruht auf dem jubelnden Thema, mit welchem die ^ ^ Aüegro vivace. ^. ^ •^^ .^ Anfangsworte des Glo- [ft'^H (* p p |P P T P | 1 |^g ria selbst einsetzen: oio.ri.» iB«ueei.us O0 . * oi Es gleicht in seiner einfachen Fassung mancher alt- kirchüchen Intonation und hat vielleicht eine wirkliche liturgische Quelle. Beethoven hat ihm eine elementar fortreißende Kraft entlockt und verwendet es oft wie einen unwiderstehlichen Lockruf der Begeisterung. Mit ihm schwingen sich die Chorstimmen von Höhe zu Höhe, mit ihm rufen die Stimmen des Orchesters, die es zu- gleich häufig erweitern und umspielen, von den Stellen andächtiger Sammlung wieder hinweg zu mächtigen Ausbrächen der Freude an Gott. Die Episoden, welche von diesem Grundcharakter des ersten Teils des Gloria sich absondern, sind das freundlich ruhige: »Et in terra pax«, das auf festem Motiv fugierende »Glorificamus te< und das »Gratias agimus tibi«. Letzteres bildet den längsten Zwischensatz in diesem Teile. Es ist eine langsamer ein- setzende Musik, mit dem Charakter zarter Anmut, wie er in den Messen der Beethovenschen Zeit für diese Worte

—^ 2<6 ^>—

üblich, geworden, war. Die Alten, denen sich auch S. Bach in der »Hohen Messe« angeschlossen hat, ziehen in der Regel eine feierliche Weise des Dankes vor. Den höchsten Grad von Weihe zeigt hier z. B. Palestrinas »Assumpta est Maria«. Eine der Beethovensohen Auf- fassung näherstehende Ausnahme findet sich in der fünfstimmigen Fdur-Messe des Orlando di Lasso. Beim »Domine deus« nimmt das Orchester das Gloriathema wieder auf, der Chor deklamiert die Anreden des Höchsten mit nachdrücklicher Betonung dazwischen, namentlich von dem Begriffe des »omnipotens« aufs Höchste er- griffen. Eine kurze Wendung weicherer Art tritt wieder ein, als sich die Soli dem Sohne Gottes' mit: »Domine fiU unigenite« zuwenden. Den zweiten Hauptteil des Gloria bildet das »Qui tollis peccata mundi«, ein Satz, der durch Tempo und Tonart (Larghetto 2/4, Fdur) sich scharf von dem vorhergehenden abhebt. Der Verstoß gegen Grammatik und Sinn, welcher darin liegt, daß der Relativsatz ganz vom Subjekt getrennt ist, war allem Anscheine nach durch die Tradition selbst für den scharfen Kopf Beethovens geheiligt. Mit schwerem Herzen wird hier des Leidens Christi und der Sünden der Menschheit gedacht, um Erbarmen und Erhörung geheten. Instrumente und Singstimmen fangen be- klommen an, die Töne fallen wie Lasten, die Melodien teilen sich zwischen Zagen uhd Inbrunst, und der Chor steht oft wie scheu und mit gelähmter Zunge in der Ferne und stammelt nach, was die Solostimmen für ihn gesprochen. Besonders rührend sind die Stellen des »suscipe deprecationem nostram«. Merkwürdig, .ja ab- sichtlich gewaltsam sticht gegen diesen Ton der Zer- knirschung und des Kleinmutes der kräftig imposante Ausruf ab: »qui sedes ad dexteram patris«. Die Szene verklingt wie eine ungelöste Frage, die Pauken geben noch einige Tropfen Schauer hinzu, dann richtet sich das Orchester plötzlich fest auf: der dritte Hauptteil, das »Quoniam«, beginnt. Es ist ein kurzer Satz, mehr deklamiert als gesungen, technisch interessant durch die

^ 217 ♦—

scjiarf berechnete Verteilung der Akzente, von denen die harmonisch ausgedrückte Betonung des »tu« schon häufig erwähnt worden ist. Der vierte Hauptteil enthält nur die Worte »in glori'a dei patris, Amen!« Er zerfällt wieder in drei Abschnitte. Der erste ist eine Fuge über das Thema:

AUegjo ma non troppo ^^,^ ^^^.^^ ^

tD glo . . . . . rL» De.i pa Uris, a .

das in seinem Achtelteil und in dem aus Vierteln ge- bildeten Motiv gesondert durchgeführt wird. Der zweite Abschnitt ist im wesentlichen nur eine Fortsetzung des ersten, gesteigert durch schnelleres Tempo und das Zu- sammenwirken von Soloquartett und Chor, im Inhalt da- durch erweitert, daß das Thema des »Quoniam« rhythmisch mit anklingt. Von besonäerer Gewalt sind die wenigen Takte, wo die sämtlichen Stimmen das Achtelmotiv unisono singen. Beethoven ließ sich mit diesem mäch- tigen Ausdruck himmlischer Freude noch nicht genügen und nahm noch einen frischen Aufschwung zu einem dritten Abschnitt. Dieser bringt die' Worte und das Thema vom Anfang des ganzen Gloriasatzes, aber im Presto, wie in einem Rausche des Entzückens, ebenso kurz als kühn und fast verblüffend. Die ÄhnUchkeit mit dem Ende des Finale der neunten und fünften Symphonie ist nicht zu verkennen. Das ganze Gloria verlangt von den Ausführenden sehr viel. Im Chor hohe Töne ohne Zahl, im Orchester namentlich für die Posaunen Figuren, dife fast unerhört sind.

Noch schwieriger ist aber das Credo. Dem Chor mutet es große Anstrengung zu; dieiSoprane sind gerade- zu rücksichtslos behandelt. Aber auch dem Hörer wird es wenigstens in der ersten Hälfte des Satzes nicht leicht gemacht, da die AU9manontropp*. beherrscht den Satz Motive sehr viel ib.i. f* r if j ~ ^^^ ^^^ ^^ ^®^ Stelle wechseln. Das ""'^ K ' I I ' f = »ante omnia saecu- Eingangsthema cro.do. «0.40. j^^ ^^^ tj.j^ ^^^j^^^

erst nahe am Schlußteile wieder hervor. Es spricht den festen und freudigen Ton des Bekenners. Marx hat aKer wohl etwas hineingehört, was nicht darin liegt: ein »Muß«, einen Kampf und Trotz gegen den Zweifel. Weder der Auf- bau dieser vier Noten, noch ihre Durchführung ist so ganz und gar ohne Vorbild, wie dieser Erklärer meint. Wir wer- den in beiden Beziehungen unmittelbar an das Credo in Mozarts Fdur-Messe (Nr. 6) erinnert, in welcher das auch aus dem Finale der Jupitersymphonie bekannte Hauptthema eine ähnliche Behandlung erfährt Festig- keit, Kraft und Entschiedenheit kennzeichnet die ganze Eingangspartie von Beethovens Credo. An der Stelle, wo Gott als Vater betrachtet wird, sänftigt sich der Ton auf einen Augenblick und wir hören aus dem Orchester einige Takte lang liebliche Motive. Der erste tiefere Ein- schnitt in dem Strom des Bekenntnisses wird bei der Stelle »etinvisibilium« gemacht. Ein piano das oft gebrauchte koloristische Mittel zur Auszeichnung des Wunderbaren und Geheimnisvollen hebt diesen Schluß noch deut- licher hervor. Ein zweiter, ähnlich gehaltener, kommt an der Stelle »ante omnia saecula«. Nun bringt Beethoven die Haupteigenschaften des Gottessohns mit besonderen Motiven, freudig staunend »Deum de deoc und »non factum« aber kurz; länger und mit breitem Nachdruck auseinandersetzend das »consubstantialem per quem omnia facta sunt«. Wie in der Cdur-Messe ist der Ge- danke, daß Christus für uns vom Himmel herabgekommen: »qui propter nos homines usw.« mit einer rührenden Musik wiedergegeben, in der jedoch auch die Wortmalerei hervortritt (auf »descendit«]. Sie ist noch einfacher und inniger als in dem Schwesterwerke und leitet zu dem schönen Mittelteile des Credo über, der die Mensch- werdung des Gottessohnes, sein Leiden und Sterben be- handelt. Seine beiden Abschnitte, das so fremdartig und leer begleitete »et incarnatus est« und das aus echtesten und edelsten Schmerzenstönen zusammengesetzte »Cruci- fixus« gehören zu den ergreifendsten Leistungen der Tonkunst. Der Chgr gibt auch wirklich an mehreren

Stellen dieses Mittelteils das Bild der schmerzei^griffenen und in Trauer stumm gewordenen Gemeinde wieder: Er flüstert in kaum bewegtem Tonsatz. Den großen Gegen- satz der Auferstehung: »et resurrexit« leitet Beethoven wie eine Verkündigung aus Priestersmunde ein. Die Stelle wird a capella und in den altertümlichen Harmonien des a capella-Stils gesungen. Erst mit dem »ascenditc tritt das Orchester wieder seine schwungvollen Gänge an und streut freudige Motive aus. Zu den Besonderheiten Beethoven scher Däklahiation gehört die Stelle, wo der Sopran am Schlüsse des Auferstehungsteils nochmals für sich das »cum gloria« hinausjauchzt. Furchtbar, ernst und hart ist die Erscheinung des jüngsten Gerichts, des »judicare«, in Instrumentierung und Harmonie hingestellt. An letzterer hat Beethoven, laut Skizze, mit einem kaum zu verstehenden Eifer sich gemüht. Nach diesem Ab- schnitt kehrt das Credothema wieder und leitet zu dem Ge- danken an das ewige Leben über. Als er zum erstenmal auftritt, unterbrechen vielsagende Pausen zwischen »et« und »et« die Deklamation. Die himmlische Herrlichkeit schildert Beethoven auf Grund des Thema:

Alleg^retto ma dod troppo ^^^

fipr ir r I n I iilTT I , iiiiTrrirrr

Et vi. tarn *ao . tu . rl sa« . .«u.U. a... men, « . ai«n.

Es atmet jene fromme Sehnsucht nach Ruhe und Frieden, in deren Ausdruck Bach der größte Meister ist; der Fugensatz, welcher darüber gebaut ist, führt das schöne Bild eines leidenschaftslosen Glücks aus. Es sind aber auch leise Anklänge der Traurigkeit hineingemischt; an- gesichts deren es sehr zu verwundern ist, daß sich Aus- leger*) dieses Satzes haben verleiten lassen, diese Musik heiter scherzend und ein Allegretto aus »lachendem Munde« zu nennen. Die Schuld an diesem Mißver- ständnis trägt wohl Beethovens unleserliche Handschrift. Der Drucker hat an einer Stelle, wo Beethoven den

*) Helmsoetli : L. v. Beethoveni Missa solemnis, Bonn 1845.

—-fr 220

Einsatz des Altes mit »sforzando« sehr deutlich wünschte, »scherzandoc gelesen und gesetzt. Nach einem solchen elegischen Abschluß der Fuge ist es, wo Beethoven den Ton seiner Schilderung ändert: AUo. con moto tritt ein, das Thema kommt in der Verkürzung und der Satz wird zum Gemälde einer übermenschlichen^ gewaltigen Himmelslust. So klingt er aus; nur ganz kurz vor dem Schluß blinken aus der Höhe noch einmal mildere Sterne.

In der älteren Messe bildet das »ßehedictus« nur- einen kurzen Zwischensatz im Sanctus; in der weiteren Ent- wicklung der Instrumentalmesse wurde es aber mehr und mehr der Hauptteil. Mit den Wienern hat^ Beethoven schon in seiner Cdur-Messe das >Benedictus< so breit ausgeführt, daß die eigentlichen Hauptsätze des Textes nur wie kleine Eingangssäulen vor demselben stehen. In der >Missa solemnis« aber hat er nicht nur ein sehr langes, vielleicht das längste »Benedictus« unter allen vorhande- nen, geschrieben^ sondern auch das anerkannt und denk- bar schönste. Der Satz hat einen eigentümlich erheben- den und fesselnden Klang, als tönte er in der Nacht aus den Himmelshöhen herab. Palestrina hat manchmal ähn- liche Wirkungen durch Sopranensembles. Die Solovioline, welche aus den höchsten Lagen sich in ruhigen Schritten herabsenkt, strahlt einen sanften Glanz aus; wieder spie- len in der Begleitung die Blasinstrumente eine besondere Rolle. Die Melodie, welche die Geige singt, ist von einer Einfachheit und Anmut, welche unmittelbar zum Herzen dringt und Echos weckt Wir ünden nichts natürhcher, als daß die anderen Instrumente, die Sänger im Quartett und im Chor dieäe süße Tonerscheinung mit verhaltenem Atem nur in leisen, murmelnden Lauten wie ein Wunder begrüßen und wenn sie singen, nichts tun, als die Weisen dieses wunderbaren Violinspiels in immer neuen Wen- dungen zu wiederholen. Besonders hervorzuheben ist aus dem Vokalsatz die Stelle, wo das Soloquartett auf der Fermate ausruht. Von da beginnt ein begeisterter Ton, der in den kurzen parlando-Stellen des Chors

*

forte vorgezeichnet! den stärksten Ausdruck findet; und ferner eine andere dem Schlüsse näher stehende in welcher der Chor von der sanften Macht der Violin- melodie gebannt, in ihr das »Osanna« intoiüert, Aus- druck eines höchsten Entzückens, das der Verwirrung die Hand reicht. Zum Beweise, wie Beethoven das Schönste und scheinbar Natürlichste nicht über Nacht kam, sei mitgeteilt, daß den Skizzen nach das >Bene- dictus« mit einem konzertierenden Satz von vier Solo- instrumenten ausgestattet werden, sollte. Ein dem Grund- motiv der Violinmelodie ähnliches war ursprünglich der Flöte im >et incarnatus est« gegeben. In dem sehr kurzen Hauptsatz des Sanctus, welcher durch die Posaunen seine Klangfarbe erhält, ist eine eigentümliche Stelle am Schlüsse. Die Solostimmen, welche das Sätzchen allein zu singen haben, fangen hier auf einmal an zu zittern und zu stocken: eine drastische Andeutung der überfallenden Scheu und Angst vor dem Heiligen. Das »Pleni« und >Osanna< weichen gar nicht von dem lauten und kräfti- gen Stil ab, der in Übereinstimmung mit dem Text in diesen Sätzen bei allen Instrumentalmessen der Periode Beethovens üblich ist. Er schließt die Möglichkeit, das »Pleni« von den Solostimmen allein singen zu lassen t wie die Partitur und wohl nur auf Grrund eines Schreib- fehlers verlangt vollkommen aus. Wie im Eingang des Sanctus schlägt Beethoven auch nach dem energisch abbrechenden >Osanna« den Ton ritueller Feierlichkeit an: Es ist ein besonderer Instrumentalsatz von über- leitendem Charakter.

Das Agnus dei beginnt Beethoven mit einer er- greifenden Bitte um Erbarmen. Sie klingt schlicht aus einem gnadenbedürftigen Herzen heraus und wirkt doppelt ernst, weil sie zuerst aus dem Munde des Basses uns ent- gegentritt Ihm sekundiert der Männerchor. Die anderen Solisten führen das Thema, vom vollen gemischten Chor gefolgt, breiter aus. Der Satz ist eines jener scheinbar ein- fachen Adagios, wie sie nur ein Meister schreibt. Aus Anrede und Bitte ist eine Szene geworden, halb Beichte und halb

--^ nt ♦^

Gericht. Bangen spricht ans dem einsetzenden Bläsermotiv, inbrünstiger und doch verhaltener Büßerton aus den Singstimmen. Die Übersichtlichkeit des Aufbaus tut das übrige um diese Einleitung des Agnus tief einzuprägen und unter den gewaltigsten Abschnitten der Messe obenan zu stellen. Mit dem Themeneinsatz im Solosopran wird der Satz erregter, kritisch; besonders das Orchester ist be- wegt. Die Entscheidung fällt plötzlich mit einer Modu- lation, nach Gmoll. Das fällige Bläsermotiv bleibt aus, an seine Stelle tritt ein traumhaft leiser kurzer Anruf des »Agnus Dei< in Ddur. Der Sopran setzt izum ersten- mal das »Dona nobis pacemc ein, es ändert sich die Szene. Das Adagio geht in ein Allegretto (^/g-Takt) über, das die Oberschrift »Bitte um innern und äußern Frieden« zeigt. Beethoven entwirft in ihm ein Bild des Friedens, welches uns mit seinen kindlich glückhchen, volkstüm- lichen Melodien, mit seinem unschuldigen Spiel auf- und absteigender Skalengänge, in die Gefilde der Seligen führen zu wollen scheint. Nun kommt aber eine überraschende Wendung, an Stelle einer Fortsetzung ein Kontrast, der vielfach zur Ablehnung des Agnus dei Veranlassung gegeben ^ ai J>«c«° P* hat. Die Stimmen haben das Allegretto mit einer Art Doppel- fuge über die beiden Thymen : "" ' pa begonnen, setzen es aber bald unruhig, episodisch fort. Eben stimmen die Bässe des Orchesters das Thema eines himmlischen Reigens an, da wird in fremder Tonart ab- gebrochen, (B dur) auch der Takt wechselt (AUegro assai, C) Pause, Paukenwirbel, erregte Violinphrasen. Dann eine leibhaftige Kriegsmusik in den Trompeten, zuerst pp, noch wie aus der Ferne; hierauf angstvolle Rezitative im Solo- quartett! Beethoven will dem Frieden sein Gegenbild zur Seite stellen: die Störung des äußeren Friedens, den Krieg. Solche Anspielungen kommen im Agnus Dei und im Gloria hier bei »et in terra pax< vieler Messen vor, die in Kriegszeiten entstanden sind, in der Nähe Beethovens u. a. bei J. Haydn und bei Holzbauer. In der »Missa solemnis«

^ paeem pa .

{/iiijTiiii j jj

erklärt sie sich durch die Erinnerung an Napoleon. Lange hält sich indessen Beethoven nicht dahei auf. Nachdem der Chor den Solostimmen mit einem verzweifelten »Mi- serere nohis« beigesprungen, kehrt die Musik in die Frie- densbahnen, zunächst im Tempo und Rhythmus, bald auch in der ToAart zurück. Als Ddur wieder erreicht ist, folgt eine Dankesszene. Das ist die Absicht, die Beethoven bewog die Worte >Dona nobis pacem« jetzt auf ein Thema aus Händeis »Messiashallelujah« durch- zufugieren. Die Entlehnung, die durch das Skizzenbuch noch ausdrücklich belegt wird, will sagen: >Er hat uns den Frieden wiedergegeben. Er, »der regiert von nun an auf ewig«. Und daß dieses Zitat verstanden werden konnte, ist jedem einleuchtend, der über die Geschichte der Hän- deischen Oratorien nach den Freiheitskriegen unterrichtet ist. Bis hierher kann also der Gedankengang Beethovens wohl frappieren, aber er hat keine erhebliche Schwierigkeit. Aber nun kommt eine. Nämlich nach der Durchführung des Messiasthema wird der Ton, in dem die Stimmen ihr »pacem« aussprechen,^ nochmals unruhig, leidenschaft- lich. Sie brechen nochmals ab und ein zweites Orchester- intermezzo beginnt. Es pre«to.yy dauert viel länger als das f j^i /^^iJ^ JJ?| j ^=P erste und entwickelt sich S^r p r f ' RAf P^r f (ll über die beiden Themen: «)^I-^' ^^ '

Der Umstand, daß sie Umbildungen und Verzerrungen der (oben angeführten) Friedensweisen sind, mit denen das AUegretto begann, daß sich die Gruppen des Orchesters immer hitziger und stürmischer um sie streiten, bis end- lich Homer, Trompeten und Pauken mit ausgesprochenen militärischen Marschklängen einschreiten , soll auf den Unfrieden der menschlichen Seele deuten, kaum wohl aber ein Bild des Bürgerkriegs bieten*). Wie in der

*) Diese Ansicht ist zum erstenmal von Dr. Rudolf Heißig in einer als Manuskript >^ gedruckten Broschüre: »Zum Dona nohis pacem in Beethovens Missa solemnis« (1903) aus- geführt worden.

>Eroica< und im >Fidelio< klängen nach dieser Auffassung auch in der Missa solemnis noch einmal die Schrecken der französischen Revolution nach. Daß das Intermezzo als Seitenstück und als Steigerung zu der ersten Kriegs- episode gedacht ist, geht auch daraus hervor, daß es Beethoven ganz ähnlich beendet: mit Angstru(en der Singstimmen, die zu dem AUegretto vivace und seinem Friedenston zurückführen. Sie herrschen nun bis ans Ende vor, aber doch nicht ganz unbestritten. Da gibt namentlich das Paukensolo, das den letzten drei kurzen Chorintonationen vorhergeht, viel zu denken, und auch der Umstand, daß die letzten Takte mehr bloß aufhören, als innerlich schließen, weist darauf hin, daß Beethoven den ewigen Frieden vorwiegend als Gegenstand der Sehn- sucht ansah. Unter den großen zeitgenössischen Musikern begegnet er sich darin mit Cherubini.

In dem Falle der >Missa solemnis« hat die Geschichte einmal gerecht gerichtet Das Werk verdient es, seine Epoche allein zu vertreten. Keine einzige der vielen ' Messen, welche, während Beethoven noch lebte und in den nächsten Jahrzehnten nach seinem Tode gedruckt und geschrieben wurden, kann sich mit der »Missa so- lemnis« messen. Das Urteil, welches M. Hauptmann in seinen Briefen an Hauser über die kirchliche Komposition vom Anfang des 49. Jahrhunderts bis zu Mendelssohn, mit Betonung von Hummel und Reißiger fällt, ist hart, aber nicht unbillig. Von der Mehrzahl aller in diese Periode fallenden Messen kann man sagen, daß ihre Musik auch einen andern Text vertragen würde. Es ist keine zufällige, sondern eine dieser Tatsache entspre- chende Erscheinung, wenn Haslinger in Wien unter dem Titel »Aus Domeshallen« ein Sammelwerk herausgab, welches beliebte und angesehene Messen aus den ersten Jahrzehnten in einem Arrangement für Klavier allein herausgab. Der Text blieb weg, die Chorstimmen waren eingearbeitet Da paßte Beethoven freilich nicht hinein. Die zweifelhafte Ehre, in diesem Museum aufgestellt zu. werden, genossen als die ersten K. M. v. Weber mit seiner

-^ 225 ^.—

ersten Messe in G und Cherubini mit der vierten Messe (Cdur). Einige Tonsetzer ragen mit einzelnen Werken über die philiströse Musikanten anschauung dieser Klavier- messen empor. Mit besonderer Auszeichnung ist unter diesen besseren Messen die in Esdur von K. M. v. Weber, £, K. ▼. Wel>er, die sogenannte »Jubelmesse« (zur goldnen Hochzeit des Es dui- Messe. Königs von Sachsen komponiert) zu nennen. Sie ist ein würdiges Werk, eines seiner bedeutendsten überhaupt und zeigt uns den Komponisten des »Freischütz« auch auf dem Gebiete der Gottesverehrung als eine große, dem Profanen abholde Persönlichkeit. In den kürzlich veröffentlichten Briefen Webers an seinen Berliner Freund Lichtenstein bestätigt der Komponist, was man aus der Musik allein schon sieht, noch ausdrücklich, daß er näm- lich in seinen Messen das Beste gegeben hat, was er geben konnte. Aus dem kirchlichen Dienst ist diese Messe glück- licherweise noch nicht gänzlich verbannt. Als ein ähnUch gelungenes Einzelwerk eines fleißigen Messenkomponisten wäre dem eben genannten vielleicht die FmoU-Messe von S. Molique an die Seite zu stellen. Einige wenige Kom- 8. Koliqne, ponisten schlagen in allen ihren Messen bewußtvoll eine Fmoll^ Messe, höhere Richtung ein. Zu ihnen gehört als einer der ersten Tomasch ek, der leider über Prag nicht nachhaltig hinausgedrungen ist. Zu ihnen gehört auch Abt Yogi er , Abt Vogler, der sich jedoch den guten Eindruck durch musikalische Effekthaschereien immer wieder verdirbt Am höchsten sind in dieser Klasse die beiden Münchener Ett und K. £tt and Aiblinger zu stellen. Sie wurden mit ihren, einer J. E. Aiblinger weiteren Verbreitung durch Neudrucke durchaus wür- digen Werken, die praktischen Führer einer heilsamen Reaktion, »welche endlich zur Rückkehr zur alten Vokal- messe geführt hat. Ihnien haben wir es in erster Linie zu danken, daß die Messe in Deutschland nicht so tief sank wie in Italien, wo man allmählich dahin gelangte, "^

die heilige Handlung mit aus den neuesten Modeopern genommener Schmacht- und Tanzmusik zu begleiten. Als die Bestrebungen dieser Männer zur Gründung eines besonderen Vereins, des Cäcilienvereins, geführt hatten,

II, 4. 40

<fr «26 -»>—

siegte ihre Sache schneller. Es vergingen aber viele Jahre, ehe sie nur eine kleine Partei um sich sammeln konnten. Ihre Gesinnungsgenossen waren Bischöfe schon früher gewesen; die musikalische Welt hatten sie lange gegen* sich. Als man im Anfang der dreißiger Jahre sich von München aus entschieden gegen die Haydnsche Rich- tung der Instrumentalmesse und ihren immer nüchterner gewordenen Nachtrab wendete, da passierte es denn, daß in der Hitze des Aufräumens auch Beethoven mit in den Bann getan wurde. Uns fällt es sehr auf, in jener Pro- scriptionsliste Cherubini in gleiche Linie mit Beethoven ge- stellt und mit denselben Urteln »fantastisch, träumerische belegt zu sehen. Wir achten Cherubini sehr hoch und bedauern, daß ihn unsere Zeit vorwiegend nur plato- nisch bewundert. Aber wir teilen die Oberschätzung nicht mehr, die er in Deutschland im Anfang unsers Jahrhunderts genoß. Speziell seine Messen halteiv mit der Beethovenschen »Missa solemnis«, ja auch mit der Cdur-Messe keinen Vergleich aus, soweit es sich um Vertiefung und um den hingebenden Ernst handelt. Was sie in den Augen der Zeitgenossen so hoch hob, war die häufig auftretende Originalität im musikalischen Ausdruck. In der geistigen Stellung zum Meßtext erreicht Cherubini oft nicht die unterste Schicht der Beethoven- schen Sphäre. Er bleibt in dieser Beziehung ein Kind seiner Zeit und ein, allerdings taktvoller, Anhänger der- selben neapolitanischen Schule, aus welcher am letzten Ende auch die Landmessen und noch schlimmere Dinge hervorgegangen sind. Um Cherubini nicht Unrecht zu tun, muß man ferner berücksichtigen, daß die Mehrzahl seiner Messen Gelegenheitswerke sind, ähnlich* wie M^huls neu aufgefundene Krönungsmesse, wie Berlioz* Requiem, wie ein großer Teil der bekannten französischen Kirchen- musik überhaupt, im Hof- oder Staatsauftrag komponiert. Daher, aus der nationalen Tradition kommt der theatra- lische Stil, den Spohr an Cherubinis Messen tadelt, und aus ihrem Festcharakter erklärt es sich auch, daß in den Kyrie s verschiedener Messen Cherubinis sich die

-^ 227 ^.—

aufschlagenden Marsch- und Einzugsmotive vordrängen. Aber sein eigenes Unrecht war es, daß er die Gelegen* heit über den Hauptzweck setzte. \Wenn Heinse in seiner bösen »Hildegard von Hohenthal« in einer Zeit, wo es hoch- gar keine gab, die Konzerte für Museen des sittlich und technisch Besten ansah, was in der Tonkunst zutage gefördert wird, so hat sich diese Prophezeihung an Che- rubinis Messen bewährt. Aber negativ: Sie sind von der Tagesordnung abgesetzt worden. Von allen elf (fünf ge- druckt), die sämtlich an einfach großen Zügen und an Beispielen genialer Verwendung auch bescheidener Ton- mittel reich sind, erscheint nur die Dmoll-Messe, und auch diese nur selten, auf den Programmen.

Diese Dmoll-Messe Cherubinis, ein Werk vom Jahre L. CheraUni, 4 824, aus der besten Periode des Meisters, steht hoch Dmoll-Messe. über dem oben gezeichneten Durchschnitt der übrigen' und darf in ihrem^ geistigen und in ihrem musikalischen Gehalt den beiden berühmten Totenämtern des Ton- setzers gleichgestellt werden.

Für den Eindruck des Kyrie ist das kurze Orchester- vorspiel, welches dem Einsatz des Chors vorangeht, be- stimmend. Es kündet einen dramatischen Gebetsakt: ein finsterer Zug beherrscht ihn und schreitet mit leisen Mo- tiven schauerlicher Feierlichkeit, mit Klagerufen und mit chromatischen Gängen der Verzagtheit über die Töne des innigen Bittens und des freundlichen Hoffens hinweg. Die vom Chore einfach repetierte Skizze ist in ihrer Kürze, in ihrer Strenge, in ihrem hochgespannten Pathos ein Meisterstück, welches Hand und Geist des Komponisten der »Medea« so deutlich zeigt, daß man auch ohne Titel- angabe nur auf Cherubini raten würde. Im dritten ^Teile der Nummer, einer in dem leisen Anfang sehr schön wirkenden Fuge über das Thema:

Allegro moderAto.

fii i|ii UM an,ijij Jjiij[jif ■MiohJ

Ky . . p|» . la . . . ^*^ ira. e . \m ^ \ . coa. Kj . ri .

kehrt die dumpf erwartungsvolle Anfangspartie der

4 5*

^28 ^-—

Einleitung als Anfang und als Schluß/ wieder. Aus dem breiten Fluß dieser Fuge ragen die Stellen mächtig ein- drucksvoll hervor, wo'die Musik unvermutet zagend ab- bricht. Die eine ist durch Fermate und unvollkommnen Schluß auf dem Dominantseptakkord, eine andere, gleich bedeutungsvolle durch einen einsamen dahin irrenden Gang der Violinen gekennzeichnet. Das »Christe eleisonc ist den Solostimmen übergeben, welche in dieser Messe eine größere Reihe von Sätzen allein , durchführen. In der Stimmung geht dieses Quartett von Regungen des Vertrauens und der Zuversicht aus und berührt nur an einzelnen Stellen mit mächtig ausgreifender Melodik an den einen, mit in ratloser Kürze sich verlierenden Motiven an den anderen das Gebiet einer düsteren Fantasie. Die Entwicklung der Gedanken ist sehr be- wegt; die Form trotz der nachahmenden Führung der Stimmen italienisch klar. Die innere Empfindung und die harmonische Modulation sind reich an entschiedenen Absätzen und Einschnitten.

Das Gloria der Dmoll- Messe hat drei Hauptteile. Der erste umfaßt den Text bis zu den Worten »glori- ficamus te«. Der Eingang ist enthusiastisch, nicht ge- rade im kirchlichen Tone: aber die elementare Kraft, mit welcher die Violinen heranrauschen, die Gewalt der einfachen Gesangsmotive, der große Zug, in dem die Harmonie sich auf dem klarsten Grunde aufbaut, reißen alle Bedenken mit fort. Diese erste Intonation hat den Charakter einer großartigen Fanfare. Das »laudamus« bildet einen Anhang dazu, flüssiger in der Melodik und mit kühnen Harmonien den Ausdruck noch steigernd. Beim >et in terra pax< bricht Cherub ini, der Freund scharfer Gliederung, plötzlich ab. Über die friedliche Stille des Orchesters gleitet von Instrument zu Instru- ment das AUegro. dahin. Man wird unwill- beschau- A^ ^ J T}') n 1 p kürlich an Beethovens

ir.Vie Motiv C "-' " * ^ «l N «««♦ « c.

liehe Motiv ^ ^"^ •' erste Symphonie und an

den Eintritt des zweiten Themas im Hauptsatze erinnert. Auch Haydn glättet mit diesen fünf Noten so oft die

I l

229

hohen Wogen des Gefühls. Die Singstimmen deklamieren dazu ruhig freundlich ihre Friedenswünsche. Dann er- scheint das >laudamus< wieder mit seinen Achtelgängen.

Ganz eigen ist der Ge- Aüegro. ^ ^

danke der Anbetjing aus- i^a^ippirr ppjP'pr gedrückt, nämlich mit: ^^ > L nnu. U «■ ^ ** ^^ Das kindlich heitere Motiv ist der unbefangene und stärkste Ausfluß der im >et in terra« angeschlagenen Stimmung. Cherubini hat nicht versäumt, ihm unmittel- bar Töne von höherem Pathos nachzusenden. Mit ihnen leitet er in die Eingangsworte >gloria in excelsis deo« zurück und damit in eine Wiederholung der ganzen Jubelszene über. Die Reihenfolge ihrer Abschnitte ist jedoch frei geändert.

Der zweite Hauptteil des Gloria besteht aus dem »Gratias« und dem >Qui tollis«. Das »Gratias« gleicht dem Andante einer Haydnschen Sinfonie: es ließe sich zur Not ohne Singstimmen aufführen. Die Instrumente tauschen Motive frommer Anmut aus, das Soloterzett deklamiert dazwischen; hier und dk vereinigen sich Sänger und Spieler zu längeren Melodien voll warmen Ausdrucks. Das >Qui tollis« (Hmoll, Largo), der be- deutendste Satz im Gloria, ist ungefähr gedacht: als ob die sündige Menschheit das Strafgericht nahen sähe: Es naht in rollenden, tief dumpfen Figuren der Violinen, zu denen andere Instrumente schwere Akkorde lang lastend aushalten. Man glaubt den drohenden Ton eines fernen Gewitters zu hören. Ein feierlich modu- herender Takt endet die Spannung und nun stimmen aus der Leere heraus die Menschenstimmen zagend ihr >miserere« an.

Der dritte Hauptteil enthält das »Quoniam« und das »Cum sancto spiritu«. Alles ist hell in der Stimmung; die Form fugierend, aber leicht, weil reich gegliedert. Eine sehr große Wirkung macht der erste Eintritt des »Cum sancto spiritu« in den breiten Rhythmen und der fast geisterhaften Instrumentierung. Man denkt, wenn nach dem feierlich langen Hmoll- Akkord auf einmal unter

* «30 *~

plötzlicher Todesstille die beiden Solostimmen (Tenor und Baß) das steinerne Thema hineinrufen, unwillkürlich an die Bibelstelle: »Denn der Geist spricht usw.«. Die Schluß- steigerungen des >Amen« haben auf Beethovens Behand- lung dieser Worte in der »Missa solemnis« vielleicht ein- gewirkt.

Einen Berührungspunkt mit dem letztgenannten Werke bietet auch das Credo. Dieses und das Gloria Beethovens haben die hinstürmende Begleitungsfigur der Violinen fast wörtlich gleich. In der Ablegung des Glaubensbekenntnisses selbst ist aber zwischen beiden Komponisten ein himmelweiter Unterschied. Cherubini tut dies mit einer wahren Bravour, die von jeder Ver- tiefung entfernt ist und auch kaum den richtigen Ton trifft. Aber die Kraft und die Naivität in diesem 6e- kennteis sind doch so stark, daß sie die Verwunderung verstummen machen. Über Skrupel und Bedenken ist dieser Glaube niemals gestrauchelt. Es kommen Stellen vor, welche die Gedankenlosigkeit und die TriviaUtät streifen; aber der ahnungslose Eifer, mit dem auch sie hinausgepredigt werden, macht sie wieder liebenswürdig. Eine solche Stelle ist das »patrem omnipotentem«, % welches namentlich beim ersten Male vom Sopran es sind unverkennbar Knabenstimmen gedacht auf dem hohen f hingeschmettert, ganz merkwürdig klingt. Bis zu den Worten »descendit de coelis« ist der ganze Text- vorrat in einem festen und um Details unbekümmerten Zuge übertüncht; erst bei dem Bilde des vom Himmel herabsteigenden Gottessohnes erinnert sich Cherubini, daß die. Musik nicht bloß färben, sondern auch malen und zeichnen kann. :— Bei dem »et incamatus est« haben Cherubini vielleicht Jugendeindrücke widerge- klungen, Töne aus der besseren Zeit der italienischen Dome. Palestrina, die einfachen Melodien dieses Meisters, die seraphischen Klänge seiner Knabenchöre, seine Kunst, die Gruppen des Chores wechseln zu lassen, zu trennen und zu verbinden, leben in diesem klassisch schönen Sätzchen wieder auf! Cherubinis Fantasie ist hier in

einer eignen Weise ergriffen, ganz unzweifelhaft durch persönliche Erinnerungen gefesselt worden. Im gewissen Sinne' ist er nur lialb bei , der Sache, als er des Herrn Kreuzigung, Leiden, Sterben und Begräbnis schildert Das ist wie im Traume erzählt, wie eine verschleierte Vision; aber so eigen und schön, daß man es mit nichts vergleichen kann. Unter einem Gewinde von dankbaren und bewundernden Gedanken, die alle leise wie nur nach innen gesprochen vorbeiziehen, steht der Chor und dekla- miert ebenfalls im pp die ganze Passionshistorie auf einen Ton hin. Alle vier Stimmen etliche fünfzig Takte lang nichts als ihr C. Das ist unter den vielen magischen Effekten, die von neueren Meistern mit dem Kunstmittel der sogenannten liegenden Stimme in großen und kleinern Tonbildern (Beethoven, Schubert, Nicolai, Gurschmann, Cornelius, Boito) erzielt worden sind, einer der be- deutendsten und einer, den man als solchen gar nicht zu bemerken braucht! Cherubini! Großer, sublimer Meister! Die Szene der Auferstehung ist wieder in dem Stile gesetzt, in welchem das Credo begann: das >ascendit« mit der Umkehrung desselben Motivs wieder- gegeben, welches dort am Schluß das »descenditc auf- nahm. Mit Beethovenscher Entschiedenheit und Schwung- kraft deklamiert Cherubini das »cujus regni non erit finis«. Den ganzen . Schlußteil , das »et vitam venturi saeculic inbegriffen, hat Cherubini aus dem Sinne einer Seele heraus gefaßt, welche ihren Frieden gefunden. Es ist eine sanfte Arie, deren 4Iauptthema die einzelnen Stimmen des Soloquartetts nacheinander aufnehmen. Wie, als ob es nun genug der Rührung sei, packt dann der Meister das »Amen« für sich mit gewaltiger Faust und treibt es durch eine Doppelfuge, deren kräftig kurzer, un- gestümer Ton fast bedrohlich wirkt.

Das Sanctus zeichnet sich durch große Knappheit aus. In Anlage und Erfindung hat sich Cherubini hier, wie er manchmal tut, auf das Nötigste beschränkt; Das »Pleni sunt« ist mit dem »Sanctus dominus deus Saba- hot« in einen Satz zusammengezogen, dessen Charakter

«3« ^—

getragen und feierlich ist. Das Eigentümliche an dem, wie üblich, in froher Bewegung vorüberziehenden »Osanna« ist der Einsatz in fremder Tonart: Gdur in A! In >Bene- dictusc gebraucht Cfaerubini ein in seinen Messen häufig vorkommendes Mittel vokaler Instrumentation: rezitati- vische Intonationen einzelner Solostimmen, denen das vierstimmige Ensemble dann nachfolgt, wie der Gemeinde- respons dem liturgischen Rufe des Altarpriesters.

Das Agnus dei besteht aus zwei Teilen: einem lang- samen Satz (Andante moderato) und einem AUegro. Der erste setzt im Tone des ruhigen Glückes, des seligsten Vertrauens ein. Man kann an ein Kind denken, welches im Arm der Mutter eingewiegt wird. Allmählich wird aber der Ausdruck unruhiger und trüber; am Schluß, wo das

Orchester an p pj ii j festhält, sogar leidenschaft-

dem Motive ■fl' ^' "* ^T lieh und Aufregend. Der Chor schreit ängstlich; auf in langen Akkorden, nachdem er eben vorher noch leise, wie inf Innern, lange einem freundlichen Bilde nachgesonnen. Schnell, wie die schrecklichen Gedanken gekommen, verschwinden sie auch wieder. Die Stelle, wo Cherubini aus dem tumul- tuarischen Abschnitt in den liebenswürdigen Anfang des Satzes zurückmoduliert und schließt, ist eine der schön- sten in dieser an Schönheiten ersten Ranges reichen Messe. In dem zwei- ^egro. '

eher dasieier- ff^^» U I « I ^ I " I JljJ I " I J " I hebe Thema: ^* " ^ "'*'*•• "^ ' ^^ «*'*••"

zur Hauptgrundlage hat, sind die Rollen zwischen Solo- quartett und Chor dramatisch verteilt: Das erstere singt Frieden und Seligkeit; der Chor haftet noch am Zweifel. Den herrlichen Augenblick, wo auch in ihm der Glaube gesiegt hat, bezeichnet der durch eine zweitaktige Pause vorbereitete, leise Einsatz des »Dona nobis« auf dem übermäßigen Dreiklang von D.

Während diese Dmoll-Messe Cherubinis in der Praxis nicht in dem Verhältnisse berücksichtigt wird, wie sie es ihrer Bedeutung nach verdient, erscheint eine andre

233 ♦—

Meßkomposition desselben Tonsetzers in neuerer Zeit häufiger auf den Repertoiren, als sie nach ihrem Gehalt beanspruchen kann. Es ist dies das »achtstimmige« Credo ^i Chefablnii (a capella), eins der vielen Messenfragmente, zu welchen Credo Cherubini durch die eigentümliche Liturgie am französi- (aehtstimmig sehen Hofe veranlaßt wurde. Wir haben dieses Werk a eapella). als eine Studie im alten Vokalstile zu betrachten. Sie unterscheidet sich als solche von den ähnlichen nennens- werten Arbeiten gleichzeitiger, früherer*) und späterer Musiker dadurch, daß sie in erster Linie technische Zwecke verfolgt. Man könnte sie für die Nebenfrucht einer größeren theoretischen Arbeit, vielleicht des be- kannten Lehrbuches vom Kontrapunkt halten, wäre das Entstehungsjahr nicht schon 4 806. Cherubini nahm den Credotext, um an ihm ein Beispiel für die Anwendung des achtstimmigen Satzes (a eapella) zu geben. Uhd er gab dies ohne einen großen Aufwand von Geist und höherem Fleiß. Eine Vertiefung in den heihgen Text, ein Bemühen, die Geheimnisse des Glaubens in ergrei- fende und mächtige Tonbilder zu fassen, spricht aus die- sem Credo ebensowenig, als eine tiefere Kenntnis der Meister des 4 6. Jahrhunderts und eine fruchtbar ge- wordene Vertrautheit mit ihren Formen. Wir können sogar nicht umhin, Cherubini den Vorwurf zu machen, daß er die alten Muster in manchem Punkte nur halb verstanden hat. Dahin gehört die Behandlung des cantus firmus, aus welchem er ein blindes Fenster macht; dahin gehört zweitens auch die übermäßige Bedeutung, welche er, dem Beispiel der früheren Niederländer folgend, den kontrapunktischen Kunststücken beilegt. Der achtstim- mige Satz ist vorwiegend kompakt behandelt und der geistige Gehalt der Erfindung und Ausführung übersteigt nicht ein gewöhnliches Mittelmaß. Über diese Durch- schnittsstufe treten einzelne Partien allerdings. hinaus: Es ist dies der kleine Abschnitt: »visibilium omnium et

•) Unter ihnen auch G. Sarti, Oherubinis Lehrer, mit einem >Fuga« betitelten achtstimmigen »Kyrie«.

--^ «34 ♦^

invisibilium«. Ferner die ganze Partie, Ixrelche die Ge- schichte des Gottessohnes umfaßt: das >£t incarnatus est« und das >Grucifixus< bis zu seinem Schiasse: »et sepultus est«. Sie finden wir wiederholt auch allein auf den Konzertprogrammen. Endlich ist noch als außerordent- lich hervorragend der Schlußteil: »Et vitam venturi saeculi« zu bezeichnen. Während alle übrigen Abschnitte des Gredo bei dem Vergleich mit den Originalwerken der großen Vokalperiode eine niedere Zensur erhalten, müssen wir diesem kontrapunktischen Meisterstück eine Überlegenheit zuerkennen. Nirgends im 4 6. Jahrhundert begegnen wir über diese Worte einem kunstvollen Ge- mälde von so großer und kolossaler Formanlage. Aber wir können auch nicht verkennen, daß mit der Länge auch zugleich geistiger Schwung diese außerordentliche Fuge auszeichnet. Es ist darin etwas von dem unerschöpf- lichen Geist der Beethovenschen >Missa solemnis«. In einer Zeit, wo Palestrina und seine Neben- und Vormänner ungekannt waren, mußte dieses Gredo als ein Wunder- werk wirken; denn es bringt die Naturreize der Gattung,- wenn auch nur einseitig und nur mäßig belebt, doch immer noch stark genug zur Geltung.

Einer der liebenswürdigsten Vertreter der Instru- F. Schabert, mentalmesse ist Franz Schubert. Seine sieben Messen, Messe in G. welche jetzt in der stattlichen Gesamtausgabe der Werke F. Schuberts*) zwei Bände der 4 3. Serie ausfüllen, sind zurzeit ihrer Entstehung wenig bekannt geworden. Schu- bert schrieb auch diese Werke, wie seine Symphonien und die anderen, im sorglosesten Schaffensdrange. Die drei ersten wurden in der Zeit von zwölf Monaten (4 84 4 4 5] fertig und der Komponist war vollständig zufrieden, wenn eine der Wiener Vorstadtkirchen Gelegenheit zu einer Aufführung bot. Wir schreiben diese Bescheidenheit mit auf das persönliche Konto Schuberts wir sollten aber nicht vergessen , daß in der Zeit des unentwickelten Musikalienhandels die Wirkung im engsten Kreise das Los

•) Breitkopf & Härtel.

N.

«35 ♦—

der meisten Tonsetzer war. Über einen Lokalerfolg hinauszudringen, bedurfte es einea bereits fertigen Namens oder eines Werkes von überragender Bedeutung. Unter diese Gattung aber die Jugendmessen Schuberts ein- . zureihen, dürfte auch den eifrigsten Schwärmern kaum \ einfallen. Einen interessanten und individuellen Zug der ersten vier Messen (F, B, G, C, 4 »4 4— 4 84 6) erblicken wir in ihrer Hinneigung zum Liedton. Die reifste unter ihnen ist die in G, welche wir auch heute noch im katholischen Gottesdienste häufiger benutzt sehen. Sie hat den kurzen, alle Wortwiederholungen und alles Ver- weilen und Eingehen vermeidenden Stil, welchen der oben erwähnte G. K. Reutter, der Lehrer Haydns, in Auf- nahme brachte, and den später namentlich Gänsbacher zu dem seinigen machte. Während aber diese Tonsetzer und ihre Schule die in dem Stile liegende Gefahr eines geschäftsmäßigen und nüchternen Ausdrucks zeigen, dient die Kürze für Schubert zum Ansporn genialer Ideen. In dieser Hinsicht ist das choralartige Credo der Gdur-Messe* besonders merkwürdig und in diesem wieder hervorragend der Abschnitt: >in unum dominum usw.c und der mit ihm gleichlautende: >qui cum patre et filio usw.«.

Das Konzert beschränkt sich auf zwei von den späteren Messen Schuberts, die in As (4 822) und die in Es (4 828) , und pflegt und kennt beide noch nicht so lange; erst Herbeck und Brahms haben sie mit dem Wiener Musikverein eingeführt. Schubert hat in diesen Kompositionen der musikalischen Welt zwei Werke zu- geführt, die wir ohne Bedenken den Spitzen der Gattung zuzählen und welche für die ganze Eigenart, Tiefe und Kraft seiner Natur die glänzendsten Zeugnisse bilden. In keiner seiner Symphonien, mit Ausnahme des DmoU-Quartetts können wir sagen: in keinem seiner Instrumentalwerke hat Schubert die geistige Größe wieder erreicht, in welcher er in diesen zwei Messen vor uns steht. Man darf ruhig behaupten: wer die As dur -Messe nicht kennt, kennt die volle Bedeutung Schuberts überhaupt nicht. Nur das Eine bleibt an

236 <J>—

dem Werke zu bedauern, daß nicht alle Abschnitte voi^ gleicher Güte sind. 1

F. Sohnbezt, Das Kyrie dieser As dur - Messe ist ein sehr ein- {

Messe in As. f acher Satz von echt Schuber tschem Ton. Beide Ab- teilungen, die Anrufung Gottes des Vaters und die Gottes des Sohnes, sind kurz ausgeführt und eng verbunden. Nach dem »Christe eleison« beginnt der Satz von vorn, :

wird ziemlich wörtlich wiederholt und mit einem im An- '

fang etwas dunkel ausbiegenden Anhang versehen. Der Charakter der Musik ist der des kindlichen Vertrauens. Als belebendes Gegenelement kommen wiederholt Wen- dungen der Wehmut vor, zuweilen stärker akzentuiert. Namentlich ist dies im »Christe eleison« der Fall. Sie scheinen aber nur da zu sein, um den freundlichen Refrain

iJ^>i|ir |fTTYTT~ hervorzuheben.

Das Gloria, in den Abschnitten des Lobens und -'Preisens sehr wuchtig und energisch geführt, hat seinen genialsten Teil im »Gratias«. Duftige von einem Gefühl des Glückes durchhauchte Melodien der Solostimmen; der Chor schließt sie kurz geheimnisvoll ab! Das »Domine deus, domine fili usw.« ist in den zarten Bau der Dank- sagung originell hineingezogen. Das »Qui tollis« und das »Quoniam« sind thematisch gleichlautend und bilden geistig eine Art Fortsetzung der Danksagungsszene, gleichsam ihren zweiten, weiter ins Innere des Heiligtums hinein verlegten Abschnitt. Dieser Abschnitt hat einen mächtigen Schluß. Wie aus dem leisfen* Ton der Bitte die Stimmen im Unisono zusammentreten und, wie der Erhörung und des Sieges gewiß, ihr »Quoniam« in allem Glanz in die Welt hinausrufen, das ist eine der gewal- tigsten Ideen und einer der gewaltigsten Effekte, welche in der gesamten Messenliteratur an dieser Stelle vor- kommen. Auch im Detail der Deklamation wächst Schu- berts Geist an dieser Stelle auf einmal ins Großartige. Das »te< vor der letzten Periode ist Beethovensch. In seiner Stellung auf dem plötzlich und im ff eintretenden,

237 ^>-^

verminderten Septakkord erinnert es unwillkürlich an das >Barrabam« der Bachschen Matthäuspassion. Das Glori^ schließt mit einer kräftigen und glänzenden Fuge über: »cum sancto spirituc. Als Eybler, selbst ein sehr fruchtbarer und noch heute ein viel gepflegter Komponist von Messen, die Aufführung von Schuberts Asdur- Messe in der Hofkapelle wegen zu großer Länge ablehnte (siehe Kreisle), mochte er wohl Sätze wie dieses »cum sancto spifitu« im Auge haben. Das Thema dieser Fuge ist eines der leichtesten. Es scheint Schubert nicht gefallen zu haben. In einer vorhandenen zweiten Fassung dieses Abschnitts, die in der Gesamt« Wirkung hinter der ersten steht, ist, es etwas veredelt worden. Das Credo hat* eine einfache dreiteilige An- lage. Der erste Teil geht bis zum »per quem omnia facta sunt« (Cdur, AUegro maestoso). Der zweite, kurze (Asdur, 8/2 Grave) behandelt die Menschwerdung Christi und seine Passion; der dritte (Cdur, Tempo I) ist Wieder- holung des ersten mit einem kurzen Anhang. Der erste Teil stellt das Bekenntnis außerordentlich ernst und streng hin. Das Thema mit seinen altertümhchen Har- monien hat Choralcharakter, ähnlich wie der gleiche Satz in der Gdur-Messe, und wird später auch so wie dort mit den straffen Vierteln der Orchesterbässe kontrapunktiert. Nur ist es in viel finstereren Farben gehalten. Von ge- waltiger Wirkung ist es, wenn nach jedem Abschnitt des Bekenntnisses, welches die Stimmen zu zwei unterein- ander verteilen, das Orchester mit aller Kraft das Motiv

AUegi« maestoso «Ti^ce. umsetzt Das fällt immer wie ^ ^^^^f ein bekräftigender Schwert- schlag darein. Das »Et incar- ^ I •■ 1- natus est« und das »Crucifixus« » sind von großer Einfachheit.

Das erstere erreicht die hochfeierliche Wirkung durch die Teilung der Chöre und die Instrumentierung, das letztere greift mit knappen aber sicheren Biegungen der Melodie ins Herz. Nur selten trifft man Schubert in dieser vielsagenden, männlichen Wortkargheit, mit welcher er

^ 238 «>—

hier einen t^alestrinensischen Eindruck erreicht. Der dritte Teil, immer noch wirkungsvoll und an großen Stellen reich, ist nicht mit derselben Inspiration geschrieben, wie die vorhergehenden. Befremdend ist die Zurückhaltung, mit welcher das »et vitam usw.« und das »Amen« aas- geführt sind.

Dem Sanctus der Messe liegt im ersten Teile (An- dante, ^/s Fdur) die Absicht zu Grunde, die Erscheinung des Wunderbaren zu versinnbildlichen. Daher die flat- ternden Rhythmen, der langsame Aufbau des Akkords; daher der fremdartige Eintritt des übermäßigen Drei- klangs und zum Schluß der im langen Staunen hin- gehaltene mächtige Aufschrei des Chors! Das »Pleni«, in den Hauptsatz eingezogen, bietet ein liebUches Gegen- bild. Das »Osanna«, auch ganz abweichend von der gewöhnlichen Wiedergabe dieses Abschnittes, steht unter der gleichzeitigen Wirkung der beiden berührten Fantasie- gebiete: Es schwebt dem Gesalbten mit zarten Grüßen entgegen und steht dann vor der Majestät wie fest- gebannt. Auch von ihm existiert eine zweite Fassung, welche keine Verbesserung bedeutet Die Stimmung kommt erst im »Benedictus« zur ruhigen Sammlung. An und für sich würde der einfach friedliche Satz un- bedeutend sein; der Zusammenhang gibt ihm seine Wirkung. Das Agnus dei ist im zweiten Teile, dem »dona nobis pacem« (Allegretto, (^ Asdur), dem Stile nach dem »Benedictus« sehr ähnlich. Es ist der lied- mäßige Schlußge^ang einer der Erhörung sicheren, durch das eigene Gebet beruhigten Gemeinde. Der erste Teil (Andante, 3/4 Fmoll) ist dem Soloquartett übergeben,, welches eine einfache, Himmelssehnsucht und Erden- müdigkeit streifende Melodie durchführt. Der Chor stimmt, wie auf den Knien liegend, sein »miserere« an. Der An- fang ist leise psalmodierend, der Schluß des kurzen Chor- abschnittes melodisch warm. F. Bohabert, Schuberts Messe in Es, einer seiner Schwanenge-

£s dar -Messe, sänge, trägt ein starkes persönliches Gepräge. Eigentüm- lich ist ihr eine große Erregtheit, der zufolge sich die

239

Musik ebenso der Weichheit, wie ein andermal der Leiden- schaftlichkeit hingibt, da wo wir es dem Text nach nicht erwarten.^ Um ein Beispiel anzuführen: Was soll dieser wehmütig schmerzliche Ausdruck bei dem Bekenntnis: >Ich glaube an die heilige Taufe?« Und doch ist er schön und aus dem Grundton, in welchem dieses ganze Werk gestimmt ist, wohl zu verstehen. Sehr viel haben in dieser Messe die Instrumente zu sagen. Diese Neigung, aus dem Munde des Orchesters wesentliche Gedanken in der Messe sprechen zu lassen, zeigt Schubert schon in der Asdur-Messe; er teilt sie mit Beethoven. Im Kyrie sind es die Blasinstrumente, welche die freundlichen Ge- danken des Satzes dem Chore soufflieren. In der Ge- sangpartie lebt eine mühsam versteckte Aufregung der Empfindung. Sie äußert sich in den fiebrisch wechseln- den Modulationen, in der mehr akkordisch deklamierenden als wirklich singenden Führung der Stimmen. Kommen dann die melodischen Züge, so ergreifen sie mit doppelter Kraft.

Auch in der Esdur-Messe wird man das Gloria für den bedeutendsten Satz halten müssen. Wie in der As dur- Messe ist auch hier der äußere Vortrag der preisenden und jubelnden Abschnitte außerordentlich energisch; in der stürmenden Triolenfigur der VioHnen kommt diese Energie zum schärfsten Ausdruck. Aber gerade in ihnen ist der subjektive Grundzug der ganzen Messe sehr deut- lich ersichtlich. Ein Tropfen Zagen und Traurigkeit hängt in jeder Periode: hier in dem übermäßigen Sext- akkord auf dem zweiten »excelsis«, dann in den ver- minderten Septimenakkorden, welche die ersten Nach- ahmungen des Gloriathema schließen. Wie niedergeschlagen klingt das »Adoramus te«. Beim »Gratias« beginnen wieder die Instrumente hold zu spielen und darauf wird der Satz mit Wiederholung des Eingangs abgerundet. Das »Qui toUis« hat ebenfalls die Hauptgedanken im Orchester. Die Blasinstrumente spielen den ganzen Abschnitt hindurch eine liturgische Melodie von tief traurigem Charakteh Das Streichorchester tremoUert in

240

F. Sohabert,

Deutsche

Messe.

absetzenden Rhythmen; die Singstimmen singen aus- drucksvoll in kurzen Motiven. Der Teil gleicht einem großartigen Rezitativ. Das »cum sancto spirituc und das »Amen« ist in Form einer Fuge wiedergegeben, die wiederholt zu einem zweiten Thema ansetzt

Im ersten Teile des Credo herrscht eine rührend weiche Stimmung vor. Das auf »Credo in unum do- minum« einsetzende, feste und durch Nachahmungen noch mehr gehärtete Thema vermag nicht dieselbe zu durchbrechen. Das »et incarnatus est« drückt das Wunder der Menschwerdung in Melodien von sich aus- breitender Anmut aus. Das »Crucifixus« bildet einen starken Gegensatz dazu. Es schildert finster, manchmal wie mit einer Art von Abscheu. An einer Stelle scheint die Fantasie des Tonsetzers aufs leidenschaftlichste in das Bild der Kreuzigung vertieft zu sein. Der Chor deklamiert nicht »etiam pro nobis«, wie der Text lautet, sondern nach dem »etiam« schreit er ohne weiteres noch einmal mit aller Kraft: »crucifixus«. Nach der Passion sind die weiteren Textabschnitte auf die Musik des ersten Teils vom Credo gesetzt. Die Worte : »et vitam venturi« bilden einen fugierten Anhang.

Im Sanctus greift Schubert mit Ausnahme des im konventionellen Fugenstile komponierten »Osanna« auf dieselbe Auffassung und Behandlung zurück, die. wir in der Asdur-Messe als eine eigentümliche kennen gelernt haben. Nur die formellen Mittel sind teilweise andre.

Das Agnus dei ist wieder ein Satz von großer Er- regung. Das Hauptthema der ersten Anrufung hat Utur- gischen Charakter; seine Stimmung ist trüb und schwer. Die Instrumente verzieren den Gesangsatz mit leidenschaft- lichen Motiven. Das »dona nobis« tritt naiv, vertrauensvoll und unschuldig dagegen. Seine breite Durchführung wird einmal durch die Rückkehr des düsteren »Agnus dei« ge- waltig wirkungsvoll unterbrochen.

Im kirchlichen Diienste und bei geistlichen Kon- zerten kleinerer Chorvereine begegnen wir häufiger einer »deutschen Messe« F. Schuberts. Der Text (von

^ tu ♦—

J.P. Neumann verfaßt) ist keine eigentliche Obersetzung des lateinischen Originals, sondern ein freier, etwas rationa- listisch gehaltener Ersatz. Die Musik, welche Schubert i. J. 4837 für das Polytechnikum in Wien geschrieben hat, schlägt den Ton gehaltvoller Anmut an und be- schränkt sich auf liedmäßige Formen. Von der Gesang- partie existiert eine doppelte Bearbeitung, die eine für Männerchor, eine zweite, welche von Ferdinand Schubert herrührt, für dreistimmigen Knabenchor. Das Orchester kann durch Orgel ersetzt werden. Ähnlicher »deutscher Messen c oder »deutscher Ämter« haben wir aus den ersten Dezennien des 4 9. Jahrhunderts sehr viele. Be- sonders beliebt waren die des melodisch sehr deutlichen J. Frei ndl.

Nach Schubert haben wir diejenigen Messen, welche eine höhere künstlerische Bedeutung beanspruchen kön- nen und welche demzufolge im Konzert, wenn auch nur vorübergehend, Beachtung gefunden haben, eine Zeit lang ziehen wir die wenig bekannten Arbeiten des Breslauer B rosig ab fast ausschließlich auf pro- testantischem Boden zu suchen. Es kommen hier zu- nächst die Messen B. Kl eins in Betracht: ernste, B. Klein, würdige Werke, denen nur etwas mehr musikalische Sonne zu wünschen wäre. Unter den Meistern von her- vorragenderem Namen ist L. Spohr zu nennen, dessen L* Spohr. Vokalmesse in allen den Sätzen, wo die Wehmut herrschen darf, einen tieferen Eindruck hinterläßt Unter den um die Mitte' des 4 9. Jahrhunderts entstandenen Messen war eine Zeitlang Moritz Hauptmanns G moll-Messe die M. Htaptinftiiii. verbreitetste. Das Werk ist außerordentlich fließend ge- schrieben und hat viele feine und besondere Züge in seiner Form. So überrascht uns im ersten Satze, ähnhch wie in dem ersten Satze des Requiem von Brahms, ein Orchester ohne Violinen. Geistig wurzelt es, wie auch die Vokalmesse (FmoU) desselben Tonsetzers, in d,er weichen und gleichmäßigen Anschauung einer älteren Periode. Die bedeutendste Messe der romantischen Pe- riode ist die Instrumentalmesse (CmoU) R. Schumanns. Ä. Bohumann.

II, 4. 46

«4t <io—

Sie geht durchweg auf feierliche und erhabene Wirkung aus und sucht diese mit einfachen, immer geradeaus steuernden Mitteln zu erreichen. Wir bleiben dabei manchmal unter dem Eindruck einer etwas trotzigen Gottesverehrung stehen; wir werden aber auch durch Stellen einer gewaltigen Größe und Kraft aufgerüttelt. Derjenige Abschnitt, in welchem Schumann seinem Ideale einer musikalischen Messe am nächsten gekommen zu sein scheint, ist das Sanctus: ein ahnungsvoll und ge- heimnisvoll gedachter, von sehnender und schwelgender Empfindung umrankter, dabei aber doch fest und ein- fach gebauter Satz. Im Kyrie ist das edle, kummer- volle erste Thema hervorzuheben; im Gloria der inter- essanten Anlage wegen das: »Domine deusc und das >cum sancto spiritu«. Im Credo berührt der' Abschnitt von >qui propter nos< bis »sepultus est« sehr eigentüm- lich. Der Chor rezitiert hier ohne Aufhalten, mit be- deutenden Akzenten, allerdings aber das meiste wie in dem Streben, über diese schauerlichen Bilder hinweg- zukommen. Das Wunderbare in dem Textberichte { deuten die Orchesterbässe mit einer ihre kleinen Kreise 1 immer wieder zurücklegenden und in Dissonanzen schil- I lern den Figur an.

Die rückläufige Bewegung zur Vokalmesse, deren wir oben mit dem Namen Aiblinger und Ett gedacht haben, fand auch auf der protestantischen Seite fleißige An- hänger. Aus der Menge der seit dem zweiten Jahrzehnt des 4 9. Jahrhunderts für gemischten Chor gesetzten, un- begleiteten Messen genügt es, die sechzehnstimmigen Mes- E. Grelli sen von C. F. Fasch und namentlich die von E. Grell zu Sechzehn- nennen. Grells in Berlin sehr oft, in Leipzig und in an- stimm. Messe deren Städten hin und wieder aufgeführte Messe ist ein .a capella^ Werk von ungesuchter Originalität. Auf den glatten und natürlichen Fluß dieser Komposition passen Goethes Worte: »Es trägt Verstand und rechten Sinn mit wenig Kunst sich selber vor« wie auf wenig neue Kunstwerke. An und für sich ist ja die Aufgabe, für sechzehn reale Stimmen zu schreiben, in der alten Vokalmusik schon

--* 243 ^—

oft gelöst worden und wird in den Kompositionen für Orchester tagtäglich, auf eine leichte äu|3erliche Art wenigstens, gelöst. Man muß aber die viei* Chöre (oder Soloensembles), welche Grell aus seinen sechzehn Stim- men bildet, einzeln und in diesen vier Gruppen wieder die einzelnen Stimmen jede für sich durchgehen, um das Eigene in der Leistung Grells würdigen zu können. Da ist keine Spur von Füllstimmen im gewöhnlichen Sinne. Auch die begleitenden und untergeordneten deklamieren und singen immer in sinnvollen und formell selbständigen Tonreihen. Die ganze Erfindung ist der Natur der mensch- lichen Sprache und dem Wesen des Gesanges in einer so ausgezeichneten Weise angepaßt, wie sie selbst bei den Alten nicht besser gefunden wird. Der Ausgang von diesen natürlichen Grundlagen gibt der Messe Grells eine unbe- streitbare formelle Drsprünglichkeit. Sie darf in dieser Beziehung als ein Muster ersten Ranges dienen. Die Farben sind reich und mannigfach gemischt. Grell kennt die Kunstgriffe der Alten alle und formt mit spielender Leit^htigkeit ein neues Klangbild nach dem andern. Wo es der Text nicht geradezu fordert, geht er aber den scharfen Gegensätzen von Licht und Schatten Ueber aus dem Wege und wirkt mit milderen Übergängen. In der Farbengebung des ganzen Werkes herrscht das weiche Element vor. In Übereinstimmung damit liebt die Em- pfindung das ruhige Ausbreiten. Sätze, welche auf wenige Worte gebaut sind, vereinen diese drei Elemente : Betonung der Sangbarkeit, Weichheit der Farbengebung und Gleichmäßigkeit der Empfindung, zu einer Übermacht, welche den geistigen Gehalt und die Gedankenbewegung der Komposition etwas niederdrückt. Bei dem nach alter Art: in drei selbständigen Sätzen gehaltenen Kyrie und beim Osanna tritt diese Erscheinung wohl am deutlich- ßten zutage. Wo der Text schneller von Vorstellung zu Vorstellung weiter schreitet, blitzt dagegen die Fantasie häufig mit überraschender Energie dramatisch auf. Auch in die rein musikalische Erfindung kommt dann mehr Leben und Deutlichkeit. Das Gloria enthält solche

16*

—-♦ 244 ♦—

Beispiele anschaulicheren Ausdrucks schon beim »et in terra« und beim »gratias«. Die Auffassung des »Quoniam« mit dem lieblichen Anfang ist abweichend, aber mit der erhabenen Wendung durch die Tutti- Einsätze, da wo Christus als »Herr« angerufen wird, äußerst wirksam. An solch eigentümlich poetischer Anschauung ist die Messe reich. Am imposantesten wirkt durch dieselbe das Credo, dem in einzelnen Abschnitten durch die einfache Verwendung von plötzlichen Tutti - Eintritten eine geradezu szenische Lebendigkeit gegeben wird. Besonders tritt die Einführung des »Crucifixus« hervor. Eine einzelne Chorstimme ruft die Schreckensnachricht unerwartet herein und die Massen fahren in Bewegung durcheinander. Als Credo - Thema hat Grell dieselbe liturgische Melodie verwendet, wie S. Bach in der Hmöll- Messe.

In der Stimmenzahl bescheidener, im geistigen Ge- halt aber keineswegs geringer als die Grellsche Messe, £. F. Biohter. sind die Vokalniessen von E. F. Richter der Beach- tung sehr wert. Die achtstimmige sowohl wie die vier- stimmige gehören zu den fantasievollsten und abgeklär- testen Kompositionen des Meßtextes, welche wir aus neuerer Zeit haben. Ihr Vokalsatz ist modern, aber schön, natürUch und an stimmungsvollen Klängen reich. In den Kirchenchören sind von neueren Vokalmessen die J. Bheinberger von J. Rheinbergeram bekanntesten. Sie gehören in die Schule Etts und zeigen, wie alle kirchlichen Kompositionen Rheinbergers, einen modernen Musiker groß im Können, noch größer aber in der Resignation und der liturgischen Reinheit. Für das Konzert kommen sie nicht in Betracht.

Ziemlich vergessen scheint es zu sein, daß auch der Männergesang in seiner von hohem Streben erfüllten Jugendzeit kräftig in die Bewegung mit eintrat, welche sich auf den Neubau der Vokalmesse richtete. Die' Lehrer der Volksschulen Deutschlands waren es beson- ders, die in der ersten Hälfte des 4 9. Jahrhunderts bei ihren periodischen Zusammenkünften sich und Andere mit der Ausführung solcher höher angelegten Werke erbauten.

^ 245 ♦—

Messen für Männerstimmen finden sich wie erwähnt schon bei den Niederländern, bei Palestrina und andern Frtih- italienern, neben vollständigen Werken noch zahlreiche Bruchstücke. Von Padre Martini ab hat die Gattung ihre ununterbrochene Geschichte. In ihr treten im 4 9. Jahrhun- dert neben B. Klein: Haßlinger und Diabelli hervor. Über letzteren beiden stehen F. Schneider, A. Zöllner und J. 0 tt 0. Als der bedeutendste Ausläufer dieser letztenReihe ist Robert Volkmann zu betrachten. Bekanntlich ging B^ Velkmann. er aus Lehrerkreisen hervor und empfing in ihnen die ersten stärkeren musikalischen Eindrücke. Seine beiden Messen (op. 26 und 29) stehen einander in der Zeit der Veröffentlichung sehr nahe: im inneren Stile jedoch be- deutend ferne. Die erste ist eine Art Klaviermesse: die vier Stimmen immer zusammengekoppelt ^nd unfrei und damit auch meistens die Gedanken. Nur das Credo er- hebt sich wesentlicher über die Stufe von Klang und Geist, welche wir mit dem Namen Liedertafelmusik zu belegen pflegen. Die zweite Messe, di6 Frucht einer Wiener Preiskonkurrenz, für die im Jahre 1852 vierund- siebzig Messen eingesandt und zurückgewiesen wurden, hat noch einige ungesangliche Stellen im kleinen. Aber über den Stil, der für einen Chor von Menschenstimmen natürlich ist, scheint inzwischen dem Komponisten das Licht aufgegangen zu sein. Sie hat die Freiheit der Be- wegung, die namentlich für den Männerchor ganz wesent- lich ist, in den Stimmen. Sie wirkt farbenreich und ist ideenreich. Unter diesen Ideen sind sehr feine und eigen- artige Einfälle. Besonders tritt im Gloria das »Miserere« welches erste Tenöre und zweite Bässe in Oktavengängen singen, im Benedictus der Einsatz des »Osanna« hervor. Um die Zeit, wo Volkmanns Messen erschienen, ging nun endlich auch auf der katholischen Seite die Frucht Etts und Aiblingers auf und führte zur Gründung des Gäcilien Vereins. Er ist in der Musik ein ähnliches Stück romantischer Reaktion, wie in der Malerei die Schule der Nazarener und der Prärafaeliten. Den Bildern der Veit und Overbeck, Rossetti entsprechen die Messen der

546

M. Haller,

I. Mitterer,

F. Witt.

Ji El Habertl

F. Lisit,

Messe für vier-

gtimmigen

Männercbor

und Orgel.

M. Haller, J. Mitterer, Fr. Witt. Dort Holbein, Dürer, Perugino als Ideale, hier Palestrina! In beiden Künsten auch dieselben Folgen: größere Stilreinheit und Würde der Arbeiten, aber auch mehr Trockenheit und Schwung- losigkeit. Die selbständigen Geister schütteln das Joch wieder ab. Unter diesen Sezessionisten ist zuerst J. E. Habert zu nennen, der zwar nicht im Konzert, aber im Gottesdienste schon durch die Zahl seiner Messen 23 in der Breitkopfschen Gesamtausgabe sich Beachtung erzwungen^ hat.

Auch Franz Liszt ist mit den Cäcilianern ein gutes Stück Wegs gegangen und von ihnen auf die alten sti- listischen Elemente und die liturgischen Grenzen der Messen hingewiesen worden. Aber er ist sofort über seine Lehrer, ähnlich wie seinerzeit J. Fux über seinen eignen >Gradus ad Parnassum«, hinausgegangen und hat ihrem Darstellungsapparat ganz alte und ganz mo- derne Mittel hinzugefügt. Das zeigt schon seine Messe für Männerchor. Sie ist ein sehr knappes Werk, zum großen Teil mehr stimmungsvoll deklamiert als ge- sungen. Die Art, in welcher aber Deklamation und Ge- sang gemischt sind, macht den einen Teil ihrer unleug- baren Genialität aus. Man braucht hierfür nur auf den Schluß des >Christe eleison« zu verweisen, eine Stelle, an der eine lange Steigerung inbrünstiger Zurufe mit ein paar Takten einfachster Melodie gekrönt wird. Der andere Teil des geistigen Wertes dieser Messe liegt in der Schärfe mit welcher die Textbegrifife musikalisch ausge- drückt sind. Gleichviel mit welchen Mitteln und gleichviel, ob wir die Auffassung allemal billigen; aber diese Schärfe ist immer da. Derjenige Satz der Messe, welcher sich den überkommenen musikalischen Formen am getreuesten fügt, ist das Gloria. Sein durchgeführtes leitendes Thema j^e-Po stammt aus Gregorianischer

i i .L'^'-^rn^. Quelle. Der in der Stimmbe-

•gjr ip J rJ I [-• p [-. handlung eigentümlichste, dabei

Gio . . . ri.» sgjjy eindringliche Abschnitt ist

das »Miserere«. Befremdend ist das Credo und zwar

---<^ 247 ^

befremdend durch seine Einfachheit. Es geht im Stile ent- schieden hinter die Zeit des ausgebildeten Kunstgesanges zurück und trägt den größteÄ Teil des Textes in der ' primitiven Form der älteren priesterlichen Intonationen vor: in einem harmonisierten und harmonisch nur aufs nötigste ausgezierten Lektionenton. Häufig ist in dieser Messe der Effekt einer singenden und von den drei an- deren nur akkordisch begleiteten Chorstimme angewen- det; am ausgedehntesten im Agnus dei. In diesem Satze ist auch die Orgelbegleitung, welche in dem größten Teile der Messe entbehrt werden kann, wesentlich. 'Sie leitet hier sehr schon selbständig die friedlichen Weisen des >dona nobis« ein.

Die Missa choralis Liszts für gemischten Chor be- F. Liest, ginnt mit einem Kyrie von sehr strengem Charakter. Missa choralis. Der herbe Zug, der schon im Thema und in seiner Tonik liegt, *wird durch die fugierende Durchführung noch schärfer ausgedrückt. Es sind in dem Tonbilde Augen- blicke der Verlegenheit (in den Baßkantilenen) und der Verzweiflung (bei dem steigenden Aufbau des kurzen Motivs) angedeutet und über den Wendungen der Hoff- nung im >Christe< (bei dem wiederholten Schluß auf der Dominantseptime) liegt der Druck einer müden Seele. Im Gloria wird die erste Intonation (der in der Messe für Männerstimmen verwandt) an den Stellen des Lobgesangs thematisch durchgeführt. Von eigenem gebrochenen Aus- druck im Bitten ist das >Miserere<. Das Credo beginnt wieder mit dem auch in Bachs HmoU-Messe verwendeten Gregorianischen Thema. Ein großer Teil der Abschnitte des Satzes ruht auf kontrapunktischen Bildungen aus dieser Melodie gewonnen. Von hervorragender Origina- lität, mit ähnlichem Schauder deklamiert wie in Händeis »Messias«, ist die Leidensgeschichte. Ganz wie in Er- staunen getaucht beginnt das Sanctus. Der Satz be- hält bis ans Ende einen visionären Ton," welchen nur das »Benedictus« ein wenig variiert. Der Schluß ver- klingt in der Höhe. Nach einem sehr schwermütigen Anfang des Agnus Dei lenkt das >dona nobis« in das

J48 ^-—

Kyrie zurück und geht in dem Tone der Ruhe, aber mit freudigem Aufschwung zu Ende. Die beigegebene, viel aussetzende Orgelbegleitong kann einem ungeübten Chore leicht gefährlich werden.

Für Liszts prinzipielle Stellung zur Messe, als Kir- chenkpmponist überhaupt, würde die in ihrer kleinen. Form voll und gesund ausgewachsene, geistig bedeutende und musikalisch gediegene Messe für Männerchor genügen. Seine ungewöhnliche, das meiste aus der Zeit überragende Begabung für das Gebiet ersieht man aber erst aus den beiden großen ungarischen Instmmentalmessen. Die erste F, Liut, derselben, die sogenannte Graner Messe, entstand zur Graner Messe. Feier der Einweihung des Graner Doms und wurde in diesem im Jahre 4856 zuerst aufgeführt. Die Partitur dieses Werkes ist infolge schlechter Ökonomie in der Aufzeichnung der Stimmen und der Zugabe eines ganz überflüssigen Klavierauszuges zu einem so kolossalen Format angelangt, daß man sie bei Tage nicht gern über die Straße trägt. Man glaubt beim ersten Anblick vor einem Werke zu stehen, in welchem, wie zur Zeit der Venetianer und Engländer, die Chöre zu einer maß- losen Polyphonie aufgetürmt sind. Tatsächlich hat aber die Graner Messe eine Reihe ganz einfacher Sätze, welche sich ebenso leicht hören als lesen lassen. Darunter ge- hört gleich das Kyrie, eine schlichte zweiteilige Kom- position. In ihrem ersten Teile steht die Andacht unter dem Banne einer schaudernden Ehrfurcht: Die Farbe des Orchesters ist dämmernd; in Harmonie und Dyna- mik ruckt und zuckt es heftig. Das »Christe« singt in lieblichen und innigen melodischen Weisen, die . von Stimme zu Stimme wandern. Dem Gloria wohnt eine mächtige malerische Kraft in der Instrumentation inne. Es flimmert im Orchester wie durch die Glas- fenster einer Kathedrale. Zuweilen, beim >Laudamus« und beim >Quoniam«, hören wir Motive, wie wenn Glocken läuteten, und der Wechsel der Instrumenten- chöre erweckt die Vorstellung von großen, hohen, weiten Räumen. Ein Ton, als wollte ein glänzend,

festlicher Tag anbrechen, geht durch den größten Teil dieses Satzes, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als habe Liszt an die älteste Bestimmung des Gloria gedacht; an die Zeiten, wo es als Morgenhymne den Sonnenaufgang zu begrüßen pflegte. Die musika- lische Form entwickelt sich überwiegend instrumental und neben dem schon

berührten Glockenmo- ^ ».. ^ . ""SSi' . . . (^ . . tiv (in halben Noten) ist ^ kH * J. "' I [■ * M. "^

der muntere Weckruf *'®*

der Hauptträger dieser Entwicklung. Ein breit geführter und sehr tief empfundener Gesang zeichnet namentlich den Abschnitt aus, dessen Mittelpunkt das »Qui toUis usw.c bildet. Die Gesangmelodie kennen wir aus dem >Christe eleison c, welches das ganze Werk als wesentliches Merk- mal seiner Physiognomie durchzieht. Das »Cum sancto spirilu€ hat die Gestalt einer Fuge über ein einfach freudiges Thema.

Das Credo besteht aus einer großer Reihe kurzer Bilder: durch Verwendung von Leitthemen wird die Ein- heit des Ganzen ge- . . * . . .i.^i«** Liszt ge-

, - Tk '1. Andante maestoso, risomto. _ &,

wahrt. Das wich-^^4— .. , , i i 1 J 1 braucht tigste unter diesen gg f^il j_0^ ' ^"^ ^^ instru-

ist das folgende: '^ ' mental

wie vokal; vorzugsweise für die feierlichen und pathe- tischen Abschnitte des Textes in rhythmischen Umbil- dungen, welche seinen Charakter ins Gewaltige erweitem. In dieser Beziehung erscheint es beim »Et in unam sanc- tam usw.€ Doch hat er ihm auch eine intime Seite ab- gewonnen. Ganz auf die letztere gestellt, tritt es uns als Klarinettenmelodie (Fisdur) bei dem Abschnitte ent- gegen, welcher der irdischen Geschichte des Heilands gewidmet ist. Man wird geneigt sein, diesen Teil als die Krone des ganzen zu bezeichnen. Von einfach voller Empfindung durchströmt, bietet er namentlich deklama- torische Wendungen von genialster Bedeutung. Die her- vorstechendste ist bei »Et homo f actus est«. Sein Ende geht in einen naturalistisch wirksamen Stil über, welcher

--^ 260 ♦.—

Interjektionen steigernd aneinander knüpft. Nach den schneidendsten Wehrufen beim »Grucifixus« haucht der Chor die letzten Worte von Tod und Begräbnis ins Leere hin. Neben dem oben in erster Linie angeführten Leit- thema erscheint noch das Glockenmotiv aus dem Gloria. Zunächst nur versteckt; breiter, wenn auch nur leise ge- geben zum erstenmal: beim »Deum de deo, lumen de lumine«. Die Solostimmen singen darüber ruhig edle Melodien, in welche der Chor bescheiden einfällt. Ein andres Thema, der kurz rhythmisierte Weckruf des Gloria (siehe oben), tritt beim >Resurrexit< wieder auf. Eine der grandiosesten Orchesterwirkungen des Werkes dient zur Schilderung des jüngsten Gerichts. Sie klingt noch einmal wieder an, als der Auferstehung der Toten gedacht wird. Mit eigentümlich kurzen, großen Strichen endet der Satz.

Sehr schön und leicht übersichtlich ist das Sanctus behandelt: Eine weiche, in feierlich stiller Erwartung hinschwebende Hauptmelodie für den ersten Abschnitt: »Sanctus«. Ein geheimnisvoll leises Wechseln hoher und tiefer Akkorde für das >Pleni«, für das >Osanna« Zurück- greifen auf den Weckruf des Gloria einmal, das andere Mal auf die (den blasenden Instrumenten übertragene) Hauptmeiodie des Sanctus selbst. Das »Benedictus« ist eine Paraphrase über das eingängliche Thema des >Christe eleison«. Das Soloquartett singt allein; der Cho« schweigt und das Orchester ist .in der zartesten Weise behandelt. Auch das Agnus dei ruht wieder auf dem »Christe eleison«, welches nach einem von Angst erfüll- ten Eingang den Horizont für die Beter aufhellt Das »Dona nobis« wird schlicht hingesungen; darauf kehrt das Ende des Werkes zu dem Weckruf des Gloria zu- rück und wendet sich von ihm weiter dem Anfang der Messe zu, Thema nach Thema berührend und das Ganze sinnig abrundend.

Als die Messe neu war, wurde eifrig darüber gestritten : Ist sie Beethovenschen Geistes oder nicht? Man kann darauf ohne Bedenken bejahend antworten. Nicht bloß

t54

die Graner Messe, sondern die ganze Methode der Liszt* sehen Komposition ist eine Frucht des Beethoven der dritten Periode. Ihr Ziel ist: Aufgehen der künstlerischen Formen und Mittel in dem unmittelbaren Natureindruck. Das fertige, planvoll gestaltete Werk soll mit der ünge- bundenheit, Freiheit und Lebendigkeit einer begeisterten Improvisation wirken. Das tut diese Messe; sie scheint wirklich um Liszts Wort zu gebrauchen mehr ge- betet, wie komponiert und dringt mit ihren weichen Motiven, das des »Christe eleison« voran, tief in fromme Herzen ein. Noch näher als dem letzten Beethoven steht die »Graner Messe« aber Richard Wagner. Dessen Me- thode, die Instrumente mitsprechen und Beziehungen knüpfen zu lassen, durchs Orchester die Grundgedanken des Kunstwerks immer wieder zu betonen und zu variieren, ist hier zum erstenmal in der Kirchenmusik durchgeführt. Das ist ein Gewinn für die äußere Einheitlichkeit und das innere Leben der Werke dieses Gebiets, der irrt Laufe der Zeit erst voll anerkannt werden wird. Dadurch, daß sie hier Bahn gebrochen hat, wird die »Graher Messe« Liszts zum geschichtlichen Denkmal.

Daß Liszts Hauptbegabung in der religiösen Kompo- sition Hegt, zeigen auch sein Adur-Konzert und seine Dante-Sinfonie, die Graner Messe beweist es vollständig. Es war nur natürlich, wenn er dieses Feld von der Zeit ab, wo er Priester geworden war, eifriger bebaute. Indes bilden die Werke der römischen Periode keine Steigerung gegen die früheren. Die ungarische Krö- nungsmesse von 1867 steht hinter der Graner Fest- messe sogar etwas zurück. Sie ist ungleichmäßiger, hie und da flüchtiger gearbeitet, aber doch mit einem Geist, der überall die Hauptwege richtig trifft. Es bleibt in dieser Messe noch genug, was genial und der Bewunde- rung wert ist, wenn es vorwiegend auch nur einzelne Stellen sind. Dahin rechnen wir die Themen des Kyrie und seines Mittelsatzes: des »Christe eleison«, die in einer eignen Nachdrücklichkeit und Reumütigkeit bitten; auch den in immer stillerem Grollen ausgehenden Schluß des

F. Liszt,

ungarische

Krönungs-

messe.

-^ 252 ♦^

ganzen Satzes. Fortreißend durch den fast wild freudi- gen Naturklang der auf einen langen Triller vereinigten Geigen ist der Anfang des Gloria. Die mit leichtem Material gebauten Steigerungen von >laudamus< ab, finclen in dem »Domine deus< mit seinen mächtigen Akkorden einen großartigen Abschluß. Einer ähnlich wuchtigen Harmoniewirkung, wie an dieser Stelle be- gegnen wir dann wieder kurz vor dem Ende des Gloria, bei den Worten: »cum sancto spiritu«. Wie Schumann schon seiner GmoU-Messe, und wie viele andere Kompo- nisten vorher, hat auch Liszt seiner Krönungsmesse die Komposition des »Gradualec und »Offertoidum« beige- geben. Letzteres ist ein Instrumentalsatz. Ihm, wie dem »Gradualec liegen Weisen aus dem Schatze des katholischen Kirchenliedes zu Grunde. Das Credo ist durchweg gregorianisch; ein Unisonogesang sämtlicher Stimmen, voll Würde und Schwung in antiker Gangart. Die Orgel. begleitet. Das Sanctus ist in seinen vorde- ren Abschnitten nur Vorbereitung auf das »Benedictus« und sammelt mit Motiven, die spannend in die Höhe zeigen, einmal auch, beim »Pleni«, mit freundlich mild hinziehenden Melodien die Stimmung bis zur Dichtigkeit der feierlichen Erwartung. An diesem Punkte setzt das Benedictus, ähnlich wie in Beethovens »Missa solem- nis€, mit einem Violinsolo ein. Nur bis auf diese äußer- liche Übereinstimmung in der Instrumentierung geht die Ähnlichkeit der beiden Sätze. Die Motive der Lisztschen Benedictus -Violine, welche nachher vom Cello und dann von allen Instrumenten der Reihe nach aufgenom- men werden, khngen ganz unverkennbar an ungari- sche Nationalmusik, insbesondere an Racoczyweisen an. Das tun auch schon vorher einzelne Stellen, und es ist nicht ausgeschlossen, daß die Absicht, solche volkstümliche Zitate zu bringen, Liszts Fantasie etwas gelähmt hat. Das Agnus dei setzt mit dem- selben Thema ein, welches im Gloria die Worte »Qui toUis« trug, und kehrt dann ähnlich, wie dies in der Graner Messe der Fall, war, schrittweise bis zum

J53 ^J«—

ersten Kyrie-Einsatz, also bis zum Anfang der Messe, zorück.

Eigentümlich ist beiden Instrumentalmessen Liszts die Menge von Stellen, an denen die Singstimmen uni* sono geführt isind. Es entspringen aus dieser Manier höchst gewaltige Wirkungen. Ihren Grund mag sie aber in äußeren Verhältnissen gehabt haben.

Im Jahre 4 869 kam im Th^ätre ItaUen zu Paris eine «Missa solemnisc von Rossini zur Aufführung. Man G, Bossinii hat in Deutschland diesem einige Jahre vor dieser öffent- Missa solem- liehen Aufführung bereits entstandenen Werke wenig Be- nis. achtung geschenkt. Ganz im Gegensatz zu den Italienern, bei welchen die Wortführer der komischen Oper, die Conti, Galuppi, Gasparini und deren Nachfolger bis auf Donizetti, sehr fleißig und erfolgreich auf dem Gebiete der Messen- komposition tätig waren, pflegen wir denjenigen kirch- lichen Werken mit Mißtrauen zu begegnen, welche aus den Händen dramatischer Komponisten hervorgehen. Dieses, durch manche frivole Anekdote belegte Vor- urteil, wird durch Rossinis Stabat mater bis zu einem gewissen Grade gutgeheißen. Das Stabat mater hat der Messe den Weg verlegt. Wer sie studiert, wird von dem Ernst ergriffen sein, mit welchem der melodien- reiche Meister an die Aufgabe herangetreten ist. Der Geist dieser Messe stimmt mit der Tatsache, daß Rossini sich für S. Bach interessierte und als einer unter den wenigen großen Komponisten der Zeit der Bachgesellschaft ange- hörte. Eine der schönsten Stellen in dem Werke ist das »Et in terra paxc im Gloria, eine Art L. Richtersches Weihnachtsbild in Tönen: Tiefklingende Glocken hoch vom Turm herab in die dunkle Nacht hinein läutend!

Unter den neueren Messen, welche weniger beachtet worden sind, obwohl sie von namhaften Tonsetzern herrühren, nennen wir weiter: die »Missa solemnist von F. Kiel. In diesem Werke hat der geistvolle Kom- Pi Eleli ponist den Begriff der Solemnität besonders auszu- Missa solem« prägen gesucht Die Sätze, welche im Texte einen nis. frohen, freudigen Charakter tragen, sind reich an kurzen,

—^ 254 <*>—-

signalartigen Motiven, ^yie sie das große Volk \ als Aus- druck seiner festlichen Stimmung liebt Namentlich im Gloria reden die Trompeten diese populäre Sprache. Der Verbreitung dieser Messe mag es hinderlich gewesen sein, daß der Verfasser den Schwerpunkt der Komposition allzu fest in die kontrapunktische Arbeit gelegt hat. Im allgemeinen hat dabei die Freiheit und der Gehalt der geistigen Bewegung etwas gehtten. Aber einzelne Sätze sind trotz der strengen Form eindringliche und reizende Tonstücke: In erster Linie ist aus dieser Gattung »Do- mine deus« zu erwähnen. Der Einfluß größerer Vorbilder zeigt sich hier und da: Bach ist im »Qui toUis« und im >Osanna«, Beethoven im »Et vitam venturic deutlich durchzumerken. Auf der andern Seite begegnen uns aber auch wieder Sätze von ganz selbständiger und in ihrer Neuheit bedeutender Auffassung. Das »Quoniamc gehört dahin ; auch das Agnus dei verdient wegen seiner dramatischen Entwicklung und wegen der sinnigen Ver- knüpfung mit dem Kyrie in dieser Gruppe einen hervor- tretenden Platz.

Einzelne Messensätze sind in der neueren Periode verhältnismäßig nur wenige veröffentlicht worden und noch weniger in Umlauf gekommen. Als die hervor- ragendsten Arbeiten dieser Art aus jüngerer Zeit sind zu M. Braoh, nennen: Kyrie, Sanctus und Agnus dei von Max Bruch.

Kyrie, Sanctus, Sie gehören zu den gediegensten und gehaltvollsten Wer- Agnus dei. ken des jungen Bruch und stehen an Frische und Reich- tum der Fantasie und Erfindung seinem »Frithjofc und dem ersten Violinkonzert nahe. Hätte Bruch sich ent- schließen können, die Messe durch Gloria und Credo zu vervollständigen, wäre ihm eine führende Stellung in der neuen Kirchenmusik sicher gewesen.

Eine praktische Bedeutung für . das geistliche Konzert A. Becker,' hat die Große Messe in Bm oll für achtstimmigen Chor,

GioBe Messe in Soloquartett, Orchester und Orgel von Albert Becker

BmoU. (op. 4 6) erlangt. Mit der ersten Aufführung dieser Messe

i. J. 4 879 durch den Riedelverein in Leipzig wurde

der deutschen Musik ein sehr geistvoller Tonsetzer

^ 255

gewonnen, welcher bis dahin ziemlich unbeachtet gestrebt hatte. Noch weniger als Kiel zeigt Becker eigentliche Originalität in der musikalischen Erfindung und die Führung der manchmal zerstückelten, manchmal zu breiten Formen entbehrt noch der vollen Reife und Freiheit. Aber Becker besitzt als Musiker einen starken Sinn für Wohlklang, für eingängliche Motive und ver- steht sich mit einer Sicherheit, die auf das Theater hin- weist, auf scharfe und klare Effekte. Als Künstler liebt er vor allem poetische Beziehungen. Eine glückliche Folge dieser Neigung ist in Beckers BmoU-Messe die Ver- wendung des evangelischen Kirchenliedes. Becker scheint nach der Schlußbemerkung, die der Komposition an- gefügt ist, zu urteilen nicht gewußt zu haben, daß schon S. Bach und noch frühere Meister den lutherischen Choral für ihre Messen benutzt haben. Für die neuere Messe hat aber Becker das Verfahren ähnlich erneuert, wie P. Cornelius in seinen > Weihnachtsliedern den Choral wieder der kunstmäßigen Hausmusik zugeführt hat. Für den Erfolg der Beckerschen Messe ist diese Verwendung der Choräle wesentlich entscheidend ge- worden. Was den Messen eines Cherubini, Schubert, Weber, Schumann, Liszt versagt blieb, das hat die Beckersche erreicht. Sie ist ins Volk gedrungen, wenig- stens ins protestantische, für das sie bestimmt ist. Durch die Choräle wird sie für alle Grade musikalischer Bildung gleichmäßig verständlich, den Geistlichen besonders lieb. Es ist bekannt, daß Luther fast sämtliche Sätze der lateinischen Messe in die Form des Kirchenliedes über- tragen ließ, ganz ähnlich, wie dieses auch die Passions- geschichte sich angeeignet hat. Da hat das Gloria seinen liedmäßigen Ersatz in »Allein Gott in der Höh^ sei Ehre, das Qtedo in »Wir glauben AIP an einen Gott«, das Agnus dei in »0 Gottes Lamm unschuldig« erhalten. Nicht diese eigentlichen Messenchoräle sind es, welche Becker in sein Kunstwerk einflicht, sondern er läßt Choräle anklingen, um gelegentlich den Be- griffsgehalt einzelner Textbilder zu bereichern und zu

256

schärfen. So setzt im Credo nach der Stelle »descendit de coelis« der Passionschoral »Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld« ein, hei der Schilderung des zukünftigen Lebens >Et vitam venturi saeculi« spricht der Choral »Jesus, meine Zuversicht< die freudige Hoffnung aus, mit welcher die Gemeinde das Bild der künftigen Seligkeit betrachtet. Das »Osanna in excelsis« erhält eine volks- tümliche Bekräftigung durch »Allein Gott in der Höh* sei Ehrt. In der Regel treten die Choräle, wo sie erscheinen, in den Vordergrund der musikalischen Form. Im Munde von Orchester und Orgel bilden sie einen cantus firmus, den die Singstimmen fugierend, zuweilen auch frei bis zum rezitativischen' Ton, umkreisen. Es ist ein Nachteil, daß der Komponist die Melodien meistens in regelrechter Vollständigkeit durchführt. Nur an einer Stelle, beim »cujus regni non erit finist hat er sich es ist hier »Wachet auf, ruft uns die Stimme < auf ein kurzes Zitat der Orgel beschränkt.

Das erste Kyrie spricht eine gedrückte Stimmung in zusammengedrängter Form aus. Die beiden Themen:

Grave.

^Ky. ri.0 « . lei . ,. «on, e . ^ « le ^1 son

und

^

S

Ky .

rio o

. le - - . - i . son, Ky. . ^ri . e

welche zu diesem Zwecke sich vereinigen, haben einen Bachschen Zug und setzen ein für die Symbolik chro- matischer Melodieführung eingeschultes Ohr voraus. Er- leichtert wird aber die Aufgabe, den Gehalt des Satzes zu erfassen, durch eine scharfe Einteikmg in nicht zu große Perioden. Der Eintritt des »Christe eleison c ist eigen durch seine Einfachheit. Die zwei halben Noten, in denen Christus angerufen wird, wirken sehr tief und durchklingen den Satz als freundliches Signal. Es ist eins der Kennzeichen der Kunst Beckers, so ganz naheliegende

257

und gewöhnliche Mittel an einem Punkt einzusetzen, wo sie ins hellste Licht fallen. Den Glanzpunkt der ganzen ersten Abteilung bildet der Schlußsatz: das zweite Kyrie. Die Instrumente führen hier den Choral: »Aus tiefer Not schrei* ich zu äirc durch. Die Singstimmen werfen die Gebetsworte beweglich drein, bald frei deklamatorisch, bald im gebundenen Gesangsstil.

Der erste , rauschende Teil des Gloria ' wird von folgendem in seinen Anfangsworten ganz leicht an Beet- hoven und seine »Mis- Aiiegro. ^

sa solemnis« erinnern- <fiHi n J. j) J>| ^ J ^f- f l^f ^ den Thema beherrscht: oio-h.» L «c.eai.m öe.li

Dasselbe kehrt am Schluß der ganzen Abteilung im »cum sancto spirituc wieder. Eine längere E|)isode von ruhigem Charakter bildet in diesem anfangenden Ab- schnitt das »Et in terra paxc. Das Aufhören der har- monischen Bewegung kennzeichnet ihren Ausdruck des Friedens eigentümlich. ' Das »Gratias agimus tibi« setzt im Liedton ein, fast wie ein anmutiges Ständchen, und geht bei den Worten »propter magnam gloriam tuamc aus dem zutraulichen Ton in einen ehrfurchtsvollen über. Hauptsächlich vollzieht sich dieser Übergang mit koloristischen Mitteln: in neuen Farben aufrauschenden Tonfiguren! Der Gebetsabschnitt im Gloria ist wohl die in der Erfindung bedeutendste Partie der ganzen Ab- teilung. Besonders ragen aus ihr hervor das c^urch alle Gruppen tönende mitleidige »Agnus dei« und das zweite »Misereret. Dieses ist durch die Harmonie in mächtiger Spannung gefesselt und aus ihr streben die Stimmen im innigen eifrigen Ringen heraus. Nach einem kurzen, stolzen »Quoniam« beginnt die Schlußabteilung mit einer ^ knappen Fuge über »Cum sancto spiritu«. Jauchzend setzt das sehr eindringliche Thema ein. Bald mischt sich das Thema des »Quoniam« mit drein, und auf einem weiteren Höhepunkt angelangt, nimmt die Fuge einen dritten Arm in ihren Freudenstrom mit auf: das oben aufgezeichnete Anfangsthema der Abteilung. Becker waltet maßvoll mit diesen Mitteln; statt sich allzulange

U, 4.

17

-^ 258 ^^—

auszubreiten^ nparkiert er seinen Schluß mit einigen be- deutungsvollen Einbiegungen und der Entwicklung mäch- tiger Klangwirkungen.

Im Credo ist bis zu der Stelle »Qui propter nos« das wunderbare Element der Bekenntnisartikel voran- gestellt. Die Motive sind kurz, im Kern oder in der Umkleidung flüchtig und fantastisch gehalten. Die einzig feste Stütze scheint das breite langsame Thema zu bilden, welches die ersten Takte bringen. Es kehrt in der Ab- teilung häufig wieder. . Das >Qui propter nost selbst teilt sich noch zwischen mystischen Andeutungen (bei »dbscendit«) und Ausdruck eines warmen menschlichen' Dankgefühls. Die Schilderung der Inkarnation Christi ruht auf dem Choral >Ein Lämmlein geht usw.«. Die Singstimmen führen darüber ihr eigenes in tiefe Trauer getauchtes Thema durch. Die instrumentalen wie die vokalen Grundideen des Abschnitts sind vortrefQich, ihre Ausführung wirkt aber etwas matt. Die Kreuzigung be- gleitet das Orchester mit schwer lastendem Motiv, die Stimmen rufen wie in Schmerz und Staunen festgebannt ihr »Crucifixus« hinein. Auch beim »passus« bleiben sie in einer vielsagenden Kargheit von Ton und Wort. Vor dem >sub Pontio Pilato« erklingen in den Instrumenten ganz ähnliche Seufzer, wie sie jedermann aus dem »Parsifal« Wagners unvergeßlich sind. Es ist eine der modernsten und ergreifendsten Stellen in Bs. Messe. Die weiteren Glaubenszeugnisse sind kurz gegeben; aber mit bedeutenden Themen. Am meisten fesselt der mystisch spannende, visionäre Ausdruck bei der Stelle »Et exspecto resurrectionem mortuorumc. Alarmierend, taucht dieses Bild aus dem Nichts auf und ins Nichts verschwindet es, begleitet von den kurz erregten Rezitativzeilen der Sänger. Einen längeren Satz bildet nur das fugierende »Et vitam ventüri saeculi«, getragen vom Choral: »Jesus, meine Zuversicht«.

Wenn Beckers Messe im allgemeinen zuweilen auch an Beethovensche Mittel erinnert, so tut dies das Sanctus besonders in der Mischung des kolorierenden

~-^ J59 ♦—

Gcesangstils mit einfacher Melodik und Deklamation. Wie schön eignen sich hier die einander kreuzenden zarten Figuren der Singstimmen zum Ausdruck einer in Gottes- freude schwelgenden Empfindung! Ganz 4ibweichend ist die Wiedergabe des ersten »Osanna« in dem ruhigen Tone, mit welchem man ein Glück betrachtet, das stille hält. Während dieser Satz in anderen Messen das >Bene- dictus« aus einem scharfen Abschnitt herausspringen läßt, leitet Beckers »Osanna« zum letzteren mild hinüber. Über beide Sätze breitet der Wechsel und die Ver- einigung von Chor und Soli großen sinnlichen Rei2. Die zweite Behandlung des »Osanna«, von der ersten grund- verschieden, fesselt durch Hervorkehrung eines ernsten, tiefsinnigen Elements. In diesem zweiten Osannasatz ist es, wo auch der Choral: »Allein Gott in der Höh'« an- gespielt wird.

Das Agnus dei beginnt in einem drohenden, fast unheimlichen Ton: schwül in Klang und Harmonie; tief unten grollen kurze erregte Figuren, der breite Gesang der Solostimmen wird von dem angstvoll naturalistisch psalmodierenden Chor unterbrochen. Die Szene beginnt mehrere Male von vorn und steigert den Ausdruck der düsteren Gedanken, schmerzliche Klagen erheben sich im Orchester; an andrer Stelle vernehmen wir wahre Höllentöne. Eine Lösung vom Druck versucht das erste Andante (VrTakt). Aber in seiner Melodik liegt die volle Ratlosigkeit noch ausgesprochen. Erst ein selbständiger Orchestersatz (Allegretto, V4) löst die Spannung und führt zum »Dona nobis« über, welches den Frieden bringt. Seine vorwiegend idyllischen Weisen werden durch freund- lich mystische und durch hochpathetische Streiflichter ge- hoben.

An Selbständigkeit und Charakter wird die Arbeit Beckers von der jjüngst veröffentlichten »Großen Messe« (in FismoU) von Felix Draeseke (op. 60) übertroffen. Felix Droeseke, Es ist eine Musik Cherubinischen Geistes, die oft ver- FismoU- schlossen und in sich gekehrt, näher gekannt sein will, Messe, am verstanden zu werden. Nach keiner Seite leicht, hat

47*

^^ 260 ^.—

sie bisher wenig Verbreitung gefunden; wir wissen nur von zwei Aufführungen: in Leipzig upd Dresden. Wer aber in dieser Messe die Darstellung der Passion, des »Benedictusc und namentlich des Agnus dei studiert, wird darüber nicht in Zweifel sein, daß hier die Arbeit eines Meisters vorliegt. A. Braokner. Auch die drei Messen Anton Brückners, (Dmoll,

FmoU-Mesee. Emoll, Fmoll) die aus einem wahrscheinlich ziemlich reichen und teilweise in der Jugendzeit des Komponisten geschaffenen Vorrat allein in Druck gekommen sind, haben bisher nur geringes Entgegenkommen gefunden, obwohl sie in mancher Hinsicht sehr bemerkenswert sind. Eigen ist ihnen ein außerordentlich reges Orchester, das anders als bei Liszt nicht auseinander liegende Teile in Bezieh- ungen bringt, sondern die Grundstimmung größerer Ab- schnitte fixiert, eigen zweitens eine mit klisinen Motiven spielende Kontrapunktik, die vom scheinbar eigensinnigen Suchen und Probieren sich oft zu einer überraschenden Größe der Empfindung aufschwingt. Den Symphonien sind sie durch die knappe, straffe Anlage und dadurch über- legen, daß sie sich von Abschweifungen fernhalten. Die verhältnismäßig bekannteste unter diesen drei Messen, die Große Messe in Fmoll (als Nr. 3 veröffentlicht), für Soli, vierstimmigen Chor und großes Orchester, ist sehr ungleich in der musikalischen Erfindung. Einzelne Sätze sind durch und durch bedeutend, bei andern führt der Weg zu gewaltigen, unvergeßlichen Stellen über ge- wöhnliche, zum Teil altvaterische Strecken. Der Mangel an Vokalsinn, der dieser Tatsache mit zugrunde liegt, äußert sich auch häufig in der technischen Führung der Singstimmen.

Das Kyrie ist der schwächste Satz dieser Messe. Kaum kann man ihm mehr nachrühmen, als daß der Ton getroffen ist. , Nur der Schluß des Mittelsatzes, das > Chris te eleison c, bei dem die Solostimmen eintreten, erhebt sich an der Gesdur-Stelle zum mächtigen Aus- druck freudigen Vertrauens. Eine zweite große einer Alltagsseele unmögliche Stelle findet sich im dritten

^ 261 ^

Abschnitt, in der Wiederholung des Kyrie, da, wo sich um das kurze Cisdur-Motiv Chor- und Solostimmen ab- lösen.

Das Gloria hat drei Teile. Der erste endigt, auf- fälligerweise, mit den Worten : »Domine Deus, agnus Dei, filius Patris<, auffällig deshalb, weil so Subjekt und Prädikat auseinandergerissen werden. Seine Musik zeich- net sich durch feurige Empfindung und durch den Glanz aus, in dem sie die Majestät Got- ^^Aiiegro. tes vorstellt. Die musikalische Stütze des Bildes ist eine einfache Achtelfigur die im Unisono des Streichorchesters wie zu einem Strom anwächst. Dieses gewaltige Phänomen wird durch zwei ruhige Idyllen unterbrochen, zuerst beim »Et in terra pax«, dann noch schöner beim »Gratias agimus<. Diese Episode mit der wohltuenden Stille, aus der die Solostimme', von einem Terzengang weniger Instrumente umspielt, so klar und schlicht eindringlich hervortritt, ist ein Geschenk der Inspiration. Ober die Titulaturen geht Brückner im flotten Zug hinweg und fügt bei ihnen der leitenden Hauptfigur des ti»^^ Orchesters ein ebenfalls Mm jJ PfPf/ir hinzu, freudevolles Nebenmotiv: «T i " L-ö ^

Der zweite Teil besteht aus zwei Abschnitten. Der vordere (Adagio, 3/4, DmoUj, der die Bitten: das miserere und das suscipe enthält, baut ^ Adagio. ^^ auf.Nach- sich in der Hauptsache über (fe b g p J 1 Jp J dem ihn dem inbrünstigen Gehetsruf : •? ' W ' -IT ^^^ Stim- men jede für sich vorgetragen haben, treten sie zum Chorsatz zusammen und dem neuen Ton, in dem sie nun nochmals um Erbarmen und um Erhörung bitten, ist ein starker Teil Herzensangst beigemischt. Er dringt ins Innere des Hörers. Der dritten Intonation des (ange- gebenen) Gebetsrufs folgt der Chorsatz nicht sofort, son- dern Brückner schaltet modern realistisch man denke an Berlioz einen Abschnitt stammelnden Psalmodierens dazwischen. Durch sie wirkt der Einsatz des Chors dann wie ein elementarer Aufschrei.

262

In dem andern die Worte von >Quoniani tu solus usw.« bis zum >in gloria Dei Patris, Amen« umfassenden Abschnitt des zweiten Teils wird die Musik des ersten Teils wiederholt. Der dritte, schließende Teil des Gloria nimmt den Satz »in gloria Dei Patris, Amen« noch einmal

auf und vertieft sich in ihn, fl i . r fl _ .r i \^ . tr^^

mit ebensoviel Schwung jp /IHfl^ * j'^ T * T fT alsKunst über das Thema: in fiori» DoJ Pa.trii A.men

fugierend. Das Schlußwort hat das Orchester auf die Figur zurückgreifend, mit der das Gloria begann.

Das Credo ist der in sich ungleichste Satz der Messe. Fast könnten sich in seine Komposition zwei ganz ver- schiedene Künstlercharaktere, ein Naturkind und ein Grübler, geteilt haben. Diesem mißrät mancherliei in Ausführung und Auffassung, jenes übt auf den Hörer auch bei fraglichen Wegen einen unwiderstehlich freund- lichen Bann aus.

Das Naturkind beginnt das Glaubensbekenntnis mit folgen- f. Aiiegro. Das ist bekannter

dem Xifi f^ nr rrN^rif. österreichischer Kir- Thema: *^ ' Cre.do, cre.do in unumDeuro chenton, es erinnert ganz direkt an das Credo der Esdur-Messe Franz Schu- berts und es erfreut so oft es kommt, was ziemlich häufig geschieht. Es beherrscht, wenn auch nicht wörtlich, so doch geistig den ersten Abschnitt des Satzes, der bei den Worten >descendit de coelis« endet. Brückner läßt aber schon hier in die freudige Hingebung an den Schöpfer und Vater aller Wesen einen mystischen Ton hineinklingen, und zwar mit einfachen Mitteln. Zu- erst bei »visibilium omnium et invisi- bilium« tritt im Orchester das Motiv: bei »natum ante omnia auf. Beideinale

saecula« das sehr eifrig "P J f J„J ^ ist die Chroma- verwendete Baßmotiv: *"^ tik der entschei-

dende Zug. Ihr entspringen romantisch schillernde Har- monien und geisterhafte Melodiengänge.

Der zweite Abschnitt, in dem die Menschwerdung, das Leiden uud Sterben des Heilands vorgeführt wird,

-^ 263 ^—

macht nun mit der Mystik Ernst. In dem beginnenden Moderato dient ihr namentlich das Kolorit mit in j^chtel- noten zitternden und schwebenden Harmonien hoher Holzbläser, der seit Wagners >Lohengrin« allgemein ge- wordenen Symbolik des Wunderbaren. Eine Solovioline und eine Solobratsche werfen eine Art Lerchengesang hinein. Den Text über »Et incarnatus est« trägt ein Solotenor auf eine Melodie vor, die durch ihre zarte Schönheit zu den hervorragendsten Stellen der ganzen Messe gehört. Ihre großen Schlüsse böten wir im dunk- len Echo der Posaunen zweimal. Es fällt der Frauenchor mit ein, mehr sprechend als deklamierend. Das »Homo factus est« übernehmen die Bässe noch sehr im Ton des Geheimnisses. Beim Hinzutritt der andern Stimmen geht er in Ergriffenheit über und nun kommt mit dem »Cruci- fixus« eine der bedeutendsten Stellen der ganzen Kom- position. Die Bedeutung liegt in dem stillen, heimlichen Kampf zwischen 'einer fromm dankbaren und einer schmerzlich leidenschaftlichen Auffassung der erzählten Vorgänge. Der Chor, der den Hauptvortrag hat, bleibt bis zum »sepultus est« in derselben äußerlichen Ruhe, mit welcher er das »Crucifixus« choralartig einfach ein- setzt Aber aus einer Menge Dissonanzen und Akzente spricht die innere Erregung deutlich genug.

Die Heilsgeschichte von der Auferstehung bis zum Weltgericht (»Et resurrexit« bis »judicare vivos et mortuos«) , bildet den dritten Abschnitt des Credo. Die Incarnation und die Passion hat Brückner im Halblicht, in den Far- ben des Traumes geschildert, für die neuen und höheren Wunder wählt er den Ton äußerster Spannung und ge- waltigster Aufregung und drückt ihn mit Orchester- motiven aus, die größtenteils etwas primitives und naturalistisches haben. Ganze lange Teile dieser Grup- pen liegen g die, in allen Lagen zu- auf der wilden fly f T 1 f ^f * M gleich, lange Perioden Streicherfiffur: *^ 4 1 f 4 hindurch nicht vom

Streicherfigi

Platze weicht und wie eine Geistergestalt bald sich hebt

und bald sich duckt. Abgelöst wird sie durch andere

—-^ 264 #—

ebenso tumultuarische Achtelgänge, denen Bruchstücke der Skala zugrunde liegen. Was die Bläser und was die Singstixnmen hinzutun, ist nicht viel mehr ^Is al fresco- Musik, akkordisch, mit großer Kraft gebrachte Deklama- tion, nur hier und da durch das ausdrucksvolle Motiv eines Horns, einer Posaune, derTenöre oder Bässe unter- brochen. Das Ziel, auf das der Komponist lossteuert, ist ein mit Schrecken gemischtes Staunen. Die höchste Wirkung seiner Absicht erreicht er vor und mit dem Eintritt des »cum gloria judicare vivos et mortuos«. Das Gericht über die Lebendigen beschäftigt ihn lange, der Toten (et mortuos) gedenkt er kurz und leise. Gleich darauf verschwindet die Vision. Die Worte »cujus regni non erit finis« sind als Anhang, zu diesem HaÄptbild des Credo gedacht. Ein technischer Zusammenhang mit ihm fehlt zwar, aber die Wiedergabe des »non erit ünis« nimmt den Geisterton der dort in andrer Weise bei der Erwähnung der Toten angeschlagen wurde, noch ein* mal auf.

Der vierte Abschnitt beginnt mit dem Bekenntnis zum heiligen Geist und verwendet dazu zunächst die Musik, mit der das Credo anfing. Beim Relativsatz »Qui cum Patre et Filio usw.« aber tritt ein neuer Ton- satz (Moäerato, 3/4, G dur) von freundlich, ruhig beschau- lichem Charakter ein. Eine logische Berechtigung, einmal Zusammengehöriges zu trennen, dann dem heiligen Geist so menschlich intim und vertraulich gegenüber zu treten, liegt nicht vor, sondern Brückner ist hier dem musika- lischen Effekt nachgegangen. Den hat er vorzüglich er- reicht. Der milde Ton des Satzes tut nach der starken Aufregung sehr wohl, der Form nach ist er ein Kanon der Solostimmen, den der Chor nur mit einer kurzen, ehrfurchtsvollen Episode auf die Worte: »simul ado- ratur et conglonficatur« unterbricht. Wie der voran- gegangene dritte, wird auch dieser vierte Abschnitt durch einen Anhang vervollständigt, dem der von »Et unam sanctam catholicam« bis »resurrectionem mortuorum« reichende Text zugewiesen ist. Auch er stört die

Einheit des ganzen Satzes und ist an sich unbedeutend. Doch bringt er den ernsten Charakter der Gelöbnisse zur Geltung. Bei der Auferstehung der Toten stellt Brückner auch eine Verbindung mit dem dritten Ab- schnitt her: das allarmierende Achtelmotiv des Streich- orchesters setzt wieder ein. Die Worte »resurrectionem mortuorum« sind bedeutungsvoll getrennt, das erste wird fest und begeistert im forte gegeben. Dann folgt nach zwei Takten Pause, in die nur die Pauke leise hinein- wirbelt, pp im kleinlauten unisono der Singstimmen das »mortuorum«. Die Stelle hat eine gewisse Kulturbedeu- tung. Läßt es sich in der musikalischen Messe im allge- meinen deutlich verfolgen, wie der christlichen Mensch- heit der Gegenwärt zu die Todesfurcht mehr und mehr gewachsen ist, so bildet Brückner den Superlativ des Todesgrauens. Ihn persönlich muß der Gedanke ans Sterben mit Schauder erfüllt haben. Welcher Kontrast zur Todesfreudigkeit der Bachschen Zeit!

Wie ein freundliches Erwachen aus einem quälenden Traum stellt sich zu diesem Schluß der nun folgende und fünfte Abschnitt des Credo, dem die Worte: »Et vitam venturi saeculi, Amen« zufallen. Er ist der originellste Teil der ganzen Messe, obschon er nennenswertes neues musikalisches Material nicht bringt. Brückner verwendet das (oben mitgeteilte) Eingangsthema des Credo für ihn in einer freien Fugenform. Aber mit einem überraschen- den, hinreißenden Eiilflill. Zwischen jede Intonation des Themas fällt der volle Chor, einfach homophon mit vier Akkorden ff: »Credo, credo« ein. Das ist urnaiv und von elementarster Wirkung. Mit diesem Ausgang ist dieses Credo ein Unicum, es gibt keine Messe, in der die Glau- bensfreudigkeit voller und natürlicher zum Durchbruch kommt. ÜJtere Anregungen sind dabei möglich.

Das Sanctus ist auffällig knapp und begnügt sich die Empfindungen in kleinen Stücken zu skizzieren. Nur beim Hosanna, dessen Ton ziemlich weltlich an- klingt, wird länger verweilt. Es kehrt auch nach dem Benedictus wieder. Dieses Benedictus, in der Form der

U.

—^ '266 *—

di'eiteiligen da capo-Arie augelegt, gehört im Hauptsatz zu den Perlen der Brucknerschen Messe. Schon seine instrumentale Einleitung, mit dem Cello als Hauptstimme, ist echte edle Herzensmvisik. Der Gesangteil, von Solo- stimmen bestellt, erweitert den Inhalt der schönen an- dächtigen Melodien und steigert ihren Ausdruck durch sinnvolle Kontrapunkte. Noch mehr gewinnt ihm die Wiederholung durch den Chor ah; bei ihr nähert sich die Andacht auf einen Augenblick dem Entzücken. Schwächer ist der als Sopransolo mit Chor beginnende Mittelsatz. Das Festhalten an einer nicht viel sagenden Achtelfigur hat hier den Aufschwung verhindert.

Auch dem Agnus Dei legt Brückner eine' techni- sche Stütze Andante. begleitet die drei üblichen unter. X^i^i^wf Fj/nil- Anrufungen des Gottes- tiv : tJ * *^ii^'^ lammes als Basso

Das Motiv : «X ' "q* lammes als Basso ostinato.

Aber darüber und dahinter stellen die Singstimmen Motive von bedeutenderem Gehalte und entwickeln sie frei, dra- matisch beweglich und doch einfach zu ergreifenden Ton-" reden. Es liegt Schuldbewußtsein in der Wiedergabe des »qui tollis peccata mundi<, Zagen in den ersten Soloeinsätzen des Miserere, stürmisches Gnadenverlangen in seiner Fortsetzung durch d^n Chor. Bis zum Schluß der dritten Anrufung bleibt die Situation bänghch, stellen- weise verzweifelt, die Erhörung ungewiß. Da kommt plötz- lich das Eingangsmotiv des Kyrie, aber in F dur und mit ihm eine Musik des Friedens, die nun nicht mehr weicht. Auf neue Erfindung verzichtet Brückner jetzt und führt den Satz mit Reminiszenzen zu Ende, die bekannte Ideen gewissermaßen in Verklärung zeigen. Außer dem' ersten Kyriemotiv sind es noch die Ges durstelle aus dem »Christe eleison« und das Fugenthema vom »cum gloria Dei Pa- tris«. Alles aber auf >dona nobis pacem« gesungen. Gern hätte jedermann auch nochmals das Credothema gehört. Die in der Verbreitung die zweite Stelle einnehmende A. Braokner, Emoll-Messe Brückners ist halb und halb eine a capella- Emoll- Messe. Messe. Sie wird zwar von Oboen, Klarinetten, Fagotten, Hörnern, Trompeten und Posaunen begleitet, aber dieses

267 ♦—

Blasorchester setzt sehr häufig auf lange Strecken aus. Aus Schumaunschen Romanzen kennt man die Intona- tionsverlegenheiten, in welche auch der beste Chor durch eine solche launische Instrumentalbegleitung geraten kann. Das mag 4er eine Grund für die- geringe Verbreitung sein, welche diese Messe Brückners bisher gefunden hat, der andere liegt darin, daß ein achtstimmiger Chor Verlangt und diesem ein zuweilen schwieriger Satz zugemutet wird, und ein dritter darin, daß sie, auch wenn alles gelingt, nicht eigentlich dankbar ist. Sie ist eine Vokalkomposition nach dem Prinzip der Renaissancemusik, dem scharfen Ausdruck der einzelnen Sätze und Begriffe wird die An- lage im großen untergeordnet. Dieses Prinzip hat aber bis heute noch nicht die. Menge für sich gewonnen. An und für sich ist alles in dem Werk verständlich, das meiste außerordentlich schön und eine Bestätigung der hohen Erwartungen, die nach den starken kirchlichen Anklängen in den Symphonien Brückners auf seine litur- gische Begabung gesetzt werden durften. Zum tieferen Eingehen geneigte und befähigte Hörer werden ohne Be- denken diese Emoll-Messe höher stellen, als die in Fmoll. Sie ist in Auffassung, Stimmung, Lebenserfahrung und Kunst reicher, die reifere, wahrscheinlich auch spätere Arbeit und noch knapper gehalten. Am weitesten über- trifft sie jene im Kyrie und Sanctus. Anlaß zur Verwun- derung bietet sie nur durch das Hauptthema des Credo, wie überhaupt dieser Satz auch als Ganzes der am wenig- sten gleichmäßige ist. Bei allen andern ist das Gesamt- ergebnis unbedingte Bewunderung und der Wunsch, ein derartiges Stück wirklich großer Kunst möge bald allge- mein gekannt sein. Fast ganz unbenutzt ist Brückners Dmoll-Messe geblieben.

Von neuesten Messen, die zwar in den deutschen Handel, aber nicht ins Konzert gekommen sind, sei als gediegene, interessante Arbeit die von Fr. Klose, von ausländischen Beiträgen seien die von P er o si,Ravanello und Ed. Smyth genannt.

^ Größere Beachtung als sie. hat »Eine deutsche

--♦ 268 ♦>—

Messe« für Soli, Chor, Orchester und Orgel von Otto Taubmann gefunden. Ihr der Heiligen Schrift entnom- mener, auf acht Nummern verteilter Text knüpft lose an das Kyrie, sowie an den Eingang des Gloria und den des Sanctus an, nimmt aber im übrigen auf den .Gang und den Inhalt des altliturgischen Hochamts keine Rücksicht. Betont wird die Sterblichkeit des Menschen und der Wandel in Gerechtigkeit, es fehlen aber mit dem Glaubens- bekenntnis, mit der Schilderung von Christi Mensch- werdungy Leiden und Sterben, mit der Bitte um Vergebung der Sünden alle die Gedanken und Bilder, die im kirch- lichen Text am meisten ergreifen und erheben. Der Heilige Geist wird nirgends genannt. Es liegt also kaum eine Berechtigung vor, diese Frucht einer durchaus ratio- nalistischen Religiosität als Messe zu bezeichnen. Die Musik hat ihren besonderen Zug m der verschwenderisch reichen Entfaltung schulmäßiger Satzkünste. Reine Soli und einfache Chorstellen verschwinden gegen die FiQle von allerlei Nachahmungen und Fugen, zu deren Aus- führung in der Regel ein Doppelchor und neben ihm noch ein Soloquartett aufgeboten ist. Ein besonderer Knabenchor hat die Aufgabe, in die Fugen Choräle hinein- zusingen. Der tondichterische Gehalt der Komposition steht mit dieser kontrapunktischen Fertigkeit und Ge- schäftigkeit nicht auf gleicher Höhe, er ist zuweilen, wie gleich in dem einleitenden Orchestervorspiel, sogar auf- fallend gering. Jedoch hebt er sich von der Mitte des Werkes ab. Unter den von da an tiefer wirkenden Stellen ist zunächst der Anfang des »Heilig« wegen der Feierlich- keit seines scharfen Akkordwechsels hervorzuheben, nach ihm der Hauptsatz der fünften Nummer (Jauchzet dem Herrn) wegen seines rhythmischen Feuers. In der sechsten Nummer, die zunächst auf den Anfang der Messe zurückgreift, zeichnet sich der schön und mild gestimmte Chor: »Gesegnet sei der Mann« aus. In der siebenten Nummer bildet der Einsatz des auch weiterhin bedeutungs- voll anklingenden Chores: »Christ ist erstanden« einen Höhepunkt.

\

269 ♦-—

. Die römische Kirche teilt die Messen in vier Hanpt- grappen: Missae de tempore (Messen für die gewöhn- lichen Sonn- und Festtage des Kirchenjahrs), missae de sanctis (Marienmessen, Märtyrermessen, Heiligen- messen), missae votivae (Messen, die in ihrem Titel und wohl auch in einer Variante des Textes einem be- stimmten lokalen Ereignisse freudiger oder trauriger Natur einer Fürstenkrönung, einer Überschwemmung usw. Rechnung tragen)*). Die hervorragendste und letzte Gruppe bilden die Totenmessen, die missae pro defunctis. Der Volksmund nennt sie kurzweg Re- quiems, nach den Anfangsworten ihres Introitus »Re- quiem aetemam dona eis domine«. Die Totenmesse hat unter allen Klassen der Messe die bedeutendsten als gültig an^rkanniten Abweichungen vom Texte des allge- meinen Hochamts. Gloria und Credo fallen weg, Graduale und Offertorium erhalten ständigen Text, jenes die Sequenz: »Dies irae«, dieses die Hymne: »Domine Jesu Christe«; dem Kyrie geht stets dieselbe Einleitung voraus: das schon erwähnte »Requiem aeternam<, die Bitte um Frie- den für die Toten, das Gebet um ewige Ruhe, welches den Kern aller Sätze der Totenmesse bildet. Die Dichtung des Dies irae dem Thomas a Celano (4250) zugeschrieben, ist eine der wenigen Sequenzen, welche aus dem ungeheuren Schatze, den das Mittelalter von dieser Gattung besaß, heute von der Kirche noch geduldet werden. Ihre heutige Stellung im Requiem hat sie sich nur allmählich im glei- chen Schritt mit dem Vordringen dramatischen Geistes in der Kirchenmusik erobert. Daß sie von den neueren Kom- ponisten in den Mittelpunkt der Messe gestellt wird, wider- spricht dem Zweck des Requiems. Denn das Ganze ist dichterisch weder auf Trauer- und Klageszenen, noch weniger auf ausgeführte Schilderungen von den Schrecken der Hölle und des Fegefeuers angelegt. Es soll in erster

*) Die bedeutendste neuere Messe des Auslandes, die yon Ob. Gounod zu Ehren der Jungfrau von Orleans geschiteben, in Deutschland bisher nicht aufgeführt, gehört unter diese Gruppe.

/

-^ 870 ^^^

Linie nur die Fürbitte um die ewige Ruhe aussprechen und es soll sich aufregenden Bildern nur zuwenden^-um mit gesteigerter Innigkeit immer wieder zu dieser Fürbitte zurückzukehren .

Auch die ältere Zeit, insbesondere das 4 6. Jahrhundert, ist an Requiemkompositionen reich. Doch nicht in dem Grade, welchen man erwarten sollte, wenn man den Maß- stab nach der Fruchtbarkeit bildet, welche heute auf diesem Zweiggebiete der geistlichen Tonkunst herrscht. Unsere neueren Komponisten erscheinen von keinem anderen christlichen Text so stärk angezogen, wie von dem der Totenmesse. In der älteren Periode ist das Vexhältnis der musikalischen Seelenämter zu der allgemeinen Messe ungefähr wie 4 : 40. Am reichsten ist die französische und niederländische Schule mit Totenmessen vertreten, in zweiter Linie steht die italienische da, weit hinter ihnen zurück die deutsche. Aus den Requiems der Zeit vor Palestrina , welche von den Kennern hervor-* Pierre de la Rue, gehoben werden, führen wir die an von Pierre de la Job. Priori», Rue, Joh. Prioris, Ant. de Fevin, Jac. de Kerle, Ant. de Pevin, C. Moral es und F. Guerrero. Namentlich die Toten- Jao. de Kerle, messe des Morales hält streng einen hochernsten, düsteren Chr. Horales, und schaurigen Grundton fest. Am nächsten steht ihr Fr. Guerrero. darin das Requiem de Kerles, zugleich eins der ersten, das die Sequenz im Chorsatz und für Hörer, denen die Grego- rianischen Grundmelodien vertraut sind, ergreifend gibt Das Urziel der Figuralkomposition , den Choral durch Variation poetisch zu. beleben und zu verherrlichen, tritt aus dem Dies irae dieses Niederländers ungewöhnlich klar hervor. Die Form der älteren Requiems ist schein- bar sehr zerstückelt. In dem größeren Teile lier soge- nannten temporellen Stücke, im Introitus (»Requiem<), in der Communio (»Lux aetema luceat«), namentlich aber in der Sequenz (>Dies irae«) wechseln die Chorsätze mit den Intonationen des Priesters. In der Sequenz geschieht dies zuweilen mit der Regelmäßigkeit der Antiphonie: zwei Zeilen singt der Liturg im Gregorianischen Choralton, zwei Zeilen der Chor im figurierten Stil. Im allgemeinen

ist die musikalische Anlage der älteren Totenmessen, im Einklang mit deiti liturgischen Zeremoniell, außerordent- lich verschieden und wechselt nicht Mos örtlich, sondern auch nach dem Stand der Abgeschiednen, denen die Trauermessen galten^ So lässt Palestrina in seiner Q. F. da Pale- Totenmesse vom Jahre 4 594 die nach heutiger Auffassung strina, für das Requiem entscheidenden Stücke einfach weg. Reqaiem Sie bleiben dem Liturgen und dem Gregorianischen (von 1591). Choral allein. Nur beim Offer torium und beim Schluß des Agnus dei erinnert der Chorsatz im Text an eine Totenfeier. Auch Orlando di Lassos herrliches, 0. di Lasso, wundervoll melodisches Requiem vom Jahre 4 589 hat Requiem keine Sejquenz. Erst in der zweiten Hälfte des 47. Jahr- (von 1589}. hunderts wird die musikalische Form der Totenmessen breiter und in den einzelnen Gliedern wuchtiger. Der Liturg scheidet aus.^ Den Obergang zeigt eigentümlich das Requiem des G. A. "Pitoni vom Jahre 4 688. In ihm Qt. A. Pitoni. sind die frühern liturgischen Intonationen in die Form dreistimmiger Sätze übertragen: reihum Knabenterzett und Terzett von Männerstimmen. Was -früher Chor- satz war, ist dem vierstimmigen Chor gebUeben und hat den Stil, den hierfür die früheren Meister festgestellt hatten. Die Terzette hingegen zeigen die Beweglichkeit in Rhythmus und Ausdruck, welche eben erst infolge von Monodie und Musikdrama sich entwickelte. Pitoni folgte den neueren Bestrebungen in der Vokalmusik bekanntlich eifrig und mittätig. Unter anderem hatte er die Skizze , zu einer zwölfehörigen Messe entworfen. Unter den Totenmessen, welche sich enger als das Pitonische Requiem den^ sogenannten Palestrinastil anschließen, sind als hervorragende die von Or. Vecchi, Giov. Fr. Anerio, G. Cavaccio und L. Vittoria bekannt. Der allererste Platz in dieser Gruppe gebührt vielleicht dem achtstimmigen Requiem von Fr. Cavalli, dem eigen t- Fr. Cavalli. liehen Schöpfeir der venetianischen Oper. Dieser große Meister schrieb dieses zweichörige Werk für sein eignes Begräbnis {jr 4676) und bestimmte testamentarisch und durch Legate regelmäßige Aufführungen desselben zu

seinem Gedächtnis. Es ist die ^feierlichste Totenmesse, welche existiert, und wenn jemals von einem alten nur handschriftlich vorhandenen Tonwerke die Drucklegung wünschenswert gewesen ist, so von diesem. Ein Teil seiner erhabenen Größe beruht auf der Beibehaltung der gregorianischen Motive und der liturgischen Intona- tionen. Doch hat Cavalli letztere dem neueren Chorsatz stilgemäß angeschlossen, meist in Form eines zwei- stimmigen Satzes für die Bässe beider Chöre. Die Sequenz ist textlich vollständig aufgenommen und zum erstenmal in dem aufgeregten Stile behandelt, der bis auf die Gegenwart für die Komposition dieses Satzes typisch geblieben ist.

Requiems mit Instrumentalbegleitung begegnen wir zuerst um die Mitte des 47. Jahrhunderts. Unter die frühesten unter den bekannteren gehören die von G. P. Gl P. Colonna, Colonna und G. B. Bassani. In beiden ist aber die G. 6. Bassani. Erfindung noch wesentlich rein vokal und auch die Satz- formen gehören mehr der älteren Periode an. Wie eine große Überschrift fürs ganze bringt Bassani yor dem Introitus das erste Wort »Requiem< in den breiten Rhyth- A. Lotti. men der alten Ritualformel. Auch Ä. Lotti setzt mit dem Unisono der drei tiefen Stimmen seine Totenmesse noch so ein und führt auch den Satz in der alten Art über kleine Abschnitte fort: die Bässe vorwiegend starr auf langen Tönen liegend, die übrigen Stimmen ^it Bevorzugung choralartiger Wendungen. Das Dies irae beginnt mit einem breiten mysteriösen Instrumentalsatze, in welchem Trompetenklang, verminderte Septakkorde, Generalpausen und feierliche Fugatos eineniJIauptbestand- teil bilden.' Das Tempo ist Adagio. Das Requiem des F. Bnrant«. Fr. Durante lässt sich schon bei weitem modemer an. Ein träumerischer Zug kommt besonders im Introitus zum Ausdruck. Rochlitz hat diesen Teil des Werkes und das Graduale, welches in einer bedeutend verlängerten Form erscheint, in seine Sammlung aufgenommen.

Die älteste unter den begleiteten Totenmessen, welche noch bis jüngst zuweilen zu hören war, ist die von Nie.

273

Jomelli. Sie ist wiederholt gedruckt worden; den K. JotnalH. jüngsten Klavieranszug des Werkes veröffentlichte Julius Stern im Jahre 4866. Diese aus der letzten, unglücklichen Periode des Tonsetzers stammende Komposition ist eine der bedeutendsten Schöpfungen Jomellis. Mit großer Einfachheit vereint sie reiche Eigenart der Auffassung. Wie schön ist der kurze Introitus, in welchem die wiegen- den Figuren der Instrumentalbässe, sich mit den Violinen die Hand reichend, den Tod in dem freundlichen Bild des Schlummers zeigen. Die Mängel des Werkes beruhen auf einem Familienfehler der neapolitanischen Schule: Vorherrschen einer weichhchen Empfindung. Damit kam es aber den Neigungen des 18. Jahrhunderts entgegen. Auch durch die Verwendung von Solostimmen übte es seinen Reiz. Doch sind diese nur selten äußerlich virtuos behandelt. Im Durchschnitt ist ihre Führung würdig. In ihnen und in den Chorpartien liegt ein Reichtum natür- licher Gesangwirkung, wie er in neueren Werken nur selten vorkommt. Die von Müller in Stuttgart vorge- nommene Zusetzung von Blasinstrumenten hat den Cha- rakter des Werkes geschädigt. Ein a capella-Requiem (in Es) von Jomelli gehört ebenfalls zu den hervorragenden Kompositionen des Textes.

An Verbreitung hinter dem Jom ellischen Requiem weit zurückstehend, sind auch die Totenmessen A. Hasses A. Eagsa. der Beachtung wert. Sein erstes Requiem (in Es) hat noph alte liturgische Intonationen sowohl in einfacher, wie in eingeairbeiteter Form. Unter seinen großen Stellen ist der Eingang des Dies irae wegen der malerischen Kraft des Orchesters besonders bemerkenswert. Stechend klingt ans den Violinen der Schrecken. In dem zweiten (in C) ist der Introitus tief eindringlich. Ihm liegt die Idee eines glänzenden Trauermarsches zu Grunde, aus dem man oft glockenartige Motive heraushört. Beide Totenmessen sind reich an dankbaren Solonummern.

Goethe hörte 4 788 im San Peter zu Rom ein Requiem für zwei Solosoprane mit Orgel. Das zeigt, wie weit auoh die Totenmesse sich dem Formengeschmack der

II, 4. 48

274 ♦—

Zeit anpaßte. Trotzdem blieb sie im allgemeinen vor dem Verfall, welcher von der zweiten Hälfte des i 8. Jahr- hunderts ab auf mehrere Jahrzehnte hinaus die Kompo- sition der anderen Gruppen der Messe ergriff, bewahrt. Der Grundgedanke des Requiems lag menschlich zu nahe und erfüllte auch die geringeren Geister unter den Tonsetzern mit demjenigen Ernste, welchen leider auch die Besten jener Zeit sonst vermissen lassen. Nur die Se- quenz, das Dies irae mit seinem Bilderreichtum, verführte häufiger zu Spielereien, von denen etliche geradezu zu stehenden Typen wurden. Daß bei den Worten »Tuba mirum spargens sonum« die Posaune im Singular oder Plural einsetzt, erscheint allmählich selbstverständlich. Es kommen auch viel außerordentlichere Einfälle vor:

G.v.Pasterwitz. G. v. Pasterwitz z. B., dessen würdiges aber doch nur mittelmäßiges Requiem Rochlitz in seine Mustersamm- lung aufgenommen hat, läßt an der Stelle >Quantus tremor est futurus« den ganzen Singechor in einem grotesken Tremolo starren und beben.

Jenen Unterschied im Gehalt zwischen Requiem Und

W. A. Mosart. den einfachen Messen auch bei W. A. Mozart nach- weisen zu wollen, wäre ein ziemlich triviales Unternehmen. Zwischen Mozarts letzter Messe und seinem Requiem liegt ein ganzes Leben; der seelische und künstlerische Reichtum, wie ihn nur das Genie im Laufe zweier Jahr- zehnte erwirbt, macht jeden näheren Vergleich zwischen dem Requiem Mozarts und seinen anderen Messen un- möglich. Außerdem wissen wir, daß Mozart die Gedanken an den eignen Tod in die Feder drangen, als er das Requiem schrieb. Es kamen viele Umstände zusammen, um dieses Werk aus seiner Zeit herauszuheben und ihm eine außerordentliche Lebenskraft einzuflößen. Auch der romantische Reiz wirkte mit. Das Requiem Mozarts wird im Anfang des <9. Jahrhunderts selten erwähnt, ohne daß zugleich des geheimnisvollen Boten gedacht würde, welcher das Werk bestellte: der langen schwarzen Lakaien- figur, welche wie ein Gespenst das Fortschreiten der Partitur umspähte. Auch die unsinnigen Vergiftungs-

geschichten, die angeblichen Intriguen Salieris und der Italiener, werden bei dieser Gelegenheit mit aufgetischt. Als man später erfuhr, daß Graf Walsegg der geheime Besteller gewesen, daß dieser Mann, der an dem Wahne litt, als Komponist glänzen zu wollen, dieses Werk für sein eignes ausgegeben, erhielt jenes romantische Interesse nur neue Nahrung. Endlich erreichte es bei vielen Ver- ehrern des Meisters einen geradezu leidenschaftlichen Grad durch den Streit, welcher sich um die Echtheit des Werkes erhob. Dieser Streit darf seit dem Jahre 4 829 als erledigt gelten. Die neuen Untersuchungen von Brahms und Schnerich*) haben nur bestätigt, was damals A. Andr6 in Offenbach feststellte. Die Partitur des Requiems, welche dieser Vater der Mozartforschung herausgab, zeigt das Werk genau in dem Zustand, in welchem es Mozart bei seinem Tode hinterlassen. Danach war kein einziger Satz der Totenmesse wirklich vollendet, als des Meisters Hand er- kaltete. Aber der größere Teil w^r doch so weit fertig, daß ein geschickter Musiker das Fehlende wohl im Sinne Mozarts ergänzen konnte. Von den i 2 Nummern, in welche ' Mozart das Requiem eigentümlicher Weise zerlegte, waren : Introitus und Offertorium in den Singstimmen und im , Harmoniebaß vollständig ausgearbeitet, für die Instrumen- i tierung dieser Sätze die wesentlichen Motive und Gesichts- punkte gegeben. Desgleichen auch in der Sequenz; doch hören in dieser mit dem neunten Takte des >Lacrimosa< Mozarts Aufzeichnungen plötzlich auf. Vollständig fehlen das Sanctus, Benedictus und Agnus dei. Mit der Ergän- i zung wurde von Mozarts Witwe der Wiener Kapellmeister 1 F. X. Süßmayer beauftragt. Dieser Musiker genoß in i der Fachwelt ein ehrenvolles Ansehen : Sein »Solimanll.« und sein »Spiegel von Arkadien« waren als lieblingsopern jahrzehntelang über alle deutschen Bühnen verbreitet und gehören in dem großen Kreis von Werken, die als

*) Brahms in der Gesamtaasgabe der Werke Mozarts von Breitkopf&Härtel, Schnerich in der faksimilierten Partiturausgabe.

18*

^ 276 ♦—

Absenker der »Zauberflöte« entstanden, zu den selbstän- digsten und talentvolls^ten. Überdies konnte Süßmayer als ein Schüler Mozarts angesehen werden. Mit den Ab- sichten, die Mozart in bezug auf das Requiem gehabt, war er speziell vertraut und was nicht zuletzt in Betracht kam: seine Handschrift glich der Mozartschen so genau, daß Walsegg und noch andere sie dafür hielten. Es ist Tatsache, daß die Sätze, welche Süßmayer ganz und gar selbst komponiert hatte, für echte Mozartsche Leistungen befunden wurden. Das Benedictus wurde sogar noch im Jahre 4802 als eine Perle des ganzen »Requiem« be- sonders ausgezeichnet*). Wir verwundem uns darüber; ja es treten noch heutzutage Kritiker hervor und tun sich etwas darauf zugute, daß sie die fest verbürgte Mit- arbeit Süßmayers bezweifeln. Das ist wohl begreiflich und wird solange kaum zu ändern sein, als wir die Wiener Schule nur durch Haydn, Mozart und Beethoven kennen. Wer mit dep Charakter ihrer Nebenmänner, mit ihrem Reichtum an wirklichen Talenten vertraut, in den Werken der Eberl, Wölfl ein wenig zu Hause ist, wird über die Leistung Süßmayers nicht weiter erstaunt sein. Daß Mozart bestrebt war, in seiner Totenmesse den kirchlichen Charakter streng und deutlich auszuprägen, zeigt namentlich der Introitus des Werkes. Das in seinem maßvollen Ausdruck der Freude so eigentümliche Thema, mit welchem der Solosopran hier das »Te decet hymnus« einsetzt, ist die Melodie des alten Chorals »Meine Seel' er- hebt den Herrn«. Michael Haydn hat sie an derselben Stelle seines B dur- »Requiems« gebracht. Sie war als Grablied be- kannt, noch neuerdings hat Adagio.^^ _

sie F.Kiel in seinem zweiten ^Vmf f BBfTBBT BPri Requiem als cantus firmus "^ r r - r r r ¥=f=^

wieder aufgegriffen. Aus einer ahn- t|i, -- .^^ J i /Tj liehen Quelle stammt auch das Thema : -^►"fyi'fTT" über welches die Singstimmen die Worte »Requiem aeter- nam« in Nachahmungen durchführen. Mit einer geringen

*) AUg. Musikal. Zeitung.

f

Wendung des zuerst in den Ap J flJJjjCTlT^^

--♦ 277 *—

Abweichung findet es sich am Eingang von Händeis Be- gräbnisanthem, das Mozart wahrscheinlich gekannt hat. Auch die refrainartige Ver- q ^''*,^'*'i Wendung des zuerst in den 4^V JJ Fagotten auftretenden Motivs "^ feirner die kolorierte Aiicgro. endlich die

Führung der Nebenthe- tu f'Bf TIbJ iU ^^^^ ^^^* men, die Wahl des Haupt- -^^ ' KP IH'^f dehnung die- themas der Kyriefuge: *^y"-* *• ^^-"^^ ses letztge- nannten Stückes selbst dürfen wir auf das Streben Mozarts zurückführen, seiner Totenfeier einen objektiven Charakter zu geben und das Weh der Trauer durch die von alters her erprobte und geheiligte Sprache der Kirche zu lindern. Es finden sich nur wenige Stellen, an welchen sich die subjektive Empfindung einzumischen versucht: Die ersten Einsätze von »et lux perpetua« und vom »exaudi« sind es. Aber sie gelangen mit ihrem dramatischen Ton nicht einmal bis ans Ende. Das Eigentümliche dieses- ganzen ersten Satzes ist es: daß er in seinem thematischen Material so einfach, fast auf Gemeinplätze gestellt ist und doch so tief wirkt. Als ungeschriebener cantus firmus klingt der tiefe Ernst der Stimmung durch. Die Instru- mentation trägt auch mit dazu bei, uns die Farben der Trauer fest vor dem^Auge zuhalten; den Bassetthörnern und Fagotten ist ihre Rolle mit genialer Berechnung zugewiesen; ebenso den Posaunen am Schluß der Ein- leitung. Doch hat diese Süßmayer wohl kaum in Mozarts Sinne weitergeführt

Die Sequenz, das Dies irae ist in sechs gesonderten Nummern behandelt Diese Sonderung gilt aber nur für Übungen und Proben. In der Aufführung begeht der Dirigent, welcher an den Schlußstellen länger, als die ausgezählten Pausen erlauben, hält, eine wahre Sünde gegen Mozsurt

Der erste dieser sechs Abschnitte umfaßt den ersten Vers der Sequenz vom Anfang >Dies irae< bis zu den Wor- ten »cuncta stricte discussurus« und gibt ihn in der Form eines Chorsatzes. Der Chor singt den Text dreimal in

278

»■— .-

erschrecktem Ton, auf harten Motiven, in einschneidenden Perioden und schroffem Wechsel der Tonarten. Zu diesen reichlichen 2^eichen des schweren Herzens und der Aufregung kommt noch die Unruhe des Orchesters. Poch ist das Bild der Ankunft des jüngsten Gerichtes trotz dieser naturalistischen Elemente künstlerisch gefaßt und abgeklärt. An den Schlüssen zieht Mozart die Zügel an und mischt in die Töne des Schreckens die milderen der frommen Ergebung. Die Hauptstelle des Satzes kommt, als der Text zum drittenmal in Angriff genommen wird. Da malen die Singbässe am besten die Tenöre mit den tremor mit einer Trillerfigur, die ihre grausige Wirkung bei richtiger, entschiedner Ausführung nicht verfehlt. Sie stammt vielleicht aus der kürzlich durch 0. Schmid bekannt gewordenen >Missa della Morte< A. Tumas, mit dem sich Mozart noch mehrmals be- rührt. Der Chor der übrigen Stimmen klagt zweimal kleinlaut piano ist gemeint das »dies irae, dies illa«, beim drittenmal stimmt er in die Figur des Entsetzens mit ein. Von da ab wird der Charakter des Satzes ruhiger und ergebungsvoller. Seine eilige Entstehung verrät er in dem Mangel an Vortragszeichen. Mit ihnen hat der Dirigent nachzuhelfen, der Geist der Komposition verlangt an mehreren Stellen Farbenkontraste.

Die Textes Worte des »Tuba mirum« tragen die Solo- stimmen, eine nach der anderen, vor. Der Baß betont die Hoheit und das Wunderbare des Gerichtes, das die Toten auferweckt und sammelt. Ihn begleitet und unter- stützt die Posaune zum Teil in Figuren, die der Natur des Instruments ferner liegen. Auch Tuma hat an diesen Stellen die Posaune. Der Tenor singt erst staunend, dann bei dem Gedanken an das Schuldbuch »über scriptus« gedrückt und bangend, der Alt in tiefer Erregung, mit großem, leidenschaftlichem Ausdruck. Der Sopran bringt in den Satz zum erstenmal einen herzigen, kindlichen Ton des Gottvertrauens, der auch über alle Augenblicke der Beklommenheit hinweg bis zum Ende bleibt. Die - letzten Worte wiederholt das ganze Quartett. Die

^ 279 ^^-

nächste, dritte Nummer der Sequenz, das >Rex tremendae majestatisc, hat wieder der Chor. Unter den kleinen ab- geschlossenen Sätzen, durch welche das Requiem Mozarts an die frühesten Formen der Totenmesse erinnert, ist dks >Rex tremendae loajestatisc einer der knappsten. Aber, welchen Reichtum birgt es! Das Orchester beginnt mit Figuren und Motiven, die knapp, aber anschaulich die Majestät des Herrn malen und durch den ganzen Satz immer wiederkehren. Wie von diesem Bild in Furcht gebannt, schreit der Chor dreimal das Wort >Rex« allein auf . schlechten Taktteil hin. Dann übernimmt der Alt die Führung in ^iner Ehrfurcht und Inbrunst aus-' sprechenden Melodie, die ihm der Sopran eine Quint höher sogleich nachsingt. Diesem Kanon der beiden oberen Stimmen folgen Tenor und Baß mit einem zweiten über kurze anrufende Motive. Dieser Ab- schnitt des Döppelkanons wiederholt sich sofort mit ver- tauschten Rollen. Und nun erst kommt die Bitte: »salva me«, bescheiden, aber nach der schönen Vorberei- tung außerordentlich eindringlich und gerade in dieser Kürze außerordentlich vielsagend. Das »Recordare*, die vierte Nummer der Sequenz, wieder von den Solo- stimmen gesungen, ist einer der gehaltreichsten Sätze des Werkes. Er hat Rondoform und als Hauptthe- ma die from- Allegretto. ___ea^^^

volle Melodie: die von den Stimmen, einer nach der andern, erst auf die Worte »Recordare, Jesu pie< dann bei »Juste judex c und zum drittenmal bei »Preces meae« gebracht wird. Unter den Zwischensätzen, die sämtlich erregter Natur sin4, tritt der auf die Stelle »Ingemisco tanquam reusc durch seine große malerische Kraft besonders hervor. Und doch ist er mit der erdenklichsten Einfachheit ent- worfen und ausgeführt. Ganz besonders schön ist hier und an ähnhchen Stellen die Rückkehr von der Erregung in die Ruhe. Mit dem Introitus hat dieses »Recordare« den kirchlichen Charakter der Hauptmelodie gemein. Der

% 280 ^

jetzt folgende Chor über »Confutatis« malt in der ersten Hälfte mit erschreckten, aufgeregten Figaren des Streich- orchesters den Zustand der Verdammten; die Männer- stimmen veranschaulichen das Angstgeschrei der den Höllenflammen preisgegebenen Seelen.^ In Sätzchen von größter Einfachheit treten dieser Gruppe die ruhigen, in Dur gehaltenen Bittgesänge der Frauenstimmen unendlich rührend gegenüber. Der Satz kontrastiert in seinem Anfang zunächst scharf gegen das »Recordare«, dann aber auch in sich nochmals durch den ganz verschiedenen Inhalt der beiden Stimmgruppen und wirkt deshalb außer- ordentlich tief. Dieser Gegensatz des. furchtbaren Bildes der Verdammnis und des Zuges der Bittenden wird ein zweites Mal aufgestellt. Dann vereint die zweite Hälfte der nur kurzen Nummer unendlich rührend den ge- samten Chor im frommen, aus zitternder Seele kommen- den Ausdruck des Gnadenbedürfnisses. Dieser Schluß- teil gehört zu den genialstein Stellen (des Requiem. Das »Lacrimosa«, die dem Chore gegebene Schluß- nummer des >Dies irae«, hat Mozart zu einem der ergreifendsten Sätze angelegt. In seinen ersten Takten waltet eine Tonsprache von mäch- ^ Urghetto. tigster Anschaulichkeit: Schluchzend fL^ Sf ^T C f'^fi klingt die Sexte des ersten Motivs: •^ La'r'c^moia in die höchste Spannung versetzt uns der Aufmarsch der Stimmen in zagenden, abgebrochenen, leise gehauchten Achteln bei den Worten >qua resurget usw.«. Mit er- schütternder Gewalt endigt er im Aufschrei/auf den hohen Tönen, wo der Schuld der Menschheit gedacht wird: »homo reus«. Hier bricht Mozart ab. Süßmayer ist es gelungen, diese hochgespannte Stimmung festzuhalten. Besonders schön wirkt der zweite Einsatz des »Dona eis requiem«, das ist Palestrinascher Geist in moderner Form. Mit ihm klingt die Sequenz versöhnt und christlich aus. In Mozarts Autograph sind leere Blätter, aus denen man schließen kann, daß er dem Satze eine mäßige Länge (24 bis 30 Takte) bestimmt hatte. Diese hat der Bearbeiter eingehalten.

ts\

Das OlTertorium »Domino Jesu Christe< besteht in seinem ersten Teile aus einer Reihe kleiner Bilder, in denen dip dunkeln Farben des Entsetzens und Grauens dramatisch kurz aufgetragen sind. Besonders treten die Worte »de poenis inferni« und »de ore leonis« hervor, vor allem aber die Stelle: »ne absorbeat eas tartarus«. Über das Thema:

Andante. fugierend, Yon ei-

i.l>''llPPlJ\K^iPPlJ;iJ^PPJ^PpJ^|;,p nem wüden Uni- *T r ^. .- - r r ■T r'-^0^Y sQno der Streich-

instrumente umspielt, zeichnen hier die Singstimmen ein Bild der Seelenverwirrung. Am Schluß steht äußerster Schrecken bei dem viermal 'hingestoßenen >ne cadant« und völlige Gebrochenheit bei dem leisen, tiefen, langsamen »in obscurum« unmittelbar nebeneinander. Der zweite, knappe Teil (Soloquartett) »Sed signifer sanctus Michael« bildet dazu einen freundlichen Gegen- satz. Die Schlußfuge »Quam olim Abrahae«, der dritte Teil des Offertoriums, hat das kirchlich viel gebrauchte Thema: Andnnte. ^ ^^ * - - Mit besonde-

*>'l'' * P P P Pllnr I * I P' n * P P Ppll^nsw. rer Liebe sind ^ in ihr die Wor-

te »et semini ejus« bedacht. Mit ihnen lenkt Mozart nach prächtigen Modulationen und Steigerungen in die friedvolle Stimmung, die er für die Schlüsse der erregteren Sätze sei- nes Requiems so herrlich zu suchen und zu finden weiß. Die Fuge, bei der die Mitwirkung der Orgel unentbehrlich, ist nur kurz, und die leeren Blätter im Autograph scheinen anzudeuten, daß ihr Mozart noch einen Teil zufügen oder hier noch eine neue Einlage geben wollte. Süß- mayer hat, diese Lücke übergehend, unmittelbar das »Hostias« folgen lassen, den letzten Satz des Werkes, welcher von Mozart selbst herrührt. Er trägt die eigen- tümlichen Züge des kurzen, inhaltschweren Aufbaues, welcher einen großen Teil der kirchlichen Kompositionen Mozarts auszeichi^et. Das Orchester deutet mit seinem Rhythmus den feierlichen Prozessionscharakter des Gra- duale an. Der Chor steht weich und ergriffen vor der heiligen Zeremonie. Als er den Text zum zweitenmal

--^ 28^ ♦—

beginnt, klingen Schauer der Ehrfurcht aus seinen an das »Ave verum« erinnernden Tönen. Den Abschluß bildet eine Repetition der Offertoriumsfuge: >Quam olim Abrahae«.

Die von Süßmayer komponierten Nummern Sanctus, Osanna, Benedictus^ Agnus (bis zum >lux aeterna«) reprä- sentieren einen durchaus würdigen Typus der katholi- schen Kirchenmusik der Mozartschen Zeit. Im Osanna wird dies manchem die Verwandtschaft mit dem ent- sprechenden Satz der Beethovenschen Missa solemnis klar machen. Zum Teil stehen sie aber noch höher, ganz besonders das Agnus Dei, welches den Gegensatz zwischen der Angst und Not des Menschenherzens und dem Frieden bei Gott in echt Mozartscher Einfachheit, in packenden Steigerungen und ergreifend schön aus- prägt Die Töne zu »dona eis requiem« sind von einer Eingebung, die es dem mit der Zeit Süßmayers weniger Vertrauten unglaublich macht, daß sie von einem andern als Mozart selbst herrühren können. Es ist auch mögUch, daß für diesen Satz Mozartsche Skizzen vorlagen. Die Idee im Agnus Dei von den Worten »Lux aeterna luceat« an, die Musik des Introitus und des Kyrie zu benutzen ist nach dei* Erklärung seiner Wittwe, Mozarts Eigentum. Sie gibt dem Requiem eine Abrundung, deren schpne Wirkung durch keinen der im Laufe der Zeit angestellten sonstigen Schlußversuche erreicht wird.

Die Auszeichnung, mit der, wie schon erwähnt, am Anfang des 19. Jahrhunderts trotz einigen schwächeren Stellen, das »Benedictus« (Soloquartett) aufgenommen wurde, erklärt sich aus der freudig dankbaren Advents- stimmung, die dem Satze zu Grunde liegt, der Mannigfaltig- keit, der dramatischen Lebendigkeit, in der sie entwickelt ist, und der meisterhaften Behandlung der Singstimmen. Mit Glück sind ihnen echt Mozartsche Wendungen eingefügt.

Das Mozartsche Requiem errang in seiner Gattung eine ähnlich beherrschende Stellung, wie die Öeethoven- schen' Symphonien auf dem Gebiete der großen Instrumen- talkomposition. Es verbreitete sich schnell durch ganz Deutschland und drang über dessen Grenzen weiter nach

—^ ^83 ->~

allen Himmelsrichtungen: hinunter nach Turin, Florenz, Neapel, , Lissabon, hinauf nach Warschau, Petersburg, Lemberg, Stockholm. In Wien .\^-ar es zur Beisetzung J. Haydns aufgeführt worden, in Paris überging man im Jahre 4 840 bei der Leichenfeier Napoleons ihm zu Liebe die einheimischen Komponisten. Es überschritt den Ozean und wurde selbst in Rio de Janeiro aufgeführt. In dieser Glanzzeit des Mozartschen Requiems die drei Jahrzehnte von 4798 bis 4828 bilden dieselbe war jede Totenmesse eines neuen Tonsetzers den stillen oder offenen Vergleichen mit dem Schwanengesang des Salz- burgischen Meisters ausgesetzt. Kritik und Publikum gingen kühl an manchem Werke vorüber, welches zu anderen Zeiten um seiner Selbständigkeit willen laute Anerkennung gefunden haben würde. Wir denken dabei in erster Linie des unvollendeten Requiem von Mi- Michael Haydn. chael Haydn (in Bdur), welches mit dem von Mozart' Ett, Pasch, auch in seiner Geschichte Berührungspunkte zeigt. Auch Nenkomm, Haydn rief der Tod ab, ehe er dies Werk vollendet. Das Tomaaohek, frühere Requiem desselben Komponisten (Cmoll) schließt Abt Vogler, sich mehr an die ältere Form an und wirkt mit dem Ö. Weber, Choralgesang ergreifend. Das »Dies irae« darin ist ruhig WUtasek, feierlich. Wir denken ferner der Totenmessen von Ett, Boohsa, Fasch, Neukomm*), Tomaschek, Abt Vogler, Drechsler, G. Weber, Wittasek. In zweiter Linie sind auch die Drohisch, Requiemkompositionen von Bochsa, Drechsler, Eisner, Eybler, Drobisch, Eisner, Eybler, Gänsbacher, Häser, Gänsbacher, Hellwig, Henkel (deutsche Seelenmessen), Hütten- muer, Hellwig, brenner, S. Mayr, Moralt, Morlacchi, Salieri, Henkel, Sechter, Stadler, Zelter, Zingarelli zu erwähnen. Hüttenbirenner, Die Fruchtbarkeit der Periode wird durch diese große S. Mayr, Anzahl Namen, welche nur eine Auslese bedeutet, be- Moralt, wiesen. Sie tritt in ihr volles Licht, wenn man die Morlacchi, Tatsache berücksichtigt, daß viele hier /garnicht ge- Salieri, Seohter, nannte Tonsetzer ihre Totenmessen gleich serienweise ver- Stadler, Zelter, öffentlich ten : in Sammlungen von sechs und acht Stücken. Zingarelli.

*^ Zum Gedächtnis dejr Brüden J, und M. Haydn.

284

L. GhernMni,

Cmoll-

Keq^uiem.

Eiu Franz Schneider ist mit fünfzehn Requiems vertreten. Auch Ferdinand Kauer^ der Komponist des »Donauweib' chens«, warf drei Requiems auf einmal hinaus. Den Bann einer relativen Gleichgültigkeit, welchem diese Kompositionen ohne Ansehen ihres verschiedenen Wertes unterlagen, durchbrach nur Einer: L. Cherubini, und zwar mit seinen beiden Requiems dem in Gmoll für ge- mischten Chor sowohl, wie mit dem für Männerchor ge- schriebenen D moll-Requiem.

Auch Cherubinis C moll-Requiem wurde zunächst mit einem gewissen Mißtrauen aufgenolhmen und verbreitete sich keineswegs mit der gebührenden Schnelligkeit. Es ^ar im Jahre 4816 auf Befehl des fCönigs Ludwig XVIII. zu einer kirchlichen Erinnerungsfeier für den unglück- lichen Ludwig XVL komponiert, aber erst, als es 4 84 8 zur Totenfeier M6huis wieder aufgeführt wurde, weiter be- merkt worden. Und doch war es die bedeutendste Toten- messe, die in Frankreich nach der von Gossec entstanden war, seit Jahrhunderten wieder die erste Kirchenkom- position, die die französische Landesgrenze überschritt. Bei uns in Deutschland wurde die Aufmerksamkeit auf das Werk durch ein ausgeführtes Urteil des damaligen obersten musikalischen Reichsgerichts, der »Allgemeinen Musikalischen Zeitung« im Jahre 4 820 gelenkt. Auch sie eijtschied für Mozart, gegen Cherubini. Der breite Artikel, welcher den philiströsen und gespreizten Geist der Fink- schen Redaktionsperiode atmet, behandelt Cherubini, der schon als fünfzehnjähriger Knabe auf drei vollständige Messen verweisen konnte, als Neuling auf kirchlichem Gebiete und wirft dem Komponisten der Medea, wirft dem Tonsetzer, der die Figur des Micheli geschaffen, Mangel an Gemüt vor. Mit dem Vorwurf des mangelnden Gemüts war man damals schnell bei der Hand, wenn es sich um französische Werke handelte. Auch M^huls Symphonien waren damit zu Tode geschrieben worden, und das musikalische Deutschland schien in Gefahr, das Sentimentale nur in sehr handgreiflichem und dickem Auftrag zu verstehen. Tatsächlich ist das C moll-Requiem

285

von Cherubini sehr reich an Gemüt und Empfindung. Aber ein großer Teil dieser Regungen ist mit der Zart- heit, Freiheit und Zurückhaltung geäußert, die Cherubini eigen sind, und ist mit einer außerordentlichen Knappheit des Ausdrucks hingestellt. Kürze, Schlichtheit, Bestimmt- heit und Klarheit kennzeichnen ja den Stil Cherubinis überhaupt. Er verdankt diese Eigenschaften seiner italie- nischen Herkunft ebenso sehr wie der Schule Haydns, und daß er mit ihnen nicht bloß große Gedanken, son- dern auch so innig träumerische auszusprechen weiß, wie in dieser Art kein anderer vor ihm es getan hat. das gibt ihm seine besondere und bleibende Bedeutung zwischen den Klassikern und den Romantikem. Auch dieses CmoU-Requiem schaut voraus und schaut zurück; es hat aber außer den bekannten Cherubinischen Familien- zügen noch ganz individuelle. Einmal betreffen sie die Form des* Werkes. Diese zeichnet sich durch eine Knapp- heit aus, die namentlich im Dies irae jedermann bemerk- lich werden muß. Sie ist zum Teil ein Zugeständnis an die Traditionen der französischen Hofkirche, noch weit mehr aber eine Frucht des vollendeten künstlerischen Taktes, der Cherubini angeboren war. Die Sätze des Werkes sind im höchsten Sinne schön zu nennen, schön durch die Zweckmäßigkeit, die den Aufbau ihrer Formen dem Inhalt und dem Geist des Textes anpaßt und unter- ordnet, die die Worte im ganzen und im einzelnen überall ins rechte Licht setzt, die nirgends , Haupt- und Neben- gedanken verwechselt und verschiebt.

Zum anderen ist aber das Cherubinische Cmoll- Requiem auch durch die Auffassung, die hindurch geht, ganz eigentümlich. In keinem anderen bekannten Re- quiem wird eine resignierte Stimmung so festgehalten und herrscht so vor wie in diesem. Es ist, als ob der Komponist allen den Mitteln, mit welchen der trauernde Mensch sein Herz zu erleichtern pflegt, sein volles Ver- trauen nicht zu schenken vermöge. Die Klage löst seinen Schmerz nicht ganz, der Hinblick auf die seligen Bilder vom himmlischen Leben kann ihn nicht von dem Druck

286

des einen Gedankens befreien: von dem Gedanken an das unabänderliche Schicksal, welches der Menschheit das Sterben als Ziel gesetzt hat. Dieser Gedanke wirft seinen finstern Schatten über alle Teile des meisterlichen Werkes und sichert ihm einen Totaleindruck, mit dessen Stärke und Bestimmtheit sich nur weüige Totenmessen^ unbeschadet ihrer sonstigen Vorzüge, messen können. Für das eingehende Studium ist es eine interessante Auf- gabe zu verfolgen, mit welchem überlegenen Kunstverstand Cherubini in dem Plan der Komposition die Grundidee der Resignation durchgeführt hat. Bald äußert sie sich durch die Zeichnung, bald durch die Farbe, bald liegt sie offen da, bald ist sie nur versteckt herauszufühlen. Besonders stark ist der Ton einer Trauer, die männ- lich an sich hält, aber auf einen eigentlichen Trost ver- zichtet, im ersten Satze dieses Requiems ausgedrückt, der hergebrachterweise den Introitus der Messe mit ihrem Kyrie verbindet. Die Instrumentation ist darauf gerichtet : Wie im Graduale und im Pie Jesu spielen die Violen die erste Stimme, die Violinen schweigen, die Fagotte treten in dumpfen Lagen stark hervor, neben ihnen kommen von Blasinstrumenten nur noch Hörner in langen Tönen der unteren Oktaven zur Verwendung. Auch die Soprane geben vorwiegend Grabes- und Trauerklang, sie liegen deli Damen, die in unseren heutigen Chorvereinen diese Stimme

zu besetzen pflegen, höchst Larghelto soslenulo.

unbequem tief. Cherubini hat i A i an Knabenstimmen gedacht. ^^ "^ ^ "*' Das Hauptthema des Satzes:

M

•9^

Re.quijem ae . ter . nam

kurz, einfach, aber in seinem Quintenfalle so leidvoll! Das durchgehende Begleitungsthema, das die Fagotte und Celli bringen:

Larffhetto sostennto. „^ ^^ ^ .»^^''^v,

^

'^m\^^ß\f-n

so schwer fragend; die ganze rhythmische Bewegung verhalten, der Aufbau immer wieder auf Fermaten ein- haltend! Die aufhellenden Stellen des Textes, die Worte

vom ewigen Licht, welches den Seligen leuchtet, von der Herrlichkeit Gottes, die in Hymnen gefeiert wird, sind auf trauernde, kleinlaut, ja fast gebrochen klingende Motive gestellt, die die Stimmen einzeln oder gruppen- weise einander nachsingen. An einer einzigen Stelle, wo der Chorsatz sich wieder zu kompakter, vierstimmiger Harmonie zusammenschließt, bei den Worten >ad te omnis caro venietc leuchtet ein flüchtiger Schimmer von Hoffnung durch. Mit ihnen schließt gewissermaßen der erste Vers des Satzes. Das Hauptthema setzt zu einem zweiten an; doch ist dieser sehr kurz gehalten mit einem einzigen neuen Motiv auf die Worte >et lux perpetua luceat eis« versehen. Das Kyrie, das sonst, wie z. B. bei Mozart, als der liturgische Hauptteil der ersten Nummer der Toten- messe breit ausgeführt wird, behandelt Cherubini fast nur wie einen kurzen Anhang. Die Stimmen singen das »Kyrie eleison« sowie das >Christe eleison« auf dasselbe Thema,

der Alt: der Sopran:

^

ohne Verweilen, nur mit eiper flüchtigen Wiederholung. Doch ist diese kleine Wiederholung der Worte auf be- wegteren Rhythmen und mit ihrer melodischei;i Steigerung außerordentUch wichtig; denn sie sagt, was hinter diesem gefaßten Trauerton für eine gewaltige leiden schafthche Herzenserregung liegt. Aus ihr verstehen wir, warum Cherubini das Kyrie nur andeutet, nicht ausführt. Diese Trauer ist nicht fähig ordentHch und regelrecht zu beten, nicht fähig zu sagen >Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, der Name des Herrn sei gelobt!« Nur die Lippen beten, das Herz will vor Schmerz brechen. Es hört nicht auf des Leids zu denken, das ihm geschehen. Das sehen wir daraus, daß während des ganzen Kyrie immer die klagende und wühlende Begleitungsfigur, mit der der Introitus einsetzte, weiter geht. Sie führt auch (in der Bratsche) von der erwähnten Stelle des leidenschaft- lichen Aufschreies weiter. Mit gewaltsamer Fassung und

288

Ruhe setzen die Singstimmen noch dreimal ihr >eleison« hin dann ist die Nummer zu Ende. Sie ist sicher einer der feinsten und eigentümlichsten Eingangssätze, die zu einer Totenmesse geschrieben worden sind. Berlioz hat die Idee, nach der in ihr das Kyrie behandelt ist, in seinem Requiem aufgenommen und mit schärferer Zuspitzung durchgefül^rt.

Als ein ungewöhnlicher Anhang folgt der ersten Nummer ein kurzer Satz über die Worte »Requiem aeternam dona eis domine et lux perpetua luceat eis, in memoria aetema erit justus« der die Bezeichnung Gra- duale trägt. In ihm fließt die Melodie etwas stärker als vorher. Wie fest aber Cherubini auch in ihm an der resignierten Grundstimmung festhält, zeigt qpwohl der in die Entsagung zurücklenkende Schluß des Sätzchens als namentlich auch die Behandlung der Worte: >in memoria aetema erit justus«. Sie sind in den wärmsten Tönen der Wehmut ergreifend gegeben; aber die Mehrzahl der Tonsetzer würden sich für sie eine freudenvollere Einlage schon aus Gründen äußerer Wirkung nicht versagt haben.

Äußerlich bildet auch in Cherubinis Cmoll-Requiem das Dies irae den Mittelpunkt, den Hauptsatz der ganzen Messe. Cherubini unterscheidet sich aber in der Behand- lung dieses Teils von anderen Tonsetzem zunächst da- durch, daß er die ganze Sequenz bis zum »Lacrimosa« in einem Zuge, d. h. ohne Tempowechsel durchnimmt. Erst bei diesem Schlußabschnitt tritt eine neue Bewegung ein: ein feierliches Largo ersetzt das bis dahin herr- schende Allegra Dadurch erreicht Cherubini zweierlei. In Harmonie mit dem Dichter und mit dem Geist d'er Sequenz bringt er dieses »Lacrimosa« zu einer so mäch- tigen und frischen Wirkung, daß es sich als die Haupt- stelle des ganzen Dies irae einprägt. Der Wehruf, mit dem es einsetzt, erscheint wie die moralische Frucht der vor- hergehenden erregenden Schilderung des jüngsten Gerichts. Die schwere Wehmut dieses »Lacrimosa«, die einfache Innigkeit, mit welcher in ihm »Pie Jesu« gerufen wird, entscheiden und bestimmen den Schluß- und Gesamt- eindruck der Nummer. Zweitens aber sichert sich

t89

Cherubim durch dieses Verfahren alle Vorteile des großen Stils. So anschaulich und bedrohlich die Bilder, welche Cherubini vom Tage des Gerichts und seinen Schrecken entwirft, auch vor die Fantasie des Hörers treten, so wird doch seine Aufmerksamkeit nicht zersplittert. Die Einzelheiten sind genügend aber leicht angedeutet und das richtige Verhältnis zwischen den malenden und den bittenden Textteilen ist überall gewahrt. Der Kirche und der Kunst muß dieses Dies irae gleich lieb sein. Dazu trägt die einfache und klare Form des AUegro, die Dis- position, die der Meister über den -Text getroffen hat, wesentlich mit bei. Wir haben da einen Hauptsatz, der von dem Ahfang bis zu den Worten >qui salvandos salvas gratis« geht. Das Thema der Singstimmen: Aijegro maestoso. beherrscht ihn und geht

auf verschiedenen Text- zeilen ' verschiedene Ver-

I

i;

fee

JU'^i U

Wandlungen ein. Bei den Worten »Mors stupebit« wird dieser Hauptsatz mit seiner erregten, erschreckenden und gewaltigen Melodik auf kurze Zeit unterbrochen, durch ernste Wendungen bei »coget omnes ante thro- num« und bei >nil inultum remanebit« sehr eindring- lich interpunktiert und mit einfach herzlichen Weisen über >salva me foijs pietatis« bei den Wieder- holungen >voca me« usw. rührend abgeschlossen. Besonders zu bemerken sind die zwei Takte, mit denen .Cherubini aus den aufgeregten Tönen der Fegefeuer- schilderung in diese ruhigen Schlußstellen einlenkt. Mit wenigen Tropfen glättet er die wilden Wogen.. Der Mittelteil des Allegro, den der Gebetsabschnitt Von >Re- cordare« bis »et ab hoedis me sequestra statuens in parte dextra« bildet, schillert in einem merkwürdigen Doppellicht: Die Singstimmen ziehen einzeln oder zu zweien im Unisono gepaart, ^ .Aiiegro.

über ruhige, Vertrauens- (L 1> > tfi [^- F

^

^^

^

volle Melodien, wie Z. B.: ^ Rexor.da.re Je.8U pi

wie durch eine große Leere dahin, immer in breiten Rhythmen. Zuweilen singen sie nicht, sondern liegen

II, i. 49

^ 290 ^

träumerisch auf Deklamationstönen fest. In dem Violin- chor züngeln dazu immer die kleinen Flämmchen des Fegefeuers in leicht dahin huschenden Figuren fort:

Bei >confutatis maledictis«

£ ^\, i^ t LJ y Uy ^y I tffil kehrt der Hauptsatz variiert ^'i-Tr 7"7UT'y^: ^g^gy^ y^^ aber nipht voll-

ständig wiederholt, sondern geht schon nach ungefähr sechzehn Takten in die schöne milde Schlußwendung des »voca me«. Die wenigen noch übrigen Zeilen des Textes sind als Anhang gegeben in einem ahnungsvoll ernsten Chor- satz, aus den Instrumenten spricht dazu das klopfende Herz. Nicht bloß in seinem Mittelsatze, sondern in dem ganzen Allegro ruht die Darstellung zu einem guten Teil auf dem Anteil des Orchesters. Gleich zum Anfang deuten die Posaunen, Trompeten und Hörner den schauerlich - un- Aiicgro

heimhchen Cha- fl ^-^1 1 , . _ hn r rakter derSituation ^Hffo'J'J J J rj\\^ j

mit einem rhyth- ^-»-^ B P P ^>^-^^v^

mischen Motiv: ^

an, das an der Spitze der Abschnitte oft wiederkehrt Ein Schlag des Tamtam verstärkt die Wirkung noch bis zum Erschrecken doch hat Cherubini dieses unerhörte, naturalistisch theatralische Mittel einmal und nicht wieder verwendet. Systematisch und mit seiner ganzen Sippe hat es erst Berlioz in der Kirchenmusik zu Ehren gebracht! Die leidenschaftlich wilde Bewegung der Gerichtsszenen, bringen die Geigen mit einer durchgeführten Figur zum Ausdruck, welche unten wühlt, dann nach oben steigt und, auf der Höhe angelangt, die Blasinstrumente mit auf- nimmt. Die Singstimmen schließen sich nun in ruhigeren Rhythmen der dämonischen Melodik der Violinen mit an und steigern den Eindruck der Unruhe noch durch die kanonische Führung zwischen Sopran und Alt einer- seits, Tenören und Bässen andererseits. Sie geben da- mit das Bild einer bis zum Äußersten aufgeregten Menge, bei der die eine Partei der anderen die Schreckensworte halb mechanisch, mit sinnlosem Eifer nachspricht. So wirkt

294

das Dies irae überall mit künstlerisch beherrschter Lebens- wahrheit unmittelbar, elementar, aber zugleich erhebend. Die beiden Sätze »Domine Jesu Christe« und »Hostias et preces« hat Cherubini, wie sie zusammengehören, auch unter einem gemeinsamen Titel »Offertoire« und als fortlaufende Nummer gegeben. Die Schrecken, des Dies irae und die Höllenstrafen, die noch einmal auf- tauchen, als der Text des tiefen Sees (»de profundo lacu«), des Löwenrachen (»de ore leonis«), des Tartarus und der großen Finsternis (»ne cadant in obscurum«) gedenkt, hat Cherubini wie in weiter Ferne, wie hinter einem Vorhang verschleiert dargestellt. Die Fantasie eilt mit leichtem Schauer an ihnen vorbei, läßt sich nicht auf sie ein, so dankbare Aufgaben sie der Tonkunst auch stellen. Die Musik trägt in der Hauptsache den Qiarakter demüti- gen Vertrauens und bringt die schönsten Klänge bei den freundlichen Erscheinungen des Textes. Um die Gestalt des heiligen Michael hat Cherubini eine Szene von Licht und Güte gebreitet, die tief in der Erinnerung bleibt. Ihr Grund- Andante. die schon in der kurzen

motivistdie i^^\, i'ii^f» ffTn Einleitung der Nummer Achtelfigur: t?'^'"^ü LLLI ^V , mit auftritt. In ihrer Durchführung zeigt sich Cherubini wieder als der große Meister der Chromatik. Den breitesten Raum im OfTer- torium nimmt die Behandlung der Worte »Quam olim Abrahae promisisti« ein. Für sie war eine Fuge her- kömmlich. Cherubini hat eine insofern außerordentlich kunstvolle beigesteuert, als sie aus drei Themen besteht: ^j PocoAiiegro. die von Anfang an

^X''. ihT Tr\T r rlg rir^^l l sogleich zusammen- ■"t^i'T' '.['■■' .1 T ' .11.1 1 ^ » gebracht werden (a.

vom Baß, b. vom ^3 Tenor, c. vom Alt), so daß niemand dar- über im Zweifel zu

Quam olim Abrahae promi. sie . ti

?|.,i,.rTrrir>rri'^

et.

se

rpini

JUS

g f.ff rtr#.r>P. ^®^^ braucht, daß wir es mit

y\\ - J^' I' ' ITirri l einer regelrechten Tripelfuge zu

-et se.mini e.jus tun haben. Die Achtung vor

4 9*

—^ «9« ♦—

«

Cherubini verlangf jedoch die Bemerkung, daß nach Ton und Geist dieses Kunststück nicht zu den Meisterstücken der Gattung gehört, obwohl der Tonsetzer sich redlich um Aufschwung bemüht hat. Das »Hostias« bildet den Sc]üuß des Offertoriums und ist als Larghetto im 8/4-Takt und teils in langhin fließenden Melodien, teils auf kurz absetzende Motive gegeben. Diese Form entspricht dem Wechsel des Inhalts, der sich zwischen frommem kirch- Uch gläubigem Vertrauen und zwischen leisen Regungen des Herzens teilt. In letzteren wird die resignierte Grund- stimmung der Messe wieder stärker vernehmbar. Eine Repetition der Tripelfuge schließt die Nummer.

Das Sanctus ist äußerst skizzenhaft gehalten und begnügt sich, den üblichen Charakter dieses Satzes zu markieren. Dagegen ist das >Pie Jesu«, das ihm als Anhang folgt, einer der eigentümlichsten und feinsten Sätze des Requiem, in seiner schönen, weichen Stimmung italienische Musik bester Art, in seiner romantischen Traumnatur echtester Cherubini! Gedrückt und tief wehmütig schleicht es vorüber und knüpft nicht bloß im Text wieder an den Charakter der Eingangsnummer an. Besonders rührend ist das ziemlich obHgate Zwischenspiel des Orchesters mit Larghetto

der bedeckten Stimme der Klari- ■|^|j^|>jpPp ||^|tf^j | J

nette an der Spitze. Ihre Figur; gehört zu denen, die lange im Herzen fortsingen. Das Agnus Dei, der Schlußsatz des Requiems, be- ginnt leidenschaftlich. Der dreimalige Anruf ist gedacht wie die Abwehr gegen die gräßliche Idee vom Tode, ähn- lich wie es Süßmayer in Mozarts Totenmesse gehalten hat. Da fällt das Wort »sempitemam« Ewige Ruhe? Dieser Begriff wird zum Anker für die erregte Fantasie: bedeckte Pauken erkhngen, die Harmonien streifen an fremdartigen Gebilden vorbei, das Reich des Geheimnis- vollen tut sich auf und bietet der ge- ^ Sostenüto^ ^^^ quälten Seele eine Zuflucht. Immer JL ^\, <^ ffTIT^ [ Jj*^ fester windet das holdernste Motiv: •? ' Ls '"^^

das uns schon mit dem ersten Takt des Satzes empfing

-♦ 293 ♦^--

iseine sanften Schleier über des Tondichters Augen. In Traumestönen, welche an das herrliche Credo seiner Dmoll-Messe erinnern, Tönen, wie sie in dieser Art nur Cherubini hat, entschlummert die Musik. Kirchlich ist vielleicht dieser Schluß nicht ganz befriedigend, poetisch ist er unendlich schön und wohltuend.

Das zweite Requiem Cherubinis (in D moll, nach L. Cheralini, dem eigenen Verzeichnis des Verfassers L J. 4836 kom- Requiem poniert) gilt heute vielen deshalb als ein Unikum, weil (DmoU). es ausschließlich für Männerstimmen geschrieben ist. Über das Alter des Männergesangs im allgemeinen und seine Literatur sind immer noch falsche Nachrichten im Umlauf. Einer dieser eigentümlichen Geschichts- schreiber hat die Einführung des Männergesangs in die Oper unlängst in ausführlichen Zeitungsaufsätzen als ein wesentliches Verdienst Marschners geschildert; ein zweiter, der das Thema in Broschürenform be- handelt, besann sich wenigstens auf Gluck. In Wirk- lichkeit verwendet ihn aber schon die Perische »Euridice« vom Jahre 4 600 selbständig, und auch in der französischen Oper des 47. Jahrhunderts kommt er häufig vor. Noch älter ist er in der Kirchen- musik. Speziell unter den Totenmessen steht Cherubinis D moll - Requiem keineswegs vereinzelt da: Um einige der bekannteren Requiemkompositionen für Männer- stimmen zu nennen, führen wir aus der älteren Periode das Requiem von Asola an: Es ist zuerst in Venedig L. Aaola. i. J. 4 586 gedruckt und gehört unter die bedeutenderen Werke der großen Vokalperiode. Proske hat es in Par- titur neu herausgegeben. Ferner das dreistimmige von M. Scomparin. Annähernde Altersgenossen des Cheru- M. Soomparin. binischen DmoU-Requiem sind die für Männerstimmen ge- schriebenen Totenmessen vom Abb^Vogler, G. Weber, Abt Vogler, Eisner, Seyfried und H ä s e r. Freilich aufgeführt wer- 0. Weber, den diese Werke heute nicht! Einer,

Das zweite Requiem Cherubinis hat mit seinem SeTfried, Vorgänger etliche musikalische Berührungspunkte, die Häiei. sich namentlich in der Auffassung des Introitus und des

«94 ♦—

Dies irae sehr deutlich zeigen. In diesem letztgenannten Satze begegnen uns sogar bei gleichen Worten : >flammis acribus addictis« z. B., ziemlich dieselben Notenmotive. Man kann aber trotzdem die zweite Totenmesse der ersten an Bedeutung nicht gleich stellen. Der innere Anteil, mit dem der Komponist geschrieben hat, war bei dem späteren Werk geringer. Der erste Satz, Introitus mit Kyrie, erscheint wie ein Niederschlag des gleichen Abschnittes im CmoU- Requiem. Der Ton der Trauer erstreckt sich auch hier auf die Bilder des Textes mit, welche der Fantasie Anlaß geben wollen, sich auf- zurichten. Die Motive sind sogar äußerlich breiter, aber sie haben nicht mehr die zwingende Kraft, wie in dem ersten Requiem: Doch aber vermögen sie bei einem ausdrucksvollen Vortrag die Idee zu veranschau- lichen. Die Anlage ist: Hauptsatz (bis >luceat eis«), Mittelsatz (bis »veniet«), Repetition des Hauptsatzes. Das Kyrie hat mehr selbständigen Gehalt, als im ersten Requiem. Das Graduale ist ein scharf und kurz gegliedeter, schön gestimmter, aber in der Ausführung schwieriger a capella-Satz. Das Dies irae ist mit einer gewissen Härte deklamiert. Imposant ist die Stelle, wo der Thron des höchsten Richters gezeichnet wird (»Judex ergo« etc.). Wie in Quadern bauen sich die Perioden der unisono vorgetragenen Melodie dort auf. Der Gegen- satz, in welchem der arme Mensch zu dieser Macht und Herrlichkeit tritt, kommt deutlicher als in dem anderen Requiem zum Ausdruck. Von diesem Punkt ab richtet Cherubini grundsätzUch sein Augenmerk auf scharfe Ausprägung der textlichen Kontraste. Dieses Verfahren ergibt eine größere Reihe bedeutender Einzel- bilder. Ein zusammenfassender Zug< herrscht wieder vom »Lacrimosa« ab, welches in hinreißender italienischer Me- lodik durchgeführt ist. Dieser Abschnitt und das fromm demütige Gebet des »Pie Jesu«, welches die Sequenz im warmen D dur zu Ende fuhrt, sind Höhepunkte des Werkes. Im OfTertorium tritt der Abschnitt »Sed signifer sanctus Michael« durch die malerische Kraft der Instrumentation

—« 295 H>>—

besonders hervor. Der Satz »Quam olim Abrahaec ' ver- läßt die Fugenform sehr bald und gibt der Erwartung über die himmlisphen Freuden einen freieren und un- gebundenen Ausdruck. Das Sanctus steht mit seiner vollen, glänzenden Orchesterrüstung auffallend außerhalb des Kreises der Totenmesse. Ganz am Ende erst dämpft es seinen Feiertagston. Um so klarer ist das »Pie Jesu« aus einem trauernden Gemüte herausgebetet. Das Motiv der langsamen Viertel beherrscht seinen Ausdruck. Das «

Agnus dei, in seinem ersten Teile ganz ähnlich auf- gebaut und gestimmt, wie der gleiche Satz im GmoU- Requiem, schließt mit stärkerer logischer Betonung des »lux perpetua«. Beantworten in jenem die letzten Takte die Frage nach dem ewigen Leben und dem ewigen Lichte mit einem »Vielleicht« so spricht hier Cheru- bini ein freudiges »Gewiß«!

Das nächste Requiem, welches nach diesem Cheru- binischen die allgemeinere Beachtung, zustimmend oder abweisend, auf sich zog, kam gleichfalls von Paris. Es ist H. Berlioz* Totenmesse, im Jahre 4837 für die bei H. Berllos, der Beisetzung des Generals Damr^mont im Invalidendom Requiem, von der Regierung veranstalteten Trauerfeierlichkeit^n komponiert (op. 5). Das Werk, von welchem Berlioz selbst auch in verschiedenen Städten Deutschlands seinerzeit Aufführungen veranstaltete, hat erst in den letzten Jahr- zehnten begonnen sich einzubürgern. Die Gründe, welche ihm entgegen waren und immer entgegen bleiben wer- den, sind zunächst äußerliche. Dieses Requiem macht an die Ausführung nach verschiedenen Richtungen hin un- gewöhnUche Ansprüche. Die Einleitung zum »Tuba mi- rum spargens sonum« z. B. ist für vier selbständige Bläserchöre geschrieben, welche, jeder in einer andern Ecke des Aufführungsraums plaziert, ihre Fanfaren nach den verschiedenen Himmelsgegenden hinausschmettern. Es sind die Engelsboten, die wir von alten Bildern des jüngsten Gerichts her kennen. Dazu verlangt aber die Originalpartitur C. Götze in Weimar hat sie sehr geschickt vereinfacht eine Besetzung von sechzehn

•—-^ «96 ♦—

Posaunen, ebensoviel Trompeten, die andern Messingbläser in entsprechenden Zahlen und eine kleifie Armee von Schlagzeug. Bbenaoviele Schwierigkeiten bietet Berlioz durch seine Behandlung der Singstimmen. Schon die französische Einteilung des Chors in Sopran, Tenöre und Bässe ist uns unbequem. Soll der Alt mitsingen, so muß für ihn eine Stimme eingeschmuggelt werden. Carl Riedel hat eine solche aus Brocken von den Tischen des Soprans und des Tenors zusammengemischt. Der Komponist hat den Stimmen auch Intonationen zugemutet, welche nur nach langer Mühe und bei peinlichster Sorgfalt aller an der Ausführung beteiligten Sänger überwunden werden können. Zweitens kann nicht geleugnet werden, daß der künstlerische Wert der Komposition, ihr Ideengehalt ein gleichmäßiger nicht ist. Sie hat ihre barocken, gewalt- samen und renommistischen Momente. Sie hat nationale Eigenheiten, die der französischen Kirchenmusik von jeher, zuletzt noch bei Cherubini, die Sympathie der Deutschen entzogen oder geschmälert haben. Fantasie und Gemüt haben darin ein anderes als das bei uns gewöhnte Ver- hältnis. Infolgedessen stoßen wir uns zu Unrecht hier an scheinbar theatralischen, dort an kalten Stellen. Nach solchen Abzügen bleibt aber das Requiem von Berlioz immer noch seine reifste Arbeit und eine originelle Komposition von wirklicher und ungewönlicher Bedeutung. »Sollten einmal« schreibt Berlioz am 1 1 . Januar 4 867 ^n seinen Freund Humbert Ferrand *) »alle meine Kompositionen verbrannt werden, bitte ich doch für eine Partitur, für die meiner Totenmesse, um Gnade«. Sie ist ein Werk von innerlich großem Stile, mit einer inbrünstigen Versenkung in den erhabe- nen Stoff, mit einer Fantasie geschrieben, welche immer dramatisch lebendig auffaßt und ihre Auffassung oft in' großartigen, zuweilen in eminent ursprünglichen Gestal- tungen äußert. Der musikgeschichtliche Boden, auf welchem dieses Werk reifte, ist hauptsächlich der der

') H. Berlioz: Lettres intimem (2. Aufl.) 1882.

«97

Beethovenschen Kunst. Aber auch seinem Lehrer Le- sueur und seinem Antipoden Gherubini, namentlich des- sen Gmoll-Requiem mit dem Tamtamschlage, verdankt Berlioz ersichtliche Anregungen.

Berlioz hat die fünf Hauptteile der Totenmesse in zehn Nummern geteilt. Acht davon hat der Chor ganz allein, in zweien singt mit ihm oder allein ein Solo- tenor. Das Berliozsche Requiem ist demnach in ganz ungewöhnlichem Grade ein Chorwerk. Den ernst kirch- lichen Charakter, dem der Komponist damit nachstrebte, verstärkte er noch 4urch einen für sein spezielles Kön- nen an Fugen und Imitationen reichen Stil.

Zum Verständnis des ersten Satzes (Requiem und Kyrie) sind drei Hauptmotive zu beachten: Das erste ist die breite, schwermütige Melodie, mit welcher die Ghorbässe am Anfang des Werkes eintreten:

Andante poeo lento

*j.|i>ffl'f)|fp.

^

Ihre trauernde Grundstimmung variiert der Kom-*

Re.qui.em ae ter . nim ponist im Verlaufe

des Satzes verschiedenfach und führt sie bis zum glühend leidenschaftlichen Ausbruch der Todessehnsucht. Das zweite Hauptmotiv ist der eine gemischte Skala in gebro- chenen Achteln hinabsteigende Gang, in welchem die Te- nöre gleich nach ^

dem Einsatz der l^\^ ^^ ^^)^ ^^^ Bässe neben die- ^^H^ sen herschreiten:

Re.q

ui . em

n^-i^V^^if r

ae . ter\ nam do . na e . is

Er ruft das Bild eines in schweren Schritten aufwärts stei- genden Trauerzuges vor die Fantasie. Beide Themen bil- den gewissermaßen den Grundstock der Nummer ; die fugen- artigen Durchführungen, die die Chorstimmen aus ihnen entwickeln sind das Gerüst und die Seele der Komposition. Das dritte wesent- liche Motiv ist das chromatische The- ma des Orchesters: ^ das wie eine schmerzliche Frage klingt. Aus ihm ist die

p cresc.

298

Einleitung gebildet: in dreimaligem Anlauf steigt es höher und wird heftiger: ein Bild des wachsenden Kummers, des innern Jammers. Dann kommt laute Klage im Orchester:

Der Zuhörer weiß aus diesem Vorspiel,

^

1 Ip was er zu erwarten hat und nun setzen ^ die Bässe ein. Besonders reich ist die-

focof "Z *• p

ser erste Satz an rührenden und lieblichen Episoden, wel- che das aus jenem Material aufgebaute Arsenal des Ernstes trauhch und wohnlich machen. Auch in der Form zeich- nen sich diese Episoden als originell aus. Hierher gehört

die nach der ersten Durch- .

führung des großen Requiem- fe » ^ . f f f 1 I T^ themas einsetzende, wie ein «^ [J M ' Wiegengesang klingende Stelle:

uiw.

do

na

mit welcher die Soprane die fromm und innig um Ruhe bittenden Tenöre:

^

«=p

i

IS

umspie

len. Ihr

Ende

do. na do. na e

wech^lt zwischen Herzensangst und kindlichem Gott- vertrauen:

do na e ig re

m

em

do na e - is «"e . qui

Da ist (nach der zweiten Durchführung) jene ab- wechselnd, von Tenören und Bässen getragene Melo- die zu den Worten »Te decet hymnus«, 'welche in der Idee mit Cherubini übereinstimmend, aber in eigenartiger Form den Beisatz von Traurigkeit so schrill in die hoffnungsvollen Ton Wendungen einmischt:

Der kleine Abschnitt enthält außerordent- lich viel Fantasie, na- mentlich auch in der nasse |,- ^ k^, fahlou Farbe

*j!f pl^f if f |tf r PM »^ ßl" I '*^^- ^®® Orchesters 0/ '• u } A . ' ,\ ^ n ^ ' und der mono-

Et ti.bi red.de.tur vo.lum in Je ru.salem ^ , .

ton hmpen- delnden, das Grabgeläute vor die Fantasie rufenden

Tenöre

j.rFrprrr ic?^

Te de.cet hymnus de.us in Si.on Bässe 1^^ ^ ^-^ h

S99

Cellofigur. Da ist ferner nach der dritten Durchführung des Hauptthemas die Stelle bei »defunctis domine et lux perpetua luceatc, wo die ganze Musik wie ein verglühen- des Lämpchen dem völligen Erlöschen nahe scheint. Als dann nach der nächsten Durchführung das Wort vom ewigen Licht wiederkehrt, da zeigt es Berlioz in seinem Glanz: kurz und einfach, aber mit elementar großer Wirkung hat er zwei Dur- Akkorde (Ddur, Gdur) dazu verwendet. In Hoffnung und seligem Traum vom ewigen Leben schließt der Introitus. Das Kyrie hat, wie bei Gherubini, nur noch die Bedeutung eines Anhangs, eines frommen Brauchs. Berlioz gibt es mit der Mischung von Poesie und Realistik, die die französische Musik liebt, die er aber besonders virtuos beherrscht. Die Worte »Kyrie eleison« werden glatt auf einem Ton psalmodiert, so daß vor dem Hörer deutlich das Bild der auf den Knieen liegenden, dem Vorbeter nachbetenden Gemeinde er- scheint. Das »Christe eleison« tritt dazu in den Gegensatz innig empfundenen Gesangs auf ein chromatisches Motiv:

in dem Jedermann einen Ab- kömmling des Stakkatothe- mas aus dem Hauptsatz er- kennt. So sagt uns das Ende des Satzes, daß die Trauer, mit der wir in ihn eintraten, noch da ist, aber ihr gedrückter Charakter ist der Er- hebung durch den Glauben gewichen.

Die Sequenz umfaßt die Nummern 2 bis 7. Die zweite Nummer (der Anfang des Dies irae bis zu den Worten »judicanti responsura«) zerfällt in zwei Abteilungen. Die erste (AmoU) beginnt schwül und unheimlich ruhig. Die Soprane singen allein:

Moderato

*

i

^ppM'.

*

P

^^

Chris . te, e le. ison

di.es il . la. tli.es

TX.

l

^

Di - es

i.rae

I . rae

^pM IJ_J r ir ^ rTif?rr < iT pr .| ■■ ipg

di.es

il la soi - vet

saec tum

in favil - la

300 ♦—

In gefaßter Stimmung, eine leichte Verwirrung an- deutend, beginnt diese Klage, in Verzweiflung, fassungs- los aufschreiend, endet &ie. Damit ist der Charakter des ganzen ersten Teils dieses Ghorsatzes gegeben. Er be- steht in einer einzigen Steigerung bis zu dem Punkte hin, wo das »Jüngste Gericht« leibhaftig erscheint. Wenn Berlioz hier eine lange Strecke nur einstimmige Musik gibt, erst die Bässe, dann die Soprane allein, so hat das doppelte Gründe. Durch solche Vereinzelungen der Stimmen und durch den altertümlichen Bau der Motive sucht Berlioz wiederholt in seinem Requiem an die alten liturgischen Intonationen zu erinnern. Ebensosehr wie durch den Text selbst scheint seine Fantasie durch die Romantik der kirchlichen Zeremonie gefesselt ge- wesen zu sein. Die Anspielungen auf bezeichnende Einzelheiten des kirchlichen Dienstes und die Szenerie der alten Feier gehen immer nebenher, ^ber der leere Klang dieser Stellen ist vor allem auch ein ausge- zeichnetes Ausdrucksmittel. Er erzeugt im Hörer ein Gefühl der Öde und Spannung und versetzt mit un- widerstehlicher Gewalt in die Ungewißheit und Bangig» keit der Situation. Zunächst stimmen Tenöre und Bässe in die klagende Weise mit ein. Bald aber die Musik wendet sich nach BmoU q .i.l f ^ ?^^ ,^ geben die Soprane die Worte: »Dies A^l^Vt^ j^'H.pl ^ If'

irae« träumerisch erstaunt: »^ DpeTn la

von den schweren _^2^Tf^ ^> =* «^ schrei- Angstrufen der

<li.e8 il.la. di^s il.la

en sie

äußersten LH\,'^f^f^n\ " I P' - größer wird en auf: ^ in ü. vii . la die Aufre-

Tenöre getrieben ^ ^\,U ii.fa. diis ii.ia gleich

darauf entsetzt ^ ^opran^ ^ _ Größer und

und im

Schrecken

gung, lebhafter die allgemeine Bewegung (Dmoll).

Die Tenöre insbesondere sind von ihr erfaßt:

f\ ft r m - - m.r-i ^ nL ^^ Bässe des k^ LU D ff iJ I J j ff ^^ Chores bleiben bei

quan.tus tre. mor est fu tu. rus der feierlich emsten

304

Contrabäflse u Celli Moderato.

■■■^ MlJrJ|J|.|JJlM^|p>l>

m

m

Kirchen melo- die, mit wel- cher die In- strumente die Sequenz er- öffneten:

Berlioz scheint sie als musikalisches Motto des ganzen Satzes gedacht zu haben. Und nun kommen wir vor die Glanzpartie des Satzes vor das >Tuba mirum spar- gens sonum« (Esdur) mit der alarmierenden und prunken- den Orchestereinleitung und dem grandiosen Unisono- gesang der Männerstimmen. Diese in höchste Pracht getauchte Szene vom. jüngsten Gericht und von Auf- erstehung unterscheidet die Totenmesse Berlioz' von jeder andern. Wer dieses Requiem einmal gehört hat, erinnert sich zuerst an diesen zweiten Teil des Dies irae, den Mittel und Idee zu einem unvergeßlichen Ein- druck auf Sinn und Seele von Kennern und Laien machen. Die Blasinstrumente bestreiten den ganzen Aufwand jener nur 22 Takte langen Einleitung, deren Wirkung auf einen viel größeren JJmfang schließen läßt, mit den Schlaginstrumenten allein. Mit feierlichem breiten Ton setzt jede der zahlreichen Gruppen, die die Toten aus allen Himmelsrichtungen zusammenrufen, ein; dann werden die Rhythmen erregt und , schmetternd. Gewiß, es sind, wie Gegner Berlioz's bemerkt haben, in den Weisen dieser Trompeten und Posaunen Motive mit verwendet, die auch in Kavalleriesignalen vorkom- men. Aber wer bei der Entwicklung, in die Berlioz solche Elemente bringt, mit seiner Fantasie nicht höher kommt, ist zu beklagen./ Instrument nach Instrument kommt hinzu, das Ohr steht wie vor zitternden Massen, vor Blitz und Donner, und als das ganze Orchester bei- sammen, da wendet sich die Masse endlich aus Esdur jreg und schreitet von melodischen Trompeten geführt, nach B. Dieser Gang nach der Höhe, den die Bässe feierlichen Schritts beginnen, stürmend schließen und wie dann auf den letzten Bdur- Akkorden sich das ganze

* 30J

Himmelsheer in seiner Gewalt und furchtbar erhaben in Front stellt, das ist der Gipfelpunkt des kolossalen Abschnitts. Und nun doch noch eine Steigerung: der Eintritt der Männerstimmen, die ekstatisch deklamieren: J , 56 ^ '^ Ein Chor von Pauken,

r^f f ff ff ff , r*- r , ß ß Trommeln, Tamtams,

^\ ' ' y^i^ y\\ I II 1 ^s^- Becken tremoliert da-

Tu.ba mirurnspai^enssonum zU. Jedenfalls ent-

spricht den außerordentlichen Mitteln ein außerordent- Uches Ergebnis. Die Majestät und Größe des jüngsten Gerichts ist in keinem zweiten Requiem so wie hier bei Berlioz zur Anschauung gekommen, die andern Totenmessen schildern an der gleichen Stelle nur seinen Schrecken. Bei den Worten »ante thronum« bedeckt Berlioz plötzlich das Bild des geöffneten Himmels und wendet sich dem »erblaßten Tode« (»mors stupebit«) zu, den er zu der vorhergehenden Herrlichkeit und Macht in den kläglichsten Gegensatz bringt: eine Gestalt, erst zitternd, dann kleinlaut klagena. Mit den Worten »judi- canti responsura« wird der Ton wieder ernst und groß. Das Bild des jüngsten Gerichts zieht (von Bdur aus) durch die Worte »Liber scriptus« gerufen, noch einmal in voller Ausdehnung vorbei. Vom Ghoreintritt (»Judex ergo« usw.) ab hat Berlioz diese Wiederholung dadurch mächtig gesteigert, daß er die Bässe auf der einen Seite, Tenöre und Soprane im Unisono auf der andern, die Melodie im Kanon durchführen läßt. Nicht aber schließt der Satz im Glänze des Gerichts, sondern der Chor bringt die Worte »judicanti responsura, mors stupebit et natura« noch einmal leise, fast ohne Begleitung, demütig und fromm, wie um Gnade bittend, wie eingedenk der bangen Frage: »Wer wird bestehen?«

Der dritte Satz »Quid sum miser« (GismoU) ist ein Tenorsolo. Aus dem in absichtlicher Dürftigkeit geführ- ten Orchester tauchen, vorwiegend in den Bässen, An- klänge an den ersten Teil der vorhergegangenen Nummer, das Dies irae, wieder auf. Die Singstimme klagt und bittet wie in einer großen Wüste vereinsamt und verloren

303 ^—

Man muß von dieser fesselndeh poetischen Intention des Satzes beim Anhören ausgehen, da er, als absolutes Musikstück genommen, kaum verständlich ist. Der Satz, der in Amol! begann, schließt in Es.

Der Chor der Auferweckten tritt nun vor den Thron des Höchsten in dem vierten Satz (>Rex tremendae ma- jestatis«, Esdur) mit einer feierlich frommen Anrufung, der bei den Worten >qui salvandos salvas gratis«, eine im Satze wiederholt verwendete bittende Melodie folgt:

Andante maertoso ' ^^^ die Stimmen einander

Awti'L I h] luJ r r flnlr » zunächst ruhig nachsingen. ffy ^'^'^.J Ji-i'lti'^ r I V\i\\ ^ Das Ende des Abschnitts

Qui sal vahdossalvasgrati. „^^^^^ ^^^^ ^^^ ^^^ j^.^

Bitte klingt ängstlich und aufgeregt, und von nun an nimmt der Satz hauptsächlich den Charakter einer Schreckensszene, einer Schilderung der Vorstellungen, welche die Seelen der vor dem Richter Stehenden quä- len, an. Er ist derjenige des Werkes, welcher den rea- listischen Zug der Berliozschen Romantik am ausge- prägtesten aufweist. Die Furcht vor dem Fegefeuer und den Höllenqualen ist mit einer fast platten Naturtreue geschildert. Diese Tonbilder sind die musikalischen Photographien einer in Verzweiflung schreienden Masse, als solche große Leistungen des Komponisten. Beson- ders treten darunter die Stellen be> »confutatis male- dictis« bei >flammis acribus addictis« und bei »ne cadam in obscurum« hervor. Aber diesmal sind es nicht Farben- wirkungen und Klangmittel, mit denen Berlioz wirkt, sondern Rhythmen und Harmonien allein. Ein zwei

g Takte langer Sekundakkord: l z. B. gibt der Darstellung

h

des Entsetzens vor den Flammen ihre Schärfe. Aber Berlioz entwarf diese mächtigen Bilder des Schreckens und der Majestät nur als den Hintergrund für die Figur des armen ohnmächtigen Menschen, der mit seinem »Salva me« vor den Richter tritt, ganz auf Gnade an- gewiesen. Die einfache reine Schönheit der Gebetstellen

N

304 ^

des Satzes entscheidet den Eindruck. Die zarten Töne, mit denen die Worte »salva me< und >fons pietatis« zum letztenmal am Schluß des Satzes erklingen, dringen far immer tief und friedlich in die durch die grandiosen Bilder des Gerichts erregte Seele.

Der fünfte Satz »Quaerens mec (Adur) ist eine

fugenartige Komposition für q ^j ^f . k . i

sechsstimmigen Chor a ca- ja tf J j^" [ p ^ p J)?) rJj

pella. Sein Hauptthema: ^ Quaerensmesedisti las sus

wird zunächst einfach dreistimmig nur an den Schlußkadenzen mit Verdoppelungen durchgeführt. Erst im Zwischensatz, der über das erregtere Thema:

Q it.i ^ft >/^- ^.^1,1 gebildet ist, werden die sechs (^ tt r ^' I r f'^lf iJ I J J I Stimmen Tatsache. Im drit-

In ge.mi9 . cd taqquam re.a9 ten Teil wird das Hauptthema wieder aufgenommen, aber von psalmodierenden Moti- ven, ähnlich wie im Kyrie der ersten Nummer, begleitet. Auch in rein zweistimmigen Stellen hat dieser Satz fremdartige und archaisierende Elemente. Sehr stark im Gegensatz dazu gibt Berlioz den Worten »locum praesta e^ ab hoedis me sequestra« einen glühend mo- dernen Ausdruck. Durch solche stilistische Züge und durch den immer interessanten, zuweilen äußerst wohl- tuenden Klang dieses a capella-Satzes zeigt Berlioz die Stärke seines angeborenen Tontalents auch auf einem ihm fremderen Felde.

Der sechste Satz »Lacrimosa« (AmoU) hat zu seiner Grundstimmung eine an dieser Stelle von vielen Kompo- nisten gewä}ilte Mischung von Wehmut und Freudigkeit Er schwelgt zuweilen in dem Sehnen nach dem Tage der Auferstehung und bittet mit der frohen Herzlichkeit eines Kindes um die ewige Ruhe. Ein formell hervortreten- des Merkmal dieses Satzes ist, daß er sich fester auf Mittel der Melodik stützt, als dies bei Berlioz sonst üb- lich ist. Er wirkt im Durchschnitt auch in diesem Re- quiem vorwiegend mit rhythmischen und harmonischen Bildungen. Über den Melodien dieses »Lacrimosa«, die man als im edlen Sinne populäre bezeichnen kann,

305

liegt ein Hauch von warmer, italienischer Musikluft. Das Thema des Hauptsatzes hat folgenden Anfang: Aiicgro non troppo lento Seine klagenden

i n f^^ f\ \ f\ pTTTp^T^ '^^^ ^i* schwe- ^fl I 1 r p I r pur Prrrrrn^'^* rem Ausdruck zu La cry.mo.sa di.es ii la gingendeuAchtel-

motive tragen die weitere Entwicklung. Für die Seitensätze des »Lacrimosa« kommt das zart freundliche, hoffnungsvolle:

0 ^^'^. \ . L^ix^i^i.i j,^i ^^ BAracht,

5*^ J ,hM J. ^ ^\^~^ ^^ J^l I J. "^^ indessenPau- * "^' '^ ' "^ "*■ sen die be-

wegten Moti- ve des Haupt-

qua re.su r.get. qua re.sur.get ex fa.viLla themas wie

aus der Ferne hineinklingen. Im Ausdruck noch inniger,

kindlicher, vertrauensvoller doicejissai

ist die zuerst von 'den Te- ^ g ["'f

nören gebrachte Melodie: ^^

Das Orches- Baß Houbi

ter begleitet 'iit.^^ifl jpl^f f

im Haupt- ^'mlrg)^' 4

satz mit: ^

La.cry.ino.sa

di.es il . la

4M|^JjJ)|J.|tJ^J Jl|J.||J.J"JJ^

¥^

Pi . 6 ' Je SU Do . mine

YlP'u.. und wird damit

^ ^ Horner

n

±

der Träger der dunklen^ traurig erregten Empfin- dungen, die das Ende des »Jüngsten Gerichts« hinter- lassen hat. Im übrigen ist die Führung und der Cha- rakter des Satzes ruhig breit und groß. Eine Ausnahme macht eine Stelle, die gegen das Ende eintritt als der erste Seitensatz zum zweitenmal wiedergekehrt ist . Da klingen die Schrecken der ersten Nummer der Se- quenz noch einmal kurz in einem Kampf an, den die geteilten Hälften des Orchesters um e und f führen, e siegt!

Ganz apart ist die Anlage des Offertoriums »Domine Jesu Christe«, der siebenten Num- . .

_ _ ; .•»% ,1 »V r<ii Modcralo

mer des Requiems (Dmoll). Der Chor

singt mit Ausnahme der Schlußtakte

den ganzen Text auf das Motiv:

immer im unisono aller Stimmen leicht hinein deklamiert.

Es macht den Eindruck eines Zitats aus dem dürftigen

U, 4. 20

306

^^,jTrlttijj,j^^j^^^

^^

osw.

Musikschatz jener Völkerschaften in deren Besiegung der Held dieses Requiems, der Graf Damr^mont, sich die Lorbeeren der Geschichte erwarb. Das Orchester ant- wortet jenem stereotypen Chorsignal mit einem eben- so regelmäßig wiederholten, mysteriösen einzigen Ton aus dem Münde der Bläser. Das Hauptbild, welchem dieses symbolische Bruchstück primitiver Naturmusik eingewoben ist, besteht ' aus einer Fuge der Streich- instrumente. Rhythmus und Charakter ihres Themas: ' ^, ihr Aufbau,

^ixM JJIJ.3J.Jj ^>)IJJ f\^i}\ih^\ ^^^^f^}^^'

\i 6 "^ 7 iii»^ii'#iii ^3:^L-L-'^,^^ zen Anläufen

immer wieder von vorn an- setzt, erin- nern lebhaft

an eine Sisyphusarbeit. Wie stechender Sehmerz und fremdartig klingen die sforzatos und die liegenden Stimmen (auf d und a) dazwischen. Beim »Quam olim Abrahae« tritt Ddur ein, eine einfache elemen- tare Wirkung, erlösend nach dem langen Druck wie ein Ausblick ins Paradies. Nach Berlioz^ eigener An- gabe soll der Satz den Chor der Seelen im Fegefeuer verbildlichen. Einen ganz ähnlichen hat er in seiner Symphonie »Romeo und Julie« für die Bestattung Juliens geschrieben. Das »Hostias« (Nr. 8), das der Männerchor allein singt, hat Berlioz in einer Stimmung gehalten, die dem Worte »laudis« widerspricht. Es ist ein Lobgesang pro forma: Von Trauer halb erstickt psalmodieren und deklamieren die Stimmen schleichend dahin; am Schluß der Sätze erst, wo die Worte »memoriam facimus« kom- men, dringt Wärme der Empfindung, die warme Er- innerung an die Zeiten, wo die lebten, um die jetzt ge- betet und geopfert wird, aus den Tönen. Wie vom Grab oder wie Grüße aus Himmelsregionen begleiten Orchester- instrumente allein, die sonst nur in größter Gesellschaft zusammenkommen: Flöten und Posaunen. Durch dieses Akkompagnement erhält der Satz ein unheimlich fahles

307

4^'^^l,»,lJJlM'r^

•^ Hosanna inexcel.sis, h(

nrrpjy

excel.sis, hosanna in excel6is,ho

?

^

Kolorit. Das Sanctus (Nr. 9, Desdur) ist von den Sätzen des zweiten Teils des Werkes vielleicht der fesselndste, deijenige, in dem die poetische Absicht musikalisch am vollkommensten ausgeführt worden ist. Er besteht aus zwei Teilen: einem freien Wechselgesang zwischen Solo- tenor und Frauen Chor über die Worte > Sanctus deus Sabaoth, pleni sunt coeli gloria tua«, dem folgendes

Haupt- Andante un poco eostenato e maestosO;...,,^ MliO.

zu Grün- g^^A f ^ P | f f ^ IT f T P 1^ ^^ Chor-

de liefft* Sanctus, sanctus. <«,.sanCttus, sano . tus fuge

Über das »Osanna«. Der Sopran beginnt sie mit:

Aiifgro non troppo.^ ^ ^ m )^ ^ Beide Werden

repetiert. Die Fuge Über

»Osanna« erfüllt den

san.na,ho.8anna, ho san.na in ex . ceLkjs. Zweck eines

kräftigen Lobgesangs, beim zweitenmal leistet sie noch mehr und setzt mit einer glücklichen Steigerung die Seele des Hörers in Schwung. Das Sanctus aber hat in der neueren geistlichen Musik im Ausdruck visionären Entzückens wenig seines gleichen. Klangfarben, Rhyth- men, Modulationen und Melodien stehen alle unter dem Zauber einer großen stillen Schönheit, wie von dem An- blick einer wunderbaren Himmelserscheinung zugleich geblendet und erhoben. Der zehnte Satz Agnus dei (Anfang Adur, Schluß Gdur), mit einfachen, aber wie aus höheren Sphären herabklingenden Akkorden einge- leitet, kehrt mit dem Eintritt der Singstimmen zu dem »Hostias« zurück und wendet sich dann, ähnhch wie Süßmayer in Mozarts Requiem getan, mit dem Schluß- teü dem Introitus wieder zu. So ist Anfang und Ende des Werkes ineinander geschlungen und damit sein ästhetischer Wert nochmals bekräftigt. Er wird die Totenmesse des französischen Ultraromantikers noch längere Zeit im praktischen Musikleben erhalten. In der Geschichte der Gattung wird sie ihren Platz für

«0*

^ 308

immer behaupten, denn sie bildet in der dramatischen Richtung, die die Requiemkomposition seit dem 4 7. Jahr- hundert eingeschlagen hat, den Gipfel und zugleich die Krisis. Wohl hat man dem Berliozschen Requiem nach- gestrebt, aber noch mehr hat es mit seinen dramatischen Exzessen abgeschreckt und eine allmähliche Reaktion nach der liturgischen Seite eingeleitet

Der Zeit nach ist als die nächste Totenmesse, welche Yon dem Träger eines bedeutenden Namens herrührt, das BiEtohumaiuif Requiem von R. Schumann zu erwähnen: eins der Requiem, nachgelassenen Werke des Komponisten (op. HS). Auch die stark Schumannsche Strömung, welche im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts das deutsche Musik- ^ leben beherrscht hat, war nicht im Stande, diese Kom-

position flott zu machen. Es sind nur vereinzelte Auf- führungen zu verzeichnen. Alle Versuche der liebevollen Pietät scheitern an dem Mangel eines einheithchen Stils. Man kann dem Requiem dasselbe ''Streben nach Einfach- heit der kirchlichen Tonsprache nachrühmen, welche wir an der Messe Schumanns anerkennen müssen. Aber die Ausführung trägt die Spuren der Flüclitigkeit und Hast. Die Idiome sind wunderlich durcheinander geraten: auf streng und ernst durchgearbeitete Teile folgen Fort- setzungen, die wie italienische Waren aus der berüchtigten Periode des Guitarrenorchesters aussehen. Doch ist auch in den Sätzen, welche polyphon gehalten sind, die Er- findung und geistige Richtung zuweilen trivial; z. B. in »Te decet hymnus«. Man muß diese Sachlage um so mehr bedauern, als einzelne Partien des Werkes gelungen sind: so der Introitus; andere können als genial bezeichnet werden. Das gilt namentlich von dem ersten Satze des Dies irae, der mit sehr einfachen Mitteln hauptsäch- lich durch ein Motiv aus zwei Akkorden gebildet den Di;uck einer eigentümlich schwülen und zum unheilvollen Entladen reifen Situation veranschaulicht.

Ein Altersgenosse des Schumannschen Requiem ist F. Laohner, das von Franz Lachner. Am Anfang der siebziger Requiem. Jahre einer Umarbeitung unterzogen, hat es von da ab

längere Zeit die Konzertsäle durchzogen und eine sym- pathische Aufnahme gefunden. Es ist eine außerordent- lich schlichte und einfache Komposition, welche für den Geist des Textes überall die richtigen musikalischen Grundlinien findet. Der Stil einer älteren Periode lebt in ihr noch einmal auf: hauptsächlich nur mit seinen Vorzügen: einer verständlichen Melodik und mit an- mutsvollen Gesangformen. Die Solisten wirken in her- vortretender Weise; manchmal in gut angelegten, aber zu breiten Sätzen. Die Stelle, wo im Introitus das »Et lux perpetua« zum zweitenmal eintritt, und der An- fang des Dies mit dem übermäßigen Sextakkord sind die hervorragendsten Erfindungen des Werkes. Sie hinterlassen einen bleibenden und tieferen Eindruck.

Wir begegnen zuweilen der Klage, daß unsere Zeit neuen Tonwerken von ernster Richtung nicht günstig sei. Mit dieser Behauptung steht die Tatsache im Wider- . Spruche, daß einige unserer hervorragendsten neueren Tonsetzer ihren Ruf mit Messen begründet haben. Das war der Fall mit A. Becker und seiner BmoU-Messe. Auch J. Brahms trat aus einem engeren Kreise erst mit seinem »Deutschen Requiem« heraus. Das dritte leuch- tende Beispiel bildet F. Kiel, welcher im Jahre <860 mit F. Kiel, seinem ersten Requiem (op. 20) die größere Beachtung Requiem zunächst seiner Fachgenossen errang. Kiels »Christus« (Fmoll). ist populärer geworden als dieses Requiem. Der Vor- sprung beruht da in erster Linie auf dem Gegenstand und der dramatischen Form des Werkes: Auch wird man der Musik dieses Passionsoratoriums einen selb- ständigeren und durchsichtigeren Charakter zugestehen müssen. Aber von dem technischen Können Kiels, von ; seiner reinen und edlen künstlerischen Natur, von der Besonderheit seiner schöpferischen Fähigkeiten, gibt dieses Requiem einen genaueren Begriff.

Nach einer Orchestereinleitung, welche zur Hälfte Bachisch ist, setzt der Chor im Introitus sein »Requiem aeternam« im Tone eines friedlich frommen Trauer- gesangs ein. Schon das »dona eis domine« verläßt aber

in seiner ausbiegenden Schlußkadenz diesen Grundton. Der Charakter/ in welchem Kiel dieses Totenamt er- öffnen wollte, ist der- einer schwankenden Stimmung. Diese Musik tönt aus einem Herzen , welches nicht dar- über entscheiden kann, ob der Tod ein Verlust oder ein Gewinn sei, und die Fantasie scheint sich zwischen den Bildern der Hölle und des Himmels noch hin- und her- zubewegen. Daß die Wagschale zu gunsten des ver- trauenden Glaubens gestellt werden wird, lassen Ab- schnitte wie >te decet hymnus«, die Einführung und der Ausdruck des »exaudi usw.« schließen. Das Kyrie besteht aus zwei Abschnitten. Der erstere in gefaßter Stimmung gehalten, ruht hauptsächlich auf dem Motive

Andante cöBinotfl^ ^^^^ Seine Spitze, auch in der dem

*/tr H p' p 1* [ rT^ p 1 1*-^. Ausdruck gegebenen Richtung Kr^ti.0 e . lei . . soB bildet das erste »Christe elei- son!« Nachdem dies geschlossen, greift ein aufgeregterer Ton Platz. In den Orchesterbässen erhebt sich ein wühlendes Motiv. Die Bläser gehen über scharf akzen- tuierte Hülferufe in ein chromatisch abwärts gleitendes Thema über, das auch für die Singstimmen der Träger der Gedanken des zweiten Abschnitts wird. Eine schöne Beruhigungsstelle bildet auch- hier wieder das »Christe eleison«.

Die erste Nummer des Dies irae geht bis zu den Worten »Salva me, fons pietatis«. Sie besteht aus einer Reihe kleinerer Tonbilder, in denen durch selbständige Motive die vferschiedenen Begriffe der Textzeilen aus- gemalt werden. Ihnen allen ist ein spannendes und auf- regendes Element gemeinsam, welches von Bild zu Bild in einer neuen Verwandlung seine dämonische Kraft er- probt und steigert. Den höchsten Grad malerischen Aus- drucks erreicht dabei Kiel an der Stelle »coget omnes« mit einer aus Webers Freischütz bekannten Akkord- Modulation. Auch äußerlich sind diese einzelnen Bilder zusammengehalten, und zwar durch die Wiederkehr eines fest von den Blechbläsern gegebenen, auf einem einzigen Ton gebauten Weckrufes. Cherubinis Cmoll- Requiem^

* »

benutzt dasselbe Mittel, um die Fantasie auf die »Po- saunen des Gerichts« zu lenken. Das logische Ziel aller dieser Bilder enthält der demütig fragende Satz: »Quid sum miser usw.«, dessen Musik am Schlüsse der Nummer auf die zwei Worte : »Salva me« wiederkehrt. Die zweite Nummer ist das »Recordare«, ein Bittgesang in getra- genen Tönen, dessen größeren Teil die Solostimmen, gruppenweise abwechselnd, ausführen. Mit dem Einsetzen der Chöre zieht in das Tongemälde eine stärkere Erregung ein. Hier erhebt das Orchester schneidend akzentuierte Klagerufe; die sanften Melodien der Solisten umspielt es nur mit Motiven romantischer Unruhe.

Das »Gonfutatis«, die dritte Nummer, zeichnet sich durch die originelle Auffassung und die einfach packende Ausführung des Textbildes aus. Kiel läßt diese Szene der Verwirrung und Verzweiflung von einem allerdings dunkeln, aber zunächst ziemlich ruhigen Grunde aus- gehen. Es sind große Wogen, die sich in den Nach- ahmungen des breiten Cmoll-Motivs anfangs nur streifen. Alimählich rollen die Harmonien heftiger. Mit dem plötz- lichen leisen Eintritt |les Edur tritt die Krisis ein. Sie entfesselt den ganzen Sturm der Seelenangst bis zur vollen Erschöpfung. In die eingetretene Leere und Stille wird dann das »Vocame« hineingesungen. Bei der Wieder- holung der Szene erfährt der bittende Teil eine Ver- längerung durch das »orosupplex«, die in ihrer Eitifach- heit und durch die kurz entschlossene Wendung in das leise Cdur einen sehr schönen Abschluß des Satzes gibt. Das »Lacrimosa«, die vierte Nummer der Sequenz, singt der Chor in breiten Melodien. Aus ihrem akkor- dischen Gefüge klingen noch die Schrecken der vorher- gegangenen Szene nach. Das Orchester koloriert mit einem Bachschen Motiv. Kiels Tonbau verschmilzt in der Regel Neues und Altes, eigene Individualität und Anregungen großer Vorbilder. So ist im Ofifertorium »Domine Jesu Christe« das weiche, friedliche Violinen- motiv, welches das Erscheinen des heiligen Michael be- gleitet und sehr hübsch schon beim ersten Takte des

—-^ 312

Satzes ankündet, mit der gleichen Cherubinischen Stelle verwandt. Der Satz ist aber mit eigenen Ideen Ki^*s reich ausgestattet. Hervorragend sind besonders die Deklamation des Chores beim Anruf des Herrn und die kleinen Illustrationen, mit denen das »Löwenmaul«, der »Tartarus« und das »große Dunkel« skizziert werden. Die Fuge über »Quam olim Abrahae«, welche den Satz schließt, ist geistvoll durch den mit neuen Themen steigernden Aufbau, eigentümlich durcti die Behandlung des »promisisti«. Kurz vor dem Ende kommt dieses im fragenden Ton. Das einfach aussehende, doch kunst- volle »Hostias« verbindet sehr wirkungsvoll das Haupt- thema des »Quam olim Abrahae« mit einer im ruhigen Dankgefühl dahingleitenden, großgespannten Melodie, welche die Stimmen des Soloquartetts nacheinander vor- tragen.

Das Sanctus ist in einer höchst einfachen Feierlich- keit gehalten, in deren erhabenen Kreis auch die Worte »Pleni sunt« hineingezogen werden. Das Osanna (Fuge) drückt das Gefühl einer fortreißenden Freude mit einem Thema aus, welches in seinen springenden Intervallen dem ' des Schlußchores im »Christus« ähnlich ist. Die Wirkung des Benedictus ruht auf wesentlich koloristischen Mit- teln: dem Ineinandergreifen von Soloquartett und Chor. Ober Melodien und Motiven liegt ein zarter Glanz, der aber im Schlußteile, wo das Osanna in einer neuen musikalischen Variante erscheint, kräftigeren Farben weicht.

Das Agnus dei erreicht wohl unter allen Sätzen dieses Requiems die eindringlichste Wirkung. Es ist ganz kurz und einfach, aber von außerordentlicher Prägnanz in den Hauptmotiven. Die drei Akkorde, auf welchen der Chor sein »Agnus dei« wiederholt intoniert, setzen diesen Anruf in der Empfindung mächtig fest. Ebenso schön ist auch die Modulation des »dona nobis usw.« geleitet. Erst mit dem dritten Male kommt das As dur, und mit ihm kommt Ruhe ins Gemüt. Das Werk klingt mit dem »quia pius es« fromm und friedlich

343 ^—

aus. Das Orchester streut mit der immer wiederkehrenden Sechzehntelfigur über die ganze Szene einen geheimnis- ' vollen zum Träumen und Schlummern ladenden Zauber Einige Jahre vor dem Tode des Komponisten kam ein zweites Requiem (op. 80, Asdur) von F.Kiel in Um- F. Ki»^ lauf. Will man den Unterschied der beiden Totenmessen Requiem In As; Kiels kurz feststellen, so hat man der ersten größere Beweglichkeit der Fantasie, der zweiten aber ein stärkeres Paulos zuzusprechen. Die zweite ist sparsamer an Ideen, hält aber Stimmungen und Motive fester und führt sie in weitem Bogen aus: zuweilen allerdings nur formal. -Das neue Requiem bevorzugt breitere Bilder und ent- wickelt in ihrem Aufbau zuweilen eine Energie und Kühnheit, welche an Beethoven erini\em. Im Introitus und Kyrie zeichnet sich die Wiedergabe des >Te decet hymnus« durch den altkirchlichen Ton aus. Er beruht auf der Verwendung des alten Grabchorals: »Meine Seele erhebt usw.t, derselben Magnificatweise, welche auch Mozart und M. Haydn (im Bdur-Requiem] an dieser Stelle eingeführt haben. Im Eingang der Sequenz zeigt das erste Bild vom »Dies Irae« weniger Aufregung, als in dem frühe- ren Requiem Kiels. Aber der Hintergrund ist dunkler und spielt verdeckt in unheimlichen Farben. Auch der Efnst der Szene kommt mit schwererem Druck zum Bewußtsein. Das durchgehende Viertelmotiv der Instrumentalbässe und die breiten Posaunenstellen bilden die entscheidenden Züge in dem Bilde. Die ganze Auffassung der Sequenz ist litur- gischer, die Stellen, wo die Empfindung des Individuums den Bildern der Fantasie gegenüber zum Worte kommt, sind mehr in den Vordergrund gerückt, als im ersten Requiem. Das »Quid sum miserc macht Kiel in dem neuen Werke zur Spitze eines besonderen Satzes, wie es Berlioz in anderer Weise tut. Das »Recordare« und das »Lacrimosa« fließen in beweglicher warmer Melodik dahin. Derjenige Satz, in welchem die beiden Messen die Herkunft von demselben Verfasser am deutlichsten zeigen, ist das Offertorium. Den Vergleichungspunkt bildet die Cherubinische Achtelfigur, welche dem heiligen

^ 34 4 >—

Michael gilt. Einen der schönsten Abschnitte des zweiten * Requiems bildet die Einleitungspartie (Sostenuto,- 2/4) des Sanctus, welche an die feierliche Weise der alten Vokal- periode anklingt.

Die Totenmessen von Kiel spiegeln weder eine be- stimmte musikalische Individualität wieder, noch eine ' bestimmte Musikperiode. Nur ihr allgen^ein künstlerischer

Wert hat sie vor dem Los bewahrt, welches in der ' Regel Tönwerken beschieden ist, die ihren Verfasser und ihre Zeit nicht in deutlichsten Zügen künden. Aus dieser Gruppe der unbeachtet gebliebenen und schnell ver- gessenen neueren Requiems lohnt es sich eines heraus- Bi 8ohoh, zuheben. Es ist das von B.Scholz (op. 4 6, DmoU), eine Requiem Komposition, welche aus der liturgischen Gruppe beson- (DmoU). ders durch dieKnappheit und Bestimmtheit hervorragt, welche ihren ersten Sätzen in Ausdruck und Anlage eigen ist In dem poetisch besonders bedeutenden Schlußsatze dieser Totenmesse: im Agnus, wirkt am Ende eitte in D gestimmte Glocke mit.

Unter die Totenmessen von entschiedener Originali- tät, welche die gegenwärtige Generation hat entstehen sehen, ist auch das für Männerstimmen und Orgel ( stellenweise treten auch Trompeten, Posaunen und Pauten mit in die Begleitung ein -^) geschriebene Re- F. Liszt, quiem von F. Liszt mit einzureihen. Nur geht es in Requiem für der beabsichtigten Kargheit und Herbheit des Ausdrucks, Mäimer- in der Verwendung deklamatorischer Aphorismen, Inter- ^mmen. jektionen und in skizzenhaften Andeutungen etwas weit. Unter den schönen und eindrucksvollen Abschnitten des Werkes, welche auch im Stil sich gewöhnter Kunst nähern, verdient das »Recordare« hervorgehoben zu werden.

Dem Requiem liszts folgte als eine der nächsten Ar- beiten auf dem Gebiet der Totenmesse das »Deutsche Requiem« von Joh. Brahms.

Es gibt deutsche Requiems schon von den »Exequieilk H. Schützens ab, aus dem 4 9. Jahrhundert haben wir eins von Ferdinand Schubert, dem Bruder des großen Franz Schubert, weitere von Henkel, Moralt und anderen

V.

Tonsetzern. Während aber diese den Zusammenhang mit dem liturgischen Text aufrecht erhallten, hat Brahms eine Trauerfeier in einem ganz eigenen und neuen Stile gebildet, die in ihren Formen gar keine, in ihrem Wort- inhalt nur ganz allgemeine Berührungspunkte mit dem alten Requiem teilt. Das katholische Totenamt ist in sei- nem Ziele eine Fürbitte für die Ruhe der Entschlafenen. Das Requiem von Brahms gleicht einer Predigt. Die Worte, frei Yom Komponisten aus der Schrift gewählt, bilden eine Reihe feierlicher, gemütreicher und fantasievoller /Betrachtungen über Diesseits und Jenseits, über Men- schenlos und himmlisches Leben. Diesem Thema, mit seinem ans Herz greifenden Gegensatz, hat Brahms sich auch später wieder zugewandt, im > Schicksalslied«, >Näniec, dem »Gesang der Parzen«, in den »Vier ernsten Gesängen«! Es hat schon dem Fünfundzwanzigj ährigen den charaktervollen, ergreifenden »Begräbnisgesang« ein- gegeben, es klingt auch aus vielen seiner bedeutendsten Instrumentalkompositionen heraus, am stärksten aus der vierten Symphonie bis an die äußersten Grenzen des Verständlichen. Im Requiem ist es nur in besonders' breiten Formen und mit dem ganzen Aufgebot der seeli- schen und künstlerischen Kraft des Tonsetzers behandelt Hat es ja der trauernde Sohn der heimgegangenen Mutter geschrieben. Doch dachte Brahms ursprünglich, wie der erste auf die Rückseite des Manuskripts einer Magellonen- romanze geschriebene Textentwurf*) beweist, nur an eine dreisätzige Kantate, die mit »Wie lieblich usw.« schließen sollte. Die andern Nummern sind nachkomponiert Das fertige Werk gab seinem Schöpfer von den ersten Auf- führungen ab (in Zürich und 4868 im Dom zu Bremen) seine Stellung in der Musikwelt; auch für spätere Zeiten wird der Name J. Brahms in erster Linie mit dem Deut- schen Requiem verknüpft bleiben.

Die sieben Abteilungen des Deutschen Requiems sind sämtlich Chorsätze; nur in drei von ihnen finden

*) Im Besitz des Herrn Dr. Max Kalbeck in Wien.

34 6

J. Brahmi. sich Solopartien eingefügt. , Ihrem Inhalte nach bilden Ein dentBcheB die Sätze eins bis drei die erste, diejenigen vom vierten Requiem, bis zum letzten die andere Gruppe des Werkes. Die erste enthält die Klage, die zweite den Trost.

Der erste Satz: »Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden c hat die Bestimmung einer Art Einleitung, eines Introitus. Seine Worte sollen die Richtung der ganzen Trauerfeier im Sinne eines Motto feststellen. Dazu sind [aber die Herzen das scheint die Idee der Komposition ^zu sein wohl bereit, aber noch nicht fähig. Die Botschaft begegnet noch dem Zweifel und das Gefühl des Leidens macht gegen den zuversichtlichen Ausdruck der frohen Kunde sein Recht alle Augenblicke geltend. An einer Stelle, in der zwei- mal vorkommenden Des dur- Episode: »Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten €, feiert de?r freudige Glaube einen kurzen gewaltigen Sieg; an den anderen überwiegen und unterbrechen die Töne des Leids in ein- dringlichen und eigen geformten Wendungen.

Unter ihnen heben sich zwei besonders heraus: die absetzende Deklamation der Worte: »Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden«. Die Be- griffe, »Selig sind«, »Leid tragen«, »getröstet werden« kommen, alle durch Pausen unterbrochen, stockend und zögernd, wie aus schwerem Herzen, aus einem Gemüt, das mit den Tränen kämpft. Und wenn der Satz wirk- lich einmal hintereinander gesungen wird, da wechseln die Lichter, die die Akkorde darüber werfen, fast un- stet. Der Schluß der kleinen Orchestereinleitung gibt diesen schwer wogenden Seelenzustand in drei Takten wieder, die beim ersten Hören nicht immer klar werden :

Ziemlich langsam und mit AuBdrnek.

usw.

TTTT

Trrr ff?

Einen Hanpt- teil an der musikalischen Wirkung die- ses ersten Sat- zes weist der Komponist

an

dem Kolorit des Orchesters zu. Wie M^hul, Cherubini, Hauptmann u. a. das in geeigneten Fällen getan haben, hat Brahms auf die Geigen verzichtet. Die Bratschen wie die Celli häufig geteilt fähren den Streicherchor; die hellen Farben fehlen also. Einfach- aber hervor- tretend ist, die Harfe verwendet.

Der Aufbau des Satzes vollzieht sich fast in der Art. der da capo-Arie: dreiteilig. Der erste Teil bringt den Text bis zu den Worten »getröstet werden« in Fdur in sehr einfachen, aber stark in Gefühl getauchten Wei- sen. Ein kleiner Seitensatz, von der Oboe eingeleitet:

-Q ^,-— T":. •^ ^®^* ®^^^ hervor und ihm zu-

Zl> ^ J J I # p p ^ I I nächst das in der ganzen •^' -^^"^ Nummer durch Wiederholun-

gen und breitere Entwicklungen wichtige Motiv, über das die Ghorstimmen die Worte »getröstet werden« singen: *

Der zweite Teil bringt den ganzen

\

Aly J p#"| o IJ" Übrigen Text von »die mit Tränen •^' ' säen« ab bis zu »und bringen ihre

Garben«. Wie e^ von dem ersten Teil dadurch, daß er in Desdur steht, sich äußerlich scharf scheidet, so tut er das auch im Charakter. Von der Ergriffenheit, die dort Sprache und Ton zu fesseln und zu unterdrücken droht, ringt er sich durch zu einer

die in den Abschnit ten über das Motiv: sich dem Jubel nähert. Von Tränen gingdie Stimmung aus'; still und schnell geht sie zur Traurigkeit zurück. Noch ein- mal, diesmal eingeleitet durch die Worte »Sie gehen hin und weinen«, deren Tonweise, das Material für die Or- chestereinleitung des Satzes und für Zwischenspiele gibt

vollzieht sich dieser Auf-

ch durch q /j t._ .Vi- f— i Erhebung, ^fcHiJ '^P P | L J H iJ

wer.den mit Freu. den ern.ten kommen mit Freuden, mit Freuden

^^'■^''iriifr^

j 17] "^ Schwung; dann schließt der Mittelsatz auf »Gar-

ben«. Seine Mxisik zeichnet ein großer Reichtum an Bildern aus: Auf »Weinen«, auf »Freuden« hat Brahms sprechende und lang im Herzen nachklingende Figuren

3f8

erfunden. Ein Motiv, das den Teil anfängt und lange Strecken in erster Linie trägt, ist unmittelbare Gebärden- musik, ein tö- fl vr^ j-pv I Der dritte Teil der nendes Bild des Al> \^Z Ct H' H' I Kummer ist Wie- Schluchzens: «X I T f f '^^' ^ derholung und Va- riation des ersten. Er setzt in Desdur ein, kommt aber in wenigen Takten zur Haupttonart herüber. Neu ist in dieser Wiederholung, daß an einzelnen Stellen die Instru- mente, die Bläser, den Melodiesatz haben, während die Singstimmen dazu frei und p . ^ . ^ ausdrucksvoll deklamieren, m^ i 1 1 | pf | J ^ . die eine nach der andern: ge.tröstet wer.den

Die zweite und dritte Abteilung des Werkes sind, auf den Text hin angesehen, verschiedene Ausführungen des- selben Grundgedankens, Sie behandeln auf beschränktem Räume denselben Gegensatz, welcher die Generalidee des ganzen Wei^kes bildet: den Gegensatz zwischen hier und dort. Gemeinsam ist beiden in der Behandlung des Vor- dersatzes der Ton der Klage. Nur hat die Klage in der zweiten Abteilung das Wesen einer starren, ins Unver- meidliche sich fügenden Resignation; in der folgenden aber einen tief erregten und leidenschaftlichen Charakter. In der Haltung der Nachsätze ündet das entgegengesetzte Verhältnis statt: der der zweiten Abteilung ist ein nuancen- reiches bewegtes Bild, den des dritten Satzes kennzeich- net eine großartige Gleichmäßigkeit. Diese beiden Abtei- lungen und namentlich ihre Vordersätze tief greifende, düstere Ergüsse eines männlich echten und wahren Welt- schmerzes — sind diejenigen Partien des Requiems, auf welchen in erster Linie sein eigentümlicher Wert beruht. Die zweite Abteilung »Denn alles Fleisch, es ist wie Gras usw.« (BmoU-Bdur) ist in ihrer musikalischen Form die eingänglichste des ganzen Requiems. Sie ^at in der ersten Hälfte (Bmoll) ein Thema, welches trotz des Dreivierteltaktes eine Art Marschcharakter besitzt: t«ng««m Von dumpf enBaß-

J _n. I I ^ Signalen eingelei- ^-^i^A, tet, klingt es aus

^^'iMrirQ.|ir.ci.

349

der Ferne heran und ruft das Bild ein^s gemessenen Schrittes sich nähernden Trauerzuges vor die Fantasie. Es stammt schon aus den 50er Jahren und war als »langsames Scherzo« für eine Symphonie bestimmt, die ßrahms durch Schumanns Geschick erschüttert entwarf. Der harte, resig- nierte Ton dieses Themas ^ , ^-^, ••x^ geht mit dem bewegte- fem ^jj|7* \^J '^ fTl ren Motiv des Nachspiels ^ ^> ^=- in einen weicheren, mild wehmütigen über. So spie- gelt sich im ersien Thema der romantische Grundzug des ganzen Satzes. Die Melodie des Chores, dem Or- chestersatz aufgeschrieben, klingt doch wie eigens für die Worte erfunden: mächtig ernst und altertümlich: '^ , Langsam. Daß sie vou dem

Denn aLles Fleisch es ist ein Gras und al.le

^

r rir'TirJ

Stimmen vorge- tragen wird, hebt noch ihren Cha-

Herrlichkeit des Menschen wie desGrases Blume, fakter. Lieblich

klingt _die kleine Episode: .>Das Gras ist verdorret« da- gegen. Der von dem Marschthema getragene Satz wird in mehrfachen Wendungen wiederholt und über gewaltige Crescendi zur vollen Größe von Klang und Inhalt auf- gerollt. Die Mitte der langen Entwicklung nimmt der zarte, wie von oben herab sanft zusprechende Chorsatz (Gesdur): >So seid nun geduldig usw.« ein, dessen Schlußhälfte wunderbar hübsche und einfache Anspie- lungen auf den »Regen« enthält. Der Achtelrhythmus der Harfe und Flöte und das pizzicato der Violinen führt sie aus. Der Chor lauscht in ruhigen, wohligen Harmo- nien. Das Hom ruft mit leisen ernsten Tönen aus dieser Idylle hinweg und nun repetiert der Marschsatz. Den Übergang zum zweiten Hauptabschnitt des Satzes hat Brahms sehr gewichtig hingestellt. Das >Aber«, wel- ches diesen kurzen Übergangssatz einleitet ist mit der Entschiedenheit betont, mit welcher Seb. Bach die Bindewörter auszuzeichnen pflegt. Den. wichtigsten Tr$lger des zweiten Hauptabschnittes bildet das Thema:

3S0

Allegto no» t^oppo.

fpxjiif r n^^ Schluß

lö. seLten des Herrn werden wiedaikonimen NaCQSJ

andgen Zi.un, und genZi.on kommen mi

m

mit Jauchzen.

Seinen Ab- und Nachsatz bil- det eine frei konstruierte Periode über

die Worte: »Freude, ewige Freude wird über ihrem Haupte sein«. Sie holt mächtig aus und trägt das Hauptwort von Akkord zu Akkord, in der Melodie, die der Tenor führt:

.g ijr.p ^ .r r .r kühn ansteigend. Als

y"r J r |T p i 1 1 p l ll p M die spitze erreicht ist,

e.wLge Freude, e.wLgeFreudfr tun Modulation Und

Dynamik einen kühnen Ruck, wie das Beethoven zuweilen liebt. Aus dem höchsten Jauchzen geht der Ton in den ruhigen und zarten Ausdruck innerer, stiller Seligkeit über:

^m

«

i'iip I \i^'i

¥

M

W

t[

Die Stelle prägt sich unauslöschlich ein, sie bleibt für je- den mit dem Begriffe Brahmsscher Musik untrennbar ver- bunden. Der Mittelsatz, welcher auf die Worte »FrjBude und Wonne werden sie ergreifen« ein neues Thema

tJ/-^ , 0 iliF", n-r, ..11 ;gf-Ttnr- das wir gleich beim y 1 r r I ' rfj't jljj^ 1^111 Eintritt doppelt hö-

Preudeund Wonne werden sie er i grei . fc ren (einfach im So- pran, in der Verlängerung im Tenor) frei durchführt, ist an glücklichen, romantischen Kontrasten, welche dem eben geschilderten ähnhch sind, reich. Der Komponist hat sich in ihm dem Ausdruck der einzelnen Worte zu- gewandt: die Freude, der Schmerz, das Seufzen bilden eine lebendig bewegte Gruppe selbständiger musikalischer Figuren. Mit Naturtreue ist die Vertreibung der trüben Elemente geschildert; das »weg« und das »müssen« in dem Sätzchen »und Schmerz und Seufzen wird weg müssen« ist mit mimischer Entschiedenheit und Deut- lichkeit wiedergegeben. Bei der Repetition des Haupt- satzes »Die Erlöseten usw.« nimmt der Ausdruck der

PP

V

J

Freude für Augenblicke einen förmlich trotzigen Aus- druck an. Die Stimmen setzen nicht in breiten Ab- ständen, sondern in kürzesten Engführungen ein, ein kompakt vierstimmiger Satz ist an die Stelle der Fuge getreten und zeichnet ein Bild des Jauchzens, in dem Sopran und Baß in grimmigen Dissonanzen frohlocken und die Stimmung bis zur äußersten Grenze des Er- laubten treiben. Nachdem dieser Teil mit einer gewalti- gen Steigerun j^ und in jener kontrastierenden Wendung der Ekstase geschlossen, welcher wir bereits gedachten, kommt noch ein Anhang. Seine träumerisch beschwich- tigende Natur, sein Einlenken in ein letztes volles Be- kenntnis glücklichen Hoffens sind von hinreißender Schönheit Technisch ruht er vorzugsweise auf dem Fugenthema, das aber die Instrumente allein durch- führen, die Singstimmen deklamieren frei und aus- drucksvoll dazu. Die Anlage ist also ähnlich wie am Ende des ersten Satzes. Ganz am Schluß steigen in den Violinen Tonleitern hinauf und hinab, so wie in Beethovens »Missa solemnis« (im Credo] den Weg zum . Himmel zeigend.

Die dritte Abteilung »Herr^ lehre mich doch usw.« (DmoU Ddur) steht zu dem vorausgehenden zweiten Satze in dem logischen Verhältnis der Steigerung. Es ist, als ob hier die Glieder einer Gemeinde einen in der Predigt allgemein hingestellten Spruch auf das eigene Los anwendeten. Der Satz von der Vergänglichkeit des Menschen gilt auch Dir. Auch mit Dir hat es ein Ende! Und da wird das Herz von Angst ergriffen. Es liegt eine . starke Beklommenheit der Seele in dem Gesang, mit wel^ chem der Solobariton den ersten Hauptabschnitt (DmoU) dieses dritten Satzes eröffnet. Der Rhythmus hat in sei- ner Verteilung der Akzente etwas unsicheres, die Melo- die in ihrem absetzenden Aufbau, in ihrem jähen Wechsel Von Auf- und Abgehen ein unstetes Element. Und wenn der Chor die Worte des Vorsängers aufnimmt, so gibt er die Töne der Niedergeschlagenheit bloß noch schwerer wieder. Besonders aufregend spricht der Zug der

ir, I. 91

3ÜS

Seelenangsfaus dem Mittelsätzchen (Bdur) »Siehe, meine Tage usw.«. An seinem Schlüsse kommt eine erschütternde Stelle vor: da, wo das Tutti, schrittweise zu einem elementaren Aufschrei (Sopran a) gedrängt, plötzlich in die Tiefe sinkend leise Andante.

abbricht. Das Orchester j^L -l K^fff r^^n^lti^TT^] i .bringt in dieser Partie die ^.^ ^ 1/^ l_ 1 1 Tlf^ J I Erregung mit dem Motive: ^ :zzi=i=«—

zum eigenen Ausdrucke. Noch oft zucM dieses echt Brahmssche Signal der Leidenschaft im Satze schmerz- lich auf. Der zweite Abschnitt: »Ach, wie gar nichts sind alle Menschen usw.« (Ddur, ^/fij lenkt aus der Angst ums eigene Ich wieder zurück in den tröstenden Kreis der allgemeinen Betrachtung. Nun fließt die Klage breit dahin: wehmütig ernst und ergreifend. Mit dem Ein- tritt der Frage: »Nun, Herr, wes soll ich mich trösten«

tritt derSo- lobariton

, mich trösten? ab und der

Chor führt den Satz allein bis zum Ende weiter. Mit diesem weit ausholenden Thema kommt in die Stimmen wieder ein aufgeregter Geist, eine unheimliche Energie, die am Ende sich dem Tone der ratlosen Verzweiflung noch einmal nähert. Die Stimmen rufen es mit aller Gewalt hinaus. Dann scheinen sie zu lauschen, und als keine Antwort kommt, fragen sie noch einmal kleinlaut und leise »Wes soll ich mich trösten?« Im Orchester zittert der ungelöste Akkord noch lange fort. Dann setzt der entscheidende und erlösende Gedanke »Ich harre auf dich« wie eine plötzliche Eingebung in Form einer Kadenz ein. Die Stimmung schwingt sich auf und ergreift von den Verheißungen des Glaubens einen festen Besitz. Eine Fuge über das Thema:

54-'-M*jjii ^*f |i |iirT|iii| fr I

Nun Herr«nttnHeriv. wes soll ich mich trösten, mich tröstei

^^^^m

n OottesHandund keineQual rQh . ret sie ml

DerO-ereohtenSeelen sind in

bildet diesen dritten Hauptabschnitt, den Schluß des Satzes. In der Literatur der kontrapunktischen Spezialitäten hat

323

diese Fuge bereits eine Berühmtheit erlangt. So lange sie dauert (86 Doppeltakte) tont in den Bässen derselbe Ton: das tiefe D als sogenannter Orgelpunkt. Seiner Zeit viel bestritten, belobt und kommentiert, hat- dieser Orgelpunkt im Laufe der Zeit das Schicksal anderer außerordentlicher Einfälle erfahren: Niemand kann sich das Requiem mehr ohne dieses eigentümUche Tonsymbol der Ruhe und Stetigkeit des göttlichen Thrones denken. Nur soll der Pauker bei der Ausführung daran denken, daß hinter dem f ein p steht!

Mit dem vierten Satze: »Wie lieblich sind deine Wohnungenc (Esdur) ist die eine Seite der Trauerfeier erledigt: Klage und Schmerz sind bezwungen und die Fantasie wendet sich nun dem Gewinn zu, welchen der Tod den Menschen bringt. Der Satz bildet den Obergang nach dieser Seite. Er spricht in zarten Tonbildern, die auf dem Thema:

Wie lieblich suid deine Wohnangen,Herr Ze , . ba.oth,HerrZe.t>a.oth.

und seinen reichen und schönen Umbildungen ruhen, von dem lieblichen Leben beim Herrn Zebaoth. In den mittleren Teilen, bei den -^ noch mehr

Worten' »Meine Seele y%\ p YfY^ f I ' f bei dem verlanget und sehnet« verlanget and seimet zweiten Sei-

tensatz »Die lo- ben dich immer- dar«

die lo

■^^^'''/';Wy'iL"t^

ben dich im.mer. dar

die io . ben dich im.mer.

Er

wird der Ton ein begeister- ter. Auch hier finden

wir jene eigentümlichen Züge der Darstellung wieder, wie in dem Schlußteile des zweiten Satzes: Der höchste Enthusiasmus geht in den Ton einer seligen Ruhe über. Der fünfte Satz: »Ihr habt nun Traurigkeit« (lang- sam, C* Gdur) verbindet mit dem Chor ein Sopransolo. Dieses Solo ist gedacht wie die Stimme einer abgeschie- denen Seele und spricht in himmlischen Klängen vom

21*

—^ 3«4 ♦—

Wiedersehen and f on Freuden, welche niemand nimmtr Brahms hat mit dieser Nummer auf eine alte deutsche Begräbnissitte Bezug genommen: den sogenannten > Wie- derruf«.- War der Sarg hinabgesenkt, so trat ein Chor- knabe an den Rand der Gruft und sang einen Vers oder mehrere im Namen und im Sinne des Verstorbenen. Jedes ältere Gesangbuch enthielt hierzu geeignete Gedichte; auch von Simon Dach besitzen wir welche. Ein ungemein herz- licher Ton lebt in der Melodik dieser fünften Nummer, namentlich in dem Mittelsatze »Sehet mich an«. Das ist der Ton »wie Einen seine Mutter tröstet«, von dem der Chor im leisen Flüstern spricht. Dabei ist die Dekla- mation an bedeutenden Einzelzügen reich. Wir machen nur auf die Betonung des »Aber« und auf die Tonfiguren aufioierksam, in welchem der Begriff »Traurigkeit« wieder- gegeben ist. Der Hauptsatz an /> i^_ ^— . i hat Stellen von sehr kunst- A^H|» IT I. T T If f^ voller Arbeit. Der Chor singt: ^ ich will Eiush tröi.ien das Orchester begleitet ^ ^ ^^ #"rT^j> und doch mit denselben Noten nur ffc* rrflirff*"* i«^, di« in verkürzten Weisen: ^ U* ^ " ' " rf J Wirkung eine sehr einfache.

Der sechste Satz: »Denn wir haben hier usw.« (An- dante, C) Cmoll) ist der Anlage nach der bedeutendste. Er beginnt mit einem kurzen Sätzchen in Dreiklängen, wel- ches zwischen Dur und Moll umherirrend, den Begriff des »Suchens« zu veranschaulichen scheint! Es ist, als ob der Chor trotz allem wieder in den Ton der Klage zurück- fallen wollte, welcher den ersten Sätzen des Requiems eigen ist. Da mischt sich die Tonart springt schnell nach FismoU ^ der Solobariton drein: »Siehe, ich sage Euch ein Geheimnis«. In Weisen, deren mystischer Charak- ter namentlich a * « hm gu . rr-> . . . . r—

durch die FJgu- ^VTf'r if^fl J U J^J J IJJ 1 ^ ren der Bläser ^ ^^ = ==— '»^-CLl ^^^ ^i>t> Nachdruck erhält, verkündet er das Wunder der Auf- erstehung. Der Chor spricht die Worte zunächst nur mechanisch, wie träumend, nach. Erst, als der Solist

-^ 325 ^—

genau »die Zeit der letzten Posaune« nennt, 'wird der Ton mit einemmal ein lebendiger. Dieses Wort hat eingeschlagen und jetzt kommt der Abschnitt, in welchem das Deutsche Requiem der alten katholischen Totenmesse ' auf einen Augenblick näher tritt. Die Szene könnte im Anfang einen Abschnitt des Dies irae bilden. Mit einer Kraft, welche zuweilen die Wildheit streift, versenkt sich der Chor in das Bild des errungenen Sieges über Tod und Grab. .Der Rhythmus ist in 3/4-Takt über-, die Tonart nach CmoU zurückgegangen. Geschlossen und fest wie ein Heer, das zum Sturm anrückt, singt der Chor:

Denn es wird die Vo . ■aun er . schal ten.

Vivace.

^^^

Den inneren Schwung, der in diesem Hymnus lebt, sprechen in Eccardschen Zungen die Mittelstimmen aus; noch gewaltiger, fast erschreckend strömt die Kraft, die dieser Glaube gibt, aus den Unisonoüguren, in denen sämtliche Streichinstrumente begleiten. Trotzig und kühn herausfordernd klingen die Fragen: »Wo ist dein Stachel usw.?« Schließlich, fallen die Posaunen mit ein in die donnernden Anreden an Tod und Hölle. In Rhythmen, die wie Stein und Erz in die Herzen schlagen, geht der Satz majestätisch über nach Cdur und in die das Ganze krönende Fuge über das Thema:

Allegro.

^ Herr, da bist - wür.diff, su nehmen Preis und Eh . re andKra

Herr, du bist -wür.dig, su nehmen Preis und Eh . re and Kraft

Wundert man sich schon, daß nach einem so kolossa- len Anlauf noch eine Steigerung möglich war, so gibt uns der Aufbau dieser Fuge in seinen Steigerungen, in der Menge von frischem anregender Kontra- punkte immer neuen Anlaß zur Bewunderung. Das Schönste in ihr sind aber doch die einfachen Episo* den fromm getragenen Charakters bei den Worten:

i'

326

»Denn Au hast alle Dinge erschaffen usw.« Die erste:

Allegro. -^ j^^ j , ^Ö"^°^^ »»<^

f

Denn du hast

W

^P f Durchführung des Fugenthe-

le Dinge er.8diaffen ^^ ^^^ ^^j.

schwindet sofort wieder. Der zweiten und dritten:

fl ^ . ^'"■fn/^. , p. ^ . gehen gewaltige ^" ° |l [' \^A \IV i^f^l^^^^^ Anläufe vorher,

'ungen sei- q . i , i w*® ™" a armen

Schluß- ^ J I J It J ^J f I pi|J und Zinnen ge-

ivs: ^ Ä"' nehmen Preis und fehire krönt ZU schwin-

' Denn du hast al.-.le ^ Din. ge er. schaffen bei denen die

Bildungen über das Hauptthema durch besondere Durch- führungen sei- _j ^ wie mit Türmen

nesv motivs

delnden, in die Wolken reichenden durch Trug- schlüsse im ff markierten Höhen geführt werden.

Nach diesem Lokgesang stehen wir am Ende der Trauerfeier. Der letzte Satz des Requiems (feierlich, C) Fdur) zieht die Konsequenz der vorausgehenden mit den Worten »Selig sind die Toten« und an der Seligkeit der Toten können »die da Leid tragen«, diejenigen also, von denen der erste Satz des Requiems ausging, ihren Trost, ihre eigene Seligkeit finden. Das Requiem schließt auch in der Musik in der Zirkelform eines ma- thematischen Beweises. Als in unserer siebenten Num- mer der Hauptsatz eben wieder aufgenommen worden ist, hören wir die Worte: »Selig sind die Toten« auf die Melodien, zu denen im Anfang des ganzen Werkes gesungen wurde: »Selig sind, die da Leid tragen« und so schließen sich Ende und Anfang zusammen.

Die Anlage Feierlich.

dieses Schluß- it^/^\f%T^^ i I _ a i I _ i

Satzes ist wieder OP^" " ^ f T '.^ T f ' f T '^ T

drpitpiliff Dpr - v^. sind die To . ten,die indem

dreiteilig. Der

S :«"eiS; Pill r"rn-?f r | , r^fe^

breiten Melodie, Herren ster . . ben von nun an. von nun aa

die den Sopranen von den Bässen nachgesungen wir^.

327

Sie ist in Ruhe und Glaubenszuversicht breitgestimmt Doch erzählen uns die Triolen

von einiger Erregung, noch mehr ffi|l> Vri IJJJJIlJ^ die altertümlichen Sammelmotive, ^ ^iJJj-V'LJ'

_, ,

mit denen die Geigen begleiten: «^

Als alle vier Stimmen dann die Worte weiteren Be- trachtungen unterziehen, brechen versteckter Schmerz und Klage in den Akzenten um die Worte »Die Toten, die Toten« offen hervor. * Aber wunderschön führt der Komponist in den Ton der Ruhe, der Ergebung und des Gottesfriedens bei »von nun an« zurück. Es sind lauter kurze und doch volle Wendungen. Alles ist da be- achtenswert und tief gemeint, auch die ' kleinen drei- taktigen Nachspiele des Orchesters; noch mehr aber die mystischen Akkorde, mit denen die Posaunen bei den Worten »Ja, der Geist spricht« einsetzen, eine Stelle, die den EmpfängHchen durchs Leben begleitet! Sie kehrt im Mittelsatze unserer Nummer nocl^ einmal zurück.

Der Zweck dieses Mittelsatzes ist, sich in die Worte »daß sie ruhen« au vertiefen. Die Musik eilt mit dem schnellen Schritt, über den Brahms in geeigneten Fällen verfügt, von den Gräbern hinweg. Wir sind mit einemmale in Adur und in ähnlichen Regionen wie die, in denen sich der vierte und fünfte Satz des Requiems bewegen. Wir sehen die Toten im Himmel bei balsamisch weichen und verklärten Melodien, die im wesentlichen aus folgendem Thema genommen sind:

flA.i^^rfi> "^.m^^ i .T^ ^=^ ^ ^®^ Streichin- fe » rirrrrirf f J IJ J ^Ti^ J strumenten deuten

dsQ— sie ru.hen von ihrer Ar . beit durchgeführte Ach-

teltriolen auf ein freieres und leichteres Dasein. Auch dieser Mittelsatz ist knapp gehalten: Drei oder viermal fahrt er den Text vorüber, dann kehrt ohne alle Weit- schweifigkeit der Hauptsatz wieder, der dritte Teil der Nummer ist da. Er verläuft ziemlich wörtlich wie der i

erste bis au die Stelle, wo dort die Posaunen und die ]

Worte: »Ja, der Geist spricht« einsetzen. Statt ihrer nimmt der Chor die Worte: »Selig sind die Toten« in

'•».{•«tÄ..

.--^ 3«8 "»>—

einem befremdend erregten Ton auf: Triolen und pldtz- lieber Obergang nach Esdur. Ist es ein letztes Auf- wallen des Schmerzes? Aber mit einem Machtwort wird diese Erregung beschwichtigt Die Musik des ersten Satzes setzt ein und bringt das Gemüt zur Ruhe. Q. Verdi, Im Jahre j874, am ersten- Jahrestage des Todes von

Reqaiem. A. Manzoni wurde im Dom zu Mailand für den großen Dichter die offizielle Totenfeier gehalten. Mit der Kom- position des Requiem war von Seiten der Stadt Italiens größter Musiker: G. Verdi beauftragt. In Deutschland wird zurzeit nicht nach neuer italienischer Kirchenmusik gefragt. Wenn man in diesem Falle eine Ausnahme machte, so war sie hauptsächlich dadurch begründet, daß die unlängst bekannt gewordene Aida Verdi auf einer neuen und einer höheren geistigen Stufe gezeigt hatte. Das Requiem kam in Deutschland schnell in Umlauf und erfahr die verschiedensten Beurteilungen. Mittler- weile hat scheinbar das Geschick zugunsten der Wider- sacher dieses Requiems entschieden: Wir hören nur noch selten von ihm und sehen es nur ausnahmsweise auf den Programmen unserer Chorvereine. Die ungeheuren Kosten des Aufführungsrechts sind daran zum Teil schuld. Denn an und für sich verdient das Werk sehr wohl gekannt zu werden. Es ist eine leichtgefügte, durchsichtige Kom- position, welche den Charakter der italienischen Kunst fast nur von seiner vorteilhaften und beneidenswerten Seite veranschaulicht. Die Überlegenheit, welche die Italiener in der Kraft, Schönheit und Bestimmtheit des melodischen Ausdrucks vor anderen McTsiknationen vor- aus haben, ihre große Begabung in der Wirkung mit ein- fachen Formen spricht aus diesem Requiem mit neuer Deutlichkeit und ohne daß wir durch trivialen Miß- brauch dieser Gaben gestört werden. Ein milder, wenn auch nicht im deutschen Sinne immer kirchlicher, jedenfalls aber durchaus frommer und ernster Geist be- herrscht das Werk. Dabei ist es entschieden modern: ohne Effektsucht, aber mit schöner poetischer Wirkung sind in seiner Architektur und seiner Instrumentierung

—-fr 329 ^>—

musikalische Ausdrucksmittel verwendet, welche erst die neue Zeit, R. Wagner folgend, systematisch zu gebrauchen begonnen hat.

Unter denjenigen Abschnitten dieser Totenmesse, welche von der in Deutschland herrschenden Auffassung am ersichtlichsten abweichen, zeichnet sich der erste Satz am meisten aus. Der Ton, in welchem hier vom Tode gesungen wird, entspricht ganz dem liebenswürdigen kindlich gläubigen Zug, welcher dem italienischen Volke eigen ist. Von jeher finden wir in dem italienischen Musikdrama die Sterbeszenen in einer rührenden Mischung von Wehmut und verklärter Freundlichkeit gehalten. Man denke an den Schluß von Monteverdis berühmtem Combattimento , man denke an Verdi selbst, an den letzten Gesang seiner Azuzena, an den fünften Akt der Aida. Aber auch Palestrina und die Fürsten der alt- italienischen Kirchenmusik singen in diesem Ton vom Himmel und vom ewigen Leben, grundverschieden von Lasso und von deutschen Zeitgenossen. So ist auch dieser Introitus des Requiems behandelt: ein freundlich elegisches Bild des Todes, wie wir es an dieser Stelle in der deutschen Literatur nicht gewohnt sind. Jomelli bietet das nächste geschichtliche Seitenstück. Wie wun- derbar schön teilen sich hier die Klage und ein zartes Himmelsschwärmen in die Aufgabe und reichen einander die Hand. Erst kommt in den einsetzenden Motiven der Bässe, in dem resignierten Hinsprechen der Singstimmen, in der Melodie der Oboe der Schmerz zu maßvollem Aus- drucke. Dann löst ihn mit den Durtönen des >et lux usw.« der Trost sanft ab. Im >Te decet« scheinen die Rollen ge- tauscht zu sein. Beim >in Jerusalem« biegt der Lobgesang traurig zjir Seite. Die Stimmung des Kyrie ist hoffnungs- voll bewegt. Von einem kirchlich gesetzten Eingang wen- det sich seine Weise bald leichteren Formen zu und ge- langt zu einer größeren Erregung, in welcher auf einen Augenbhck (die DmoU-Stelle) auch das leidenschaftliche Gebiet gestreift wird. In rasch wechselnden Lichtem, wie ein Traumbild, verklingt der merkwürdig schöne Satz

'^ 330 ^

In -der Sequenz von Verdis Totenmesse sind aller- dings das >Qaid sum miser«, das »Rex tremendae«, das >Recordare<, das »Ingemiscoc, das >Confutatis€ als kurze, selbständige Nummern bezeichnet und behandelt Doch sind sie als zusammenhängendes Ganzes gedacht. Bald in erschrecktem, bald in klagendem und zagendem Ton läßt Verdi zwischen alle einzelnen Bilder des Textes wieder den Ausruf: >Dies iraef hineinklingen und am Schlüsse des >Gonfutatis< wiederholt er den Anfangs- und Hauptsatz der Sequenz. Das »Lacrimosa« wird somit ähnlich wie in Cherubinis Cmoll-Requiem der Anhang des Satzes, seine ideelle Spitze. Der erste Gedanke an den Tag des Gerichts hat in der Musik einen Sturm von Aufregung veranlaßt, welcher heulende, stechende, zuckende imd harte Motive zutage fördert. Bald aber gewinnt die klagende Empfin- dung die Oberhand und beherrscht mit dem kurzen Thema

AlK&riUio. welches schon im Introitus ange-

jj?V^ f ü J J J ^ t klungen hat, den Abschnitt. Das gji,- ."• "T,j^-J » _/ d ^rp^jjj^ mirum« gibt die Bläserchöre

des Berliozschen Requiems in einer vereinfachten Nach- bildung wieder. Das »Mors stupebit« ruht auf einem kur- zen Motiv der Instrumentalbässe von bedeutender male- rischer Kraft. Im »Liber scriptus« lebt wieder die Erregung auf, mit der die Sequenz begann. Zum Teil in verlängerten Rhythmen, wie aus der Ferne drohende Gestalten, ziehen die charakteristischen Motive des ersten Abschnittes des Dies irae durch das dunkle Gewebe des Satzes hindurch. Dynamik und Modulation wirken mit schauerlichen Kon- trasten. Am Ende kommt die Fantasie wieder bei dem oben aufgeführten Klagemotiv an und leitet mit ihm in den schönen Bittgesang über, welchen das Soloquartett in »Quid sum miser« ausführt. Seine einfachen Weisen sprechen fromme Ergebung und leise Hoffnung aus. Gegen den Schluß hin erklingen Seufzer und die aller- letzte Periode drückt die verzagende Stimmung in ganz an- gestützten Solls der Sänger aus. Im »Rex tremendae« hat Verdi die beiden treffend gezeichneten Tonbüder von der Majestät des ewigen Richters und der gnadenbedürftigen

334 ^>—

Menschheit ganz nahe aneinandergestellt und in enge Rei- bung gebracht. Nachdem das erstere gegen den Schluß hin im höchsten Glänze erstrahlt (Cdur-Kadenz), entfaltet auch das bittende Motiv »Salva me< in verlängerten Rhythmen die ganze Fülle seiner Demut und Innigkeit. Das »Recordare« und das »Ingemisco« sind diejenigen Abschnitte, in welchen mehr als sonst der religiöse Ausdruck dieses Requiems sich den Formen der Oper zuneigt. Jenes, ein Frauenduett mit ganz spezifisch italienischen Melodienschlüssen und einem unwider- stehlich lieblichen Charakter, erinnert an Pergolesi, dieses, ein Tenorsolo mit orientalischen Harmoniewen- dungen, an Verdis eigene Aida. Das »Confutatis« (Baß- solo) steht in der Erfindung hinter allen andern Sätzen. Seine lebendigsten Züge befinden sich am Eingang; hervorragend ist der Ausdruck des Entsetzens in den herunterrauschenden Instrumenten. Um eine gewisse Verwirrung auszudrücken, begleitet darauf der Kompo- nist das Gebet des Sängers »Oro supplex« in Quinten- parallelen. Das »Lacrimosa«, welchem die Schreckens- bilder des Gerichts noch einmal kurz vorangehen, wendet sich gegen diese als mit dem besten Mittel, mit dem schlichtesten volkstümlichen Vortrag frommen Gebets. In dieser Weise sehr schön gedacht, kann der Satz doch den Eindruck vollständiger Banalität hinterlassen, wenn seiner Wiedergabe nicht ein sehr hohes Maß von Aus- druck zu Hülfe kommt. Das Offertorium »Domine Jesu Christe« will die Gedanken an Gericht und Fegefeuer mit Klängen paradiesischer Musik verscheuchen. Sein Haupt- satz ist ein friedlich ruhiges Spiel mit zart schwärmeri- schen Tonideen. Der Mittelsatz »Quam olim Abrahae« bringt ausnahmsweise keine Fuge. Eine solche und noch dazu eine mit doppeltem Thema bildet erst das Sanctus. Die Begeisterung, welche der Komponist Qiit diesem Satze schildern wollte, muß der Hörer hauptsächlich aus Tempo und Rhythmus entnehmen. Der Entwicklung fehlt der Schwung. Das Agnus dei beginnt mit einer breiten Melodie des Solosoprans, welche der Alt in der Oktave

<^ 332 ♦—

mitsingt. Diese eigentümliche Stimmführung erhebt die an und für sich einfache und beschauliche Melodie in eine höhere romantische Sphäre. Der Satz besteht in der Hauptsache nur aus neuen Klangbildern über das Eingangsthema. Die Post - communio »Lux aeterna« schillert in fremdartigem Lichte. Mit Quintsextakkord und schattenartig wandelnden Harmonien einsetzend, scheint die Musik Stimmung und Fantasie von jedem gewohnten irdischen Grund hinweg führen zu wollen. . Sie schließt in verklärten Klängen. Der eigentümlichste Satz des Requiems ist das Responsorium »Libera me« durch die große Ausdehnung, welche ihm der Komponist gegeben hat. Bedeutend ist in ihm der Eindruck der psalmodierenden Stellen, bedeutend auch der Eindruck der Reminiszenzen aus dem Introitus und dem Dies irae. Auch das Thema zu seiner langen Fu^e ist der Sequenz entnommen.

Das nächste Requiem, welches nach dem von Verdi Beachtung verdient und gefunden hat, ist das von Felix Fl OraeMk«! Draeseke (op. 22). In Intention und Arbeit durchweg interessant, hat dieses Werk in einigen Sätzen auch in bezng auf Erfindung und Wirkung die Bedeutung einer Originalleistung höheren Ranges. Der hervorragendste in dieser Gruppe ist das Dies irae, ein Tongemälde, welches ebenso sehr durch die Größe und Frische von Fantasie und Empfindung fesselt, als es durch die Kühn- heit und Sicherheit der Ausführung imponiert. In der Behandlung einzelner Textstellen speziell, in der Breite des Pinsels und dem Oberschwang des Ausdrucks im all- gemeinen zeigt sich dieser Satz mit Berlioz und Beethoven verwandt. Als eine besonders gelungene Idee wird man die Trompetenstelle des »Tuba mirum« hervorzuheben haben. In bezug auf glückliche Ausbeutung formeller Kunst nimmt das »Domine Jesu Christe« den ersten Platz ein: Es ist eine Choralbearbeitung. Zu den erst figurier- ten, dann fugierten Sätzen, welche der Chor mit immer höherem Ton durchführt, spielt das Orchester den alten . Grab- und Sterbechoral: »Jesus, meine Zuversicht«. Die

<♦ 333 ^

populärste Wirkung übt das Sanctus aus, namentlich das »Benedictus« in ihm: Es ist darin ein Wohlklang eigner Art: Schlüsse in den höchsten Regionen von Menschen- und Orchesterstimmen und eine viel auf ver- minderte Septimenakkorde gestützte,, weiche Stimmung. Im Übrigen ist das Werk von allen Konzessionen frei. Das Element einer schönen Sinnlichkeit tritt in ihm hinter den hochemsten und schwermütigen Grundton der Komposition zurück. Am deutlichsten zeigt den letzteren das Agnus dei in seinem Hauptteile. Erst am Ende löst sieh seine bange Stimmung in ein kurzes, hoffendes Grebet Die Musik, bis dahin akkordisch, wird jetzt Melodie mit rührenden^ kindlichen Ziagen. Das letzte Wort behält aber doch die l^angende Ehrfurcht: Akkorde ohne Terz.

Auch Draeseke rückt von Berlioz und der nament- lich durch die Franzosen üblich gewordenen Betonung der dramatischen Elemente der Totenmesse ab. Noch deutlicher spürt man straffere Kirchenzügel in den Kom- positionen des Requiems von Th. Gouvy und J.Rhein- Th. Goavy. berger. Das von Gouvy (mit Orchester) trifft nament-J. Bkei&berger. lieh im Introitus den würdigen Stil der alten Totenmesse sehr gut. Rheinberger hat das Requiem zweimal in Musik gesetzt Die erste Komposition »dem Gedächtnis der im deutschen Kriege von 4 870 74 gefallenen Helden gewid- met« (op. 60) ist der bis dahin entschiedenste praktische Protest gegen die moderne Richtung der Totenmessen, wie sie in Berlioz gipfelt. Rheinberger nimmt den Ton und den Stil des alten a capella-»Requiems< wieder auf, hält Stimmung und Fantasie in den kirchlich gezogenen Grenzen, will mit freundlichen, weichen Klängen nur die Andacht tragen, den Schmerz lindern und trösten, und weicht allem aus, was die trauernde Seele erregen muß. Zu diesem Zweck hat Rheinberger seine Mittel mit großer Folgerichtigkeit gewählt, ihm zu Liebe nicht bloß auf die Instrumente verzichtet, sondern auch auf den Teil der Dichtung, der seit dem 48. Jahrhundert von den Kom- ponisten in der Totenmesse bevorzugt worden ist: die

^ 334

Sequenz Dies irae. Das zweite Requiem des Kompo- ponisten (op. 84) hat mit dem ersten die Besetzung für a capella-Chor (vierstimmig), den liturgischen Geist, den Verzicht auf die Sequenz und die Knappheit gemein, ist aber im Stimmungsausdruck beweglicher, reicher und moderner. Zu dem fromm bittenden und vertrauenden Grundton klingen in ihm Trauer und Todesfurcht stärker an, besonders im harmonischen, an verminderten Akkor- den und Trugschlüssen reichen Gefüge. Durch diesen seinen ästhetischen Charakter und durch seinen melo- dischen Gehalt gehört es zu den bedeutendsten und ori« ginellsten Leistungen moderner Vokalkomposition und hat, obwohl das geistliche Konzert ihm nicht gerecht geworden ist, die liturgische Richtung in der Totenmesse ersichtlich gefestigt.

In dieser Hinsicht ist zunächst das »Requiem« für H. Ton vierstimmigen Chor, und Orchester von Heinrich von Earzogenberg. Herzogen berg (op. li) beachtenswert. Herzogenberg verwirft zwar weder die Instrumente, noch die Sequenz, wie Rheinberger; er teilt aber mit ihm die Einfachheit, und Zurückhaltung im Ausdruck. Die Sätze der Kom- position, die origineller berühren, sind das Osanna, in dem ein fröhlich naiver Ton, der die Jugendarbeiten dieses Künstlers so liebenswürdig machte, anklingt, und das Agnus dei. Dieses verschmilzt Gregorianische In- tonationen und antiphonischen Aufbau sehr glücklich mit selbständiger Instrumentalmusik, die in fahlen trü- ben Klängen eine Art Trauermarsch markiert.

Ziemlich zu derselben Zeit, wo bei den katholischen Komponisten sich das Bestreben zeigt, den kirchlichen Cha- rakter des Requiems wieder stärker zu betonen, suchen auch die protestantischen Tonsetzer der musikalischen Trauerfeier einen entschiedener konfessionellen Charakter zu geben. Das hat schon Brahms dadurch vorbereitet, daß er den alten lateinischen Text durch einen deutschen er- setzte, der vom Fegefeuer, von verdammten Seelen und

anderen katholischen Vorstellungen nichts weiß. Drae- seke evangeUsierte am Geiste der Requiemmusik durch

335

Einfügung des evangelischen Chorals, wohl angeregt durch A.Beckers Bmoll-Messe. Und nun folgte Becker selbst mit einem Werke, das die alte Totenmesse ganz ins Pro- testantische umarbeitet. Die Arbeit führt den Titel »Selig aus Gnade« und «ist vom Komponisten als »Kirchenora- torium« bezeichnet, durch diese Bezeichnung, also in Zusan^menhang gebracht mit den Bestrebungen jenes Kreises von neuen Kirchenmusikem, die unserem Gottes- dienste die musikalische Darstellung biblischer Ereignisse in einer Form wieder einfügen wollen, bei der auch die Gemeinde sich mit beteiligen kann. Sie soll* Choräle singen, wie sie das ehedem in der Passion tat. Daß solche Kirchenoratorien während des i 8. Jahrhunderts in Hamburg, Lübeck und andern norddeutschen Städten zahlreich geschrieben und aufgeführt worden sind, weiß heute niemand. Beckers Arbeit weicht im Grunde von der Gattung völlig ab: ihr Text bringt keine Handlung, sondern besteht aus Betrachtungen. Mit dem Oratorium teilt sie nur die musikalischen Formen, mit dem »Kir- chenoratorium« im besonderen hat sie die Zuziehung von Gemeindegesang gemein. Dieser kann aber auch wegbleiben, wenn das Werk im Konzert aufgeführt wird, ohne daß dadurch sein Charakter wesentlich einbüßt. Der Text ist aus Bibelstellen und Gesangbuchversen zu- sammengestellt und in drei Teile gruppiert, von denen je*der den Umfang und wohl auch den Inhalt einer Baeh- schen Trauerkantate etwa hat. Die Entwicklung der Ge- danken bewegt sich in einer ähnlich aufsteigenden Linie wie im »Deutschen Requiem« von Brahms. Auch Becker beginnt mit einer ^Einleitung: »Selig sind die Toten usw.« die dem Introitus der katholischen Totenmesse entspricht. Dann folgt von dem Satze »des Menschen Geist muß da- von und er muß wieder zur Erde werden« aus eine Reihe ernster Worte über das Los der Menschheit, die durch die Sünde den ^od in die Welt gebracht hat, über die Erlösungstat des Heilands, über die Macht und die Liebe Gottes. Die Furcht vor dem Tode wandelt sich in Todes- freudigkeit. Mit einem Sehnsuchtsgruß an den »Tag, da

A. Beckez,

Selig auB

Gnade.

-^ 336 ♦—

ich mit Lust die Seele gab von mir«, schließt das Werk. Die Musik steht an Freiheit des Aufbaues über der zu Beckers Bmoll-Messe und spricht fast immer lebendig und wirksam, in einzelnen Nummern mit vernehmlicher Inspiration. Ein Nachteil der Komposition ist, daß sie in zuviel kleine Stücke zerfällt.

Auch das spärlich ins Konzert gedrungene Requiem a. HentBchel, von Georg Hentschel (op. 59) gehört in der Auffassung Requiem, des Textes zu der im guten Sinne des Wortes reaktio- nären Gruppe neuerer Totenmessen und auf die liturgische Seite. Daß dieses Requiem in verzehrender Trauer be- gonnen ist, zeigt deutlich und ergreifend der Introitus in seiner unruhigen, fieberhaft wechselnden und schwanken- den Harmonie.. Der Komponist bändigt den Schmerz durch den Trost der Kirche, der er sich mit ernsten, aus der Zeit der Kirchentonarten geholten Akkordverbindungen und noch rührender in Anklängen an einfache liedweisen zuwendet Dazu fügt er in psalmodierenden Abschnitten das Bild der unzähligen Leidensgenossen, die seit Jahr- tausenden in Gotteshäusern das »Requiem aeternam dona eis Domine« gestammelt und im »Kyrie eleison« sich zu sammeln gesucht haben. Es ist in der Seele erlebte Musik, aus alter und neuer Kunst zusammengefügt, die Hentschel in diesem ersten Satz seines Requiems bietet In den folgenden Abteilungen ist der innere Drang geringer, aber die Hingabe eines ernsten, in kleinen Formen heimischen und selbständig schaltenden Künstlers bleibt gewahrt Die breite Fachbildung äußert sich in der Mannigfaltigkeit des Stils, in der Verwertung von Anregungen, die ebenso wie auf Berlioz und Verdi auf Gherubini und sogar auf die Zeit Palestrinas zurückgehen. Den Eklektiker leitet aber meistens der liturgische Takt und sicherer architektonischer Sinn. Nicht zum letzten ruht die Wirkung dieses Requiems auf einem hervorragenden Gesangverstand. Alles klingt, alles liegt den Stimmen, nirgends eine Stelle, bei der die Absicht des Komponisten unklar bliebe. So ist es ein dankbares Requiem geworden, das den Sängern lieb sein könnte.

-— 337 «>—

.Schon im Jahre 4 894 (für Birmingham) komponiert, ist erst spät, von den Wiener Gesellschaftskonzerten her, das Requiem (für. Soli, Chor und großes Orchester) Anton Anton Dvofak. Dvohaks etwas bekannter geworden. Es hat im Agnus Dei einen unbedingt schönen, im Introitus einen interes- santen, lebenswahr eine innerlich fassungslose, äußerlich ruhige Trauer schildernden Satz und bringt wohl in allen Abteilungen warm empfundene, durch eigenen Wohlklang überraschende Stellen, und der Komponist hat an dieses Werk ersichtlich viel Geist und sinnvolle Arbeit gewendet. Trotzdem steht es Hinter der Ludmilla Dvofaks, noch mehr aber hinter seinem Stäbat mater bedeutend zurück. Ein- mal im Stil, der in die für große Gesangwerke unentbehr- liche, lebendige und freie Polyphonie nirgends recht hineinkommt, selbst in der auf Quam olim Abrahae dem Usus nach angeschlagenen Fuge (und Doppelfuge) nicht; noch mehr aber in der Selbständigkeit der Textauffassung. Es ist keine zweite Totenmesse aus neuerer Zeit in Druck ' gekommen, in der Berlioz so ungeniert kopiert wird. Das Dies irae Dvofaks ist bis zum »Recordare« eine einzige blassere Nachzeichnung des Berliozschen ; nur die Noten ' sind von dem Böhmen, die Ideen, der Charakter der Themen und Motive, der Gang der Entwicklung also der ganze geistige Teil des Satzes gehört dem Franzosen, auch dessen bizarre Neigungen sind mit übernommen worden. Sein Vorbild blickt aber auch durch die andern Sätze, s6hon vom Introitus ab; die psalmodierende Me- thode in der hier das Kyrie gegeben ist, kehrt bis zum Ende der Messe wieder. Später kommt auch Verdischer Einfluß zur Geltung; er in der Bevorzugung des Solo- gesangs und in der Führung der Solostimmen. Sein Eigenstes hat Dvorak in der Durchführung des einfachen Klagemotivs gegeben, mit dem sein Requiem einsetzt: I f g e f 1 f . Es fehlt, wörtlich oder umgebildet, in keinem Satz, am überraschendsten tritt es im Benedictus darum ein, weil dessen Umgebung, das Sanctus und das Osanna, die Trauer abgelegt haben. Wo es immer da ist, wird die Mysik individuell und fesselt. Das Requiem

II, 4. 22

338 *—

Dvol^aks verdankt also seine bedeutendsten Stellen dem lisztschen Prinzip.

Auf katholischem Gebiet sind Konzertaufführungen von Requiems und von normalen Messen deshalb ziemlich überflüssig, weil dort die Gattung noch so wie vor alters in der Kirche feststeht und ohne Unterschied von Zeiten und Ländern so mannigfaltig vertreten ist, als es die liturgischen Rücksichten erlauben. Daß sich jedoch viele der dort zu Gehör gebrachten neueren Wei*ke auch für das Konzert bewähren würden, ist keine Frage. Einen guten Ratgeber hierfür finden die Dirigenten an dem Ka- talog des Deutschen Cäcilien Vereins.

Außerhalb dieses Kreises steht das Requiem für Soli, Josef Reiter. Chor, Ordiester und Orgel (60. Werk) von Josef Reiter. Wenn sich für die kürzlich erfolgte Veröffenthchung dieses Werkes ein besonderer Wiener Josef Reiter-Verein ins Mittel gelegt hat, so läßt das auf eine umstrittene und nicht überall und schlechthin zwingende Leistung schließen. Wir haben es in dem Komponisten mit einem Volksmann zu tun, der aus seiner Einfachheit und Natürlichkeit hie und da ins Gewöhnliche und Lässige verfällt, andererseits auch zii grammatischen Bockssprüngen und Sonderlich- keiten neigt Aner im allgemeinen wird er nicht bloß dem Text gerecht, sondern bringt ihn oft mit ursprünglicher Phantasie, mit naturalistischer Kühnheit- und glänzender Wirkung zum Ausdruck. In Summa also: ein nicht ganz normales und einwandfreies, aber jedenfalls ein nedeuten- des Talent! Das und eine immerhin bemerkenswerte Satztechnik beweisen am überzeugendsten das reiche Ofifertorium »Domine Jesu Christe«, nach ihm das Sanctus, dessen packendes fugiertes Osanna im Benedictus der Frauenchor nochmals sehr willkommen ankhngen läßt. Im Agnus Dei, einem der längsten Sätze über diesen Text, tauchen überraschend und beängstigend nochmals Schreckens Worte aus dem »Dies irae« auf. Die reichüchen Oktaven und Unisonos dieser Nummer zeigen ähnlich wie bei Dvofak den unmittelbaren Einfluß von Verdis Totenmesse.

-♦ 339 ♦—

Von neueren beachtenswerten Requiemiä des Auslandes ist das des Franzosen G. Faur^ zu nennen. Doch ist es in Deutschland nicht bekannt geworden. Dagegen hat hier das Requiem des Italieners G. Sgambati, das zur &. Sgambati. Totenfeier des Königs Umberto komponiert worden ^ist, einige Auffahrungen erlebt. , Es ist eins der freundlichsten und anmutigsten Werke, die die Geschichte der Gattung aufweist. Fast nur beim Anfang des »Dies irae« und beim >Gonfntatis, maledictis« bricht ein aufgeregter, finsterer Ton durch, den ernsten Charakter der Trauerfeier bestrei- ten häufig hturgische Zitate. Besonders empfiehlt sich das Requiem durch seine leichte Ausführbarkeit, da,s Solo- personal beschränkt sich auf einen Baryton, der in zwei Nummern allein oder mit dem Chor singt, im Agnus Dei tritt sehr wirksam noch eine Solovioüne auf. Der Chor- satz ist einfach melodiös und technisch so anspruchslos, daß ihn ein guter Verein vom Blatte erledigt; auf die Dauer macht sich allerdings der Mangel an Polyphonie empfindlich. Größere Ansprüche erhebt das Orchester; auf seinen Teil hat stellenweise Berlioz eingewirkt

«2*

Drittes Kapitel.

Hymnen, Psalmen.

Mit den Passionen und Messen verglichen, bilden die übrigen Tonwerke, welche das Konzert a.us der Kirche entlehnt, nur einen Rest. Das wird sich jedoch ändern, je weiter der Schatz alter hturgischer Nebenstücke durch gute Partiturausgaben erschlossen wird. Er ist quanti- tativ unerschöpflich und an Meisterstücken ersten Ranges erstaunhch reich.

Aus der Familie der Hymnen, welche wir neben den Psalmen als die älteste Klasse kirchlicher Tondichtung und jedenfalls als die reichste und weitestverzweigte an- zusehen haben, begegnen wir im Konzerte in erster Reihe dem »Stabat mater«, dem >Te deum« und dem »Mag* nificat« als Hauptstücken.

Das >Stabat materc gehört einer Seitenlinie der Hymnen an : dem wunderlichen Geschlecht der Sequenzen^ welches von unscheinbarem Anfang Notker BalbuluiS führte sie als Textunterlagen für Koloraturen des >Halle- lujah« ein sich allmählich zu der ersten Macht in der christlichen Poesie des Mittelalters entwickelte. Zum Schutze der älte|*en Formen sah sich die Kirche schließ- lich genötigt, die Sequenzen zurückzudrängen. Ihre Zahl ist heute auf füiif beschränkt, von denen neben dem »Dies irae« das »Stabat mater« die bekannteste sein dürfte. Seine / liturgische Stellung hat es am Tage der sieben Schmerzen Mariae vor dem Evangelium. Das

/

—«0^ 34< ^—>

Gedicht, welches dem Minoriten Jacoponus de Benedictis aus Todi (f i 306) zugeschrieben wird, ist ein inbrünstiger Erguß des Mitleidens mit der unterm Kreuze stehenden Mutter Jesu. Es hat zwei Teile. Der erste 'ist betrach- tend und beschreibend; der zweite (von dem Verse >Eja mater usw.« ab) geht ins Gebet über. Der schwärmerische und fromme Mönch hat sich tief und innig in die Seele der Maria hineingefühlt und diesen Empfindungen einen rührenden, kindlichen und naiven Ausdruck gegeben. . Die Herzlichkeit und der Eifer der Hingabe klingt bis in [ die Form der Verse hinein: ihre Doppelreime sind die Frucht einer leidenschaftlichen Erregung von Gemüt und ' Fantasie. Deshalb hat das ?Stabat mater« die künst- . lerischen Geister von jeher stark angezogen^ Es ist in alle Sprachen immer von neuem wieder übersetzt worden ; im Deutschen allein hat man an die hundert Male ver- sucht, seinen Sinn und seinen eigentümlichen Ton wieder- zugeben. Ebenso ist die Zahl seiner musikalischen Bearbei- tungen außerordetntlich groß. Sie umfaßt das ganze Gebiet und die ganze Geschichte der Vokalkomposition von den Ritualmelodien des Gregorianischen Stils, von einfachen Liedweisen und Choralsätzen (im protestantischen Sinne) an bis zu den großartigsten Formen der neueren Kantate. Die älteste Komposition des »Stabat mater«, welche, wie S. 4 64 schon erwähnt, das Konzert sich neuerdings angeeignet hat, ist die von Josquin de Pr^s. Dieses Josqain de Fr^s. »Stabat mater« liegt in zwei neuen Partiturausgaben vor: Stabat mater. von Maldeghem (4 867) und von Ambros (4 882), Die älteste bis jetzt aufgefundene Notierung des Werkes datiert vom Jahre 4 480. Uir folgten in der ersten Hälfte des sech- zehnten Jahrhunderts eine ganze B,eihe von gedruckten Stimmausgaben i"): der beste Beweis, daß die Komposition unter die berühmtesten zählte. Auch die Hinweise älterer Theoretiker bestätigen es, daß das >Stabat mater« Jos- quins für ein Hauptwerk der großen Vokalperiode in dieser

*) Die Nürnberger vom Jahre 1538 ist nnter denselben interessant durch die protestantischeil Varianten, im Text.

^ 342 ♦^

selbst noch gehalten wurde. Der Ghorsatz ist funfstim- mig, die Anlage im genauen Anschlüsse an die der Dich- tung zweiteilig. Der erste Teil ist bewegt und erregt; im zweiter! Teile, da wo das Gebet beginnt, gibt Josquin den Rhythmen einen ruhigeren, breiten Grundcharakter. Da setzen die eigentümlichen feierlichen Largos ein, welche wir schon aus dem »Incarnatususw.« von Josquins Messe >Pange lingua« kennen. Da begegnen wir auch wieder jenen anmutigen, anheimelnden Idyllen, in denen Josquins Musik mit wiegenden und läutenden Motiven aus dem Munde der Ghorstimmen den Ton der lebendigen Natur so stark anklingen läßt. Der zweite Teil des »Stabat mater« ist der reichhaltigste und originellste. Der große Zng der Begeisterung, welcher ihn erfüllt, kommt am mächtigsten an zwei Stellen zum Vorschein: beim Eintritt des »inflammatus et accensus«, wo die Stimmen eine leidenschaftliche Bewegung zu ergreifen scheint, und in der lapidaren Einfachheit und Bestimmt- heit, mit welcher die beiden Schlußtakte das »Amen« sagen. Doch ist auch der erste Teil durchaus gehaltvoll und interessant. Seinem Entwürfe liegt dieselbe Methode zugrunde, wie dem des zweiten Teils: Jeder Vers des Ge- dichts wird zu einem selbständigen Tonbild mit eigenem melodischen Motiv. Dieses Hauptmotiv der Verse singt die eine Stimme der andern nach. Daß die Wiederholung dieses Verfahrens nicht ermüdet, dafür sorgt Josquin durch immer neue dem Charakter des Textes folgende Zusammenstellungen und Färbungen der Stimmen, dafür sorgt er aber namentlich auch durch die Kraft des Aus- drucks, welche er den leitenden Themen selbst ein- gehaucht hat. Besonders eindringlich zeichnen sich die Motive von »0 quam tristis usw.« und von »Quis est homo« aus. Der rührende Totaleindruck der Komposition wird aber durch die Abschnitte höchster Einfachheit bei »Vidit suum dulcem natum«, bei »fac me tecum plangere« und ähnlichen Stellen entschieden. Im allgemeinen ist der Stil des Satzes derselbe wie in den Messen und in allen kirchlichen Tonwerken jener Zeit. Der Cantus

343

firmus,. den der mittlere Tenor führt, wird in Josquins »Stabat mater« in jener einfachsten Weise als rein me- chanisches Mittel behandelt, in welcher er an der geistigen Entwicklung der Komposition keinen Anteil nimmt Für den ersten Teil ist er dem alten lustigen französischen Liede »comme femme« entnommen, dessen flotte Melodie, natürlich in Pfundnoten verkleidet und verzerrt, nur ^noch dem Auge des Eingeweihten kenntlich bleibt.

Das zweite »Stabat mater« aus der Vokalperiode, G-. F. da Pale- welches im heutigen Konzert eingebürgert erscheint, ist strina, das im 6. Band der Gesamtausgabe der Werke Pale- Stabat mater strinas*) unter den Motetten mitgeteilte zweichorige von (achtstimmig) G. P. da Palestrina. Dieses Werk, dessen genaue Ent- stehungszeit nicht feststeht, ist eine der verhältnismäßig;^ wenigen achtstimmigen Kompositionen, welche Palestrina geschrieben hat. Auch dem Stile nach vertritt es keines- wegs den Typus Palestrinascher Musik, sondern es nimmt unter den Kompositionen dieses Meisters eine Ausnahme- stellung ein. Es bevorzugt die akkordische Schreibart, die sogenannte homophone Stimmführung, die in den übrigen Werken Palestrinas vorwiegend nur episodisch verwendet wird, in sehr umfassender Weise. Für die geniale Art, in der die Harmonien von dem Tonsetzer als Deklamationsmittel in diesem > Stabat mater« ver- wendet sind, kann der Anfang der Komposition als Bei- spiel dienen. Wie / n J j \ ri J 4^j j k j I J ' eigentümlich fremd fr ij j ' § | 131 | j ^^ und traurig ist das su.bat m.urdo. le^ro.»

(mit Änderungen im ersten Teile mehrmals wiederholte) kleine Tonbild, welches die ersten drei Dreiklänge geben; wie trifft der Gmoll- Akkord .mit dem logischen Akzent der Verszeile zusammen und wie schmerzlich klingt er! Man darf aber\ von dieser einen Stelle nicht auf eine durchgeführte Detailmalerei des Tonstücks schließen. Die Musik steht im Gegenteile zu dem Texte in einem Ver- hältnis bescheidener Zurückhaltung. Sie begnügt sich

*) Leipzig, Breitkopf & Härtel.

344

das Kolorit seiner Stimmungefi durch die melodischen Linien deutlicher hervorzuheben und die Hauptbegriffe des Wortbaues gewissermaßen mit Akkord und Rhythmus zu unterstreichen. Kaum ein zweiter Komponist ist der eigentümlichen Schönheit der Dichtung des »Stabat mater«, welche in vielen Abschnitten selbst schon Musik zu sein scheint, so gerecht geworden, als Palestrina. Am deut- lichsten wird man das wohl an der Behandlung des Verses »Quae moerebat et dolebat« ersehen können. Das Feuer, welches hier die Fantasie des Dichters erwärmt, ihm Bilder und Worte drängend eifrig auf die Zunge legt in der Palestrinaschen Musik mit den kurzen, schwer betonten Motiven, mit dem fast ungestümen Wechsel der beiden Chöre, lodert es in hellen Flammen auf. Wie ernst und rührend ruft nach diesem Exzeß der Fantasie der breite Periodenbau des folgenden Abschnitts »Quis est homo« die gläubige Seele zur inneren Einkehr! Es ist schon in der Architektur dieser Komposition eine geistige Kraft, die eine Beschäftigung mit dem Werke allein ge- nügend lohnt. Der eigentümlichen Milde seiner klagenden Melodien aber läßt sich kaum eine andere Komposition vergleichen. Auch bei Palestrina finden wir dieselbe Zweiteilung wie bei Josquin. Mit dem >Eja mater usw.« lenkt er den Fluß in ein neues Bett: Dreivierteltakt setzt für eine Weile ein, die Gliederung der Szenen wird schärfer und der Stil des Chorsatzes mehr polyphon. Wenn im ganzen dieser zweite Teil des Palestrinaschen »Stabat mater c hinter dem ersten etwas zurückbleibt, so ist er doch immer noch reich an glänzenden Stellen. Eine der anmutigsten ist der Abschnitt »Juxta crucem usw.«, welcher eine der von Palestrina geliebten Episoden für die oberen Stimmen allein bildet. Erst bei »flammis ne urar usw.« ergreifen die Bäss^ wieder von ihrer Stellung festen Besitz. Meisterlich und packend ist auch die Schlußpartie vom »Quando corpus« ab. Das ist ein unendlich reiches und schönes Bild vom seligen Sterben und vom Einziehen ins himmlische Paradies. In aller Kürze sind da die Regungen der Seele hin eingezeichnet,

welche diesen Gedanken lebendig machen: die Trauer, der Ernst, die freudige Kraft und das zarte, demütige Hoffen. Von diesem »Stabat maiei* Palestrinas be- sitzen wir schon seit 4 774 eine Partiturausgabe durch Burney, welcher viele andere Drucke gefolgt sind. Auch R. Wagner, der in seiner Dresdener Zeit die Komposition kennen lernte, und in der Hofkirche aufführte, hat eine Einrichtung des Werkes veröffentlicht, welche die vier- stimmigen Sätze der beiden Chöre in Soli, Halb- und Ganztutti teilt und den Vortrag mit dynamischen Zeichen regelt. Sie ist Dirigenten, welche einer derartigen Anregung benötigt sind, zu empfehlen. Doch bedarf sie einer selbständigen Revision, da an einigen Stellen die vorge- schriebene Dynamik mehr Rücksicht auf den akustischen Effekt als auf Sinn und Logik der Satzglieder nimmt.

Eindreichöriges »Stabat materc von Palestrina^ welches Alfieri und Espagne zuerst auf Bainis Gewährschaft hin in Partitur mitgeteilt haben, wird von anderen Kennern, darunter Ambros, für F. Anerio in Anspruch genommen. F. Anerio, Der 32. Band der Gesamt^tusgabe bringt unter den zweifei- Stal>at mater. haften Werken/ noch ein zweites »Stabat« zu acht Stimmen. Als weitere in neuem Partiturdruck vorliegende Kompo- sitionen des »Stabat mater« aus der Vokalperiode sind zu nennen die Werke von Orlando di Lasso (Commer), Agazzari, Aichinger (beide in ProskesMus. div.) und Agazzari. G. M. Nanini (Rochlitz, Tucher u. a.]. Letzterem, wel- AioMnger. ches den Text in zwanzigmaliger Wiederholung einer O. M. Kanini. einfachen, lieblichen Liedstrophe durchnimmt, begegnen wir zuweilen (gekürzt) in geistlichen Konzerten. Ein Seitenstück dazu ist unlängst von P. Wagner*} veröffent- licht worden. Es stammt aus den für die Nerischen Oratorien geschriebenen »Laudi spirituli« von 4 588 und zeigt die volkstümlichen Musikbestrebungen der Ora- torien auch von der literarischen Seite, indem es den lateinischen durch italienischen Text ersetzt. Das »Sta- bat mater« des Orlando , ein Zyklus von wechselnden 0. di Lmioi

*) Haberls KirchenmusikaliBches Jalirbuch, 1895, S. 92.

~* 346 -*—

vierstimmigen, im Schußsatz zusammentretenden Knaben* und Männerchören, gehört zu den genialsten und wirkungs- vollsten Kompositionen dieses großen Meisters.

Aus der früheren Zeit der begleiteten Vokalmusik sind als bedeutende Kompositionen des »Stabat mater« die von Golonna, Steffani, Kaiser Ferdinand III., Clari und Caldara zu nennen. Die letzten beiden scheinen in ihrer und in der nächsten Zeit auch ziem- lich verbreitet gewesen zu sein. Das »Stabat mater« von A. Bteffani, A. Stef f ani, auf welches Ghrysander zum erstenmal und Stabat mater. nachdrücklich aufmerksam gemacht hat*), ist eine der ersten unter allen den großen »Kantaten«, welche über das Gedicht des Jacoponus komponiert worden sind. Man darf es unter den kirchlichen Vokalkompositionen des 4 7. Jahrhunderts, welche dem neuen Stile folgten, ruhig mit den Schützschen zusammenstellen. Es ist ein Meister- werk, welches in der Verwendung der neuen Formen, in der Verschmelzung von Chor- und Sologesang seiner Periode Weit voran ist. Nur einige kleine kolorierende Naivitäten, modische Wortmalereien auf »tremebat«, auf »inflamma- tus« usw., die kurze Anlage einer Reihe von Chören und Ensembles erinnern an den Stil jener venetianischen und römischen Komponisten, welche Steffanis Zeitgenossen waren. An anderen Abschnitten verblüfft sein »Stabat mater« geradezu durch die kühnen, weiten Bogen, in welche die Komposition gegliedert ist. Im zweiten Teile haben wir es mit einer Art modernen Finale zu tun. Der große 3/2- Takt, mit welchem zunächst das >Eja mater« einsetzt, kehrt immer wieder und nimmt alle die kleinen Sätzchen, welche episodisch herantreten, unter seine schützenden Fittiche. Darunter sind auch einige der berühmten kanonischen Duette, welche ihrer Zeit als eine Speziahtät Steffanis bewundert wurden. Die Theöien sind schlicht im Ausdruck, aber voll empfunden. Ihren ganzen Gehalt zeigen sie in der Entwicklung des Satzes, von Kontrapunkten gekreuzt und angeregt. Der

♦) Ohrysander: Händel, I 350.

-^ 347 ^k>—

ßegleitungsapparat der SUeichinstnimente fangiert mit Bachscher Gediegenheit Immer ist der Text tief erfaßt und nicht selten mit aufregender Genialität Zwei solche St^en offenbarer höherer Inspiration sind der Anfiemg und der Schluß des Werkes. Dort, in der kurzen Instni- mentaleinleitong, knapp vor dem Einsatz des Solo- soprans, sind es die Harmonien, welche sich gleich den Lasten in Marias Seele wahrhaft beängstigend anftürmen hier die zaghaften Pansen, welche den feierlichen Ton des Chors zwischen »Qnando corpus« und »morietur« unterbrechen. -Möchte das bedeutende Werk*) das als eins von mehreren den Komponisten bei der Londoner Akademie für Alte Musik als Ehrenpräsidenten einführte, endlich durch den Drude zugänglich werden! Auch Kaiser Ferdinands Komposition der Marienklage ist noch nicht veröffentlicht, dagegen (in den sogenannten »Kaiserwerken«) eine Kantate, welche Leopold' I unter dem Titel »Motetto« über eine Paraphrase dieser Hymne geschrieben hat: Vertatur in luctum cythara nostra. Sie gehört zu den ergreifendsten kirchlichen Dokumenten der »Neuen Kunst«. Das Stabat mater G. M. Claris hat in G. M. 01^1, dem kurzen ausdrucksvollen Chor der Einleitung, dem breiten, fugierenden und sehr schön zu Ende geführten Schlußchor über »Quando corpus morietur« und in der im Orchester sehr geflissentlich malenden und charakteri- sierenden Tenorarie:. »Cujus animam gementem« seine Hauptsätze. Ab und zu begegnen wir ihm in geistlichen Konzerten. Gänzlich unbenutzt ist in Deutschland das von Eslava mitgeteilte Stabat des Spaniers A. Ripa ge- !• Bip«. blieben (achtstimmig mit Orgelbegleitung).

Aus der Periode Scarlatti - Händel sind zunächst ein vierstimmiges und ein zweistimmiges Stabat mater von A. Scarlatti selbst zu erwähnen. Sie fallen in die A. Boarlatti. letzten Jahre des zum Sänger edler Trauer prädestinierten Meisters und wurden in Neapel unermüdlich aufgeführt

*) Ein handschriftliches Exemplar in der Chrysanderschen Bibliothek m 3ergedorf.

34$

Im modernen Konzert begegnen wir als den frühesten Stabats der neapolitanischen Schule denen von Emannel E. ÄBtorga. Astorga und von G. 6. Pergolesi. Beide Tonsetzer gehören der besseren neapolitanischen Zeit an. Sonder- barerweise verdankt die frühere der beiden Komposi- tionen, die von Astorga, ihre augenblickliche Popularität der jüngeren. Es war im Verlauf eines längeren Streites, welcher von Kunstrichtern aus dem Kreise der Kirnberger und Forkel gegen das anmutige Sterbe- lied des jung verschiedenen Pergolesi erhoben worden war, daß Rochlitz ihm gegenüber das Stabat von Astorga auf den Schild erhob. Seitdem ist sein Lob von Tag zu Tag gewachsen, bis endlich der Verleger einer neuen Bearbeitung dieser Komposition die Zeit für gekommen hielt, Astorga »unbedenklich den edelsten Meistern der Kunst beizuzählen«. Vergleichen wir Astor- gas Stabat mit seiner Oper »Dafne« und mit seinen in ihrer Zeit von Freunden der Haus- und Kammermusik viel benutzten Solokantaten, so finden wir die gleichen Schwächen der Schule und der Individualität: Einför- migkeit, zuweilen Mattheit der Stimmung und Formahs- mus. Aber si« stören uns doch seltner. Seine Vor- züge dagegen, die interessanten Kleinigkeiten, welche das Gewebe seiner Sätze zieren, erscheinen hier in eine höhere Region übertragen: als feine, aus erregter Fan- tasie und ergriffenem Gemüte hervorgegangene Eigen- heiten der Auffassung. Selbst von dem düsteren Pathos und der erhabenen Traurigkeit, welches schwärmerische s Romanschreiber aus dem dunklen Lebenslauf des aristo- kratischen Dulders unbesehen auf seine Kompositionen übertragen wollen, finden sich in diesem Stabat wirklich einzelne Züge. Es ist ein bedeutendes und individuelles Tonwerk und eine auch ohne jeden persönlichen Be- zug sinnreiche Komposition.

Der Form nach der Klasse der Kantaten angehörig, verteilt sie den Text auf neun Nummern. Ein Chor beginnt, welcher die formelle Fertigkeit Astorgas, eine Hauptursache für die Erfolge seines Stabat^

^ 349 «»

sogleich in helles Licht setzt. Fast alle .ßeine Pe> riodeQ sind fließend im doppelten und dreifachen Koii- trapunkt- gearbeitet (d. h. die Themen sind so erfun- den, daß die zugleich singenden Stimmen ihre Partien tauschen können). Den ^ . Largo. ersten Teil des Satzes

trägt ein Hauptthema " süT. hu m». J . . . t»» von s^nft klagendem Ausdruck. Das Motiv zu »juxta crucem« besteht aus Skalenteilen; besser, poetischer er- funden ist ein anderes Nebenthema, welches den Begriff des »pendebat«, sinnreich von der Harmonie unterstützt, mit leichten melodischen "Ketten aus einem Achtelmotiv gewun- den, andeutet. Der in kurzen Abschnitten und sehr markiert absetzende Aufbau dieses Teils trägt sehr viel dazu bei den Eindruck zu vertiefen. Der Vortrag kommt wie aus beklommenem Herzen. Im zweiten Teile der Nummer tritt besonders das chromatische Motiv hervor, welches zu den Worten »pertransivit gladiusc in die Höhe steigt. Die chromatischen und enharmonischen Tongeschlechter er- lebten im siebzehnten Jahrhundert eine neue Periode der Blüte. Astorga (in seinen Kantaten) befand sich unter ihren eifrigsten Anhängern. Das Terzett (Nro. 2) »0 quam tristisc ist einer der schönsten Sätze der Komposition. Trotz der kunstvollen Durchführung durch die Stimmen fließt die wehmütige Hauptmelodie leicht und anmutig dahin, bis plötzlich die Fantasie dem regelmäßigen Gange der Form gewaltsam Einhalt gebietet: Fermate, itockender Rhythmus, schneidende Dissonanz: In dieser Schreckgestalt bricht plötzlich das Bild der armen Mutter durch (bei den Worten >mater unigeniti«). Eine andere gleicherweise bedeutsam deklamierte Stelle bietet das Wort >videbat«. Astorga wiederholt es wie gramvoll ge- fesselt. In der nächsten Nummer, dem Doppelduett: >Quis est homoc begegnen wir demselben sinnvoll spie- lerischen Zuge bei den Koloraturen auf die Worte >in tanto supplicio« und »dolentem«. Doch muß hier der Vortrag sehr viel nachhelfen. Die nächste Nummer ist eine Doppelfuge, aus deren Flusse einige merkwürdig

nachdrücklich betonte Stellen heraustreten : Es sind das >fac« vor der Fermate und das >ut sibi«.* Für den Charakter der Themen und für die Entwicklung ihres Gehaltes sind die Begriffe der Mutter Jesu als >fons amoris« und das »complaceam« bestimmend gewesen. Namentlich das erste Thema entspricht der wesentlich- sten Bedingung der Fugenform. Es hat in seinen breiten Eingangsnoten ein eignes und anziehendes Element, wel- chem tiefer nachzuspüren den Komponisten ebenso reizen muß, wie es den Hörer verlangt und erfreut einer solchen charaktervollen Tontype immer von neuem wieder zu begegnen und sie auf ihren kunstvollen Gängen durch Stimmen und Harmonien zu verfolgen. Die folgende Sopranarie »Sancta mater« hat einen eigentümlichen Periodenbau. Diese Perioden bestehen alle aus einer Reihe durch Pausen getrennter kurzer Abschnitte. Es ist ein schüchternes kindliches Bitten in stoßweisen Absätzen, welches immer erst am Ende den Mut zu einem längeren Abschluß gewinnt. Der liebenswürdige, kindliche, an Hast, Verlegenheit und Hülflosigkeit gemahnende Zug der Komposition wird auch melodisch, namentlich durch die aufschlagenden Sechzehntel verstärkt. Endlich ist auch die Instrumentierung der Gesangstellen, welche ohne Baß dahin schweben, auf ihn gerichtet. Der nächste Satz: >Fac me tecum pie flere« ist .eins jener kanonischen Duette, von welchen bereits früher die Rede gewesen ist. Das Prinzip dieser durch die venetianische Schule be- sonders in Umlauf gebrachten, auch bei Händel und Bac^ häufig verwendeten Form ist ein ähnliches, wie das der Fuge: Die zweite Stimme singt der ersten mehr oder weniger genau nach. Der Charakter der gemeinschaftlichen Melodie ist hier innig und mild traurig. Mit dem Chore »Virgo virginum praeclara« kommt in den Farbeneffekt von Astorgas Stabat eine helle und kräftige Wen- dung. Die heilige Maria wird beim Anfang der Num- mer in lautem und preisendem Hymnenton gefeiert, sie erscheint im Glänze der Himmelskönigin. Nacl^ der ersten Fermate kehrt aber die Musik dem Text und

dem . >Tag der sieben Schmerzen« entsprechend in den mitleidigen mid trauernden Charakter zurück. Die Baßarie >Fac me plagis vulnerari« (Nr. 8) ist derjenige Teil der Komposition, welcher den meisten Anlaß zu Bedenken gegeben hat. Ihre muntren Themen, ihre kolorierten Gänge machen leicht den Eindruck vollständiger Trivialität. Gedacht ist diese zunächst befremdende Musik aus einem Gremilte, welches durch die Idee, mit dem Heiland zu leiden und Opfer zu bringen, in freudige Begeisterung versetzt wird. Der Schlußchor »Christe cum jam sit exire« bringt für die erste Hälfte vom letzten Vers der Sequenz eine Variante.v Erst beim >Quando corpus« lenkt v er in die iibliche Lesart ein. Seiner musikalischen An- lage liegt ein Schema zugrunde, welches mit den Opern der Cavalli und Cesti in Aufnahme kam: die Verbindung eines feierlich ruhigen und eines lebendig bewegten Tempos. Händel hat von demselben häufig, u. a. in seinem »Messias« bei dem Abschnitt »Wie durch Einen der Tod usw.« sehr wirkungsvoll Gebrauch gemacht. Die Stimmung des Allegro mit seinen tänzelnden Motiven, wie auch die der am Ende einsetzenden Fuge auf »Amen« geht von dem Gedanken an »paradisi gloria« aus. Josquin und ^alestrina streifen das Bild von den Freuden des ewigen Lebens, Steffani, Astorga und die meisten Tonsetzer, welche nach ihnen das Stabat komponiert haben, führen es uns zur langen Betrachtung.vor die Augen und geben dadurch dem Werke' einen glänzenden Abschluß. Die älteste Partitur des Werkes stammt aus London. Neue Ausgaben desselben erschienen in den Sammlungen von Rochlitz (drei Num- mern), Kümmel] femer bei Bote und Bock und bei Kamrodt (Bearbeitung von R. Franz, welcher die Kontinuostimme für zwei Klarinetten und Fagott ausgeschrieben hat).

Das Stabat mater von Pergolesi, welches sich die &• 6. Pergolesi, Brüderschaft des heiligen Ludwig da Palazzo bei dem Stabat mater. Komponisten als Ablösung für die erwähnten Arbeiten A. Scarlattis bestellte und dessen Originalpartitur noch heute auf Monte Gassino wie eine Reliquie bewahrt und verehrt wird, hat Jahrzehnte lang in dem Repertoire eine

-^ 352

ähnliche bevorzugte Stellung eingenommen, wie sie in anderen Zeiten sich nur für Grauns »Tod Jesuc und für Mozarts »Requiem« nachweisen läßt. Erschienen doch nicht lange, nachdem das Werk im Gefolge der »Serva padrona« sich verbreitete, in Paris fünf verschiedeneKlavier- auszüge hinter einander. Der gegen das Ende des acht- zehnten Jahrhunderts gegen die geniale und bestrickende Komposition erhobne Widerspruch floß zum Teil mit aus der Notlage, in welcher sich die deutsche Musik im eigenen Lande gegenüber dem überschwänglichen Kultus der italienischen Kunst befand. Unter den Männern, welche trotzdem für die Schönheit des Stabat Pergolesis eintraten, bemerken wir Wfeland, Dittersdorf, Reichardt und J. A. Hiller. Letzterer tut es mit gehamischten Worten. In der Vorrede zu dem ereten Klavierauszuge, welchen er von dem Werke veröffentlichte, sagt Hiller halb in der Sprache des späteren Schikaneder-Sarastro: wer bei diesen Tönen Pergolesis kalt und ungerührt bleiben kann, »verdiente nicht ein Mensch zu sein.« Gleichwohl hat neuerdings wieder ein katholischer Musik- gelehrter im Eifer für die Rechte des Gregorianischen Chorals das Stabat mater Pergolesis als »Musik für Badekapellen« erklärt. Der eine Hauptvorwurf, welcher dieser Komposition von den früheren Gegnern gemacht ^ wurde, der der unrichtigen Deklamation, ist zum Teil \' begründet. Denn aus rein musikalischem Wohlgefallen / an bestimmten Motiven .wiederholt sie Pergolesi zuweilen /auch an Textstellen, wo sie nicht mehr passen. Zum ' anderen Teile beruht er aber auf einer falschen Idee von dem Zwecke des ganzen Stabat. Das ist keine eigent- liche Passionsmusik, wie mit Klopstock mehrere deutsche Übersetzer des lateinischen Textes angenommen zu ha- ben scheinen, sondern eben eine Marienklage. Auf den milderen Ton der letzteren hat Pergolesi seine Saiten gestimmt; ihm entspricht auch das äußere Kolorit des Werkes mit, namentlich die Besetzung der > Gesang- partien durch ein bloßes Duett zweier hohen Stimmen. Clari hat allerdings aucl^ eine ganze Messe bloß für

353 «—

Sopran und Altsolo geschrieben ; aber dieser Vokalapparat war in dem Falle des Stabat doch mehr an seinem eigent- lichen Platze. Wenn unter den verschiedenen Bearbeitern der Komposition Pergolesis (Paisiello, Salieri, HUler, Lwoff) einige diesen zweistimmigen Ghorsatz in einen gemischten vierstimmigen umwandelten, wozu einige anscheinend fu- gierende Sätze das »Fac ut ardeat« und das »Amen« allerdings verlocken, so haben sie ihn damit eines inne- ren Charakterzuges beraubt Freilich als einfaches Solo- duett zweier*Frauenstimmen läßt sich dieses Stabat mater auch nicht durchweg zur Wirkung bringen. Da kliügen einige der mächtigsten Stellen : das sechs Takte lange Unisono auf g zu dem Worte »videt« in »Pro peccatis usw.«, dißr Perle des Werks, und ähnliche geradezu sinnlos. Es ist für jene Männersoprane der Zeit Pergolesis ge- schrieben, welche aus ihrer breiten Brust anschwellende Töne von der Gewalt der Posaunen hervorzuziehen ver- standen. Will man der Absicht des Komponisten mit unseren heutigen Mitteln entsprechen, so bleibt nichts besseres übrig, als die zwei Stimmen chorweise zu be- setzen. Bei einer glückenden Ausführung wird dann das Werk aber noch heute und immer so wirken, wie es J. A. Hiller in seiner Begeisterung gesagt hat, wenn auch nicht in allen Sätzen. In erster Linie stehen das Duett (Nr. ^) mit dem sekündenmäßig dissonierenden Thema, welches in der Fdur-Messe Pergolesis (der ersten seiner vier Messen) ähnlich im Kyrie vorkommt; ferner der Sopransatz »Cujus animam« mit dem so charakteristisch verwerteten italienischen Rhythmus, das Duett »0 quam tristis«, die Altarie »Quae moerebat« mit dem rührenden Terzengang, der zum erstenmal nach dem Worte: »in- cliti« auftritt, und den schluchzend aufschlagenden Sexten, das Duett: »Quis est homo« und das unmittelbar an- schließende, als eine Fortsetzung gedachte »Pro peccatis«, schließlich noch die Nummer M (»Fac ut portem«). An f die Kunst der Gedankenausführung darf man auch in ] diesen Sätzen keine großen Ansprüche stellen. Die ^ musikalische Architektur war Pergolesis starke Seite *

II, 1. 23

-^ 354 ♦—

nicht : in der Mehrzahl seiner Arien sind die einfachen großen Züge der alten Gattung durch eine Vielheit und durch einen Reichtum kleinerer Ideen ersetzt Aber jeder diespr Einfälle ist melodisch oder auch in der Harmonie ein Geniehlitz. Dafür, daß Pergolesi Schule gemacht hat, zeugt ein Stahat für zwei Soprane und Alt mit Begleitung von Violinen und Q. Abos, Orgel von G. Abos (Santinische Bibliothek in Münster).

Stabat mater. Vor und nach der Arbeit Pergolesis hat das A 8. Jahr- hundert noch eine beträchtliche Zahl in ihrer Zeit viel geltender Kompositionen des Stabat mater gel)rachi Die bekanntesten sind die vonFux, Caldara*), Gasparini, Gaßmann, Hasse, Traetta, Wagenseil, Rodewdld, J. Haydn, J. Haydn. Das letztere ist in der Geschichte Haydns

Stabat mater. deshalb bemerkenswert, weil es zuerst seinen Ruf als Gesangskomponist verbreitete. Es ging schnell über Deutschland hinaus, erschien in Paris und London in eigenen Ausgaben und hat sich fast bis in die Mitte des 1 9. Jahrhunderts immer einmal wieder auf den Aufführungs- listen gezeigt. Wie man das ganze Werk im allgemeinen als eine Studie im italienischen Stile bezeichnen kann, bei welchem auch alle Untugenden des Vorbildes eifrig und blindüngs nachgeschaffen wurden, so verrät es noch ganz speziell den Einfluß Pergolesis, in dem träumerisch eigen- sinnigen Festhalten und Wiederholen kurzer Motive. Zwei seiner sechs Solonummem, die Altarie >0 quam tristis« und die Baßarie »Pro peccatis«, sind in neuerer Zeit in Einzelausgaben veröffentlicht worden. Obwohl die Chöre von dem veralteten und unnatürüchen Virtuosenputz, den die Arien tragen, frei sind, entstellt doch auch sie ein äußerhcher und gewaltsamer Zug der Deklamation. Haydn ist aus dieser Komposition schwer heraus zu er- kennen. Daß sie während der Herrschaft des neapolita- nischen Stils ihren Kreis von Bewunderem fand, ist von selbst erklärlich. Wie aber in der Regel die schwachen Partien solcher Tonwerke, welche wir heute als veraltet erklären, schon in deren Jugendzeit bemerkt und bean-

*) Denkmiler der Tonkunst in Österreich XIII, 1.

-^ 355 *>—

standet worden sind, so hat auch das Stabat i^ater J. Haydns schon im ^ 8. Jahrhundert starken Widerspruch erfahren. Die schärfste Kritik an ihm übte J. F. Reichardt Diejenige Nummer, welche in ihrem Wohlklang und in ihrem Aufbau einen Zeit und Mängel überragenden Vor- zug besitzt, ist das Quartett mit Chor: »Virgo virginum praedarac.

Haydn ist nicht der einzige deutsche Komponist, welcher bei der Arbeit am Stabat mater unter italieni- schen Bann trat. Einer ganzen Reihe von Landsleuten, die nach ihm kamen, geschah es ähnlich, unter ihnen Schuster, P. vonWinter von ihm sind drei »Stabatc ßclniBter. vorhanden , S ey fr ied, Neukomm. Am auffälligsten P. v. Winter. ist diese Erscheinung bei Bernhard Kl ein. Frei vom frem- Seyfried. den Einfluß, aber nicht bedeutend sind ein lateinisches und Kenkoiain. ein deutsches Stabat F. Schuberts. Unter den gebürtigen Klein. Italienern, welche die Sequenz weiter in Musik setzten, F. Sohubert. ist L. Boccherini zu erwähnen, dessen Komposition in L. Boookerini. England berühmt gewesen zu sein scheint ""l. Nach ihm sind N. Zingarelli, welchem 28 verschiedene Kompo- N. ZingarelU. sitionen des Textes zugeschrieben werden, und L. Baini, L. Baini, von welchem wir ein Stabat für dreistimmigen Männer- Stabat für chor (a capella) besitzen, zu notieren. Das nächste Männer- Stabat, welches zuerst wieder nach der Haydnschen stimmen Komposition die Schranken von Ländern und Nationen (a capella). überwand, war wiederum Italienischer Abkunft. Es ist das Stabat mater von G.Rossini (4 832 erste, 1844 &. Sossini, zweite Fassung), ein vielleicht durchaus fromm gemeintes, Stabat mater. aber streckenweise vollständig frivol ausgefallenes Werk. Als glänzendes, teilweise geniales Denkmal einer Periode wunderlichen Verfalles religiöser Tonkunst in romanischen

DU

\

*) Der Hinweis auf Boccherini ist einem Aufsatz von 0. B. Edgar entnommen, der ohne Ahnung von der Existenz dieses Führers unter dem Titel: SettiLngs of the Stabat Mater (im Jahrgang 1901 der SammelbSnde der J. M. G.) die Ge- schichte der Stabat-Kompositionen nochmals (auf 4Ys Selten) zu skizzieren sucht.

23*

--^ 356 ^—

Landen, bleibt es von dauerndem Interesse. Man könnte es in allen Musikschulen aufstellen als warnendes Beispiel dafür, wohin eine falsche Richtung zu führen vermag. Denn reihen wir dieses Werk geschichtlich ein, so ist es die letzte Spitze einer Grruppe, zu welcher auch Pergolesi gehört. Freilich zwischen Pergolesis Stabat mater und dem von Rossini ist noch ein weiter Weg. Aber das Prinzip teilen die beiden Tonsetzer das für die Vokal- komposition unselige Prinzip der schon oft zitierten ;ieapolitanischen Schule: die Musik zur freien Herrin zu machen. Bei Rossini hat es zu einer vollständigen Auf- lösung von Sinn und Wesen des Wortes geführt, zu Ver- stößen gegen den Geist des Textes und zur Roheit und Stumpfheit der Form und Grammatik gegenüber. Aus einer Reihe der Nummern dieses Stabat kann man Tänze machen: andere kommen in der Wiedergabe der Stimmung nicht höher als bis zum Niveau der beliebten Preghieren in den Opern der Rossinischen Periode oder zu dem der chorischen Gespensterballaden. Diejenigen Nummern, welche man ungetrübter genießen, zum Teil bewundern kann, sind >Eja m^^ter« (Chor mit Rezitativ), »Sancta mater« (Quartett), »Inflammatus« (Sopransolo mit Chor, in den Violinen das Begleitungsmotiv aus dem Agnus des »CmoU-Requiems« von Cherubini), »Quando corpus« (Quartett, Hauptthema des ersten Abschnitts mit Haydn übereinstimmend) und das »Amen«. In Deutsch- land kann das Werk seit Jahrzehnten als praktisch über- wunden angesehen werden. In anderen Ländern, auch in England, begegnen wir ihm noch auf den Program- men. Schon im Jahre ^845, zur Zeit, wo die Komposition / ihren Triumphzug begann, hat unter anderen R. Wagner ^ volle Schalen des Spottes über dieselbe ausgegossen.

Eine auf eine französische Paraphrase komponiertes

Stabat mater von Gounod ist im Ausland unbekannt

geblieben. Unter den Kompositionen des Stabat aus der

F. Kiel, neuesten Zeit ist zunächst das von F. Kiel bemerkens-

Stabat mater. wert. Kiel folgt Pergolesi,. indem er nur Frauenstimmen

verwendet (dreistimmigen Chor und Solo). In den

357 «—

Solls ist etwas zu viel an Ausdruck getan, unter den Chorsätzen ragt der die Traurigkeit in strenge Formen gießende erste Vers »Stabat usw.« nnd der achte »Virgo virginum« hervor. Letzterer ist eine der trefflichsten Nummern in der ganzen Literatur des Stabat mater, ein inbrünstiger, aber echt weiblich gedachter, schöner Hymnus auf die Mutter Jesu. Auch Franz La ebner F. Laclmer, hat in seinem op. 4 68 das Stabat mater für zwei Frauen^ Stabat mater. stimmen komponiert (mit Begleitung von Orgel und . Streichorchester ohne Viohnen). Dieses Werk ist eine der stimmungsvollsten Kompositionen Lachners: in der Führung der Singstimmen musterhaft, in den Formen schlicht und knapp. Seine hervorragendsten Nummern sind die kanonischen Duette. Einige Jahre yorhor hat Lachner die Sequenz in einer großen doppel- chörigen Komposition (op. 164) ausgeführt. Die bedeu- teudste Stelle in dieser bildet die Behandlung der Worte »dum emisit spiritum«. Die neuere Zeit hat auch einige bedeutende Kompositionen des Stabat mater im a ca- pella-Stile zu verzeichnen, welche zwar nicht in Umlauf gekommen, aber doch an einzelnen Orten mit Erfolg aufgeführt worden sind. Es sind di^ von E. F. Richter E. F. Eiohter, (sechsstimmig), Franz Wüllner (achtstimmig) und F. Wüllner, M. Zenger (zweichörig, Manuskript). Unter den neueren M. Zenger. Bearbeitungen der Sequenz für Chor mit Orchester sind ^ hervorzuheben die von Th. Gouvy, welche tüchtige Th. Gouvy, Leistungen im mehrstimmigen Satze aufweist, und die von J. Rheinb erger. Letztere, nur mit Streichorchester J. Eheinberger. und Orgel, nimmt Rücksichteri' auf leichte Ausführbarkeit und bescheidet sich nach Rheinbergers Art auch im Ausdruck auf die kirchlichen Grenzen. In diesen engen Schranken doch gehaltvolle Tonbilder entworfen zu ha- ben, ist ein bedeutendes Verdienst Rheinbergers. Beson- ders wirken die Abschnitte anmutigen Inhalts; unter ihnen in erster Linie das »Eja mater«. Eine durch Selb- ständigkeit der Auffassung und großen Stil bedeutende Komposition ist das Stabat mater von Anton Dvofak. A. Dvofak, Dieses Werk scheint einer großen Verbreitung sicher zu Stabat mater.

368

sein und hat bereits die Aufmerksamkeit nachhaltiger erregt. JTamentlich auf englischen Programmen begegnet man ihm verhältnismäßig oft. Der tiefere und nach- haltige Eindruck dieses Werkes ruht in erster Linie auf dem ersten und letzten Satze. Dvoi^ak hat den ersten Ver» der Sequenz zu einem Tonbilde von so mächtiger Breite und von solchem Reichtum in der Gruppierung und Bewegung ausgeführt, wie es vor ihm noch kein Tonsetzer versucht hat. Die Dichtung erlaubt und verträgt diese Anlage, wenn man sie, wie Dvofak getan hat, vom romantisch-modernen Gesichtspunkte aus auffaßt. Seine Musik beginnt, als wollte die Fantasie zuerst den Nebel der Zeiten durchdringen, mit einem immer wieder nach einer Richtung zeigenden, rufenden und suchen- den Oktavenmotiv. Dann Andante con moto. setzt die chromatisch be- Jj g '^ »p fy{^ ^ r j'i f i* ""

wecrfA KlacrftTTifilorlifi Hfis *F« ° f I I I [ T ' ' '

wegte Klagemelodie des Satzes erst leise, in mystischer Höhe und von anderen Stimmen noch verhüllt, ein. Sie verkörpert musikalisch die Schmerzensgestalt der Mutter Jesu und wird zum Träger eines bald rührenden, bald leidenschaftlich er- schütternden Gemäldes der seelischen Leiden, welches der Komponist vom Eintritt des Chores ab meisterhaft, mit dramatischer Kraft und Lebendigkeit ausgeführt hat. Der zweite Teil der Eingangsnummer führt von der Leidensszene hinweg. Der Tonsetzer nimmt von dem Seufzen, dem Trauern, dem Klagen, von dem die Seele durchdringenden Schwert, von allen den trüben Bildern des Textes nur geringe Notiz und gibt eine Musik, welche dem lieblichen Wesen der Mutter des Heilands zu gelten scheint. Eine etwas freie aber durch den glücklichen Kontrast sfihr schöne und wir- kungsvolle Auffassung! Das kimhüch kosende The- ma dieser träumerischen J j Partie ist instrumen- 'jR ■)<* B i ) J tal, und zwar folgendes : 1^ f f Es verbindet sich bald mit einfach ausdrucksvollen Weisen zu den Worten >0 quam tristis et acclinis«, in

^ 359 ^>—

deren Durchführung, sich Solo- und Ghorstimmen in steigerndem Wechsel ablösen. Der dritte Teil der Nummer ist im wesentlichen eine Wiederholung des ersten. Die zweite Nummer umfaßt ebenfalls wieder zwei Verse der Dichtung. Ausgeführt wird sie vom Soloquartett, welches für den dritten Vers »Quis est homo« ein ^ AncUsost. schwermütiges Thema durchführt, dessen m j i jn Ji Ivj J entscheidender Teil auf das kurze Motiv: " ' oiri#Mt*hajno aufgebaut ist. Den zweiten Teil zu den Worten »Pro pecca- tis« trägt auf breiteren ruhigeren Rhythmen die Melodie:

ß _ L t. t. ... - ***•> ^^^ ^®° Stimmen in Nach-

j^l|-|F":f}«Jnr' J) Jjp" Hp ^ ahmungen fortgeführt und ?to pee.of.tu ftt.*» gev.tis an den Schlüssen der Ab- schnitte schmerzvoll moduliert. Sehr interessant ist die pathetische, rezitativartige Einleitung dieses zweiten oder Mittelteils. Der dritte, der Schlußteil, gibt mit Verände- rungen eine Wiederholung des ersten. Ganz ergreifend in der Kürze ist die Behandlung der Worte »dum emisit usw.«. Die Singstimmen stammeln auf .einem Ton. Die Instru- mente malen mit Harmonie und Rhythmus den Vorgang. Die 'erste Hälfte des fünften Verses »Eja mater« hat die musikalische Basis eines Trauermarsches. Sein Hauptmotiv And-eon moto. Hegt in den Bässen. Äußerst packend

führt der Tonsetzer von diesem starren Grunde aus schnell wie hingerissen und gepackt in die Sprache des Herzens über. Diese gewal- tige melodische Bewegung beschränkt sich vorwiegend auf die Bässe, an einzelnen Stellen ergreift sie aber auch mächtig die Oberstimmen. Der Mittelteil, ganz dem rührenden Gesang gewidmet, ist nur kurz. Die nächste, vierte Nummer der Komposition umfaßt die zweite Hälfte des fünften und die erste des sechsten Verses. Wie diese formelle Anordnung von dem Gewohnten abweicht, so hat DvoiFak ersichtUch auch in dem Charakter der Musik eine eigene Auffassung erstrebt. Seine Behandlung der Worte »fac ut ardeat«, welche dem Solobaß übertragen sind, bildet in ihrer diisteren, angstvoll unruhigen Weise geradezu einen Protest gegen die weiche Musik, mit

^ 360

welcher die Italiener diese Bitte wiederzugeben pflegen. Verstöße gegen die lateinische Prosodie, wie sie am An- fang des Baßsolo vorkommen, tut man gut zu tibersehen. Sie begegnen uns auch noch an anderen Stellen dieses Stabat. Auch die Franzosen pflegen sich bekanntlich in ihren Kompositionen lateinischer Texte um die natürliche Länge und Kürze der Silben nicht zu bekümmern. Eine Stelle von hervorragender Schönheit ist der Einsatz des Frauenchors, welcher die Worte »Sancta matert kirchlich hedartig durchführt. Schon der Wechsel der Tonart allein aus Moll nach Dur wirkt hier freundlich. Die fünfte Nummer, welcher die zweite Hälfte des sechste» Verses als Text zugewiesen ist, scheint an diesen freudigen Augenbhck anzuknüpfen. Sie ist ein hebhches Ghor- pastorale im «/g-Takt. Nur der Begriff der »poenae« wirft einige Schatten hinein. Die Stimmen heben das Wort wiederholt in harten Akzenten heraus und führen in der erregten Stimmung dieser Episoden den Text in einem eigenen Mittelsatz aus. Ganz ähnlich hat Dvoi^ak in dem folgenden Satze (Tenorsolo mit Chor), welchem der siebente Vers: »Fac me vere tecum flere« zu Grunde liegt, die Worte >in planctu desidero« zum Anlaß eines dramatischen Alarms benutzt. Der Hauptsatz dieser Nummer nähert sich mit seiner einfachen, liebenswürdigen Melodie ganz dem Typus des modernen kathohschen Kirchenliedes. Auch der nächste Chor »Virgo virginum« knüpft künstlerisch verzierend und bildend an Reminis- zenzen aus dem Stile an, in welchem das Stabat in der Praxis der Kirchenchöre erscheint. Der bedeutendste unter den noch übrigen Sätzen der Komposition ist der zehnte, der Schlußsatz Seine Themen greifen vorwiegend auf den ersten Satz zurück*. Es ist aber manches poetisch für den neuen Text gewendet und zugefügt. Schön be- rührt namentlich die sanfte träumerische Weise, in welcher der Gedanke an den Tod (»Quando corpus morietur«) vorgeführt wird. Der letzte Teil mit dem »Amen« ist kunstvoll- im doppelten Kontrapunkt ge- arbeitet und unterstützt den Ausdruck der aufs Paradies

<V 36« ^—

gerichteten Stimmung durch bedeutende Wirkungen im Klang.

24 Jahre nach dem Requiem trat auch G. Verdi ö, Verdi, mit einem großen Stabat mater hervor. Es ist das zweite Stück in den berühmten »Quattro pezzi sacri«, die für die Reformbestrebungen in der italienischen Kirchenmusik die Bedeutung ^ines Leuchtturms haben. Verdi, der geistig bedeutendste Tonmeister, den Italien im 4 9. Jahrhundert gehabt hat, bekennt sich in ihnen ohne jeden Abzug zu den alten strengen Forderungen des kirchlichen. Musikstils. Er geht soweit in der Unter- werfung unter den Text, daß er ganz auf Wiederholung von Worten oder kleinen Sätzen verzichtet. Zweitens sucht er ähnlich wie F. Liszt zu beweisen, daß die Grundgesetze des kirchlichen Stils sich aüfs treulichste mit den modernen Mitteln vertragen. Sie könnten für ein neues Tridentiner Konzil geschrieben sein. Trotz aller kunstgeschichtlichen Beziehungen und Absicjiiten sind aber diese geistlichen Stücke nicht Studien-, sondern vollendete Kunstwerke. Ihre Schönheit vermag tief zu eingreifen; jedoch äußert sie sich nicht in den bequem- sten und jedermann vertrauten Formen. Namentlich in dem Stabat mater und in dem Te Deum ist von einem eigentlichen musikalischen Aufbau kaum die Rede. Ihre Teile und Abschnitte sind lose aneinandergereiht, ohne jedes G6füge; auf wiederkehrende Hauptthemen und andere Mittel der Ordnung und Übersicht ist fast ganz verzichtet. Die Zusammensetzung des Ganzen, die Kom- position im wörtlichen Sinne, erinnert hier an die frühe- sten Zeiten des begleiteten Sologesangs. Die äußeren Zeichen der Einheit fehlen; nur innerlich macht sie sich fühlbar durch den Anteil der einzelnen Sätze an der durch- gehenden Grundstimmung. Den ersten Monodisten, den Vorgängern und Genossen des Monteverdi gleicht Verdi aber auch in der Hingabe und Energie, mit der er den Gehalt des Wortes zu fassen und auszudrücken sucht.

Beim Stabat mater wechselt die Gesangpartie zwi- schen Chor und Solostimmen, das Orchester tritt hinzu.

362

Verdi hat den Text als Kantate, jedoch ohne Tempo- wechsel und ohne Rezitative komponiert. Die Gliederung des Ganzen folgt den Versen und zerfällt, wie das schon seit Josquin de Pr§s üblich, in zwei Hälften: die erstere' der Beschreibung gewidmete, erregter, die zweite (von »Eja mater, foas amorisc ab) weicher und ruhiger im Gebetston. Das Ende wirft einen flüchtigen Bhck auf den Anfang: die Instrumente schließen nach dem Amen mit den ersten fünf Noten des ausdrucksvollen Themas, mit dem die Singstimmen beginnen:

^'i' » i fr

^^2

J I J LI IJ J

a

ßta.bat ma. tör do . lo - ,ro . sa-, jux.ta^

»poeb tenvio rit. dini. monio''^

«cruqem lA.cry. mo. «atjdiun 'peii.d^.bat f i . U i us.

Das ist alles was Verdi getan hat, den einheitlichen Charakter seiner Kantate formell zu sichern. Inner- halb der einzelnen Verse dagegen entwickelt Verdi die Tonbilder in der Regel aus einem kürzeren Motiv oder Thema; nach moderner Art liegt ein beträchtlicher Teil dieser Hauptstützen der Darstellung in den Instrumen- ten. Sie bringen die

3Z~

ST

=>

Überschrift des Ganzen, j^ y «

vier Takte lauter, leerer tJ

Klage auf zwei Tönen:

die eine ganze Ouvertüre in sich schließen. Sie enthüllen

die seufzende Seele (animam gementem) ^-^ ^

der Mater dolorosa mit einer Kette ^fk^

von Klagelauten, aus dem Motiv: «^

gewunden. Das wachsende Herzeleid drückt (bei quae

moerebat et q . . - . bis in eine beäng-

dolebat) die (feT » 7J/J p tjf n I stigende Höhe an- längere Figur: "*^ '"" ^ steigend aus, und als der Text von der Marter des Herrn berichtet (»Pro

—^ 363

peccatis suae gentis vidit Jesum in tormentis«), kommt mit ^ I 11 I I I . *^ Orchester eine leiden-

dem If^V' vJjiJ J J J J^ schaftliche Unruhe, durch Motiv: «^ Trompetenklang und ver-

minderte Septakkorde bis zur Wildheit gesteigert. Das ist die Stelle in der Kantate, wo Verdi seinem drama- tischen Geist die vollste Freiheit gelassen hat. Nach den Worten »flagellis subditum« wird es plötzlich still, nur ein Hornton klingt noch fort; dann berichtet der Chor kleinlaut und stockend: vidit suum dulcem Na- tum usw. Einfacher und gewaltiger, naturgetreuer kann der Augenblick, wo der Maria das Herz bricht, nicht ge- schildert werden, als durch diese Stelle. Während den Instrumenten in dieser ersten Hälfte des Stabat im All- gemeinen die Situation übertragen ist, haben die Chor- stimmen die Empfindungen auszusprechen, die durch die berichteten Vorgänge hervorgerufen werden. Zum größe- ren Teil tun sie das deklamierend mit dem musikalischen Schwerpunkt in den Harn\pnien, innerer Bewegung und inneren Druckes voll zum häufigen Halten gezwungen. Zum geringeren Teil nur fassen sie das Gefühl in die Form melodisch geregelten Gesangs. In längerem Zug ergießt er q .,, n^. . , , ,,. PP , t sich erst bei A by» T p | f T f f I r \'i ^«^-

dem Verse: "^ Qui e§t_ ho. mo, qui non fle-.*et

Das ist das erste Thema, das im Chor breiter entwickelt wird. Auf seinen Anfangsnoten ruht auch das Nachspiel, mit dem das Orchester die erste Hälfte der Kantate be- endet.

Ihre zweite Hälfte setzt, von der ersten schon in der Tonart, sehr scharf unterschieden: Hdur auf Bdur ein. Das Soloquartett stimmt (ohne Begleitung) einen andächtigen Gebetshymnus an, mild ergeben und im Ton einer Rührung, die den Tränenweg gegangen ist. Aber schon beim Einsatz von Chor und Orchester (Sancta Mater istud agas usw.) zieht in die Musik eine Aufregung ein, in der die Erinnerung an das Leiden des Heilands und seiner Mutter wieder lebendig aufwacht. Bei den

-<y 364 -ft>—

Worten: crucifixi fige piagas kehrt das Martermotiv aus der ersten Hälfte im Orchester leibhaftig wieder. Daß die Erregung der Seele auch durch das Gebet nicht über- wunden wird, das ists was Verdis Auffassung des Stabat mater von allen neueren Kompositionen der Sequenz scharf unterscheidet. In diesem Sinne hat er den alteii Kirchentext dramatisch behandelt Am deutlichsten zeigt das der Vers: »Fac me cruce inebriari usw.«. Bei den Worten: »flammis ne urar succensus« und »in die judicii« entfesselt er alle Schauer eines Dies irae. Nicht bloß das Orchester bäumt sich in Schrecken, auch der Chor wird vom Fieber ergriffen, stürzt aus dem ppp ins ff, aus der Tiefe plötzlich in die Höhe. Die Trompete bläst Alarm und als die Musik (bei Ghriste cum sit hinc exire usw.) äußerlich wieder ruhig geworden, zittert doch der Ton- körper immer noch eine Weile innerlich fort. Jene dra- matische Auffassung äußert sich schwächer, aber eigent- lich ohne Unterbrechung durch fast alle Abschnitte der zweiten Hälfte in den kurzen Zwischenspielen, mit denen das Orchester die Abschlüsse der so eigen nachdenklich harmonisierten Hauptmelodie:

j> >i'' J' J I J fi kJJ ItjJ. /^ N "J

;u8w.

die von den Worten: »Tui nati vulnerati usw.« ab den Gesang immer wieder trägt, markiert, in den rhyth- misch bewegten Figuren, mit denen es begleitet. Das Ende wirkt, auch mit ähnlichen Mitteln wie in der ersten Hälfte, wieder durch den Gegensatz. Mit dem Vers »Quando cor- pus morietur« tritt erhabene Ruhe ein. Das letzte Bild des Textes erscheint in Farben, die mit denen Palestrinas an derselben Stelle identisch sind: der Himmel scheint sich auf das Wort: Paradisi gloria dem Komponisten weit auf- zutun. Nach diesem Blick nur noch ein seliges Träumen in dämmernden Harmonien!

365

Das >Te deum«, der sogenannte Ambrosianische* Lobgesang, ist die offizielle Festhymne, mit welcher die Kirche Gott dem Vater und Gott dem Sohne ihren Dank für außerordentliche Gnadenakte darzubringen pflegt. Seit dem vierten Jahrhundert der christlichen Zeitrech- nung bis heute wird das Te deum bei hohen Feiertagen der Kirche und dann angestimmt, wenn außerordentliche freudige Ereignisse im staatlichen Leben einen kirchlichen Ausdruck heischen. Das Te deum ist eins der festesten Bänder, welches die Kirche mit dem allgemeinen Volks- leben, ohne Rücksicht auf Parteien und Konfessionen, verknüpft, unter den Hymnen eine der fantasievollsten und schwunghaftesten Dichtungen. Sie bringt der Ton- kunst schöne und dankbare Aufgaben entgegen wie kaum eine zweite. Welcher Ktinstlergeist würde nicht ent- flammt, wenn er in den einzelnen Versen die Chöre der Engel, der Cherubim und Seraphim, die Ch"Öre der Pro- pheten, der Apostel nach einander herschreiten sieht, vor dem Thron des Vaters und des Sohnes Jubel, Dank und Bitte vorzusingen! Wie greifbar stehen diese Bilder vor der Fantasie und wie natürlich setzen sie die musika- lischen Mittel in Bewegung! Nach den neueren Forschungen stammt der Hymnus aus antiker Quelle. Ambrosius fand ihn in der musikalischen Form vor, welche im wesent- lichen noch der Fassung der neuesten Liturgien zu Grunde liegt: als Wechselgesang. Aber wahrscheinlich hat der Bischof von Mailand an der lateinischen Übersetzung de& Lobgesanges und an seiner Einführung in die abend- ländische Kirche persönlichen Anteil gehabt. Die Melo- dien, in welche er zu jener Zeit gekleidet war, kennen wir nur in Gregorianischer Umprägung. Die Kirche hat sich mit ihnen lange allein begnügt, In der Zeit, wo die kunstvolle Zurichtung der Meßgesänge bereits in hoher Blüte stand, sang man das Te deum vorwiegend ein- stimmig weiter. Die Zahl bedeutender Chorwerke auf Grund des Ambrosianischen Lobgesanges, welche aus der großen Vokalperiode bekannt sind, ist verhältnismäßig gering, und nur sehr wenige sind davon neu und in

--♦ 366 ♦—

•Partitur gedruckt. Unter letzteren nimmt nach Alter, Größe der Anlage und innerem Wert das achtstimmige Te deum J. Vaet. von JacobVaet, welches Commer in der » Collectio operum musicorum batavorum« mitteilt, die erste Stelle ein. Nach ihm wäre das von Maldeghem mitgeteilte, sehr kompakte J. de Kerle. Te deum J. de Kerles darnach das wieder von Commer (in 0. di Lasso, seiner »Musica sacra«) gebrachte des Orlando di Lasso anzuführen. Weiter sind in den Sammelwerken von Proske, Anerio, Lück, Alfieri, Eslava Kompositionen von beiden An er ios, C. Pesta, C. Festa, Gallus,Ortizzu nennen. Deutsche Koipposi- ÖalluB, Ortiz. tionen in verschiedenen deutschen Übersetzungen*) von Haßler, Prä- Haßler,Prätorius,Scheinu. a. teilen Teschner, Tucher torins, Schein, und Becker mit**}. Sie sind durchschnittUch kurz, ohne Ausführung der einzelnen Versbilder. Der bekannte Satz Galvisins. des Calvisius, der in neuere Kantionale aufgenommen worden ist, kann für sie als Muster gelten. Von größeren im 4 7. Jahrhundert berühmten deutschen Te deums würden sich H. Prätorias, das sechzehnstimmige von H. Prätorius und das sechs- G. Demantiiis. stimmige von G.Demantius zum Neudruck empfehlen. Am zahlreichsten haben wir neue Partiturdrucke von Te deums englischer Komponisten des i 6. und 4 7. Jahrhunderts. Von Byrd, Olbbons. Byrd und Gibbons ab sind die namhaften Tonsetzer Englands einer nach dem andern in Novellos patriotisch praktischer Sammlung: »Services, Anthems usw.« in erster Linie mit Kompositionen des Ambrosianischen Lobgesanges vertreten. Diese englischen Te deums pflegen au der H. Pnroell, Spitze einer Reihe von Meßsätzen zu stehen. Henry Te deum. Purcells achtstimmige Komposition ist davon die bedeu- tendste und wurde die gefeiertste. Vom Jahre 4 694 ab führte man es wenigstens in London an jedem Cädlientag auf, und noch heute lebt es in der Praxis der , eng- lischen Kirchenchöre. Kein Weihnachten ohne Purcells Te deum wenigstens in einer der Kirchen der Hauptstadt !

*) Vgl. W. Biumker: Das deutsche Te deum (in Haberls K.-M. Jahrb. f. 1900).

**) Eine weitere von Erasmns Kindermann in den Denkmälern der Tonkunst in Bayern, Bd. XXIV.

■— * 367

Unter den großen T<^nsetzerh der nächsten Zeit, deren Te deums besonders angesehen waren und Vet- breitung fanden, sind zu nennen Lully, Fux, Caldara, Te Dennis von Darante, Leo. Die von *Fax und Durante sind im Lnlly, Fax, Gal- a capella-Stile und in einejn Zuge fugierend durchge- dara, Darante, führt. Das von Caldara hat Orgelbegleitung. Zu denen Leo. von Lully und Leo begleitet das Orchester. Sie stehen in Ddur wie die Mehrzahl der weiteren Te deums der Instrumentalperiode. Denn Ddur war die Leibtonart der alten Trompeten, welche fortan beim Ambrosianischen Lobgesang im Chor der Instnmiente eine Hauptstimme erhielten. Derjenige Tonsetzer, welcher in dieser Periode das Te deum am herrlichsten zu singen verstand, war unser G. F. Händel. Er nahm von diesem Felde, auf 0. F. Händel, welchem er bis zur Gegenwart als der Erste hervor- Utrechter Te ragt, zuerst im Jahre 47i3 Besitz und zwar mit dem deum. sogenannten Utrechter Te deum. Dieses Werk hat für die Lebensgeschichte Händeis vorübergehend un- angenehme Bedeutung gehabt. Händeis damaliger Brot- herr, der Kurfürst von Hannover, gegen dessen Interesse die Beschlüsse des Utrechter Kongresses gingen, nahm es seinem Kapellmeister übel. Die Ungnade des nach- maligen Königs Georg I. war die Folge dieser Komposi- tion; erst die »Wassermusik« im Jahre 4 74 5 brachte das Verhältnis wieder ins gleiche. Händel hat, wie Chrysan- der aus dem Vergleiche der beiden Werke nachweist, bei der Komposition dieses Te deums das eben angeführte von Purcell absichtlich zum Modell genommen und ist ihm in der Anlage und Auffassung einzelner Textab- schnitte genau gefolgt. Größer als die Verwandtschaft ist aber der Unterschied, und namentUch ein Punkt unterscheidet Händel in dieser und in allen folgenden Vokalkompositionen mit Begleitung immer stärker von diesem und von anderen Vorgängern, wir dürfen sagen, auch von Zeitgenossen und Nachfolgern: das ist der Glanz und der Ideenreichtum in seinem Orchester. Steht das Utrechter Te deum in dieser Beziehung auch noch nicht durchaus auf der höchsten Stufe, so entfaltet

* 368 ^

es doch in der Mehrzahl seiner Sätze diesen Vorzug der Händeischen Kunst deutlich genug. Er kommt in der Wahl der Instrumentalfarben zum Ausdruck, in der Wahl der begleitenden Motive und in der Anlage der Vor- und Nachspiele. Meisterhaft weiß Händel den geistigen Strahl eines dichterischen Gedankens zu gleicher Zeit nach zwei Seiten hin leuchten zu lassen durch ein scheinbar ganz einfaches Mittel: Er teilt die Vokalpartie und die Instru- mentalpartie in die Aufgabe. So sehen wir im ersten Satze des Utrechter Te deums mit dem schmetternden und rauschenden Ausdruck des Jubels auf Grund des Motivs: ji^Bgio. d^s Orchester betraut, wäh-

'^^^ n^f r -T f r r fl r FJ '^ - ^^^^ ^^^ Chor zunächst das IjLji: *^=^^a I j. 15, j^^jj ^gg Herrn nur in feier- lich gemessenem Satze vorträgt, aus welchem lange Töne einzelner Stimmen zuweilen wie der Ruf des begeisterten Herolds heraustreten. Erst später stimmt er auf eine Weile in die fröhliche Weise der Instrumente mit ein. Schön ist besonders das mehr und mehr verklingende selbständige Nachspiel des Orchesters. Es gleicht in der Idee ganz dem zu dem ' Engelchor im Messias: »Ehre sei Gott«. Nach demselben Prinzip: mit gegensätzlichen Mitteln nach dem gleichen Ziele zu steuern, ist auch die Doppel- fuge: Te aeternum patrem (»AU the earth doth worship thee*) entworfen. Das eine Thema ^spricht, das andere jubiliert. Als dann die Instrumente in die Achtelgänge des letzteren einfallen, richtet sich der Chor zu gewaltiger Entschiedenheit auf und deklamiert, in Pausen absetzend, mächtig bedeutungsvoll ein dreimaliges »te« (»thee«\ Von dieser Doppelfuge ab, die auch nicht umfangreich ist, läuft das Utrechter Te deum auf eine lange Strecke in lauter kurzen Sätzchen weiter. Entschiedener als andere Komponisten dieser Hymne hat in ihnen Händel sich dem Dichter angeschlossen. Es dünkte ihm eine besondere und herrliche Aufgabe, die Gestalten, welche zum Lob- gesange antreten, klar musikalisch zu personifizieren. So kommt der Chor der Engel im Duett zweier Altstimmen, in welches Tenor und Baß im Einklänge wie eifrig staunend

<e^ 369 ♦—

l^ineinrüfen und begleitet von jenem bekannten Rhythmus m 300 affi d^s Streichorchesters, welchen Händel so oft In 1 1 1 " zum Hintergrund pathetischer Situationen verwendet. Die Cherubim und Seraphim werden durch zwei Solosoprane angekündigt. Das Sanctus. singt ein fünfstimmiger Chor in einem einfach ergreifenden, kirchlich und voll klingenden Satz. So ziehen, jeder von einem eignen Lichte beschienen, weiter noch die Chöre der Propheten, der Apostel und der Märtyrer vorüber. Die Gestalt der heiligen Kirche vereint wieder alle singenden Kräfte, und in einem ausdrucksvollen Adagio verbeugen sie sich gegen die hier zuerst in den Gesichtskreis des Dichters tretende Dreieinigkeit von Vater, Sohn und heiligem Geist. In dem Chor »tu rex gloriae« (»Thou art the King of Glory«) bilden die zwei Takte Adagio auf das Wort »Christec (>0 Christ t) einen eindringlichen Höhepunkt. Der nächste Satz beginnt ernst mit der Betrachtung über die Menschwerdung Christi: »When thou tookest upon thee« (»Tu ad liberan- dum usw.<). Beim Eintritt der Worte »thou didst open« (»tu aperuisti«) schlägt im hellen Gegensatz Moll nach Dur um, Adagio wird Allegro, die SoU löst das Tutti ab. Das alte venetianische Stilmotiv des Tempowechsels ist hier mit besonderem Glück verwendet und bestimmt den Bindruck der Stelle. Sucht man nach verwandten Wir- kungen, so liegt der Vergleich mit dem »Et resurrexit« der großen Messe S. Bachs und anderer Hochämter aus der Instrumentalperiode am nächsten. Kam dieser Ein- fall wie ein zündender Funke, so bildet die anschließende Fuge »thou sittest at the right band« (»tu nd dexteram dei patris«) da^ entfachte große Feuer. Unter den knap- pen Sätzen dieses Te deums bildet sie einen der imposan- testen. In der folgenden Nummer »We believe that thou shall come« (»Iudex crederisc) ist der Eintritt des vollen Chors, der ernst und in ganz einfachen Wendungen z^ beten beginnt, mächtig ergreifend. Den festlich volks- tümlichen Charakter des ütrechter Te deums bringt der Satz: »Day by day« (»Per singulos dies«) besonders

II, i, 24

treffend zum Ausdruck. Händel hat den sechsstiniinigen Chor in zwei Gruppen geteilt, welche die munteren Mo- tive der Themen in unaufhörlichem Wechsel nach allen Richtungen des Tongehietes tragen. Im Orchester sind die Händeischen Originaltrompeten sehr wichtig. Mit den Holzbläsern konzertierend, sich ablösend und vereinend, vervollständigen sie das bunt und kräftig bewegte Fest- bild, welches der Satz enthält, mit den Reizen allgemein verständlicher künstlerischer Spiele. Der . Adi^io. Satz »Vouchsafeo Lord« (»Dignare domine«) lij f-Jr} ' hat durch das Festhalten an dem Motiv: ^^' * U l = einen eigentümlich besorgten Zug. Er bleibt auch noch in dem Schlußabschnitt, wo der eintretende Chor in neuen musikalischen Weisen der Hoffnung auf Gottes Gnade Aus- druck geben soll. Dem Schlußchor >0 Lord in thee have Itrustedc (»In te do- Alle«o. mine«) hat Händel das altliturgische Motiv : es kommt bei ihm häufig vor als Motto vorange- stellt In der Verwendung <*fcr fröhlichen kurzen Gegeh- themen, welche es bald umschwärmen, in der kühnen Mischung kirchlich feierlicher und kräftig ungebundener populärer Elemente spricht schon der Schöpfer des Lob- gesangs im Israel, des »Hallelujah« im Messias. Das Utrechter Te deum war eines der frühesten Werke Han- dels, welche sich in Deutschland verbreiteten. J. A. Hiller brachte es im Jahre 4 779 im Konzert spirituel zu Leipzig zur Aufführung und veröffentlichte es bald darauf in einer Partiturausgabe. In ihr ist der englische Text durch den lateinischen «rsetzt. Aus den Änderungen, welche Hiller in der Instrumentierung vornahm, ersieht man mit Inter- esse, daß wenigstens in dem Gesichtskreis, welchen Hiller übersah, die Kunst des Klarinblasens bereits erlosch^^n war; denn der Herausgeber änderte die Händeischen Trompeten durchweg und nahm damit dem Werke einen Teil seiner bezeichnendsten Effekte. Heute kann das Prinzip nur sein, auf das Original zurückzugehen und zwar nicht bloß diesem Te deum gegenüber, sondern bei allen Werken

/

Händeis und seiner Zeitgenossen. Wollen wir den Geist der alten Kunst, so können wir ihre Mittel nicht entbehren. Es ist ein besonderes Verdienst der Berliner Hochschule und der Joachimschen Bachaufföhrungen, diesem Grund- satz in neuerer Zeit konsequent Geltung verschafft zu haben.

Was den künstlerischen Charakter von Händeis Ut- rechter Te deum betrifft, so besteht seine Eigentümlich- keit darin, daß es die Motive des Gedichts im Anschluß an die Vorlagen der englischen Tonkunst in einer Knapp- heit ausführt, welcher dem Geiste der musikalischen Grundgedanken nicht gerecht wird. Diese Sätze gleichen vorläufigen Skizzen, und als solche scheint sie Händel selbst betrachtet zu haben. In den weiteren drei Te deums (Bdur, Adur, Ddur), welche er in den Jahren 474 8—4720 in Cannons schrieb, kommt er auf ganze Sätze und auf einzelne Ideen seines Utrechter Te deums fortwährend erweiternd und umgestaltend zurück. Das erste in B dur ist unter diesen das vollkommenste. &. F. Händel, In der Anlage und dem Umfang der Sätze steht es über Te deum in B. jedem Vergleich mit dem Utrechter. Es enthält einen einzigen reinen Solosatz: »When thou tookest upon thee« (»ALs Du auf dich genommen«), eine sanfte Arie, welche Händel später für das Dettinger Te deum be- nutzte. Alle übrigen Nummern sind Giöre von merk- würdiger Besetzung: einfacher Sopran, drei Tenöre und Baß. Zum Teil ziehen sich Soli* in diese Ghorsätze hin- ein. Wenn man irgendwo die Freiheit und Unbefangen- heit von Erfindung und Haltung bewundern kann, so in diesem Bdur-Te deum. Weltfröhliche und andächtig erhabene Gedanken treten nahe aneinander, Volksfest und Gottesdienst scheinen vermischt und doch: ein Ganzes, welches hoch über der Sphäre des Gewöhnlichen steht. Nirgends spricht die Kraft Hänclels stärker als aus dieser Ungezwungenheit. Leider ist das Werk bisher ziem- lich unbenutzt geblieben. An Reichtum und Glanz der Instrumentation wird es von dem weltbekannten Dettinger Te deum übertroffen, an innerem Tonleben wohl kaum.

a. F. Handel, Das Dettinger Te de um schrieb Händel in seiner Dettinger Te Stellung als Hofkomponist zur Feier des Sieges bei deum. Dettingen, an welchem dem König von England, Georg IL, persönliche Verdienste zugeschrieben wurden. Alle Te deums Händeis stammen aus Perioden, in welchen auch das äußere Leben des Komponisten unter glücklichen Sternen stand. Die Zeit, in der das Dettinger' Te deum entstand, war unter diesen sonnigen Abschnitten in Han- dels Leben einer der erquickendsten, die Zeit der Ruhe nach rauhen Stürmen, die Zeit, wo Händel sich der eige- nen Meistertaten, der Vollendung von Israel, Messias, Samson und Judas Maccabäus freuen durfte. Die per- sönUche Stimmung des Meisters mag wohl den. großen mid auch flotten Zug, der durch das Dettinger Te deum geht, mit begünstigt haben. In einzelnen Partien des Werkes ist die Aufgabe, den Jubel und die fromme Dank- barkeit eines ganzen Volkes zum Ausdruck zu bringen, mit einer Kraft und Anschauhchkeit gelöst, welche ohne Vergleich und einzig kolossal dasteht In vorderster Linie steht unter diesen Partien der Eingang des ersten Satzes. Wir wissen von Te deums, in welchen die Komponisten (Sarti, Neukomm] Kanonen und Glocken zur Mithilfe rie- fen, von anderen (Paisiello), in welchen Märsche für Massencorps von Militärmusikern eingelegt waren. Hän- del hat hier erschütternde Wirkungen, ohne Theatercoup und ohne den Stil der höheren Kunst zu durchbrechen, erreicht. Trompeten und Pauken bei der ersten Lon- doner Händelfeier im Jahre 4784 waren die ersteren zu vierzehn besetzt mit den Holzbläsern und mit den Violinen abwechselnd und zusammentretend, geben ein glänzendes, ein berauschendes Bild vom Jubel eines begeisterten Volkes nebenbei in den Motiven mit der Einleitung zu Bachs Weihnachtsoratorium ziemlich übereinstimmend. Da rauschen breite Töne im Chore auf und mit einem Hauch ist das laute Treiben der naiven profanen Freude in die höhere Strömung reli- giöser, weihevoller Andacht eingeleitet. Kein späterer Musiker hat den zwingenden Eindruck dieser Stelle

-^ 373 ^—

überboten. Unter denen, welche ihm nahe zu kommen gestrebt haben, ist Brahms mit der Einleitung seines Triumphliedes zu nennen. Vieles im Dettinger Te deum erinnert uns an andere Werke Händeis: Der erste Drei- vierteltakt — zu den Worten: »All the earth« (Alle Welt usw.«) an eine Arie des Israel, eine ganze Perioden- gruppe in >To the Cherubim« (»Stimmt an Cherubim usw.«) ist gleichlautend mit einer im »Hallelujah« ^es Messias. Händel fragte nicht nach der Originalität der einzelnen Ideen, sondern nach ihrer Zweckmäßig- keit. In diesem Sinne hat er für dieses Dettinger Te deum auch die Arbeit eines anderen Komponisten, das Te deum des F. A. Urio mU benutzt. Ein besonderes Kennzeichen, welches aber das Dettinger Te deum von den anderen Kompositionen des Ambrosianischen Lob- gesanges aus Händeis eigner Feder noch mit unter- scheidet, liegt darin, daß dem jubelnden Ton ein ernst sinnender, gefaßter, ehrfurchtsvoller die Wage hält. Seinen Ausdruck findet er in feierlichen Episoden ein- zelner Stimmen, in liturgischen Zitaten, namentlich aber in dem ruhig fromm ausklingenden Schlußsatze und in der diesem vorhergehenden herrlichen Baßarie »Vouch- safe o Lord« (»Bewahre uns Herr«, im lateinischen Text »Dignare«), einem Meisterstück des Händeischen Arioso- stils.

Nach Händel waren es unter den namhaften Ton- setzern, welche mit Kompositionen des Ambrosianischen Hymnus vertreten sind, namentlich Graun und Hasse, deren Arbeiten weiter verbreitet waren. Auch ein Te deum N. Jomellis, »das römische« genannt, wird mit IT. Jomelli. Auszeichnung erwähnt, scheint aber nur selten aufge- führt zu sein. Von Graun existieren zwei. Das zweite C. H. Grann, (in Ddur), welches nach dem Tode des Komponisten in Zwei Te der Schloßkapelle zu Charlottenburg im Jahre 4 763 zur deums. Feier des Hubertusburger Friedens aufgeführt wurde, hat sich bis in die dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts in Choraufführungen behauptet. Die Chorstimmen, die konzertierenden Hörner und Flöten und die übrigen

371

Orchesferin Strumente überdecken die vorwiegend wei- chen Grundgedanken dieser Komposition mit einer Fülle A. Hasse, liebenswürdigen Schmuckwerks. A. Hasse werden fünf Te deum. Te deum» zugeschrieben. Das eine in Ddur, aus der mittleren Periode des Tonsetzers stammend, noch im Jahre 4 846 bei Peters mit deutschem Text von G.W.Fink neu gedruckt erlangte eine außerordentliche Berühmt- heit In Dresden war es das ständige Feststück, die Kan- toren in den Provinzen strebten nach ihm als der denk- bar höchsten Zierde ihrer Feiertagsmusiken. In der Kirche hat es bis gegen Ende des i 9. Jahrhunderts seinen Platz behauptet. Wenn es aus dem Konzert schon früher ver- schwunden ist, so liegt das an der etwas zu alltäglichen Fröhlichkeit, mit welcher in dem Eingangssatz (>Te deum laudamus«) und in dem fugierten Schlußsatz (»In te do- mine speravi«) der Chor sich mit Lob, Dank und Bekennt- nis zu Gott dem Herrn wendet. In den übrigen Partien geht der Ton glänzender Lebendigkeit, welcher die Messen Hasses verleidet, nicht über das beim Te deum zulässige Maß. Bei diesem Stücke hat die Kirche fast immer der pro- fanen Tonkunst erlaubt, mit einzustimmen. In dem Hasse- schen Te deum macht letz- ^^ Aflegroassai. tere von diesem Rechte mit der flotten Orchesterphrase Gebrauch, welche in der Form von Zwischenspielen und Begleitungsmotiven die ganze Komposition durchzieht. Sie klingt in die vorwiegend einfachen, oft sehr eigentümlich gruppierten und mächtig ergreifenden Sätze des Sänger- chors hinein, so wie der Lärm der jubelnden Menge draußen vom Platze her ins Innere der Kirchenhallen schallt. Das ganze Te deum erhält durch die Durch- führung dieses leitenden Motivs den Charakter einer einzigen großen Szene, seine Form einen Reiz, welcher Hasses geistiges Eigentum allein war. Die Mitte dieses Te deums wird von einer maßvollen und passenden Arie über die Worte »Salvum fac populum tuum« gebildet.

Aus der großen Menge hausbackener Gelegenheits- kompositionen, welche in dem letzten Drittel des

37B ♦—

48. Jahrhunderts von bekannten TonsetEem wie Brixi, Brlzi|Gamplon1, Campioni) Ciampi, Gazzaniga über das »Te deum« Ciampii geschrieben wurden, erhebt sich das kleine »Te deum« Oassanlga. Mozarts vom Jahre 4 770. Es entstand auf Bestellung der W. A. Mozart, Kaiserin Maria Theresia. Merkwürdigerweise hat die Be- Te deum. gleitung keine Blasinstrumente. Den Höhepunkt des Werks bildet die Doppelfuge über »In te domine speravi«. Ein interessantes Te deum jener Periode ist auch das von Ferradini. Es besteht, wie die alten englischen, aus Fenadini. einer Menge kleiner Sätze. AHe diese einzelnen Bilder sind aber mit ausgezeichneter Sorgfalt ausgeführt. Als ein Te deum, welches sich auf den Programmen des letzten Jahrzehntes des 48. Jahrhunderts häufiger findet, ist das von Ehregott Weinlig zu nennen. Die durch Kunst- E. Welnlig. wert und Verbreitung bedeutendste Komposition der Periode ist das zweite Te deum J. Haydns (vom Jahre J. Haydn, 4 809), welches mit dem auch vielen andern Komposi- Te deum. tionen der Hymue untergelegten deutschen Texte von Clodius: »Sieh die Völker auf den Knieen« noch heute bei Kirchen aufführungen viel benutzt wird. In der Behand- lung einzelner Textstellen (»Sanctus« z. B.) stimmt es mit dem Hasseschen Te deum überein, nimmt aber den Fest- ton im ganzen um einige Grade feierlicher. Durch die Ein- fügung hochernster, pathetischer Episoden (»Te ergo quae- sumus«, »sine peccato« und »non confundar in aeternum«) ist ihm ein Zug von Schönheit gegeben, welcher es dem Dettinger Te deum Händeis geistig nahe bringt.

Von den vielen Kompositionen des Te deum, zu wel- chen die Kriegsperiode Napoleons I. Veranlassung gab, ist keins zu bleibender Bedeutung gelangt. Als solche, welche wenigstens in der Zeit ihrer Entstehung und in den nächsten Jahren einen größeren Erfolg ernteten, sind das erste von J. v. Seyfried (Cdur) zum Einzug des J. t. Seyfriefl, Kaisers von Osterreich im Jahre 4 84 4 komponierte^ das von G. Weber und das von F. Himmel zu erwähnen. G, Weber, Das letztere ist vielleicht die ausführlichste Komposition F. Himmel, der Ambrosianischen Hymne. Auch die drei Te deums von dem bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts als Kirchen-

* 376 ^--

A. Borgt, musiker noch sehr geschätzten August Bergt, welche

in diese Zeit fallen, genossen ein allgemeines Ansehen. Wie die andern Werke dieses Tonsetzers, zeigen auch sie in den Themen und ihrer Ausführung Mozartschen Einfluß; aber in ihrer Anlage herrscht eine erfreuliche Ursprünglichkeit, Einfachheit und Größe des Stils. Namentlich das dritte (op. 4 9) wirkt mit der Gegen- überstellung ' rezitatiyartiger Solosätze und Chorstellen sehr glücklich. Mit den Bergtschen Kompositionen des

J.Q. Schicht. Lobgesangs konkurrierten die von J. G. Schicht, der das Te deum dreimal komponierte, einmal nach dem Te^t von Klopstock. Gedruckt sind nur ein lateinisches vom Jahre 4 824, welches sich an die Händeische kurz- sätzige Form anschließt und neben wirklich erhabenen Stellen auch einige schwächliche in Naumanns Weise enthält, und das Te deum (nach der Parodie Witscheis) vom Jahre 4822. Dieses (dem Universitätssängerverein zu St. Pauli gewidmet) gehört mit den Te deums von

F. A. Hftser, F. A. Häser und B. Klein zu den bedeutenderen Kom-

B. Klein. Positionen für Männerchor, welche wir aus jener Periode AbtVogleri* besitzen. Nach Bergt und Schicht haben Abt Vogler

W. Tomascliek. und W. Tomaschek Kompositionen des Te deums geliefert, welche sich durch Selbständigkeit auszeichnen. Eine praktische Bedeutung gewannen jedoch diese Arbei- ten nicht. In Frankreich sind in der Periode von Bergt

J. F. Lesnenr. und Schicht die drei Te deums von J. F. Lesueur, dem Komponisten der »Barden«, einem auch auf dem Gebiete der Kirchenmusik originellen Tonsetzer (fünf Messen, zwei Passionen, ein »Stabat« usw.) hervorzuheben. Das H. Berlios, Te deum von Berlioz, welcher in neuerer Zeit häufig Te deum. mit Lesueur in Zusammenhang gebracht wird, ist als Teil einer unausgeführt gebliebenen großen musikali- schen Epopöe auf Napoleon I. entworfen. Berlioz dachte es sich in dem Augenblicke angestimmt, wo der Konsul vom italienischen Feldzug zurückgekehrt, Notre Dame betritt. Für diesen gewaltigen Dom sind die Wechselakkorde von Orchester und Orgel, sind die drei Chöre (zwei dreistimmige und ein einstimmiger, mit

Männern und 300 Kindern zu besetzender) und eine Menge andrer Effekte des Werkes berechnet. Die Fantasie des Tonsetzers war mehr von dem Bilde einer großartigen kircjblichen Zeremonie erfüllt, als von den Worten des Textes selbst. Dieses te deum ist noch viel theatra- lischer als das Requiem von Berlioz und voll von der künstlichen Monotonie liturgischer Motive, kolossaler Psal- modien und der Steifheit tendenziöser Kontrapunktik. Bei allen Eigenheiten wird man ihm aber einen hochfeier- lichen und fesselnden Grundton nicht absprechen können. Der musikalisch schönste Satz ist »Tibi omnes angeli«, ein Stück von» der besonderen, fast gewaltsamen Innigkeit Berlioz\ Im Jahre 4835 geschrieben, ist das Werk erst 4 853 (zu London), von da ab bis 1883 (Bordeaux) nicht wieder aufgeführt worden. Seit 4 884 hat es in Deutsch- land die Aufmerksamkeit erregt. Die Partitur ist schwer zu haben, dagegen darf der englische Klavierauszug auf Verbreitung rechnen.

Äußerst «chwach ist die jüngste Generation der Tonsetzer mit JCompositionen des Te deums im Konzert- repertoirevertreten. Außer dem für Männerstimmen ge- * schriebenen Te deum von J. Rietz, einer tüchtigen, für J. Biets, das Dresdener Sängerfest (im Jahre 4865) bestimmten Te denm für Gelegenheitsarbeit, hat nur das von Anton Brückner Männetchor. {für gemischten Chor, Soli und Orchester) komponierte A. Brnokner, außerhalb des Ortes der Entstehung und ersten Auffüh- Te deula in 0. rang das Interesse größerer Kreise gefunden. Den Text behandelt diese Komposition mit einer in der Geschichte des Te deums ungewöhnlichen Subjektivität: Die Elemente des Zagens und Bangens stehen dermaßen im Vorder- grand der Brucknerschen Musik, daß der Charakter und Zweck eines Lobgesanges ernstlich gefährdet erscheinen. Auch der innere musikalische Ausbau dieses Te deums erregt viele Bedenken und läßt in der Wahl von einzelnen Themen, in der Durchführung barocker Begleitungsmotive, in der unmotivierten Hingabe an rein musikalische Ideen, welche zum Teil auch noch Reminiszenzen aus Werken Wagners sind, den durchgebildeten Geschmack und die

378 V—

Reife des künstlerischen Wesens empfindlich Termissen. Kein zweiter unter den neueren Tonsetzem zeigt die fatale Ähnlichkeit mit der zwiespaltigen Natur des üher- hildeten Abh^ Vogler so stark wie hier Brückner. Aber Größe der Intentionen und der Stimmung wird man diesem Te deum nicht absprechen können. Namentlich in den kurzen, breit rhythmisierten Schlußwendungen sei- ner knapp gestalteten Sätze rührt und ergreift das Werk oft tief. Dem Schlußsatz, in welchem ein Motiv aus dem Adagio von Brückners eigner £ dur-Symphonie eine her- vortretende Stellung einnimmt, darf dieses Zeugnis im ganzen Umfang ausgestellt werden.

Den vorläufigen Abschluß in der Geschichte bedeu- tender und ins Konzert übergegangener Kompositionen G. Verdia des Ambrosianischen Lobgesangs bildet wieder G. Verdi mit dem letzten seiner Quattro pezzi.

Die Fülle gewaltiger Fantasie, die in dem Ambrosia- nischen Lobgesang angeregt wird, läßt sich musikalisch nicht erschöpfen. Wenn aber ein Komponist in knapper Form die Aufgabe annähernd gelöst hat, so ist es hier ' Verdi gewesen; sein Te deum ist eine der allerbedeu- tendsten Leistungen nicht bloß in der neueren, sondern in der Geschichte der Kirchenmusik überhaupt, ein Pracht- stück, an dem Inspiration und freie Kunstbeherrschung gleicherweise hervorragen, auf das die Liturgie und die Musik gleicherweise stolz sein dürfen. «Auch hier ist Verdi von den Gesetzen und Forderungen ritueller Musik ausgegangen und hat sie unausgesetzt im Auge behalten, aber der Wortreichtum des Textes hat ihn zu einer Ge- staltung in großen Zügen gezwungen, bei der sich die Musik der Fesseln entledigen und selbständig bewegen mußte.

Die Komposition beginnt rein liturgisch: Die Män- nerstimmen intonieren in Vertretung des Priesters die erste Zeile in bekannter Gregorianischer Melodie und fahren dann fort in dreistimmigen Wechselchören zu deklamieren. Verdi hat dabei alte Zeiten und alte Sitten so ernstlich nachzubilden gesucht, daß er sogar

379

Quintenparallelen anwendet. Wie aus der Feme und der Höhe klingen diese Stimmen und vielleicht wird man hei der Aufführung gut tun, den ganzen Ahschnitt his »proclamant« von einem kleinen, unsichtbaren, weit und verdeckt aufgestellten Ensemble singen zu lassen. Um so gewaltiger wirkt "dann der Einsatz des ersten Sanctus mit der Pracht des starken Orchesters und des Doppelchores. Es handelt sich dabei allerdings zunächst um einen ähnlichen dynamischen Effekt wie jenen welt- bekannten j*^ bei »Und es ward Licht« in J. Haydns Schöpfung. Aber die ganze an dem Punkte einsetzende Periode bleibt auf der Höhe, auf der^-sie eintritt. Es ist eine der iU)erwältigendsten Stellen, soweit man musika- lische Kunstwerke überblickt, eine Vision, die Schauer erweckt. Geisterhaft verkUngt die Stelle im leisen Stam-

meln der unteren Stimmen. In ihrer Jl^^^ rf^ Mitte J)ringt sie ein y Li, kleines Thema :

1^^

Ple

ni sunt coe . li

das in ei- nem späte- ren Teil des Te deums Der zweite

wichtig, zum Träger der Lobpreisung wird.

Abschnitt der Komposition umfaßt den Text von »Te

gloriosus Apostolorum Chorus« ab bis zu »Paraclitum

Spiritum«. Er ist musi-

kaiisch in einer Andacht 0 ^>.u [^ j^T^y/^ß-^ gehalten, die über das ^^^^' f F l.l ' ' > E innig anbetende Motiv: ^

staunt und träumt. Nur die Worte »Patrem immensae majestatis« heben sich kräftig und glänzend aus diesem Halbdunkel hervor.

Den dritten Abschnitt, der von »Tu Rex gloriae« bis »in saeculum saeculi« reicht, beginnt ein dem Gregorianischen ^ ,

Choral entnom- fe *> f Tf 1 1' ^''^^ T ^fe^

menes Thema: %r - ' ' ' L J T I

das die Trompeten einführen, die Stimmen frei fugieren und mit jubelnden Kontrapunkten umkleiden. Von den Worten an »Te ergo quaesumus« teilt es sich mit dem vorhin angeführten Motiv der Anbetung in die Herrschaft.

^ 380 ♦—

Den Mittelpunkt bildet eine a capella- Stelle über die Gebetsworte: »Salvam fac populnm, Domine«.

Dire Musik kehrt, vom Orchester gestützt, in dem Schloßabschnitt der Komposition bei »Fiat misericordia« wieder. Begonnen wird dieser Schlußteil mit einer ein- fachen, echt italienischen, an Verdis Reqniem erinnernden Melodie, die mit den Worten: »Dignare Domine« im sanf- ten Unisono aller Stimmen vorbeizieht Eigentümlich poetisch stellt der Komponist dem Gedanken an die ewige Verdammnis die Hoffnung auf den allmächtigen Herrscher Himmels und der Erden entgegen. Während die Stimmen in dunklen Harmonien »non confundar in aetemum« singen, stimmt das Orchester das Thema von »Pleni sunt coeli« an. Mit ihm klingt die Komposition auch leise und geheimnisvoll aus. Der für ein Te deum ungewöhn- liche Schluß erinnert ganz an die Art, wie Cherubini seine beiden »Requiems« schließt. Auch die seehsche -Ur- sache dieser eigentümlichen Wendung wird bei Verdi die gleiche sein.

Die letzten aus den Händen angesehener Komponisten hervorgegangene Te deums sind die von Edgar Tinel und Friedrich Gernsheim. El TineL Das von Tinel (op. 46) gibt in einer längeren Reihe

knapper, innerlich nur lose, durch einige Uturgische In- tonationen verbundener Sätze die Umrisse der einzelnen Textbilder, ohne auf ihren Inhalt tiefer einzugehen. Lang- sames Tempo, mächtig schwerer Orchesterklang und ge- bundener Stil des in eine tiefe und hohe Gruppe geteilten Chores herrschen vor, häufige Schlüsse und allgemeine Pausen verstärken die feierliche Spannung, auf die der Komponist in erster Linie ausgeht. Es ist ein altertümeln- des Te deum, bei großen Kirchenfesten am Platz, für das Konzert weniger geeignet F. Gernslieim. Der vollständige Titel des Gernsheim sehen Werkes

(op. 90) lautet: »Te deum nach Worten der heihgen Schrift«, und es beginnt mit den Worten »Jauchzet dem Herrn alle Welt«. Es ist also ein freier Lobgesang, dem litur- gisch die Bezeichnung als Te deum nicht zukommt. Nach

.--^ 38< *—

dem musikalischen Wert aber, der Selbständigkeit und Anschaulichkeit, mit den Stellen wie »Kommt vor sein Angesicht«, und namentlich nach der Wärme, die aus den Hauptstellen, am stärksten aus dem später und nochmals am Ende wiederkehrenden Einsatz, strahlt,, gehört es unter die hervorragendstep und packendsten Leistungen der neuen geistlichen Komponisten.

Der größte Teil der frei gedichteten kirchlichen Hymnen, zu welcher Gruppe »Stabat« und »Te deum« gehören, fand seine Verwendung beim Gr aduale, beim Offertorium und in den mannigfaltigen Gruppen der Nebengottesdienste. Graduale und Offertorium sind nach den Festzeiten (de tempore) verschiedene Einlage- stücke in der Messe. Jenes steht zwischen »Gloria« und >Credo«, dieses zwischen »Credo« und »Sanctus«. Das Graduale wurde gesungen, während der Lector die Stufen (gradus) zu dem Lesepult hinaufstieg, das Offertorium während die Gemeindeglieder ihre Gaben und Opfer vor dem Altar niederlegten (offere). Der fromme Brauch der früheren Ghristenzeit ist längst erloschen, das begleitende Musikstück aber und sein Name sind im Hochamt erhal- ten geblieben. In der Regel sind Graduale und Offer- torium kurz, inhaltlich je nach dem kirchlichen Charakter bald ernst, bald freudig. Einzelne besonders beliebte Texte sind unzählbar oft komponiert worden: »Tantum ergo«, »0 salutaris hostia«, »Ave Maria« und andere Marienhymnen in erster Linie. Wie die liturgischen Haupt- stücke haben auch Offertorium und Graduale an allen Wandlungen des musikalischen Stils teil genommen, doch mit einem großen Unterschied: beim Übergang aus der anbegleiteten Einstimmigkeit in den Chorsatz bilden sie die Nachhut, beim Eintritt in die begleitete Vokalmusik zogen sie voran. Schon 4 647 gibt der Salzburger Abraham Megerle drei Bände Offertorien mit Instrumenten heraus. Im Ordinarium der Messe ist der neue Stil damals noch eine Seltenheit. Seitdem sind Graduale und Offertorium besonders häufig als Gesangsoli komponiert worden, in

* 382 *>—

schlechten Perioden bravourmäßig auf äußerliche Musik- wirkung und' Konzerteffekte gerichtet; ihnen gegenüber drückte die Kirche nur zu oft beide Augen zu. Es gab bis vor kurzem große, gebildete Städte, in deren Zeitungen man Sonnabend lesen konnte, welche Gradualen und Offertorien an^ nächsten Tage in den einzelnen Kirchen aufgeführt wurden, wer dabei das Solo sang, wer das obligate Soloinstrument dazu und wer die Orgel spielte. Doch überwiegen in beiden Gattungen die Kleinode der kirchUchen Tonkunst. Um Bekanntes zu nennen: Pale- strinas >0 hone Jesuc, »Adoramus tec, ääydns »Insanae vanae curaec, Mozarts >Ave verum corpusc sind als Gradualen und Offertorien entstanden. Soweit aus der Gattung Chorwerke in Betracht kommen, welche im heutigen Konzert eingebürgert sind, sollen sie in den Rubriken Motette und Kantate ihren Platz mit er- halten.

Der Gruppe der frei gedichteten Hymnen steht eine andere gegenüber: die der biblischen Hymnen. Ihr Text ist Wort der heiligen Schrift. Die Psalmen (cantica Da- vidis) bilden den größten Teil dieser Gattung. Im Rang stehen ihnen die dem neuen Testament entnommenen Cantioa majora. Hymnen : die sogenannten cantica majora: der Lob- gesang der Maria, der Lobgesang des Zacharias und der Lobgesang des Simeon jedoch voran. Der erste dieser drei cantica majora, das sogenannte »Magnificat« ist die unter den Hymnen jeglicher Art am häufigsten komponierte. Zunächst wird man die Gründe für diese Bevorzugung in der Poesie des Magnificat suchen dürfen. Das Wunder der Engelserscheinung, aus welcher es her- vorgegangen, der Grundton schlichter kindlicher Demut in den Worten der durch die Verkündigung so plötzlich zu unvergleichhchen Ehren berufenen Jungfrau, machen diesen Lobgesang zu einem der eigentümlichsten und schönsten unter den Hymnen aller Literaturen. Die mu- sikalische Fantasie wird noch dazu durch den Reichtum anschaulicher und zueinander kontrastierender Einzel- bilder in Bewegung gesetzt, welche der Lobgesang einfach

•— * 383 *— '

zusammenstellt. Da stehen die Schicksale der Armen und der Hoffärtigen dicht nebeneinander. Diesen poeti- schen Stützen ' verdankt das Magnificat nicht bloß eineMagniflcatsTon hervorragende Stellung in der katholischen Vesperliturgie. F. Airarlo, Auch die Protestanten, die den volkstümhchen Marien- &, Ciooe, kultus bekämpften, behielten das Magnißcat noch lange 0. Bnfay, bei. In den Nürnberger Nebengottesdiensten war es noch 0. Qabrie|li, bis ins 4 7. Jahrhundert hinein mindestens einmal jede J. Fnzi Woche zu hören *). So sehen wir denn die Komponisten P. Chuorrero, der Vokalperiode, mit Dufay angefangen, immer wieder L. Häßler, zum Magnificat zurückkehren und die acht Psalmentöne J. K. Kerll, (Ritualmelodien, welche die Gregorianische Liturgie für 0. dl Lasso, die verschiedenen Festzeiten, in welchen der Lobgesang Lemaiatre, gesungen werden konnte, bot) von neuem bearbeitet. Lotti, Viele veröffentlichten ihre\ Magnificats in Folgen von L. Marenalo, Büchern, eines nach dem andern. Von Orlando diLasso Ch. B. Martini, wurden in Stimmen hundert gedruckt, von Palestrina B. y. Melle, drei Bücher. Verhältnismäßig viele dieser Magnificats der L. da Monte, Vokalperiode liegen heute in Partiturausgabe vor. Wir O. Morales, nennen nach dem Alphabet F. An erio, G. C r oce , G. Dufay , M. ITavarro, G. Gabrieli (ein achtstimmiges und ein zwölfstimmiges), D. Orti«, J. Fux, F. Guerrero, L. Haßler, J. K. Kerll, 0. di(j. p. da Pale- Lasso (etliche fünfzig in Proske und Commer), Lemais- strinai » tre, Lotti, L. Marenzio, G. B. Martini, R. v. Melle, B. de Pareja, L. da Monle, C. Morales, M. Navarro, D. Ortiz, ö, Pitoni, G. P. da Palestrina**), R. de Pareja, G. Pitoni, H. Praetorins, H. Praetorius, B. Ribera, H. Schütz, L Senfl, B. Eibera. F. Suriano, A. de Torrentes, H. de Vargas, H. Sohiit«, C. Verdonck, A. Willaert,'C. de Zaccariis. Aus L. Senfl, Novellos Sammlung würde sich diese Liste mit einer F. Snriano, Reihe von Magnificats englischer Tonsetzer, unter denen A. de Torrentes, auch H. Pur cell, vervollständigen lassen. Unter den H. de Vargas, nur in Stimmausgaben erhaltenen scheinen die von 0. Verdonck, Pinelli besonders verbreitet gewesen zu sein. Magni- a, Willaert, ficats älterer deutscher Tonsetzer und auf deutschen C. de Zaccariis.

*) Herold: Alt-Nomberg in seinen Gottesdiensten. 1890. **1 35 in der Gesamtausgabe von Breitkopf & HärteL

^ 384 4.—

Text komponiert, besitzen wir in neuer Partiturfonn nur von L. Haßler und H. Schütz. Die von J. H. Schein und Chr. Demantius wären der gleichen Auszeichnung wert. Die Zahl von alten Stimmenausgaben ist auch bei uns bedeutend groß. Die Magnificats der Vokal- periode sind ausnahmlos antiphonisch gehalten; nur in der Art des Antiphonierens unterscheiden sie sich. Die älteste Form ist der Wechsel zwischen einstimmigem Gregorianischen Gesang und mehrstimmigem Chorsatz, Vers um Vers. Die Gregorianischen Verse sind dem Li- turgen zugedacht und behalten immer dieselbe Melodie, die Chorverse sind freie, der Stimmung und dem Gehalt des einzelnen Wortes nachgehende Kompositionen, was nicht ausschließt, daß sie in der Mehrzahl spärlicher oder reichlicher, loser öder fester die liturgische Melodie mit benutzen. Zu den für die verschiedenen Festzeiten be- stimmten acht Haupttönen des Magnificat treten noch eine Reihe von Varianten, die nur in einzelnen Ländern oder für kurze Zeiten Geltung gehabt haben. Auch sie gleichen den Fsalmentönen und sind wie diese Akzent- weisen mit melodischen Formeln für den Anfang und für den Schluß der Verse. Das naturgemäße und wirkungs- vollere Verfahren mit der liturgischen Intonation zu be- ginnen und ihr den Chorsatz folgen zu lassen, war durchaus nicht die Regel, wir haben, wenigstens in der früheren Zeit, ebensoviele Magnificats, in denen die un- geraden als solche, in denen die geraden Verse figuraUter komponiert sind.

Mit der zweiten Hälfte des 4 6. Jahrhunderts hört der versweise Wechsel von Liturg und Chor auf, die Hauptform für den Vortrag des Magnificat zu sein. Die hturgische Intonation wird auf den ersten Vers beschränkt, die andern elf singt der Chor. Oder aber: es tritt an Stelle des Liturgen ein zweiter Chor. Von Willaert ab sind die Magnificats einer der ansehnlichsten Posten in der die Zeit beherrschenden Kunst der doppelchörigen Komposition und zugleich wächst damit die Zahl der in Druck gebrachten Magnificats bedeutend. Hierzu kommt

«- 385 «—

nun noch eine dritte Art des Alternierens, nämlich : Wechsel voa Gregorianischer Intonation und selbständigem Orgel- spiel. Darüber, dajß in der älteren Zeit die Aufgabe der Orgel weit mehr darin bestand, den Gesang zu ersetzen, als ihn zu begleiten, .sind wir durch Rietschel*) gründ- lich unterrichtet worden. Die Orgel nimmt in der Messe schon am Anfang des 1 5. Jahrhunderts dem Chor kleinere und größere Abschnitte ab, sie spielt, die Melodie poetisch variierend und paraphrasierend, in den fast endlosen evangelischen Kirchenliedern des 47.. Jahrhunderts die gute Hälfte der Verse allein, während Chor und Gemeinde still den Text nachlasen, und sie leistet einen ähnlichen Ersatz und Hilfsdienst auch im Magnificat. Hier finden Orgelmagni- sich sogenannte Orgelmagnificats bereits seit der Mitte flcats von des 4 5. Jahrhunderts **) und sie gehen bis ins 48. weiter. 8. Soheidt, Von den hierher gehörenden Arbeiten bedeutender Meister J. E. Kerll. seien die von S. Scheidt, J. K.Kerll und Job. Pachelbel J. Paohelbel. deshalb hervorgehoben, weil sie durch Neudrucke bequem zugänglich sind***).

Von den in moderner. Partitur heute vorliegenden vokalen Magnificats mag vielleicht das von R. Schlecht (Geschichte der Kirchenmusik S. 265) mitgeteilte das älteste sein. Es geht auf den fünften Ton:

r ir r r ir f if" r I " I

II. mA ».aLm» n»-^ Öo.mi . nun.

*) G. Rietsohel: Die Aufgabe der Orgel im Gottesdienst des 16. nnd 17. Jahxlranderts. Leipzig 1893.

**) A. Sandberger: Einleltong zur Aasgabe der Klayierwerka von Job. und W. H. Pachelbel (Denkmiler deutscher Tonknnst in Bayern, Bd. IVV

***)S. Scheidt (Tabnlatora nnova) in den Denkmälern deutscher Tonkunst, Jahrg. I, Pachelbel in den DenkmUern der Tonkunst In Österreich, YIII, 2; Kerlls Modulatio orga- nica wird von den Österreichern für den Druck vorbereitet.

II, 1. 23

-^ 386 ♦—

und gibt das »Exultavitc, das »Quia fecit«, das »Fecit potentiamc und die andern geraden Verse als Chorsätze. Da findet sich denn an einem Teil dieser Ohorsätze als eine Spur hohen Alters, die aus der Geschichte der Messe und Motette bekannte Mehrtextigkeit. Das liturgische Grundthema wird am Anfang in der bekannten nach- ahmenden Weise durch alle vier Ghorstimmen geführt, aber schon, nach der ersten Durchführung einer von ihnen allein überlassen, welche es in rhythmischer Dehnung breiter, melodisch tot, zu Ende singt. Die andern drei stimmen dazu bekannte Weihnachtslieder an, im »Et exultavit« das »Resonet in laudibus«, im >Quia fecitc das: >In dulci jubilo, nun singet und seid froh« usw.: lateinisch und deutsch durcheinander. Ja die Naivität geht, ähnlich wie in der Malerei des Mittelalters, welche Passionsbilder mit Storchnestern und andern Volks- späßen belebte, wiederholt bis zu Zitaten aus der Cou- pletmusik jener Zeit: Takte lang erklingen in allen drei oder in nur einer Stimme die wohlbekannten Refrains: »Bombon«, >Cucu< und andere. Es ist nicht gleichgültig, daß dieses Sohle chtsche »Magnificat« für die Weihnachts- zeit bestimmt ist. Denn gerade die Weihnachtsmusiken je- der Art hielten am zähesten am Volkstümlichen fest, und der Brauch im mehrstimmigen Satz jeder Stimme ihren besondem Text zu geben, der heute in die komische und die dramatische Musik verbannt ist, war in der älteren Zeit auch für die Kirchenmusik ganz nach dem Sinne des Volkes.

Die nächstältesten neugedruckten Chormagnificats L. 8«iiiL sind die .von Ludwig Senfl*), acht im ganzen, für jeden Ton eins, mit vorwiegendem vierstimmigen Satz auf die geraden Verse, zuerst im Jahre 4 587 veröffentlicht. Auch sie wurzeln in der niederländischen Kunst und setzen wie die Messen, die Motetten und die weltlichen Chor- lieder des damaligen Deutschlands eine liebevolle Ver- trautheit mit Gregorianischen Weisen voraus. Wie

*) Denkmäler der Toukunst in Bayern, III, 2.

3a7

später wieder im Bachschen Konzert, in der Haydnschen Symphonie, im Wagnerschen Musikdrama, nur in noch höherem Grade gilt dem Umbilden, Auslegen, dem Kom- binieren der Noten. die Hauptarbeit auch in diesen Chor- Sätzen. Aber die Magnificats Senfls weisen daneben auch und viel deutlicher und entschiedener als andere Werke selbst der bedeutendsten Landsleute Lassos auf den An- bruch einer neuen Zeit, auf die kommende Monodie hin. Eine neue Melodik tritt in ihnen auf, die aus frisch ent- deckten, reichen seelischen Quellen, aus dem gesteigerten Innenleben von Renaissance und Reformation entsprungen und in besonders eigner Formenarbeit, der mehrstimmigen Vertonung antiker Metren geschult ist. Die Melodik von Senfls Magnilicat steht in einem ganz direkten Zusam- menhang mit der seiner vierstimmigen Kompositionen horazischer Oden von 4 534. Das Lob, das Minervini diesen (in der Vorrede] spendet: Senil habe >seinen Tönen den Geist der Worte .... einzuhauchen gewußte, kann für diese Magnificats nur wiederholt werden. Um sich von der Natur dieses neuen Geistes zu überzeugen, genügt es, den achten Vers des »Esurientes« usw.c in dem Magnificat primi toni aufzuschlagen. Nach einem Satze, wie ihn dessen erste neun Takte bringen:

ß . 8u.ri . en

B . su.riC en -

tes

te.il.

e.aiLri . ob »

teft

XXVK.

UBW.

-— 388 ♦—

hat man in der früheren und gleichzeitigen Kirchenmusik lange za suchen; hei Senil aber finden sich ähnliche, ja wörtlich gleiche Stellen genug. Wenn moderne Augen an ihr überhaupt etwas bemerkenswertes finden, so ist es der im cantus firmus und in der kanonischen Stimm- führung liegende Teil alter niederländisdier Kunst. Für die Senflsche Zeit War dieses das Selbstverständliche: das überraschende Element lag dagegen für sie in der Wort- wiederholung, im Aufbau der Periode aus Sequenzen, nicht zuletzt auch in der melodischen Kühnheit und Fülle eines bloß kontrapunktischen Motivs. Solchen Stellen verdankt nicht bloß der Ghorsatz Palestrinas manche Schönheit, sie haben die Musik auch zu Osiander und Monteverdi weiter geführt. In der besondem Ge- schichte des Magnificats kehren Senflsche Eigenheiten noch lange wieder, namentlich seine Behandlung des »Esurientes usw.«, das immer der bedeutendste Satz bei ihm bleibt, ist in dem mitleidsvollen Ton, in dem Ver- weilen bei >inanes« und »dimisit« typisch geworden. Wo deshalb das geistliche Konzert belehren und der ge- schichtlichen Bildung dienen will, müssen die Magnificats Senfls Repertoirewerke sein. Zur Einführung erweist sich wohl das fünfte als das geeignetste.

Oaß zum cantus firmus statt der liturgischen Weise

ein weltliches Lied gewählt wurde, wie man in der Messe

häufig tat, kam beim Magnificat nur ausnahmsweise vor.

Einen sehr häufigen Gebrauch von dieser Ausnahme

Orlando di hat Orlando di Lasso gemacht, dessen Kompositionen

Lasso, des Marianischen Lobgesanges zu den reizvollsten Ton-

Magniflcats. werken gehören, welche wir im a capella-Stile besitzen.

Eigen ist ihnen ein freier Stil, der sich an den kirchlichen

Ton nicht bindet, eine freie Mischung von tiefsinnigem

und kindhchem Wesen und ein Reichtum an fantasievollen

Motiven, welche die einzelnen Textbegriffe natürlich und

höchst anschaulich beleben. Lassos Magnificats sind

eine Fundgrube von treffenden Zügen musikalischen

Kleinlebens. Darin und in der freien Entfaltung großer

Persönlichkeit gehen sie über die Arbeiten Senfls hinaus.

, 389

Doch hat auch Lasso diesen seinen Vorgänger für einzelne > Wendungen (dimisit, jdispersit) zum Muster genommen. Der frische angeregte Zug, welcher Lassos Magnificats von Grund aus erfüllt, erstreckt sich auch auf den häu- figen Wechsel zwischen volleren und dünnen , Sätzen. Unter den letzteren ragen durch die bedeutende Dekla- mation die sogenannten Bicinia herVor, die in andern Chorwerken jener Periode oft seltsam berührenden Duette, durch welche die Tonsetzer ihre kirchlichen Bauten zu kolorieren suchten. In den katholischen Kirchen des Cäcilienbereichs sind diese Magnificats des Orlando heute nicht fremd. Auch im geistlichen Konzert würden sie sich bewähren. Als zur Einführung in dieses Kunstgebiet des Münchner Meisters besonders geeignetes Stück kann das Magnificat quarti toni genannt werden, das Gomm^r als 24. Nummer des II. Bandes seiner >Musica sacra« veröffentlicht hat. Der phänomenale Wechsel zwischen Moll und Dur an der Stelle »spiritus mens« im ersten Satz gibjt von dem kühnen Harmoniegebrauch des Lasso, durch den er sich in erster Linie von Palestrina und den Ita- lienern unterscheidet, einen hellen Begdff und prägt das Bild dieses wunderbar kraftvollen Tonsetzers ein für alle- mal ein. Bemerkt sei, daß auch für Konzertaufführungen alle liturgischen Intonationen zu geben sind und am besten dem Unisono sämtlicher Männerstimmen übertragen werden. Eins von den Magnificats Lassos, dessen Wir- kung keinem Zweifel unterliegt, ist ferner das über »Bean le Gristal«, eins von den mehreren,' in welchen Orlando tiefe Lagen der unteren Stimmen vermieden hat. Auch andere Tonsetzer der Vokalperiode haben Magnificats ohne eigentliche Bässe geschrieben. Man kann in diesem Punkte vielleicht eine Rücksicht auf die geschichtliche Persönlichkeit der Sängerin dieses Lob> gesanges erblicken. Sie war aber jedenfalls weit davon entfernt, eine Regel zu sein. Es stehen diesen hochliegenr den Magnificats auch solche für Männerstimmen gegen- über. Selbst in der Zeit des begleiteten Sologesangs haben die Komponisten ihre Magnificats nur sehr selten persön-

390

lieh oder, wenn man so will, dramatisch gehalten. Die kleine Gruppe von Kompositionen, welche den Lobgesang der Maria in Form von reinen oder vom Chor unter- stützten Solokantaten (für Sopran oder, Alt) behandeln, besteht vorwiegend aus Arbeiten des 49. Jahrhunderts. Morlacchi, Neukomm ^ Fröhlich, Klein sind die be- kanntesten unter den betreffenden Tonsetzern. Unter den ältesten Meistern wird S. Bach ein kleines Magni- ficat für eine Solostimme zugeschrieben. Es ist jedoch neuerdings verschollen. Die Soloform tritt beim Magni- ficat viel mehr zurück als beim »Stabat«. Von den litur- gischen Rücksichten abgesehen, waren es die kräftigen Bilder im Texte und die außerordentliche Schönheit der Ritualmelodien, welche die Komponisten bei der Be- arbeitung dieses Lobgesangs ganz unwillkürlich zum Chore drängten. Als besonders ausgezeichnete Chor- magnificats, die zum größeren Teil in Neudrucken «in- gesehen werden können, seien die von G. Verdonck, J. B. Pinelli, Lambert da Monte, R. v. Melle, G. Morales, L. Marenzio, G. Groce, G. Demantius genannt.

Zwei der schönsten Magnificats aus der Blütezeit der

L. Haßler. a capella-Musik sind die L. Haßlers*). Ihre Schönheit liegt in der Mannigfaltigkeit und Natürlichkeit des Stils, in, einer Erfindung, die, gleichviel ob in den einfachsten For- men des Volksliedes oder in den schwersten Künsten des Kontrapunkts ausgedrückt, immer anschaulich, lebendig und zwingend bleibt. Haßler komponiert die geraden Verse und läßt von den ungeraden nur den I. und 11. intonieren.

H. Bchüti. Heinrich Schütz hat in seinem Lobgesang der Maria (als vierstimmige Ghormotette mit Orgel) durch Einfach- heit und unwiderstehliche Liebenswürdigkeit das Bild einer Madonna aus dem Volke festgehalten. Die Kom- position **) gehört unter die köstlichsten Stücke der Magnificatkunst.

*) Denkmäler deutscher Tonkunst, Bd. IL *♦) Schützens Werke, Bd. XH.

391 ♦—

Von den Komponisten de^ Magificat aus dem Ende der Vokalperiode wurde in früheren Jahrzehnten verhältnismäßig ^ am häufigsten das ' vierstimmige von A. Lotti aufgeführt, ein Werk, welches der Poesie und A. Lottl, Plastik im Ausdruck zwar entbehrt, aber durch formelle Magniflcat Vorzüge, Verbindung von Anfang und Endsatz, feine (Cdur). geist- und kunstvolle, dabei fließende Verknüpfung der Stimmen sehr schön wirkt. Besonders .gelungen ist in dieser Arbeit die Einfügung der schönen Gregorianischen Grundmelodi^ (Es ist abermals der fünfte Ton des Magni- flcat.) Die dem Ghorsatz in der Breitkopfschen Ausgabe beigegebene Orgelstimme ist entbehrlich, wie bei vielen Chorwerken des 4 7. (Tahrhunderts.

Für die begleiteten Magnificats des 47. Jahrhundert sind wir in der Hauptsache zur Zeit auf Handschriften angewiesen. Wenn aus dieser Masse eins der Veröffent» lichung wert erscheint, so ist es das G dur-Magniflcat K. Kerlls, das sich in dem als MMs. 4 4 564 signierten J. E.^Eerll. Kantatenband der Königlichen Bibliothek zu Berlin be- flndet Es gehört zu den bedeutendsten Kompositionen K. Kerlls und macht sofort in den ersten Takten seine Originalität geltend. Die breit liturgischen Chorinto- nationen der ersten Textzeilen werden nämlich aufs an- mutigste von kurzen Kadenzen des ersten und dann des ' zweiten Solosoprans unterbrochen und belebt. Unter den Magnificats aus dem Anfang der Instrumentalperiode ragen ferner die des Sweelinkschen Schülers P. Siefert F. Siefert. hervor. Das älteste neugedruckte Magnificat ist das acht- stimmige von Rudolf Ahle (aus dem »Neugepflanzten B. Ahle. Thüringischen Lustgarten« von 4 657)"'). Es besteht aus zehn lose nebeneinandergestellten, zum Teil durch die Zwischenspiele eines Instrumentenquartetts unterbroche- nen Sätzchen, die ebenso schwach erfunden, als durch- geführt sind. Nur als Bild der Naivität und Unfertigkeit erregt es Interesse. Dagegen haben die Kompositionen des Lobgesanges von A. Caldara und Fr. Durante hohen A. Oaldara.

♦) Denkmäler deutscher Tonkunst, Bd. V.

392 ♦—

Kunstwert. Von Caldera waren zwei Magnificats in Umlauf, von denen namentlich das zweite (in D mit großem Orchester) Bedeutendes Ansehen erlangte. Auch Seb. Bach hat es eigenhändig abgeschrieben. Das Werk ist heute noch auf vielen Bibliotheken handschriftlich zu finden, aus der Praxis aber leider verschwunden. Dieses Bedauern darf auf Galdara als Komponist kirchlicher

^ Musik im allgemeinen ausgedehnt werden. Er ist hier

eine ungleiche Kraft, afier doch eine hcheitsvolle Er- scheinung, namentlich in der ßehandlui^ des alten antiphonischen Stils.

Fr. Durante. Das Magnificat von Fr. Durante liegt in ver-

schiedenen neueren Partiturausgaben vor und erscheint in der Bearbeitung von R.Franz, welche das nur aus zwei Violinen bestehende Originalorchester an der Hand der Orgelstimme zweckmäßig erweitert, nicht selten auf den heutigen Programmen. Das Werk steht in seinem Stile noch vorwiegend auf dem vokalen Boden; die In- strumente tragen keine wesentlichen Ideen hinzu, und der Einfluß der neuen Periode äußert sich im Chorsatz hauptsächlich nur durch eine größere rhythmische Be- weglichkeit. Das Magnificat Durantes ist aber eins der liebenswürdigsten; im gewissen Sinne darf es als das Ideal einer Komposition des Lobgesanges betrachtet werden. Die. Verschmelzung eines bräutlich frohen, hei- tern, naiven Tones mit einer gehobenen kirchhch heiligen Stimmung gibt ihm seine Eigenart. Formell ist es aus- gezeichnet durch die Plastik der Themen, die zum Teil sofort wie Volkslieder in Ohr und Herzen haften, und durch die meisterhafte Ausnutzung des thematischen Materials. Die schönen Weisen kommen allen Stimmen zugute. Dem ersten sehr breit ausgeführten und dem letzten Satze liegt als Grundthema der erste Ton des »Magnificatsc unter:

—^ 393 ♦—

Nach immer andern und immer froh bewegten Serten- biicken, welche die Stimmen einander nachtun, kehren sie stets freudig pathetisch zu dieser Hauptmelodi« zurück. Namentlich den ersten Satz gruppiert und be- herrscht sie in einer großartigen Entschiedenheit. Wenn Durante mit einer bezwingenden und eigenen Meisterschaft den Ton des Lobgesanges festhält, so ist er doch von Eintönigkeit weit entfernt. Das Bild hat die frappantesten Schatten; aber sie sind mit einer überlegenen Kürze punktiert Wir finden solche belebende Kontraste bei d^r Erwähnung der »humilitas« (im ersten Satz], der »Misericordiae« im zweiten usw. Dasjenige der aus dem Ganzen hervortretenden Einzelbilder, welches der Kom- ponist am ausführlichsten und mit besonderer Hin- gabe ausgeführt hat, ist die Stelle >dispersit superbosc Die stolz wegstreifende Baßfigur, die klägliche Harmonie (eis es g), mit der das Tutti darauf antwortet, wirken ungemein malerisch. Solosätze hat Durante nur zwei und zwar in Gestalt von Duetten: den ersten kurz, aber in einem eigenen Ausdruck von Ernst bei den Worten: . >et misericordiae ejus«, der andere ausgeführtere zu den Worten »suscepit Israel« vertritt in dem Hauptthema

^ ^ -m-t tt>____ }. am stärksten die

l^il P iP p M^ r ^ P'P tl p C/fi^ volkstümliche

SB.Me.pit b.n.fi, n^ sM-pH Seite der Kom--

Position. Wie in der Instrumentalzeit im allgemeinen das Antiphonieren und die genaue Übereinstimmung von Musiksätzen und Versen aufhört, so auch bei Durante. Die Anlage seines Magnificats ist im wesentlichen drei- teilig. Das >Magnificat anima mea« und das >Sicut erat« bilden große, einander entsprechende Seitenflügel : der Mittelbau umfaßt klargegliedert, aber ohne trennende Einschnitte, den ganzen Textteil von >et misericordia« bis zum »Gloria patri«.

Im Jahre 4 904 ist durch eine Pariser Aufführung die Aufmerksamkeit auch auf ein Magnifitat des großen Ph. R am eau zurückgelenkt worden, das seinerzeit die Fht Bameau. französische Grenze nicht überschritten hat.

* 394 ♦—

Die heute aus dem 48. Jahrhundert bekannteste und am häufigsten zur Aufführung gelangende Kom- position des Lobgesangs Mariae ist das sogenannte J. 8. Baoh, große Magnificat von J. S. Bach. Wir besitzen das Magniflc&t Werkj welches Spitta in das Jahr 1723 setzt, in einer (in D). ersten und einer zweiten Bearbeitung. Jene hat Pölchau schon im Jahre 4 844 im Druck herausgegeben, die letz- tere wurde von der Bachgesellschaft im Jahre 4862 ver- öffentlicht und sie wird neueren Aufführungen (häufig mit Einrichtung des in den Trompeten schweren Or- chesters) in der Regel zugrunde gelegt. Das Magnificat Bachs, welches als Ganzes schon wegen der Kürze seiner Formen nicht mit den Passionen, der Hmoll-Messe oder den bedeutendsten Kantaten in eine Reihe gestellt werden kann, nimmt doch unter den Werken des Tonsetzers einen eigenen Platz durch die Kraft seiner knappen Chöre eiq. Unter den Arien ist die für Alt gesetzte: >£surientes im- plevit bonis« von hervorragender Schönheit. Der erste Chor ist wie ein festlicher Reigen, zu dem die Instru- mente (das Bachsche Feiertagsorchester: Orgel, Streich- quintett^ Flöten, Oboen, drei Trompeten und Pauken) ein Wettspiel vollführen. Die Singstimmen rufen nur die Erklärung in die rauschende und konzertierende Sympho- nie hinein: In unaufhörlicher Wiederholung, als sei des Jubeins kein Ende, erschallt von allen Seiten ihr : »Magni- ficat, magnificatc. Sie singen es auf dieselben Motive, aus welchen die Instrumente ihre Freudenkränze winden. Die beiden Hauptthemen dieses stürmischen Präludiums sind die Figuren:

. gn1.fl.Mit

In dem ersteren ist besonders das Quartenintervall wirk- sam. In dieser Auffassung des ersten Verses begegnet sich Bachs Magnificat mit dem von Levini, einer durch charaktervolle Thematik überhaupt hervorragenden, na- mentlich im »Fecit potentiam« ganz gewaltigen Komposi-

395

tion"'}. Nur schickt Levini dem rauschenden Ausdruck der Freude eine kurze feierliche Einleitung voraus. Bach hat unter den deutschen Komponisten, welche das Magnificat in der italienischen Kantatenform kompo- nierten den Sologesang besonders stark zur Ausführung der Hymne herbeigezogen. Die erste dieser Soloarien tritt schon beim »Et exultavit« ein. Der Sopran singt sie. Der Bau der Nummer zeichnet sich durch kurze Gliede- rung aus. Zum Ausdruck des >exultarec, des Jauchzens der Seele, dient ein Zweiunddreißigstel -Rhythmus, der wie eine Schaumflocke 'wirB jfff p/ .j zuweilen auch den Begleitxmgsfiguren: i*^ 1 H . T Mn^^d den Gängen der Singstimme selbst entsteigt. Ein ähnliches Motiv bei denselben Worten gebraucht von den Früheren Lotti (im Chorsatze), von den Späteren Fischietti (im Solo). Ein zweiter Solosopran nimmt die Worte: >Quia respexit« auf. Das Ritornell zu dieser Nummer ist eine jener aus Sequenzen kühn aufgetürmten langatmigen und tief ge- schöpften Melodien, wie sie Bach eigentümlich sind. In der Deklamation des Textes hat Bach den Begriff der »humilitasc doppelt hervorgehoben durch das dunkle Kolorit der Modulationen sowohl, als auch durch Wieder- holungen des Wortes. Schon die Komponisten der Vokal- periode gaben diesem Begriff, wenigstens einzelne, einen besondern Ausdruck ; die der ersten Instrumentalzeit taten dies in der Regel. Manche, wie Geremia, entwickeln an, dieser Stelle eine ganz ungewöhnliche Weichheit der Mo- dulation. Auch daß Bach die Schlußworte des Satzes: »omnes generationes« dem Solosopran durch das Tutti abnehmen läßt,, kommt bei andern Tonsetzern in der frühen Instrumentalperiode vor: So beiRuggiero Fedeli und namentlich bei Albinoni, dessen Magnificat Bach höchst wahrscheinhch gekannt hat. Was aber bei dieser Be- handlung der Stelle »omnes generationes« besonders auf- fällt, das ist erstens der Umstand, daß Bach aus diesen Schlußworten des Verses einen neuen großen Satz ent-

*) Königliche Bibliothek zu Berlin, MMs. 12460.

396 ♦—

wickelt, das ist zweitens der deklamatorisch prunken- de Charakter, mit welchem sein Hauptthema einsetzt:

Wenn Bach in dieser bei Händel häufig vorkom- menden Weise eine Melodie baut, so hat er seine symbo- lischen Absichten, welche in diesem Falle keiner weitem Erklärung bediirfen. In dem wiederholt vom neuen und von andern Seiten beginnenden Aufmarsch, den die Stim- men auf dem Grund jenes Themas vollziehen, ist die Stelle (kurz vor dem Schlüsse) sehr merkwürdig, wo der ganze Zug bei Trugkadenz und Fermate plötzlich Halt macht. Auch Albinoni geht hier über verminderten Septimen- akkord aus Dur nach Moll, in breite Rhythmen, aucb ihm fährt es wehmütig durch den Sinn, wie die Ge-< schlechter kommen und gehen, wie der Tod des Menschen Los ist. Sollte Bach hier seinem Lieblingsitaliener eine Anregung verdanken, so ist die Art, wie er sie aus- führt, das eigenste Produkt seiner genialen, großartigen Melancholie und bietet ein lehrreiches Seitenstück zu den bekannten Fällen, wie er selbst Vivaldische, oder wie Händel Stradellasche Ideen verwertet hat. Das »Quia fecit< ist als Baßarie behandelt. Ebenfalls sehr kurzgliederig, ruht sie technisch in erster Linie auf dem mit Kol(Mratu- ^, ^ ^ ^ ^ ^ » und hat in

ren umwobe- V V n P nen Motive : .Qsi

stolzen Charakter wenig ihresgleichen. Doch kommt dieser nur dann zur Geltung, wenn die der Orgel (oder dem Cembalo) allein übertragene Begleitung den Sänger ordentlich stützt und trägt Es ist eine Hauptaufgabe für den Dirigenten, hier aus der Bachschen Skizze eine gute Kontinuostimme herauszuarbeiten. Die Worte: »Etmisericor- diäe ejus€ werden in einem liebenswürdig nachdenklichen Siciliano ausgeführt, dessen Harmonien, im wesentlichen mit denselben Baßnoten (basso ostinato), alle fünf oder sechs Takte repetieren. Der Zwiegesang, welchen Alt und Tenor darüber anstimmen, ruht auf der anmutigen Melodie:

und hat in P P p/-P ft I J^R ihrem freu- tudUaiii BMM. dig, kraftvoll

397

Ähnlich wie beim »EsurieQtes< die Flöten, gehen hier erste und zweite Violinen im Vortrage dieser volkstüm- lichen Weise, wie Arm in Arm, vorwiegend in Terzen einher. Die Worte »timentibus eum< hebt Bach wieder- um in Obereinstimmung mit Albinoni auf alle Weise hervor: einmal indem er sie zwischen bedeutende Pau- sen stellt, das andere Mal durch melodische und har- monische Akzente. Das »Fecit potentiamc gibt Bach mit jenem alten Kunstgriff der Kräftetßilung wieder, der vielen seiner Chorsätze und denen seiner Zeitgenossen eine so erstaunliche Wirkung verleiht. Die Mehrheit des Chores deklamiert die Worte in energisch frischen Rhythmen, eine der Stimmen jubiliert dazu in breiten Koloraturen. Bei dem Worte »dispersit« bedient sich Bach des Motivs, welches seit Senfl und Lasso für diese Stelle üblich war. DasBild von der Vertreibung der Hoffärtigen hat wie kein zweites im Magnificat die Komponisten gefesselt Sie halten sich manchmal ungebührlich lange bei ihm auf, am auffälligsten Samuel Fr. Heine. Auch Seb. Bach verweilt einen Augenblick, aber maßvoll dabei. Wodurch er es aber auszeichnet, das ist die letzte Into- nation des Wortes »superbos«. Der Trugschluß und die Pause darnach machen einen Eindruck, als wenn ein Windstoß die Stolzen vertrieben hätte. Dann setzt der Abschnitt >mente cordis sui< ein, durch das tiefernste Adagio von dem Vorhergehen^den scharf und fast schauer- lich gesondert. Bach bezog ersichtlich die betreffenden Textesworte nicht auf >superbos«, sondern, wie es das >8Ui« der Vulgata erlaubt, auf den >dominus qui dis- persit«, den Herrn, welcher die Hoffärtigen vertrieben hat. Bach folgt mit dieser Auffassung einem herkömmhchen Brauche. Die Mehrzahl der Komponisten, schon in der Vokalperiode, geht bei den Worten »meute usw.« in eine feierliche, pathetische Wendung über. Die besondere Form aber, in der sie Bach ausdrückt, weist nochmals

—-^ 398 «^-

auf Albinoni hin. Nur dieser hat Generalpause und Adagio. Von den Späteren ist Ferradini als derjenige zu nennen, welcher die Auffassung, von welcher sich Bach und seine Vorgänger an dieser Stelle leiten ließen, am glänzend- sten zum Ausdruck gebracht hat. Bei ihm wirkt nach einem trotzigen Chorsatz zu den Worten »dispersit usw.« der Eintritt einer von oben herab in .majestätischen Rhythmen »mente cordis sui< singenden Solostimme be- sonders schön. Die folgende Tenorarie »Deposuit potentes« ist eins der schwierigsten Vortragstücke. Die Seele ihrer Tonreihen bildet ^ine eigentümliche Mischung von Be- dauern, triumphierender Freude und auch Hohn. Mitleid (mit den arm gewordenen Reichen) tief und kurz, Freude (über die Sättigung der Hungrigen) weich und liebens- würdig ausgesprochen, liegen auch der schönen Altarie: »£surientes< zugrunde. Der populäre Zug, welchen diese Nummer in der Melodik der Singstimme sowohl als in dem naiven Konzertieren der beiden Flöten trägt, war bei der Wiedergabe dieser Worte althergebracht. Dur ante hat in dem entsprechenden Chorsatze dieselben neapolita- nischen Sexten- und Terzenparallelen, welche uns hier in den Flöten so charakteristisch vorkommen. Am wei- testen geht in diesem Anspielen auf Bilder aus dem Volks- leben bei den Worten >Esu- rientes< Leo, der sie mit fol- !_ gender Melodie wiedergibt : •-«-»! .«*-!•• im-jii-^ ii».au Das >Suscepit Israel< hat Bach, ähnlich wie das >Et in- carnatus< der Hmoll-Messe in den Linien und Farben des Wunderbaren gehalten. Die drei oberen Stimmen, welche den Satz ausführen, kreuzen und streifen einander so eng und eifrig, daß ihre unscheinbaren Melodien unter dem feierlich und zart wogenden Klange die bestimmte Gestalt verheren. Der eigentliche Baßton fehlt, wie ziem- lich oft, wenn Bach Gebilde des Geheimnisvollen und Visionären vor die Fantasie treten läßt. Den letzten Strich, um den mystischen und prophetischen Charakter des kleinen Tonbildes auszuprägen, tun die Oboen, welche in hoher Lage zwei Zeilen des (variierten) ersten Magni-

* 399 *

ficattons anstimmen, desselben, welchen Bach in der Kan* täte »Meine Seel* erhebte bringt. Die Instrumente singen also Segen und Dank, während die Singstimmen von der Menschwerdung Christi in Passionsstimmung berichten. Durch diese tiefsinnige, romantische Auffassung der Worte zeichnet sich das >Suscepit< des Bachsohen Magnificat besonders aus. Es ist derjenige Satz, welcher den per- sönlichen Stempel seines Tonsetzers am ausgeprägtesten trägt. Wie in andern Werken Bachs auf ein liturgi- sches Zitat, so folgt auch hier auf die Magnificat- melodie im »Suscepit« das »Sicnt locutus est« in den Formen einer altern Zeit: im a capella- Stile. Dem Schweigen aller Instrumente mit Ausnahme des V

Continuo liegt in diesem Satze, ganz ähnlich wie im »Confiteor« der HmoU-Messe, ohne Zweifel eine sym- bolische Absicht unter. »Suscepit« und »sicut locutus est« bilden ein Ganzes und als solches eine der vielen Huldigungen, welche Bach in meinen geistlichen Kompo- sitionen in mittelbarer, sinnvoller Beziehung dem ehr- würdigen und ewigen Charakter von Kirche und Glauben dargebracht hat. Um so glänzender wirkt der Chor der ^

Instrumente bei seinem Wiedereintritt im »Gloria«, wel- ches mit seinen Triolengängen und dem mächtigen Schwünge seiner kurzen Perioden an das »Sanctus« der Hmoll-Messe erinnert. Den Schlußsatz »Sicut erat in principio«, welchem das »Gloria« als Einleitung dient, läßt Bach im Anschluß an Lotti, Durante und andere auf die Themen des ersten Satzes zurückgreifen. Wie das oben angeführte, von Schlecht mitgeteilte Magnificat des Anonymus mit allerlei Weihnachsliedern durchsetzt ist, so gehören auch zu dem B achschen Magnificat noch einige Weihnachtstücke. Doch treten sie als selbständige Sätze zwischen die einzelnen Nummern des Magnificat.

Als ein hervorragendes Magnificat aus der Bach- schen Zeit ist das in D von Nie. Jörne 111 hervor* F. Jomelli. zuheben. Anlage und Satz sind höchst einfach, die Komposition geht ohne Aufenthalt in einem Zuge vor- über; ein und dasselbe bewegte Begleitungsmotiv der

--^ 400 ♦—

Violinen verbindet sämtliche Abschnitte. Was aber das Werk auszeichnet, ist seine ernste, gemessene Stimmung. Nur bei der Schlußfuge auf das Wort »Amen< läßt Jomelli das Antlitz der Madonna in begeisterter Freude aufleuchten. Das letzte Wort bleibt aber dem Moll, dem gedämpften Ton. Haben dem Komponisten die Worte vorgeschwebt, welche Simeon zu Maria spricht: »Siehe, es wird ein Schwert durch deine Seele dringen«? Eine der beliebtesten und verbreitetsten Kompositionen Flu El Baoh. des Magnificat war die von Ph. E. Bach; sie gehörte mit seinem zweichörigen »Heilig« zu den berühmtesten Vokalwerken des Hamburger Tonsetzers. Das Werk ist außerordentlich breit angelegt: einzelne Vor- und Zwischenspiele scheinen gar nicht enden zu wollen. Den Zeitgenossen gefiel es besonders wegen der dankbaren Solonummern, unter welchen das Duett über »Deposuit potentes« die gehaltvollste ist. Seinen positiven Wert besitzt es in der brillant durchgeführten Doppelfuge zu den Worten »Sicut erat« und in der liebevollen Ausfüh- rung einzelner kleiner Textbildet. Unter den Komponisten vom Ende des 48. Jahrhunderts, welche Magnificats in 0. Fasterwitz. größerer Zahl komponiert haben, ist G. Pasterwitz hervorzuheben; im Konzert kamen früher auch die von J. Schuster und F. Seydelmann häufiger vor. Außer- ordentlich frische und einfach lebendig aufgefaßte Kom- positionen des Magnificat hat G. A. Homilius im a ca- pella-Stil geschrieben. Leider sind sie nicht gedruckt. Von neueren Bearbeitungen des Marianischen Lobgesangs F. Mendelaiohn, ist nur die von F. Mendelssohn zuweilen auf den Mein Herz er- Konzertprogrammen zu finden, und zwar unter dem Titel hebet. der Motette »Mein Herz erhebet Gott den Herrn«. Die- ses Magnificat ist eine der bedeutendsten Chorkomposi- tionen Mendelssohns, eine der bedeutendsten Leistungen der neueren Zeit im a capella- Stile überhaupt. Durch kunstvolle Arbeit ragen unter seinen (ohne Pause auf- einanderfolgenden) Sätzen besonders hervor der erste: »Mein Herz erhebet« und der sechste: »Er gedenket der Barmherzigkeit«. Im ersteren ist eine dem feierlichen

iO\

Charakter der alten liturgischen Intonation nachgebildete Melodie als Hauptthema eingelegt. Der andere entwickelt von den Worten ab: *Wie er zugesagt« einen hohen Grad kon- trapunklischer Virtuosität: Die Fuge wird aus einer ein- fachen zur doppelten, zum Hauptthema tritt das- zweite, erst gerade, dann umgekehrt. Dieses Leben und dieser Reich- tum der Form entfaltet sich in schlichtester Natürlichkeit ; dem, der nicht Fachmann, wird nur eine Steigerung des Ausdrucks fühlbar. Der Anlage dieses Magnificats als Granzes ist eine große Mannigfaltigkeit der Stimmung eigen. Die herrschende, welche namentlich durch den einfachen Schluß nachdrücklich besiegelt wird, ist die frommer Demut.

Mendelssohn schrieb dieses schöne' Werk für England. F. Mendelnolm, Wie die englischen Komponisten des 47. und 4 8. Jahr- Lobget&ng des hunderts in der Regel alle drei Lobgesänge des Neuen Simeon. Testaments zusammen in Musik setzten, so hat Mendels- sohn dem Hefte (op. 69], welches dieses Magnificat ent- hält, wenigsten^ noch den Lobgesang des Simeon, das ist das dritte Stück der cantica majora, beigegeben: »Herr, nun lassest du deinen Diener in Frieden fahrenc, eine Komposition, di,e in der Form eines crescendo-decrescendo aufgebaut ist. Sie hebt mild, ganz im Charakter der Rede eines würdigen Greises an und klingt auch fried- lich und freudig ergeben wieder aus. In der Mitte aber bei den Worten: »daß er ein Licht sei« schlägt sie in einfachem Satze den kräftigen Ton der Begeisterun"^ an. In dieser Mischung von abgeklärter milder Freude und feurigem Prophetentum haben die Komponisten von jeher das Wesen des Simeon gesucht. In der Gestaltung des Verhältnisses und im Ausdruck der beiden Züge unter- scheiden sie sich. Da vertritt wohl L. Haßlers fünf- L, Haßler. stimmige a capella-Ko^position des Satzes (a. a. 0. Nr. 25) am entschiedensten die ruhige Gemessenheit. Nur mit zwei kurzen Episoden unterbricht sie ein jubelnder Ton. Der abgeklärten herzlichen Freude hat Franz Tun der F. Tonder, den schönsten Ausdruck mit einem Duett zweier Bässe'*')

*) Denkmäler deutscher Tonkunst, Bd. III.

II, 4. 26 ^

lOS

gegeben, das mit den Vokalwerken Tunders überhaupt zu den erfreulichsten und traulichsten Jugendäußemngen desx »geistlichen Konzerts« in Deutschland gehört. Ein Chi, Bernhard, anderer Deutscher des 47. Jahrhunderts, Ch. Bernhard, der die Hymne für zehnstimmigen Chor, Soli und Or- chester gesetzt hat*), läßt sehr ergreifend in Simeons Reden das Alter und die Nähe des Grabes merken. H. Sohttti. Heinrich Schütz hat den Lobgesang des Simeon öfters komponiert, einmal als Kantate für Baßsolo mit Beglei- tung von zwei Violinen und Orgel, die Singstimme mit dem Instrumentalbaß zusammengekoppelt, ein zwei- tes Mal als sechsstimmige Chormotette zur Beisetzung des Kurfürsten Johann Georg L feierlich und streng; am schönsten endlich als eingelegte zweichörige Motette zu der Begräbnismesse, die er Heinrich Posthumus von Reuß widmete. Der Zusatz eines Engelchores zu dem normalen Text ist hier ein poetischer Einfall ohne- gleichen.

In der älteren Zeit wurde das »Magnificat« mit in die Psalmenmusik eingereiht und seine liturgischen Into- nationen wurden noch lange nach Palestrina ohne alld Wortwiederholung in der Kürze gehalten, in welcher man die Psalmenverse zu komponieren pflegte. Nur der in- nere Stil dieser Sätze, ihre Melodik und Harmonik wurde frühzeitig reicher. Psalmen. Um die liturgische Qualifikation der Psalmen zu

verstehen, genügt es an Sätze wie : >Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen worden usw.€ zu denken. An Tiefe und Größe religiöser Welt- anschauung überragen die Psalmen alle anderen bibli- schen Gesänge und darauf gründet sich ihre Stellung als quantitative Hauptgruppe der Kirchenmusik. Der Psalm ist insbesondere von alters her das regelmäßige Ein- leitungsstück für alle Arten von Gottesdiensten und für deren einzelne Teile gewesen, sie haben aber auch noch der selbständigen Psalmodie einen breiten Platz ein-

*) Denkmäler dentscher Tonknnst, Bd. VI.

-♦ 403 ♦—

geräumt. Die katholische Kirche ist diesem Brauch bis heute treu geblieben, der evangelischen ist er mit dem Verfall der Liturgie fremd geworden. Aber soweit sie in den schlechtesten Zeiten noch Kirchenmusik kannte, be- vorzugte auch sie dafür Psalmtexte, und ihre neuen Reform- agenden versuchen zum Teil den Psalm wieder in seine Rechte, namentlich als Introitus einzusetzen.

Wie bei Passionen und Messen hat die musikalische Komposition auch bei den Psalmen alle die Kunstmittel versucht, die ihr die Zeiten zuführten. Auch die Psal- menkomposition beginnt als unbegleiteter, einstimmiger (Gregorianischer) Gesang, wird auf der nächsten Stufe unbegleitete Ghormusik und endet als begleitete Vokal- musik. Doch macht sich in der Psalmenkomposition ein stärkerer konservativer Zug geltend, dessen Ursache man vielleicht in der besonderen Pietät vor den ^altehr- würdigen Texten suchen darf. Mehr als bei anderen Psalmakzent. Texten ist bei den Psalmen der musikalische Vortrag ge- neigt gewesen, an alten Formen festzuhalten. Im katho- lischen Ritus hat noch heute der Gregorianische Ton beim Psalmengesang seinen bi^eitesten Platz, und zwar in seiner einfachsten Gestalt als Akzent. Wie seinerzeit Spohr und Mendelssohn, befremdet das immer wieder musikalische Angehörige anderer Kulte, weil sie nur eine Kirchenmusik kennen, bei der das Wort im reichen Ton- gewand auftritt. Aber auch die Protestanten haben am alten Psalmakzent sehr lange festgehalten, an einzelnen Orten nachweislich bis weit ins 47. Jahrhundert'*'), also zu einer Zeit, wo die Psalmenmotette in höchster Blüte stand und die Psalmenkantate schon stark konkurrierte. Es ist nicht ausgeschlossen, daß bei weiterer Klärung liturgischer Begriffe auch die evangelische Kirche für gewisse Zwecke wieder auf diese urälteste Weise. (\es Psalmengesanges zurückkommt.

*] K. Held: Das Kreuzkantoiat In Dresden, S. 255. A. Harne« lick : Die Mnsik am Hofe Christians IV. von Dänemark (Viertel- Jahrsschr. f. M. W,, 1893, S. 67).

26*

404 ♦—

Der mehrstimmige Psalmensatz mag wohl gleich mit den Anfängen der Harmonie begonnen haben. Sicher ist, daß er besonders lange die ursprünglichsten, mit Im- provisation zn beherrschenden Formen der Harmonie be- vorzugt hat. Unter ihnen ganz besonders die sogenannten Falsobordoni. Falsobordoni. Darunter versteht man eine Methode des mehrstimmigen Satzes, bei welcher auf eine ganze Reihe von Worten ein und derselbe Akkord wiederholt wird, eine Form, die ja auch die protestantische Liturgie in den Responsen der Intonationen nodji heute spftren läßt. Diese Psalmodien sind die Tonbildungen einer Zeit, in welcher die Musik mit dem geistigen Ausdruck des Wortes noch wenig zu tun hatte und sich darauf be- schränkte, der äußerlichen akustischen Deutlichkeit des Wortes zu Hilfe zu kommen. Für die kirchlichen Zwecke ist jedoch diese Weise des Psalmen Vortrages sehr wir- kungsvoU; auf katholischem Gebiet und in England kann man sich noch heute davon überzeugen. Eins kam und kommt hinzu, diesen halb musikalischen, halb rezitieren- den Vortrag der Psalmentexte zu beleben: die Ver- teilung der einzelnen Verse unter verschiedene Sänger-, gruppen, die sich ablösen. Dieses sogenannte anti- phonische Prinzip, der Wechselgesang zwischen zwei Chören oder zwischen Liturg und Chor, beruhte gerade bei den Psalmen auf ehrwürdigen Überlieferungen und galt, wie die deklamatorische Form der Tonreihen selbst, für eine Erbschaft aus Davids Zeiten. Der Psalmentext erhielt auch sogar noch antiphonierende Einleitungen . zur Vorbereitung des besonderen Psalmentones. Daß vom Psalmengesang aus die antiphonische Anlage auch auf weitere liturgische Texte, auf Te deum, Magnificat und andere übertragen wurde, ist bekannt.

Da die Falsobordoni im Durchschnitt das Aufschreiben nicht wert waren, liegen heute nur wenige vor. Unter' den Neudrucken gibt Proskes >Musica divina« reichere Proben. Sie sehen sich alle sehr ähnlich bis auf die Schlüsse. Bei diesen werden die Stimmen selbständig und melodisch und von ihnen aus entwickelt sich all-

mählich auch für den Psalmensatz eine individuelle Kunst. Die nächste Stufe in dieser Weiterentwicklung ver- tritt die sogenannte Psalmodiamodulata. In ihr be- Psalmodia hält die Oberstimme die aus der alten Zeit überlieferten mpdulata. deklamatorischen Tonreihen, die unteren Stimmen sind melodisch, zuweilen einander nachahmend geführt. Die Ari)eiten dieser Gattung bilden den Übergang zu dem kontrapunktischen Psalmenstil. Die Form der Psalmodia modulata bot hinreichende Mittel, dem geistigen Sotider- gehalt der einzelnen Psalmen und auch den Einzel- begriffen des musikalischen Textes gerecht zu werden. Deshalb wandten sich Italiener, Deutsche, Spanier ihr mit der Zeit fleißiger zu. Allmählich wird auch die Oberstimme mehr und mehr aus dem deklamatorischen ^ in den musikalisch melodisch beweglichen Ton hinüber- gezogen, bis endlich von dem al^en Psalmenstil nichts mehr übrig ist und die fagierende Form wie die Messen, Motetten und Hymnen, so auch die Psalmen- Psalmmotette. komposition beherrscht. Daraus, daß dieser Prozeß erst um die Mitte des 4 6. Jahrhunderts zum Abschluß kommt, erklärt es sich, daß in der ganzen Dufayschen Periode die Psalmenkomposition, wie die Trienter Codices zeigen, noch sehr zurücktritt. Auch jetzt sind die alten Falso- bordoni wie die aus ihnen entwickelte Psalmodia modu- }

lata noch lange nicht abgetan. Wir haben eine Psalmen- komposition, welche uns die genannten drei Stilarten verschmolzen zeigt: ein Werk von klassischer Berühmt- heit, welches auch in unseren heutigen geistlichen Konzerten heimisch und Gegenstand immer neuer Be- * wunderung ist. Es ist das »Miserere« von G. Allegri. G. Allegrii Ein fünfstimmiger und ein vierstimmiger Chor lösen sich Miserere, im Vortrage der einzelnen Verse ab: Jeder Vers beginnt mit Falsobordonen, berührt an deren Ende nur kurz, mit einem einzigen Takte, den modulierten Psalmenstil und lenkt dann in die Form der musikalischen Kunst- sprache ein. Die melodischen und harmonischen Wen- dungen dieses Schlußabsbhnittes, welche den Chören beim ersten Einsatz zugewiesen sind, bleiben ihnen auch

—^ i06

bei den anderen Versen. Man wird aber nicht müde, diese Töne zu hören, so rührend, spricht aus ihnen das Herz und das Gewissen dieses von Bußstimmung voll- getränkten Psalmes. Namentlich der erste Chor wirkt

mit dem vom Alt in- j^ i ,.i t . . ? i*— i tonierten, vom Sopran i^^ lUJ.jgJ J jjiJijj?' 9 SB nachgeahmten Motive: «*• - •••* •" - «-*■

mächtig auf die Empfindung; aber auch der zweite Chor schlägt mit seinem, einem Gnadenblicke gleichen- den Dur-Schlusse das Gemüt in gewaltige Fesseln. Diese Mischung von Deklamation, schlichtester De- klamation und herzwarmem Gesang, die geniale Ver- bindung einfacher alter Weisen mit neueren hochent- wickelten Kunstformen ist das Entscheidende in diesem »Miserere«. Bekannt ist, daß AUegri bei der Sixtinisc];»en Kapelle mit dieser Arbeit alle im fugierenden Stile ge- haltenen Kompositionen desselben Psalms verdrängte. Darunter waren Arbeiten von Guerrero, Palestrina und F. Anerip. Das Allegrische wurde des päpstlichen Chores ständiges Miserere für die Mittwoch und den Freitag der Gharwoche und die Kompositionen von Bai und von Baini, welche endlich mit ihm abwechseln durften, folgten seinem Stile. Auch in Florenz und im übrigen Italien wurde Burney*) auf die Frage nach dem berühmtesten »Miserere« auf das von AUegri verwiesen. Goethe nennt es (4 788) »undenkbar schön« und noch Spohr horte es (4 847) von Kennern als den »Triumph« der Sixtinischen Gharfreitagsmusik bezeichnet. Es gibt vielleicht keine zweite Form, in welcher die Grundstimmung dieses 54. Psalmes, das Gefühl der tiefsten Zerknirschung, so überwältigend hervortreten könnte, als die von Allegri gewählte. Als Gharfreitagsmusik ist diese Komposition unübertrefflich. Für andere Zeit erlaubt der Text eine andere Behi^ndlung und hat tatsächlich in ver- schiedenen Perioden und von verschiedenen Meistern

u. ff.).

•) Ch. Bumey: The present State usw., 1771 (I, 182, 206

-^ 407 >—

derselben Epochen immer andere Au^ssungen erfahren. Allegris Stil entsprach zunächst wahrscheinlich mehr dem konservativen Sinn der päpstlichen Kapelle als dem Zeitgeschmack. Aber das von ihm gegebene Bei- spiel hat die Wirkung gehabt, daß auch die Kompo- nisten der späteren Zeit die Falsobordoni nicht zu den abgetanen Dingen rechneten. Sie werden gelegentlich wieder einmal für einen einzelnen Vers einer größeren Psalmkomposition verwendet So namentlich bei den Venetianern. In rechten Fluß kommt die Produktion in der Psalmenmotette nicht vor dem ersten Drittel des 1 6. Jahrhunderts. Aus den Neudrucken der niederländi- schen Schule (bei Maldeghem) mögen da als hervor- ragende Leistungen imitatorischer Stimmführung hervor- gehoben sein Ant. Brumels: La^date Dominum de coelis, J. de Cleves einfach, aber sehr herzlich ge- haltene Kompositionen des 82, und 85. Psalms und der 3. Psalm in dem innerlich außerordentlich erregten und äußerlich sehr wirkungsvollen Satz J. de Kerles. Die Deutschen halten länger an der Ghorantiphonie fest, nur wechselt die antiphonische Gruppierung etwas freier. Ein Hauptvertreter dieser antiphonierenden Tsal- menmotette ist Thomas Stoltzer, auch dadurch be- Thomas Stoltzer merkenswert, daß er als einer der ersten den deut- schen Psalmen text komponiert. Seine beste Arbeit ist: >Hüf Herr, die Heiligen haben abgenommen«. Bald wird dann das Antiphonieren verschiedener Chöre durch das Antiphonieren oder Fugieren verschiedener Stimmen in einem Chore ersetzt und mit dem imitatorischen wech- selt, je nachdem es dem Charakter des Textes entspricht, ein einfacher homophoner Satz. Der Chorpsalm ver- zichtet also auf einen besonderen Stil und folgt dem all- gemeinen der Motette überhaupt. In dieser Gruppe stehen mit Kompositionen deutscher Texte deutsche Komponisten wie der Zwickauer David Köler*) voran. Der Gebrauch David Eölet.

*) Zwei Psalmen yon Köler hat G. Göhler bei Bieitkopf & Härte] veröffentlicttt.

«- 408 ♦—

der Muttersprache scheint" bei ihnen der Unmittelbarkeit und Kraft der Musik zugute zu kommen. Daß sie aber auch bei lateinischem Text die Psalmenmotette zu meistern Ladwig Senfl. wissen, zeigt als einer der ersten: Ludwig Senfl'*';. Seine Psalmen sind nicht bloß durch den virtuosen Satz bedeu- tende Kunstwerke. Wohl vermag der allein schon außer- gewöhnlich zu fesseln, denn Probleme, wie sie Senfl bei der sechsmal verschiedenen Bearbeitung desselben The- mas ' in »Laudate Dominum omnes gentes < stellt . und löst, werden dem Musikfreund auch in der Geschichte der größten Meister nur selten geboten. Aber noch größer sind seine Psalmen durch die eingängliche, sichtlich aus Volksquellen schöpfende Motiverfindung, durchi die eigene Art, wie sie die Stimmung der Texte erfassen und er- schöpfen. In der Inbrunst der Empfindung, der Selb- ständigkeit und Kühnheit des Ausdrucks, sind sie mit den Kompositionen Lassos nahe verwandt und haben vielleicht auf diesen einen Einfluß ausgeübt. Das Hauptstück ist in dieser Hinsicht die zweite Bearbeitung des Psalms >Deus in adjutoriumc (Nr. 42 der angeführten Ausgabe). Immer mannigfach und reich an innerer und äußerer . Gliedenmg hat hier Senfl die Stelle, wo der Büßer seinen Gegensatz zu den Kindern des Herrn beklagt, die Worte : >Ego vero egenus et pauper sumc so rührend und er- schütternd wiedergegeben, daß alle Magdalenenbilder dagegen nicht ankommen. Die Einführung und die Sprachgewalt des im macht es. Es ist

Alt und Sopran je '^ g f ^ ^ ^ ^ | zugleich eine je-

einmal wiederholten -y^ '■ ' ' ' o > ner SteUen, an einfachen Motivs: der man tech-

nisch und psychisch die Nähe des Sologesangs fühlt.

Die berühmtesten unter den älteren Psalmenkompo- sitionen im Motettenstile sind die sieben Davidschen 0. di LasBo, Bußpsalmen von Orlando di Lasso, die vor Baßpsalmen, dem Jahre 4565 komponiert wurden. Diese Jahres- angabe muß gegenüber der noch heute immer wieder

*) Denkmäler dej Tonkunst in Bayern, Bd. III S.

-^ 409 ♦—

gedruckten Anekdote, welche diese Werke mit der Pari- ser Bartholomäusnacht in Zusammenhang bringt, betont werden. Des Anekdotenschmucks bedürfen Orlandos Baßpsalmen nicht. Sie gehören unter die bedeutendsten Denkmäler der Vokalperiode: in eine Reihe mit dem Stabat, mit der Messe »Assumpta est« Palestrinas, mit dem Requiem des Orlando selbst und dem des Cavalli. Man kann nur darüber im Zweifel sein, ob man diesen Psalmen nicht den allerersten Platz anzuweisen hat. Der ganze Reichtum an Farbe, über welchen der Stil verfügt, ist hier entfaltet, an Ausdruck soviel als der Geist der Dichtungen zuläßt. Fest ausgeprägter Gharaktet in allen Sätzen, in ihrer Folge eine geniale Ökonomie, die mit den Mitteln der Steigerung oder des Kontrastes das Cremüt und die Fantasie des- Hörers immer von frischem und immer stärker fesselt Die Melodik, Or- landos Hauptstärke überall, wirkt hier doppelt gewaltig, namentlich da, wo er einfache Motive in Sequenzen weiter führt. Zuweilen setzt sie mit wahren Herzens- tönen ein: Stellen, wie der Eintritt des >Laboravic in dem ersten Psalm ergreifen auch vom Texte losgelöst In der Auffassung des Textes Eingebungen von wa]brhaft heiliger Weihe. Feierlich, als wenn ein geheimes Wunder verkündet wird, tritt in demselben Psalm das >Exaudivit€ ein. Wie eine Stimme in der Wüste, in der Öde klingt das »Discedite«. Daneben wieder Abschnitte, in denen eine wahrhaft Josquinsche Naivität waltet. Alles ist in diesen Psalmen von lebendiger Anschauung durchtränkt Ihre höchste Macht liegt aber in dem Ausdruck der Grundstimmung. Nicht die Zerknirschung und das Fla- gellantengefühl beherrscht diese Musik, sondern die rüh- renden und demütigen Klagen des reuigen Sünders werden von Tönen des Gottvertrauens und der der Gnade sichern Hoffnung umrahmt und aufgenommen. Am klarsten zeigt sich diese Tendenz im Anfang der beiden Psalmen »Miserere« und »De profundis«. Für die Aufführung bieten diese klassischen Kompositionen verhältnismäßig nur geringe Schwierigkeiten. Der Satz übersteigt die

Sechsstimmigkeit nicht, die kontrapunktischen Formen drängen sich nirgends auf und sind kurz und gedrängt behandelt. Die Bekanntschaft mit diesen Meisterwerken zu vermitteln, eignet sich am besten der zweite Psalm: »Beati quorum remissae sunt iniquitates< und zwar um etliche Sätze verkürzt. Wenn im ersten Abschnitt auf »remissae« die Harmonie von Es- nach Adur wechselt, wird jeder- mann klar, mit welcher Gewalt und Freiheit dieser Künstler über die Tonmittel herrscht. Aus den demü- tigen Bitten des »Delictum meum cognitum tibi feci« spricht rührend und ergreifend die ganze Fülle seines melodischen^ Vermögens, und das kanonische Bicinium der Bässe und Tenöre auf die Worte der Stimme Gottes: >Intellectum tibi dabo« zeigt die wunderbaren poetischen Eingebungen, über die Lassos Fantasie und Geist verfügten.

Palestrinft. Von Palestrina gibt es ein einziges, als solches

betiteltes Psalmen werk, die »Sacra .... Psalmodia usw.« von 4 596. Doch hat er für seine Motettensammlungen viele Psalxpentexte benutzt und grade seine Psalmenkompo- sitionen sfeichnen sich durch malerische Einzelzüge und durch den engen Anschluß der musikalischen Erfindung an den Wortgehalt aus. Als ein Hauptstück ist »Sicut cervus« zu nennen. Aus der römischen Schule und aus

F. Anerio. Palestrinas unmittelbarer Umgebung ist hier Feiice A n e r i o mit der Komposition des Psalms »Beatus vir« anzureihen. Sein Schlußsatz fällt aus dem Tone der Palestrinaschule durch die Erregung und die fast schauerliche Realistik heraus, mit welcher das endliche Schicksal des Sünders geschildert wird. Das ergreifende Werk ist eines der spärlichen Vorläufer jener kühnen Psalmenmotetten, durch die Schützens cantiones sacrae Aufsehen erregten. Zeit- lich steht dieser Komposition als ein andres italienisches

0. QabrielL Meisterstück das sechsstimmige »Miserere« G. Gabrielis (von 4597) nähe. Es verläuft in einem einzigen Satz, der den Bau der Dichtung mit bescheidenen Modulations- einschnitten wiedergibt und auch der Ausdruck hält sich einfach an die Demut. Aber gerade durch den Verzicht auf Dramatik und auf jede Wirkung nach außen ist es

114 ^-

ein Bußgebet von vollendeter Zartheit und Feinheit. Mit unscheinbaren Mitteln wird GabrieU allen Wallungen des Gemüts gerecht. Eine Pause und ein extra breiter Akkord beim Einsatz des >Dele iniquitatem« und doch spricht eine Fülle von Inbrunst aus der Stelle! Beim >quoniam iniquitatemc ein ungesuchtes chromatisches Motiv aber wieviel Scham und Rene liegt darin! .Welcher Ernst in dem E dur-Einsatz bei »tibi soli peccavitc Und sowie an diesen Punkten ist die ganze Komposition durch Klein- arbeit ununterbrochen meisterUch.

Als ein weiterer viel nachgefragter Venetiani- scher Vertreter der Gattung ist noch Giovanni Groce G* OroM. mit seinen 'achtstimmigen Vesperpsalmen (1592) zu nennen. »

Die Geschichte des musikalischen Psalms ähnelt dem PsalmUed. Gang der Passionskomposition darin, daß sie schnell alle neu auftauchenden Satzformen versucht. Der Grund ist in beiden Fällen derselbe : die poetische Gewalt der Texte, die starke Anziehung, die sie auf jede Art musikalischer Gemüter äußern. So macht denn auch in demselben Augenblick, wo sich eben die Psalmenmotette durchsetzt, das neu in Schwung gekommene Chorlied, das in der Messe zu künstlerischer Bedeutung nicht gelangt, erfolgreiche Ansprüche auf die Psalmentextie. Sie waren in derselben Sehnsucht nach einfacher, gemeinverständ- licher Musik begründet, die zuerst wohl in den sogenannten >Plenarien< den Gregorianischen Introitus - Melodien deutsche Texte zum Nachlesen für die Laien beifügt, die dann mit dem Anfang des 1 6. Jahrhunderts in der ganzen Vokalkomposition der Alleinherrschaft des Kontrapunkts entgegentritt, die unter Tritonius und Genossen zu den homophonen Kompositionen Horazischer Oden, die schließ- . lieh über > Generalbaß c und »Generaldiskant« zur Monodie und zu einer »nuove musiche« führt. Wie diese Bewe- gung ihren größten Triumph im Lutherschen Gemeinde- lied erlebt, so war es auch Luther, der sie mit aufs Psalmengebiet hinüberwies. Denn der Reformator hat ][>ekanntlich dem Schatz des protestantischen Chorals

—-^ 412 *—

eine Reihe Psalmentexte eingefügt, von denen »Aus tiefer Not schrei ich zu dirc der bekannteste sein wird. Dieses Beispiel und die zeitgenössische Odenkomposition mögen

Ol. Gondimel. Claude Goudimel hauptsächlich angeregt haben, die sämtlichen Psalmen nach dem französischen Text Ma- rots und Bedas in einfachen vierstimmigen Liedsatz zu bringen. Dieser zuerst 4565 veröffentlichte (unlängst in allen 4 50 Stücken originalgetreu von Expert in Partitur herausgegebene) Goudimelsche Psalter ist den Reformierten noch mehr geworden und geblieben als den Lutheranern ihr Choral: nicht bloß das Hauptstück, son- dern fast das einzige Lebenszeichen der Musik in der Liturgie. Wie Luther viele, so hat Goudimel fast alle meist noch in den Tenor gelegten Melodien dem Volks* gesang entnommen. Mitarbeiter und Nachfolger fand er auf reformiertem Boden einzelne: den ersten in dem G. LBJ61UL6* großen Chansonisten Claudin Le j eun e , dann niederländi- sche Musiker, unter ihnen den hervorragendsten in dem

Eoolealaotioiub sogenannten >Ecclesiacticusc*). Im ganzen sind es nicht viele, weil durch die von Goudimel selbst vorge- legte Masse der Bedarf gedeckt war. Fast eifriger nahmen sich die protestantischen Tonsetzer, nachdem Lobwasser die Marotschen Texte übersetzt, Buchanau die Davidschen Gesänge paraphrasiert hatte, des neuen mehrstimmigen Psalmenliedes an, da es sie rhythmisch und malerisch reizte. Ihre Reihe reicht von dem Rostocker Olthofi Olthof über Hammerschmidt bis zu dem Eislebener Epimef- Uthr edecerus (7 Bußpsalmen mit Kirchenmelodien, 4 684 ). lohmidt. Auch ein Däne, A. Arebbo, ti^tt in ihr mit >König Davids

TTtlmd^oenu. Psalterc (Kopenhagen, 4683) auf**). Besonders ragt Her-

Arebbo. mann Schein mit den Psalmennummern seines »Gan-

H. Boheia. tioiiale« und seiner >opella novac hervor. Schein läßt,

indem er diese Arbeiten >Liederlein und Psälmlein« nennt,

durchblicken, daß die eigentlichen Musiker auf das ganze

Gebiet keinen großen Wert legten. Ganz ähnlich wie den

*) Neu herausgegeben Ton D. Scheurleer. **) A. Hamerich a. a. O.

Gemeindechoral und' das neue Sololied überläßt man es den Dilettanten. Anch darin kommt es noch einmal zu einer Parallele zwischen Choral und Psalmenlied, daß sich auch aus letzterem wieder eine neue Gattung höherer Kunst entwickelt': vokale und instrumentale Psalmenbearbeitungen in großer Form.

Dazu hatte Goudimel selbst den Anstoß mit einem (schon 4562 erschienenen) Heft von Chorpsalmen gegeben, in welchem sechzehn volksmäßige Psalmmelodien im Mo- tettenstil durchgeführt werden. Von den Werken, welche nach diesem Vorgang die einfachen Psalmen Goudimels zu großen Orgelkompositionen ausführen, ist das hervor- ragendste das. Tabulaturen Boeck des Anthoni van Noordt*) (von 4 659) ein getreues Pendant zu den A. van Voordt. ebenfalls aus Sweelincks Schule stammenden Choral- Orgelqsalmen. Variationen S. Scheidts, xZu den späteren Seh. Bachs und der diese Meister umgebenden deutschen Orgelkompo- nisten. Es zeigt auch auf eine gleiche hturgische Be- handlung der Psalmen bei den Reformierten, wie sie bereits bei den lutherischen Chorälen, bei den Messen and Hymnen der Katholiken erwähnt worden ist: Ge- legentlich ließ man sich auch den Psalm in poetischer Variation der einzelnen Verse vorspielen und las still den Text dazu.

Als erster Meister der vokalen Psalmvariation ist der niederländische »Phönix der Musikc, der große Peter Sweelinck anzuführen. Zwar herrscht noch keine voll- Peter Sweelinok. ständige Klarheit über den Umfang seiner Psalmenarbeit, aber sicher ist, daß er die 4 50 Psalmen Davids minde- stens jeden einmal komponiert, und daß er mindestens vier große Bücher Chorpsalmen zu vier bis acht Stim- men herausgegeben hat**;. Einzelne dieser Sammlungen erlebten mehrfache Auflagen, sie wurden außer in der

*) Als 19. Stuck der Publikationen der niederländischen »Vereeniging usw.« in Übertragung neu herausgegeben.

*•) Vgl. H. A. Viotta: Einleitung zum Neudruck von Swee- lincks »Regina coeli« (Publikationen der »Yeereeniging usw.«, I.).

iii ♦—

Heimat des Komponisten auch in Deutschland (Frank- furt, Berlin) gedruckt, aus dem Französischen (des Marot) ins Deutsche übersetzt und von den Landsleuten Swee- lincks als die Krone seiner Leistungen angesehen. Biblio- thekspuren bezeugen noch heute ihre große Verbreitung im i 7. Jahrhundert. Gelegenheit, sich über ihr Wesen und ihren Wert bequem zu orientieren, bietet der Neudruck, der von der vierstimmigen Fassung des achten, des vier- undzwanzigsten, des fünfundsiebzigsten, des neunzigsten, des hundertzweiundzwanzigsten und des hundertachtnnd- dreißigsten Psalms vorliegt *}. Dam ach sind die vier- stimmigen Psalmen Sweelincks vorwiegend sehr lange drei- und vierteilige, gegen zwanzig Partiturseiten und mehr umfassende Paraphrasen der Goudimelschen Weisen. In jedem Teil hat in der Regel eine andere Stimme die Grundmelodie als breit rhythmisierten cantus firmus. Die Nebenstimmen sind zuweilen in der Einfacheit Eccard- scher Ghoralsätze, häufiger aber in kunstvollen, mitunter strengen Nachahmungen von Motiven dagegengestellt und grundsätzlich dem cantus firmus entnommen. Auch, fugenmäßige Führung sämtlicher Stimmen kommt vor. Die Methode knüpft hiernach locker an die alt- niederländische Schule, enger an den gleichzeitigen Orgel- choral an. Daß trotz dieses instrumentalen Vorbildes die Wirkung dieser Chorpsalmen Sweelincks stark und unmittelbar ist, danken sie der Wahl der kontrapunktie- renden Motive, die das Wort, die Situation und ebenso die Natur der Menschenstimme in ihrer Reinheit, und Eigenart wahrt. Besonders glücklich und reich ist der vierundzwanzigste Psalm erfunden. Da hat Sweelinck in der Fülle, der Eindringlichkeit und dem Fluß des Aus- drucks die Fessel des cantus firmus ganz überwunden, und es kommen Stellen, die durch Kühnheit der Dekla- mation geradezu in Erstaunen setzen; die frappanteste ist wohl der Eintritt der Worte: »Mais sa montagne«. Er gehört mit zu den Stücken, in denen erregte Vor-

*) Publikationen der »Vereeniging usw.«, XII.

i<5

Stellungen und Bilder überwiegen. Sie sind es, bei denen die Fantasie Sweelincks am stärksten ist und , die am mei- sten wirken. Bei d^n Aufgaben ruhiger Darstellung fesselt er feinere Hörer durch die Klarheit des Abtönens und Unterscheidens, mit einem Wort, durcK seine künstlerische Bildung, aber die Begabung tritt dagegen zurück. Auch in den mehr als vierstimmigen Psalmen bleibt er in erster Linie der Meister der hellen Farben, der Sänger für Lob und Freude. Leider liegt von ihnen nur ein einziger Neudruck, der des hundertundfünfzigsten Psalms für acht Stimmen vor'*'). Dafür ist das aber auch ein Prachtstück begeisterter, festlich glänzender, rauschender und schwung- voller Musik, dem die Kunst der Sweelinckschen Zeit nur wenig, ihre Dichtkunst jedenfalls nichts an die Seite zu stellen hat. Für die Aufführung tut man gut, die acht Stim- men in zwei getrennte vierstimmige Chöre zu gruppieren, da nach alter Psalmenweise meist regelrecht und hinreißend ajitiphoniert wird. Deutschen Chorvereinen sollte dieser Sweelincksche Psalm sobald als mögUch durch eine Ein- richtung mit deutschem Text zugänglich gemacht werden. Durch ihn müßte es der Gegenwart mit einem Schlag klar werden, daß Sweelinck auch zu den größten Vokal- meistern seiner Zeit gehört.

In Deutschland findet sich zu dem über Goudimel- sche Weisen entwickelten Chorpsalm Sweelincks schon 4 607 ein Seitenstück in den auf Choraltnelodien basierten Psalmenmotetten Leo Häßlers (4607), die bekanntlich 4 774 als der erste deutsche Neudruck alter Musik ver- dientermaßen wieder herausgegeben wurden. Dem Vor- gang Haßlers sind bis zu Valentin Meder und bis zum Anfang des 48. Jahrhunderts viele Komponisten gefolgt Engern Anschluß an Sweelinck zeigen die stimmreichen und »konzertweis« mit Instrumenten be- gleiteten Psalmen seines Schülers Paul Siefert in Danzig dadurch, daß sie Goudimelsche Melodien als Grundlage nehmen. Sie gehören in eine technische

L. Haßler.

Val. Meder.

Paul Siefert.

♦) Publikationen der >Vereeniging usw.«, XVII.

-•-♦ iU ♦--

I

Oratorischer Grappe^ die man als o rat ori sehen Psalm bezeidinen

Ptfalm oder könnte, ^salmkantate. Seit Anfang des 4 7. Jahrhunderts schon hatte sich der Psalmentexte auch die neue* Kunst der Vokalmusik mit selbständiger Begleitung bemächtigt. Das erste Werk, mit

L. Viadana, dem die »niiöve musichec in die Kirche einzieh t, L. Via- danas »Cento Concerti ecclesiastici usw.« (4 602) enthält auch Psalmentexte. Bald kamen aber auch spezielle Psal- mensammlungen für eine und für mehrere Solostimmen mit Begleitung. Eine der frühesten, die jedoch auch un- begleitete antiphonierende Chorsätze, u. a. einen auf »Ein* feste Burg« enthält, ist die unsers Landsmanns Thomas

Th. Walliser. Wallis er mit dem Titel: »Kirchengesänge oder Psalmen Davids« (45U). Ähnlich mischen sich alte Motetten- und neue Kantatenmusik in den sechzehn Kompositionen des 44 6. Psalms, die Großmann in Jena etwas später ver- öffentlicht hat. An der Konkurrenz haben Schütz, Schein, M. Prätorius, Altenburg, Demantius Teil genommen. Im Laufe des 4 7. Jahrhunderts wird der Sologesang in den Psalmen immer beliebter. Besonders beweis- kräftig sind für diese Annahme, weil sie von Laien ^ herrühren, die beiden Kompositionen des »Miserere«, die wir vom Kaiser Ferdinand IIL und von Kaiser Le^opold L

Kalger Ferdi- besitzen*). Bei Ferdinand merkt man das gesunkene An- rftad IIT. sehen der Chormusik schon an der Textverteilung: 4. Vers Miflorerc. Chor, 2. Vers Solo für ersten Sopran, 3. Vers Solo für zwei- ten Sopran, 4. Vers Solo für dritten Sopran, 5. Vers Terzett der drei Solosoprane, 6. Vers Chor, 7. Vers Solo für ersten Tenor, Vers Solo für zweiten Tenor, 9. Vers Solo für dritten Tenor, 4 0. Vers Terzett für die drei Solotenöre, 4 4. Vers Chor. So geht es weiter mit den drei Alt- und den drei Baßsolisten bis zum »Gloria Patri« in das sich Solistenensemble uud Chor endlich einmal ehrlich teilen. Die numerische Zurücksetzung des Chors wird dadurch noch verschärft, daß seine Sätze, wenn auch voll von Ausdruck und gut musikalischen Zügen, doch auffallend

*) G. Adler: »Musikalische Werke der Kaiser usw.«, Bd. !•

--♦ 417 *^

kurz und im einfachsten homophonen Stil gehalten sind. Dem »Miserere« Leopolds I. liegt das naive Prunken KaiterLeoiloldL mit dem SoHstenbestand der Kaiserlichen Kapelle fern. "^ Miseieie. Es reicht der alten Kunst nicht bloß in der Menge der Chöre, sondern auch in den Soli^ die Hand, bei jenen sogar mit Anklängen an die Falsobordoni. Aber es läßt trotzdem keinen Zweifel darüber, daß der Sologesang mit seinen akustischen und sinnlichen Reizen die Psalmen- komposition stärker beherrschte, als es der Text zuließ. Das sonst meisterliche, durch tiefe Empfindung, kühne Sprache, sichre und freie Form fesselnde, die musikalische Dilettantenkraft der Monodieepoche frappant beleuchtende Habsburger Werk zeigt in der selbstherrlichen ^ Koloratur- freudigkeit seiner Solosätze eine nicht bloß iildividuelle, sondern auch zeitliche Schwäche.

Die Gefahr war nicht ausgeschlossen, daß der Psalm ähnlich wie die italienische weltliche Lyrik ganz und gar dem Sologesang ausgeliefert wurde. Für die geisthche Musik Italiens diese Gefahr beseitigt und einen Ausgleich neuer und alter Musik herbeigeführt zu haben, ist be- kanntlich das Verdienst Cari'ssimis: Noch früher und a. Oarlssimi* entschiedener wurde ihr in Deutschland vorgebeugt und zwar von Heinrich Schütz, ganz insbesondere auch H. Schfits, durch seine Leistungen in der Psalmenkomposition. Schon durch seine Fruchtbarkeit auf diesem Gebiet gehört Schütz unter die größten Psalmenmeister aller Zeiten. Auch er hat nur einen kleinen Teil seiner Psalmen al& solche betitelt, der größere birgt sich unter verschiedenen musikalischen Formennamen: Geistliche Konzerte, Sinfoniae: sacrae, Motetten, Geistliche Chormusik. Die Spittasche Gesamt- ausgabe seiner Werke gibt ja hierüber bequeme Auskunft und zeigt zunächst, daß auch Schütz allen in seiner Zeit bekannten Richtungen der Psalmenkompositionen ihr Recht zu geben strebte. Wir haben da als erste Gruppe Psalmen in der Form der einstimmigen, oder auch zwei- und dreistimmigen Solokantate komponiert. Sie sind es, die obenhin betrachtet, am meisten den Eindruck von Modesachen machen. Denn hier ist auch Schütz musi-

II, \. 27

<^ 4«8 ^>—

kalischen Worten, wie psallare, jubilare, cantare, und er ist allen Bewegungsbegriffen gegenüber mit malenden Gesangfiguren freigebiger, als unsere Zeit für notwendig erachtet. Aber er opfert der Manier des vokalen Kolo- rierens mit mehr Maß und Geschmack xmd auch sinn- voller und geistreicher als der Durchschnitt seiner Kollegen. Sein Figurensingen rückt in der Regel durch die Nachahmungen der Instrumente, durch umbildende und verdichtende Polyphonie aus dem Sinnlichen hinauf in den Kreis beziehungsvoller Kunst. Noch wichtiger ist es, daß diese Alterspuren quantitativ weit, weit hinter die bleibende Größe zurücktreten, die allen wesentlichen Elementen dieser Solopisalmen eigen ist. Es genügt, den ersten Teil der »Sinfoniae sacraec (von 4 629) oder den ersten Teil der »Geistlichen Konzertec (von 4 636) aufs geratewohl aufzuschlagen. In Stücken von der Herz- lichkeit des »In te Domine speravi«, von der Fülle und Originalität der Erfindung des »Jubilate Deo«, von der Natürlichkeit der Deklamation des »Eile^ mich, Herr usw.« zeigt sich ein Psalmist von königlicher Art. Für Hausandachten, für Gottesdienst mit bescheidenen Mitfein sind diese Schützschen Solopsalmen wie geschaffen und sie zunächst praktisch bekannt zu machen, ist eine der dankbarsten Aufgaben des heutigen geistlichen Kon- zerts. Die Mithilfe des Musikverlags kann dabei aller- dings nicht entbehrt werden; es braucht Übertragungen und Einrichtungen der Originalausgabe, welche die Rhyth- mik modernisieren, die Dynamik einfügen und vor allem das nur skizzierte Akkompagnement für Orgel (oder Kla- vier) vervollständigen.

Diejenigen deutschen Komponisten, die sich mit Psal- men für Solo oder Soloensemble am engsten an Schütz N. Stronck. anschließen, sind N. Strunck und Ad. Krieger. Kriegers A. Erleger. Terzett über: »An den Wassern zu Babel usw.« ist eins der ausdrucksreichsten Stücke aus der Entwicklungszeit des geistUchen Konzerts, in der Form allerdings etwas sprunghaft. Breiter angelegt ist seine vierstimmige Psalmkantate: »Ich preise dich, Herr«, sie hält auch

den einheitlichen, wunderschön gehaltenen Grundton, den des fröhlichen Herzens, fester*).

Die zweite Hanptgruppe der Schützschen Psalmen- werke, die die Chorpsalmen umfaßt, zerfällt in mehrere Unterahteilungen. Wie schon in den Solopsalmen ein Teil der besten auf Einflüsse des Chorstils zurückgeht, 1^0 steht diese Gruppe als Ganzes über der anderen, je- doch . mit beträchtlichen Gradunterschieden. Ihren be- scheidensten Teil bilden der Form nach die Komposi- tionen zu den von Cornelius Becker gedichteten deutschen Psalmenparaphrasen, die von 4628 bis 4 665 auf hundert und fünfzig Stick gebracht wurden. Es sind vierstimmige Chorlieder mit (ad libitum) beigefügtem Basso continuo, Beiträge zur Geschichte des Goudimelschen Psalters auf evangelischem Boden. Wie Schein von seinen >Psälm- lein«, so hat auch Schütz von diesen Arbeiten keine hohe Meinung: Es sei, sagt er, »fast kein Musikus, welcher nicht etwa eine solche Melodey aufsetzen könnte«, und gegen die von Luther stammenden Psalmenweisen ver- hielten sich seine Erfindungen wie Menschen zu den himmlischen Seraphim. Man biaucht sich aber dadurch nicht von dieser einfachen Musik abschrecken zu lassen, auf ihren Gemütswert weist Schützens eigene Mitteilung hin, daß sie sein Trost bei dem »unverhofften Todesfall seines weyland lieben Weibes« gewesen seien. Man merkt ihnen sehr wohl noch die Blütezeit des Kirchenliedes an. Bedeutend eigner sind die Psalmenmotetten, die fünfzehn an Zahl unter den vierzig Nummern der »Cantiones sacrae« (von 1625) enthalten sind. Ihre An- lage ist vorwiegend kurz und einsätzig, nur dreimal hat Schütz solche einzelne Sätze zu einem zwei- und dreiteiligen Zyklus aneinandergereiht. In diesem knappen Rahmen wird aber soviel Kunst und bewegtes Innenleben zusammengedrängt, daß diese vierstimmigen Chorpsal- men als Unica bezeichnet werden müssen. Spitta macht in der Vorrede des betreffenden Bandes darauf aufmerk-

*) Königliche Bibliothek zu Berlin, MMs. 11661.

27*

-^ 42d 4»—

sam, daß nach Kaspar Printz (historische Beschreibung der edlen Sing- und Klingkunst 4690)^er Ruhm Schützens an diese cantiones zuerst angeknüpft hat. Das begreift sich sehr leicht. Denn diese Psabnenmotetten treten im Wesen und in den Mitteln aus jeder bekannten Reihe heraus. Soviel ungewöhnliche Intervalle und Akkorde (übermäßige Dreiklänge namentlich), solche Kühnheit in der Rhythmik, solche Schlagfertigkeit in der Nachahmung mußten an und für sich auffallen. Sie verbanden sich aber hier mit einer vollendeten Sicherheit und Natürlich- keit des Ausdrucks und sie überschütteten mit Proben des neuen dramatischen Musikgeistes an einer Stelle, wo ihn niemand erwartete, in der alten, gedrängten einsätzigen Motette. Dadurch wurden und sind sie das eigenthche Meisterstück Schützens, in ihrer Art bis heute noch von niemandem überboten. Davon zu überzeugen sind be- sonders die Nummern 4 4 (»In te Domine speravic) und 38 (Domine, ne in furore tuo anguas me<)- geeignet Was für eine ungeheure Empfindung spricht in diesem letzten Stück allein schon aus dem Einsatz des »Mise- rere«, aus der Mischung von inbrünstigem Vertrauen und furchtbarer Angst, aus der verblüffenden Melodik des Motivs! Zugleich aber wird aus diesen Beispielen eine andere Eigentümlichkeit dieser Schützschen Psalmen- motetten klar: ihi'e ganz außerordentliche Schwierigkeit. Wenn sich überhaupt ein Chor an ihnen versucht^ darfs nur einer von den allerbesten sein. Sicherer geht man mit einem Soloquartett. Bei vielen ist das durch den Basso continuo angedeutete Akkompagnement wesent- lich.

Die höchste Stufe der von Schütz getanen Psalmen- arbeit bezeichnen aber auch diese Motettenpsalmen noch nicht, sondern sie findet sich erst in den mehr chörigen Psalmen mit Instrumenten, die im dritten Teü der »Sin- foniae sacrae«, in der »Geistlichetn Ghormusik« und in den von 4 619 ab veröffentlichten »Psajmen Davids samt etlichen Motetten und Konzerten« enthalten sind. Bei ihnen kommt, verghchen mit den Psalmenmotetten,

f

die bedeutende, äußere Wirkung hinzu, die in der großen, breiten Form dieser Kompositionen begründet ist. Wie bei den Solopsalmen, ist diese Form die neu eingeführte der Kantate. Schütz hat sie aber bei diesen mehrchörigen Psalmen mit einer ganz außergewöhnlichen Beweglichkeit der Sätze und des Tempowechsels gehand- habt. Die Musik der einzelnen Psalmen, auch der läng- sten, wie der 44 6., der 424., fließt immer frisch dahin, und der Gesamteindruck ist einheitlich und stark. Sieht man genau hin, bemerkt man als Eigentümlichkeit des Schütz- schen Kantatenauf baus, daß er zur rechten Zeit sich mit sehr kurzen Sätzchen als Zwischengliedern begnügt, daß er zweitens geeignete kleine und größere Stücke durch Wiederholung einprägt. Durch diese mehrchörigen Psalmen von Schütz ist die Kantate ein für allemal eine Haupt- form der Psalmenkomposition, sie ist die Form des eigentlichen Fe§tpsalms geworden. Spätere Meister, wie Händel, haben die Schützsche Grundform individuell aus- gefüllt, im wesentlichen aber nur wenig geändert. Selbst bei Franz Liszt ist sie noch zu spüren, bei ihm neben- bei bemerkt auch Schützsche Wortauffassung, wie der Vergleich zwischen den Kompositionen ergibt, in die beide Tonsetzer den 4 3. Psalm gebracht haben. Am meisten weichen spätere Psalmenkantaten von den Schützschen darin ab, daß sie neben dem Chor auch dem Sologesang einen breiteren Platz geben. Doch, fehlt der in den mehrchörigen Psalmen dieses Meisters keineswegs, wenn er auch nur bescheiden auftritt. Schütz hat die Solostellen nicht als solche bezeichnet. Trotz- dem ist es verkehrt keine anzunehmen und immer nur den Chor singen zu lassen. Die Punkte, an denen gewechselt werden darf oder nicht, ergeben sich aus dem Stil.

Zu der Klassizität der Kantatenform tritt bei diesen mehrchörigen Psalmen von Schütz noch die erstaunliche Fülle, die Mannigfaltigkeit und der poetische Wert der Gedanken und der Mittel. Durch das alles sind sie Gipfel der Musikgeschichte, ähnlich wie auf ihren Ge-

<& 422 ^—

bieten die Orgelfantasien Bachs und die Symphonien Beethovens. Sie erst zeigen den ganzen Schütz mit seinem Bilderreichtum und seiner sicheren Gestaltungs- kraft. Altes und Neues verschmilzt bei ihm' organischi die Zeiten der Falsobordoni und des modernen Motivs begegnen sich in natürlichster Freundschaft. Untersucht man diese SO mehrchörigen Psalmen auf Binzelzüge hin, so steht man wie bei den B achschen Kantaten vor un- erwarteten Überraschungen. Nicht wenige entspringen einem liebenswürdigen ReaUsmus, so wenn in dem Choralpsalm »Nun danket alle 6ott€ plötzlich eine Solo- trompete mit einem ganz volkstümUchen Refrain herein- spielt, wenn er in >Wo der Herr nicht das Haus baut« bei den Worten voq. der behüteten Stadt ein leibhaftiges Türmersignal blasen läßt. Hier schreibt er noch extra darüber: >ad imitationem cornu vigilis«. Unter die beson- deren Eigenheiten Schützens, die aus diesen mehrchörigen Psalmen hervortreten, gehört auch eine Stimmführung, die gegebenen Falls die Konsequenz über den Wohl- klang setzt und ohne Bedenken ganz ungewohnte Disso- nanzen streift. Monteverdis Einfluß spricht daraus. Als ein Hauptparadigma hierfür bietet sich die Komposition von >Die mit Tränen säen«. Sie bietet Gelegenheit einen praktischen Punkt zu berühren. Sie gehört nämlich zu den zweichörigen Psalmen, bei denen in jedem Chor ein Teil der Stimmen Instrumenten übertragen ist. Hier treten je drei Posaunen mit je zwei Chorstimmen und der Orgel zusammen. Diese eigentümliche Mischung, ursprünglich ein Notbehelf kleiner Kapellen bei den stimmreichen Werken der venetianischen Schule, wurde als ein neues GehörspHänomen allmählich beliebt und findet sich auch bei den Zeitgenossen von Schütz. Sie bietet aber bei der Aufführung große Schwierigkeiten für das reine Zu- sammenklingen und der Dirigent wird gut tun, den Posaunen reichere Gelegenheit zum Einspielen mit der Orgel und zum Ausgleich temperierter und natürlicher Stimmung zu geben. Bei den mehrchörigen Psalmen mit vol- lerem Orchester ist diese Schwierigkeit bedeutend geringer.

/

Wie durch Schütz in Deutschland, so wurde auch in andern Ländern durch ihm verwandte Geister das drohende Monopol des Sologesangs ferngehalten, doch erhalten von der Mitte des 47. Jahrhunderts ab die Psalmen für ein, zwei, seltener für mehr Solostimmen mit Begleitung von Cembalo, Orgel und Orchesterinstrumenten einen breiten Platz in der Praxis. Auch die architektonische An- lage dieser Solopsalmen folgt der Kantate: Rezitative wechseln mit geschlossenen Sätzen. In den letzteren erscheint zuweilen auch der Chor abwechselnd mit dea Solisten. Der Klassiker und Spezialist dieses solisti- schen Psalmens ist Benedetto Marcello. * Seine B< MaroeU«, 50 Psalmen, denen Paraphrasen des italienischen Dich- Solopsalmen. ters G. A. Giustiniani unterliegen, Nachdichtungen der biblischen Texte im Zeitgeschmack, wie sie in Italien schon 4 554 auftauchen, waren überall verbreitet. Die erste Hälfte (4 724 veröffentlicht) wie die zweite (4 726—27 her- ausgegeben) erlebten mehrfache Auflagen, Nachdrucke, Übersetzungen und Bearbeitungen und standen lange im Weltrufe fest. Noch 4 86 5 wurde in Stuttgart eine lindpaint- nersche Neuinstrumentierung von zwölf dieser Psalmen veröffentlicht, und der letzte französische Auszug aus dem acht splendide Foliobände umfassenden Werke ist noch zwanzig Jahre jünger. Marcello ging an seine Aufgabe mit dem doppelten Rüstzeug des Forschers und Musikers. In dier mit Lobgedichten seiner Bewunderer, mit Be- glückwünschungsschreiben angesehener Kollegen ge- schmückten Vorrede des ersten Bandes stellt er in dem unfehlbaren Tone, welchen wir an theoretisierenden Künstlern gewohnt sind, die Grundsätze fest, nach wel- chen nicht bloß seine, nach welchen die Psalmen über- haupt und immerdar komponiert werden sollen. In der alten Musik, der der Hebräer uud Griechen, suchte Mar- cello das Kolorit, in dem Musikdrama seiner Zeit aber Seele und Leib seiner Psalmenmusik. In der Tat hat Marcello mit großem "Geschick in seine Psalmen alter- tümliche Tonelemente eingeflochten, originale oder imitierte lydische und andere griechische Weisen,

« 424 ^

namentlich aber viele Synagogengesänge, welche er bei spanischen und deutschen Jaden sammelte. In dieser Hinsicht sind die Psalmen Marcellos geschichtlich märk- würdig: sie sind einer der ersten Versuche archaisieren- den Sologesangs. Im £ffekt ist dieser Versuch verschieden ausgefallen: hie und da z. B. im 9. Psalm, wo die drei Stimmen bei den alten hebräischen Intonationen in breiten Unisonos zusammentreten großartig, an ande- ren Orten noch opernhaftec als die späteren Versuche in Verdis »Aidac oder in Meyerheers »Prophetc. Auch sonst ist der Wert der einzelnen Psalmen nicht gleich. Wenn die neuere deutsche Kritik jedoch die Psalmen Marcellos im allgemeinen etwas geringschätzig zu behandeln be- gonnen und sogar versucht hat verleitet durch die bürgerliche Stellung des Komponisten diese Werke als dilettantische Produkte hinzustellen, so schlägt sie einen Irrweg ein. An einer gewissen Unruhe in der Gesamt- haltung, an einem beim Vergleich mit den Meisterwerken der Vokalperiode hervortretenden Mangel an Harmonie, und, wenn man will, auch an kirchlichem Geiste leiden sie. Aber die kontrapunktische Geschicklichkeit ist keineswegs gering. Und die Erfindung zeigt in den Psalmen, welche für mehrere Solostimmen (gewöhnlich mit hinzutretendem Chore) geschrieben sind, einen mehr als gewöhnlichen, einen fantasie vollen, dichterischen Musikgeist. Unter den Duetten namentlich finden sich liebenswürdig und freundlich feine Abschnitte in Menge. Besonders ragen in dieser Klasse der 32. (für zwei Alt- stimmen), der 34. (Baß und Tenor) und der 25. Psalm (Baß und Alt) hervor. Die für eine Solostimme geschriebenen sind alle schwächer. In ihnen fällt Marcellos Melodik sehr häufig in den kurzen tänzelnden Tontrab, welchen die venetianische Oper für ihre Ariette, die theatralische Schwester des Gassenhauers, liebte. Auf der andern Seite sucht er apart zu sein und verunziert seinen sonst muster- haft gesanglichen Stil durch unnötige Ausnahmeintervalle und barocke Wendungen. Bei alledem bleibt auch in die- sen einstimmigen Psalmen noch viel zu bewundern: die

geistvolle Anlage, der Anschluß an die Poesie, die vor- zügliche Deklamation und der bedeutende Ausdruck der Rezitative. Der Begleitungsapparat dieser Psalmen be- schränkt sich bei den meisten auf ein Generalbaßinstru- ment (Orgel,. Cembalo, Klavier), so daß sie sich gut zur geistlichen Hausmusik eignen. An obligaten konzertieren- den Instrumenten finden sich beigegeben Cello im 4 5., zwei Bratschen im 24. Psalm. Von den Komponisten, welche auf dem Felde der Psalmenmusik Marcello als Muster nahmen, ist G. B. Martini (Miserere), später der Qt, B. Martini. Abb^ Stadler zu nennen. Weiter im 49. Jahrhundert Abb6 Stadler., wird der reine Solopsalm wieder seltener.

Die Reihe der in neuen Sammelwerken vertretenen Hauptarbeiter in Psalmmotette und chorischer Psalm- kantate beginnt mit dem Münchener Ercole Bern ab ei S. Bemabei und mit Paolo Colonna, deren Psalmen alten Chor- P. Colonna. Verzeichnissen nach früher viel gesungen worden sind. Von A. Scarlatti sind die beiden Stücke »Dixit Dominus< A. Soarlattl. und »Laudate pueri« zu nennen. Wie diese drei, widmet die Mehrzahl der mit ihnen lebenden italienischen Ton- setzer die Hauptkraft der Psalmenmotette mit unvergäng- licher Frische, aber ohne den Typus zu verändern. Als dne hervorragende Psalmkantate aus dieser Epoche ist C. M. C 1 ar i s »De profundisc noch heute allgemein bekannt. G. M. Glari. Unser Landsmann J. Fux vertritt wieder die Psalmen- J. Fax. motette, ebenso A. Lotti und Fr. Gasparini. Die bei A. Lotti. Scarlatti genannten beiden Psalmen kehren auch bei den F. Gasparini. anderen immer als die Hauptstücke wieder; dazu noch das »Misererec und sie werden von allen Musikern ziemlich ähnlich behandelt. Die liturgische Brauchbar- keit ist der Leitstern für Anlage und Erfindung: die thematischen Ideen erfahren nur eine knappe Ausführung, reiche Wortwiederholungen, breitere Formen der Nach- ahmungen, wie wirkliche Kanons und Fugen sind ver- mieden, in rein deklamatorischen Stellen klingt die erste Zeit des mehrstimmigen Psalmengesangs häufiger wieder an. Am weitesten geht in dieser Richtung Ant. Caldara, A. Caldara, der erste Komponist der nach Schütz wieder eine ganz Psalmen.

—0 426 ^—

besondere Auffassung der Psalmenmotette durchsetzt Nor ist der Stil Schützens auch in seinen Ghorpsahnen trotz ,der wenigen eingestreuten Falsobordonen und der konsequenteren Durchführung des Wechselgesanges vor- wiegend modern. Galdara dagegen erstrebt ähnlich wie Marcello einen altertümlichen Eindruck. Die Falso- bordoni erhalten bei ihm einen breiteren Platz, und das erste Gebot, dem seine Melodien und Harmonien fol- gen, ist das der Würde und Feierlichkeit. So sehr seine Motive an Charakter und an Treue gegen das Wort hervor- ragen, die volle Freiheit der Erfindung versagt sich Galdara einem alttestamentarischen Pathos zuLiebe. Seine Psalmen sind nicht in dem Geiste beweglicher Harfengesänge, wie sie David anstimmen konnte, gedacht, sondern als eine Musik, welche die erhabenen Hallen des Salomonischen Tempels zu tüllen hätte. Auch dieser Standpunkt kann als eins von mehreren Idealen der Psalmenkomposition gelten. Ein ganz besonderer Meister ist Galdara in der Behandlung der Antiphonie. Die Mannigfaltigkeit, mit welcher er den Wechsel bestellt, bald die Gruppen näher zusammenzieht, bald weiter voneinander rückt, trennt und eint, die Rhythmen und die melodischen Linien der Motive nach dem Geist des Textes bildet, das alles zeigt einen höchsten Grad von Kunstbeherrschung» Man wird die Zeit liegrüßen dürfen, wo diese Psalmen Galdaras der Praxis der Ghöre zugeführt werden. Die »Denkmäler der Tonkunst in Osterreich« planen die baldige Veröffent- lichung. In einer anderen Gruppe von Psalmenkompo- sitionen hat Galdara sich der modernen Weise, der Psalmenkompositionen mit Sologesang und Begleitung zugewendet. Das daraus bekannteste Werk, ein »Miserere«, ist gut, aber nicht hervorragend*).

Unter den zahlreichen Kompositionen des i 4 2. Psalms, der ein Jahrhundert lang geradezu ein Pflicht- und Fa- voritstück der Tonsetzer ist, befindet sich auch eine sehr schwierige Solokantate für Sopran voji G. F.

*) Denkmäler der Tonkunst in Österreich, XIII i.

Händel. Sie ist dadurch besonders interessant, daß sie als ein Werk aus der Knabenzeit für die musikalische und persönliche Frühreife des Komponisten ein ge- 0. F. Handel, wichtiges Zeugnis ablegt Während seines ersten Psalmen und römischen Aufenthaltes hat Händel (nach Chrysander)^ Anthems. diesen Psalm umgearbeitet und noch zwei weitere dazu geschrieben, von denen der eine »Dixit dominus« schon Händeis ganze Eigentümlichkeit: die berühmten Uni- sonos in breiten Noten, die kurzen schmetternden Jubel- motive -^ zeigt. Dann benutzte er das »Laudate pueri« wieder für die Komposition des 4 0a. Psalms >Jubilate<, welcher mit dem Utrechter Te deum zugleich aufgeführt wurde. In diesen drei Bearbeitungen derselben Grund- ideen tut man einen tiefen Blick in Händeis Studiengang, in seine Entwicklung und in die ganz wunderbare Be- anlagung dieser gesegneten Künstlernatur. Ein so reiches Maß von Bildungsfähigkeit, gesundem Gefühl und Takt, wie uns bei dem Vergleiche dieser drei Arbeiten entgegen- tritt, wird in der Kunstgeschichte nicht zu überbieten sein. Aber die besondere Bedeutung, die Händel für die Psalmenkomposition hat, bringen sie noch nicht zum Ausdruck. Dies geschieht erst in den viel gerühmten, aber wenigstens in Deutschland -^ wenig aufgeführten Anthems. V Die erste Reihe bilden die sogenannten Chan dos- Anthems, welche Händel während seiner Kapellmeisterzeit beim Herzog James von Ghandos für den Gottesdienst zu Cannons in den Jahren 4 746 18 schrieb. Diese Anthems sind Kantaten großen Stils für Soli, Chor, Orchester und Orgel. Ihre Gesamt- zahl beträgt abzüglich der doppelten Bearbeitungen einzelner und des ersten Anthems, welches nur ein Ar- rangement des >Jubilate< vom Jahre 4 74 3 ist zehn. Davon sind die ersten sechs für dreistimmigen, die fol- genden für vierstimmigen Chor gesetzt. Auf die Zeit des antiphonischen Kirchengesangs zurückdeutend, lyar der Name Anthem zu Händeis Zeit in England Allgemein- begriff für jede Art kunstvoller Kirchenmusik geworden, welche wirklich für die Ausführung im Gottesdienst be-

^ 488 ^^-

stimmt war und ist das bis heute geblieben. Dem Text nach sind Händeis Chandos-Anthems Psalmenmusik und ak solche außerordentlich breit angelegt; einzelne be- stehen — die Ouvertüren nicht mitgezählt aus acht oder mehr Sätzen. Auch die einzelnen Sätze sind um- fangreich, namentlich unter den Ghorsätzen haben viele eine Ausdehnung und Länge, wie sie bisher bei Händel noch nicht vorgekommen war und sich später nur selten wiederfindet. Die ungewöhnliche Form hängt damit zu- sammen, daß Händel sich in diesen Anthems eine neue Aufgabe gestellt hat. Das war die Schilderung der Natur und der göttlichen Wunder. Wenn er darin eine Haupt- seite der Psalmpoesie sah, so war das ohne Zweifel eine ähnliche einseitige Auffassung, wie sie Ernst Bach und Valentin Herbing bald darauf den Gellertschen Fabeln gegenüber vertraten. Aber es war eine grandiose Ein- seitigkeit und ihre Folgen gaben der Musikgeschichte eine neue Wendung. Denn mit seinen Ghandos-Anthems hat Händel zuerst mit Entschiedenheit den großen Stil betreten, welcher das Merkmal seiner Oratorien bildet. In letztere ist mancher Satz aus den Ghandos-Anthems wörtlich oder umgebildet übergegangen. Für berühmte Partien des »Messias« und des »Israel« enthalten die Ghandos-Anthems die ersten Skizzen. Namentlich zu den großen Tonmalereien des letztgenannten Oratoriums bieten die Anthems Nr. 4 und 4 0 mit ihren Schilderungen von Meeresbrausen, von Blitz und Donner, vom Beben und Schüttern der Erde, eigentümliche Seitenstücke. Diesen und anderen großen Leistungen einer ebenso kühnen und mächtigen als sichern Fantasie treten aber in den Anthems auch solche der Empfindung ebenbürtig entgegen. Die bedeutendste Arbeit in dieser zweiten Klasse ist das dritte Anthem »Have mercy upon me«, eine Komposition des bekannten Bußpsalms von er- greifender Innigkeit und Schönheit und zwar auch in den Sologesängen, welche im allgemeinen die Höhe der Ghöre und Ensembles in diesen Anthems nicht erreichen. Dem dritten steht das sechste nah: »Wie der Hirsch

-^ 429 ^"^

Bchreit« , von welchem drei Bearbeitungen vorhanden sind, deren dritte in die Zeit vor Ghandos zu gehören scheint. Durch Originalität der Anlage und der Stimmung ist das neunte Anthem »0 praise the Lord« (Psalm 4 35) 4)esonders ausgezeichnet. Sein erster Satz hat die Händel eigene Verbindung von choralartigen Motiven mit kon- zertierenden; der große 8/2-Takt über »With cheerful. notes« auf dieselbe Mischung frommer und hell jubelnder Gefühle gebaut, bringt ganz eigene Ausklangseffekte in den breiten Unisonos, zu welchen die Stimmen an vielen Periodenschlüssen zusammentreten.

Die zweite Reihe der Händeischen Anthems, die Krönungsanthems, gehört durch die Mehrzahl der Texte ebenfalls zu den Psalmenkompositionen. Händel schrieb sie,' vier an Zahl, im Jahre 4 727 zur Krönung Georgs IL, welche im Westminster mit besonderer Pracht vor sich ging. Auch fürten musikalischen Teil wurde Außerordentliches aufgewendet. Händel ließ ein neues Podium errichten und eine besondere Orgel bauen. Ein sechszehn Fuß langes Riesenfagott, welches, ebenfalls nach Händeis Angabe, für diese Gelegenheit hergestellt wurde, konnte niemand spielen. Es blieb bis zu der großen Gedächtnisfeier, welche im Jahre 4784 zu Ehren des verstorbenen Komponisten stattfand, unbenutzt.

Es gibt in diesen Krönungsanthems einzelne Sätze, welche weiter nichts als ihre musikalische Schul- digkeit tun. Von dem Anthem »Let Thy band« gilt das fast durchaus. Der überwiegend größere Teil dieser Anthems ist aber von einer wunderbaren Inspiration durchzogen, hier fortreißend und rauschend, wie das ganze knappe Anthem »Zadock, der Priester«, dost lieblich kindlich und. innig, wie der erste Satz von »My heart is inditing«. Letzteres ist für die Krönung der Königin be- stimmt. Daß Händel sich die Krönungsfeierlichkeit als einen Akt dachte, bei welchem das ganze Volk dabei sein müßte, ist gar nicht zu verkennen. Namentlich das Anthem »The king will rejoice« trägt diesen Stempel einer im besten Sinne des Wortes für alle Welt

* 430

passenden Musik. Man kann es für das vorzüglichste halten. Der Zweck, für welchen die Anthems geschrieben wurden, kommt auch in der pompösen Besetzung des Orchesters, in welchem die Trompetenfarbe hervorsticht, zum Ausdruck. In diesem Punkte unterscheiden sie sich zunächst von den Ghandos- Anthems. Für Musikfeste eignen sie sich besonders und sind auch nach 4 870 vorüber- gehend dafür benutzt worden. Händel selbst beutete auch diese Anthems später für größere Werke aus, z. B. füt das »Gelegenheitsoratorium« und für >Deborah<.

Eine dritte Reihe Händelscher Anthems besteht aus Gelegenheitsarbeiten, welche Händel für Hochzeiten im königlichen Hause uild andere öffentliche Zwecke fertigte. Die Ausgabe der deutschen Händelgesellschaft bringt diese letzten, im Gehalte zurückstehenden und von der Praxis der Konzerte bis heute gänzlich übergangenen Anthems in«, der 36. Lieferung. 0. F. Hftndel, Es darf an dieser Stelle gleich der »Trauerhymne«

Frauerliymne. mit gedacht werden, welche Händel im Jahre 4 737 als eine Art Requiem für die Beisetzung (4 7. Dezember) der Königin Karoline schrieb, da der Text auch dieses Werkes zum überwiegenden Teile aus Psalmenstellen besteht. Diese Komposition, welche Burney in seiner Geschichte der Musik etwas übertreibend an die Spitze aller Werke Händeis stellt, ist eine durch Weichheit, Zartheit und edle Herzlichkeit ausgezeichnete Nänie, ganz dem Charakter der guten, milden wohltätigen Frau entsprechend, zu deren Ehren sie gesungen wurde. In keinem andereil von den größeren Vokalwerken des Tonsetzers stehen so viel rührende Stücke. Händel scheint bei der Arbeit eine gewisse persönliche Ergri£fenheit nicht überwunden zu haben. Er flocht Erinnerungen hinein, welche in seine eigene Jugend zurückreichen: einen Anklang an das »Ecce quomodo« seines Namensvetters Handl (Jakob Gallus) in den Satz: »Their bodies« (»Ihr Leib kommt im Grabe zur Ruh«); den in Halle und in ganz Sachsen als Grabgesang gebräuchlichen Choral: »Herr Jesu Christ, du höchstes Gut« in dem großen Eingangssatz »The ways

-— * 431 *—

of Zionc (»Ganz Zion trauert usw.«!. Er bildet in diesem Satze das Fundament eines der reichsten und vollendet- sten Kunstbauten, die wir besitzen. Das kirchliche Element, welches hier unbestritten herrscht, tritt in den anderen Sätzen vermittelnd und erhebend dazwischen. Die knappe, eine übervolle Stimmung hinter Wortkarg- heit bergende Ouvertüre der »Trauerhymne« entstand erst, als. Händel das Werk zur Einleitung seines Oratoriums »Israel« umarbeitete. Ober die Besetzung bei der Auf- führung berichten die Zeitungen: achtzig Sänger und hundert Instrumentalisten.

Die »Trauerhymne« war eines der ersten Werke, welches sich von den Händeischen großen Ghorkompo- sitionen in Deutschland verbreitete, leider in entstellter Form. Man machte so unpassend als« möglich ein Ora- torium: »Empfindungen am Grabe Jesu« daraus; der erste herrliche Satz wurde dabei grausam zerschnitten und büßte seine eigentliche Schönheit vollständig ein.

In der späteren Psalmenkomposition haben Händeis Anthems erst auf Mendelssohn eingewirkt. Von den in der Händeischen Zeit angesehensten Psalmenkomponisten ist die Mehrzahl in der Gegenwart vergessen. Das gilt von dem älteren Fasch, es gilt von Feo; es gilt auch von J. FiFasoh, J. A. Hasse, der unter andern das »Miserere« viermal Feo, J.A. Hasse, komponiert hat, einmal nur für Männerstimmen, ein ander- mal für Knabenstimmen allein. Nur von LeonardoLeo L. Leo. bringt das Konzert zuweilen noch die Kantate »Dixit domi- Dixit Pomlniu nusc und häufiger bringt es sein achtstimmiges »Misererec. und Miserere. Beide sind ausgezeichnet durch breites Maß. Längere Psalmenkompositionen gibt es nicht. Das »Dixit dominus« (in der Kümmeischen Sammlung gedruckt) prägt sich schon durch die Faßlichkeit der Themen ein; der Eindruck wird noch durch die an vielen Stellen hervortretende Origi- nalität der Auffassung und des Ausdrucks befestigt. Die Wiederkehr des Schlußmotivs vom Ritornell des ersten Satzes, die gewaltige Deklamation der Worte: »sedet a dextris« durch die Bässe an demselben Orte sind solche subjektive, aber wirkungsvolle Eigentümlichkeiten. Das

432 ^^

achtstimmige »Miserere« Leos gehörte zu den berühm- testen Tonwerken seiner Zeit and ist heute noch eines . der geschichtlich interessantesten. Der Charakter einer Über- gangsepoche mit ihren fremdartigen Versuchen und merk- würdigen Bildungen ist kaum einem zweiten Tonwerke schärfer aufgeprägt als diesem »Miserere«. Seiner Form nach ist es eine begleitete Motette, geistig steht es auf dem Boden des Musikdramas ; es ist in der Konzeption vorwiegend theatralisch, theatralisch in jenem von Marcello und Caldara, neuerdings besonders von Berlioz vertretenen Sinne genommen, in welchem die Fantasie sich mehr in das Zeremoniell des Gebets versenkt, als in den Sinn der Gebets- worte selbst Daher die von Stimme zu Stimme wandernden einstimmigen Episoden, welche die Intonationen des Litur« gen nachahmen, daher die Wiederkehr derselben Formeln und Manieren in den meist kurzen vielstimmigen Sätzchen. Wenn es auch nicht immer die richtige ist, so ist doch die Stimmung und Begeisterung in der Komposition bedeutend. Musikalisch ist das »Miserere« reich an genialen Einzel- heiten. Eine der merkwürdigsten dieser Stellen, vollständig romantisch geartet, ist der Anfang des »Averte faciem« mit

dem in den unte-

ren Stimmen durch- <h ►_'» * K Jj K 'J' /J Ip- geführten Motive: iT - - M '^ 4>

Aus der Psalmenkantate jener Epoche taucht äu- C. W. T. Qluok, weilen Glucks »De profundis« auf. Diese Kompo- De profundif . sition markiert den Ernst der Stimmung mehr, als daß sie ihn ausführt. Einzelne Stellen treten aus dem Geist der Skizze heraus, namentlich das einfach herzliche »Quia apud te«. Oft glauben wir Mozart zu hören, so in dem Abschnitt: »Misericordia«. Vollständig eigen und Gluckisch ist das Kolorit des Orchesters: der vorwiegende Klang der Posaunen und tiefen Hörner. Von den Streich- instrumenten fehlen die Violinen. Die Gesamtwirkung der kleinen Komposition, der einzigen, mit welcher der Refor- mator der Oper heute auf dem kirchlichen Gebiete er- scheint, ist hochfeierlich.

Zu den gegenwärtig übergegangenen Psalmenkoto-

—^ 433 ^—

ponisten gehören ferner J. Haydn, Sarti, Naumann J.Haydn, Sarti, und Ph. E. Bach mit Psalmenkantaten, welche fast alle üTaamsiin, eine Neigung zur Umständlichkeit kennzeichnet. Von FL £• BaoL Mozart besitzen wir Psalmen in der, Bündelform der Mosarti Vespern. Zur musikalischen Ausstattung der Vesper Vespern, gehören fünf Psalmen und das Magnificat als Schluß. Diese Bestimmung bedingt eine kurze Ausführung der einzelnen Psalmen. Die Mozartschen sind einsätzig. Die schon längere Zeit (durch Peters) herausgegebene Vesper vom Jahre 4 77ö hat in den Nummern 2 (»Confi- tebor«) und 4 (»Laudate pueri«) Nummern von hervor- ragender geistiger Bedeutung. Die letztere ist im strengen fugierenden Stile und altertümlichen Tone ge- halten. In Süddeutschland kommt zuweilen noch eine einzelne Mozartsche Bearbeitung des »De profundis« usw. zu Gehör, eine knappe, häufig bloß deklamierende Kom- position. Von den Wiener Klassikern erscheint merk- würdigerweise ziemlich oft Franz Schubert in den F. Schiibert, Aufführungen der Ghorvereine mit einer Komposition Der ^3. Psalm, des 23. Psalms für vier aequale Stimmen (Quartett oder Chor von Frauenstimmen oder Männerstimmen) mit Klavierbegleitung. Das liebenswürdige, aber sehr harm- lose Werk verdankt diese Bevorzugung seiner einfachen Form, welchfe über das Lied nicht weit hinausgeht,^ seiner leichten Ausführbarkeit und seinem Wohlklang. Als weitere Tonsetzer, welche vor einigen Generationen auf dem Gebiete der Psalmenkomposition Ansehen genossen, sind zu nennen Abb^ Vogler, der mit Stadler in die Abb^ Vogler, Schule Marcellos gehört, Andreas Romberg, der Kom- A. Bomberg, ponist der » Glocke «, und Peter v. Winter, von welchem F. ▼. Winter, fünfzig Psalmen vorhanden sind. Die Mehrzahl der Kom- positionen dieser und verwandter Tonsetzer derselben Epoche verläuft ungemein breit, ermangelt aber der Merk- male eines besonderen Psalmenstils.

Der erste Komponist Im 49. Jahrhundert, dessen Psalmen wieder einen tieferen und nachhaltigeren Ein- druck erreichten, war Felix Mendelssohn. Verschie- F. Mendelssohn, deutlich ist in der Zeit, wo seine Psalmen zuerst er-

II, 4. 28

* 434 «»—

schienen, die Meinung ausgesprochen worden, ob nicht auf dem Gebiete der kirchlichen Komposition Mendels- sohns größte Stärke zu suchen sei. Und diese Meinung mag wohl die richtige sein. Wir stehen, ermüdet durch den Eifer einer maßlosen Nachahmerschaft, auch ihnen heute etwas kühler gegenüber als die Musikwelt, welche vor 60 und 70 Jahren lebte. Eine kurze Zeit der Ruhe wird sie wieder in ihrer ganzen Frische erstehen lassen. Sie sind einer langen Zukunft gewiß, wie alle Kunstwerke, in welchen sich eine wirkliche Individualität, sei es auch eine beschränkte, meisterhch äußert. In Mendelssohns Psal- men dringt der weiche Gruhdton vielleicht .allzu stark hervor, ihre Andacht bedient sich etwas häufig derselben Wendungen, und im Ausdruck der erhabensten, der düsteren und schauerlichen Ideen erscheinen ihre Töne etwas matt. Aber Mendelssohns Bitten und Beten, sein Bekenntnis des Gottvertrauens ruht nicht auf kalten Musikformeln; ein warmer Strom herzlichen Gefühls und gläubiger Hingebung durchdringt seine musikaHschen Gebete und wenn er Gott lobt und dankt, schwingt sich seine Musik zu einer Kraft und Begeisterung auf, welche uns erhebt und einzustimmen zwingt. Mendelssohns Jugend fiel in eine Zeit, in welcher auf allen Gebieten ein Aufleben des religiösen Gefühls bemerkbar wurde. Von den Künstlern folgten die einen, unter ihnen viele Maler, dieser Bewegung mit der Fantasie, die andern, von Schleiermacher angeregt, mit dem Herzen. Auf letzterer Seite fand der junge Mendelssohn seine Stellung. Die direkten musikalischen Quellen für Mendelssohns Psalmenstil liegen viel weniger in den Werken mid der Weise von Bach und Händel, als häufig behauptet wird. Bei den Oratorien ist das anders, aber bei seinen Psalmeü zeigt sich Bachscher Einfluß fast gar nicht, Händelscher allerdings, aber nicht stark. Seine Hauptvorbilder sind hier bei den Italienern zu suchen: in Marcello für die Kantaten, in den Meistern der Vokalperiode für die Psalmenmoütetten.

Unter den Psalmenkantaten des Tonsetzers ist die

^ 435

bekannteste und am häufigsten aufgeführte die Kompo- sition des 42. Psalms: >Wie der Hirsch schreit«^ Diese F. MendeliBolm. Arbeit (op. 42), auf der Hochzeitsreise entstanden, ist Wie der Hirsch unter den größeren Vokalwerken Mendelssohns diejenige, schreit welche den sentimental -romantischen Grundzug seines Wesens am stärksten zum Ausdruck bringt. In alle Farben dieser Musik ist ein gemeinsamer Beiklang milr der Schwärmerei gemischt und der leidenschaftliche, äußerste Seelennot kündende ^ Ton des Textes ist zu einem empfindungsvoll elegischen gedämpft. Das Dich- terwort von der > Wonne der Wehmut < ist wie ge- schaffen für diese Komposition. Die Unterschiede in den Äußerungen der verschiedenen Empfindungen: Sehnsucht, Bußgefühl und Hoffnung sind außerordent- lich fein. Sie würden unbemerkt bleiben, wenn nicht die Form der musikalischen Mitteilung in ihrer Leben- digkeit und in ihrem Reichtum ein Gegengewicht böte, welches Eindruck und Wirkung sichert. In der Gestal- tung dieser Form verrät sich jene Fülle von kunstge- schichtlichem Wissen und kunstgeschichtlicher Bildung, welche an der hervorragenden Stellung Mendelssohns keinen geringen Anteil hat. Der Bekanntschaft Mendels- sohns mit der alten Psalmenkomposition verdankt sein »42. Psalm« einige seiner schönsten poetischen Vorzüge: die Einschaltung von Rezitativen, den das antiphonische Verfahren nachbildenden W-echsel von Frauen- und Männerchören, die Vereinigung von Solo- und Chor- gesang in sogenannten Ensemblesätzen, die durch Wie- derholung des Thema »Harre auf Gott« herbeigeführte Abrundung der zweiten Hälfte. Auch die Erweiterung des Textes durch den Schlußabschnitt »Preis sei dem Herrn« ist auf eine Nachbildung alter Tradition zurück- zuführen: daß Psalmen und Hymnen von alters her mit dem »Gloria Patri« abschlössen, war im Laufe der Zeit wenigstens auf der protestantischen Seite vergessen worden. Unter den Chorsätzen des Psalms ist der erste »Wie der Hirsch schreit« der bedeutendste. Ihn zeichnet ein großer und freier Ton im Ausdruck der Sehnsucht

28*

^ 436 ♦— -

nach Gott aus, sein Aufbau gelangt zu bedeutenden Höhe- punkten. Der zweite dieser Höhepunkte, der Schluß des Mittelteils, ist musikalisch durch eine geniale Wendung, die kühne und feine Rückkehr in die Haupttonart Fdor, gekennzeichnet. Der Schlußchor schlägt energisch volle Saiten der Freude an, so daß der Hörer durch einen frischen ynd festlichen Eindruck gehoben von dem Werke scheidet. F. Mendelssohn, Der nicht lange Zeit nach dieser Komposition ent- 96. Psalm, standene 95. Psalm »Kommt, laßt uns anbeten« (op. 46) verwendet den Solisten (Tenor) als geistigen ^Führer der Menge. Dadurch, daß der Chor seine Worte nachsingt, erhalten sie eine verdoppelte und verstärkte Bedeutung. Aus der Anlage der Komposition spricht ein hohes Pathos. Sie beginnt im Charakter demütig frommer Andacht (Nr. 4 ,

Tenorsolo mit Chor), ^ Ailegro. durchzogenen

geht dann mit dem von Ä n r n v ^^ Chor in den dem festlichen Signale ^ Kom-mether.itti Ton drängen-

der Begeisterung über und endet nach zwei, denselben Stimmungdkreis nochmals durchkreuzenden Zwischen- nummern, dem lieblichen, dankbar ergebenen Duett: »Denn in seiner Hand« und dem kraftvollen Chor »Denn sein ist das Meer« mit ernster Mahnung; die Schluß- nummer »Heute, so ihr seine Stimme höret« (Tenorsolo und Chor) ist eins der schönsten Ensemblestücke, welche Mendelssohn erfunden hat, im Ausdruck eines tiefen Ernstes, einer edel wehmütigen und besorgten Stimmung, eine ideale Leistung. Hoheit und Traurigkeit teilen sich in seinen Eindruck so eigen, daß man zum Vergleich am besten Seitenstücke von Mendelssohn selbst heranzieht Die Sopranarie »Jerusalem, die du tötest usw.« aus »Paulus« steht diesem Schlußsatz geistig am nächsten, doch ist in ihm die Empfindung in eine viel größere und mächtiger erregte Form geleitet. Die Chorsätze des Psalms kennzeichnet eine große Einfachheit und Entschiedenheit der Melodik. Das Bild, welches Mendelssohn hier von der Psalmenkomposition vorschwebte, trug den Wahl- spruch: kernig und würdig. Auf diesen Eindruck hin arbeitet die Behandlung der Vokalpartie, sie erreicht ihn

--<^ 437 ♦--

namentlich mit den wohlberechneten Unisonostellen, v Daneben finden sich Einzelheiten von größter Feinheit der Auffassung. Besonders schön ist die Pianostelle im ersten Chor zu den Worten »und niederfallen«. Es ist auch unbeschadet des Strebens nach großem und ein- fachem Stil viele kunstvolle Arbeit eingesetzt. Den Schluß des zweiten Chors bildet ein Kanon zwischen Frauen- und Männerstimmen über die Worte »Denn der Herr ist ein großer Gott«. Am Schluß der Nr. 4 kehrt die Musik des Eingangs wieder.

Die andren Psalmenkantaten Mendelssohns erscheinen im heutigen Konzerte seltener. Sein »Nisi dominus« (op. 3l), F. MendelBsohiL, der Erstling Mendelssohns in der Gattung, während des Nisi dominas ersten römischen Aufenthalts geschrieben, ist eine durch und die in den Sätzen herrschenden Gegensätze mächtige Da Israel aus Komposition. In seiner erregten Grundstimmung, welche Ägypten zog. mit der der Hauptarien der Glaubenshelden Paulus und Elias verwandt ist, mag er aber den Ideen, welche sich Mendelssohn später selbst von der Psalmenmusik gebildet hatte, nur wenig entsprochen haben. Unter den Vorbildern, welchen Mendelssohn in diesem Werke nachfolgte, ist ausnahmsweise S. Bach zu bemerken. Von ihm rührt die wiederholt versuchte Annäherung an den Ton des Choralliedes her.

Wenn dieser Psalm von dem Konzert mit einigem Rechte übergangen wird, so bleibt dies bei der großen Psalmenkantate, welche Mendelssohn über »Da Israel aus Ägypten zog« (o^. 51) geschrieben hat, sehr zu bedauern. Das einzige Bedenken, welches man dieser, namentlich auch durch auf Händeis Stil fußende Tonmalereien im- posanten Komposition gegenüber äußern kann, ist ein Lob: die Bemerkung, daß ein überreicher Musikinhalt etwas zu gleichmäßig gedrängt zum Vortrag gelangt. Die Form dieses Vortrags war aber für Mendelssohn sicht- lich eine Prinzipienfrage. Es galt ihm die starken Ein- schnitte der Kantate zu vermeiden. Auf die Komponisten hat dieses Mendelssohnsche Werk einen bedeutenden Einfluß ausgeübt, der besonders darin sichtbar wird, daß

-^ 438 < -ft^-

in der Periode nach Mendelssohn dieser in der älteren Literatur nicht gerade bevorzugte Text eine Lieblings- vorlage der kirchlichen Tonsetzer geworden ist. F. MendalsBoliii, Auf dem Gebiete der unbegleiteten Psalmenmotette Psalmen- hat Mendelssohn sehr nachdrücklich wieder das alte motetten. antiphonische Stilprinzip, den Wechselgesang der Chöre, zur Geltung gebracht. Unter den Kompositionen dieser Gattung ist das Hauptwerk die große achtstimmige Mo- tette >Richte mich, Gott«. Die vierstimmige Motette »Aus tiefer Not«, welche nicht selten in geistlichen Konzerten vorkommt, hat Mendelssohn ersichtlich nicht als Psalm betrachtet, sondern als Ghorallied. Sie besteht aus einer Reihe Chorvariationen über die Luthersche Kirchenmelodie, welche an einer Stelle von einem freien und begleiteten Tenorsolo unterbrochen werden.

Mit seinen Psalmenkompositionen hat Mendelssohn eine Schule gegründet, deren Blüte heute noch fort- dauert. Auch auf die Anhänger älterer Richtung wirkten seine Arbeiten anregend. Sehr deutlich läßt sich das in der Literatur der für Männerchor geschriebenen Psal- B. Klein, men verfolgen, auf welchem Gebiete vorher B. Klein mit seinen kurz und geradeweg gehaltenen Kompositionen die Führung hatte. Schon in den vierziger Jahren wird hier das Mendelssohnsche Muster maßgebend, und ihm folgend und doch eigene Freiheit wahrend, schrieben Männer, wie F. Schneider, Schneider, H. Marschner, J. Otto, F. Lachner, H. Marsohner, F. Hill er und I. Faißt sehr schöne Psalmenkantaten für J. Otto, Männerstimmen , von vielen anderen Tonsetzern (Adam, F. Lachner, Erfurt, Stade usw.) begleitet und nachgeeifert. F. Hiller, ^^® Mehrzahl der bisher genannten Tonsetzer hat bei

I, Faißt, ^^r Komposition der Psalmen nicht an den König David, sondern an die betende Tempelgemeinde gedacht und die Worte und Gefühle der Dichtungen von der Lage und Stimmung der Einzelperson losgelöst und auf das allge- meine Verhältnis der Menschheit zu Gott übertragen. Nur eine kleinere Gruppe von Musikern hält im Gegensatz zu dieser kirchlichen, für den Allgemeingebrauch zurecht gelegten Auffassung an dem subjektiven , persönlichen

-^ 439 ^-~

Urspruftg der Psalmen fest und gibt ihm Vin der Regel ^ durch einen stärkeren Auftrag der Elemente, welche das Kolorit und die Stimmung behandeln, Ausdruck. Als frühere Hauptvertreter dieser Richtung kennen wir B. Marcello und k. Stadler. In neuerer Zeit hat mit beson- derer Entschiedenheit Fr. Liszt diesen Standpunkt ver- Fr. Liszt, treten. Seine Psalmenkompositionen fünf sind ver- Psalmen, öffentlicht haben aus diesem Grunde und weil sie in einem auf kirchlichem Gebiete ungebräuchlichen Grade moderne Musikmittel verwenden, die öffentliche Auf- merksamkeit in hervorragender Weise erregt. Das Konzert hat von vier derselben Notiz genommen. Am seltensten erscheint der f8. Psalm »Die Himmel er- zählen«, eine kräftig gehaltene Komposition für Männer- stimmen, in welcher von dem Unisonosatz sehr geistvoll und wirksam reicher Gebrauch gemacht wird. Der 23. Psalm ist in der erweiterten Form des dreiteiligen Sololiedes (Sopran oder Tenor) gehalten. Der Textab- schnitt von «Und auch im Tal der Nacht« ab Herders gereimte Paraphrase liegt zugrunde bis >Gut Heil wird stets um mich sein« bildet den erregten, pathetisch de- klamierten Mittelsatz. Der Hauptteil, der durch einige feierlich präludierende Takte eingeleitet wird, verläuft im Tone einer Begeisterung, die sich im Ausdruck zarter Schwärmerei kaum genug tun kann. Das Kolorit der Komposition wird durch die Mitwirkung der Harfe stark mitbestimmt. Im Konzert haben sich am festesten ein- gebürgert Liszts Kompositionen des 1 37. und 4 3. Psalms. Jener, für eine Solostimme (Sopran oder Tenor) und Frauen- chor mit Begleitung von Violine, Harfe und Pianoforte (Orgel) geschrieben, hält ebenso wie der 23. eine einfache dreiteilige Form ein. Der erste Teil erzählt ohne Verweilen von den Leiden der Gefangenschaft und tut dies in einem Tone, welcher durch seine romantische Mischung merkwürdig fesselt. Das klingt resigniert, müde und zu- gleich kraftvoll und stolz, apathisch traurig und auch zornig erregt. In den Gang schlichter Deklamation fließen ausdrucksvolle Akzente, gefühlvolle Gesangstellen und

\

)

440

Wendungen, 'welche orientalisch gefärbt sind. Bt erhebt sich vor uns eine Gestalt, vom Alter halb gebrochen, « aber mit dem Adel und der Würde des Prophetentums angetan, eine musikalische' Übertragung Bendemann- scher Figuren. Technisch ruht die Einleitungsszene des 4 87. Psalms hauptsäch- . Der zweite, nur

lieh auf dem von Liszt fe H jrJ ^ll'^ ^ ^ 1 kurze Teil des unzertrennlichen Motive Psalms lenkt

'plötzlich ins Dramatische hinüber. Mit Bitterkeit und parodierender Ironie führt der Sänger die Szene vor, in welcher die Babylonier die heiligen Lieder Zions als Unter- haltung zu hören begehren. Grimm und tiefste Trauer löst er dann in einen Ausbruch von Sehnsucht und Liebe auf, in den gewaltigen Ruf: »Jerusalem«. Dieses Wort in diesem Augenblick reißt die Genossen mit fort: Der Chor stimmt heißen Herzens mit ein in das Wort »Jerusalem«. Ein begeistertes und inniges Gedenken an die Stadt der Väter, in welches Solo und Chor sich teilen, füllt den dritten Teil der Komposition.

Der i 3. Psalm »Herr, wie lange willst du meiner ver- gessen«, für Tenorsolo,^ Chor und Orchester geschrieben, geht über die einfache Anlage der beiden geschilderten Psalmen weit hinaus und ist Liszts äußerlich und inner- lich größter Beitrag zur Gattung. Er bringt hier seine Anschauungen über moderne Kirchenmusik ebenso klar wie in der Graner Messe zum Ausdruck und macht von dem Recht, Text und Situation in unmittelbarer, in drama- tischer Lebendigkeit aufzufassen und wiederzugeben einen so entschiedenen Gebrauch, wie es im Psalm seit Schütz kaum einer getan hat. Während die anderen Psalmen des Komponisten im Aufbau sich dem Lisztschen Liede näher anschUeßen, ist der des 4 3. Psalms mit den sym- phonischen Dichtungen des Tonsetzers verwandt. Die Variationenform beherrscht ihn, das Thema der Fragte: »Herr, wie lange usw.«? ist ihr Grundstock. Den pathe- tischen, leidenschaftlichen und feurigen Bildern, die aus ihm entwickelt sind, hat Liszt in der lieblichen Musik zu der Bitte: »Schaue doch usw.« einen sehr scharfen Gegen-

satz gegeben. Als Ganzes mächtig einheitlich ist auch dieser Psalm an Einzelstellen von genialer Eingebung reich ; unter den geschlossenen Partien ragt durch Geist und vollendete Form das Andante con moto «/g hervor. Liszt ist mit seiner Behandlung der Psalmen ohne eigentliche Nachfolge geblieben. Es sei denn, daß spä- tere Tonsetzer von diesen Arbeiten deklamatorische und koloristische Anregungen entnommen haben. So scheint durch ihn die Aufmerksamkeit auf die Harfe gelenkt worden zu sein. Sehr wirksam hat dieses geschichtliche Psalmeninstrument Müller-Hartung in seiner kräftigen Müllei-Hartnng, und wirksamen Komposition des 90. Psalms verwendet. 90. Psalm. In den wesentlichen stilistischen Punkten stehen die hervortretenden neueren Psalmenkomponisten: E. Grell, E. Grell, E. F. Richter, R. Franz (Lobet den Herrn alle Heiden, £. F, Bichter, für zwei Chöre), W. Rust, W. Stade, G. Rebling, S. B.Prana, Jadassohn auf der Seite Mendelssohns. Auch H.Götz W. Bast, (4 37. Psalm) und W. Bargiel sind dieser Gruppe beizu- W. Stade, ^ zählen. Selbständig erscheint Moritz Hauptmann. Der G. Bebllng, Ton seiner begleiteten und unbegleiteten Psalmen klingt 8. Jadassohn, häufig sehr traulich an das 4 8. Jahrhundert und an H. Gdtx, G.Naumann an, wo er sich vom weichen Grunde auf- W. Bargiel, schwingt, hält er die Grenzen der kirchlichen Observanz U. Hauptmann, und der natürlichen Vokalität inne. Joachim Raff ist J. Baff, mit einer sehr umfangreichen, für achtstimmigen Chor und De profundis. großes Orchester bestimmten Bearbeitung des »De pro- fundisc unter den neueren Psalmsängern erschienen. Ihre wirksamste Partie hat sie in der Sopranarie mit Frauenchor »Quia apud te«, die an bedeutenden Dekla- mationsstellen reich ist. Zwei schlichte, aber be- merkenswerte Arbeiten auf dem Psalmenfelde besitzen wir dann von J. Brahms. Sein 43. Psalm ist nach J, Brakmsi Schubertschem Muster für äquale Stimmen geschrieben: 13. Psalm, für dreistimmigen Frauen chor mit Begleitung der Orgel. Die Anlage ist die der alten italienischen Kantate: eine Folge von knapp gehaltenen Sätzen, die sich ohne Unter- brechung anein anderschließen. Der Ausdruck ist einfach aber reich, namentlich durch ungesuchte Energie aus-

442

E. Mneoke.

A. Brnokner,

F. Wüllnw,-

Fl Draeseke,

H. Bchalts-Beatheni

H. T. Hersogenberg,

C. Plntti,

Ol Taabmann.

Ml Grabert.

Pater Hartmann.

Ed. Orieg.

gezeichnet Die Komposition (op. 27) gehört zu der Reihe von Vorarbeiten auf geistlichem Gebiete, durch welche Brahms ^u dem Schöpfer des »Deutschen Requiems« heran- reifte. Einzelne Partien des Psalms erinnern formell und geistig direkt an den vierten Satz jenes großen Werkes. Wenn wir der Komposition im Konzert so selten begegnen, so liegt ein Grund dafür mit in der anstrengenden Führung der oberen Sopranstimme. In größeren Verhältnissen mit mehrfacher Benutzung der Fugenform hat Brahms den 54. Psalm »Schaffe in mir Gott« (für gemischten Chor a capella) angelegt. Im Mittelpunkt der Komposition steht der leidenschaftüch düstere Satz: »Verwirf mich nicht c.

In seinen späten Jahren hat sich auch noch Karl Rei- necke mit einer Motette über »Unser Leben währet sieben, zig Jahr« unter die Psalmenkomponisten begeben. Weiter sind von bekannten Komponisten noch mit Psalmen auf- getreten: A. Brückner, F. Wüllner, F. Draeseke, H. Schultz -Beuthen (Hauptwerk: der 29. Psalm für drei Chöre), H. v. Herzogenberg, C. Piutti und als Neuüng 0. Taubmann mit einer Kantate für Solo, Chor und Orchester über den i 3. Psalm, die Streben nadi Aus- druck mit kühnem und gediegenem Kontrapunkt verbindet.

Eine spätere Psalmenmotette (»Das ist ein köstlich Ding«) desselben Komponisten zeigt ebenfalls eine starke Begabung für Satztechnik, aber nur wenig musikalische Innerlichkeit. Nach letzterer Seite gehören dagegen die drei Psalmen von Martin Grab er t (op. 30) zu den besten Leistungen, der neuesten Zeit. Ihre einfach wirksame Anlage wird sehr geschickt durch kleine, zum Teil rezita- tivische Solosätze belebt, aus Erfindung und Arbeit spricht überall schlicht und gehaltvoll der Geist eines berufenen KünsÜers. Auch das Miserere des bekannten italienischen Oratorienkomponisten Pater Hartmann darf hier er- wähnt werden. Aus seinem immer geschmackvollen und wohlklingenden sechsstimmigen Satz ragen mehrere ganz modern gehaltene Stellen dramatischen und realistischen Charakters hervor. Das Gebiet des Psalmliedes hat in dem op. 74 von Edvard Grieg einen sehr eigenen Zu-

--♦ 443 ♦—

wachs erhalten. Die vier für gemischten Chor (a capella) und Baritonsolo geschriebene Psahn'en dieses Heftes lehnen sich an ältere norwegische Jürchenmelodien an und fuhren damit in einen Kulturkreis, dem die Unter- scheidung von geistlicher und weltlicher Musik noch viel fremder ist als den sogenannten Dissenters des heutigen Englands. An und für sich sind diese liedsätze, denen die Harmonien und Kontrapunkte Griegs teils charakter- volle, teils nur wunderliche Lichter aufsetzen, ganz reizend, aber, für D^tschland wenigstens, ist eine kirchUche Ver- wendung ausgeschlossen. Bei einzelnen macht diese schon der Text unmöglich. In der zweiten Nummer z. B. (Mein Jesus macht mich frei), einem behaglichen TanzUed, singt erst der Solobariton und dann der Chor ihm nach: »Der Sünde Glückspiel lockt nicht mehr, ich pfeife drauf«. Diese sehr naive FsalmenbehancQung ist das reinste Gegenstück zu dem von Goethe erzählten Erlebnis mit Schweizer Bauern. Die sangen ihm bekanntlich im Wirts- haus, um heimische Lieder gebeten, Stücke aus dem Goudimelschen Psalter vor. In beiden Fällen handelt es sich um die Verwechslung von Kirche und Schänke, bei Grieg liegt möglicherweise auch der Einfluß Fritz von THides und anderer demokratisch gerichteter ReUgionsmaler vor.

Verhältnismäßig am fleißigsten ist in der letzten Zeit die Psalmenkantate bedacht worden, ohne daß aber der Ertrag sich mit dem der Mendelssohnschen Zeit und ihres Gefolges an Quantität und Qualität messen kann. Zu den beachtenswerten Beiträgen gehört hier der Fest- psalm (op. 72) Von E. Ed. Taub er t. Seine Mitte schildert E. Ed. Tanbert, im Orchester die Meeresgewalt, nach ihr hebt sich der Schluß auf die Worte »Aber der Herr ist noch größer« zu erhabener Wirkung.

Die erste Stelle unter diesen Kantaten nimmt der 4 00. Psalm für Chor, Orchester und Orgel von Max M. Beger. Reger (op. 400) ein. Seine Musik zerlegt den Text in zwei Hauptteile, von denen der zweite, der umfangreichere, auf wesentliche Motive des ersten zurückgreift, so daß die Einheit des Ganzen nach innen und außen deutlich gewahrt

bleibt. Der erste Teil entwickelt sich um die beiden Weisungen: jauchzet dem Herrn und dienet dem Herrn. Jene wird wesentlich von einem erregten, leicht an den ersten Satz des Bachschen Magnificats erinnernden Sech- zehntelmotiv, diese von einer ruhigen Melodie getragen, deren Eigentümlichkeit anf der Einmischung beklommener Gefühlsregungen beruht. In der Entwicklung des Satzes herrscht sehr entschieden der jauchzende, zuweilen bis zur Verwirrung begeisterte Ton vor, er führt zu einzelnen Modulationen, die in ihrer kräftigen Kühnheit die Empfin- dung förmlich aufpeitschen. Doch wahrt der ganze Teil den Charakter des Anlaufs und der Vorbereitung. Die eigentliche Seele der Komposition enthüllt sich erst im zweiten Teile, und ihre größte Schönheit Hegt in dessen erster Hälfte. Da birgt sich gleich in den wenigen Takten, mit denen das Orchester das erste Andante sostenuto einleitet, ein tiefer Sinn ; ihre haltlosen, suchenden Akkorde schicken den Worten des Chores >Erkennet, daß der Herr Gott ist« das Bild der fehlenden Erkenntnis in einem ähnlichen Gedankengang voraus, wie ihn ausführhcher Händel in der Ouvertüre zum »Messias«, Haydn in der Einleitung zur »Schöpfung« eingeschlagen hahen. Diesem ersten Tempo folgt in dem Allegretto con grazia über die Worte: »Gehet zu seinen Toren ein« das poetische Haupt- stück des ganzen Psalms, ein freundhch, Mediich, mensch- lich anheimelnder Satz, in dem neben dem eigenen, selb- ständige Wege gehenden Harmoniker, der Reger immer in erster Linie ist, auch ein Melodiker zu Wort kommt, der dem Text und dazu den Sängern und Hörern in einfacher, natürlicher Weise gerecht wird. Ein kurzes, aus dem ersten Teil bekanntes Orchesterzwischenspiel (Andante sostenuto) leitet von dieser Insel der Seligen über zu dem groß und prunkvoll gedachten Schlußabschnitt der Kom- position, dem Allegro maestoso über die Worte »Denn der Herr ist freundhch«. Es vollzieht mit Benutzung von Motiven des ersten Teils die eigentUche des Jubels volle Anbetungsszene in Gestalt einer Doppelfuge, die in der breiten Anlage und in der Menge der Durchführungen

445 »—

merkbar über die gebräuchlichen Maße hinausstrebt. Die an innerer Musik reichsten Stellen bringt sie da, wo zu- erst die Worte > Seine Gnade währet ewig* kommen. Den Einfall, in diesen Schluß den Choral »Ein' feste Bürge hineinzuziehen, kann man gelten lassen, die materielle und eilige. Art aber, mit der er im unisono und ff von Trompeten, Posaunen und Orgel abgetan wird, ist geeig- net zu verstimmen.

Uhter den Kirchenstücken auf biblischen Text, welche von den älteren Tonsetzern ständig komponiert wurden, sind noch die Litaneien und die Lamentationen zu nennen. Die Litaneien sind Bittgesänge, welche mit den Anfangsworten der Messe, dem »Kyrie eleison« beginnen und mit ihren Schlußworten »Agnus dei, mi- serere nobis« enden. Der dazwischen liegende Text wechselt nach den Veranlassungen, für welche die Lita- nei angestimmt wird. Nimmt die Litanei die Stelle des allgemeinen Kirchengebets ein, so kehrt das volkstümliche »Kyrie eleison« in vielfachen Wiederholungen und Varia- tionen wieder, in den sogenannten Lauretanischen Litaneien (Marienbitten) oder bei Wallfahrten und Pro- zessionen ruft man der Mutter. Maria und andern Heiligen zahlreiche »Ora pro nobis« zu. Musikalisch sind die Lita- neien in der Regel Wechselgesänge im einfachen und knap- pen Stil meist bloß akzentmärßig gehalten und auf Vorbeter (Solist oder Chor) und Volk (Chor) verteilt. Jener beginnt die Sätze, spricht die Anreden und nennt die Gegenstände der Bitte, dieses schließt sie mit Wunschformeln, die unter Umständen zehn- und zwanzigmal wiederkehren. Die Lamentationen haben Klagelieder des Jeremias zum Text und gehören im katholischen Kultus zu dem musi- kalischen Bestand der Karwoche. Mit den Passionen teilen sie außer dieser Bestimmung auch manche formelle Eigenschaften. Auch bei den Lamentationen ist die Ober- schrift als feierlicher Introitus mitkomponiert. Noch be- fremdlicher sind die bei einigen Tonsetzern gebräuchlichen Zwischensätze zwischen den einzelnen Versen. Ihren Text

^ 446 ♦—

bilden Buchstaben des hebräischen Alphabets. Aleph nach dem ersten, Beth nach dem zweiten, Ghimel nach dem dritten Vers usw. Musikalisch sind diese Zwischensätze in der Regel die Kemstellen der Komposition, von den Ton- setzern in konzentriertester Stimmung und mit der größten Anspannung der künstlerischen Kraft entworfei^ eine Art Surrogat ausdrucksvollster Instrumentalmusik.

Ihr Text macht die Litaneien wie die Lamentationen för das Konzert wenig geeignet. Es erscheinen hier deshalb auch nur ganz wenige von ihnen. Die heute be- kanntesten Klagegesänge sind die Improperien Palestrinas G. Allegrl und die Lamentationen von G. Allegri (mit Schluß von (Biordi), Biordi), seltener kommen die von M. Nanini und Fr. Lamentationen. Durante vor. Mit Begleitung sind die Lamentationen M. Nanini, überhaupt wenig komponiert worden. Dagegen wurden Pr. Dnrante, dje Litaneien auch in der Zeit und in dem Stile der Kan- Lamentationen täte noch häufig in Musik gesetzt. Das Konzert bringt zu- und Litanei, weilen von letzterer Art die von Fr. Durante und von W. A. Mosart, W. A. Mozart, macht dagegen von der Litanei in älterer Litanei. Fassung keinen Gebrauch. Mit Unrecht. Denn gerade sie mischt musikalische Eintönigkeit und Beharrlichkeit mit dramatischer Frische des Vortrags in einer so eigenen Weise und zu einem so mächtigen Gesamteindruck, daß diese älteren Litaneien als bedeutende Paradigmen einer ebenso objektiven, wie imposanten Musik wirken. Am sichersten wird man die Probe hierauf mit den Marien- J. de Kaoqn^, litaneien von J. deMacqu^ und von J. deFossa machen. J, de Fossa. In letzterer spricht der Vorbeter alles zweimal, erst grego- rianisch, dann figuraliter. Von weiteren neugedruckten B, V. Helle, niederländischen Litaneien verdienen die von R. v. Melle, F. Anerio, von italienischen die siebenstimmige F. Anerios*), von H. Scliütz. deutschen die sechsstimmige von H. Schütz besondere Beachtung.

*) Yeiöffentlicht in Haberls Kiichenmasikalischem Jahrbaeh.

Viertes Kapitel. Motetten und Kantaten.

Neben der Ordnung und Benennung nach Text und liturgischer Verwendung ist bei den zur Hymaenfsmilie gehörigen, bei den erzählenden und bei den frei gedich- teten Kirchengesängea von jeher noch eine zweite Art der Klassifizierung einhergegangen, nämlich nach den musikalischen Formen. Ton ihnen darf das Lied seiner Natur nach hier überschlagen werden, dagegen vemot- wendigt es sich von den unter dem Titel Motette und Kantate in Umlauf gekommenen Kompositionen die- jenigen zu erwähnen, welche fUr die Geschichte oder für das heutige Konzert wichtig sind.

Die Abgrenzung des Motettenbegriffs hat textlich wie musikalisch ihre Schwierigkeiten. Dort nmfaSt er nicht bloß alle neben dem Ordinarium der Messe vorkommen- den Arten kirchlicher Gesangteste, sondern er greift, wie zablteiche aus dem 1 S. und 1 6. Jahrhundert erhaltene Sängergebete und didaktische Texte beweisen, über das eigentlich kirchliche Gebiet hinaus. Die Musik der Mo- tette hiiwiedenim hat lange Zeit gebraucht um eine bestimmte Hauptform durchzusetzen, und auch dann hat diese niemals unbedingt gegolten*].

Das 44. Jahrhundert versteht unter Motetten zwei- tritt: Oeschlcbte dei Motette,

—^ 448 ♦—

und dreistimmige Kirchengesänge, die einer gregoriani- schen, langsam einen kurzen Spruch (mot) vortragenden Unterstimme (Tenor) ein oder zwei frei erfundene rhyth- misch bewegtere Oberstimmen hinzufügen. Nach dem Vorbid der Tropen und Sequenzen erhielten diese freien Stimmen eigene Texte und das gleichzeitige Absingen verschiedener Texte war eine Zeitlang das wesentliche Merkmal der Motette*). Wie die in neueren Publika- tionen, besonders zahlreich von Wolf (a. a. 0.) mitgeteilten Proben zeigen, unterscheidet sich die Textmengung in der Motette von der späteren im Quodlibet und in der Oper dadurch, dai3 die Nebentexte mit dem Haupttext gleichen Sinnes sind, ihn weder kontrastieren noch paro- dieren. Ein »Salve Regina« von Nik. Gombert, das mit folgendem Textquartett anfängt:

Superius: Salve Riegina misericordiae

Altus: Ave Regina coelorum

Tenor: Inviolata, integra et casta es Maria

Bassus: Alma Redemptoris mater mag das veranschaulichen. Es gehört in seiner Zeit unter die seltenen Ausnahmen. Denn schon das 45. Jahr- hundert gibt die Mengung verschiedener Texte in der Motette grundsätzlich wieder auf. Dagegen hält es an der deutlichen rhythmischen Unterscheidung zwischen den frei erfundenen Stimmen und der dem Choral entlehnten Grundstimme fest. Zahlreiche Motettensätze von Binchois, Brasart, Dunstable, auch noch von Dufay **) zeigen, daß den Komponisten die Oberstimme die Hauptsache ist. Sie ist nicht bloß äußerlich, sondern auch innerlich feich bewegt; während die untere und mit ihr die mittiere Stimme still halten, spricht sie sich schön und ausdrucks- voll melodisch aus. Man kann geradezu in den drei^ stimmigen Motetten des 45. Jahrhunderts eine Antizipa- tion der späteren Monodie erblicken, bei der der Vorläufer

*) W. Meyei: Dei Ursprang der Motette (Nachrichten von der K. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, 1898). •*) Denkmäler der Tonkunst In Österreich, VII.

r-

-— 449 ♦—

dadurch im Vorteil ist, daß er statt auf Reflexion auf Tradi- tion, auf dem Segen der Choralepoche fußt. Eine Änderung erfährt dieser Motettenstil mit der Einbürgerung einer vierten Stimme. Sie führt zu einer Teilung des Chorkörpers und seiner Arbeit in ewei Gruppen. Die beiden Oberstimmen und die beiden ünterstimmen paaren sich, hohe und tiefe 2weistimmige Sätze lösen einander ab; die entscheidende Wendung besteht darin, daß innerhalb der einzelnen Grup- pen die beiden Stimmen einander die Melodien vor- und nachsingen. Damit ist das Prinzip der Ebenbürtigkeit auf- gestellt, wenn es auch zunächst nicht vollständig durchge- führt wird. Denn so oft beide Gruppen zusammentreten, fällt der unteren die musikalisch bescheidene Rolle zu: sie markiert mit langen Tönen die Harmonie und dient der oberen nur als Hafen und Stütze. Die vollständige und wirk- liche Ebenbürtigkeit der vier Stimmen findet sich zuerst in Motetten durchgeführt, die wie das »Salve reginac Dufays oder die Hymne >Omnium bonorum plena« von Loyset Comp^rean das Ende des i 5 . Jahrhunderts fallen. Es sind Kompositionen, die aus einer sehr großen Anzahl einzelner, an sich.fesselnder Sätze bestehen. Der Abschluß der Motet- tenentwicklung erfolgt dann im Laufe des 4 6. Jahrhunderts in der Weise, daß die Texte kürzer gehalten, aber die ein- zelnen selbständigen Abschnitte des Textes thematisch em- gehend behandelt werden. Die der früheren Zeit ganz fremde Wiederholung derselben Worte drei- bis sechsmal in einer Stimme wird ein Merkmal des Motettenstils und ist es bis heute geblieben. Auf Polyphonie und Textwiederholung wollen die Verleger des 1 6. Jahrhunderts hinweisen, wenn sie >cantiones sacrae quas vulgo motetas vocant« anzeigen. Die hier skizzierte Entwicklung des Motettenstils stimmt im allgemeinen mit der des Messenstils überein. Doch hat die Motette vor der Messe einen großen Schatz von kürzeren, einfacheren, die Kunst der Stimmführung dem seelischen . Gehalt unterordnenden Sätzen voraus. Aus Dufays Feder 0. Dnfk/i gehören in diese Gruppe die Hymnen: Ad coenam agni, Christe redemptor, Conditor alme siderum, Hostis Herodis, Iste confessor, 0 lux beata, Fange lingua, Sanctorum meritis.

üt queant laxis, Veni creator, Vexilla regis prodeunt*). In einer Zeit, die noch der Herrschaft der Fauxbourdons und anderer Simultanharmonien nahe steht, können sie nicht überraschen. Daß sie sich aber auch während der Blüte niederländischer Kontrapunktik behauptet haben, zeigt Obrecbt. Ob rechts ins Repertoire des Amsterdamer »Klein Koor« aufgenommenes Ave Regina, das belegt des weiteren nament- lich Maldeghem mit zahlreichen köstlichen Proben. Der Beachtung der Chordirigenten empfehlen sich daraus an J. de Berohem, erster Stelle: J. de Berchems Jesu Christe, miserere, C. Verdonok, C. Verdoncks: Ave gratia plena, J. Arcadelts: Ave Maria, J. Aroadelt, Ad. Willaerts: 0 gemma clarissima, C. Goudimels: A Ad. Wlllaerti la voiz de Tinnocente, Ciprian de Rores: Agimus tibi C. Gondlmel, gratias, Th. Cr^quillons: Ave virgo gloriosa. Ein Haupt- C. de Eore, Vertreter dieser einfachen Motette ist R. v. Melle, ins- Th, Cr^nillon, besondere verdienen seijie drei Hymnen: 0 Jesu Christe, B. ▼. Helle. 0 Domine Jesu Christe, te supplices exoramus, und das besonders schöne schwermütige Ave sanctissima, einen festen Platz im geistlichen Konzert. Mit VorÜebe wendet sich die Motette diesem kunstloseren, homophonen Stil bei Marienhymnen und beim Pater noster zu. Die Chorsätze des »Vater Unser« beschränken sich häufig darauf, dieselbe gregorianische Melodie, die Luther in seine deutsche Messe aufgenommen hat, mit einer vierstimmigen Harmonie ausr zustaffieren. Ihre eigene natürliche Schönheit kann durch selbständige Zutaten eher verlieren als gewinnen. Muster- b^spiele solcher Niederländischer Kompositionen des »Pater M. Le Maietre, noster« sind die von M. Le Maistre und vonN. Gombert. Ni Gombert. Das von Le Maistre in Deutschland geschriebene paßt für jede Dorfkirche, Gombert hat an die Kathedralen seiner Hei- mat gedacht und trägt bei aller Schlichtheit einer höheren kirchUchen Kunst dadurch Rechnung, daß von den fünf Stimmen seines Satzes, wenn auch nicht gleichmäßig, jede ihren Teil am Thema hat. Eine ebenfalls kurz und einfach gehaltene, aber sehr eigentümUche Komposition des Gebets des Herrn Oratio dominica ist die übliche liturgische

*) Denkmäler der Tonkunst in Österreich. VU.

Bezeichnung ist die von A. Willaert. Ihr finsterer, banger, harter und unruhiger Ton weist auf Krieg, Krank- heit, auf inneren oder äußeren Unfrieden und schlimme Zeit hin.

Die liedartige Motettenrichtung gewinnt in der nieder- ländischen Schule immer mehr Terrain, je näher das Ende des 46. Jahrhunderts heranrückt und je stärker der Einfluß von Madrigal- und weltlicher Tonkunst wird. Schon bald im 47. Jahrhundert stellen sich dann neben die Muster- stücke die Auswüchse. Jene vertritt am deutlichsten (bei Maldeghem) das Brüggesche Weihnachtslied: Beata imma- culata von 4630, diese die aus der Kommunalbibliothek von Gambrai stammende Motette: 0 dulcis amica. Sie hat ein Präludium von Brummstimmen (Bourdons) und weist damit auf besondere Neigungen altniederländischer Volksmusik hin, die im 4 9. Jahrhundert eine Zeitlang inter- national wurden und heute noch dem französisch-belgischen Männergesang eigen sind. Um die Zeit dieses Cambrai- schen Satzes war jedoch die Herrschaft der niederländischen Schule längst Vorbei. Sie hat die homophone Motette doch nur als eine Nebenform behandelt, die mit dem Steigen und Fallen des volkstümlichen Musikbarometers vortritt oder zurücktritt, deren Stellung andererseits aber auch von der Meisterschaft im Satz abhängt, über welche Individuen und Perioden verfügen. Man braucht nur an Mozarts »Ave verum« zu denken, um sich von dem Lebens- recht der Gattung zu überzeugen, man wird indessen auch im Hinblick auf die zahlreichen trivialen Leistungen, die sie vom 47. Jahrhundert bis auf die Gegenwart gezeitigt hat, es den Niederländern danken müssen, daß sie den eigentlichen Motettenstil in der Polyphonie suchten und in der großen Motette wenigstens durchweg festhielten.

Als Begründer dieses großen niederländischen Motetten - Stils muß Ockeghem angesehen werden. Leider aber Ockeghem. ist die Aussicht, ihn als solchen auch praktisch wieder zu Ehren zu bringen gering, da er, als ein leistungsfähigerer Notendruck aufkam, schon überholt war, sein handschrift- licher Nachlaß aber an den Hauptstellen, in Rom und

89*

Tours, den Kriegs- und Revolutionszeiten zum Opfer ge- fallen ist. Ambros, der den Spuren dieses Meisters zuletzt und mit allem Eifer nachgegangen ist,, hat nur ein Motetten- manuskript in der Riccardiana in Florenz, eine breit an- gelegte und durch milden Ton eigene Komposition der Hymne Alma Redemptoris gefunden ; in den Petruccischen Drucken schreibt er ihm mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit, aber doch nur vermutungsweise, die Stücke üt hermita solus und Miles mirae probitatis zu. Von der bei Ornito- parchus und Glarean erwähnten 3 6 stimmigen Motette Ockeghems ist nicht einmal der Textanfang bekannt*). ObraeH Besser steht es um Obre cht, von dessen Motetten-

kunst noch Material genug vorhanden ist. Die begonnene Gesamtausgabe seiner Werke hat davon in der Passion nach dem Evangelisten Matthäus bereits eine ausführ- liche, aber keineswegs als Norm anzusehende Probe vor- gelegt. Auch Obrecht war durch den Umfang des Textes und seine Mischung berichtender und betrachtender Ele- mente in der freien Entwicklung des Stils gehindert. Seine Meisterqiotette ist die fünf stimmige > Salve crux arbor vitae«, eins der frühesten Beispiele jener durch eine An- sprache oder kurze Predigt in zwei Teile geschiedene Motetten, die für Hören und andere Nebengottesdienste bald allgemein und regelmäßig als musikalisches Haupt- stück in Gebrauch kamen. Sie ist ebenso reich an Kunst wie an Effekt. Den wohlberechneten Totaleindruck der Komposition, der einer über Rast und Pause durch- geführten Bergfahrt gleicht, beleben bunte, bald im losen, bald im dichten Stimmengewebe gehaltene Details. Nahe steht ihr eine andere fünfstimmige, von G. Rhau heraus- gegebene Motette >Haec Deum coeli Dominum«. Was Obrecht seinerzeit als Motettenmeister galt, zeigt sich am

*) Eitner und Brenet yermuten, H. Riemann (Handbach der Musikgeschichte II \ S. 236) nimmt als sicher an, daß diese Motette in der Schlußnummer des dritten Bandes der Psalmen - Sammlung des Petrejus (154^2), einem kanonischen Kunststück über die Worte: >Deo gratias« doch erhalten ist

453 ♦—

deutlichsten in der Tatsache, daß ihn die Drucke Petmccis vor allen Vertretern der älteren niederländischen Schule bevorzugen. Auch seine Motetten vermögen das heute immer noch verbreitete Axiom von der kurzen Lebens- kraft guter Musik kräftig zu widerlegen. - Doch aber hat er in seiner Zeit, ähnlich wie Ockeghem, verhältnismäßig bald anderen Größen Platz machen müssen.

Sein nächster Nachfolger ist allerdings ein Motetten- komponist, der zuweilen das Höchste geleistet hat, was die Gattung überhaupt erlaubt: Josquin de Pros, j, Pr^t Noch mehr als für die Messe ist er mit seinem Tempe- rament, seinem Blick für die einzelnen Bilder und Be- griffe im Text für die Motette wichtig geworden, er hat ihren AusdrucJusbedarf entschieden gesteigert Seit Roch- litz sind deshalb Josquins Motetten in den Neudrucken immer wieder, verhältnismäßig am meisten von Commer, aber' doch noch nicht genügend und nicht durchweg mit glücklicher Auswahl berücksichtigt worden. So gehört die von Maldeghem gebrachte neunstimmige Motette: Cum sancto spiritu und auch die Antiphone: Missus est Gabriel Angelus, obwohl sie Ambros lobt, zu den unbedeutenderen, fast nur stilistisch interessierenden Stücken. Viel höher stehen die in Holland heute wieder bekannten Motetten: Tu pauperum refugium und 0 virgo genetrix. Die Perle Josquinscher Neudrucke ist das (ebenfalls von Maldeghem mitgeteilte) vierstimmige Ave Maria, einer von vielen Sätzen, die Josquin über diesen Text geschrieben hat, aber unter ihnen derjenige, in dem seine ganze Meister- schaft zusammengedrängt ist, der mit seiner himmlischen Anmut und Unschuld zum Lieben zwingt. Die Text- abschnitte Ave Maria und gratia plena tragen die vier Stimmen zunächst einzeln und in so schönen, kindlich rührenden und doch auch hoheitlichen Melodien vor, daß niemand die Ableitung von Gregorianischer Quelle ahnt Vom Domine tecum ab ziehen sie paarweise, auch zu dreien streng kanonisch hin, aber nichts kann natürlicher und einfacher klingen als diese Kanons. Bei den Worten Maria plena gratia coelestia, terrestria,

-^ 454 ^

mundum replens laetitia sammelt sich der ganze Chor zum erstenmal in einen schlichten ruhigen, homophonen Satz. Noch dreimal: hei verum Solem usw.^ heim Ave Vera virginitas und bei den Schlußworten: 0 mater Dei, memento mei, Amen! kommen solche kunstlos harmoni- sierte Episoden, und allemal sind sie. die Höhepunkte der Empfindung. Elementar bricht an diesen Stellen die Herzenswärme, mit der Josquin betet« durch, gerade- zu fortreißend bei >Ave vera virginitasc, wo ungerader Rhythmus eintritt, die Verehrung sich zur Begeisterung steigert Aber auch die zu diesen Episoden hinführen- den, streng stilisierten Hauptsätze sprechen so fesselnd und eindringlich, daß jede Analyse dieser Komposition zur Schwärmerei werden muß. Wenn irgendwo, so kanil man bei ihm von einem musikalischen Raphael reden und nur diel von der Musik nicht wegzudisputie- renden Ansprüche an Spezialbildung hindern es, daß sie so weltbekannt ist wie die Sixtinische Madonna. Daran, daß die Chorvereine ein solches Juwel liegen lassen, sind die antiquierten Notenformen Schuld, an denen unsere Neudrucke festhalten. Nicht jeder Diri- gent weiß, daß die langen Vierviertelnoten nur kurz ge- meint sind.

Unter den Schülern Josquins tritt J. Mouton als ; Motettenkomponist dadurch individuell hervor,' daß er

den Stimmführungskünsten einen ''einfachen ausdruckst' vollen Satz vorzieht. Petrucci hat ihn in seiner, wich- tigsten Motettensammlung (de Corona) mit einundzwanzig Nummern bedacht Besonders bedeutend sind seine Oster- ' motetten. Leider fehlt er in den Neudrucken. Dagegen

P. da la Bne. liegen von Pierre de la Rue , dem am meisten bewunder- ten Zeitgenossen Josquins, über ein Dutzend Motetten in Partitur (bei Maldeghem) vor, also mehr als Ambros über^ haupt erhalten glaubte und genug um von seinem Charak- ter Und meiner Schule ein Bild zu gewinnen. Seine Motetten- kunst fesselt besonders durch die große Menge wie beglei- teter Sologesang wirkender Stellen, die an die Dufaysche Zeit erinnern, aber sie ist auch von Josquin beeinflußt und

hat von ihm das Interesse für den lebendigen Ausdruck . von Einzelheiten übernommen. Jedoch äußert sichs bei ihm anders, mehr verstandesmäßig. Die Überlegung führt ihn, wie in der vierstimmigen Motette: Gaude, virgo mater zum Festhalten von Nebenmotiven, mit ihr trotzt er trocknen Texten pqetische Wässerchen ab. Die beiden vierstimmigen Motetten: Fama malum und Sancta Maria succurre miseris bringen dafür' die Hauptbeispiele. Dort gibt er von der Fama, von der anschwellenden Velocitas Gespensterbilder, die in einer Mustersaminlung nicht fehlen dürften, hier zeichnet er an der Stelle in- tercede pro femin eo sexu auf femineo die Hilfsbedürftig- keit des weiblichen Geschlechts mit einem die ganze Oktave herablaufenden über sechs Takte ausgebreiteten Gang als grenzenlos! In der dreistimmigen Trauer- motette Cum coelum mutatur spielt er bei terra move- bat durch Takte lang hin- und herrückende, in Sequen- . zen weiter geschobene Sekunden und durch Variationen dieses Motivs bis zum Bänglichen auf das Erdbeben an. Das ist de la Rues Art in der Motette Josquin zu variieren. Daß ihm dessen leichte Fantasie abgeht, zeigt sich hie und da an dem Nebeneinander von melo- disch blühenden und trocknen, mechanischen Stellen. Aber er weiß letztere günstig zu beleuchten, bringt sie als unbegleitete Solostimmen zu frappanten Gehörwir- kungen oder fesselt durch motivische Verschlingungen des vollen Satzes. Wie er die Technik beherrscht, zeigt am imposantesten die sechsstimmige Motette: Ave Sanctissima Maria mit dem dreifachen Kanon, der so einfach und natürlich dahinfließt. Daß er eine eigene, herbe aber reiche Natur ist, äußert sich in seiner Nei- gung zu breiten Rhythmen, zur Würde und Gravität, in der Sicherheit mit der er für jedweden Text die dem Inhalt und der Stimmung gerechte Melodie findet. Eins der schönsten Beispiele dafür ist der Rlagegesang mit dem die Jonathanmotette: Doleo super te beginnt Um des richtigen Ausdrucks willen scheut er keine Kühnheit. Die sechsstiromige Motette: Pius dolor gibt dafür den

f^ 456 ♦—

Hauptbeleg, sie ist in ihrer lapidaren Melodik, in der ehernen Rühe der Harmonien, aus der die einzelnen Stimmen so bedeutungsvoll und feierlich herausdeklamieren, in der klaren Zäsierung und der einfachen Gewalt der Abschlüsse ein Stück, wie es nur la Rue schreiben konnte, dasjenige unter den Neudrucken, das die Stelle, die ihm in der Motette gebührt, am sichersten klar machen muß.

Eine andere Größe aus dem Josquinschen Kreise, der lange Zeit für einen Deutschen gehaltene Niederländer E. Iiaao. Heinrich Isaac, ist unlängst durch die Partiturausgabe des ersten und zweiten Teils seines Choralis Constantinus, mit der die Denkmäler der Tonkunst in Österreich eine Gesamtausgabe seiner Werke eröffnet haben*), in den Vordergrund der Vertreter alter Motettenkunst gerückt worden. Dieser Chorahs Constantinus bringt zum erstenmal den vollständigen Jahresbedarf von Introiten, Gradualien, Kommunionen und sonstigen das sonntägliche Ordinarium^ vervollständigenden Einleitungs-, Zwischen- und Schluß- sätzen im mehrstimmigen Satze. Diese im Text bei jedem Gottesdienst wechselnden Gebete und Danksagungen waren bis dahin nicht immer, aber noch häufig im einstimmigen Ghoralton gesungen worden, Isaac versuchte es, sie samt und sonders für den Gebrauch der Konstanzer Liturgie das steht seit 4 909 fest in die Formen der neuen, höheren Kunst zu kleiden und entfaltete damit eine Frucht- barkeit zunächst in der Motette, die auf das »de tempore«- System d. h. die Forderung, daß jeder Sonntag, mit Ausnahme der Hauptsätze der Messe, seine eignen Gesänge haben müsse gestützt, durch Partikularismus und Lang- samkeit von Verkehr und Handel gefördert, eine der er- staunlichsten Eigenheiten der älteren kirchlichen Kompo- sition ist. Sie läßt den Fleiß, den die Messenkomposition bezeugt, weit hinter sich. Eine gute Messe konnte im Jahre so und so oft wiederholt werden, ein gleich guter Introitus oder ein Graduale, bei den Protestanten ein geistliches Konzert, eine Kantate dagegen nicht.

*) Denkmäler der Tonkunst in Österreich, Y * und X\l K

Isaac ist mit dem kleinen innigen Lied »Innsbruck, ich muß dich lassen« (Nun ruhen alle Wälder) schon früher der populärste Niederländer gewesen. Die Volkstümlichkeit kann durch seine Motetten nicht gesteigert werden, aber wohl der Respekt vor seiner Meisterschaft. Sie äußert sich in einer großen Mannigfaltigkeit der Formhehandlung undl in dem Reichti^m persönlicher Züge im Textausdruck. Nach der ersten Seite hat Isaac kaum seinesgleichen in der Freiheit den Satzregeln und dem Tonmaterial gegenüber und in der Sicherheit und Fülle sinnlicher Wirkung. Mit dem cantus firmus wechseln die Stimmen der Isaacschen Motette ähnlich lebendig, rasch und bunt wie die Instru- mente der Haydnschen Symphonie mit dem Solospiel; bald ist er hier, bald da, nach wenigen Takten ändert er den Platz, ein Tenorvorrecht gibt es nicht. Auch von seiner Doppelnatur als bloße mechanische,' technische Satzstütze und als melodische Quelle macht Isaac einen ungewöhnlich reichen Gebrauch. Seine eigentUche Polyphonie legt mehr Wert auf Anregung als auf strenge Durchführung; die Stimmen folgen einander mit kanonischen Einslitzen, aber nach der vierten Note schon geht jede ihren eignen Weg, der Satz ist immer kunstvoll, selten künstlich, das Trachten Isaacs geht dahin, Hauptmotive einzuprägen. Vierstimmigkeit ist die Norm, liturgischer Sologesang leitet die Abschnitte ein. Hat aber Isaac die vier Stimmen einmal angesetzt, so hält er sie ziemhch kompakt zusammen und kümmert sich wenig, um das koloristische Kleinlebep. Dafür wirkt er um so sicherer mit großen Kontrasten. Seine bicinia kommen immer zur rechten Zeit und haben auch an sich viel zu sagen, und wenn er hie und da den vierstimmigen Chor episodisch zum sechsstimmigen erweitert, klingt es als träte ein Doppel- chor in Aktion. In der sechsstimmigen Motette, von der die Proben noch ausstehen, entfaltet er seine Hauptstärke.

Geistig fesseln die Motetten des GhoraHs Constantinus den modernen Hörer am stärksten durch eine Anzahl von Stellen, die jenen liebenswürdigen Realismus, jene Naivi- tät äußern, die der niederländischen Kunst überhaupt, nicht bloß der Musik, eigen sind. Jos quin ist an solchen

--^' 458 ♦—

Zügen, zwar nicht in den Motetten, aber in seinen Messen, viel reicher; hei Isaac zeigen sie den Zusammenhang mit dem Volkslehen deutlicher, sind urwüchsiger, nationaler und wirken daher außerordentlich stark. In der Musik zum Trinitatisfest kommt einer in der Mitte der Prosa zu den Worten »Nunc omnis vox et hngua fateantur«. Da werden auf einmal die Bässe mit Sequenzen eines Nebenmotivs lebendig und reißen den übrigen Chor in einen neuen, unerwarteten, nur in der Freude am Klang und Sang be- gründeten Ton hinein. Im Introitus zum ersteü Sonntag nach Trinitatis nimmt er aus dem Thema, das er für: >in die damavi et nocte« erfunden hat, die Quarte, mit der das damavi einsetzt, heraus und läßt sie die beiden Mittel- stimmen in knappster Engführung je viermal wiederholen. Ähnlich ruht im Introitus zum nächsten Sonntag bei »Do- minus firmamentum \neum« die ganze Harmonie sechs Takte lang auf dem Dmoll-Akkord. Bei einer andern Gelegenheit läßt er auf »psaJlam« ein Paukenmotiv durch die Stimmen gehen. Das ist ein Hauch vom Geist der flandrischen Malerschule , aber Isaac ist unendlich weit davon entfernt, ihm den kirchlichen Charakter seiner Motetten zu opfern. Deren Grundzug ist vielmehr ernste, gesetzte Andacht. Ihre dunkle Feierlichkeit erinnert an gotische Dome, ihr Platz ist der Gottesdienst, nicht das geistliche Konzert, für das sie zu gleichmäßig und mo- noton sind*). Ähnlich wie mit Isaac verhält es sich in dieser A. Bromeli Beziehung mit Ant.Brumel. Seine Motetten haben manche interessante Episoden, vorwiegend sind sie Kunstaxbeit. An der Satztechnik der niederländischen Motette hat der weitere Verlauf des 4 6. Jahrhunderts wenig geändert. Die Stimmen, kanonisch oder frei, in sinnvollen, an sich verständhchen und sprechenden Melodien zu führen, bleibt das oberste Gesetz, und ihm zu Liebe halten sich die eigentlichen Niederländer von der Pflege der Mehr- chörigkeit, die ja durch ihren Ockeghem und ihren Jos-

*) Einige nicht zum Ghoralis Gonstantlnos gehörige Motetten Isaacs bringt der 5. Band der Musikgeschichte von Ambros.

459 -*>—

quin die 24 stimmige Motette: Deus in adjatoriu^m zuerst versucht worden war, ziemlich fern. Sie reizt sie erst, wenn sie der Heimatluft entrückt sind. Gom- berts sechsstimmiges Ave Maria, Goudimels schönes dreichöriges "Salve Regina gehören unter die wenigen Ausnähmen. Farbenglanz gilt ihnen wenig, kunstreiche, beziehungsvöUe Zeichnung alles, und als Vertreter der natürlichen Ordnung in der Stimmenbehandlung sind und bleiben sie Muster, auf die namentlich die durch kistrumentale Einflüsse irregeleitete Gegenwart mit allem Nachdruck hingewiesen werden muß.

Anders verhält es sich mit dem seelischen Gehalt der niederländischen Motettenarbeit in der folgenden Zeit, mit der Frage ob und wieviel in ihr das Wort durch den Ton gewinnt? Da trifft man eine ganze Klasse von Motetten, bei denen außer der vollendeten Handwerksfertigkeit nicht viel übrig bleibt, das musika- lische Priestertum sich auf das äußerlich Notwendigste beschränkt. Das sind die Heiligenmotetten.* Ihr Durch- schnitt macht um die Mitte des 4 6. Jahrhunderts den Eindruck als sei die geistige und religiöse Kraft der Musiker geschwächt, wenn nicht gebrochen. Nament- lich an der physiognomielosen, auf bequemsten Sekun- dentritt beschränkten Thematik zeigt sich die Schwäche. Unter den Gründen für diese Erscheinung liegt es nahe die Texte selbst mit heranzuziehen. Sie sind oft ab- stoßend inhaltlos und bieten der Fantasie und der Stimmung fast nur Titulaturen. Doch haben einer- seits die Meister der a capella-Zeit dieses Hindernis zu häufig glücklich überwunden, als daß man ihm in diesem Falle eine Bedeutung beilegen dürfte, anderer- seits erstreckt sich die Mattigkeit des Tons auch auf gute Texte, nicht bloß solche zu Ehren von Heiligen und Märtyrern, sondern auch auf sehr viele Marien- dichtungen. Eine wirkliche Hauptursache für dieses Versagen im Ausdruck darf in der Frische gesucht wer- den, mit der sich die > konfessionelle Spaltung der Zeit geltend machte. Doch haben ersichtlich auch neue

musikalische Strömungen auf die Motettenkraft der Nie- derländer zunächst lähmend und verwirrend eingewirkt Die wichtigste geht abermals vom Lied aus, das um die Mitte des 4 6. Jahrhunderts in den Niederlanden in seine höchste Blütezeit eintritt Seine ersten SpureQ in "der großen Motette sind entstellend. An den Marsch-

Martelsere. rhythmen von Martelaeres fünf stimmigem: In nomine Jesu zeigt sich das sehr deutlich*). Später aber erfassen die Meister den wesentlichen Vorzug der Volksmusik, ihre herzhafte Melodik und übertragen sie in die große Form. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, zum Teil schon früher, bürgert sich in der mehrteiligen Motette infolgedessen eine neue Th,ematik ein, die größere Intervalle bevorzugt und sie zu eigentümlichen, die Variationslust reizenden Motiven zusammenstellt Auch Refrainformen und Schlußsteigerungen sieht die große Motette jetzt dem Liede ab. Die dramatischen Tendenzen der Zeit unterstützen dieses Streben nach Plastik und Belebung des Ausdrucks. Leibhaftig und

M, Pipelaere. im vollen Umfang treten sie in Math. Pipelaeres sie- benstimmigem Memorare, mater Christi, einem am Tage der sieben Schmerzen zu singenden, im Text das Stabat mater umschreibenden Marienhymnus vor. Nicht bloß daß die Stimmen persönlich betitelt sind (4. Sopran als primus doloro, 2. Sopran als secundus doloro usw.), sie lösen sich auch in einer ganz ungewöhnlich selb- ständigen Art, jede einzeln aus dem Ensemble los und bringen ihre Individualität dramatisch zur Geltung und selbst wenn sie alle sieben zusammensingen, so ge- schieht das in neuen rhythmischen Gruppierungen und mit ungewöhnlich rauschendem Chorklang. Andere Mo- tetten beschränken das dramatische Element auf ein-

L. de XoAte. zelne Deklamationsstellen. * Lambertus de Monte gibt im Anfang seiner fünf stimmigen Lambertusmotette: Mag- num triumphum davon eine sehr wirksame Probe. Der

*) Dieses und die folgenden Beispiele sind in der Samm- lung Maldeghems zu finden.

Name des Heiligen wixd auf Dreiklangmotiven höher und höher gerückt, die Anrufung erhält den Charakter eines pathetischen, inbrünstigen Gebets, die Zeremonie wird zur naturgetreuen, Seelennot lebenswahr und dring- lich darstellenden Szene.

Unter den Vertretern jener späteren niederländischen Motette, die den Josquinschen Maßstab wieder verträgt, sind heute J. de Berchem, Th. Cr^quillon, J. Richa- J. deBarohem, fort,' A. Pevernage, F. Säle und E. de Cauroy mit Th, Cr^uillon, einer kleineren Anzahl von Partituren bedacht. Daraus J, Biohafort, wären von Berchem die Weihnachtsmotette: Noe, Noe, A. Peyernage^ hodie Salvator natus est und die Motetten : Ecclesiam F. Säle, tuam Dens, 0 vos qui transitis und Veni sancte- Spiritus E. de Cauroy. deswegen hervorzuheben, weil sie den Komponisten als s eine gravitätische, im Reichtum und Charakter der Melo- dien in ältere Zeit zurückweisende Individualität zeigen. Mit den Künsten der Nachahmungen schaltet er sparsam, aber des Effektes sicher. Von Cr 4 quill on empfiehlt sich für das Konzert das fünfstimmige Stück aus dem Hohenlied: Nigra sum wegen des fremilartig belebten, nach dem Orient blickenden Tons. Von Richa fort ist die bedeutendste Motette die Emendemus, in melius, der schwer gedrückte Vortrag des Peccavimus, des Sünden- bekenntnisses gibt ihr ihren Wert. A. Pevernage s fünfstimmiges Benedictio et claritas gehört durch die regelmäßige Wiederkehr eines Hauptthemas zu den Mo- tetten, die an den Aufbau der Liedform anknüpfen. Von Säle verdient die fünfstimmige Antiphone Asperges me, eine im' ganzen an Isaac anklingende Komposition, wegen der geschickten Wortwiederholungen Beachtung. Bei £. deCauroy handelt es sich um eine Anzahl vor- züglicher Weihnachtsmotetten (in Experts Sammlung).

Als größter Meister dieser Niederländergruppe ist Jacobus Clemens (non Papa) durch die 42 Motetten J. Clemeni. bekannt, die Commer in Partitur veröffentlicht hat. Unter ihnen sind der Einbürgerung durchs Kon- zert das fünfstimmige Weihnachtsstück Angelus ad Pastores und die Marienbitte: 0 Maria, vernans rosa

am meisten darum wert, weil sie ein Stück Motetten- geschichte, den Übergang von den Niederländern zu Palestrina, beleuchten. Maldeghem bringt mit dem fünfstimmigen »Ave verum corpus« einen Beitrag des Clemens, der die neue Thematik der Niederländer sehr deutlich veranschaulicht. Das * Thema K a F 7 ist für die Zeit von 4 550 charakteristisch.

Daß der ganzen Schule auch das letzte, man kann sagen entscheidende Merkmal der Größe, die Menge be- deutender Individualitäten nicht fehlt, wird die weitere Editionsarbeit allmählich allgemein klar zu machen haben. Einen iätankenswerten Schritt hat für diese Aufgabe Maldeghem durch reichere Motettenveröftentlichungen J. de Gleves und J. de Kerles getan.

Ji de Kerle. Von de Kerle erwartet man nach seinen Messen

auch bedeutende Motetten. Hie und da, z. B. im zweiten und dritten Teil der fünfstimmigen Motette Egressus Jesus, hat ihn die Haltlosigkeit des Textes, in der fünfstimmigen Motette Similitudo quattuor animalium, dessen für den Motettenrahmen zu große Fantasie verhindert, diesen Erwartungen zu entsprechen. Er hilft sich in solchen Fällen mit Kunst und äußerer Beweglichkeit, läßt aber trotzdem einen Meister merken, der jedes Bild eigen und groß anzusetzen weiß. Ihn rückhaltlos zu bewun- dem, zwingt das fünfstimmige Venite ad me, omnes qui usw. durch den ungezwungenen, vollen Ausdruck des Mitleidens, noch mehr die fünfstimmige Stephansmotette Cum autem esset Stephanus durch ihren zweiten Teil, wo die Begeisterung, mit der der Märtyrer den Himmel sich öffnen sieht in einem ganz merkwürdig zarten und edlen Ton wiedergegeben ist.

Ji de Oleye. Bei J. de Cleve stehen die Motetten beträchtlich über

den Messen, weil sie sich zu einer viel freieren Kunst bekennen als diese. Auch sie sind reich an Meisterstücken der Satztechnik, namentlich an kanonischen, aber frei von der Übertreibung dieses Kunstmittels und ihr Schwer- punkt liegt im Poetischen, im Erfassen und Auslegen des Textes. Geringeren Wert haben die fünstinimigen Marien-

an tiphone: Regina coeli, die fünfstimmige Caecilienmotette Gaudeamus omnes in Domino, die fünfstimmige Johannes* motette: Inter natos mulierum. Ihnen fehlt ein aus- geprägter Charakter, der letzteü, weil der Text keinen hat, der zweiten, weil der Komponist am' Schluß im Aus- druck der Freude originell sein wollte, der ersten, weil sie unter der Tradition der thematisch matten Zeit ge- schrieben ist. Im ersten Teil nähert sich auch die vier- stimmige Motette: In nomine Jesu omne genu flectatur dieser Gruppe, im zweiten wird sie durch den Ernst der phrygischen Schlüsse bedeutend. Die anderen erbringen alle den Beweis, daß die Wortfülyrer der italienischen Musikrenaissance ungerecht waren, als sie der poly- phonen Vokalmusik die Fähigkeit der Seelenmalerei ab- sprachen, sie stellen ihrem Autor und der religiösen Kunst seiner Zeit das rühmlichste Zeugnis aus. Jede prägt einen eigenen Zug aus dem Gebiet christlicher Vorstellungen und Empfindungen, oder aus dem Gebiet menschlichen Innenlebens überhaupt, wundervoll, er- greifend und in einer de Cleve persönlich zugehörigen Weise aus. Am deutlichsten äußert sich der individuelle Stil des Komponisten in den ungewöhnlichen häufigen Wiederholungen von Worten und kleinen Textabschnitten. Sie fließen aus seinem . Hang zum Schwärmerischen. Das belegt am klarsten die Marienantiphone Alma Re- demptoris mater, bei der er auf dem Anfangswort zwölf Takte lang verweilt. Um so bedeutender tritt dann, durch die motivische Betonung gehoben, das Subjecit redemp- toris mater ein. Bei Gleve findet man Muster von Heiligen- motetten. Den heiligen Andreas hat er über den gleichen Text Doctor bonus usw. zweimal: fünfstimmig und vier- stimmig besungen und besonders in der vierstimmigen Andreasmotette gezeigt, wie ein echter Künstler eine solche Aufgabe lösen muß. Die Gestalt des Märtyrers bleibt bis nahe am Schluß der Komposition im Hinter^ grund und tritt erst bei den Worten der Kreuzbegrüßung Salve crux mächtig hervor. Bis dahin spricht ein Be- trachter seines Wesens und seiner Taten aus dem

\

—♦ 464 ♦—

späteren Jahrtausend Mitleid, Dank und Freude aus be- wegtem und ergriffenem Herzen aus. Die vierstimmige Philippsmotette Ego sum via ist ein Paradigma der neuen Motettenthematik, die schöne milde Weise mit der sie anfängt, zeichnet die Natur des Gefeierten mit wenigen Noten, ein romantischer Wechsel von Dur und Moll, der, keine Querstände scheuend, an Philipp de Monte und an die romantischen Elemente der Zeit erinnert, führt diese Absicht weiter. In der einschneidenden Betonung des >nisi< bei den Worten nemo venit ad patrem nisi per me gibt sie ein Deklamationsmuster. Die vierstimmige Passions m otette : Filiae Jerusalem nolite flere super me, ' die die Heilandsworte in einem höheren, geisterhaften Ernst wiedergibt, kann als Beispiel * dafür studiert wer- den, wie die Niederländer der zweiten Hälfte des 4 6. Jahr- hunderts die neue charaktervollere Thematik ausnutzten. Dem Sopran wird beim ersten Einsatz das entscheidende Intervall des fugierten Themas vorenthalten, und erst beim zweiten gegeb.en. Die Worte sed super vos, die J)is zu dem zweiten Sopraneinsatz aufgeschoben worden sind, erhalten durch diesen Kunstgriff eine außerordentliche Wucht. Der zweite Teil der Motette schildert die Berge versetzende Gewalt des Glaubens auf Grund eines Themas, das Schwung und Einfachheit, musterhaft verbindet. Im starken Gegensatz zu diesem Bilde steht die fiinfstimmige Motette: Tribulatio i)t angustia, ein zaghaft «beginnendes, dann wärmer und wärmer aus tiefer Not hervorströmendes Gebet. Die gute Hälfte der Aufgabe löst Cleve gewöhnlich durch die Eingangsthemen allein. Die besten findet er, wenn das trauernde bedrückte Gemüt zu sprechen hat. Obenan steht in dieser Gruppe die fünstimmige Motette : Domine Jesu Christe, weil sie das Anwachsen des Gnaden- bedürfnisses im weiteren Verlauf so anschaulich vorführt, einmal durch engste Nachahmungen in Nachbarstimmen, dann durch Ausdruckssteigerung der kleinen wesent- lichen Motive, z. B. cT c I e 3. : d c I f e. Ins gleiche Gebiet gehört auch die fünfstimmige Motette: Domine, cla- mavi et exaudisti me mit dem Anfang: | cc | dg es'ä

465 ♦—

der nicht bloß fugenmäßig, sondern anch als Refrain verwendet wird. Sogar im zweiten Teil des Stücks kehrt er wieder. Es gehören ferner hierher das als Motette ver- öffentlichte vierstimmige Miserere, die vierstimmige Fasten- motette: Acynva nos Domine und das Gregem tuam quae- sumus. Bei dem 50. Psalm macht die klare Scheidung der beiden Teile, der Druck der Gewissensangst im ersten, die Wärme der Bitte im zweiten einen tiefen Eindruck. Das A^juva ist durch den Ausdruck der Stimmen und durch den Aufbau des Stimmungsprozesses ein Hauptstück der Motettenkomposition überhaupt. Wie in Tränen flehend beginnt es, dann spricht es vertrauensvoll im Kinderton und schließt mit libera nos gehalten und ernst. Die Motette Gregem tuam ist ein Muster für den Ausdruck von D^nut. Unter Cleves Motetten freudigen Charakters prägt sich am festesten die sechsstimmige Ostermotette: Dum transisset

Sabbatum ein. Ihr Eingangsthema g . g | g e f d | c . mag zeigen, wie der Komponist in solchen Fällen vom Volkssinn und dem weltlichen Lied ausgeht.

Ein Menschenalter nach Cleve haben sich die Nieder- länder auch in der Motette der Führung begeben. Von Peter Sweelinck existiert nur eine Sammlung von P. Sweellnok. 37 Stück (Cantiones sacrae 4 64 9), aus deren Neudruck*] ein Regina Coeli und ein Hodie Christus natus est weit bekannt geworden sind. Der fanfstimmige Chor singt da vom Basso continuo (Orgel) begleitet, in einem fröhlich, etwas weltlich be- wegten Ton, der zu der zweiten, der Weihnachtsmotette, sehr gut4)aßt. Auch Sweelinck faßt Weihnachten als Kinderfest und stellt wie Berchem und andere niederländische und italie- nische Vorfahren und Zeitgenossen seine Kompositionen auf den Boden der Volkskunst Von allen Ecken her schallt der alte Weihnachtsgruß : No&, No^ ! Die refrainartige Wiederkehr und die liedartige Haltung der Botschaft : Hodie Christus natus est verstärkt die gemeinverständliche Wirkung der Motette. Kein Wunder, daß sie überall ein Lieblingsstück geworden ist.

*) Band VHI der Veröffentiichungen der »Vereenigiog usw.«, herausgegeben von Max Seiffert.

n, 4. 30

Unter den ausländischen von Niederländern gegrün- deten und geförderten Schulen gelangte in der Motette am frühesten die römische zur Bedeutung. Sie lockerte und vereinfachte die strengen Regeln des bis- herigen Ghorsatzes; dem Recht der Einzelstimmen stellt sie das der Stimmengruppen an die Seite und gelangt mit dieser Vermehrung der Ausdrucksmittel zur Aus- prägung einer eignen geistigen Natur, deren stärkste Züge Milde und Anmut sind. Die römischen Motetten gehören mit den Raphaelschen Madonnen zusammen; ein kindlich liebenswürdiges, weiches Gottesvertrauen, das die freudige Hingebung zum schwärmerischen Ent- zücken steigern kann, belebt sie, der Himmel, in den sie einführen, glänzt in ewiger, sonniger Klarheit. Der Hauptvertreter dieser römischen Motette ist von jeher G. P. da Palestrina gewesen und wird es bleiben. Doch sind auch unter seinen Vorläufern genug Komponisten, die auf praktische Beachtung zu allen Zeiten Anspruch Ol FeitA. haben. Als der erste istCostanzo Festa zu nennen, der von seinen Landsleuten dem Josquin gleichgestellt wurde und heute noch mit seinem Te deum in der Liturgie lebt Von seinen Motetten, die den niederländischen Imitationen- stil mit Falsobordonen und andern altitalienischen Satz- traditionen variieren, sind nur zwei kurze Stücke: Quam pulchra es amica (in Bumeys Geschichte d. M. 111} und: Tu solus qui facis admirabilia (in der Bockschen Sammlung) neugedruckt. Nach Stimmen drucken aus Festas Zeit zu schließen, scheinen die sechsstimmige Motette: Tribus miraculis und die fünfstimmige: Jerusalem quae occidis prophetas für seine Hauptleistungen gegolten zu haben. Zu den bedeutenderen Vorläufern Palestrinas gehören C. Morales, femer mit ihren Motetten die Spanier Gristofano Mora- Fi Guertro, les, Francesco Guerero und der ältere Joannes Perez. J. Peres. Von ihren einfach gehaltnen, mehr durch Harmonien als Stimmführungskunst wirkenden, mit einem ernsten Zug vom Römerton abweichenden Arbeiten finden sich Proben bei Proske, Eslava, reichere in* den Ausgaben PedreUs. Weiter haben in der Entwicklungszeit der

j

467

römischen Schule als Motettenkomponisten hervorragende Bedeutung die beiden Niederländer J. Ärcadelt und J. Arcadelt, Claudio Goudimel. Ihren wenigen neugedruckten und G. Oondimel. bereits erwähnten Motetten wären von Arcadelt nur ein achtstimmiges Pater noster (in Commers Collectio usw.), von Goudimel die kurzen Motetten: Domine, quid multi- plicasti (zuerst bei Burney a. a. 0., dann u. a. auch bei Rochlitz) 0 crux benedicta (Bellermann) hinzuzufügen. Von 'G. Animuccia, der mit C. Festa unter den be- Ö. Animucoia. deutenden Vorläufern Palestrinas die italienische Natio- nalität vertritt, sind wohl Bruchstücke aus Messen, aber keine Motetten in Partitur da.

Die Motetten Palestrinas selbst liegen gegen zwei- Palestrina. hundert in der großen Haberischen Gesamtausgabe seit Jahren vollständig vor, ohne daß bisher von diesem Schatz ein reicherer Konzertgebrauch gemacht worden ist. Diese Vernachlässigung des größten römischen Meisters ist in Deutschland keine neue Erscheinung. Im 4 6. und { 7. Jahr- hundert vertraten ihm die geographisch näheren Meister von Venedig den Weg, später und bis auf den heutigen Tag ist seine Einbürgerung an einer gesanglichen Schwie- rigkeit gescheitert, an den Forderungen, die die Pale- strinaschen Chorsätze an die Kunst des legato stellen. Nur den Improperien, dem Stabat mater und zwei oder drei Messen zu Liebe pflegt man sich ihnen zu unter- ziehen. Und doch sind die Motetten Palestrinas der lohnendste und derjenige Teil seiner Kunst, der den modernen Anschauungen von Gehalt imd Schönheit a^ meisten entgegenkommt. Dieses moderne Element liegt in dem Reichtum an Details. Diesen haben sie vor deh Messen voraus; im Grundton verklärter Andacht, in der Beweglichkeit des Kolorits, insbesondere in der Mehg^ zartester Farben stimmen sie mit ihnen überein. An kleinen prägnanten, das Hauptbild belebenden Bildern fehlt es keiner dieser Motetten, so verschieden sie soilst unter einander sind. Die Verschiedenheit betrifft die Be- setzung, die vom vierstimmigen bis zum achtstimmigen Chor geht und den Stil, in dem die echteste altnieder-

30*

468 ^

ländische Polyphonie so gut vertreten ist, wie die Homo« phonie des Liedes. Muster der ersten Gruppe w^ren die fünfstimmige Motette: Beatus Laurentios und die sechs- stimmige: Estote fortes in hello, der zweiten das bekannte: 0 ,bone Jesu. Diejenigen Motetten Palestrinas, die für das Konzert in erster Linie in hetracht kommen, sind die 29 Sätze des Hohen Lieds, das ja auch von den Nie- derländern ganz oder teilweise sehr häufig und sehr schön komponiert worden ist Aber kein Tonsetzer hat es so lieblich mystisch aufgefaßt wie Palestrina. Gleich hoch stehen die Marienmotetten Palestrinas, voran die für hohe Stimmen. Außerhalb . dieser Gruppen wären vor allem zu berücksichtigen: Accepit Jesus calicem, 0 magnum mysterium, Viri Galilei, 0 admirabile commercium, Salve Regina (aus dem fünften, dem letzten Buch der Mor tetten). Wird nach einem Seitenstück zu den Imprope- rien, nach einer Komposition verlangt, in der Palestrina die Stimme herbsten Schmerzes laut werden läßt, so ist die Motette Super flumina Babylonis zu wählen. Zur weiteren Orientierung können die Motetten dienen, die'*') von jeher und auch in den für Palestrina ungünstigen Zeitläuften von der päpstlichen Kapelle gesungen worden sind: Assumpta est Maria, Ganite tuba, Corona aurea, Cum autem esset Stephanus, Cum complerentur, Dere- linquat impius, Exultate Deo, Fratres, ego enim acce^pi, Hie est beatissimus Evangelista, Jerusalem cito veniet, Jesus junxit se, 0 beata Trinitas, Responsum accepit Simeon, Salvatorem es^ectamus, Salvum me fac, Sorge, illuminare Jerusalem, Surrexit pater bonus, Tu es pastor ovium. Tu es Petrus, Veni Domine.

Neuerdings hat Hermann Bäuerle die &2 vierstimmi- gen Motetten Palestrinas in moderne Rhythmen und Schlüssel umnotiert, maßvoll mit Vortragszeichen ver- sehen und mit dem Feldgeschrei : >Palestrina muß .popu- lärer werden« herausgegeben.

*) Nach X. F. Habeil, Klrcbenmusikalisehet Jahrbuch 1897, 8. 67.

469 ♦^

Unter den Nachfolgern und Schülern Palestrinas ist dem. Meister der ältere Nahini, Giovanni Maria N. am 0. M. Hanijd. meisten geistesverwandt. Er bringt die kindliche und doeh verklärte Weltanschauung, die eine Spezialität der römischen Schule ist, am unbefangensten zum Ausdruck, namentlich in seinen Weihnachtsmotetten, deren schönste, die auf Baßstimmen verzichtende, auf das alte No& hin- jubelnde vierstimmige: Hodie Christus natus est erfreu- licherweise ja heute wieder ziemlich bekannt ist. Die größte Zahl Naninischer Neudrucke enthält die Proske- sehe Sammlung. Unter seinen nur in alten Stimmdrucken voThandnen Motetten überwiegt der achtstimmige Satz und die Teilung in Doppelchor. Von dem jüngeren, dem Bernardino Nanini existiert ein zwölfstimmiges Salve B. Kanini. Regina. In der Neigung zu solcher vollen Chorbesetzung und in dem lebendigen Dialogisieren der Chöre, beginnt eine neue Zeit auch in Bom einzuziehen. Noch deut- licher wird ihr Vorstoß in der gelegentlichen Beigabe von Orgelstimmen.

Am stärksten haben die Neudrucke des 4 9. Jahr- hunderts aus dem Gefolge Palestrinas L. da Victoria L. da Victoria. begünstigt; seine Improperien, seine Marienklage, die lied- artigen Motetten : 0 vos omnes und Jesu dulcis memoria können für eingebürgert gelten. Auf diesen Unterbau hat dann Ph. Pedreli eine Gesamtausgabe des spani- schen Tonsetzers gestellt, deren erster Band 44 Motetten, 39 zu vier, 8 zu fünf, 42 zu sechs und 2 zu acht Stim- men vorlegt, vorwiegend Marien- und Heiligen motetten. Wenn Baini seinem einzigen, schlechterdings unvergleich- lichen Palestrina auch den Victoria opfert, so hat ihn hierzu die Tatsache verleitet, daß Victoria iti dem Pale- strinaschen Kreise als ein vollständig fremdes Element erscheint. Seiner hartem Natur und seiner strengen Schule ist die schöne Sinnlichkeit versagt, welche die hervorragenden Bömer auszeichnet. Seine Chorbehand- lung hat er bei den Niederländern gelernt und in einzel- nen vierstimmigen Motetten, am auffälligsten in: Quam pulchri sunt gressus tui, bietet er gleich den nächsten

Nachfolgern Josquins nichts weiter als geschäftige Formal- musik. Aber in der weit überwiegenden Mehrzahl zeigen sie auf einen Künstler vom Schlage der Gorreggio, Rem- brandt, Thoma. Die dunkle Glut, die sie zurückgedrängt durchwärmt, schlägt in der Regel in den Schlußteilen, da wo das Allelm'a einsetzt, hell auf. Die Form hat ihren Haüptvorzug in klarer Periodisierung und charakter- voller Melodi^; ein Kontrapunktist, der so schreibt, muß als Kind reichlich mit Volksmusik getränkt worden sein. ^ Auch darin weisen sie auf die spanische Heimlet des Komponisten, daß sie Instrumentalbegleitung verlangen oder vertragen. Die sechs- und achtstimmigen Motetten Victorias wirken auch sämtlich äußerlich, als mannig- faltige und reiche Klangbilder stark, von den vierstim- migen vermitteln die Bekanntschaft mit dem Komponisten am besten: 0 magnum mysterium, Senex puerum por- tabat, Ne timeas Maria und Sancta Maria succure mi- seris. Diese die Madonna im Schmerz besingende Hymne ist eine der innigsten Kompositionen Victorias. Fünfzehn von seinen vierstimmigen Motetten liegen seit kurzem ebenfalls in einer Bäuerischen Ausgabe (in modemer Notenschrift und mit Vortrags- und Tempobezeichnungen ausgestattet) vor, die das Verständnis der Werke wesent-> lieh erleichtert. Fl Anerio. Von Felice Anerio, dem Nachfolger Pal^strinas an

St. Peter hat Proske eine verhältnismäßig große Anzahl Motetten herausgegeben. Häufiger benutzt werden .davon im Konzert nur die zwei vierstimmigen: Christus f actus est und Hallelujah, insofern mit Recht als sie den freund- lich würdigen Typus römischer musica sacra besonders rein ausprägen. Anerios außergewöhnliche Bedeutung, seine Stärke im Ausdruck widersprechender Stimmungen kennen zu lernen, gibt die Motette: Regnum mundi. . . . contempsi die beste Gelegenheit, als Meister im feierlichen Stil und vollem Ghorklang zeigt ihn das sechsstimmige Adoramus te Christe*). Am Anfang des 4 7. Jahrhunderts

*) Kirchenmnsikallsches Jahrbuch 1903.

47«

gehörte Annibale S t ab ile , der Kapellmeiser des Lateran A. Stabile, za den in Deutschland bekanntesten Römern. Das Flori- legiqm von Bodenschatz enthält von ihm zwei acht- stimmige Motetten: Hi sunt qui venerunt und Nunc di- mittis, deren derber Stil an Hammerschmidt erinnert. Die Sammlungen des i 9. Jahrhunderts haben i ihn mit Recht übergangen.

Derjenige Römer, dessen Kunst noch tiefer als die Victorias im niederländischen Boden wurzelt, ist der als Passionskomponist bereits , genannte Francesco Su- F. Boriano. riano. Hat er doch die Hymne Ave maris Stella nicht weniger als 44 0mal in kanonischen und andern streng imitatorischen Sätzen komponiert. In einer solchen Schule erwarb er sich die Kraft des Ausdrucks, von der auch die wenigen durch Proske edierten kurzen und so gut wie nicht benutzten Motetten Zeugnis ablegen. Die Veröffentlichung und Einbürgerung seiner größeren Mo- tetten würde das gegenwärtige Bild der römischen Schule wesentlich ergänzen.

An Zahl der Neudrucke ist seit kurzem LucaMa- L. Harensio. renzio, der nicht durch Geburt aber durch seine Wirk- samkeit der römischen Schule angehört, dem Victoria ^Is Motettenkomponist gleichgestellt. 4 5 Nummern aus dem Jahrgang Motetten, die er 4 588 drucken ließ, hat Proske, die übrigen 27 später das Kirchenmusikalische Jahrbuch (4 9(f0 4903) veröffentlicht. Sie verdienen diese Auszeichnung der Form nach ohne Frage, denn es gibt aus der ganzen Vokalperiode wenig Kompositionen, die zugleich so kunstvoll und so durchsichtig sind, wenige, in denen dem vierstimmigen Satz so mannigfache und immer schöne Wirkungen abgewonnen sind. Das Haupt- mittel ist der Wechsel von einzelnen Stimmen oder Stim- menpaaren mit dem vollen Chor. Im Erfassen und Aus- legen des Textes dagegen entspricht Marenzio als Motetten- komponist den Erwartungen, die sich an seinen Namen knqpfen, nicht. Einer Anzahl seiner Motetten kann man nachrühmen, daß sie die Grundstimmung zum klaren und entschiednen Ausdruck bringen. So sind in: Solve ju-

zendentale Tendenz läßt sie kalt. Darum sind die englischen Motetten des 46. Jahrhunderts trotz der tüchtigen Arbeit, und trotz der schlicht wahren menschlichen Empfindung, die sie auszeichnet, nicht ins Deutsche übersetzt und die vortrefflichen Neudrucke Novellos nicht benutzt worden. Weder Willaert noch Ciprian de Rore haben übrigens ihre niederländische Herkunft als Motettenkomponisten verleugnet, die Mehrzahl der von beiden Komponisten seit den Zeiten Martinis und Burneys vorgelegten Neu- drucke*) sind Beiträge zur alten polyphonen Kunst, aber

A. Willaert. durch individuelle Züge ausgezeichnet. Von Willaert steht aus dieser Klasse die Katharinenhymne: Quia devo- tis laudibus wegen der begeistert andrängenden Schlüsse,

C. de Sore. von de Rore das fünfstimmige Da pacem Domine wegen des energischen Ausdrucks des Gnadenbedürfnisses be- sonders hoch« Diesen Beter de Rores treibt eine un- heimliche Furcht, die bei den Worten Nisi tu Domine am deutlichsten wird. Da steigen vor der Fantasie die Schrecken der Ungnade auf. Den neuen venetianischen, den zahlreichen Kugeln des Markusdomes entsprechen- den, die antike Antiphonie in dramatisch unter einander verkehrenden Doppelchören wieder belebenden Stil, den WiUaert in Aufnahme brachte, muß man aik seinen be* reits erwähnten Magnificats studieren und bewundem, die Gommer veröffentlicht hat. Ähnlich gehaltene Mo- tetten, wenn die großen Brände von 4 574 und 4577 über- haupt welche übrig gelassen haben, sind bis jetzt nicht herausgegeben. Ciprian de Rore würde als Vertreter des neuen Stils am glänzendsten mit den achtstimmigen Motetten des bekannten vom Herzog Albrecht V. ange- legten Münchner Prachtcodex zur Geltung kommen. 0. Porta. Auch von Gostanzo Porta sind hauptsächlich nur Motetten im alten Ghorsatz neu gedruckt, daß er ab^

*) Unter den nenesten Sammelwerken, die venetianische Motettenkomponisten, auch solche, die, wie G. Groce, hier über- gangen sind, bringen, kommt besonders L. Torchis >l*arte mnsicale in Italia< in Betracht.

475

nicht bloß in Italien, sondern auch in Deutschland als eine Säule der neuen Kunst angesehen wurde, ersieht man, aus dem Florilegium von Bodenschatz, das eine achtstimmige Motette: Factum est silentium von ihm bringt. Reichlicher hat zuerst Andrea Gabriel! den mehrchörigen Motettensatz verwendet In ihm erreicht die venetianische Kirchenmusik zum erstenmal jene Große und Hoheit, die das Merkmal der venetianischen Malerei ist. Mit Palma Vecchio teilt er sogar ganz spe- zielle Eigenheiten der Gruppierung; seine Nebenchöre stehen zu eiüem Hauptchor in demselben harmonischen Verhältnis wie bei jenem die Seitenstücke zum Mittelbild; fast noch mehr als sein bildender Kollege verbindet An- drea mit der äußern Pracht und Fülle Gehalt und Man- nigfaltigkeit des Innern Lebens. Leider sind auch von seinen mehrchörigen Motetten, deren glänzendste die Quem pastores laudavere ist, keine Neudrucke vorhan- den, doch enthüllen die elf vierstimmigen Motetten, die Proske veröffentlicht hat, seine edle Art und seinen natür- lichen Schwung genügend. Besser sind wir mit mehr- chörigen Motetten von Andreas Neffen und Schüler Giovanni Gabrieli in neuer Partiturausgabe versehen, dank der Monographie, die C. von Winterfeld diesem größten Venetianer vor Monteverdi gewidmet und mit zahlreichen Musikbeilagen versehen hat*). Von ihnen hat das geistliche Konzert häufiger einen Messensatz: das zwölfstimmige Benedictus qui venit benutzt. Gleichen Anspruch auf Beachtung haben die 4 6stimmige Motette: Ascendit Deus in jubilo, die zehnstimmigen Motetten: Dens mens ad te und Domine exaudi orationem meam, sowie das dreichörige Salvator noster. Aber auch die ungedruckten acht- und sechsstimmigen Motetten Ga- brielis sind Muster edel bewegter Chordialoge, Dokumente

*) Noch weit reicheres Material zur Kenntnis der Gabrielis und der venetianischen Motette überhaupt, bietet die der König- lichen Bibliothek zu Berlin gehörige, über 130 Binde starke handschriftliche Partitnrensammlung C. v. Winterfelds..

A. Qftbrieli.

0. Gabrieli.

476

einer Kunst, deren Erhabenheit und Größe unsrer Zeit aus einer andern, höheren Welt zu kommen scheint. Es gibt in der ganzen Kirchenmusik keine Arbeiten, die so mächtig wie diese venetianischen Meisterwerke die Fan- tasie ins Wunderbare, Oberirdische hinaufföhren. Dabei sind sie eigentlich nicht schwer auszuführen, sobald' sich nur der Gesamtchor etwas an die Teilung und die Selb- ständigkeit der Gruppen gewöhnt hat.

Schon die beiden Gabrieli haben einer Anzahl ihrer Motetten Instrumente beigegeben und sie als Konzerte veröffentlicht. Mit dem A 7. Jahrhundert wird die Vokal- motette auf dem italienischen Boden mehr und mehr zurückgedrängt, und zugleich verwischt sich die Besonder- heit der Schulen. Unter den Venetianem, die sie weiter pflegen, ist der in neuen Sammelwerken nur schlecht M. AboU. vertretene M. Asola einer der populärsten geworden; in den Städtchen und Dörfern des Pi^vegebiets sind seine Werke noch heute lebendig.

Die italienische Motette hat seit der Herrschaft der venetianischen Schule an manchen Krisen und Moden der dlgemeinen musikalischen Entwicklung teil genommen, denen sich die Messe entzog. So kann man die vor- ^ übergehende Herrschaft der Chromatik an ihr ziemlich

genau verfolgen. Die dramatischen Bestrebungen treten in der Motette der Italiener, ähnlich wie bei den Niedeir- ländem früher auf als in ihrer Messe. Zunächst verdankt sie ihnen ebenfalls viele SteUen bedeutender Deklamation.

E. Bernabei« Das bekannte Salve Regina des altern Bernabei ist eins

der schönsten Beispiele hierfür. Dann aber führt diese dramatische Richtung zu einer rein äußerlichen Leben- digkeit und zu einer Verweltlichung, von welcher die 0. Legrenii, Motetten Legrenzis und Rovettas um auf be- 0. SoTetta. kannte Arbeiten zu verweisen bereits starke Spuren zeigen. Die neapolitanische Schule beginnt ihre Motetten- arbeit mitten im Niedergang der Gattung und wie die A. 8oarl%tti. Arbeiten eines Meisters von der Größe A. Sc arlattis zeigen , mit nur geringem Interesse an der Aufgabe.

F. Dnrante, In Motetten wie F. Durantes: Domine Jesu Christe

(vierstimmig bei Rochlitz), L. Leos: Sicat erat (sechzehn- L. Leo, stimmig, Sammlmig des i^rmce de Moscawa), in D. Perdz^ PereS) Bfedia in nocte (vierstimmig, Braune) und Jomellis: In Jomolll. Monte oliveti (vierstimmig, ebenda) fand sie den Weg zu der alten Höhe der Gattung bald wieder. Nur der Um- stand, daß alle Welt auch in der Kirche Sologesang mit Instrumentenspiel verlangte, hat uns um eine neue Blüte- zeit der italienischen Chormotette gebracht.

In der Zeit der neuen Kunst« hat Deutschland am festesten an der Motette gehalten. Auch hier war sie eine niederländische Schöpfung und hält sich bis ans Ende des iß. Jahrhunderts an den niederländischen Stil. Die frühesten Proben ihrer Leistungsfähigkeit hat uns Glarean in Motetten von Adam von Fulda, A«t. Fnldai von Sixt Dietrich, Gregor Meyer und Andreas 8. XHetriohi Sylvanus mitgeteilt, Arbdten, die sich im üblichen G. Heyer, Imitationsgeleise mit rühmenswerter Klarheit und Ai Sylfaniii. Schlichtheit bewegen. . Meyer ist aus diesem Grunde neuerdings wieder von Bellermann hervorgezogen wor- dfioi. Als Neudrucke liegen vvon dieser niederländisch- deutschen Motettenkunst Arbeiten AI. Agricolas und Ludwig Senfls vor. An den (wenigen von Maldeghem A. Agriool», herausgegebenen) Motetten Agricolas ist die Faktur be- L. Senil, deutender als der Geist. Als Satzkünstler steht er überall dadurch hoch, daß seine Stimmen die schwierigsten und verschlungensten Wege leicht und sicher gehen, im Aus- druck zeigt die Antiphonie: Haec dies quam fecit Dominus in der Benutzung und Durchführung kleiner Neben- motive auf eine besondre, das innere Feuer fesselnd meisternde Individualität. Zur allgemein anerkannten Badeutung gelangt die deutsche Motettenschule zuerst durch Senfl, der in Briefen, Gedichten, und in den Ur- teilen der Theoretiker des i 6. Jahrhunderts, , auch aus- ländischer wie Zacconi, den ersten Meistern des Gebiets gleichgestellt und in den Sammelwerken der Zeit ersieht^ lieh bevorzugt wird. Was von Senfls Motetten durch Winterfeld und Rochlitz bekannt geworden ist, gehört 2U der liedartigen Klasse, zu einer, wie sich Luther ausdrückt,

i78 ^—

>feinen and lieblichen« Kunst. Seine volle Bedeutung wird sich ersV übersehen lassen, wenn die in den bayri- schen Denkmälern begonnene Gesamtausgabe seiner Werke weiter geschritten ist. Ihr erster Band enthält nur eine Motette großen Stils, die sich mit den Magnificats und den Psalmen Senfls vergleichen läßt. Das ist die Kom- position von: Ghriste, qui lux es, eine Arbeit, bei der die Größe der Fantasie, die' Wärme und der Reichtum der Empfindung von der Meisterschaft und Mannich faltigkeit der Form ganz ablenken. Eigentlich ist sie nichts als eine lange Choralmotette, in der die breite Grundmelodie durch alle Stimmen geführt wird. Den Sopran, der an- fängt, umschwärmen die begleitenden Stimmen mit einem wahren Tumult von Freudenmotiven. Man sieht sofort, daß Senfl mit der ganzen Seele bei der Arbeit gewesen ist Auch im weitern hat er alles so ausgezeichnet dis- poniert und kontrapunktiert, daß jeder Abschnitt durch seinen eignen Charakter den Hörer in frische Spannung versetzt und das Interesse sich bis zum Ende immer steigert. Die wohltuendste Stelle ist der Einsatz des Precamus sancte domine: Auch die Motette: Colloquerunt Pontifices verdient als Musterstück erzählender Chor- musik hervorgehoben zu werden. Sie ist vom Passions- stil inspiriert; der Bericht wird mit dem Obeceifer er- stattet, der den Deutschen bis zu S. Bach hin eigentüm- lich geblieben ist, die direkte Rede der hervortretenden Personen feierlich gegeben. Aus den übrigen Motetten des Bandes wird soviel klar, daß Senfl mit den strengen Formen der Polyphonie ungewöhnlich frei schaltet und wechselt. Bald sind die Kanons hier, bald da, eine Künstlernatur, die Bequemlichkeit und Schematismus nicht kennt, führt die Zügel. Auch der Freund von Lied und Volksmusik wird sichtbar, am liebenswürdigsten in dem Bicinium, das wohl als'Bruchstück einer verlornen großem Komposition den Motettenteil eröffnet: Ego ipse conso- labor vos. Die Sprachgewalt und die streng kanonische Führung seines Anfangs erinnert an das berühmte: In- tellectum tibi dabo, das in Lassos zweitem Bußpsalm

(als Duett der Bässe) die Stimme Gottes so mysteriös verkörpert/ eine Aufgabe an der bekanntlich alle neueren Komponisten (Mendelssohn, Rubinstein, Bossi z. B.) ge- scheitert sind. Weil aber dem Text nach der Herr als Tröster auftritt, gibt Senfl stellenweise den strengen Satz auf und läßt die beiden Stimmen kindlich freundlich in volksliedmäßigen Terzen dahinklingen.

Praktische Bedeutung hat von allen Vertretern dieser niederländisch- deutschen Schule bisher nur Orlando Jjasso als Motettenkomponist gehabt. Schulen sind der Lasao« Sterblichkeit viel stärker unterworfen als Persönlich- keiten. Als solche, als eine der mächtigsten und . viel- seitigsten Individualitäten, welche die Musikgeschichte kennt, lebt Orlando noch heute nicht blos durch seine Bußpsalmen, durch einzelne Magnificats und Messen, sondern vor allem sind es seine Motetten, aus denen man sich über den Umfang seiner Begabung und Bil- dung orientieren muß. Denn die Motette war das Lieb- lingsgebiet seiner Tätigkeit. Das geht aus der bloßen Existenz seines Magnum opus musicum hervor, einer Motettensammlung, die auch in der Zeit, wo große Fruchtbarkeit bei niederen und hohen Geistern selbst- verständlich war, durch ihren Umfang allein steht. Sie enthält 546 zwei- bis zwölfstimmige Motetten, eine Ziffer, die aus dienstlichen Verhältnissen nicht, sondern nur aus der Herzensneigung zu erklären ist. Es ist kein Wunder, wenn die musikalische Welt davor zurückschreckt ein solches Riesenwerk studierend zu bewältigen,, X. F. Haberl hat vor Jahren sich vergeblich bemüht, nur ein Hundert Subskribenten für eine Separatausgabe des mag- num opus zusammenzubringen; die große Lassoausgabe hat bis jetzt die größere Hälfte der in ihm enthaltenen Motetten in Partitur vorgelegt. Wer an sie herantritt, muß mit der Tatsache vertraut sein, daß die Künstler der älteren Zeit am ärgsten die Poeten durch- schnittlich viel ungleicher arbeiten als die heutigen. Wie unter Lassos Messen trifft man deshalb auch unter seinen Motetten eine nicht gerade kleine Anzahl von trocknen

480

Eintagswerken. Über sie hinweg aber wird zweierlei klar: daß man es in diesen Motetten mit einem Meister zu tun hat, der, ähnlich wie S. Bach für eine spätere Epoche, alles zusammenfaßt, was in der a capella-Komposition sich entwickelt und bewährt hat, und daß zweitens diesem Künst- ler an Gewalt der Fantasie kein andrer Musiker der ganzen Zeit, auch Jos quin und Palestrina nicht, gleichkommt. Michelangelo und Rubens sind ihm verwandt, aber ein- seitiger aufss Titanische und Massige gerichtet. Die Rezep- tionsföhigkeit, die sich in den Motetten liassos ausspridit, ist ganz unvergleichlich. Es gibt Stücke, die, wie die von Bodenschatz veröffentlichte Motette : Confifebor tibi an Pale- strina und an die römische Schule, andere, die wie: Estote ergo misericordes an die Venetianer, und noch andre (Improperium expectavit), die an die Weise der frühesten Niederländer anklingen. Aber immer sind sie in ^ster Linie Lassoisch, durch die eignen bildlichen Wendungen, die er jedem Texte abgewinnt. Madrigalenelemente tauchen überall auf, und doch wird er nirgends weltlich. Er hat Akzente und Modulationen, die erst in der dramatischen und romantischen Musik des 4 7. Jahrhunderts üblich werden, sie stören aber niemals die Harmonie und Natürlichkeit seiner Darstellung. Er ist, wenn auch nicht vom liturgischen, so ganz gewiß vom künstlerischen Gesichtspunkt der größte Meister der älteren Motette neben S. Bach. Seine Zeit hat ihn als solchen zu schätzen gewußt, Bibliotheksverzeich- nisse, tfüch kleinerer Orte, selbst sächsischer Dörfer, weisen das opus magnum auf. Den heutigen katholischen Kirchen- chören gereichts zur Ehre, daß sie sich wieder fleißiger Lasso zuwenden. Unsre Dilettantenchöre dagegen- wagen sich noch immer nicht an ihn heran mit einer bis zu einem gewissen Grade stichhaltigen Entschuldigung: Lassos So- pranstimmen, zum Teil auch seine Altstimmen wollen ans ' Prauenmund nicht recht klingen. Diesen Schwierigkeiten sollte aber so oder so begegnet werden. Denn die Mehr- zahl der Lassoschen Motetten ist durch ihren bescheidenen Umfang für das geistliche Konzert sehr geeignet, und ein kleines Dutzend von ihnen müßten alle die Vereine fest

-♦ 481

inne haben, die über die Bedeutung der großen Vokalperiode ' und über den Erziebungswert des a capella-Gesangs klar sind. Da käme zuerst das (schon von Commer veröffent- lichte) sechsstimmige Pater noster als Paradigma streng niederländischer Weise in Betracht. Die gregorianische Melodie liegt im untern Tenor, die andern Stimmen tragen sich kleine Bruchstücke aus ihr nachahmend zu oder er- gänzen sie mit anmutigen^ feinen Äußerungen der Andacht. Verwandt ist ihr die Motette: Creator omnium Deus, aber reicher an subjektiven Zügen und romantisch modernen Tonelementen. Den Dramatiker Lässo, wie ihn Proske meint, zeigt am deutÜchsten die Weihnachtsmotette : Ang^lus ad Pastores mit dem kräftig fröhlichen Hallelujahschluß, oder auch das von heitern Figuren durchrollte an die Madonnen Giov. BeUinis. erinnetnde Röjgina Coeli. Es liegt, nebenbei bemerkt, auch in einer lisztschen Orgeltranskription vor. Eine der im Stil und im Gedankengang reichsten Motetten Lassos wird zuweilen für geistliche Konzerte benutzt, das vierstimmige (schon von Rochhtz veröffentlichte) Salve Re- gina, eme Komposition, in der erhaben- rührende und naive Züge zu einer ^Wunderbaren Einheit verschmolzen sind, ein musikalischer Albrecht Dürer. Formell interessiert an dem kleinen Meisterwerke besonders die Benutzung von Pausen und Synkopen an der Stelle: Ad te suspiramus. Auch die anekdotisch berühmte Prozessionsmotette: Gustate et videte gehört zu Lassos wirkungsvollsten Arbeiten. Als weitere Hauptmotetten mögen noch Timor et tiemor, Dixit autem Maria, Dixit Joseph, Tristis est anima mea und Dominus con- vertere et eripe animam meam empfohlen sein. Jede zeigt eine besondere Seite von des Komponisten Natur und Kunst. Wie bei Lasso vollzieht sich gegen das Ende des 46. Jahrhunderts eine immer stärkere Annäherung an die Italiener*). Dabei werden in der Motette die Neuerungen

*) Sie läßt sich buchhändlerisch u. a. aus der von Ad. Sand- berger (a. a. 0.) angeführten Sammlung F. Lindners: Oantiones sacrae a praestantissimi Italiae musicis, Nürnberg 1585, der 1598 eine ähnliche von Kaspar Haßler folgt, ersehen.

II, i. 34

48« ♦—

» der Venetianer bevorzugt. Die eifersüchtige Durchfährung

des gleichen Rechts aller Stimmen hört au^ an Stelle der individuellen tritt die korporative Wirkung in zweierlei Form: Entweder es wird eine Hauptstimme, am häufigsten der Sopran, von der andern in der Betonung einfsuih unterstützt, oder an Stelle der Stimmen imitieren und konzertieren Chöre. Auch in diesen beiden Motettenme- thoden zeigt sich der Riß, der im 4 6. Jahrhundert zuerst die Kultur der Gesamtnation in eine Hälfte fürs Yolk und eine andere für die höhere Gesellschaft trennte. An J. Gftllu. Jacob G all US (Handl) lassen sich alle diese neuen Er- scheinungen, seit die Österreicher sämthche Teile seines opus musicum veröffenthcht haben, am voUständigsten übersehen*). Dieses Werk gehört mit seinen 374 Nummern an die Seite von Isaacs Chorahs Constantinus, von Lassos magnum opus musicum und unter die andern größten Motettensammlungen einzelner Komponisten des 4 7. Jahr- hunderts. Sein erster Band enthält allein 4 03 Motetten, einzelne dreiteilig und mehr als die Hälfte doppelchörig, zehn-, zwölf- und sechzehnstimmige' Stücke dazu. Das kleine: Ecce quomodo moritur, das zuerst am Anfang des 47, Jahrhunderts durch das Gothaische Kantionale sieh allgemein verbreitete, ist die 4 3. Nummer des zweiten Bandes, der auch die drei Motettenpassionen des Gallus enthält, und bleibt auch jetzt noch, wo wir den Kompo- nisten nicht mehr unter die Kleinmeister zählen können, eine Hauptperle alter geistUcher Tonkunst. Eine so lebens- wahre reiche Schilderung einer trauernden Seele, die alles bringt, wodurch ein solcher Zustand ergreift und erhebt: die Beherrschung des Schmerzes, die fließenden Tränen, den Glauben an ewiges Leben und Wiedersehen, gibts, in dieser Form wenigstens, kaum zum zweitenmal. Das Eigentümliche dieser Form liegt in den Schlüssen der beiden kurzen Teile mit der Verwendung von Liedton und

*) Denkmäler der Tonkunat in Österreich, Jahrgang YI^, XUi, XV 1, XXI.

—^ 483 •—

Echo. Die melancholische Saite klingt überhaupt bei GaUus am stärksten, und in Weihnachtsmotetten z. B. steht er andern Komponisten nach.. Das kommt wohl mit von seinem äußeren Schicksal, das ihn zum unsteten Wan- dern — man weiß heute noch nicht, wohin überall verurteilte. Da solche Künstler mit Naturnotwendigkeit in alle Aufgaben persönUche, subjektive und momentane Eindrücke und Erfahrungen passend und unpassend hinein- tragen, ist es nicht angebracht die Motetten des Gallus mit dem Maßstab Palestrinas zu beurteilen. Er verfügt nicht über dessen festen Schatz von Andacht und Himmels- freude, fällt auch öfters in einen weltlichen Ton, er zieht aber keineswegs gegen ihn überall den kürzeren. Sein Bildungskreis ist weiter, und so oft seine innere Bewegung sich in kurzen starken Inteijektionen Luft macht, hat er überhaupt keinen Rivalen. Dafür ist gleich die erste Motette des opus musicum: Aspiciens usw. ein vorzüg- liches Paradigma. Wie wird da gleich am Anfang die schöne venetianische Antiphonie dadurch belebt, daß der erste Chor in den breiten Gesang des zweiten leiden, schaftlich ungeduldig sein: Ecce, ecce hineinruft. Wie mannigfaltig gestaltet Gallus den Wechselgesang durch die verschiedene Metrik, Länge und Stimmung der vor- und nachgesungenen Perioden! Wie ist seine Thematik bei aller Einfachheit mannigfaltig und plastisch, wie reich sein Satz in den vier- bis sechsstimmigen Motetten, auch an alter, aber immer wirksam verwendeter niederländischer Kunst! Es wird dank der Ausgabe der Österreicher un- möglich sein, Gallus aus dem Reich der großen Meister wieder hinaus zu disputieren. Von seinen kleineren Mo- tetten, unter denen auch einige für Männerchor gesetzt sind die schönste: 0 magnum mysterium werden die Chorvereine mit dem sichersten Erfolg zunächst die folgenden Stücke einführen können: Venite, accendamus ad montem Domini, Veni Domine, Emitte Domine, Laeten- tur coeli, Veni Redemptor gentium, 0 sapientia, Canite tuba, Obsecro Domine, Haec est dies, Resonet in laudibus (in dreifacher Bearbeitung), Vox de coelis, Omnes de Saba

--4 48i ♦—

vcnient, Domus pudici pectoris. An der Spitze der großem steht die 4 6 stimmige Laudate Dominum in sanctis ejus, als eine der imposantesten Motetten im venetianischen Stil. Nach ihr kommen zunächst in Betracht: Quem vidistis pastores, dicite, Quid admiramini, Tribus miraculisl Christum natum und Jerusalem illuminare. Als Satz- künstler und Tonmaler glänzt er am meisten in: Dens, iniqui surrexerunt. Zu ihrer erregten Schilderung eines Aufstandes bildet die fromm ruhige Nummer: Domine, ante te den entschiedensten Gegensatz. Besonderer Be- achtung wert ist die Motette: Audi magni maris limbus wegen ihres didaktischen, die Größen der antiken Welt vorführenden Textes. Sie war nicht für die Kirche, son- dern für eine Schulfeierlichkeit bestimmt.

Schwächer sind die den dritten Teil des opus musi- cum eröffnenden vierstimmigen Lamentationen; zum Teil ist ihre Eintönigkeit allerdings beabsichtigt. Mit der ersten Ostermotette aber >Haec est diese steht Gallus sofort wieder auf sreiner vollen Höhe. Sie ist in ihrem doppel- chörigen Aufbau und dem reichen Leben, das sie beherrscht, wohl die stattlichste und bedeutendste unter den verhält- nismäßig zahlreichen Nummern für Männerstimmen, die in der zweiten Hälfte der Sammlung enthalten sind. Auch mehrere Motetten mit durchgeführtem Echo erregen die besondere Aufmerksamkeit. Im Schlußband ragen neben dem sehr langen Hauptstück, dem 4 6 stimmigen >Domine Dens, exaudi« (Nr. 56) am merkbarsten die Kirchweihmotetten wegen der Mannigfaltigkeit der entwickelten Stimmungen hervor, an ihrer Spitze die Nr. 38 »Fundata esU mit dem gewaltigen Eingangsthema. Starke Einlagerungen welt- lichen Tones können bei ihnen nicht überraschen, aber es bleibt geschichtlich beachtenswert, daß sie stellen- weise die Freude in ausgesprochen slawischen Rhythmen äußern; am deutlichsten tut das die Nr. H »In voce exaltationisc.

Von den weiteren Deutschen, die in Venedig in die

H. L Haßler. Schule gegangen sind, ist H. L. Haß 1er mit dem Neudruck

von zwei vollen Jahrgängen Motetten, MB Stück (in den

-^ 485 *-^

Denkmälern deutscher Torikunst) *) vertreten. Auch Haßlers Motetten haben nicht die hehre Weise der Sätze Pale- strinas, sie lassen eine unruhigere, weltlichere Zeit mer- ken und in ihrem Gefolge einen Rückgang der alten guten Kantabilität. Bei Haßler begegnet man denselben un- unterbrochen in hoher Lage geführten und schwer rein zu haltenen Sopranen, durch die unter den Deutschen am Anfang des 17. Jahrhunderts namentUch Schein sd viele Mühe bereitet. Trotzdem sind die Haßlerschen Mo- tetten zu ihret Zeit sehr begehrt gewesen; das beweisen die drei Auflagen, die seine »cantiones sacrae« von 4 594 bis 4607 erhieltefh, allein zur Genüge. Auch heute wirken sie einmal durch ihre zwar kurz angebundene, aber alle entscheidenden Textelemente vorzüglich betonende De- klamation, zum andern durch das außerordentlich leben- dige Antiphonieren als Meisterwerke. Haßler genügen schon sechs Stimmen zum Doppelchor und er vermehrt die Farbenpracht seiner Sätze dadurch, daß er ohne es hinzuschreiben Solo- und Chorbesetzung wechseln läßt. Ganz besonders versteht sich Haßler auf die Mischung polyphonen und homophonea Stils; der letztere dient ähnlich wie bei Josquin oder wie in den Orgelkom- positionen Scheidts zur Markierung der Hauptstellen. Die Reihe der hervorragendsten Nummern der cantiones sacrae beginnt mit: Tu es Petrus, eine Komposition, die durch die lebendige Behandlung der Details, unter denen die Malereien bei: aedificabo hervortreten, sich auszeich- net. Sie zeigt auch Haßlers Kühnheit des Vokalstils, am Ende tritt, 4 7 Jahre vor Monteverdi, die Septime ganz frei ein. Als Normalbeispiel Haßlerscher Motettenkunst kann die vNummer 30: Verbum caro factum est gelten. Darin, daß der wunderbare Vorgang, den der Text be- richtet ohne allen Schwung und ohne innige Versenkung

*) Band II enthält die Cantiones sacrae von 1591 (heraus- gegeben von H. Gehrmann) Band XXIV/XXV die Sacri con- centus TOQ 1601 mit dem Anhang dei zweiten Auflage yon 1612 (herausgegeben von J. Auer).

\

--♦ 486 ♦—

mitgeteilt wird, zeigt sie seine Schwäche, in den schlicht sprechenden, bedeutend deklamierten Motiven, dem wir- kungsvollen, durch imposante Tuttis gekrönten Wechsel der dreistimmigen Chöre (oder Terzette) seine Stärke. Auch die Nummer 32: Tribus miraculis gehört zu den Grundstücken Haßlerschen Stils. Ausgezeichnet ist sie durch den Eintritt der Stelle: Ho die Stella Magis duxit ad praecipium und den fröhlichen, volkstümlichen Ton des im Tripeltakt einsetzenden Schlußteils. Der deutsche Weihnachtsgeist hat hier Haßlers Erfindung belebt. Die Nummer 34: Converte Domine bezeugt besonders schön seine architektonische Begabung in dem Charakter, dem Zusammenschluß der Motive und der harmonischen und tiefen Gesamtwirkung. Die Entwicklung geht von der Trauer zum Trost und schließt mit einem eignen, etwas harten Ausdruck der Freude. Wichtiger noch als bei andern Motetten ist bei dieser die gehörige räumliche Entfernung der antiphonierenden Chöre. Aus der Be- schreibung, die M. Prätorius von der Aufstellung einer Normalkapelle um 4 600 gibt, erhellt die allgemeine Wich- tigkeit dieser Forderung, sie ist die Wurzel des venetia- nischen Chorstils. Trotzdem wird sie in der Gegenwart meistens nicht beachtet. Zu den Hauptmotetten freudigen Charakters gehören noch die Nummern 89, das flotte: Jubilate Deo und 45 : Hodie Christus natus est, ein zehn- stimmiger Chor, der durch den beständigen Wechsel von geradem und ungeradem Takt außerordentlich erfrischt. Haßler in seiner Tiefe und seinem Ernst kennen zu lernen, kommt die Nummer 35: Dens noster refugium wesentlich in betracht. Der feierliche Ton frommer Er- gebung, den sie fest hält, kommt aus schwerepi Herzen. Seine aus älteren Neudrucken bekannteste Arbeit dieser Klasse ist das Pater noster (Nr. 38), die das Gottvertrauen so schlicht und schön ausspricht. Mit dem Eintritt der fünften Bitte wird die Komposition plötzlich düster be- wegt und schließt mit der Vereinigung beider Chöre glänzend ab. Sie bringt das romantische Element in Haßler am deutlichsten zum Ausdruck und wirkt äußer-

-^ 487 ♦—

Jich besonders stark. In derselben Abteilung ragen noch die beiden dreichörigen Motetten: Miserere (Nr. 46) und: Duo Seraphim clamabant (Nr. 47), ein an Lasso anschließen- des Tonbild, hervor. Die Schlußnummer der Sammlung: Nuptiae factae sunt hat als Paradigma des erzählenden, von der Motettenpassion befruchteten Chorstils ihre Be- deutung för sich.

Aus der zweiten Sammlung, den Sacri «öncentus, in der die Psalmentexte reich vertreten sind, könnten sich unsere Männerchöre für festliche Gelegenheiten die Num- mern 6 \o zu eigen machen; die ersten beiden sind Hymnen der Freude, die letzten Gebete, alle fünf in der Form eingänglich und vornehm zugleich. Der Dirigent muß aber etwas vom Echo wissen. Die übrigen vier- und fünfstimmigen Stücke der Sammlung stehen in der Er- findung unter dem madrigalisch fröhlichen Geist der Nürn- berger Gesellschaft, für die sie bestimmt waren, in der Form fesseln und erfreuen sie durch zahlreiche Proben seiner Satzkunst. Insbesondere sind die Anfange der Sätze alle fugierend und imitierend gehalten. Der eigent- lich venetianische Stil zeigt sich erst in der 4 9. Nummer (Ganite tuba), einem fünfstimmigen Satz, dessen obere und untere Gruppe sich ablösen, und auch da nur vorüber- gehend. Einen breiteren Platz nimmt die Antiphonie von den sechsstimmigen Sätzen ab ein, aber duch in ihnen hat sie noch nicht, wie in den Sacrae cantiones, die Vorherr- schaft. Von den sieben- und noch mehr den achtstimmigen Nummern ab bestimmt dann die Absicht mit dem Klang des geteilten und des vollen Chors zu wechseln die Schreibweise Haßlers. Das längste, äußerlich wirksamste und an innig empfundener Musik reichste Beispiel dieser Klasse ist die Nr. 44, ein Miserere, in dem auf Soprane verzichtet wird. In ihm kehren auch die von Dufay bis Lasso so beliebten, zweistimmigen Sätze, die bei den Deu^chen mit dem Eindringen der itaüenischen Vorbilder schwinden, reichlicher wieder. I Unter den norddeutschen Tonsetzern vertritt die

I venetianische Schule in der Zeit Haßlers verhältnismäßig

I

-—* iSft ♦—

H. PTätoriui. am eifirigsten der Hamburger Hieronymus Prätorius, von dessen hundert Motetten seit wenigen Jahren eine Auswahl im Neudruck vorliegt*). Doch steht er mit noch weitergehendem Vorbehalt als sein Nürnberger Fachgenosse auf Seiten der neuen Chorbehandlung. Die Kompositionen von Prätorius, die grundsätzlich venetianisch gehalten sind, wie seine achtstimmige a capella-Messe* wie die 20 stimmige Motette »Decantabat populusc, sein Meister- stück, bilden die Minderheit in der Gesamtzahl seiner Ar- beiten, und zweitens benutzen sie aus dem grolBen Vor- rat neuer Gabrielischer Mittel ziemlich einseitig nur das Verfahren, kurze Motive schnell nacheinander in den ver- schiedenen Chören singen zu lassen. In zwei Takten dieselben drei Noten viermal unmittelbar hintereinander, jedesmal von einer anderen Stelle zu hören, muß den Hamburgern der etwas äußerliche Hauptreiz an dieser venetiani^chen Kunst gewesen sein. Mit seinem Herzen und wohl auch seinem eigentlichen Können steht Prätorius auf dem Boden der alten Kunst und unter deutsch-nieder- ländischem Einfluß. Das Temperament und den stolzen Zug, der seine Künstlernatur kennzeichnet', kennen zu lernen, ist nichts geeigneter als der zweite Satz (Aurum sicut regi) in der auch im ganzen sehr bedeutenden Mo- tette >Ab Oriente venerunt magi«. Die malerische Wirkung und die Sicherheit, mit der da ein kleines Achtelmotiv durch die Stimmen gedrängt wird, ist packend/ Hierin und auch in der Neigung gelegentlich eine einzelne Stimme aus dem Chor durch eine ganz frei deklamierte Stelle hervorzuheben, erinnert Prätorius an Schütz, mit dem er auch, wie die Benedictio mensae und Oratio domenica zeigen, noch die liebe zum Akzent und zu anderen Elementen des Gregorianischen Gesangs teilt. Endlich hat Prätorius noch das mit Schütz gemein, daß in seinen mehrchörigen Motetten einzelne Gesangstimmen, nament- lich Bässe und Soprane, von Instrumenten ausgeführt

*) Denkmäler der Tonkunst, Band XXIII (herausgegeben von H. Leichtentritt).

^ 489 ♦—

werden müssen. Der Unterschied ist nur der, daß Schütz das ausdrücklich hinschreibt^ Prätorius aber stillschweigend diese Praxis als bekannt annimmt Ein Zweifel an der Tatsache ist aber ausgeschlossen, denn Ghorbässe, bei denen dauernd auf das^Kontra-B gerechnet werden darf, Soprane, für die das c" zu den bequemen Tönen gehört, hat es nie gegeben.

Im weiteren Verlauf des 4 7. Jahrhunderts büßt die deutsche Motette an Reinheit ihres Wesens viel ein. Auf der einen Seite vermischt sie sich mit dem' Lied, auf der andern mit der Kantate. Der Kantateneinfluß äußert sich seltener, bei Prätorius und Schütz z. 6., in der erwähnten Einmischung von Orchesterstimmen in den Chor, viel allge- meiner kommt er in der Tatsache zur Geltung, daß die Motetten mit einer Orgel- oder Positivbegleitung versehen werden, die den Stimmen als sogenannter Kontinüo in Form einer bezifferten Baßstimme beiliegt und deren jeweilige Aus- führung der Einsicht des Organisten oder Dirigenten über- lassen bleibt. Das Merkwürdige an dieser deutschen KontinuQbegleitung ist der Umstand, daß sie meistens vollständig entbehrlich ist. Die Mehrzahl der deutschen Motetten des i 7. und 4 8. Jahrhunderts lassen sich a capella singen und klingen unbegleitet sogar besser. Nur bei einer Minderzahl sind die Singbässe auf den Sechzehn- fußton des > Instrumentes« berechnet. Oft gestehen es die Komponisten auch in den Vorreden offen ein, daß sie den Generalbaß nur der Mode halber vorgeschrieben haben. Die Instrumentalbegleitung von Gesangmusik kam von Italien wie ein neues Weltwunder ins 47. Jahrhundeijt herein, aber die deutschen Motettenkomponisten verstan- den das Phänomen nur halb.

All das lied hatten Motette und Figuralgesang im protestantischen Deutschland schon während des 4 6. Jahr- hunderts einen Teil des kirchlichen Dienstes abgetreten. Als evangelischer Gemeindechoral war es zu einer solchen liturgischen Bedeutung gelangt, daß überall erst begabte Laien, dann auch bedeutende und durchgebildete Tonsetzer anfingen, alte und bekannte weltliche und geistUche Melodien

fÖr einen mehrstimmigen Tonsatz einzurichten. Der ge- meine Mann hörte seine eigenen lieben Weisen in der Kirche in einer Form, welche ihm einzustimmen erlaubte, deren sinnvolle und kunstvolle Harmonie aber sein Denken und Fühlen höher trugen. Eine verwandte Frucht solcher auf volkstümhchem Grund aufgerichteten kirchlichen Ton- kunst ist uns bereits in dem Psalter der Hugenotten und Niederländer begegnet. Aber wir dürfen uns dieses deut- schen Schatzes als eines besonders reichen und systema- tisch ausgebildeten freuen und noch mehr seiner indirekten Wirkungen. Denn mit diesem geistlichen Chorlied wurde die deutsche Kunst zum erstenmal selbständig und eigen- tümlich. Der Wert dieser unscheinbaren, aber treuherzigen und charaktervollen Holzschnittmusik ist durch ihre Dauerhaftigkeit genügend erwiesen. Der kleine Satz, in M, Prätorius, den M. Prätorius den Text : »Es ist ein Ros' entsprungene Schröter, vertont hat, oder Schröters: >Puer natus« und »Freut Bodensohatz, Euch, liebe Christen« gehören heute zu den beliebtesten Zenner, Herbst, Chorgesängen. Das Verdienst, die Bodenschatz, Zeu- Jeep, M.Franok, ner, H^erbst, Jeep, M. Franck, M. Altenburg, M. Altenbnrg, B. Helder, A. v. Löwenstern, J. Stobäus, J. Crüger,

B. Helder, J. Hintze, J. Ebeling, J. Rosenmüller, C. Briegel, A.viLöwenfltern, J. Schop, G. Staden, Th. Seile, Tb. Flor, E. Kinder-

J. Stobftns, mann, J. Löhner und die mit ihnen verwandten zahl- J. Orüger, reichen weiteren Kleinmeister für unsere Zeit wieder J. Hintze, fruchtbar gemacht zu haben, gebührt C. v. Winterfeld und J. Ebeling, seinem Hauptwerk vom »evangelischen Kirchengesang«

J. EosenmftUer, Fortwährejid noch wird das von ihm begonnene Werk G. Briegel, durch Separataüsgaben glücklich ergänzt und erweitert. J. Sohop, Teschner, Riedel und Eitner haben reichere Bestände &. Staden, Eccard scher Kompositionen vorgelegt, dem letztge- Th. Seile, nannten Gelehrten verdanken wir auch Neudrucke der ein- TL Plor, schlagenden Arbeiten J. V. Burgks und G. Dreßlers. Ein

E. Kindermann, weiterer erfreulicher Beitrag zur Wiederbelebung dieser J. Löhner. alten volkstümlichen Chormusik ist G. GÖhlers Ausgabe des J. ▼. Burgk. vom Zwickauer Kantor Cornelius F renn dt aus eigenen (3t. Dreßler. und fremden Kompositionen zusammengestellten »Weih-

C. Frenndt. nachtsliederbuchs«. C. Riedel hat mit einer Sammlung

wunderbar frischer >Altböhmischer Weihnachts- lieder«, C. F. Scheurleer durch die Neuausgabe der Nieder- ländischen »S out erliedekens« Grelegenheit gegeben die Blüte dieser neuen durch die Reformation hervorgerufenen Kunst auch außerhalb des heutigen Deutschland zu ver- folgen*).

Wichtig war es, daß an ihrer Pflege bald auch Meister der großen Kunst, Männer wie Haßler, Gumpeltz- Häßler, Gum- hailner, Eccard, Stobäus, Schein beteiligten. Durch peltihaimer. sie brachte das einfache volkstümliche lied bald auch .der Eooard,8tob&iiB. alten großen Kunstmotette neuen Segen, und zwar auf Sohein. zweifachem Wege.

> Erstens entstand die Choralmotette, die in ver- wandter Weise wie früher die niederländische Motette gregorianische Melodien, nun evangelische KirchenUeder als Grundstock und Baumaterial für breite, polyphone Ar- beiten verwendete. In Eccards preußischen Festliedern, J. Eooard. in etlichen (von R. Schwarz herausgegebenen) deutsche^j Motetten von Dulichius, in einzelnen Stücken R. Ahles ?• Dallohlns, (Denkmäler deutscher Tonkunst, 5. Band: Ach Herr, mich fi> Ahle, armen Sünder, Wir glauben all* an einen Gott) H^en wertvolle Frühproben dieser neuen Choralmotette, die sich über S. Bach hinaus bis in die Gegenwart behauptet hat, in Neudruck vor. Sie findet ein gleichzeitiges instru- mentales Gegenstück in den Choralfantasien und Choral- variationen für Orgel, die, wie schon erwähnt, S. Scheidts Tavolatura nuova zuerst mannigfaltiger vertritt.

Zweitens aber hat der im Choral heimische Geist auch die freie Motette der Deutschen innerhch merküch erfrischt und veijüngt. Zwar bleibts mit ihr insofern beim alten, als die achtstimmigen Sätze das venetianische, die vier- stimmigen das niederländische Muster merken lassen, aber

*) Der bedeutendste Beitrag zur Geschichte jener geistlichen Kleinkunst: G. Rhavs >Neue deutsche geistliche Gesänge für die gemeinen Schulen« (Wittenberg 1644) liegt im Band XXXTV der Denkmäler Deutscher Tonkunst (herausgegeben von Joh. Wolf) seit kurzem im Neudruck vor.

i9S

F. Leiiring,

Trotz sei dem

Tenfel.

H. Franok,

In den Armen

dein.

A. Hammer»

solimidt.

A. ScandeUng. L. Leohner

H SohtttB.

sie wechselt Motive und antiphonierende Partien rascher, sie ist in der Form, gegen jene gehalten, zuweilen etwas stürmisch und unreif, ihr jedoch an Kraft und Herzlichkeit überlegen, und endlich bricht sie der deutschen Sprache eine Gasse.

Für die Choralmotette bietet das Konzert einen Beleg in F. Lei s rings »Trotz sei dem Teufel«, für die freie in Melchior Francks herrlicher Motette: »In den Armen dein«. Andreas Hammerschmidt, der seine Dialoge und Lieder auch zum begehrtesten Motettenkomponisten des 47. Jahrhunderts erhoben, zeigt auch in den heute noch gesungenen Werken i Schaffe in mir Gott«, »Sei ge- grüßt, Jesu« und »Mir hast du Arbeit gemacht« seine starke Volkstümlichkeit, allerdings durch einen Zug von Trockenheit beeinträchtigt.

Der Beachtung außerordentlich würdig sind ferner Ant. Scandellus und Leonh. Lechner, doch kommt ihre Bedeutung für die Motette in den wenigen vorliegen- den Neudrucken nicht genügend zur Geltung.

Den größten deutschen Motettenmeister des 4 7. Jahr- hunderts haben wir in Heinrich Schütz zu erblicken, wofern man in die Gattung seine großen mehrchörigen Psalmenmotetten, über die im vorhergehenden Kapitel berichtet wurde, und außer ihnen auch die Historien, Dialoge und oratorischen Szenen mit einbezieht, die er zum Teil ja auch, wie die von Saul, als Motetten benennt. Hält man sich aber an den Motettenbegriff im engern und althergebrachten Sinne, so ist Schütz in der Motette nur bescheiden vertreten, sowohl was die Fruchtbarkeit als was die Größe der Leistungen betrifft. Sieht man von einer Anzahl kunterbunt versprengter Stücke ab, so haben wir von Schütz nur zwei größere Sammlungen von eigent- lichen und wirklichen Motetten : Das sind die cantiones sacrae von 4625 und die »Geistliche Chormusik« von 4 648. Beide liegen schon seit länger als zwanzig Jahren in der Gesamtausgabe der Werke Schützes in Partitur vor, aber erst in der jüngsten Zeit hat man be- gonnen, auf Grund von praktischen Einrichtungen sie auch

--^ 493 *—

ZU benutzen. Da ist denn aus der Ghormusik zunächst die Nr. 4 »Verleih' uns Frieden« auf dem Wege sich ein- zubürgern. Sie bezwingt vor allem durch die Einfachheit und Innigkeit, mit denen Gebet und Bitte zum Ausdruck kommen, erfreut aber noch durch eine Reihe' kleiner Züge echt Schützscher Anschaulichkeit und Geradheit. So wird das »Streiten« von dem der Text spricht, dadurch wieder- gegeben, daß alle vier Stimmen plötzlich einen Takt lang in Achteln gehen. Auch der Nachbar dieser Friedens- motette, der fünfstimmige Begräbnisgesang »Die mit Tränen säen« hat Anspruch auf allgemeine Verbreitung. Zwar die tiefe Wirkung der über diesen Text komponierten Psahnenmotette (II 8) erreicht sie nicht, aber sie trifft die Herzen durch den warmen Ton des Mitleids, mit dem der Trauernden gedacht wird, und sie stellt dazu das »Ernten in Freude« in einen sehr packenden Gegensatz. Verwandt mit ihr ist die Nr. 23 (»Selig sind die Toten«;, von über- irdischer Wirkung in ihr die Stelle »Ja, der Geist spricht«. In der Nr. U (»So fahr ich hin«), der der Choral »Es ist genug« zugrunde liegt, erhebt sich der Schlußteil, wo der Tenor wie aus der seügsten Ruhe heraus ruft »So schlaf ich ein«, zu wunderbarer, tiefergreifenden Wirkung. Die sehr kurze, als Aria bezeichnete Motette Nr. 4 2: »Also hat Gott die Welt geliebt« hat sich vor anderen Freunde er- worben durch die feine und zarte Empfindung, mit der dem Herrn gedankt wird, durch die ebenso treffende, wie naive Malerei des Wortes »alle« und drittens durch das kindliche Vertrauen, mit dem der letzte Teil verklingt Auch die Nr. 20 : »Das ist ja gewißlich wahr« steht bereits in der Gunst fest, sie wegen der Mannigfaltigkeit und Kraft der Stimmungen. Eine der größten Motetten der Ghormusik, die Nr. 29 »Herzlich hab ich dich« mischt in ihrem Aufbau, Wie in ihren Ausdrucksmitteln Elemente des Lieds und der Motette in einer Weise, die an die Art einzelner Lieder Scheins erinnert. Besonders herzlich und eigen khngen die Anfange der Verse, wo die choral- artige Intonation in den trauUch munteren Kinderton übergeht. Den übrigen Motetten der Chormusik, die zum

--♦ 494 ^—

Schluß Duette und Terzette mit Begleitung eines Instru- mentes bringt, fehlt es nicht an fesselnden kleinen Zügen, aber sie prägen die Persönlichkeit Schützes nicht voll aus, sondern stellen sie unter das Gebot des allgemeinen in Deutschland vorherrschenden Motettenstils.

Die cantiones sacrae kümmern sich um diesen nur wenig, sondern sie sind, obwohl viel älter als die Chor- musik, doch darin weit modemer als diese, daß sie den neuen italienischen Madrigalstil, insbesondere den des be- gleiteten Solomadrigals unbedenklich auf Motettentexte übertragen. Diese durchweg lateinischen Texte sind zum kleineren Teü den Psalmen, zum größeren dem Neuen Testament und den >Meditationes Divi Augustini« ent- nommen. Ihre madrigalische Behandlung aber äußert sich in der ungewöhnlichen, der Chormotette fremden Lebendigkeit des Satzes. Er neigt zu schwierigen Inter- vallen und Rhythmen, zu kurzen Themen, mischt in die Melodik reichlich Meine Ghssando-Figuren und ähnliche Manieren und liebt es endlich, bei Nebenmotiven zu ver- weilen. Diese cantionos sind zum Teil mehr weltlich als geistlicn gedacht. Insbesondere gleichen sie den Düetti pastorale Hermann Scheins auffallend, in der Nummer 4 6 (Sicut Moses) bringt Schütz für die vita umana dieselben imitierenden Achtelmotive, mit denen Schein in der ge- nannten Madrigalsammlung die Fillis besingt. Mit diesem madrigalischen Grundzug hängt der Reichtum an scharfen Gegensätzen, an Wechsel des Satzcharakters und an köst- licher Kleinmalerei zusammen, denen wir in der Mehrzahl der cantiones begegnen, und der sie fast alle trotz des knappen Umfangs bedeutend macht. Wie die letzten vier Nummern sich in den Titeln als Tischgesänge ausweisen in der Mitte ein ausgezeichnetes Pater noster , so hat Schütz bei der ganzen Sammlung mehr Hausandachten als kirchliche Verwendung im Auge gehabt. Doch eignen sich einige auch für den letzteren Zweck, sehr gut die innige Nr. 4 7 (Ego dormio), ähnlich die Nummern 25 27, die in . ihrer Mischung von Strenge und Freiheit des Satzes, in ihrer dramatischen Empfindung echte und

-♦ 495 «—

auserlesene Schütz sehe Leistungen sind. Die an Bewegung und Schwung reichste, auch an Umfang dem Durchschnitt ' am meisien überragende Motette des Bandes, das Cantate Domino (Nr. 29) darf als ein ausgesprochenes Kirchenstück bezeichnet werden.

Von den weiteren zu den genannten Sammlungen nicht gehörenden Motetten Schützes wird häufiger das im ersten Teil der Sinfoniae sacrae enthaltene »Vater unser« gesungen! Sie wirkt durch die häufige Wieder- kehr des Anruf sihotivs »Vater« besonders inbrünstig. Bei den Worten »Denn dein ist das Reich usw.« gruppieren sich die Singstimmen, die die vorhergegangenen Bitten in imitierendem Motettenstil durchgeführt haben, in venetia- nische Wechselchöre, und zu ihnen tritt das Orchester. Zur Berücksichtigung sind besonders auch die, die Be- gräbnismusik (Exequien) für Heinrich von Reuß bilden- den Motetten und die »Zwölf geistlichen Gesänge« von 4 657 zu empfehlen. Sie enthalten Meßsätze (mit deutschem Text), Litaneien und andere liturgische Chor- stücke, sind besonders »für kleine Cantoreyen« geschrieben und gehören zum Besten, was Schütz innerhalb der Grenzen einer einfachen und bescheidenen Kunst ge- leistet hat.

Die Väter und Förderer des neuen Motettengeschlechts sind auf protestantischer Seite zu suchen. Daß auch die katholischen Komponisten des deutschen Gebiets von dem Liedgeist der Periode nicht unberührt blieben, zeigen allerdings Arbeiten, wie die Job. Stadlmayrs*), die mit J. Stadbnayr. einer fast epigrammatischen Kürze und Eingänglichkeit alte gut polyphone, auf Kontinuo verzichtende Stimm- führung verbinden. Aber soweit die Chormotette noch ihren Boden in der katholischen Liturgie behauptete, hielt >

sie an den alten Künsttraditionen fest, wie das die von Jos. Fux neugedruckten**) oder die eines Neudrucks J. Pux, überaus würdigen C antiones sacrae G. Aichingers zeigen . Ot, Aichinger.

*) DenkmUer der Tonkunst in Österreich, III. **) Ebenda, U.

496

Auch bei den Protestanten ist die Praxis lange Zeit mehr- schichtig und zeigt einen besonders scharfen Unterschied zwischen eigentlicher Kirchenmotette und Kasual- motette. Die erstere, die ihre Stelle im regelmäßigen Gottesdienst hat, wird während des 4 7. Jahrhonderts nach wie vor von einzelnen Komponisten in Bänden, die das ganze Kirchenjahr versorgen, im alten niederländischen oder venetianischen Stil und mit lateinischem Text ver- öffentlicht. Zu den vorzügUchsten Mo'tettensammlongen dieser Art gehören die »Centuriae« des bereits erwähnten F. Dnliobiof« Philipp Dulichias, von denen R. Schwarz zuerst einige Proben vorgelegt hat'*'}, die durch die Energie und das Feuer ihrer Chorföhrung dahin gedrängt haben, das ganze Werk in Neudruck vorzulegen**). Dahin gehören femer die »Corona barmonica« von Demantius, die »Cantiones sacrae« von Job. Stob aus und das »Cymbalum Sionium« von H. Schein***]. Aber im allgemeinen weicht die alte Kirchenmotette der Protestanten schon während des 30 jährigen Krieges, zum Teil wegen der durch ihn ver- ursachten Verarmung der Kirchenkassen, zum Teil wegen der Lust an den neuen Musikkünsten, der Kantate. Die Kasualmotette dagegen, die in erster linie als Begräbnis- und Hochzeitsmusik dient, bleibt beim alten Chorsatz, wenn sie ihn auch vielfach vereinfacht und verdirbt. Auch ihr hat hie und da, in Königsberg z. B.f), das neue Sololied

DenumtliiB, J. StobäoB, Et Bökeln.

*) Dulichius, yier achtstimmige Ohöre, Breitkopf & HirteL **) Die Denkmäler deutscher Tonkunst (Bd. 31 und 41) haben bisher den ersten und zweiten Teil, herausgegeben und sehr gut eingeleitet von R. Schwartz gebracht. Dulichius ist hier einer der glänzendsten Vertreter der venetianischen Schule. ***) A. Prüfers Gesamteusgahe der Werke Scheins Bd. IV und V. Das Oymbalum enthält lateinische und deutsehe, fünf- bis zwölfstimmige freie Motetten, die unbeschadet vieler eigener Züge von Tiefe und Beweglichkeit, im wesentlichen mit dem Stil Haßlers übereinstimmen.

f ) Siehe Einleitung zu den Arien H. Alberts (Denkmäler deutscher Tonkunst, Bd. XII).

^ 497 ♦—

den Platz streitig machen wollen, aber vergeblich. Durch ihre Mithilfe ist auch in derFiguralmusikder evangelischen Kirche die deutsche Sprache endlich allgemein durchgedrungen.

Eine ganze Abteilung dieser Kasualmotetten hält auch am reinen, unbegleiteten a capella-Stil fest. Das sind diejenigen Motetten, die für die Umzüge der Schulchöre und Kurrenden bestimmt waren, die in den Straßen, auf Plätzen, im freien, großen Raum gesungen wurden, wo ein Positiv ein unwirksamer Ballast gewesen wäre.

Besonders in Sachsen und Thüringen haben die Kurrenden bis an die Gegenwart heran eine tief ins Volksleben eingreifende Bedeutung gehabt. Dort sind auch im 47. und 48. Jahrhundert die meisten a capella- Motetten geschrieben worden: im Durchschnitt Werke, an. welche man einen streng kirchlichen Maßstab nicht anlegen darf. Sie spiegeln aber ein rühmliches Stück deutscher Musikgeschichte wieder, ^an sieht, wie viel musikalische Tüchtigkeit und Eifer in diesen Ländern herrschte, man sieht die Naivität des bloßen Hand- werks, man hört den Pulsschlag des fröhlichen Herzens und man bemerkt auch in ihnen besondere Strömungen des religiösen Lebens und der Entwicklung der Tonkunst. Von dem neuen dramatischen Musikwesen, welches aus den Residenzen zu den Kantoren und Organisten hin- drang, eignete sich die Kurrendenmotette Sinn für Effekt, Kontrast und Deklamation an. Tiefer ward sie nicht berührt. Die Neigung zu rhythmischer Lebhaftig- keit besaß sie von allein als ein Geschenk, zu welchem die heimatliche Volksmusik und zum größeren Teil die Orgelmusik beigesteuert hatten. Die reiche Einmischung von Orgelfiguren in den Vokalsatz ist dann bis auf Schichts Zeit ein Kennzeichen der deutschen Motette geblieben. Erst durch Mendelssohn trat eine gründliche Änderung ein. Hauptvertreter der höchsten Art Thüringer Motettenkunst sind die Bachs, voran MichaelBach, M. Baoli. von dessen Werken vor einigen Jahrzehnten noch die Stücke »Nun hab* ich überwundene, »Unser Leben ist«, »Herr, wenn ich dich nur habe«, »Ich weiß, daß mein

n, 4. . 32

--* 498 *—

Erlöser lebt« in Chorkonzerten anzutreffen waren, neben Oh. Bm^Ii. ihm Christoph Bach, den die Motetten >Ich lasse dich nicht« und »lieber Herr, wecke mich auf« unter die ersten Größen des 4 8. Jahrhunderts stellen*). Auch die J. 8. Baoh. Motetten von J. S. Bach, diejenigen Motetten, an welche wir denken, sobald von der Gattung überhaupt gespro- chen wird, haben zum Teil einen Zug der thüringischen Kurrendenmotette. Das ist die Freude am Singen und Klingen, die Selbständigkeit des musikalischen Elements im Chorsatz. Bach ging allerdings über den Durchschnitt der heimatlichen Vorbilder schon darin hinaus, daß er seine Motetten für Begleitung schrieb. Diese Tatsache steht durch das Zeugnis von Ph. E. Bach fest, sie ergibt sich aus den harmonischen Verhältnissen vieler Stellen, deren Akkorde nur dann richtig sind, wenn man den Baß als einen 4 6 füßigen Orgelbaß auffaßt. Mit kleinen Änderungen kann man sie jedoch auch a capella singen. Bach faßt in seinen Motetten, man kann fast sagen, alles zu einer höheren Einheit zusammen, ^sls in der Stilgeschichte der Motette bis dahin Schönes und Be- rechtigtes zum Vorschein gekommen war: das voll- endete gesangliche Wesen der frühen Vokalperiode, die Bestimmtheit und den Reichtum des Ausdrucks, welcher die dramatische Periode kennzeichnet, die Frei- heit der musikalischen Bewegung, den Schmuck und die große Anlage des Formenbaues, welche sich mit dem Konzertstil entwickelten. Und er führte alle diese Vorzüge noch auf eine höhere Stufe. Es wird auch von den Sängern, von den Mitgliedern der Chor vereine empfunden, daß diese Bachschen Motetten eine Krone der Gattung sind. Sie setzen ihren besonderen Stolz darein, die Schwierigkeiten, welche in dem häufig orgel-

*) Band XLIX/L der Denkmäler deutscher Tonkunst (herauB- gegeben von M. Seiffert) bringt nahezu ein hundert solcher, meist anonymer thüringischer Motetten. Sie stammen aus der Gott- holdschen Sammlung der Königlichen Bibliothek zu Königsberg. Neben ihr besitzen vir noch eine Beihe ähnlicher Handschriften.

499

artigen Stile dieser Werke liegen, zu überwinden, und e? gibt nichts in dem großen Bereiche der Chorlitteratur, was schließlich mit größerer Lust und Freude gesungen wird.

Obwohl nach den heutigen Obliegenheiten eines Leip- ziger Thomaskantors lange Zeit angenommen worden ist, daß Bach sehr viele Motetten geschrieben habe, müssen wir uns doch mit nur sechs, bei denen die Echtheit ge- nügend verbürgt ist, zufrieden geben. Ihre Textanfänge heißen: >Singet dem Herrn«, »Komm, Jesu, komm«, »Fürchte dich nicht«, »Der Geist hilft«, »Jesu, meine Freude« und »Lobet den Herrn alle Heiden«. 'Dieser durch die gründlichen Untersuchungen F. Wüllners'*') festgestellte Tatbestand, der übrigens mit der Erwähnung nur »einiger« Motetten in Mizlers. Nekrolog übereinstimmt, erklärt sich daraus, daß zu Bachs Zeiten in der sogenannten Sonn- abendsvesper vorwiegend kurze liedartige Sätze, gioße Motetten in erster Linie bei Trauerfeierlichkeiten gesun- gen wurden, also Gelegenheitskompositionen waren. Ohne Zweifel muß es da für Bach niederdrückend gewesen sein, daß so wenig Bestellungen an ihn herantraten. Die Motetten sind beiläufig die einzigen unter den Vokal- werken Bachs, welche den großen Schlaf, in welchem Jahrzehnte lang die ganze Gesangkomposition des Meisters lag, nicht mitgeschlafen haben. Sowohl bei den Thomanern als auch bei andern sächsischen Schülerchören blieben sie im Gebrauch und wirkten als Ansporn des Ehrgeizes. Sie sind es, welche Mozart bei Doles kennen lernte. Vier unter diesen Motetten sind achtstimmig, doppelchörig; eine, »Jesu, meine Freude«, die längste von allen, ist fünfstimmig, die letzte »Lobet den Herrn« hat vierstim- migen Satz und eine besondere Kontinuostimme. Es sind sämtlich Ghoralmotetten, doch ist die Stellung des Cho- rals in den einzelnen Stücken verschieden. Im großen ganzen tritt er mehr als Schmuck und Beigabe auf, denn

*) Vorrede zam 39. Band der Geaamtausgabe von Bachs Werken.

8i*

^ 5P0

als Gmndstätze der Erfindung, als welche ihn die altem Tonsetzer in der Motette gern handhabten. Nnr »Jesn, meine Frende« macht eine grandiose Ausnahme.

ÜAter den aehtstimmigen Motetten Seb. Bachs sind die bedeutendsten die Nr. 4 »Singet dem Herrn« und die Nr. k »Komm, Jesu, komm«. Sie tragen am stärksten Züge Bachschen Geistes, die Kraft und Tiefe der Empfindung, die Kühnheit und Macht des Ausdrucks und die subtfle Feinheit der Auffassung. In der Behandlung und Wirkung des Klangwerkes, in der Güte der sogenannten Faktur stehen die andern ihnen ziemlich gleich. Bm^, Die Motette »Singet dem Herrn« gehört textlich

Singet dem zum großen Teil der Psalmenkomposition an. Es sind HexxiL die bekannten Anfanggyerse des 44 4. Psalms, welche ihrem ersten Satze zu Grunde liegen. Bach läßt sie uns wie aus dem Munde einer von Freude mächtig erregten Menge hören. Ohne alle Einleitung und Vorbereitung führt er uns mitten hinein in das bereits im vollen Schwünge begriffene Jubilieren und Konzertieren der be- geisterten Massen. Obwohl es des Anfeuems nicht bedarf, hören wir doch . AlKnoderato. Dieses freudige Signal durch den ganzen "Jt^^ j j belebt die wunderbar Satz den einen Chor ff •* T -^ fließende und volle dem andern zurufen: M»-gÄ Komposition mit sze-

nischer Anschaulichkeit Der formellen Anlage nach be- steht dieser große erste Satz aus zwei Teilen. Der erste folgt dem herkömmlichen Brauch der Motette, daß jeder selbständige Textgedauke sein eignes musikalisches Thema hat. Wir haben drei Sprüche: a) »Singet dem Herrn ein neues Lied«, b] »Die Gemeinde der HeiUgen sollen ihn loben«, c) »Israel freue sich des, der ihn gemacht hat« infolgedessen auch drei in der Musik dieses ersten Teils sich sondernde Abschnitte. Das Thema a) »Singet usw.« und seine Durchführung ist konzertierender Natur. In den einzelnen Stimmen treten gleichsam die Künstler des Volks hervor und erfreuen die lauschende und zu- stimmende Menge mit den herrlich hinklingenden Figu- ren, in welche sie das Lob Gottes kleiden. Und die

501

Rollen wechseln zwischen den Chören. Das zweite Thema b) >Die Gemeinde der Heiligen« und seine Gruppe ist ruhigerer, ernster, zuredender Natur, das dritte »Israel freue sich« wieder lebhafter, entschieden und feurig. Es treibt zu einer Spitze und an dieser setzt der zweite Teil des Satzes ein: eine großartige Fuge über das Thema:

usw. Die Kinder Zi.onsseb froh . lidi fi.ber ih.re K8iiLge sie soUeit lo . bea

welches die acht' Stimmen nach und nach sämtlich auf- nehmen. Der Schluß dieser Fuge verläuft in rollende Sechzehntelfiguren, welchen Bach in Durchführungen und Episoden eine große Fülle jauchzenden, trillernden und lachenden Naturklangs entnimmt. Gewiß ist die Kunst in diesem zweiten Teil des Satzes eine bewun- dernswerte, unvergleichlich große, aber noch größer ist^ die Freiheit, Macht und Naivität des freudigen Ausdrucks, hinter welchem alles Technische verschwindet Im zwei- ten Satze der Motette, »Wie Väter mit Erbarmen«, tritt der Choral (»Nun lob mein See! den Herrn« ^ist die Me- lodie) ein. Der zweite' Chor singt ihn, der erste Chor (Soloquartett) unterbricht die einzelnen Zeilen mit freien Zwischengesängen, die vorwiegend nur eine mäßige Länge haben und alle sehr schön ausdrucksvoll schließen. Die Hauptwirkung des Satzes ruht auf der Anlage, die eine Szene im Kirchgarten vor die Fantasie ruft. Vom Innern des Gotteshauses klingt leise der Choral herüber, außen wird gewartet und gebetet. Der dritte Satz ist' eine von beiden Chören im regelmäßigen Wechsel durchgeführte Fantasie über das Thema:

Foco Alleg^ro

Lo . bet den Herrn m seinen Theten,lo.bet ihn in seiner grossen HerrÜchkeit.

Ihrem mehr anmutigen Charakter und ihrem Umfang nach ist sie von Bach weniger als selbständiger Satz,

50S ♦—

deon als Einleitang zn dem Finale der Motette gedacht, einer Fuge Aber das Thema:

AI Inwm O. - - - -

Es hat die Händeische Art des langen Ansholens und die regel- mäßige Fignration, die Bach in seinen Chorfugen liebt; die Ausfährang ist verhältnis- mäßig kurz. Am Schlüsse tun sich die Soprane durch einige energische Ausrufe des Entzückens hervor. 8.Bftdi|' Die Motette »Komm, Jesu, komm€ (Nr. 4) ist ein

Kamm, Jesu, Seitenstück zu jenen zahlreichen Kantaten Bachs, in komml welchen er einer erdenmüden, nach Tod und himm- lischem Leben sehnsuchtsvoll verlangenden Stimmung Ausdruck gibt. Derlei Arbeiten gehören zu den gewaltig- sten Äußerungen des Bachschen Gemütes, welches in seiner tiefen, edlen Melancholie eine seiner eigentümlich- sten und ergreifendsten Eigenschaften besitzt Ähnlich dem Gang in den entsprechenden Kantaten entwickelt sich auch die Motette »Komm, Jesu, komm« vom Klagen und Sehnen^ zum Ausdruck einer ruhigen, die himmlischen Wonnen vorausnehmenden frommen Heiterkeit. Dieses Ende kommt hier in der Form eines leicht bewegten, von bescheidenen Koloraturen durchzogenen s/g- Taktes (»Du bist der rechte Weg«), dessen Perioden die Chöre einander in sehr regelmäßigem Wechsel nachsingen. Nur selten treten sich die Gruppen näher; erst bei dem kräf- tigen Schlüsse zusammen. Den Durchgangspunkt zu diesem Abschluß bildet ein kurzes Sätzchen: »Komm, komm, ich will mich dir ergeben«, in welchem dem Ver- langen nach Erlösung von diesem Leben in einem en- thusiastischen, fast gebieterischen, trotzigen Tone Aus- druck gegeben wird. Eine Energie, die der Wildheit nahekommt, beherrscht den Geist dieses Abschnittes, die Form zeigt eine bedeutungsvolle Gedrängtheit in der Führung der Themen und Motive. Der eine Chor, welcher das einfache, fast deklamierende Hauptthema durchführt,

503

tat dies von vornherein in sogenannten Engführungen» cL h. ehe die eine Stimme ausgesungen , setzt schon die andere mit demselben Thema ein. Der zweite Chor verstärkt den Eifer, welcher die Hauptgruppe beseelt, noch durch kurze stürmische Zurufe. Die Perle der Motette, eine Hauptperle im musikalischen Kunstschatz überhaupt, ist aber der erste Satz »Komm, Jesu, komm« durch seinen Aufbau, seine Gewalt und seinen Reich- tum des Ausdrucks und durch die wunderbar schöne gesangliche Natur, welche in dem vielfaltig wechseln- den, immer bedeutend beseelten Leben der einzelnen Stimmen herrscht. Die Anlage folgt dem alten Gesetze über Text und Themen in der Motette. Die Fülle. von Stimmung, in welcher diese Themen erfunden sind, welche /in der Fortschreitung des Satzes, in seinen kleinen und großen Proportionen liegt, klarzulegen würde eine ganze Studie erfordern. Sie fühlt sich auch unbewußt, und wenn der Zuhörer die einzelnen Motive und Themen mit dem Texte vergleicht, wird sie leicht klar. Wie stark in Bach die Empfindung wogte, als er an diesen Meistersatz ging, wird sofort an den ersten Takten ersichtlich. Der Übergang aus den sogenannten Weckakkorden, mit wel- chen die Chöre sich anmelden und die Tonart feststellen, in die bittende Melodie ist der erste Meisterzug. Dann folgt als zweiter: die rezitativartige Wiedergabe der Worte »Das Ziel ist nah, die Kraft ist klein« und so bringt jeder weitere Abschnitt gewaltigste Beispiele lebenswahr empfun- dener, dramatisch warmer Musik. An Inspiration steht dieser erste Satz von»Komm, Jesu, komm« unter Bachs Kom- positionen ganz obenan. Der Choral kommt am Schlüsse der Motette in der verwandten Gestalt einer geistlichen Arie.

Unter den übrigen achtstimmigen Motetten zeichnet ,

»ich »Fürchte dich nicht« formell dadurch aus, daß &• Bftohi I sie in einem Satze ohne Unterbrechung aufgebaut ist. Fürchte dich Diesem Umstand, welcher eine erhöhte Anstrengung für nicht, die ausführenden Kräfte verursacht, ist es zuzuschreiben, daß sie sehr selten aufgeführt wird. An geistigem Gehalt und an Eigentümlichkeit des Ausdrucks steht sie den

-— ^ 504 ♦—

vorher genannten sehr nahe. Namentlich in der ersten Abteilung, die einen Trostgesang einziger Art bildet Der Ton , mit welchem man einer bangenden Seele zuspricht, kann freundlicher und aufrichtender wohl kaum gedacht werden, als ihn hier Bach anstimmt. Dieses »Fiirchte dich nichtc stellt der Furcht eitel Freude, Festigkeit und Kraft gegenüber und tut dies in Tönen, welche ebenso kindlich und herzlich als entschieden klingen und in denen sich Weichheit und Kühnheit der Empfindung wunderbar romantisch mischen. Der ganze formelle Apparat dieses Satzes ist mit einem Schwünge aufgestellt, den man nicht genug bewundern kann. Die Motive zu den neuen Textgedanken a) »weiche nichtc, b) »ich stärke dich«, c) »ich helfe dir auch«, d) »ich erhalte dich« sind alle verwandt, aber alle voll Eigenart, einzelne, wie, »weiche nicht«, voll malerischer Elemente, und sie bringen die Grundidee zu immer steigerndem Ausdruck, ziehen das Gemüt, das der Furcht entrissen werden soll, immer tiefer in die Kreise der Freude hinein. Die Frische der Empfindung spricht sich auch in einzelnen formellen Zügen aus, unter denen sich freie Nonen- akkorde hervorheben. Der zweite Teil der Motette er beginnt mit den Worten: »Ich habe dich bei deinem Namen gerufen« ist geistig hinter das erreichte Ziel gelegt: alle Furcht verschwunden. Ein ungemein inniger Ton be- herrscht diese zweite Hälfte. Der Chorsatz ist vierstimmig geworden, der Sopran singt in langen Zwischenräumen die kurzen Zeilen des Chorals (»Komm, heiliger Geist«) auf die Worte »Herr, mein Hirt«. Die übrigen drei Stimmen fugieren sehr kunstvoll mit drei verschiedenen Themen. Die zum Begräbnis des Rektors Ernesti (i 729) kompo- 6t Baohi nierte Motette »Der Geist hilft unsrer Schwachheit Der Geist hilft, auf« besteht aus vier Abteilungen. Die erste hat die üb- liche Motetten einrichtung: soviel Themen als im Text Ge- danken. Das sind folgende: a) »Der Geist hilft«, b) »Wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sichs gebühret«. Für das erstere hat Bach ein tokkaten artiges Thema ge- wählt, dessen rollende Sechzehntelgänge durch die Stimmen

"^ 505 ♦—

wechseln. Die Anlage weicht von der in den ersten Sätzen der übrigen achtstimmigen Motetten darin ab, daß die Chöre meistens zusammen singen und daß die beiden Themen vieUach ineinander gezogen sind. Die Fortsetzung dieses kräftig schwungvollen Eingangssatzes bildet eine, sofort mit Engführungen An9non tanto.

beginnende Fuge j^K'Ilf P P p IT f P P P P 'P T

über das Thema: lon-dcrn der a«Ut Mlbtt ▼w-trin «m »u/i Be-ate

in wejcher sich ein sinnendes und etwas zögerndes Pathos ausbreitet. Der Schluß nimmt malende Bezüge auf die >un- aussprecjihchen Seufzerc des Textes. Aus dieser ernsten und das Trübe streifenden Stimmung führt eine zweite Fuge heraus über daä kräftig bestimmte Thema »Der aber die Herzen erforschet, der weiß, was des Geistes Sinn sei«. Sie ist nur vierstimmig, wird aber mit Eintritt der Worte »Denn er vertritt die Heiligen« zurDoppeKuge. Ein einfacher Choral schließt. Bemerkenswert ist, daß zu dem ganzen Stück auch von Bach geschriebene Stimmen für Qeigen, Bläser und Orgel (in der Kgl. Bibliothek zu Berlin) vorhanden sind.

Die Motette »Jesu,meineFreude«, nach Mitteilungen '8. Baoh. von B. F.Richter*) zum Begräbnis einer Frau Reese i. J. i 723 Jesu, meine komponiert, ist Bachs größte Leistung in der Choralmotette, Freade. aber ein für das Verständnis und die Ausführung sehr schwieriges Werk. Nicht selten entgeht es Sängern und - Dirigenten, daß hier ein Zyklus freier Variationen vorüegt. Es muß deshalb etwas näher auf sie eingegangen werden.

Der bescheidene Zug ihrer nur fünfstimmigen Be- setzung wird durch andere Ansprüche und Vorzüge wie- der aufgehoben. Sie ist die längste von allen, die reichst- gegUederte und in der äußeren Wirkung mannigfaltigste. Au.ch zeichnet ihren Aufbau eine schöne Geschlossenheit aus. Anfang und Ende stimmen überein. Die Beibehal- tung der gleichen Tonart für die meisten Teile gibt ihr etwas Strenges. Sie enthält so viel Variationen des Cho- rals, als das Francksche lied Verse hat : sechs. Aber jeder

, *) B. F. Richter: Über die Motetten Seb. Bachs (Wissen- schaftliche Beilage der Leiziger Zeitung vom 21./9. 1912).

-♦ 506 ♦—

Variation, die letzte ausgenommen, ist ein frei kom*- ponierter Satz über einen der Bibel entnommenen, in das Kirchenlied eingeschobenen Sprach angefügt. Die Varia- tionen sind zum Teil nur verschiedene Harmonisierungen des Themas, zum Teil große und kühne Paraphrasen.

Der erste Vers bringt den Choral in seiner einfachen K^irchenform im Sopran, aber mit den kleinen, lebendigen, ausdrucksvollen Biegungen der begleitenden Stimmen, an denen man Bach vor Tausenden gleich erkennt. Napaent^* lieh der Tenor tritt mit einer solchen echt Bachschen Wendung in der letzten Zeile heraus. Der frejie Nach- satz über die Worte >Es ist nun nichts« folgt dem Cho- ral wie das Hauptstück der Einleitimg. Er enthält ernste Betrachtungen über die zugrunde liegenden Bibelworte, die man sich, ehe der Chor einsetzt, vom Geistlichen verlesen denken könnte. Der Musiker übernimmt die Rolle des Predigers und legt aus. Die erste Zeile: >£s ist nun nichts Verdammliches an Denen, die in Christo Jesu sind« spricht Bach wie einen Trost in Tränen. Das außerordentlich bedeutungsvoll dreimal herausgehobene > nichts« soll aufrichten, aus dem Sopranschluß bei »Christo Jesu« klingt aber die Wehmut und Trauer. Die nächsten Worte »die nicht nach dem Fleische wandeln c hält Bach in mehrfachen, eindringlichen Wendungen ab- weisend, warnend, am ausführlichsten über das Thema:

1 r r r r r r I r |j 'J r I r r I

die nicht nachdem Fleische wan dein

das sich vom Tenor aus zu einem Fugato der fünf Stimmen ausbreitet. Das bessere Ziel des christlichen Wandels »son- dern nach dem Geist« wird ganz kurz, aber außerordent- lich fest und bestimmt dagegen gestellt. Der zweite Teil besteht aus einer Wiederholung des ersten, aber mit dem

Einsatz von der Dominant aus und ^

mit einer bedeutenden Verlängerung, f * m f' t^ l f' : die aus dem Anfangsmotiv des u 1 ' '

Satzes herausgebildet ist.

607

Der zweite Vers bringt den Choral wieder in der Art des ersten, der Sopran singt die kirchliche Fassung. Die begleitenden Stimmen jedoch singen hier lebendiger als dort, der Satz >Es ist nun nichts usw.c hat den Druck, der über der Stimmung lag, gelöst. Im Nachsatz des Verses >denn das Gesetze, der sich wie die Mehrzahl dieser Nachsätze vom Choral durch den ungeraden Rhyth- mus scharf abhebt, singen nur die hohen Stimmen, beide Soprane und der Alt. Es ist der Klang der Hoffnung und der Glaubenszuversicht. Schon im 4 6. Jahrhundert macht die a capella-Motette von derartigem Farbenwechsel Gebrauch, unter anderen lieben ihn Palestrina und Lasso; bei den Deutschen wird er aber erst mit dem 4 7. Jahr- hundert und mit der Einführung der Motettenbegleitung häufiger. Bei a capella- Aufführungen von >Jesu meine Freude« ist dieser dreistimmige Satz besonders schwierig.

Der dritte Vers beginnt folgendermaßen:

Trotz,

^

^

'mjf i i

rotz dem al . . ten Dra . . chen, trotz dem al .len

Drachen.trotz,

des Ra

^^

cheo.

„h:]n\Jn^'i^^

Dieser erschreckend kühne, freie und energische Einsatz läßt kaum glauben, daß wir es auch hier mit einer Variation des frommen Chorals zu tun haben. Aber schon der Gang des ersten Soprans vom dritten zum vierten Takt (bei a) stellt die Tatsache außer Zwei- fel. Das darauffolgende Unisono (bei b), das der zweiten

--♦ 608 ♦—

Zeile (c) vorhergeht, entspricht dem »Zwischenspiel« des Orgelchorals. Es kehrt auch vor der dritten Zeile wie- der und diese selbst erhält einen, einem Nachspiel glei- chenden Zusatz. Am Schluß der Wiederholung der ersten drei Zeilen hat gerade ihn Bach wunderschön zur Oberleitung in die zweite Hälfte des Chorals benutzt. Er gibt ihm da auf die Worte >in gar sichrer Ruh« den Charakter eines Abendliedes und darauf setzt dann die weiche Stelle ein: > Gottes Macht usw.« Aus diesen bei- den Motiven hat Bach ein Orgelvorspiel zu dem Choral »Jesu meine Freude« gebildet, das vielleicht zum Nach- spiel der Motette dienen sollte. Die Wiederholungen überraschen durch neue Änderungen des bereits ge- änderten Notentextes. Zum Teil folgen diese ^Änderungen dem Sinne der Liedsätze, zum größeren Teil suchen sie einzelne Wortbilder nach der Sitte der Renaissancemusik zu veranschaulichen. Dem Baß fällt dabei die hervor- ragendste Rolle zu, besonders bei den Begriffen des »Tobens« und »Brummens«. Die Kunst liegt bei diesem Verfahren darin, über dem reichen Kleinleben der Kom- position nicht ihren Gesamtcharakter zu schädigen. Auch nach dieser Beziehung ist . diese dritte Variation ein Meisterstück, die Perle der Motette. Denn die Hauptab- sicht: darzustellen, wie ein christliches Gemüt vom Sturm zur Ruhe gelangt, legt sie aufs deutUchste dar. Variation und Nachsatz kehren diesmal das sonst eingehaltene rhythmische Verhältnis um. Jene, als Sitz der Erregung, steht im ungeraden, dieser, lösend und befreiend, im geraden Takte. Der Hauptteil dieses Nachsatzes fugiert frohlockend über das Thema:

^<M JUiJ-i J; p f 1\\ p p p I frrrrffi

Ihr a.ber seid Hiebt fleisch . heb aondern geist

4 gj r 'iT^JiiUffl^j^^^

lieh

r

509

Ein kleiner Zwischensatz über die Worte »so anders Gottes Geist in euch wohnetc schaltet einen Augenblick der Ruhe darein. Sehr sinnig ist der Schluß des Satzes, der mit den Worten »Wer aber Christi Geist nicht hat« sich scharf von der Fuge abhebt. Der Text legte hier einen harten, tadelnden Ton nahe, Bach wählte aber einen ernst klagenden: in einzelnen Wendungen klingt leise eine Erinnerung an den Schlußsatz des ersten Verses, an die Stelle, wo vom »Verdammlichen« ge- sungen wird, hinein.

Diese dritte Variation bildet zwar den Höhepunkt der seelischen Erregung in der Motette und die Empfin- dung strebt von jetzt nach dem kirchlich friedlichen Ton zurück, mit dem die Komposition den ersten Vers ein- setzte. Aber dieser Rückweg ist an immer neuen Schön- heiten reich genug. Als Bach jetzt im vierten Vers »Weg, mit allen Schätzen« den Choral wieder im soge- nannten stilo semplice mit der Melodie im Sopran auf- nimmt, da wills am Anfang, wo die unteren Stimmen zornig ihr »Weg, weg« rufen, scheinen, als wollte er nochmals das Bild zornigen Glaubens malen. Aber sie bekunden damit nur die Fülle der Stimmung, des An- teils, mit dem sie der Führung des cantus firmus folgen und lenken bald in den schwärmerischen und doch knap- pen Ton Eccardscher Kontrapunkte ein, bald der Haupt- stimme vorausdrängend, bald ihre Schlüsse träumerisch umwandelnd. Geradezu elementar wirkt nach diesem Cho- ralschluß der Einsatz des die Variation ergänzenden Ter- zetts »So aber Christus in Euch ist«. Dieser plötzliche Cdur- Akkordist an sich allein eine große, dichterische Eingebung; eine Fülle von Weichheit, das Gefühl vollständigen Ge- borgenseins entströmt ihm und wenn die drei Stimmen auf den freund-

. -,, So a . Der Chri^uB in Euch isl

ano das Thema *" '"

anheben, so bleibt für Todesfurcht nicht der mindeste

Raum mehr, so viel auch und zwar im ernsten Ton vom

»toten Leib« die Rede ist. Eine kürzere oder längere Paiue ▼or diesem Terzett ist eine Sünde an Bach. Im zweiten Teil des Satzes legt die Mosik ein freudiges Gewand an,

ahmungen l p flffff/P P f fP TTTP^F

S^^ das «^ jer Geist ..«».berisi das Le . . .4mi

Thema:

schwongvoU nnd figorenreich dnrch die Stimmen. Am Schloß trübt sich die Stimmung über dem Gedanken an >die Gerechtigkeit« und der Satz endet tiefsinnig in einer phrygischen Kadenz.

Sie bereitet den Einsatz der fünften Variation »Gute Nacht, ihr Wesen« vor, die nach Amoll aus- weicht. Ihr erster Satz bringt den Choral doppelt: als

cantus firmus im Alt und

als Kontrapunkt des Te- fel^flP PlPJi nors. Im zweiten FaU, et- ^ ~ Q^XvLM,ihrWe.^ " was maskiert, nämlich:

freie Um- ^^ P P I p fr p J^ | kehrung von: •^ ^

Aber auch die beiden Soprane fügen die erste Choralzeile in dieser Fassung zuweilen in ihre Melodie ein. Der ganze Satz ist bei sehr kunstvoller Stimm- führung außerordentlich zart und hat auch etwas Ge- heimnisvolles, dies schon deutlich am Anfang, wo die zwei ersten Takte sofort als Echo wiederkehren. Bach hat sich ihn, wozu der Text und die Bestimmung .der Motette Anlaß gab, als sogenannten »Widerruf« gedacht Was es mit diesen »Widerrufen« für eine Bewandnis hat, ist beim »Deutschen Requiem« von Brahms bereits gesagt worden.

Die Form des Satzes war durch die Anlage des Chorals gegeben: zwei Hauptteile, im ersten zwei gleiche Gruppen. Im zweiten benutzt Bach die Obereinstimmung der ersten und letzten Choralzeile, auch mit den kontra- punktischen Stimmen in den Anfang der Variation zurück- zukehren.

Mit dem Widerruf ist die Trauerzeremonie zu Ende; die Komposition ebenfalls. Zur formalen Abrundung nimmt die Motette aber als Nachsatz der fünften Varia- tion den der zweiten Variation mit anderem Text: »So nun der Geiste auf und schließt dann wie sie begann: mit dem Choral im einfach liturgischen Ton.

Die vierstimmige von Bach mit Continuo (d. i. Skizze der Orgelbegleitung) versehene und zweisätzige Motette: »Lobet den Herrn, alle Heiden« steht in der Gleich- S. Bach, . förmigkeit ihres Verlaufs und der Alltäglichkeit ihrer The- Lobet den men und Motive hinter den andern Motetten ähnUch zu- . Hprrn, rück, wie etwa die Lukaspassion gegen die Passionen zu Johannes und Matthäus. Erst gegen 'das Ende hin kom- men einige Wendungen die an S. Bach, insbesondere an den Schlußsatz von »Singet dem Herrn« erinnern.

Süddeutschland ist in der Bachschen Zeit, soweit sie sich augenblicklich übersehen läßt, nur mit einem Kpm- ponisten vertreten, der mit a capella-Motetten auf der alten Höhe steht. Es ist der Salzburger J. E. Eberlin, J. E. Eberlin. dessen durch Commer veröffentlichte Qrgelkompositionen die Aufmerksamkeit auch auf seine Gesangwerke lenken müßten. Nimmt man den Begriff der Motette in dem er- weiterten Sinne, welchen die, Liturgie damit zeitweilig verbunden hat, so ist aus der Zeit nach Bach doch eine größere Anzahl motettenartiger Kompositionen in den heutigen Chorgebrauch und das Konzert überge- gangen. Auch unsere Klassiker sind mit vertreten. Joseph Haydn mit dem unbegleiteten Offertorium »Du J. Saydn, bist's, dem Ruhm und Ehre gebührt« und mit Motetten, der Instrumentalmotette: »DesStaubes eitle Sorgen« % (im Originaltext »Insanae vanae curae«). Das Offer- torium gleicht in seinem milden Geist und in der from- men Führung den rehgiösen Chören der »Jahreszeiten«. Die Augen und die Seele der Komposition bilden die zwei Töne, mit All?moderato. Die große Wirkung ^er

welchen ein- X v\. ^ o | j Motette »Des Staubes

gesetzt wird: ^ Da büft eitle Sorgen« beruht wesentlich mit auf dem elementaren Gegensatz von Dur

5<Ä ^

und Moll, welcher in den beiden Teilen der Romposition mit einer unübertrefflichen Genialität ausgenutzt ist. In dem Zusammengehen von Tonideen und Textideen und in der Einfachheit der Darstellung ist diese Komposition ein Muster, eine jener wenigen Kompositionen höchsten Ranges, in welchen die Kunst ohne Rest in der Natur der Sache aufzugehen scheint. Und doch ist diese Motette nichts als eine geistliche Parodie des Sturmchores aus Haydns Oratorium : »II ritorno di Tobiac ! Ein Seitenstück zu diesem prachtvollen Werke bietet Haydns »Schöpfung« ^n dem Chor »Verzweiflung, Wut und Schrecken« mit dem Alternativ: »Und eine neue Welt«. H. Haydiii Von Haydns Bruder Michael ist die edel und ruhig

TeneWae. geführte, kurze a capella-Motette »Tenebrae factae sunt« zu nennen, eine Charfreitagskomposition , welche ihren Ruhm namentlich den in Mozartsche Schönheit getauchten Wendungen verdankt, mit welchen sie an den beiden Schlußstellen des Satzes »dum emisit« dem W. A. Mozart,^ Schmerze Ausdruck gibt. Von Mozart selbst sind hier Motetten, drei Werke anzuführen, das »Ave verum corpus« (vom Komponisten Motette betitelt), das Offertorium »Miseri- cordias domini cantabo« und die Hymne »Ob fürchterlich tobend«. Das weltbekannte »Ave verum« gehört zu Mozarts letzten Werken und trägt als solches dea sub- jektiven Zug sanfter Wehmut, welcher den meisten von ihnen eigen ist. Das kurze Stück, zu welchem Orchester- begleitung gehört, ist wahrscheinlich ^für das Fronleich- namsfest des Sommers 4 794 bestimmt gewesen und setzt in dem einfachen, liedartigen Stile ein, welchen die £in- ' lagen für diese volkstümliche Feierlichkeit in jener Zeit zu tragen pflegen. In dem kurzen Rahmen hat ihnen aber Mozart einen großen Zug gegeben. Bei der zweiten Hälfte »esto nobis« tritt er ein. Das Offertorium »Misericordias usw.«, welches Mozart in seinem 4 9. Jahre schrieb, ist dadurch in erster Linie eigentümlich, daß es die zwei Seiten, von denen aus sich das Leiden des Herrn auf- fassen läßt, in der Musik streng und formell aufs Deut- lichste auseinanderhält und diese Scheidung durch alle

Variationen bis ans Ende festhält. Die Trauer klingt in dem schwermütigen Rhythmus durch, mit welchem das »Misericordias« immer wiederkehrt, die Begeisterung und die Dankbarkeit über das Heil, welches den Men- schen durch Christi Tod gewonnen ist, in den Moti- ven des »cantabo«. Das unter ihnen in Nachahmungen * und kleineren Fugen- Moder ato. etc.

sätzeh meist verwen- *^|, w m f ImJ) i? ^THrt If =

dete ist: e^U / bo in M.tar 1 ' . wmu

Die Hymne »Ob fürchterlich tobend« wirkt durch den Gegensatz zwischen dem drohend aufgeregten An- fang und dem freundlichen Gebetston des Schlußsatzes. Der ganze Charakter der Komposition hat etwas Szeni- sches und erscheint mehr vom Geist der Bühne als dem der Kirche erfüllt Beethoven ist in der im -Konzert Beethoyan, heimiscl^en motettenartigen Komposition nur mit Arrange- Die Himmel ments vertreten. Unter ihnen steht die großartig pathe- rubmen. tisch wirkende und doch so einfache Hymne >Die Him- mel riihmen« obenan. Namentlich die deklamatorische Episode bei «Wer zählt usw.« hebt sie aus der Sphäre des Lieds heraus, zu dem sie ursprünglich gehört. Auch die übrigen Sologesänge, die Beethoven über Gellertsche Oden komponiert hat, eignen sich für Choreinrichtung, am meisten das erregte Bußstück: »Gott, deine Güte usw.« Von Cherubini ist ein »Pater n oster« zu empfehlen, !•• eheratliil. welches bis zur sechsten Bitte im Stile des Mozartschen Pater noster. »Ave verum« gehalten ist. Dann aber beginnt ein merk- würdig aufgeregtes Allegro, in dem die Stimmen aus leisem Stammeln in eine ungebärdige Ekstase übergehen. Das »Vater unser« kehrt unter den als Motetten und OfiTer- torien in Ansehen stehenden Kompositionen der Folgezeit noch häufig wieder, sowohl in seiner einfachen Bibelform, als in Paraphrasen, unter denen die Mahlmannsche (»Du hast deine Säulen dir aufgebaut«) am häufigsten benutzt worden ist. Die am Anfang des 4 9. Jahrhunderts bekann- testen Kompositionen des Textes waren die von Himmel, Himmel« Fesca (a capella achtstimmig), Spohr. Aus neuerer Zeit Fetoai Bpot^r. ragen die beiden »Pater noster« Fr. Liszts besonders Fr. Lisit

n, 4. 38

hervor. Das erste, für Männerchor ist einfach, das zweite, für gemischten Chor und Orgel (aus dem »Christus«) ent- wickelt sich in außerordentlicher mannigfaltiger, innerer Bewegung. Unter den motettenartigen Offertorien aus dem Kreise der Klassiker, welche heute noch im Konzert zuweilen auftauchen, ist noch des »Salve Regina« (für

F. Schultert, Solosopran und kleines Orchester) von F. Schubert als Salve Regina, einer weichen, liebenswürdigen Komposition zu gedenken.

Das größte Ansehen als protestantische Motettenkom-

J. Q, Schicht, ponisten nach S. Bach genossen Homilius, Rolle und der Motetten. Leipziger J. G. S c h i ch t. Den Zeitgenossen Schichts standen seine Motetten besonders durch ihr intimes Verhältnis zur geistlichen .Arie nahe, der sie den Kern und die Schale des Gemütslebens entnahmen. Zu dem weichen Ton und den bequemen Formen, welche in dieser Gattung herrschten, kehrt Schicht namentlich in seinen kleineren Motetten rasch und gern zurück, nachdem er eine Weile im größeren Stile und im polyphonen Satze sich bewegt hat. Die in derartigen Abschnitten untergebrachten Fugen mit ihren langen Themen und ihrer peinlichen Regelmäßigkeit galten lange als Muster. Ein andrer und bedeutender Künstler ist Schicht in seinen größeren Motetten*), in den Psalmen- und Choralmotetten, von welchen letzteren namentlich die beiden .»Meine Lebenszeit verstreicht« und »Nach einer Prüfung kurzer Tage« wirklich volks- tümlich und bis in die Nähe der heutigen Generation allgemein beliebt waren. Hier ist Kraft und Größe der Empfindung, Freiheit und Mannigfaltigkeit des Stils zu finden. Sie gehören zu den bedeutendsten musikalischen Früchten der Gellertschen Epoche. Ihr vergänglicher Teil liegt im allzustarken Gefühlauftrag, in der Neigung zu trivialen Malereien und Klangeffekten. Begegnen wir doch in der Motette »Die mit Tränen säen« einem Sopransolo mit Brummstimmen. Schichts Schüler bildeten diese Schwächen weiter, die Motette der zwanziger Jahre des

*) Sie waren nach F. Rochlitz (Allgemeine Mas. Ztg. Jahrg. 20, S. 853) als Ersatz der Sontagskantate gedacht

I

i 9. Jahrljunderts beginnt infolgedessen sehr äußerlich zu werden. Stücke, in denen die vier Stimmen das Meeres- brausen und andre Naturerscheinungen malen wollen, in denen über einen leise von Sopran, Alt und Tenor gesunge- nen Choral die Bässe Fanfarenmotive hinschmettern, werden sehr beliebt. Unter den Musikern, welche dem- gegenüber in der Motette eine edlere Richtung mit höherer Bildung and bedeutenderem Können vertreten, ist mit besonderer Auszeichnung Moritz Hauptmann zu M. Hauptmann, nennen, dessen »Salve Regina« den Namen des Kom- Salve Regina, ponisten schnell und weit bekannt machte. Von seinen außerordentlich stimmgerechten Kompositionen, die der schwärmerische Geist der Frühromantik beseelt, be- gegnen wir im heutigen Konzert am häufigsten noch den kleineren, einfachen Stücken: Salvum fac regem, der Trauungsmotette: Ich und mein Haus, dem Morgen- gesang: Kommt, laßt uns anbeten, dem Männerchor: »Ehre sei Gott in der Höhe«, einer der mildesten aber einheitlichsten Kompositionen des verdeutschten * »Gloria«. Durch Mendelssohn, der in Rom an den Idealen der alten Vokalperiode seine Schule gemacht hattie, wurde dann der von Hauptmann betretene bessere Weg auch der allgemeine.

Der Motetten Mendelssohns ist schon in dem F. Mendelssohn, Abschnitt über di^ Psalmenkomposition gedacht worden. Mitten wir. Unter den übrigen ist die Choralmotette »Mitten wir im Leben sind« (achtstimmig a capella) als die im Konzert am häufigsten vorkommende hervorzuheben. Sie ist in drei Strophen gegliedert, von welchen die ersten beiden in der Musik übereinstimmen und nur im Text verschieden sind. Die erste Hälfte bringt ernst und hochfeierUch den Choral. Von dem Abschnitt: >Hei]iger Herr, Gott« ab gerät der Vortrag in eine leidenschaft- liche Bewegung, die stellenweise jenen stürmischen, düsteren Charakter annimmt, der uns die mittelalterliche Zeit vor die Fantasie ruft, wo diese gewaltige Notkersche Sequenz das Schlacht- und Sterbelied trotziger Lands- knechtsscharen war. Die dritte Strophe hält den Choral-

33»

ton wieder durchweg ein. Von den begleiteten Mendels- sohnschen Chorwerken, welche Motettenchaxakter besitzen, ist im Konzert namentlich die Hymne (för Sopran- oder F. Me^delstolin, Altsolo, Chor und Orgel) »Hör mein Bitten« einge- Hör* mein bürgert. In dem formell interessanten und ilußerst wohl- Bitten. klingenden Werke lebt dramatischer Geist Neben ihr F. Mendelssolui, kommt noch häufig die kleine Hymne »Verleih uns Verleih' nns. Fried en< (Text von Luther) vor, ein Werk einfachen, natürlichen Ausdrucks, in welchem sich Instrumente und Singstimmen in Innigkeit und Herzlichkeit des Gesanges zu überbieten scheinen. Die Komposition, welche Men- delssohn über »Tu es Petruse für Chor und Orchester geschrieben hat, ist ziemlich unbenutzt geblieben. Sie folgt auch stilistisch den altern Bearbeitungen des alten berühmten Motettentextes. Unter den motettenartigen Sätzen, welche Mendelssohn für den Männerchor ge- F. tfendelsBohn, schrieben hat, sind nur die beiden Stücke »Beati mor- Motettenfür tui« (unbegleitet) und der feurige Vespergesang »Qui Mänrerchoi. regis Israel, intende« auf dem Repertoire. Unter den Komponisten, welche von seiner Schule ausgingen, ver- B. F. Biohter. dient namentlich E. F. Richter in Erinnerung zu bleiben. Von seinen kleinen Motetten ist »Bleibe Herr, o sieh uns flehen«, von den größeren: »Als Israel aus Ägypten zog« ein Schmuck für jedes a capella-Konzert. Mit dem, was der Text seelisch verlangt, sei es schlichte innige Em- pfindung, sei es große Fantasie, verbinden sie in jedem Fall eine trefiEliche, auch der äußern Wirkung ungewöhn- lich sichere Satzkunst.

Mit einer neuen, eigentümUchen Leistung bereicherte B. SohnmaAB, R. Schum ann das Gebiet in seiner für doppelten Männer- Verzweifle chor geschriebenen Motette »Verzweifle nicht im nicht. Schmerzenstal«. Die Komposition ist so wenig eigent- lich kirchlich, als es der ihr zugrunde liegende Rückert- sche Text ist, aber sie ist ein kühner Ausdruck einer voUen Empfindung, vielfach ergreifend, durchweg fesselnd. Die allgemeine Beachtung verdient sie schon um des Ver- suchs willen, in die kirchlichen Kompositionen des Männer- chors die Formen des großen Stils wieder einzufahren.

Den von Hauptmann und Mendelssohn erschlossenen Weg, die Motette vor Experimenten durch Rückkehr zu den alten italienischen Mustern zu bewahren, hat später die neue Berliner Schule unter Führung von E. Grell glücklich weiter B. Qrell« verfolgt. Die Anregungen dazu gehen auf G. v. Winterfeld und auf die Kronpxinzenzeit des Königs Friedrich Wilhelm IV. zu- rück. 0. Nicolai, später C Reinthaler und andere jung6 Talente wurden von der preußischen Regierung nach Rom zum Studium alter Kirchenmusik geschickt Ähn- lichen Bestrebungen verdanken wir die Motetten des Russen Bortniansky, der in Nie. v. Wilm einen D. Bortnlaikaky. glücklichen Nachfolger gefunden hat. Daß sie in der H. t. Wilm. katholischen Motette des deutschen Sprachgebiets allge- mein gesiegt haben, ist ein Verdienst des bereits erwähnten Cäcilien Vereins. Von dem reichen Motettensegen, auf den er verweisen kann, nimmt das Konzert zu seinem Schaden keine Notiz. Es sind Arbeiten genug darunter, die mit der Stilschönheit alter Zeiten modernen Geist verbinden; unter ihnen seien die E. Stehles (Terra E. Stelila. tremuit) hervorgehoben. Von den in der großen Welt bekannten Komponisten gehört auch F. Liszt mit einigen F. Liiit. * Kleinigkeiten in der Motette ( die kleine Hymne »Ave maris Stella«, ein einfach frommes Stück in der Weise des altertümlichen Kirchenliedes, ist darunter die der all- gemeinsten Zustimmung sicherste ) und ebenso J. R h e i n - J. Rhelnberger. berger zu den Cäcilianem. Nur eine leichte geistige Ver- bindung besteht zwischen ihnen und Peter Cornelius; F. OomeUiis. in der Form geht er neuere eigene Wege. Seine ersten Beiträge zum geistlichen a capella -Gesang sind die unter Lisztschem Einfluß entstandenen kleinen geistlichen n n e r ch ö r e. An ihrer Spitze steht eine rezitativartige Komposition von »Mitten wir im Leben sind«, die an Un- mittelbarkeit des Ausdrucks in neuerer Zeit kaum ihres- gleichen hat. Todesangst, Gnadenbedürfnis, Gottvertrauen strömen hier nacheinander so heiß und stark aus dem Herzen des Komponisten, daß der Hörer leidenschaftlich mit betet. Bei diesem Verhältnis zu Gott und den ewigen und tiefsten Fragen des Menschentums ist GorneUus auch

—^ 518 ♦—

in den großen fGr gemischten, zum Tdl doppelten Chor geschrieben^! Motetten des Zykins »Liebe« geblieben. Auch diese Mnsik ist mit einer manchmal brennenden Wärme komponiert, ist dorchans Ton gewordene Inner- lichkeit. Die Form dieser Motetten ist anf der Grundlage des Lieds anfgebant, ihre Dehns Schnle zeigende Stimm- führung nicht leicht, ihr Wohlklang außerordentlich. Nach der Glut der Empfindung, nach der Unmittelbarkeit des Ausdrucks, nach der schrankenlosen Freiheit der Modu- lation sind die geistlichen Chöre von Cornelius durch und durch eine neudeutsche Frucht und standen als

A Bitter, solche lange vereinzelt In Alexander Ritter op. 41 (Hauptstück >Wohl bin ich nur ein Ton« für 4 2 stimmigen H. Wolt Chor) und in Hugo Wolfs vierstimmigen geistlichen Lie- dern auf Eichendorffsche Texte femden sich erst spät be- deutende Seitenstücke dazu ein; den neuesten Zuwachs bilden die 16stimmige Hymne: > Jakob, dein verlorner

R. Straofi. Sohn usw.« von Richard Strauß (op. 34, Nr. %) und dessen »Deutsche Motette« (op. 62). Jene führt die schöne, Gottvertrauen in Not predigende DichtnngF. Rückerts in der Weise dreiteilig aus, daß der dritte Teil zum ersten im Verhältnis gesteigerter Glaubenszaversicht steht, dem mittleren, einer Fuge über die Worte: »Zwar bedenklich ist unser Gang usw.« die Erregung und Sorge zugewiesen . wird. Ihn singen die drei unteren Chöre allein, in den beiden Ecksätzen steht ihnen der erste Chor als Personi- fikation religiöser Seelenruhe poetisch und dramatisch sehr wirksam gegenüber. Die hier von Strauß angewen- dete Polyphonie beschränkt sich auf kleine, im wesent- lichen nur das Kolorit und die Harmonie bereichernde und belebende Nachahmungen, die Melodik nähert sich wiederholt dem Rezitativstil. Die Wirkung der Hymne ist bei guter Ausführung nicht bloß blendend, sondern dank der überwiegenden Kongruenz von Inhalt und Form auch tief. Auch die »DeutscheMotette«, der ebenfalls eine Rückertsche Dichtung, ein frommes, schönes Abend- gebet, zugrunde liegt, ist ein ganz eigener und bedeutender Beitrag zur neuesten geistlichen a capella - Musik. Im

^ 519 *>-*

tiefen Erfassen und schwännerischen Ausbreiten der Stimmungen, in der motivischen Erfindung, in der kunst- vollen, an Engführungen und Neubildungen reichen und doch einfachen, klaren Arbeit, in der Unterordnung der köstlichen Einzelheiten unter die Hauptziele ist sie reif und meisterliqh, ist deutsch und eine natürliche Frucht edler Rehgiosität. Sie steht in mehr als einer Beziehung über der Jakobhymne, teilt aber mit ihr das etwas ein- seitige Streben nach koloristischen Wirkungen. Dieses hat an mehr als einer Stelle die vier Solostimmen, die zu dem i 6 stimmigen in vier Gruppen vorgehenden Chor hinzutreten, mit zu billigen und spielerischen Einfallen belastet, es hat den Komponisten auch zu Ansprüchen an die Höhe der Soprane und an die Tiefe der Bässe verleitet, an denen die Verbreitung der wertvollen Motette scheitern muß.

Die letzten, weiter bekannten protestantischen Kom- ponisten, die im geistlichen Konzert mit Motetten großen Stils dauernd Fuß gefaßt haben, sindR. Volk mann und B. Volkmaan, Job. Brahms. Von ersterem ist es das Weihnachts- J. Brahms. lied »Er ist gewaltig und starke, eine Komposition für Chor und Solostimmen, welcher eine Dichtung aus dem 4 2. Jahrhundert zu Grunde liegt. Auch Volkmänns Musik geht alten Spuren nach. Sie lenkt in den naiven, wilde I^aft und Zartheit vereinenden, auf kleine reizende Malereien bedachten Ton ein, welcher dem deutschen geistlichen Volkslied im Mittelalter eigen war, und die episodenreiche, die Baulinie mit allerlei Nischen und Erkern durchbrechende Architektonik dieser Komposition beruht höchstwahrscheinlich auf dem Studium des Orlando di Lasso. Unsere Zeit hat aber auf allen Gebieten der Kunst eine Vorliebe für diesen archaistischen Zug, wenn er geglückt ist. Beim ruhigen, stillen Studium dieser Motette, wo man bei Einzelheiten kritisch verweilen darf, kann man sich einer Reihe Bedenken nicht erwehren. ' Die Komposition wurzelt vielfach im Instrumentalen daher auch ihre große Schwierigkeit und die Entwick- lung ist bunt und sprunghaft. Wenn der Gesamteindruck

--♦ 5t0 ♦—

einer lebendigen AoffQhrang trotzdem ein positiver und starker ist, so verdankt sie das der großen geistigen Kraft, welche das Ganze zusammenhält, und dem lebendigen eigenartigen Ansdmck, welcher die Mehrzahl ihrer kleinen Bilder erfüllt. In den anheimelnden, wie in den fremd- artigen lebt etwas vom Elindergeist und der raschen Fantasie der frühen Jugend, die schaorige Eindrücke ebenso schnell wieder abschüttelt, als sie dieselben auf- nimmt Der bedeuten^ßte , durch einheitliche und er- habene Stimmung hervorragende Satz der Komposition ist der dritte: »Ich habe lange, lange«, welcher Soli und Chor dramatisch zusammenwirken läßt Das Ende des außerordentlich malerischen zweiten Satzes: >Ein hohes Haus« bereitet ihn vor.

Brahms hat auf dem Felde der Motette anhaltend und mit bestimmten Absichten gearbeitet. Er begegnet sich mit Mendelssohn im künstlerischen Ziele in soweit, als auch ihm in der Rückkehr zu den älteren Mustern für Geist und Stil der Gattung das Heil liegt Aber während Mendelssohn seine Vorbilder in den verwandten milderen Naturen der alten römischen und venetianiscfaen Schule suchte, wendet sich Brahms mehr an die Meister der &afl und Entschiedenheit, welche in der altdeutschen und niederländischen Schule die Form zu zwingen such- ten. Den meisten seiner Motetten ist ein gewisser Holz- schnittcharakter, ein rauher und herber Zug eigen.

Aus den älteren Motettenwerken, welche wir von

J. Brahma, J. Brahms besitzen, hat sich das Konzert nur die Kom- r.aB dich nur Position des Flemmingschen Liedes: »Laß dich nur nichts. nichts nicht dauren« (für vierstimmigen Chor und Orgel) angeeignet. Es ist wie die anderen geistlichen Kompositionen, welche der früheren Periode dieses Ton- setzers angehören, ein Studienwerk im strengen Stile: die Stimmen führen einen Doppelkanon durch. Es enthält aber dabei ebenfalls eine Fülle warmer Empfindung, einen

J. Brahmi, eigen verschleierten Ausdruck bittender Zuversicht Häu- Zwei Motetten figer gelangen die beiden Motetten des op. 74 zur Aus-

(op. 74). führung: »Warum ist das Licht gegeben den Müh-

621 ♦—

seligen?« und >0 Heiland^ reiß die Himmel anf!« Die letztere ist eine Ghoralmotette von ähnlicher Anlage wie die im Opus 29 gegebene Komposition von >Es ist das Heü uns kommen her«, die Choralmelodie wird in vier Versen variiert Sie erscheint nacheinander im Sopran, im Tenor und im B^ß, als cantus firmus in der ursprünglichen Form ; die kontrapunktierenden Stim- men umsingen sie mit Motiven, welche zum Teil aus ihr selbst abgeleitet sind. Erst dat» Finale stellt die Grund- melodie in einer leicht erkennbaren Umbildung auf. Die Stimmung des Werkes setzt mit harter Klage ein und mildert sich von Abschnitt zu Abschnitt mehr zu einem trösthchen und hoffnungsvollen Ton. Im Finale, beim Eintritt des »Amen«, entspringt aus ihm ganz plötzlich ein kräftig energischer Ausbruch der Glaubensfreude. Die andere Motette des Heftes »Warum«, eine im allge- meinen zugänglichere und moderner gehaltene Komposi- tion, hat in dem Eingangssatze ihre geistige Spitze. Die geniale Art, in welcher dieses schwermütige fragende »Warum« deklamiert ist und immer wiederkehrt, ergreift mächtig. Zuletzt ist der Motettenschatz von Brahms um ein weiteres wertvolles Heft bereichert worden: die drei »Fest- und Gedenksprüche« des op. 409. Inder verschleierten Sprache der Offenbarung Johannis preisen und mahnen diese Motetten unser deutsches Volk; ihre Töne sind ein dreifaches Ruhmeszeugnis für die patrio- tische Empfindung des Komponisten, für die Kraft seiner musikalischen Seele und für die Meisterschaft, mit der er die schwierigsten Formen des gebundenen Stiles beherrscht Neben Volkmann und Brahms können von bekannten Komponisten noch A. Becker, H. von Herzogenberg, es können M. Blumner, R. Succo und andere Schüler Grells, es können J. G. Herzog, R. Palme, G. Rebling, F. W. Rust, R. Pappe ritz als Vertreter der neuen Motette genannt werden, G. Schreck (Motetten für Fest- zeiten) und sonstige Dirigenten von Kirchenchören fahren fort, das Feld zu bebauen. Aber Museumsbedeutung, d. i. ständige Verwendung im geistlichen Konzert, haben nur

-^ 5JJ ♦—

wenige nette Motetten erreicht nnd die Zahl namhafter Tonsetzer, die 'dem kirchlichen Bedarf entspricht, wird immer geringer. Hier hat sich seit der Mitte des i 9. Jahr- ^ hunderts eine bedenkliche Wendung vollzogen. Noch Donizetti schreibt ein >Miserere€, nnd von Berlioz werden in den französischen Kirchen noch jetzt kleine Kirchenstücke gesungen, wir finden nicht bloß einen Spohr, wir finden auch einen Suppä (Requiem) und einen Kücken (Motetten) unter den geistlichen Kompo- nisten. Und heute? Bis auf wenige Ausnahmen stehen die Spitzen der jüngeren deutschen Tonsetzergeneration von der Kirche abseits. Die alte Musik kann diese Lücke nur zum Teil füllen; es steht schlimm, wenn eine ganze Epoche die religiöse Kunst ignoriert Da die Konzert- chöre deren weiterem AbÜEÜl durch Beachtung des Cruten wenigstens einigermaßen steuern können, seien hier die Namen solcher neuester Motettenkomponisten vorgefahrt, die eine solche gleich den bereits, genannten mit einzelnen oder mehreren Werken verdienen. Der Schwerpunkt dieser neuesten Motettenarbeit fallt auf das geistliche ChorUed, doch kommen auch noch Motetten im großen Stil vor Es sind W. Berger, G.Flügel, P. Gerhardt, G.Hecht" C. Heubner, H. Hohmann, C. Junne, F. Kauffmann' 0. Kisler, V. Schurig, F. Thieriot, 0. Thomas' W. Voullaire.

Wie schon die Eigentümlichkeit der Motetten von Peter Cornelius zum Teil mit auf den formellen Einfluß seines Berliner Lehrers S. Dehn beruht, so macht sich auch in der hier eben genannten Reihe eine Berliner Schule und insbesondere das Vorbild Friedrich Kiels in einer lebendigen und kräftigen Stimmführung geltend. Besonders deutUch kommt sie in den Arbeiten W. Bergers zum Vorschein, reicht aber über diesen Tonsetzer hinaus und bis in die alleijüngste evangeUsche Motettenarbeit hinein. Wichtig ist es, daß in dieser Berliner Motette der letzten Jahre eine ausgesprochen schwermütige Gedanken- richtung die Oberhand genommen hat. Unverkennbar steht diese Wendung mit den »Vier ernsten Gesängen«

—4 523 ♦—

von Johannes Brahms in Zusammenhang, die ja weit- hin in der deutschen Musik ihre Spuren hinterlassen hahen, besonders starken aber in dieser Berliner Mo- tette. Denn ihre Musik baut sich vorwiegend auf die Trübsal des Buches Hiob und auf die Klagelieder Jeremiae auf. An der Spitze der Gruppe stehen die drei Mo- tetten für gemischten Chor und Orgel (op. 60) von Georg Schumann, Kompositionen, die Hiobs ganz vonG. SohamafliL Gram, Hohn und Verzweiflung erfüllte Weltauffossung mit einer fast beispiellosen Strenge und Unerbittlichkeit wiedergeben. Verhältnismäßig reich an weichen Zügen ist das dritte Stück: »0, daß ich wäre wie in den Tagen usw.«. Hier gründet der Text seine Klage auf die Erinnerung an hellere Tage der Jugend, der Musiker geht noch einen Schritt weiter und führt uns einen durch seine Liebenswürdigkeit rührenden Hiob vor. Die Musik gewinnt zum Teil durch kleine Züge, wie intime Intervalle, schwärmerisch festgehaltene, kleine Motive, zarte, eigen gestaltet^ Wechselakkorde. Noch mehr beruht aber ihre ergreifende Wirkung auf der Eingänglichkeit und Freund- lichkeit der Melodik und schließlich auf dem höchst ein- fachen Aufbau der Form, die ganz an das zweiteilige lied mit Wiederholungen anschließt. Die beigegebene Orgel- begleitung unterstützt und belebt den Klang, weseniUch ist sie nur bei der ersten Motette: »Wo ist ein Mensch, wenn er tot?«, bei der nach der innerlich sehr erregten Einleitung ablenkend ein Stück Tonmalerei, eine auf Orgel- figuren gestützte Wassermusik, eintritt. In der Erfindung geht diese erste Motette in der ersten Hälfte auf Einzel- heiten und auf rhetorische Wirkungen aus. Dir wertvollster Teil ist das schließende Adagio über die Worte »So ist ein Mensch, wenn er schläft usw.«. Es stellt sich durch den warmen melodischen Ausdruck, der alle Stimmen beherrscht, zu dem vorausgegangenen starren Ton in einen schönen Gegensatz. Die äußerlich erregteste unter den drei Motetten ist die zweite: »Muß nicht der Mensch immer im Streit sein?«, der Hauptträger ihres leiden- schaftlichen Tones eine sehr geschickt ausgenutzte Zwei-

chörigkeit Den Eindruck des Stückes entscheiden die beiden Klagen: >Also hab^ ich mich gesehntc und >Also wer in die Hölle hinunterfahrt«. Bei ihnen treten die acht Stimmen zum einfach homophonen Satz zusammen. Unter den weiteren von demselben Komponisten ver- I öffentlichten geistlichen Sätzen für a capeUa-Ghor ver-

dienen die drei, über Psalmentexte geschriebene Motetten des op. 42 besonders hervorgehoben zu werden. Sie zeigen, welch starker Teil der besonderen Modulationskunst eines Peter Comehus sich auf G. Schumann vererbt hat. Nach Klang und Satzkunst fesselt am meisten die erste (acht- stimmige) Nummer: >Komm' heiliger Geist«, die beiden andern prägen sich durch die liebenswürdige Beweglich- keit des Ausdrucks ein, am stärksten der Schluß der dritten (>Herr, erhöre meine Worte«) bei der Stelle: »Ich bin so müde vom Seufzen«.

Gleich meisterlich wie die Schumannschen sind, die F. E. Eooli. a capella-Arbeiten Friedrich £. Kochs. Obenan stehen unter ihnen die zehn deutschen Motetten des op. 34, die, obwohl ihre Texte den Jeremias bevorzugen, doch einen größeren Reichtum an Stimmungen bergen und im ganzen mehr auf den hellen Saiten des Lobens und Dankens, als denen der Klage und Trauer spielen. Ähnlich wie in den Oratorien Kochs tritt auch in diesen Motetten, nament- lich in ihrer motivischen Erfindung, ein starker Einschlag jener Volkstümlichkeit hervor, zu dem sich die deutsche Musik seit den Zeiten der Romantiker mehr und mehr wiederbekennt. Auch der Aufbau dieser Motetten zeigt in seiner Neigung zu Wechsel und Gegensatz , diesen volkstümlichen Zug, am deutlichsten spricht er aber aus der Melodik und ihrem Wohlgefallen an bestimmten Lieb- lings Wendungen. Mit einer der herzigsten beginnt die sechste Motette: »Und du, Bethlehem Ephrata«. Dieser schlichten Anmut tut es keinen Abbruch, daß Koch auf der andern Seite einer der entschiedensten Vertreter der Verstandesmäßigkeit und der geistvollen Berechnung ist, die zu den Kennzeichen der Berliner Schule gehört Hierdurch erhalten die Kochschen Motetten ihr eigenes

Gesicht und ihren Charakter, und in der Regel gelangt er mit sehr einüachen Mitteln, einer ungewöhnlichen, aber berechtigten Wortbetonung, einem unerwarteten, scharfen Rhythmus, ans Ziel. Die Stimmführung und der Chorsatz sind verhältnismäßig reich an kleinen Fugatos und andern älteren Nachahmungsformen, das eigene Gepräge liegt in der großen Freiheit der Polyphonie, die um neue Wege, die Gedanken durch schwärmerisches Versenken oder durch schwungvolle Steigerungen zu beleben, nie verlegen ist

Eine Hauptstütze der Berliner Schule verspricht Richard Roß 1er zu werden, der bisher nur mit vier B. Rößler. geistlichen Chören (op. 26) hervorgetreten ist.

Diese Sätze, deren Texte aus den IQageliedern Jeremias stammen, machen im ganzen noch einen etwas bunten und im Stil schwankenden Eindruck, enthalten aber in aus- drucksvollen Mittelstimmen, in der Unbefangenheit, mit der sich alte und neue Schule, harmlose, fast primitive und ganz eigene kühne Kunst die Hand reichen, Proben eines starken und ungewöhnhchen Talents. Sie sind, wie sie sind, der Beachtung wert und wohl auch des Erfolges sicher. Denn sie führen uns zwar an verwunderliche, aber nirgends an tote Stellen.

Zu den hervorragenden Vertretern der Berliner Schule darf auch Martin Grabert gerechnet werden. Die Mo- M. Qrabert tetten seines op. 3i und op. 34 zeigen dieselben Vorzüge, die schon den a capella-Psalmen des Komponisten nach- gerühmt werden konnten: schlichte, immer richtige Emp- findung, geschickter, natürUcher Satz. Der Praxis, namentlich den kleineren Chören, sind diese Arbeiten willkommen, auf ihren Kunstwert drückt die allzu große Zurückhaltung im Ausdruck, der Mangel an Modernität und eigener Art.

Neben diesen jüngeren Kräften haben auch ältere Berliner Meister zur Motette wertvolle Beiträge geliefert. Unter ihnen zeichnen sich die von Fr. Gernsheim durch Stellen malerischer Kraft aus. Außerhalb des Berliner Kreises sind von evangelischen Musikern als eifrige, dem Wert nach verschiedene Motettenkomponistea Arnold

Mendelssohn, Carl Hirsch, Uso Seifert hervorzu- heben. Der fleißigste von allen, der Breslauer Musikdirektor MaxGulbinSjhat ersichtlich Mühe gehabt, für kirchliche Aufgaben, namentlich für den Ausdruck von Freude und Kraft, den richtigen Ton zu finden.

Von neuesten Motetten für Männerstimmen halten

F. Limbert. sich die ziemlich bekannten des op. 23 von Frank Lim-

bert etwas zu bescheiden an den liedertafelton einer

, überwundenen Periode. Weit höheren Wert haben die

' M. Stange, hier einschlagenden Arbeiten von Max Stange, und mit

besonderer Auszeichnung müssen die Nummern i und % F.y. Welngartner. des op. 44 von Felix vonWeingartner, Kompositionen

des >Neujahrshedes€ und des »Gebetsc von Ed. Mörike, hervorgehoben werden. Namentüch der (fünfstimmige) Neujahrschor kann sich an Noblesse, Feinheit und Reich- tum mit den besten Leistungen von Feter Corndius messen.

Im katholischen Gebiet, wo die a capella- Motette vorwiegend als Einlagenmusik verwendet und deshalb von größeren Formen abgedrängt wird, haben auch hier die Gäcilianer mit ihren edel gemeinten, aber etwas nivellieren- den Grundsätzen die Herrschaft. Jedoch, hat es ihnen gegenüber nie an einer die stilistische Freiheit wahrenden Minderheit und in dieser nicht an überragenden Original- geistern gefehlt. Aus dieser erlesenen Gruppe ragt neben Franz Liszt (Pater noster, Ave maris Stella, 0 salutaris A. Biackner. hostia) am höchsten Anton Brückner hervor. Seine Hauptleistung auf diesem Gebiete bilden die (ohne Opus- zahl veröffentlichten) Vier Graduale (Christus factus est. Locus iste, Os justi und Virga Jesse). Das reichste und gewaltigste ist das erste Stück, aber auch die andern legen für die Stärke und Selbständigkeit von Brückners Schöpferkraft ein gewaltiges Zeugnis ab. Die knappen Formen und der geistige Anhalt an den Texten waren seiner Inspiration und der Entfaltung seines Könnens be- sonders günstig. Was insbesondere die geistliche Kom- position betrifft, so stehen diese Gradualen über seinen weit bekannteren und berühmten Messen« sie sind

-^ bf) ^^-

zeitloser, nnd Brückner ist in ihnen niemands Vasall. Der einzige Einfluß, der deutlicher hervortritt, ist der der alten österreichischen Kirchenmusik besten Schlags, wie wir sie in ihrer Mischung von italienischer Feierlichkeit und weicher traulicher Volkstümlichkeit, in ihrer unergründ- lich tief ernsten und doch zugleich beglückenden Wirkung aus den besten Werken W. A. Mozarts, Haydns und ihrer i Landsleute kennen. Bezwingend hoheitlich klingt uns aus ihnen ein spezifisch katholischer Ton entgegen. Diese letztere Eigenschaft teilen mit ihnen in einem starken Grade die Offertorien (op. 24) Carl Thiels und seine C. Tkiel. zwölf lateinischen Kirchengesänge (op. 49). Die ersteren neigen zum strengen, durch Einfügung altlitur- . gischer Elemente belebten und individualisierten Satz, die Kirchengesänge sind Musterleistungen in der einfach- sten und leichtesten Art des Motettenlieds. Das ist echte, erzieherische Volkstümlichkeit.

Als eines bekannter gewordenen Motettenbeitrags von katholischer Seite muß auch noch des umfangreichen achtstimmigen Satzes gedacht werden, den SiegmundS.T. Haaiegget vonHausegger über das sogenannte >Requiem c Fr. Heb- bels (Seele, vergiß sie nicht usw.) geschrieben hat Die Musik beginnt seraphisch schön, die Worte der Dichtung in mystische Zartheit hebend. Bei dem Versuch aber, dem Dichter folgend, die Qualen der von ihren Lieben, vergessenen Toten anzudeuten, hat der Komponist das Augenmaß verloren und sich zu einer »Dies irae<-Malerei von so abstoßender Breite und Härte verleiten lassen, daß darüber die Einheitlichkeit und der Gesamteindruck der Arbeit trotz ihrer schönen Züge in die Brüche geht.

Der Kantate als musikalischer Satzform sind wir wiederholt als dem vokalen Gegenstück zur Suite, als einer Folge von textlich zusammenhängenden und ein Ganzes bildenden Gesangstücken begegnet. Sie kommt bereits im Minne- und Meistergesang vor, ihre erste Ausgestaltung mit den Mitteln der neuen begleiteten Vokalmusik ver-

528 <^—

dankt sie den Italienern) die in ihr zunächst das von der Bahne her Wunder wirkende Phänomen des beglei- teten Sologesanges für Haus und Kirche fruchtbar «n machen suchten. Der P erischen >Euridice€, die im Jahre 4 600 den Sieg der Oper entschied, folgten schon im näch- sten Jahre die als >Nuove Musiche« stolz den Kampf gegen das alte Ghormadrigal ankündigenden Mono- ViftdanA. dien G. Caccinis. 4602 legt die neue Kunst mit L. Via- danas >Concerti ecclesiasticic ihre herrschsüchtige Hand auch auf die musikalische Liturgie, hier mit der Absicht, sich des ganzem neben dem Ordinarium der Messe liegenden Textgebietes zu bemächtigen. Die italienische Motetten- produktion hat unter diesem Ansturm sichtlich gelitten, der kirchliche und geistliche Sologesang selbst aber erst allmählich eine größere Bedeutung erlangt. Alles, was , er im ersten Jahrzehnt seiner Existenz zu Tage fördert, fällt ins Gebiet der Kleinkunst. Beispiele dafür bieten 0. Btrtat«. die Arie devote des Ottavio Durante ebensowohl wie die Poemata etc. unseres in Rom wirkenden Landsman-

B.Ki^btfg6r. nes Hier. Kapsberg er. Soweit sich seine Geschichte**) augenblicklich übersehen läßt, erweist er sich anfangs dadurch am nützlichsten, daß er in der, geistlichen Musik das Monopol des Bibelwortes bricht und der freien reli- giösen Dichtung von frischem zu ihrem Rechte verhilft. Erst als sich die dramatischen Komponisten ihm zuwen- den, wächst er über die Form und den Charakter des Liedes hinaus, baut mehrteilig auf und spricht in gewal- tigeren Tönen. Unter ihnen erscheint als der bedeutend -

Cl. If ont«T«rdi. std Claudio Monte verdi mit seinen in Venedig geschrie- benen »Selve spiritualic. In ihnen hat er u. a. auch sein weltberühmtes lamento d'Arianna, das bis auf den neuer- lichen Fund Emil Vogels im Original nur mit dem Ein- gangsvers bekannt war, vollständig als »Pianto della Madonna« verwendet und parodiert. Ein Neudruck dieser leidenschaftlich schwermütigen Komposition würde sich, mit einer gut und kühn ausgeführten Kontinuostimme im

*) Vgl E. SchmltK. Oeschlchte der Kantate, 1913.

i

--♦ 5t9 ♦—

modernen geistlichen Konzert sicherlich bald einbürgern und namentlich Altistinnen, die sich auf Innerlichkeit und freien Vortrag vei;stehen, zu großem Dank verpflichten^ In Rom sind die Hauptvertreter dieses formenreicheren und inhaltsvolleren geistlichen Sologesanges Dom. Maz-B. Hanocohi. zocchi und Giac. Carissimi. Namentlich durch CarissimiG'. Carlssimi. Wurde die Monodie zur Kantate ^ und dauernd in den Kreis höherer Kunst erhoben. Alle Merkmale, die sie noch heute von anderen Tokalformen unterscheiden: die Zusammen- setzung aus verschieden gestimmten und geformten Sätzen, von denen gelegentlich ein geeigneter zur äußeren Ab- rundung und Verknüpfung des Ganzen wiederholt wird, der Wechsel von mensuriertem Gesang, frei deklamierendem Rezitativ und selbständiger Instrumentalmusik alle diese Kennzeichen der Kantate gehen auf Carissimi zurück. Es gelang ihm zu ihrer künstlerischen Sicherung und Hebung noch ein weiterer, unter den italienischen Verhältnissen besonder^ schwieriger Schritt, daß nämlich in der Kantate, wo angebracht, auch mehrstimmig musiziert, neue und alte Kunst nach langem, verderbHchem Streit verbunden und ausgesöhnt wurden. In dieser Caiissimischen Fassung drang die Kantate in die Kirchenmusik aller Länder, in die französische durch M. Lalande, in die englische #durch H. Pu reell, sie kam auch bald in die deutsche. Deutschland blieb dabei von der Frage: ob Chor, ob Solo ebenfalls nicht unberührt, geriet aber darüber nicht im entferntesten in die Aufregung, von der die italienischen Musiker ergriffen wurden. Ain deutlichsten zeigt der deutsche Musikalienmarkt in den ersten Jahrzehnten des 4 7. Jahrhunderts, wie friedlich sich die verschiedenen Richtungen nebeneinander vertrugen. Da werden 4 608 die bekannten Konzerte Viadanas, mit ihnen italienische Sologesänge und Duette von Cesena, Cesare und andern, ziemlich gleichzeitig aber (zum Gebrauch der Wittenberger Schule) lateinische Gesänge im alten Gregorianischen Stil, also in anbegleiteter Einstimmigkeit angezeigt*). Deutsche

*) A. Göhler, Verzeichnis usw.

n, 4. 34

■-^ 530 «—

Komponisten, Mich. Prätorius, H. Schein, S. Scheidt legen anter verschiedenen Titeln Sammlungen vor, in denen der neuen Kunst mit ein- und zweistimmigen Liedern und kleinen Kantaten, der alten mit achtstimmigen Motet- ten gedient wird. Höchst gelassen bemerkt Hammer- schmidt in der Vorrede zum vierten Teil seiner Musi- kalischen Andachten: etliche hörten lieber Motetten, etliche lieber Konzerte, beide Parteien sucht er zu be- friedigen. Der Toleranz halber gibt H. Albert seine ein- stimmigen Arien auch der mehrstimmigen Aufführung preis. R. Ahle auf der andern Seite erlaubt, daß von seinen vierstimmigen Sätzen nur eine Stimme, gleichviel welche, gesungen und die Harmonie irgendwie instrumen- täliter ergänzt wird. Auch in Gesangbüchern, denen Melodien mit Baß beigegeben sind, wird die Frage nach einstimmiger oder mehrstimmiger Ausführung von Job. Grnger bis auf Schemelli offen gelassen. Im ganzen standen jedoch die deutschen Komponisten, soweit sie Musiker von Beruf waren, mit dem Herzen auf der Seite der alten Polyphonie. Anders als die italienische ging die deutsche Motettenkomposition während des 47. Jahrhun- derts quantitativ durchaus nicht zurück, zweitens kennen wir eine große Anzahl geringschätziger Urteile , die in diesen Kreisen über den neuen Sologesang gefallt wur- den, drittens bilde» die Komponisten, die von J. Schop und .Sam. Beyer bis in Telemanns Zeit mit Jahr- gängen kleiner Konzerte und musikalischer Andachten für nur eine Stimme in Druck kamen, die Minderheit gegen die Herausgeber stimmreicherer Konzerte. Erst von der Mitte des 17. Jahrhunderts ab kommt der deutsche Sologesang von der Schattenseite weg unter die Sonne. H. Albert hat noch seine meisten Sololieder für Chor um- gearbeitet; nach seiner Zeit begann man Eccardsche und andere Chöre für Solo mit Begleitung zu arrangieren.

Daß schon früher die zünftige Abneigung gegen den neuen Sologesang im Gottesdienst bekämpft und auch in die deutsche Kirchenmusik die Kantate eingeführt wurde, verdanken wir Männern, die die italienische Erfindung

534 ^>—

an der Quelle, öder doch im echten, reicheren Import kennen gelernt hatten. Durch sie wurde im Gottesdienst und in der Hausandacht der beweglichere, phantasie- vollere Geist der Renaissancezeit mit Entschiedenheit, aber meistens in einer Form, die Haus und Altar zu- sammenfügte, zur Geltung gebracht. Die meisten Kompo- sitionen dieser Art erschienen unter dem an Viadana anknüpfenden Titel »geistliche Konzerte«; erst im 4 8. Jahrhundert wird er allgemein durch die von Österreich und Süddeutschland vordringende Bezeichnung Kantate ersetzt. Aber noch Bach betitelt die Mehrzahl seiner Kantatenautographe als Konzert.

Wenn auch nicht die heutige Kenntnis des Material- bestandes, so erlaubt doch die Wahrscheinlichkeit die Annahme, daß die frühesten deutschen Kirchenkantaten auf katholischem Gebiet entstanden sind. In neuen Par- titurausgaben liegen solche allerdings erst aus der zweiten Hälfte des 1 7. Jahrhunderts vor. Es sind die traulich an- 'mutenden Arbeiten Kaiser Leopolds! (im ersten Band Leopold I. der österreichischen Kaiserwerke) und die Geistlichen Konzerte von J. K. Kerll (Denkmäler der Tonkunst in j, K. Keill! Bayern H, 2). Bilden diese Kompositionen Kerlls auch nur eine neun Nummern starke Auswahl, so zeigen sie doch zur Genüge, daß die Kirchenkantate innerhalb eines reichlichen Menschenalters eine bedeutende und eigene geistige Höhe erreicht hatte. Die Jugend der Gattung, den Einfluß, den die venetianische Oper auf sie übte, verraten sie durch die Lust an reichlichen Wortmalereien, die ja der ganzen deutschen Kirchenmusik bis in die Rezitative der Bachschen Passionen und Kantaten hinein verblieben ist. Ihr Wert beruht aber darauf, daß sich hier der Verkehr mit Gott eine musikalisch neue, mensch- lich freiere und unmittelbarere Bahn gebrochen hat. Es steht hinter dieser Musik eine selbstbewußte, kraftvolle Generation, die nicht bei jeder kleinen Bitte und Not auf die Knie fällt, die in der Welt mehr Großes und Wun- derbares, als Übles sieht; vielleicht aber verdankte sie ihren erhebenden und schwungvollen Charakter noch mehr ,

34*

^ 53t ♦—

der persönlichen Bedeutung Kerlls. Jedenfalls g^ören seine geistlichen Konzerte zu den hervorragendsten des 1 7. Jahrhunderts, namentlich auch deshalb, weil Kerll der neuen Formen und Ausdrucksmittel vollständig, selbst mehr als Schütz, Herr ist. Selten sind bei einem Kom- ponisten der Zeit die Koloraturen so wie bei ihm natür- lichster Erguß der inneren Empfindungsfülle und Begeiste- rung und dienen so dazu, den neuen Ton für die Freude an Gott zu verstärken. Kerll ragt durch eine Tiefe der Textauffassung hervor, die sich formell in dissonanzen- reicher, kühner Harmonie äußert; der Mystik des Kultus wird er durch ungewöhnlich häufige Verwendung von Echos gerecht. Die vorzüglichsten seiner neugedruckten geistlichen Konzerte sind die Nummern 4, 5, 6, 9. Die Nummer 4 ist ein Baßduett über den Text »Refugit 3ol«. Kerll scheint eine Vorliebe für Ensembles von Baßstimmen gehabt zu haben ; sein Oratorium : Pia et fortis mulier enthält bekanntlich ein Quartett für Bässe. In dem vorliegenden Falle haben wir es mit einem Stück zu tun, das dem be- rühmten Duett aus Händeis Israel >Der Herr ist der starke Held« unbedenklich in der Wirkung zur Seite gestellt wer- den kann. Es ist auch darin Händeischen Geistes, daß die Naturschilderung Sonnenaufgang sich mit der Ab- bildung eines bedeutenden seelischen Prozesses Erhebung des Herzens ablöst und eint. Die fünfte Nummer, ein Terzett von zwei Sopranen und Tenor (Exultate cotda devota) wirkt durch den Wechsel zwischen Rezitativ und Gesang, zwischen einstimmigen und dreistimmigen Sätzen, und zeigt in der Wiederholung des Hauptsatzes: Exultate, jubi- late auf Garissimis Einfluß. Die sechste Nummer, ein Terzett von Sopran, Alt, Baß (Dignare me laudare te) prägt sich durch die letzten fünf Takte bleibend ein. Bis dahin haben die drei Sängerstimmen wetteifernd die Herr- lichkeit Gottes gepriesen. Da, als wäre ihr Blick aufs Kruzifix gefallen, schweigen sie auf einmal und führen dann die Hymne im demütigen und innigen Ton zu Ende. Eine ähnliche durch den Kontrast der Ruhe geg(Bn den Yoraosgegangenen Jubel wirkende Stelle hat die neunte

}

-— 533 <>—

Nummer, efn fänfstimmiges »Regina coeli laetare« in der Mitte beim Eintritt der Worte: Ora pro nobis.

Viel wichtiger als für die katholische wurde die neue Kirchenkantate oder das geistliche Konzert im weiteren Laufe der Zeit für die protestantische Liturgie. Sie ist hier, als man sich von der Figuralmesse mehr und mehr abwendete, allmählich zum musikalischen Hauptstück des . Gottesdienstes aufgerückt und hat als solches ihren Platz nach der zweiten Lesung oder mit de^ ersten Hälfte vor, mit der zweiten nach der Predigt erhalten und, wo über- haupt noch Mittel und Sinn für höhere Tonkunst im Gottes- hause da sind, bis heute behauptet. Allerdings denkt man sich die Kantate meist als eine Komposition, die außer guten Solisten einen großen Chor und ein großes Orchester verlangt, und damit ist sie zurzeit für mittlere und kleinere Orte gar nicht oder nur selten erreichbar. Da sind nun gerade die neugedruckten geist- lichen Konzerte und Kantaten der protestantischen Ton- setzer des 47. Jahrhunderts sehr geeignet eines Besseren zu belehren. Ein großer Teil von ihnen beansprucht weiter nichts als einen, zwei, drei oder vier leidliche Sänger und eine Orgel. Für diese einfachen Mittel ver- standen Heinrich Schütz und seine Zeitgenossen so viel erbauliche und erhebende Musik zu schreiben, daß auch die kleinen Gemeinden keinen Sonntag ihre dem Charak- ter von Perikopen und Predigt angepaßte Kantate zu entbehren brauchten. Es gilt heute för die Forschung und für das geistliche Konzert diesen protestantischen Kantatenschatz, den stattlichsten Teil der Musik des 18. Jahrhunderts, wieder bekannt zu machen. Dann werden auch die Kirchenbehörden und ihre musikali- schen Diener bald erkennen, wie sehr er der jetzt ziemlich allgemein als notwendig erkannten Hebung der musikalischen Liturgie zustatten kommen kann. Der Vor- tritt gebührt hierbei Heinrich Schütz. Er war es, der wie H. Sohtiti. Oper und Lied auch das neue geistliche Konzert unter allen Deutschen seiner Zeit am meisten gefördert hat, einmal durch seine eigenen Arbeiten, zum anderen durch den

^ 534 <^-

' Einfluß, den er auf Schüler und Kollegen ausüb*te. In dem die Psalmen behandelnden Kapitel ist dieser Schützschen Kantatenarbeit bereits gedacht worden; mit HinzufQgung derweiteren biblischen^ der dem Gesangbuch entnommenen oder frei gedichteten Texte übersteigt die Zahl seiner heute in schönen Partiturdrucken vorhandenen geistlichen Kon- zerte und Kantaten die Hundertzahl. Sie bestehen aus kurzen und langen, aus sehr einfach besetzten Stücken und aus anderen, die einen großen musikalischen Apparat voraussetzen.'' Er hat sie unter den verschiedensten Titeln und zu verschiedenen Zeiten veröffentlicht und kompo- niert, die stärkste Sammlung, die zwei Teile der soge- nannten »kleinen geistlichen Konzerte« erschienen 4686, andere datieren schon aus dem Jahre 4 64 9. Die kleineren Kantaten verwenden sehr viel Rezitative und klingen an die frühe italienische Monodie und ganz speziell an Monteverdi an, eine andere Klasse zeigt die Gabrielische Schule mit der Teilung von Chören und Orchestern. Eine dritte aber ist, von H. Schein und Genossen vorbereitet, ausgeprägt protestantischen Charakters. Das sind die Kon- zerte oder Kantaten, denen er evangelische Choräle zugrunde gelegt hat, in der eben erwähnten Sammlung, folgende nur mit Continuo zu begleitende Nummern: l . 0 hilf Christe, Gottes Sohn (Nr. 44, für 2 Soprane); 3. Nun komm* der Heiden Heiland (Nr. 20, Terzett für 2 Soprane und Baß); 3. Wir glauben AIP an einen Gott (Nr. 23, Terzett für 2 Soprane und Tenor); 4. Ich hab' mein Sach* Gott heimgestellt (Nr. 24, ein keineswegs »kleines«, sondern sehr langes Konzert für 2 Soprane, Tenor und Alt); 5. Ich ruf zu Dir Herr Jesu Christ (Nr. 25, im zweiten Teil der »kleinen geistlichen Konzerte«, Quartett für 3 Soprane und Baß); 6. Allein Gott in der Höh* sei Ehr (ebenda, Nr. 22, Quartett für 2 Soprane und 2 Tenöre). Unter den verwandten, aber schwierigeren Stücken, die sich in andern gedruckten Sammlungen Schützens finden, fesselt das »Choralkonzert« »Wo Gott der Herr nicht bei uns wohnt« schon durch seinen ganz eigentümlichen itlang. Zwei vierstimmige, antiphonierende Singchöre, der erste

535 *-—

von Streichinstrumenten, der zweite von Posaunen ver- stärkt^ konzertieren mit einem Solosopran, den allein die Laute begleitet. Daß ^ eine Komposition wie diese die elementaren Musikbegrifife der Gegenwart ganz wesentlich bereichert und deshalb sich außer für ihren ursprünglichen Zweck ganz besonders auch für das Konzert eignet, liegt auf der Hand. Ebenfalls für di6 Verwendung im Konzert mögen aus dem ersten Teil der Sinfoniae Sacrae noch: Veiiite ad me, 0 Jesu nomen dulce und 0 misericordissime Jesu als leichte, und doch Schützes Art und Reichtum klar enthüllende Kompositionen angeführt werden. Der Form nach gehören zu dieser Schützschen Kantatenarbeit auch noch die zahlreichen oratorischen Szenen, über die an anderer Stelle zu berichten ist. »

Schützes nächste Mitarbeiter waren Sachsen, der früheste wohl der Freiberger Kantor Chr. Demantius,Cftr. Demantiu. dessen Triades Sioniae (4649) mit zu den für die Geschichte der Theorie interessanten Werken gehören, die neben dem Generalbaß (Continuo) auch einen Generaldiskant aufstellen. Die wichtige Anregung, die Schütz für die Benutzung des '

protestantischen Chorals in der Kantate gegeben hatte, scheint namentlich bei den Leipziger Thomaskantoren auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Die (jüngst von A. Prüfer herausgegebene) Opella nova H. Scheins bezeugen das. Auch seine Nachfolger Sam. Knüpf er und Job. Schelle*) dürfen als Förderer und Freunde des Chorals in der neuen Gattung erklärt werden. An ihren Arbeiten kann die Abstammung von der Motette kaum verkannt werden, aber außer der Instrutnentalmusik, die präludiert, verstärkt uiid konzertiert, verwenden sie auch den Sologesang sehr geschickt und frei von der unreifen Vorliebe für Malereien. So entwickelt sich in Knüpfers:

H. Sohein. 8. Knftpfer, J. Schellet

*) Von Knüpfer sind in der Kgl. Bibliothek zu Berlin MMs. 11,780 22, von Schelle in den MMs. 19,781 27 Kantaten vorhanden. Noch 1748 offeriert der Weimarsche Walther dreißig Schellesche und andere Kantaten (La Mara, Musiker- briefe, S. 164). *

-— 536. ♦—

>Ach Herr straf mich nicht« der erste Chor aus einem Sopransolo. Da ihre Kantaten immer nur wenige Sätze h^en, fällt der Raum, der dem Choral darin gewährt wird, moralisch staik ins Gewicht. Auch das erfreut, daß er in mannigfacher Form auftritt Knüpfers eben angeführte Kantate schließt mit einem Pseudochoral (zu den Worten : >E8 müssen alle meine Feinde zu Schanden werden«) von der Art, wie sie Mendelssohn in seinem Elias wieder ge- bracht hat. In einer andern »Ach Herr, laß Dein' Iteb Engelein« beginnt er mit Fugierung und mit durch Zwischenspiele unterbrochenen Variationen der Choral- melodie. Eine dritte: > Herr, wer wird wohnen in Deinem Haus«, ein Chordialog, schließt 'mit ähnlichen Variationen über den auf dijB Worte >Wer <Jas tut, der wird bleiben« gesetzten Choral: »Von Gott will ich nicht lassen«. Ganz ähnlich verfährt Schelle. Choralvariationen oder Choral- surrogate bilden in der Regel einen der wenigen Hauptsätze, aus denen seine Kantaten bestehen. Choralanfang zeigen z. B. »In Dich hab' ich gehoffet« und »Nun lob' mein' Seer den Herrn«, Cheralschluß : »Herr Deine Augen sehen« und »Hemmt Eurer Tränen Flucht!« '*']. Eine Anzahl geist- licher Konzerte von deutschen Komponisten des 47. Jahr- hunderts hat 4 646 der bekannte A. Profe in Stimmdrucken herausgegeben. Handschriftliches Material bieten die Biblio- theken zu liegnitz und Freiberg.

Auf Grund von Neudrucken können wir uns über die Geschichte der evangelischen Kirchenkantate bei Andreas i. Hammer- Hamm er Schmidt orientieren. Er hat mit seinen im Bohmidt. Jahre 1645 veröffentlichten Dialogen oder »Gesprächen zwischen Gott und einer gläubigen Seele**) deshalb die Stellung der neuen Kunst in der Kirche ganz wesentlich zu fördern vermocht, weil sie als ganz unmittelbare Ab- senker und Abzüge des allgemein angestaunten und be- gehrten Musikdramas erschienen. Schon Schütz hat solche

*) Näheres: Arnold Scbering, Über die Kircben- kuntaten vorbachischer Thomaskantoren (Bacb-Jahrbneb 1912). **) Denkm&Ier der Tonkunst in Österreich,« VUI.

--♦ 537 ♦—

Dialoge komponiert; seinen schönsten: »Sei gegrüßt Maria! Welch ein Gruß ist das?«, der mit einer Orchestersymphonie eingeleitet, mit einem Chor geschlossen wird, besitzen wir in deutscher und in lateinischer Sprache, von der die Schulchöre und die protestantische Figuralmusik nicht gern abgingen. Die Idee des Dialogs an sich läßt sich bis in die erste Zeit der äntiphonierenden Motette zurück verfolgen, zu einer frischen und großen Bedeutung gelangt sie aber erst durch die römische Allegorienoper und das geistliche Musikdrama des 47. Jahrhunderts und da ist, es Hammerschmidts Verdienst für den den Zeitregungen entsprechenden neuen Kunstzweig außerordentlich ent- schieden, nämlich mit einer ganzen Sammlung von Dia- logen eingetreten zu sein. Ihnen verdankt Hammerschmidt in erster Linie seine hervorragende Stellung unter den Komponisten des 47. Jahrhunderts, die Gattung selbst behauptete sich von ihm ab bis in die Zeit S. Bachs und darüber hinaus auf der Tagesordnung.

Von den Dialogen Hammerschmidts entspricht nur ein Teil dem Beititel: »Gespräche zwischen Gott und einer gläubigen Seele«,* in einem andern tauschen Sünder und Fromme Gefühle und Gedanken aus, in einem dritten fehlt überhaupt der innere Gegensatz der Parteien. Die Worte der ersten kehren bei der andern einfach in Umschreibungen und Steigerungen wieder. Nach der musikalischen Form bestehen di6 22 Nummern des bisher neugedruckten ersten Teiles der Dialoge aus 40 Duetten, 4 o Terzetten und 2 Quar- tetten. Sieben Dialoge werden durch Symphonien einge- leitet, die auf die Gabrielische Schule hinweisen, 8—20 Takte lang und mit 2 Violinen, Streichba^, Gontinuo und einer Tenorposaune besetzt sind. Den Gesangteil begleitet der Gontinuo, den Harmoniebaß verstärkt in der Regel eine Trombone; in einzelnen Nummern wird sie nur durch ein nicht näher bezeichnetes »Instrumento« ersetzt oder ver- mehrt, das mit seinen selbständigen Figuren auf die Viola da Gamba deutet. In den Singstimmen begegnen wir der- selben schlichten Melodik, die aus Hammerschmidts Chor- musik bekannt ist; sie ist mehr die Frucht des Verstan-

538 *—

des und der Deklamationskunst, als des Seelenreichtums und der inneren Bewegung. Zuweilen nähert sie sich der Trockenheit, hei Inteijektionen , hei klagenden Texten üherhaupt oder auch, wenn das Zusammengehen meh- rerer Stimmen zu Sequenzen veranlaßt, wird die Empfin- dung und ihr Ausdruck wärmer. Daß Hammerschmidt nichts Außerordentliches, aher immer das Nötige klar sagt und dabei vielfach an Litanei und Volksmusik erinnert, hat zum Erfolg wesentlich beigetragen. Einen aus- gesprochen protestantischen Charakter hat von den Dia- logen des ersten Teils nur die zehnte Nummer, eine Kombination der beiden Choräle »Was mein Gott will, gescheh allzeit« und »Auf Deinen lieben Gott trau nur in Angst und Not«. Für das Konzert eignen sich am meisten die Nummern: 8, 4 6 und 47. Die erste gehört unter die wirklichen Gespräche zwischen Gott und einer gläubigen Seele und bringt den Gegensatz zwischen der Würde des himmlischen Vaters (Baß) und der Unruhe der bedrückten Menschenherzen (zwei Soprane) eindring- lich zum Ausdruck. Die sechzehnte Nummer ist die dem Entwurf nach originellste Leistung der gatizen Sammlung. .Ein Baß singt die Einsetzungsworte: »Nehmet hin usw.«, zwei Soprane antworten ihm mit volkstümlich gehaltenen Dankgesängen: »Lobe den Herrn, meine Seele usw.«. Die siebzehnte Nummer zeichnet sich dadurch aus, daß so- wohl die Güte in der Stimme des Herrn (Baß) : »Was soll ich aus Dir machen, Ephraim?« ebenso eigen und einfach zum Ausdruck kommt, wie die Angst des Beters (Sopran], der kindlich sein: »Ach Herr, straf mich nicht« ruft.

Der nächste protestantische Komponist des 4 7. Jahr- hunderts, der mit einem neugedruckten Band von Kirchen- F. Tiuidw. kantaten vertreten ist *), der Lübecker Franz Tunder, Buxtehudes Schwiegervater, hat sich die Kenntnis vom Sologesang und geistlichen Konzert direkt in Italien, als Frescobaldis Schüler zu Rom verschafft. Seinen Namen, den Gerber und Fötis gar nicht kennen, hat Carl Stiehl

♦) Denkmäler deutscher Tonkunst, III.

in den letzten 80 er Jahren zuerst wieder ans licht ge- zogen *|. Der daraufhin von Max Seiffert (nach Manu- skripten der Universitätshibliothek in Upsala) zusammen- gestellte Band Tunderscher Kirchenkantaten ist unter dem Material, das das alte Märchen von der musikalischen Verödung Deutschlands im 4 7. Jahrhundert widerlegen muß, eins der kräftigsten Stücke. Die Kompositionen sind augenscheinlich zu verschiedenen Zeiten entstanden. Die ersten acht, denen mit einer Ausnahme auch noch lateinischer T^xt zugrunde liegt, zeigen in der fast gleich- mäßigen Mischung von Gesang- und Instrumentalmusik, in dem etwas unruhigen Wechsel von gerad- und unge- radtaktigen Teilen, in der Überlegenheit der Kantilenen gegenüber den Koloraturen auf das musikalische Rom der Franqesca Gacdni und ihrer Ldberazione di Ruggiero. Aber aus ihrem noch nicht ausgereiften Stile erhebt sich doch eine bedeutende Individualität. Ausnahmslos macht sie sich in den Orchestereinleitungen dieser Kantaten . geltend, die bald unter detn Titel Sinfonia, bald Sonata, . meistens in sechsstimmiger Besetzung trotz verhältnis- mäßiger Kürze zu den an Erfindung vollsten Sätzen zählen, die wir von dieser Art Orchestermusik haben. Die Einleitungen zur zweiten und zur vierten* Kantate stehen mit ihrer vielsagenden Kargheit des Ausdrucks, mit ihren beredten Pausen so gut wie allein. Aber auch der Gesang- teil der Tunderschen Kantaten zeigt in der Wiedergabe einzelner Textstellen eine ganz ungewöhnliche Kühnheit Das Hauptstück in dieser Beziehung ist die sechste Kan- tate: Nisi Dominus aedificaverit domum, die Tunder als Dialogo o Concerto a 2 Canto, Basso (Singbaß) con S Vio- lini betitelt hat. Da kämmt bei der Stelle: »surgite . . . qui manducaüs panem doloris« auf das Wort doloris ein verminderter Sextakkord, der in seiner raschen Melan- cholie sich für jedermann als der Einfall eines wirklich berufenen Meisters darstellt. Die ersten vier dieser in

♦) C. Stiehl: Die Organisten der Marienkirche in Lübeck,

1886.

--♦ ö-fO ♦—

die früheren Jahre Tnndets zu setzenden Kantaten sind fOr eine Solostimme geschrieben. Von der fünften ab kommen Duette und Terzette, die siebente ist die erste Chorkantate, aber die Chöre stehen in ihrer dramatischen Lebendigkeit und Knappheit noch unter Opemeinfluß. In der achten, die nochmals den Text »Nisi Dominus aedificaverit« durchnimmt, werden sie breiter und auch durch den Wechsel mit zum Teil sehr kurzen Solostellen sehr wirkungsvoll.

Die Hauptbedeutung, die Tunders Band für die Praxis und für d^n heutigen Geschichtsunterricht hat, liegt in sei- nem zweiten Teil, der aus lauter Choralkantaten besteht; allerdings sind einzelne der benutzten Choräle heute fremd geworden. Tunder geht auf diesem Gebiete über Schütz, auch über Knüpfe^ und Schelle hinaus und nimmt mit neuer Entschiedenheit für den Aufbau seiner Choral- kantaten den erweiterten Orgelchoral, insbesondere die .Choralvariation zum Muster, erzieht also die Konsequenzen aus Scheidt, in der Führung der Stimmen und dem Anteil, den er ihnen am Thema gibt, bereitet er die Wege J. Pachel- bels vor und schlägt mit dem Prinzip seiner Kantatenarbeit, wie Seiffert bemerkt, die Brücke zu Seb. Bach. Nur das größere Format der einzelnen Bilder innerhalb der Bach- schen Kantate und die individuelle Größe der Textauslegung unterscheidet sie von der Tunderschen. Für das Konzert sind aus dieser Abteilung die frisch naive Solokuitate (Sopran) >Wachet aufc und die Chorkantate »Ein feste Bürge am meisten zu empfehlen. Beidemal besteht das mitwirkende Orchester lediglich aus Streichinstrumenten und OrgeL

Nicht weit von Lübeck, drüben in Hamburg^ scheint der Choral als Grundstock der Kantatenkomposition erst später, möglicherweise erst durch Mattheson, zu Ehren ge- kommen zu sein. Der Band Hamburger Kantaten, in dem M. WMkmftBii. M. Seiffert sämtliche erhaltene Arbeiten M. Weckmanns*] Ohr. Binktid. (8 Nummern) und von denen Chr. Bernhards eine aus

*) DenkmlOer deutaeber Tonkunst, VI.

—-% 5i< ♦—

f&nf Stücken bestehende Auswahl' vorlegt, ist für diie inneren Schwierigkeiten, mit denen die Einführung des neuen Stils in Deutschland gerade in der Kirche zu kämpfen hatte, außerordentlich lehrreich. Beide Komponisten ge- hören zu den besten Schülern von Heinrich Schütz; von Bernhard hatte er sich bekanntlich die Motette für sein Begräbnis bestellt. Beide aber sind aus den Werken ihres Meisters nicht darüber klär geworden, welchen Zweck der ' Figuralgesang und die Instrumentenmitwirkung eigentlich haben. Namentlich Weckmann schwankt fast immer, ob diese Phänomene sinnlich und selbständig wirken oder Diener des Geistes sein sollen. Damit verdirbt er sich einfach berichtende Stellen, in denen das Wort so klar als möglich zu Gehör kommen sollte, die Textstellen also, für welche die Italiener mit ihrem Rezitativ den richtigen Musikton gefunden hatten, für den modernen Hörer emp^ findlich. Die hierin unreifsten Nummern sind die Bot- schaft der Engel an die Hirten von der Geburt des Herrn (Nr. 8, Duett für Sopran und Baß mit Violinen und Continuo) und der Dialog über Mariae Verkündigung (Nr. 4: »Ge- grüßet seist du. Holdselige« für Sopran- und Tenorsolo, mit zwei Flöten, zwei Violinen und Continuo). Wie so oft auf altdeutschen Wandgemälden unmögliche Perspek- tive und herrliche Physiognomik, so verbindet sich aber auch in, dieser Weckmannschen Marienkantate formelle Unfertigkeit mit der liebenswürdigsten, schärfsten Natur- beobachtung. Wie prächtig ist die sittsame Jungfrau einfach dc^durch gezeichnet, daß in dem Satz »sintemal ich von keinem Manne weiß«, das »sintemal ich« immer und immer wiederholt wird, bis endlich die schwere Er- klärung über die Lippen kommt. Auch in den Reden des Engels hält eine Menge herzlichster Wendungen dem Übermaß der Betonung und Ausschmückung und sogar dem naiven Dreinzwitschem der Violinen die Wage. Als «in ganz anderer Künstler steht Weckmann da, sobald .m im Rüstzeug der alten Zeit auftritt und Soloensembles oder Cäiöre! zu schreiben hat. Das bedeutendste Stück dieser iürt ist die, wenn nicht fürs Totenfest, so für eine

solenne Begräbnisfeierlichkeit komponierte, vierstimmige, von fünfstimmigem Streichorchester und Gontinno be- gleitete Ghorkantate: »Wenn der Herr die Gefangenen zn Zion erlösen wird«. Poetisch ragt besonders ihr erster Satz hervor, der ähnlich wie Schützens Motette »Die mit Tränen säen« eine gedämpfte Wehmut ausspricht. Er tut das mit tiefsinnigen Wendungen aus dem Musikdialekt der Renaissancezeit. Dem ersten »Wenn«, dann dem Be- griff der »Träumenden« wird ungewöhnlich lang und un- gewöhnlich ergreifend nachgesonnen. In der ganzen Kan- tate fließt die Erfindung reich tmd mannigfaltig dahin; zuweilen erhebt sie sich zu ganz bedeutenden Motiven, aber auch bequemerem Material gewinnt sie eine große äußerliche Wirkung häufig durch steigende Sequenzen ab. Die Schützsche Zeit und Schule vertreten noch imposanter die als »Motetto concertato« bezeichnete Nummer 6: »Weine nicht« (für Alt-, Tenor- und Baßsolo mit einem Orchester, das zu der gewöhnlichen Streicher- und Gontinuobesetzung noch dreifache Gamben heran- zieht) und die Nummer 5 : »Es erhub sich ein Streit« (für naunstimmigen geteilten Chor mit Streichorchester, Gon- tinuo und drei Posaunen). Beide Stücke verwenden,' das eine zur Schilderung des Streits im Himmel, das andere zur Andeutung der Löwenkraft, ziemlich die gleichen Motive. Es sind an Trompeten und FeldmUsik erinnernde, vom Durdreiklang abgeleitete Naturmotive, die im 4 7. Jahr- hundert in jeder Art von Musik, bei Italienern, Deutschen und Franzosen ähnlich wiederkehren, so oft an Kämpfe, Wagnisse und Siege erinnert werden soll. Sie gehören zu dem systematisch erst noch durchzuarbeitenden Ge- biet der tonmalerischen Formeln der Zeit und sie sind der Grund, weshalb sich z. B. die zahlreichen Kantaten über den Michaelistext: »Es erhub sich ein Streit« thematisch so auffallend gleichen. Genau dieselben Motive wie hier bei Weckmann, finden sich in Garissimis Jephta. Weck- manns »Weine nicht« hat . in dem gewaltigen Schluß- satz über das einzige Wort Amen ein Stück, das in der gleichzeitigen Kantate ziemlich allein steht. Für das Kon-

543

%ert würde die Kantate: >Es erhub sich ein Streit« wegen der wirksamen Verbindung Gabrielischer Chorpolyphonie mit monodischer Kunst am meisten zu empfehlen sein.

(regen Bernhards Kantaten, die mit Ausnahme der 0. Bernhard, zweiten Nummer dem für Sopran und Baß gesetzten Dialog »Wohl dem, der den Herren fürchtet«, wohl einem Trauungsstück, ganz überwiegend aus Ghormusik mit Or- chester bestehen, kann man die Ausstellung erheben, daß sie in den Solosätzen der Gediegenheit zu Liebe mit Nach- ahmungen zwischen den Singstimmen allein oder zwischen Singstimmen und Instrumenten, hie und da etwas zu br^it geraten. Wie seinem Lehrer Schütz ist auch ihm die Einfachheit des italienischen Begleitungsapparats ver- schlossen geblieben. Gegen die modisch^ Lust an male- rischem Laufwerk verhält er sich aber viel ablehnender, reifer und charaktervoller als Weckmann. Als hervor- ragender Musiker zeigt er sich besonders durch einen Sinn für Elementarwirkungen, c^^r sich in Kleinigkeiten, wie Echos, Wechsel von Solo und Tutti, von Stimmen und Instrumenten, noch viel stärker aber durch die Folge der Sätze und den Aufbau der ganzen Kantaten bewährt. Seine größte Leistung unter den von ihm vorliegenden Ar- beiten ist die Komposition des Responsoriums: »Tribularer si nescirem misericordias« und in ihr die Führung der bei- den zehnstimmigen Chöre, die Anfang und Schluß bilden.

Durch möglichste Wahrung deutscher Selbständigkeit fesselt unter den Kantatenkomponisten des ^ 7. Jahrhun- derts Rudolph Ahle, der für seine Vaterstadt Mühlhaiisen S. Ahle, in Thüringen eine große Anzahl von Sammlungen ver- schiedenster Kirchenmusik komponiert und in den Druck gebracht hat. Der fünfte Band der Denkmäler deutscher Tonkunst (herausgegeben von Johannes Wolf) legt davon eine verhältnismäßig reiche Auswahl vor. Für Ahle war die Hauptsache an der neuen italienischen Musik die Gleich- berechtigung und das Zusammenwirken von Singstimmen und Instrumenten, und von dieser Auffassung aus schritt er zu einer Modernisierung von Choral und Motette. Die von ihm neu erfundenen Choräle haben meistens selbständige

-— 544 ♦—

Orchestervorspiele, die an musikalischem Wert allerding*s kaum verlieren, wenn man sie in gewöhnlicher Weise anf die Orgel verpflanzt. Die' Choräle selbst Ahle nennt sie geistliche Arien verdienen die Aufmerksamkeit der Gegenwart deshalb, weil sie von dem starren gleich- mäßigen Rhythmus, in den die alten Gemeindelieder heute entartet sind, nichts wissen. Es gibt auch eine Anzahl, die der Einleitung entbehren und a capella zu singen sind. Unter ihnen ist det sechsstimmige Satz »Es ist genug« als ein großes Meisterstück in kleiner Form für geistliche Konzerte besonders zu empfehlen. Ähnlich wie mit den Chorälen oder Arien verhält sichs mit den Motetten Ahles. Ein Teil von ihnen rückt ein- fach durch die Verbindung mit dem Orchester in das Gebiet der einsätzigen Kantaten auf, ein anderer hält am alten a capella -Gesang höchstens mit Hinzunahme des Continuo fest. Seine Hauptstücke knüpfen an Cho- räle an, sehr schon und einfach tut' dies z. B. die sechs- stimmige Aria: »Ach, Herr, mich armen Sünder«, die Ahle wie auch viele andere Sätze, besonders Dialoge (z. B. Nr. 28: »Wer ist, der von Eden kommt?«) in Ga- brielischer Chorantiphonie aufgebaut hat Besonders hervorzuheben ist die Choralmotette: »Wir glauben all usw.«. War nun für Ahle der Sologesang auch nicht die Hauptsache an der neuen Kunst, so hat er ihn doch nicht ganz ignoriert, sondern in zweierlei Art benutzt, nämlich zu ganz auf ihn gestellten Kompositionen und zu Zwischensätzen und Einlagen in Chorkantaten. \yie der Mehrzahl seiner deutschen Zeitgenossen steht er der neuen Kunstart etwas unsicher gegenüber. Unter den Stücken, wo es ihm ganz mit ihr geglückt ist, steht das schlichte Duett »Bleib bei uns« unter denen, wo er zur vermeintlichen Erhöhung der Andacht Pirouetten schlägt, das zweisprachig gehaltene Duett: »Misericordias Domini cantabo usw.« obenan.

Unter den großen mehrsätzigen Kantaten R. Ahles verdienen die erste Stelle die zwei Weihnachtskomposi- tionen: »Fürchtet euch nicht« und iMerk auf«. Jene ist

545 ♦—

als einer der für die Vorgeschichte des Oratoriums wich-* tigen Versuche, die biblische Lektion in den neuen Musik- formen vorzutragen, bemerkenswert. Diese wirkt durch die sinnige Verwendung des Chorals »Vom Himmel hoch«. Ziemlich gleich steht ihr die Kantate »Zwinget die Saiten«, in der der Choral »Wie schön leucht uns der Morgenstern« auf seine Verzierungsfähigkeit mehrfachen gelungenen Pro- ben unterworfen wird. Kantaten wie die lets^enannten (aus dem »neugepflanzten Thüringischen Lustgarten«) kamen um die Mitte des 4 7. Jahrhunderts nur noch ganz ausnahmsweise in Druck. Die Verleger waren um diese Zeit zwar für Messen und Motetten, sie waren auch für kleine einstimmige Konzerte oder Arien wie sie in G. Briegels »Geistlichem Rosengarten« enthalten sind, zu G. Briegel« haben, für ganze Jahrgänge anspruchsvoller Kirchenkan- taten aber nicht. Zwei Menschenalter nach Ahle haben die beiden Lübecker Sam. Franck und Chr. Schiefer- decker noch einmal den Bann durchbrochen*). Derbe- Chr. Sohiefer- deutendste Lübecker Musiker dagegen, Dietrich Buxte- deoker. hu de, hat sich mit handschriftlicher Verbreitung seiner b. Butakado. Kantaten begnügen müssen, obwohl sie durch die »Abend- musiken« der Marienkirche einen weiten Ruf genossen. Erst neuerdings ist aus den erhaltenen 440 Nummern ein > größerer Band in Druck gekommen '*'*) ; eine Aussicht, sie alle wie Buxtehudes Orgelkompositionen durch eine Ge- samtausgabe der Gegenwart wieder zuzuführen, besteht kaum. Denn sie können sich mit jenen an Gebrauchs- wert nicht messen und sind an veralteten Elementen viel reicher. Aber in der Übergangszeit der evangelischen Kirchenkantate vom 4 7. zum 48. Jahrhundert verdienen sie einen der vordersten Plätze; sie verhalten sich im Aufbau der Sätze, in der Auslegung des aus Bibel, Gesangbuch, madrigalischer Dichtung, also zum erstenmal aus hetero- genen Quellen schöpfenden Textes zu den Kantaten der 7orangehenden Deutschen, auch zu denen Tunders, wie

•) A. Göhlcr, Verzeichnis. ••) Denkmäler der deutschen Tonkunst, XIV.

II, 4 35

--♦ 546 ^»—

Haydnsche Sinfonien zu Scarlattischeh und können als eine der Grundlagen betrachtet werden, auf der sich die protestantische Kirchenkantate des i S.Jahrhunderts weiter entwickelte. Die Methode Buxtehudes ist in der Architektur Wichtig; diese ist durch Buxtehude fertiger und imposanter geworden. Buxtehude ist in der deutschen Kantate der erste Vertreter der neapolitanischen Schule. Er zuerst behandelt die selbständigen Abschnitte des Textes in den breiten, mit der Oper und dem Oratorium der Italiener korrespondierenden Formen, die der Empfindung sich zu vertiefen, der Fantasie bei großen Bildern zu verweilen ermöglichen, die es erlauben, den Gehalt musikalischer Motive und Ideen nicht bloß zu streifen, sondern aus- zuschöpfen. Solche italienische Kirchenkantaten waren in Deutschland aus der Feder Legren zis verbreitet. An ihn knüpft Buxtehude an. Die Größe des Gehäuses und seiner Hauptteile ist seinen Kantaten gemeinsam, in der besonderen Anlage jedoch herrscht Mannigfaltigkeit und Originalität. Die letztere geht soweit, daß er gelegentlich einmal eine Einleitungssymphonie durcH ein vokales Prälu- dium (»Wachet auf, ruft uns die Stimme«) ersetzt. Auch in seinem Orchester zeigt sie sich darin, daß Kornetten und Posaunen mehr zum konzertieren herangezogen sind, als bei seinen nächsten Vorgängern. Überall stehen wir vor einem Musiker, der keine Note verschwendet und der mit Händelschem Geschick und Ernst auf große, volkstüm- liche Wirkungen bedacht ist. Damit hängt es auch zu- sammen, daß die Kunst der Polyphonie in seinen mehr- stimmigen Sätzen merklich zurücktritt. NamenÜich die Chöre, unter ihnen wieder die im ungeraden Takte ge- führten, sind vorwiegend im einfachen homophonen, aber eindringlichen und mächtigen Stil geführt.

Im Bilde von Buxtehudes moderner und aufs Reale gerichteten Künstlernatur würde ein wesentlicher Zug fehlen, wenn man nicht des sinnigen Elements seiner Kantaten gedächte. Es kommt durch die Wiederkehr ihm lieber Sätze an späteren Stellen einer Komposition ähnlich, jedoch viel häufiger und stärker zum Ausdruck.

i

-^ 547

wie in seinen Instrumentalsonaten. Noch bedeutender belebt er seine Kantaten in der Verwendung der Choräle. Sie fehlen fast in keiner, aber er versteckt sie gern, hält sich an ihre wesentlichen Wendungen, prüft und erweitert ihren Inhalt durch Neubildungen, die sich gelegentlich auf das einfache Mittel einer Verzierung beschränken. Da- mit gab er auch für die Choralbehandlung in der Kantate neue Anregungen.

Das zwischen Buxtehude und Seh. Bach liegende halbe Jahrhundert ist zurzeit in der Hauptmasse nur hand- schriftlich vertreten, dieser Handschriftenbestand läßt sich jedoch noch nicht übersehen, da außer bekannten öffent- lichen Bibliotheken, unter denen die Königliche, die Biblio- thek der Prinzeß Amalie und die des Grauen Klosters in Berlin obenan stehen, dafür auch zahlreiche Kirchen- und Schularchive kleinerer Städte in Betracht kommen, die ihre Schätze bisher nicht gebucht, vielfach auch nicht gehütet haben. Denn in der Zeit äußerster musikalischer Dezentralisation sorgte jeder deutsche Kantor für seinen Kantatenbedarf in erster Linie mit der eigenen Feder. Daher kommt es, daß wir von vielen dieser Kantatenkomponisten, von Levini, Kreichel, Liebhold, LoUfuß z. B., nicht einmal die Personalien feststellen können und uns begnügen müssen, aus ihrem Stil ungefähr Zeit und Schule zu be- stimmen. Auf einzelne von ihnen paßt das etwas harte Urteil, das Telemann über den erwähnten Liebhold gefällt hat: >er sammelte Klauseln und leimte sie ungeschickt zusammenc'*'). Es darf aber keineswegs verallgemeinert werden, sondern in jener Periode sind auch in unansehn- lichen Orten sehr achtungs werte Arbeiten entstanden, so in Zschopau die Kantaten Chr. Lieb er s, in Hingleben die J.A. Kesselrings. Daß andererseits auch damals in größeren Städten unbedeutende Kompositionen zutage kamen, üeße sich mit den Kantaten des Bremer V. Lüb eck belegen.

*) Nach einer handschriftlichen Bemerkung Forkels in dem betreffenden Band der Kgl. Bibliothek zu Berlin. Das Material dieses Instituts liegt den hier gegebenen Ansführnngen zugrunde.

35*

548 ♦—

Die Masse der hier in Betracht kommenden Hand- schriften verteilt sich ziemlich gleichmäßig auf Solokantaten und Chorkantaten; viele der ersteren sind nachweislich für Nachmittagsgottesdienste geschriehen. Die künstlerische Entwicklung der Gattung steuert auf Übersichtlichkeit und größere Gruppierung der Form, zweitens auf stärkere Ausprägung des protestantischen Charakters. Das erste Ziel wird früher erreicht als das zweite. Die an vene- tianische Opemmuster anknüpfende Zusammensetzung aus kleinen Stücken, die noch die Kantaten Sebastianis, auch seine Choralkantaten zeigen, weicht vom Anfang des 4 8. Jahrhunderts ab ziemlich allgemein dem breiteren Auf- bau, den unter den Neudrucken zuerst Buxtehude vertritt. Der Mitarbeit von Opernkomponisten, wie des Braun- I Schweigers G. Schürmann, darf hieran ein Verdienst zu-

geschrieben werden. Der Choral dagegen wird noch Jahrzehnte vorwiegend auf die einfachste kirchliche Form und den Schluß der Kantaten oder ihrer Teile beschränkt, häufiger erscheint er daneben noch als unerwartete Fort- setzung von Sologesängen. Choralfugen dagegen und Ver- treter Tunderscher Choralkünste sind selten. An dieser Stockung trägt das de tempore-System und der Zwang der schnellen Arbeit einen Teil der Schuld; sie erklärt auch, daß die Kantaten an- und für sich hervorragender Künstler ungleich geraten. Was da einzelne Komponisten sich zumuteten, wird an dem Nachlaß Chr. Graupners am ersichtlichsten, von dem in Darmstadt allein über 4 300 mehrsätzige Kirchenstücke Hegen, die erst jüngst durch- forscht wurden*). Von Gebel sind noch 273, von Homi- lius 4 02 Kantaten in Rudolstadt, von G. Benda 50 in 0. H. Stölsel. Gotha vorhanden. G. H. Stolz el kann, nach den in Gotha und Sondershausen erhaltenen Kantatenmassen dem Darmstädter Kollegen an Fleiß nur wenig nachgegeben haben. In guten Stunden, z. B. in den Kantaten »Segnet die Tochter Zion«, »Deine Gnade muß mein Trost sein«, »Lobt ihn mit Herz und Munde« ist er so bedeutend und

*) Fr. Noack : Ohristian GraupDer in seinen Kirchenkantaten«

y

-— 549 ♦—

^

original, daß einem modernen Tonsetzer der Mut sinken

müßte. Im Verhältnis zum Choral schwankt StölzeL

Die eine Gruppe seiner Kantaten enthält meist kurze

Choralbearheitungen, oder flicht überraschend und sehr

wirksam Bruchstücke von Kirchenliedern in Rezitative und

Äriosos ein. In einer zweiten Gruppe begnügt sich auch

Stölzel mit dem einfachen Choral als Schlußstück; in der

Kantate über »Was Gott tut, das ist wohlgetan«, wo man

vielfache und eingehende Auslegungen über die alte

Kirchenmelodie erwartet, wird ihre erste Zeile überhaupt

nur ein einziges Mal solistisch zitiert. Eine dritte, wenn

auch kleine Gruppe seiner Kirchenkantaten verzichtet

überhaupt auf Choräle. Der neben Hasse berühmteste

aller in Deutschland geborenen und wirkenden Komponisten

des 4 8. Jahrhunderts, G. Telemann, von dessen Kantaten G. Telemann.

sich ein Stoß von 60 Stück in dem Thüringischen Dorf

Goldbach erhalten hat, bei denen auch die Besetzung

(9 Sänger, 45 Musiker und K Ciavierist) angegeben ist,

steht dem Choral sehr launisch gegenüber. Am trefflichsten

zeigt die Kantate: »Ach Gott, wie manches Herzeleid «,

eins von Telemanns zahlreichen Adventstücken, seine

Art, den Choral zu zitieren. Da wird ein Baßsolo erst

mit einer Zeile von »Was Gott tut usw.«, dann von der

zweiten Hälfte von »Ein feste Burg«, von der Stelle: »Der

alte böse Feind usw.« unterbrochen. Aber auch Telemann

bringt die Choräle in der Regel nur in der Form, wie sie

die Gemeinde zu seiner Zeit sang, bleibt also ebenfeQls

hinter dem Herzensanteil und der künstlerischen Arbeit

zurück, die Tunder auf sie verwendete.

Aus der vorhin erwähnten handschriftlichen Kantaten- masse sind in jüngster Zeit einige Bände in den Druck gekommen, die es jedermann ermöglichen, auf sicherer Unterlage das Büd der deutschen Kirchenkantate am Ende des 4 7. Jahrhunderts über Buxtehude hinaus zu verfolgen. Es sind das 42 Kantaten von Fr. Wilh. Zachpw*), ein

*) Denkmäler der Tonkunst, XXI/XXU.

-^ 550

Käntatenband Nürnberger Meister*) und 24 Kantaten des Weißenfelser Kapellmeisters Philipp Krieger**). Der Nürnberger Band, der von den Komponisten Hainlein, Hainlein, Schwemmer, Wecker, Pachelbel, Sohwommer, Philipp Krieger und Johann Krieger je nur wenige, Wecker, eins bis drei Probestücke gibt, zeigt die Kantate der ?aohelbel. musikaUschen Reichsstadt unter starkem venetianischen Einfluß. Der Choral tritt sehr zurück, dagegen herrschen im Aufbau der Sätze die scharfen Tempogegensätze, in der Besetzung die Pracht und die großen Mittel, ^e am Markusdom beliebt waren. Die meisten Stücke, wie gleich die ersten von Hainlein und Schwemmer erfreuen durch ihre Frische und durch eine trauliche, aus Volksquellen genährte Einfalt des Tones. Legt man an sie einen von Schein und Schütz abgezogenen Maßstab an, so drängt sich allerdings der Gedanke an den dazwischen hegenden dreißigjährigen Krieg auf. Die Vertiefung in Bibel und Gesangbuch hat abgenommen und im musikalischen Ver- kehr mit Gott hat eine nicht unbeträchtHche Nüchternheit Platz gegriffen. Die Handwerksfertigkeit hat dabjßi wenig gehtten, es wird fugiert und imitiert, es wechseln Einzel- stimmen und Chöre, feierUche und freudige Tempi im Satz. Nur macht sich die Schablone und das Einerlei der Anlage etwas geltend. Der eigentUche Schaden liegt in der Erfindung der Motive, die selten etwas Eigenes sagen. Ab und zu merkt man jedoch an diesen Kantaten, daß im deutschen Land und Musikerstand immer noch reichere Seelenquellen fließen. Ein solches Ausnahmestück ist in diesem Nürnberger Band die als Begräbnismusik gedachte einsätzige Kantate: »Die Gerechten werden weg- Philipp Krieger, gerafft« von Philipp Krieger. Von Anfang an durch schhcht gehaltvolle Deklamation fesselnd, bringt sie bei den Worten »Und ruhqn in ihren Kammern« einen Schluß, der eines Meisters ersten Ranges würdig ist, und der sich musikahschen Hörern unverherbar einprägt. Es ist nun

*) Denkmäler der Tonkunst, 2. Folge 12 I*. **) Denkmäler der Tonkunst, LIV/LV.

«

für die Zeit bezeichnend, daß der eigene, oben angeführte Kriegerband unter seinen 21 Kantaten keine einzige ent- hält, die sich mit dieser eben erörterten Tranerkantate auch nur im entferntesten messen könnte. Geschichtlich ist der Band aber doch von Wert, namentlich dadurch, daß er ein Bild von der Entwicklung der Kantatentexte gibt und den stattlicheren und freieren Ausbau der Gat- tung durch rezitativische und dramatische Elemente, der schon bei Buxtehude beginnt und mit Neumeister ab- schließt, deutlich vorfuhrt. Der großen Ungleichheit der Leistungen, die zum Teil als Folge der Massenproduktion in allen Künsten des 4 7. Jahrhunderts wiederkehrt, begegnen wir auch in den Kantaten Friedrich Wilhelm Zachows.F. W. Zaohow Was ihn aber in den Hauptstücken, unter denen die zweite: »Herr, wenn ich nur dich habe« mit der obligaten Harfenpartie obenan steht, auszeichnet, das ist das wunder- volle, tief melodische Talent, von dem insbesondere die Baßarie, »Ich mag den Himmel nicht«, mit ihrem Reich- tum, ihrer Vornehmheit und Natürlichkeit ein unübertreff- liches Muster bietet. Daß Handel auf einen solchen Lehrer viel hielt, ist leicht zu begreifen. Auch koloristisch sind die Kantaten Zachows überraschend ergiebig.

Zur Hebung der Choralkantate trugen Musiker manches bei, die, wie der Regensburger Stolzenberg) an der Orgel aufgewachsen waren, in der freien Kantate ragen die älteren Vettern Seh. Bachs hervor, besonders der Eise- nacher Christoph Bach, dessen Michaeliskantate »Es erhub sich ein Streit«, die eigenthch zu den Historien gehört, und dessen Lamento: »Ach, daß ich Wassers genug« (Altsolo] heute wieder bekannter sind. Das Lamento hat schnell einen Neudruck erfahren.

Durch Seb. Bach ward endlich auch die Vorlage J. B. Bach. Tunders wieder eingeholt und überholt. Wie den Passio- nen, gab er auch den Kantaten das evangeUsch-litur- gische Rückgrat, mit dem sie fester den Moden der Zeiten trotzen konnten. Bach war der erste, der alle die großen Leistungen, zu welchen die Choralkunst während des 47. Jahrhunderts in der Orgelkomposition

-— 652 ♦—

vorgedrungen war, der Vokalmusik und der Kantate dienstbar machte. Dadurch ist er der Hauptvertreter der evangelischen Kirchenkantate geworden und wird es, so verwendbar und wertvoll auch die in Neudrucken neben ihn tretenden Arbeiten seiner Vorgänger und Zeit- genossen sind, bleiben. Die Zeit hatte in Neumeister und den Männern, welche sich ihm anschlössen, inzwi- schen auch die lange vermißten Dichter beschert . Bach hpb die Sologesänge und Rezitative der Kantate auf einen Punkt, den die italienische Kunst in den Formen wolil hie und da übertraf, im Charakter aber nur selten er- reichte, er stattete sie mit unvergleichlichen Chören aus. Der entscheidende Zug der Bachschen Methode liegt aber darin, daß das Choralelement zu einem Lebenselement ausgebildet ist, welches den ganzen Organismus seiner Kirchenkantaten leuchtend durchdringt. Bach hat aber auch viele Kantaten ohne Choräle geschrieben, die hinter jenen nicht zurücktreten. Die formellen Elemente bilden aber nur einen Teil des Wertes der Bachschen Kantate. Auch ohne sie würde die Fülle der geistigen Persönlichkeit, aus welcher diese Musik geflossen ist, äure bezwingende Macht äußern, wie auf der andern Seite die Bewunderung dieser Werke die Schranken der Kon- fessionen längst durchbrochen hat. Seit der Leipziger Thomaskantor Müller diese Kantaten wieder aus dem Archive hervorsuchte, Rochlitz dieses Ereignis begeistert verkündete und Marx die erste kleine Folge in den Druck gab, ist der Ruhm dieser Werke hundertmal beredt an- gestimmt worden. Oft ist es gesagt: wer diese Kantaten nicht kennt, dem entgeht einer der schönsten und eigen- sten Schätze deutscher Kunst und das Gesamtbild Bachs entbehrt ohne diese Kantaten einige wesentliche Züge. Sie sind die Raritätenkammer, in welcher seine gestaltende Hand ihre feinsten Griffe übte. Von den Passionen und Messen aus ahnt man doch nicht all die Wunderdinge, an denen nur wenige dieser Kantaten ganz leer ausgehen. Namentlich ist jedermann überrascht über die koloristi- schen Mittel, welche Bach hier entfaltet, über die feinen

^ 653 >—

und fesselnden Farbenmischungen, welche er für viele seiner Kantatenarien erdacht und ausgeführt hat. Wer ▼oll Bewunderung über die Fruchtbarkeit, welche unsere neueste Musikperiode auf diesem Spezialgebiete ent- wickelt, zum erstenmal die ganz eigenartigen und cha- rakteristischen Orchesterbilder vor sich sieht, welch'e Bach z. B. der Arie >Wie zittern und schwanken« in der Kantate: >Herr, gehe nicht ins Gericht« und dem Alt- rezitativ in der >Trauerode« beigegeben hat, wird ge- neigt sein, in den Ausruf jenes Enthusiasten mit einzu- stimmen: >Es gibt nichts Neues, was nicht Bach schon gebracht hat«. Und sehr Vieles, darf man hinzufügen, was Baqh in den Kantaten bringt, hat noch keiner wie- der gebracht.

Die religiösen Themen, die sie behandeln, erstrecken sich bekanntlich in mehrfachen Jahrgängen über den ganzen Kreis christlicher Vorstellungen und Empfin- dungen. Bach ist jeder dieser vielfältigen Aufgaben mit einer Superlativen, von Inbrunst und Begeiste- rung beschwingten Kunst gerecht geworden. Aber doch ragt ein besonderer Zug seiner Natur aus der Masse mit eigens großer, halbschauerlicher Deutlichkeit hervor. Dies ist die Sehnsucht nach Sterben, Tod und Leben bei dem Herrn. Dieses Thema schlägt er in seinen Kantaten entschiedener an als irgend ein anderes. Als Kraftnatur gibt er sich in allen Situationen, grandios ist auch seine Freude und Heiterkeit Aber niemals arbeitet seine Empfindung und seine Kunst mit vollerer Energie und Hingabe, als wenn die Texte der Erdenmüdigkeit, der Sehnsucht nach dem letzten Stündlein Ausdruck geben. Die Sprachgewalt, welche seine Musik hierfür in immer andern Registern, in zarten und stürmischen Regungen äußert, hat etwas Dämonisches.

Jeder größeren Stadt wäre ein Verein zu wünschen, welcher die praktische Bekanntmachung dieser Kantaten zu seiner einzigen, besonderen Aufgabe machte. Denn die Summe von Kunst, welche in diesen Werken nieder- gelegt wurde, ist quantitativ und qualitativ zu groß, als

56t ♦—

daß ihr die Chorvereine nebenbei gerecht werden könnten. Immerhin bleiben aber die Verdienste, welche sich einzelne dieser Institute seit der Wiedererweckung Bachs um die systematische Pflege seiner Kirchenkantaten erworben haben, hoch anzuerkennen. Voran ging auch hier die Berliner Singakademie. Dann hat aber kein zweiter Chor- verein so viele Bachsche Kantaten zur Aufführung gebracht als die Breslauer Singakademie unter Mosewius. Seiner Begeisterung für diesen Kunstzweig hat dieser eiMge Mann in einem besonderen Werke*} Ausdruck gegeben, welches seinerzeit sehr anregend gewirkt hat und noch heute brauchbar ist.

Von den fünf Jahrgängen Kirchenkantaten t- gegen 300 Stück , die Bach nachweislich geschrieben hat, sind bekanntlich 490 erhalten. Nur ein sehr geringer Bruch- teil ist' davon bis heute Allgemeingut der musikahschen Welt geworden: die bekanntesten sollen hier nach der Reihenfolge ihrer Entstehung angeführt werden.

Von den verschiedenen Gesichtspunkten, nach denen man sich in die Bachschen Kantaten vertiefen kann, ist ein sehr naheliegender und ergiebiger die Gruppierung nach dem Inhalt oder den Festzeiten. So wirds am besten deutlich, wie Bach Ostern, Pfingsten, Weihnachten und andere Feste immer wieder anders, mit ursprünglicher Frische und doch mit Wahrung bestimmter Grundzüge feiert, wie unendlich reich, klar und wesensbestimmt er ist. Nicht minder reizvoll und notwendig ist es aber auch der Entwicklung Bachs nachzugehen und seine Kantaten sich nach der Zeit der Entstehung zu eigen zu machen. Mindestens die Bekanntschaft mit seinen ersten beiden Kirchenkantaten sollte sich kein Bachfreund ent- Arnitftdter gehen lassen. Das ist die Arnstädter »Denn du wirst Kantate, meine Seele nicht in der Hölle lassen« vom Jahre 4 704 und die vielgenannte Mühlhausener Ratswahlkantate >Gott ist mein König« von 4 708. In jener ist die

*) >J. S. Bach in seinen Kirchenkantaten und Ohoral- gesängen«, Berlin 1845.

\

--4 558 4— V

ganz außerordentliche Frische, die kindliche Unbefangen- heit das Eigene, mit der Bach die durchweg landläufigen und meist ausgesprochen volkstümlichen Motive handhabt. Daneben tritt aber auch, am stärksten in dem Duett: »Ich jauchze, ich lache« eine keineswegs gewöhnliche Kunstfertigkeit zutage. Die vielen Rezitative bekunden dazu eine entschieden moderne Richtung, die ja auch noch aus der Anlehnung an die da capo-Arie hervortritt. Aber, wäre die Komposition nicht zu gut beglaubigt, könnte man sie auf Rechnung irgendeines , allerdings sehr be- gabten mitteldeutschen Kantors setzen. In der Mühl- Htthlhansener hausener Kantate kehren die Arnstädter Züge wieder; Batswahlkantate. auch sie ist reich an Volksmusik, und sie steigert im Schlußsatz den fröhlichen Ton sogar bis zur kecken Aus- gelassenheit Von den Worten: »Glück, Heil und großer Sieg muß täglich vom Neuen dich, Joseph, er&euen«, ab wird er zum reinsten Kehraus und läßt ohne jegliches Bedenken in den Vormittagsgottesdienst schon die nach- mittägliche Festwiese hineinklingen. Aber neben diesem jugendlich lustigen und liebenswürdigen Bach steht doch hier schon ein anderer, der mehr zu bedeuten hat, als die besten und geschicktesten seiner Standesgenossen. Gleich nach dem fröhlichen Eingang »Gott ist mein König« ruft die im Text eigentlich nebensächliche Wendung »von Alters her« den großen Melancholiker ganz unversehens und überraschend auf den Plan. Diesem ersten kleinen Zug Bachschen Tiefsinns reihen sich dann ganze, große Stücke an, das originellste unter ihnen ist der Chor »Du wollest dem Feinde nicht geben«, der schlagende Natur- malerei — die Turteltauben führen beständig das Wort und den Ernst eines geängstigten Herzens ganz wunder- bar mischt.

Diese beiden Kantaten geben also ein Bild von dem Grunde Bachschen Wesens und von seiner raschen und gewaltigen Entwicklung. Von der Mühlhausener hat es bis zur Zeit der vollen Reife nur noch kurze Zeit gedauert. J. 8. Bach, Denn die Kantate: »Gottes Zeit ist die allerbeste Gottes Zelt Zeit«, eine seiner bedeutendsten und bekanntesten, schrieb (Actus tragicus)

-— 556 ♦—

Bach in seinem 26. Jahre zu Weimar für die Beisetzung eines angesehenen Biirgers. Das war der »Actus tragicus«, von weldiem sie ihren Nebentitel und för welchen sie die sanften, weichen Klageweisen ihrer Instrumentaleinleitung (Sonata benannt) hat. Der Text, mit einer dichterischen Umschreibung des Bibelspruchs »Im Herren leben wir, im Herren 'sterben wir« beginnend, geht darauf aus uns Schritt vor Schritt das Drama des Todes vorzuführen: Es nahen die Sterbegedanken, wir hören die Botschaft des Todesengels. Bald aber löst ihn die Stimme des Herrn und Heilands ab, die Stimme Jesu Christi, der dem Tod seinen Schrecken genommen und ihn zum Eingang ins himmlische Paradies gemacht hat. Den Bibelspruch des Eingangs hat Bach in einem mehrstimmigen, feierlichen Satz komponiert, von dem Mendelssohn mit Recht sagt, daß er auch von einem andern Komponisten herrühren könnte. Nur das Adagio, welches von den Worten ab: »In ihm sterben wir« beginnt, hat Bachsche Züge. Die drei letzten tiefen gedeckten Noten »wenn er will« hätte schwerlich ein Zweiter gefunden. Und nun kommen die eigentlichen Sterbegedanken in einem Tenorsolo »Ach Herr, lehre uns bedenken«, zu welchem die Flöte eine nachdenkliche Melodie spielt, welche wie ein Verhängnis nicht vom Platze weichen will Immer kehrt sie wieder und bildet musiXalisdi den Hauptträger der Nummer. Die Botschaft vom Tode »Bestelle dein Haus« trägt der Baß in einem rauhen, gewalttätigen Tone vor. Sie entlockt dem Soloquartett*) in dem Satze »Es ist der alte Bund« eine ernste Klage, deren resignationsvoller Charakter noch nachdrücklich durch die tiefe Lage unterstrichen wird, in welcher Baß, Alt und Tenor einsetzen. Sie erklingen in einem Register, das Grauen erregt. Der Sopran bringt mit dem freudig aufheiternden Gegenthema »Ja, komm, Herr Jesu Christ« die Wendung. Der neue Bund tritt mit dem von den Inatrumenten angespielten Choral »Ich hab*

*) Die Instnimeiitiening verbjutet es, »Gottes Zeit usw.« als Ohorkantate avfziifaliTen.

--♦ 657 ♦—

mein* Sach' Gott heimgestellt« dem alten entgegen. Am Schiasse der Nummer erhebt sich im Orchester eine my- steriös flatternde Figur, welche auch zu dem nun folgenden Duett zwischen der abgeschiedenen Seele und dem Herrn selbst einen nicht unwichtigen Teil des motivischen Ma- terials beiträgt. Hat Bach an das Bild von der hinab- schwebenden Taube gedacht? Das Duett ist ein »Dialog«, zwischen der »gläubigen Seele« und dem »Bräutigam« ge- /

führt. Der freundlich zusprechende Ton des letzteren (Baß) »Heute wirst du mit mir« verscheucht die letzten Sorgen um den Tod. In Ghoraltönen versichert die Altstimme »Der Tod ist mein Schlaf worden«. Das Vokalquartett steigert diesen Gedanken, ebenfalls an das Kirchenlied anknüpfend, zum Preis und Lob, zuletzt fugierend, aber immer von Gamben und Flöten umflort.

Die Kantate »I ch hatte viel Bekümmernis«, gleich- J. 8. Back, falls eine der durch die Marxsche Ausgabe bekannt ge-Ich hatte viel wordenen, ist für den dritten Trinitatissonntag im Jahre 4714 Bekümmernis, zu Weimar geschrieben. Da ihr Text aber an diesen Tag nicht weiter anknüpft, schrieb Bach darüber: »per ogni tempore«. Es ist möglich, daß er die Kantate ebenfalls zu gelegentlicher Verwendung als Begräbnismusik, von welcher in jener Zeit noch viel gebraucht wurde, bestimmt hatte. Das Thema, welches die Worte »Ich hatte viel Bekümmernis« wiedergibt, wird unter dieser Voraussetzung erst ganz verständlich. Es entspricht mit seinem halb marschartigen Hhythmus durch- aus nicht dem Tone, welcher für solche Worte der nächst- liegende war, hat aber die entschiedenste Ähnlichkeit mit Grab- und Trauerliedern, wie sie die Kurrenden in jener Zeit und noch später sangen. Der Gedankengang im Text der Kantate ist dem »Actus tragicus« sehr verwandt: Kurz wird er im ersten Chor in den Satz zusammengefaßt: »Ich hatte viel Bekümmernis— aber deine Tröstungen erquicken meine Seele « . Bach hat nach Vorausschickung einer von fließen- der Klage und großer Erregung (Trugschlüsse, Fermaten) er- füllten Symphonie diese Worte in einem großen Eingangs- chor komponiert, der ihren Gegensatz aufs schärfste ausprägt. Das »Aber« steht im bedeutungsvollen Adagio, von Pausen

nmgeben, ganz allein. Dann' rollt die Erquickung, die der Trost des Herrn bringt, in einem feurigen Vivace, auf ge- sungenen Orgelmotiven, wie eine gewaltige Flut herein. Ihre Segnungen werden erst zuletzt in einem kurzen Andante ruhig, aber nicht ohne daß Freudentöne hell herausschlagen, betrachtet. Es beginnt nun der Weg wieder von vom: der Text wird musikalisch ausgelegt. Die Bekümmernisse wer- den in zwei Arien geschildert, welche zu den schönsten ge- hören, die wir von Bach besitzen. Noch höher als diä erste (Sopran] steht die zweite (Tenor) mit dem wunderbar aus- drucksvollen Recitativo accompagnato : »Wie hast du dich, mein Gott« und der malerischen, merkwürdig reibenden und stechenden Begleitung des eigentlichenAriensatzes: (»Bäche von gesalzenen Zähren«). In der Mitte geht dieses Rezitativ einmal aus schmerzlichem Sinnen in wilde Erregtheit über. Der Schlußchor des ersten Teils stellt diesem zerknirschten Seelenzustand Hoffnung und Aussicht auf Heilung gegen- über, die wunderbar fein eingeführten Worte« >Harr& auf Gott« bilden den Kernpunkt dieses außerordentlich reich und lebendig entwickelten Satzes. Die ganz frappant de- klamierte Stelle »in mir« ist fast identisch mit dem »wenn er will« im »Actus tragicus « . Der Schlußabschnitt dieses Chores greift sichtlich auf Stimmung und Rhythmus des Eingangs- satzes zurück. Der zweite Teil der nummemreichen Kan- tate schildert die Erquickung des geängsteten Gemüts durch die Hilfe des Herrn. Es ist wieder ein Dialog (Sopran und Baß), der ihn beginnt. Der zweite Satz desselben »Komm*, mein Jesu, und erquicke« ist für die Kirche etwas zu zärt- lich und süß, eins der wenigen Beispiele, mit denen man die unhaltbare Ansicht von dem Pietismus Bachs allenfalls stützen könnte. Auch die Tenorarie fällt im Ausdruck der wiederkehrenden Freude in einen weltlichen Ton, welcher dem späteren Bach nicht untergelaufen sein würde. Ganz groß sind aber die Chöre dieses zweiten Teils, der erste »Sei nun wieder zufrieden« auch bezüglich der Form: Choral mit Fuge. Der Choral, welcher von Stimme zu Stimme wandert, ist: »Wer nur den heben Gott läßt walten <. Der Schlußchor hat Händeischen Charakter.

§59

J. 8. Baoh, Nun ist das

Der melodische Zuschnitt des Fugenthemas >Lob und Ehr* und Preis« kommt in späteren Werken Bachs nur selten wieder; am nächsten unter den bekannten Kantatensätzen steht ihm das berühmte Thema des gewaltigen Kantaten- torso: »Nun ist das Heil und/ die Kraft«.

Dieser Torso muß dem Text nach zu einer Michaelis- kantate gehört haben, von welcher wir nichts weiter Heil und die wissen. Spitta setzt ihn in die spätere Zeit des Kompo- Kraft - nisten. Mit Recht gUt dieses Fragment für einen der ge- waltigsten Chöre, die Bach überhaupt geschrieben hat; die Wucht seiner Wirkung geht weit über seinen äußern Umfang 436 Takte hinaus. Sie beruht nicht bloß auf einer bedeutenden Inspiration, sondern Bach hat diesmal, um seiner Vorstellung von der Größe und Herrlichkeit Gottes den entsprechenden starken Ausdruck zu gebeji, ungewöhnliche Mittel gewählt, Mittel, die nach mehr als einer Richtung das Gigantische streifen. Technisch ist der Chor eine Tripelfuge, an der in verschiedener Weise acht Stimmen beteiligt sind. Schon die Themenaufstellung greift über den üblichen Brauch und über das übliche Maß hinaus, über den Brauch durch den melodischen Aufbau des Anfangsteils, über die gebräuchlichen Maße durch seine Länge. Er besteht aus folgenden 22 Takten :

■^'Af f Ml i'i' ir !■ I' lI^^

Nun ist das Heil und die Kraft und .dasrxReioh und die

Macht voK - eers Oot.tes sei . nes . Qfiria.tas ,vor.den«.'weU der ver.

■^ytiirPfiLüTj^

s

^m

e)

.i^l&aist»>.der-. sie Ter.lclai. .2ge.te, der sie ver. ]da .... ire.teTaic und Nacht vor Gott

Sicher bleibt der erste Teil des Themas der mit a) bezeichnete der wichtigste, aber die beiden folgen- den Teile sind weit mehr als freie Kontrapunkte, sie wer- den von den fngierenden Stimmen genau aufgenommen und jeder hat seinen eigenen Charakter. Der zweite jubelt, der dritte, der überall die ernste Betonung des Wortes »verklagte« herauskehrt, lenkt wieder in den ersten Ton zurück. An der ersten Durchführung neh- men die Stimmen des ersten Chores in der Reihenfolge: Baß, Tenor, Alt und Sopran teU, Kontrabaß, Violen, erste, zweite Violinen verstärken, die Orgel gibt die harmonisch -rhythmische Begleitung. Als der Sopran den ersten Abschnitt beschließt, setzen aber die beiden übrigen instrumei^tengruppen dreifache Oboen und dreifache Trompeten mit Pauken ein, die erste Trompete mit dem Fugenthema, der Oboenchor mit

fröhlichen t^ y H f -TT fflT ^^ ^^^ °^^ ^^

Festsignalen : yV 'ii*| qJ \ ad-i— mit zu dem Motiv- bestand des Satzes gehören. Dazu fällt aber auch der zweite Vokalchor ein, sein Sopran mit dem Thema in der Gegenbewegung:

i^t r i"r. r M.f r r i-i r r.i

Hiim ist das HieU vani die .Kraft and das fieidumd die-

ji*"!! J I I l|| jl hl Lfl I I I 1^

"Macht un . sers Oot.testei. « gwa Chris. tus «or.den

seine anderen Stimmen begleitend und füllend. ^

Das ist der erste von den mehreren Gipfeln des an sich auf ungewöhnlicher Höhe stehenden Kunstwerkes. Alle übrigen Durchführungen , deren die Fuge im ganzen vier hat, sind freier gehalten. Schon die zweite ist unvollständig. Nur der Baß des ersten Chores nimmt das Thema in ihr ganz durch. Nach dem Einsatz des zweiten Chores mit dem Thema im Sopran widmet Bach der Betrachtung der Verworfenen und Verklagten einen Abschnitt, in dem zuerst noch Glieder des The- mas verwendet werden. An ihrem Ende jedoch singt er

r

661

die Worte »der sie verklagetec in einer neuen Weise:. ^ ^Oereiever. kl» *

Sie mischt in den großen Hymnus von der Majestät Gottes, für einen Augenblick nur, aber tief ergreifend, den Ton des Mitleids und der Trauer. Der Eindruck der Stelle wird wesentlich dadurch verstärkt, daß Bach darauf verzichtet, die Rückkehr in den Hauptton irgend- wie zu vermitteln. Nach einem klagenden Aufschrei des Soprans bricht er mit einer Generalpause ab, spricht durch Schweigen und wendet sich dann ohne weiteres der dritten Durchführung zu. Mit ihr beginnt die zweite Hälfte des Chores. Im wesentlichen gleicht sie der ersten; in klei- nen Zügen weicht sie auf Schritt und Tritt beziehuhgs- voll ab. So gleich beim ersten Einsatz des Themas, in dessen Vottrag sich diesmal die Chöre ablösen. Der zweite Ciior, der In der ersten Hälfte zurückstand, ist jetzt mit > dem ersten gleichwertig beschäftigt Bach gibt nun meistens das Thema in zwiefacher Fassung, in der ur- sprünglichen und in der Gegenbewegung zusammen. Des weiteren sind die Farben auch in dem mitwirken- den Orchester glänzender aufgetragen, verschiedene Textstellen lebendiger, in bewegteren Rhythmen ge- geben als bei der ersten Fassung. Die Wiederholung gibt also den Inhalt des ersten Teiles bereichert und im Ausdruck gesteigert.

Die Kantate »Ein' feste Burg« iät unter den im J. 8. Bach, Konzert eingebürgerten die erste, in welcher der Choral Ein' feste Buij^. mehrere Sätze durchzieht In der heute bekannten Fassung ist das Werk erst 4789 vollendet worden. Dem ersten Entwurf vom Jahre 4747, in welchem sie mit dem Texte: »Alles, was von Gott geborene zum Sonntag Oculi bestimmt war, fehlten zwei Häuptstücke, die Chöre Nr. 4 und 5. Beide sind Choralbearbeitungen, der erste eine größten Stils. Die vier Stimmen führen die melodisch variierten Zeilen des Liedes in Fugenform durch. Auf die Singstimmen türmt der kühne Bauherr noch einen Kanon zwischen Oboen und Orchesterbässen. Schmetternde

II, 4. 36

.—^ 562

Trompetenfanfaren, welche leider nur selten originalgetrea zur Ausführung kommen, bilden die glänzenden Spitzen dieser gewaltigen gothischen Musikburg. In dem andern dieser zugesetzten Chöre, der Nr. 6, singen die sämtlichen Stimmen den Choral einfach, aber in einem wuchtigen Unisono. Das Orchester, thematisch von der ersten Strophe ausgehend, breitet eine Flut von Kraft und Trotz darüber aus, deren Wirkung elementar ist Die Nh 2, ein Duett zwischen Sopran und Baß, bereitet den stürmischen Charakter dieser einem Abschnitt aus der Völkerwande- nmg gleichenden Szene vor. Besonders beachtenswert sind in diesem Duett die stolz aufpochenden Motive der Violinen. Von den duettierenden Singstimmen, wekhe hier ausnahmsweise am besten chorweise besetzt werden, bringt der Sopran den Choral. Die Bässe umkleiden den Choral mit einem Triumphgesang, dessen Akzente wie eherne Keile fallen, dessen begeisterte Figuren der menschlichen Atemkraft fast spotten. Den beiden noch übrigen Sologesängen der Kantate gehen rezitativartige Einleitungen voraus, deren Schlüsse außerordentlich schön in den Gesang überleiten. Der letzte dieser S(^o- gesänge, das Duett: »Wie selig sind doch die« (Alt und Tenor) ist eine von Bachs einfachsten und zugleich innig- sten Arbeiten dieser Gattung.

Bekanntlich war Bachs Leipziger Zeit die ergiebigste für die Kirchenkantate. Das erste Werk, welches uns, von dem nicht sicher datierten Chor »Nun ist das Heil usw.« abgesehen, aus dieser Periode im Kon- zert begegnet, ist die Osterkantate vom Jahre 47S4 J. 8. Baoki »Christ lag in Todesbanden«. Das gerade dieses Christ lag in Werk heute zu den bekanntesten Kirchenstücken Bachs Todesbanden. zählt, ist eine erfreuliche Tatsache. Denn von keinem andern fällt ein gleich starkes Licht einmal auf seine dämonische Todesverachtung, zweitens auf den deutschen Charakter seiner Kunst. Sein weitabgewandter Sinn scheint niemals wieder so tief erregt worden zu sein als durch das alte Lutherlied: »Christ ist erstanden« mit seiner lapidaren Schilderung jenes Sieges, durch den der

-"-6- 563

Heiland dem Tod die Macht genommen, der sterbenden Menschheit das Paradies erschlossen hat. So stolz, so herb und gewaltig hat Bach sein Lieblingsthema nicht zum zweitenmal durchgeführt,-« wie in dieser Kantate; so unerbittlich grimmig und düster wie hier das Bild des zu Boden geworfenen Todes nicht wieder gezeichnet.

Mit dieser Auffassung stellt sich Bach in den ent- schiedensten Gegensatz zu den Italienern, die von Pale- ätrina- bis auf Verdi den Tod immer freundlich, am an- tiken Sinn, behandelt haben. Und Bach ist sich dieses Gegensatzes bewußt gewesen, hat den strengen, alles Weiche ausschließenden Eindruck seines in dieser Oster-, kantate aufgestellten Todeszuges durch die Form ver- schärft Die Kantate »Christ lag in Todesbanden« ist die einzige unter Bachs bekannten Kirchenkantaten, die jeglichen italienischen Einfluß bis auf eine einzige ge- ringe Spur abweist. Der Text hält sich ganz ausschließ- lich an das Gesangbtichlied, kein Wort freier madsigali- scher Züdichtung. Die Musik verzichtet völlig auf Rezitativ, Arie, auf alle modernen Elemente und ent- wickelt sich ausgesprochen altdeutsch und protestantisch aus der Ghoralmelodie. Die Kantate »Christ lag in Todes- bänden« ist unter den strengen Choralkantaten Bachs die strengste, sie ist einer der gewichtigsten Beiträge zu jener Kunst der Choralvariation und Choralau'slegung, die seit Eccard und Scheidt in Chor und Orgel zur Blüte gediehen und das rühmlichste musikalische Stück deutscher Selb- ständigkeit geworden war.

Ph. Spitta hat darauf aufmerksam gemacht, daß Bach für einzelne Sätze dieser Osterkantate eine Komposition desselben Textes von seinem Amtsvorgänger Johann Kuhn au als Vorlage im Auge gehabt hat. Bach hat sich aber von dieser Anregung aus weit über Kuhnau hinweg in den Geist vergangener, glaubensstarker, kräf- tiger Zeiten seines Volkes vefsetzt. Ist doch die luthe- rische Melodie aus einem alten deutschen Kirchenlied hervorgegangen, das mit dem Text »Christ ist erstanden^ ins 4 2. Jahrhundert zurückweist. Besonders aber begegnet

36*

564

sich Bach in der EmpfiiaduDg und den Mitteln seiner Kan- tate mit Holbein, Granach und mit vergessenen Vertretern bildender Kunst aus der Reformationszeit.

Die Ghoralmelodie/ die in sieben Sätzen variiert wird, heißt:

J7\ . . - (^

^''*Mi'i>i,rriiTi7f iJn'hf Jijjjjüi

(Christ lag In To-des . ban . den .für Qn8.re Sund ge . stör . ben,l « Er«' ist wieder er«' 8tan. den und haiunsbradit das Xie ben.'

A'j Ji>i jN >iiri II 'I II n\m

V T\.o _-f _ s. .^1 1.. «-:ti. i:«!. ««:^ rL.AA 1^ v.^^ ...J rUii» Ji^^kluis

1

Defl wie 1 8ol. len frölulich sein^Gfott lo. ben und ihm dankJbar

^1 HUI vif'i" '■■'■"

"^ sein und sin4ren HaLI» lu . iah», ■* -Ual '. I0 . In iah!

sein und sin^^en HaLI» . lu . jah»,

Bach stellt sie schon an die Spitze der Instrumental- einleitung (EmoU, O) die er dem Ganzen vorausschickt, einen kurzen Satz für fünfstimmiges Streichorchester und Orgel, den er »Sinfonia< überschrieben hat. Diese Sin- fonia ist die erwähnte einzige Spur italienischen Ein- flusses in der Kantate. Es ist eine Symphonie nach dem Sinn und Muster des Venetianers Giov. Gabrieli, dessen Kirchensymphonien ja, wie bereits öfters bemerkt wurde, in Kantaten, Oratorien, Passionen von allen Deut- schen des 4 7. Jahrhunderts nachgebildet wurden. Selten findet man aber diese Einleitungssymphonien in analogen Fällen so wie hier bei Bach auf den Choral gestimmt. Die Bachsche Symphonie gibt in der ersten Hälfte die Hauptzeile des Chorals ziemlich wörtlich:.

i^M f'rHrüüri

Die kleinen Zusätze und Änderungen, die sie erfahren hat, haben deutsches Gepräge in der wunderbar eindrucks- vollen Hervorhebung eines kurzen Motivs, nämlich der

-^ 565 ♦—

zwei Noten, mit denen der Choral beginnt, in der Verwen- dung des Echos l[zweiter und yierter Takt) wenden sie sich absichtlich deutlich alten Zeiten zu. Die gleich kurze zweite Hälfte des Vorspiels spricht die Ergriffenheit aus, in die das aufgestellte Bild versetzt, am stärksten in einer von den ersten Violinen vorgetragenen unbegleiteten Figur. Der erste Vers ist am breitesten und zu einem großen Chor von bald 400 Takten in der Weise ausge- führt worden, daß der Sopran den sogenannten cantus firmus, d. h. den Choral in Originalform singt, die unte- ren Stimmen in wechselnden Kontrapunkten begleiten. Kornette und Posaunen, beide Violen und Bässe ver- stärken die Chorstimmen, die Violinen illustrieren in selbständigen Motiven. Bach hat vorher und nachher, z. B. in »Ein' feste Burg« und in d,er »Matthäuspassion« sicherlich prachtvollere Eingangschöre auf Choritlmelo- dien aufgebaut, aber keinen, der den Gehalt eines Liedes konzentrierter zum Ausdruck bringt. Das erreicht er hauptsächlich dadurch, daß er die Kontrapunkte immer vom cantus firmus ableitet. Die ersten Zeilen: »Christ lag in Todesbanden für unsre Sund* gegeben« machen davon eine Ausnahme: in ihnen klingt die Melodie des Chorals im Alt, Tenor und Baß nur schwach, nur mit dem kurzen Anfangsmotiv an, der Sopran dominiert nicht bloß formell, sondern sein trauernder, klagender Gesang gibt dem Anfang der Kantate einen sinnigen, auf das Bild von den »Todesbanden« gestützten Char- freitagston. Das wird aber von der dritten Zeile ab anders. Mit den Worten »er ist wieder erstanden« kommt in die unteren Stimmen selbständiges Leben, sie greifen der Führung des Soprans vor, wenden dessen Gedanken in eigener kräftiger Weise. Der Alt setzt die fällige Choralzeile in r^ f , , , | ( | | | ^ verkürztem, energischem =^ JyJ J ' * * *jl I j)

Rhythmus ein, erst: er Jstwie.der er.staa.den

^ Tenor und Baß

dann

J t L i L Liiiriri i"C ' Tenor und Baß

^ Ji« J^ /U1 J > J JJJU^ nehmen diese Wen-

er !W wMarV; suaTTT^ %aL düngen auf und

566

bauen sie zu einem dreistimmigen Fugato aus; erst an dessen Ende tritt der Sopran mit der offiziellen Fassung:

} t I.. i I T^ r I /jTjTI*"" ^®° Aufbau krönend hin- <h p \pi f If f IfT^ zu. Dieses auf den Orgel-

'jSfi ist wi©.dßr^eri:;..BUtii.4ea.* choral Pachelbels zuriiek- greifende Verfahren behält Bach bis zur sechsten Zeile bei. Die Nebenstimmen bereiten die Hauptstimme vor, der breite cantus firmus des Soprans setzt als der not- wendige Abschluß einer dem Zuhöirer ganz vertrauten und in freier Begeisterung vorgetragenen Gedankenreihe ein. Bei diesen Umbildungen der Kirchenweise findet Bach Gelegenheit, in ungesuchter Art den Charakter der em- zelnen Textzeilen eingehender zu berücksichtigen. Am deut- lichsten zeigt das der Abschnitt über die Worte: »deß wir sollen fröhlich sein« mit dem Figurenstrom über »fröhlich«. Die Anlage des Ganzen ist dabei darauf gerichtet, den Ausdruck der Osterfreude immer kräftiger zu ge- stalten, und daran nehmen die beiden Violinen einen starken Anteil. Sie sind es, die bereits am Anfang des Verses, wo die Musik im Obrigen noch im Bann trüber Todesgedanken hinschreitet, bereits auf die »fröhliche Ur- ständ*« hinweisen, von der die alten Dichter singen. Mit Motiven, die organisch aus dem Choral abgeleitet sind: Q I und ähnlichen umflattern sie die gehal-

m y r^^r T r tenen Gänge des Chors und erwecken Er- '^' ' * I ' ' innerungen an figurenreiche, ringsum von Kleingestalten belebte alte Bilder des »Jüngsten Gerichts«. Gegen den Schluß hin, je mehr sie sich dem Halle* lujah nähert, nimmt die Musik des Satzes immermehr den Bach eigentümlichen Charakter seliger Streitbarkeit, eines aller Welt trotzenden, herausfordernden Glaubens- glücks an. Da wird auch der Sopran in die allgemeine Erregung mit hineingezogen, gibt in den beiden letzten Zeilen seinen breiten cantus firmus auf und fugiert im gleichen Ton mit den andern Stimmen. Zwischen den ersten

Einsätzen dieses Hallelu- ^'^ ^ k ■!' \ L "l L. l i- jah, seinen mächtig auf- ro,hlj)T7jli)J^ Jv Jyi=j=

schlagenden Rhythmen: . Hal.le» «llttjali,Halle:k^Jiüi.

—^ 567 ♦—

und dem berühmten Hallelujah des Händelschen Messias besteht eine innere Verwandtschaft Aus beiden spricht die Ekstase mit einer fast dämonischen Energie. Der Anhang des Chors 27 Takte bloß auf das Wort Halle- li:gah -r- entlädt den inneren Jubel in einer Form, wie man sie nur in deutsdier Kirchenmusik, am freiesten in Beethovens Missa sol«mnis findet, in einer Sprache, die sich über die kirchliche Gebundenheit nahezu hinweg- setzt Wenn das Hallelujah in der Achtelbewegung Stimme für Stimme, auf vier Takte hin ohne anzuhalten nach der Höhe stürmt, steht man unter dem Eindruck einer elementaren Kunst, wie vor einem gewaltigen Strom, der die Deiche durchbrechen will. Doch hat Bach mit überlegener Sicherheit den liturgischen Grund- charakter hier gewahrt Denn auch das Thema dieser rauschenden, fast durchweg in Engführungen geführten Fuge

AlUk

A''»rJ^JiJ)rprrl.-''-''p"lMi.l'J''^'lp'l)^

ruht auf dem Choral, auf seiner letzten Zeile. Nach der zweiten Durchführung staut Bach die Fluten; über- raschend, überwältigend kehren die harten, trotzigen Rhythmen wieder, mit denen das Hallelujah zuerst ein- setzte. Sie wollen sich behaupten, aber schließlich endigt der Satz doch mit breit hin durch alle StimAen fließenden Melodien eines dankerfüllten Gemüts.

Der zweite Vers, ein Zwiegesang (EmoU, C) zwi- schen Sopran und Alt, die durch Kornett und Posaunen verstärkt und nur von der Orgel begleitet werden, hält sich enger und kunstloser als alle andern Variationen an den einfachen Choral. Das erklärt sich aus dem Texte, der die Macht schildert, die der Tod in der vor- christlichen Zeit besaß. Er hat nur von Not und Übel zu berichten und dazu eignet sich die einfache Choral- weise mit ihrem traurigen Grundton am besten. Die be- scheidenen Zusätze eigenen Geistes, die Bach mit ein-

^

—4- 568 ♦—

fügte, bestehen hauptsächlich in einigen bedeutsamen Wortwiederholungen. Die bei dem Worte »Tod«, die eindringlichsten, erinnern wörtlich an den Anfang der Sinfonia. Auch das »Hallelujah« wird mehrmals ge- sungen und seine Originalmelodie am entschiedensten erweitert. vDas Verhältnis der beiden Stimmen ist ab- sichtlich äußerst schlicht; kaum zeigt es bemerkenswerte Nachahmungen. Auch diese architektonische Armut ge- hört mit zum Charakter des Satzes; er verlangt schließ- lich auch eine gewisse Leere des Klanges. Darauf muß hingewiesen werden, weil sich ohne jegliche historische Begründung bei diesem Duett, wie auch bei anderen Solosätzen in Bachschen Werken der Brauch einzubür- gern sucht, die Solostimmen in Ghorbesetzung vorzu- tragen.

Auch im dritte n Vers (Emoll, O singt die Solostimme, der Tenor, den Choral zum größten Teil ohne wesentliche Änderungen, nur die Zeilen durch Instrumentenspiel ge- trennt; erst beim Hallelujah greift sie in freien Bildungen, in jubelnden Figuren aus. Aber durch den Violinenchor hat Bach diesen Satz zu einem selbständigen Tonbild gemacht. Er führt das eben- P^n i^^f

ZU einer Siegesmusik aus, in die der Solist den erklären- de«^ Text hineinsingt. An zwei hervortretenden Stellen übernehmen die Bässe die Figuren der Geigen, ^beim Hallelujah und bei »Da bleibet nichts denn Todsgestalt<. Die letztere hat Bach auch noch durch ein plötzlich ein- geworfenes Adagio und durch ein allgemeines Stocken des Vortrags vor dem entscheidenden Worte »Tods- gestalt« ausgezeichnet.

Der vierte Vers »Es war ein wunderlicher Krieg« ist wieder ein Chorsatz, doch wird er nur von der Orgel begleitet. In der Anlage gleicht er dem Eingangschor darin, daß die kontrapunktierenden Nebenstimmen diesmal Sopran, Tenor und Baß ihre Themen zum Fugieren dem vom Alt gesungenen cantus firmus ent-

nehmeir, dem sie wieder in Pachelbelscher Art voraus- gphen. , Den Charakter des Satzes bestimmt eine auf- fallend geschäftige Rhythmik. Sie schreitet vorzugs- weise, ähnlich wie das Duett der falschen Zeugen in der Mätthäuspassion, in beschleunigten Achteln dahin, hängt aber noch sehr reichlich Sechzehntelfiguren an. Alles mit Bezug auf die »wunderliche« Natur des Kriegs, von dem erzählt wird. In förmlichen Hohn lenkt die Schilderung an der Stelle ein: »wie ein Tod den andern fraß«, die Stimmen wiederholen da ihre kleinen Figuren übermütig und. grotesk. Auch im Hallelujah klingt noch die Schadenfreude mit an, mit der das Bild des würde- los gefallenen Todes gezeichnet ist.

Derselbe chromatisch abschreitende Baß, über dem das Grucifixus der Hmoll-{kIesse sich aufbaut, eröfifnet die fünfte Variation der Kantate: »Hier ist das rechte Osterlamm«. Sie erzählt denn auch vom Kreuzestod des Herrn. In ihren Vortrag teilt sich ein Solobaß mit dem Streichorchester in der Weise, daß der Baß die Choralzeilen vorsingt und die erste Violine sie ohne Pause in der Quint oder Oktav nachspielt, während jener, seine Worte in freien Kontrapunkten nochmals wiederholt An einzelnen Stellen ist die Orginalfassung des Chorals nach dem Beispiel der Böhmschen Orgel- choräle erweitert. Es sind Takte mit Figuren eingelegt, um einzelne Begriffe in Bilder zu fassen, wie z. B. das Kreuz. Beim »Tod«, beim »Würger« sind einzelne Töne zu demselben Zweck verlängert, die Stelle »Blut zeich- net« wird ganz wiederholt, an einer anderen Stelle das Wort »nicht« zum Ausdruck größter Entschiedenheit.

Wie nach dem kunstvollen, fantasiereichen ersten Vers der zweite durch seine Schlichtheit wirkt, so hat auch Bach im Endteil der Kantate wieder für gut ge- funden, auf eine Reihe vollerer Bilder einfachere folgen zu lassen. Der sechste Vers ist nach Klang und Be- handlung der Gedanken einer der bescheideneren Sätze, obwohl sein Text zur, Entfaltung einer in Form und In- halt großen Kunst Veranlassung geboten hätte. Bach

570 *—

hat die Ghoralmelodie wieder wie im zweiten Vers in Duettform gebracht. Doch sind diesmal die beiden Solon stimmet Sopran und Tenor ebenbürtig behandelt, stellenweise auch sehr beziehungsvoll, einmal im soge- nannten doppelten Kontrapunkt, geführt. Die Ände- ruilgen am Choral bestehen in neuen Schlüssen der einzelnen Zeilen. Sie greifen mit ihren perlenden Triolenfiguren weit aus und tragen in die melancholisch ernste Kirchenmelodie Osteijubel hinein. Doch bleibt es bei Andeutungen. / Zum Teil hängt diese Beschränkung auch damit zusammen, daß die alte Musik am Ende mehrsätziger Kompositionen abzutönen liebt, selbst in der Instrumentalkomposition, wenigstens in einzelnen ihrer Zweige.

$0 besteht denn auch das Finale von > Christ lag. in Todesbanden« wie bei der überwiegenden Mehrzahl der Bachschen Kantaten in einem schlichten Vortrag des Chorals durch alle Stimmen und Instrumente, 4er sich über die gewöhnliche einfache Form des Gremeinde- gesangs nur durch feinere Stimmführung und Harmonie erhebt. Eine der ausdrucksvollsten dieser Wendungen ist der Trugschluß am Ende der vorletzten Zeile.

Erst in neuerer Zeit begegnen wir zuweilen einer in demselben Jahre (4724) aufgeführten aber noch in Cöthen J. 8. Baoh» komponierten Kantate »Du wahrer Gott und Davids Da^wahrer Sohn«. Der Choral, welcher ihr zugrunde liegt, ist Gott. zuerst mit dem Tenorrezitativ einsetzend : »Christe) du .Lamm Gottes«; der schönste Satz der Kantate das Adagio mit den herrlichen Zwischenspielen, welches nach dem Chore »Aller Augen warten auf dich« be- ginnt. Die Dichtung knüpft an das Evangelium ; vom Sonntag Estomihi an, in welchem erzählt wird, wie ein Blinder am Wege durch den nach Jerusalem ziehenden Heiland das Augenlicht wieder erhält.

Von einer großen Reihe Bachscher Kantaten läßt sich nur die Periode der Entstehung, nicht aber das ge- naue Jahr bestimmen. Von den bekannteren gehören außer der oben erwähnten »Herr gehe nicht ins

574 ♦--

GerichU' hierher: »Halt im Gedächtnis Jesnin J. &• Baoli, Ghtist«, »Es ist dir gesagt« und »Liebster Gott wann * Hen gehe werd' ich sterben«. Sie fallen in den Zeitraum 47)3—87. nicht; Systematische Zü^e haben sie nicht gemein. Die herr- Halt im Ge- Hchste ist »Halt im Gedächtnis« durch die Stelle des dSchtiiiS} Schlußsatzes , wo die Bässe als Himmelsstimmen das Es ist dir »Friede sei mit euch« einsetzen. Der Ort, an welchem gesagt Bach dasselbe ganz einzige Motiv in seiner Adur-Messe anbringt, ferner die Verwendung des Chorals »Erschie- nen ist der herrlich* Tag« weisen darauf hin, daß seine Fantasie bei dieser Komposition mit Weihnachtsgedanken erfüllt war. In der Kantate »Es ist dir gesagt« erregt der harte feste Charakter des ersten Chores ebenso sehr unser Interesse wie seine merkwürdige Disposition. Was dem Menschmi gesagt ist, erfahren wir die erste Hälfte des Satzes hindurch nicht Da mit einem Male kommt das (von Bach eingeschobene) »nämlich« in lapidarer Form. Kein zweiter Komponist hat ein Kolon so in^ seine Rechte eingesetzt. Die Wichtigkeit und Strenge d6s Gebots zu betonen ist die geniale, zunächst aber etwas befremdende Einteilung der Musik allerdings Wie nichts anderes geeignet Der Choral der Kantate ist die Melodie »0 Gott, du f^rommer Gott«. Unter der großen Zahl von Kantaten, welche den Tod als Glück preisen, nimmt die Kantate »Liebster Gott« eine sehr J. 8. Baohi abweichende SteUung ein. Sie hat wenig oder gar nichts Liebster Qbtt. von der düsteren Melancholie, welche sonst überwältigend aus diesen Kompositionen spricht Ja ihre Freude über die Vereinigung mit Jesu (in der Baßarie) kUngt fast zu hell und zu profan. Dieser liebliche Grundton mag wohl damit in Verbindung stehen, daß die Kantate für den Sonntag bestimmt war, an welchem das Evangelium von dem Jüngling von Nain verlesen wurde. Ein Sterben in der Jugendzeit, Begrabenwerden im Frühling, wenn die Vögel in das Trauergeläut hineinsingen das sind die Vorstellungen, welche namentlich den ersten Chor zu erfüllen scheinen, in welchen das von Bach oft kopierte Geläute der Trauerglocken so merkwürdig hoch und

57« ♦—

lebendig, fast anmutig und wie von Lerchenschlag be- ' gleitet, klingt Die Kantate hat keihen eigentlichen Choral, sondern statt dessen eine in einfacher Form ge- haltene geistliche Arie von der Komposition des Leipzi- ger Organisten Vetter. J. B. Badhi In das Jahr 4 728 gehört die Kantate »Wör nur den

Wer nur den lieben Gott läßt walten«, welcher das bekannte Ge- Ueben Gott dicht und die dazu gehörige Melodie von G. Neumark zugrunde liegen. Wenn allgemein bekannt, wird diese Komposition wahrscheinlich Unter der Zahl der popu* lären Kirchenkantaten Bachs einen der ersten Pl&tze einnehmen. Ihr Text, eine von Picander zugerichtete milde Geduldspredigt, ist allgemein zugänglich, ihre Musik, im Grundwesen mehr sinnig als gewaltig, sagt dem modernen Geschmack namenthch durch die große Freiheit des Ausdrucks zu. Die Kantate hat formell mit »Christ lag in Todesbanden< eine gewisse Verwandt- schaft, insofern als sie ebenfalls für alle Nummern den Choral benutzt. Aber währei^d jene ihre Formen streng dm^chbildet, treibt hier Bach mit ihnen ein anmutig fantastisches Spiel, nimmt bald ganze Teile, bald nur kleine Anklänge aus dem cantus firmus, fährt eine Strecke genau durch, schlägt dann wieder ganz über- raschende rezitativische Wege ein: kurz der Komponist bewegt sich in dieser Kantate wie in einer leichtgefdg- ten, geistreichen Improvisation, in einer Freiheit von Form und Ausdruck, daß man zuweilen eher an Philipp Emanuel als an Sebastian Bach denken möchte. Der weitest angelegte Satz ist der erste Chor. Seine Maße schweifen aus. Schön ist die Doppelwirkung des Cho- rals in ihm, der zum Gerüst und gleichzeitig zur Ara- J. 8. Baoh, beske benutzt wird.

Wei da Aus dem Jahre 4 785 begegnen wir in unsern Konzert-

glanbet; aufführungen drei Kantaten: »Wer da glaubet und ge-

Wir dtnken tauft wird«, »Wir danken dir« und »Gott, der Herr,

dir; ist Sonn* und Schild«. Die erste feiert in lauter hellen

Gott, der Heir, Farben die Segnungen des Glaubens. Wunderschön ver-

ist Sonn'* bindet der erste Chor die Schilderung des Friedens und

1

673 ♦—

der Weihe im Herzen des Gläubigen und der begeisterten Kraft, die ihm vom götthc&en Worte zuströmt In mehr fließender und im Schwünge um sich greifender Form durchlebt das letztere Element auch die Baßarie: »Der GlaubjS schafft der Seele Flügel«, eines der schönsten Stücke der Gattung. In den Ghoralsätzen handelt es sich um die Melodie %Wie schön leuchtet der Morgen- stern«. Die zweite Kantate »Wir danken dir« ist eine der vielen 'Rätswahlkantaten, zu deren Komposition Bach dittch seine Amtspflichten als städtischer Musikdirektor verbunden war. Auch seine zweite nachweisbare Kan^ täte, die einzige, welche zu des Komponisten Lebzeiten in Druck kam, die Mühlhausener Kantate »Gott ist mein König«, ist eine Ratswechselkantate. Als echte Fest- musik steht die Leipziger Kantate »Wir danken dir« in Ddur. Den ersten Satz muß man sich zum Einzug der Ratsherrn gespielt Renken. . Es ist ein Orgelkonzert mit Orchester: Motive, welche uns aus der bekannten Dmoll- Toccata geläufig sind, tragen die musikalische Idee. Der , erste Chor »Wir danken dir« ist über dasselbe altUtur- gische Thema aufgebaut, welches in der HmoU-Messe dem Chore »Gratias agimus« zugrunde liegt. Einen drastischen Effekt, wie sich ihn Bach selten erlaubt, zeigt der Schluß des ersten Rezitativs, indem der Chor plötzlich mit »Amen« einfällt. Die dritte der eben zu- sammen genannten Kantaten: »Gott, der Herr, ist Sonn* und Schild« gehört unter die freien Choral- kantaten. Die beiden Choräle, die der Chor im ein- fachen Gemeindestil' vorträgt, sind: »Nun danket alle Gott« und »Wach auf, mein Herz, und singe«. Neben ihnen enthält sie nur noch drei Kunstsätze, darunter einen einzigen Chor. Das ist für eine Bachsche Refor- mationskantate eine ungewöhnlich bescheidene Anlage. Das Jahr 4735 trübte jedoch für Sachsen die Reforma- tionsfreude» . durch die Wiener Friedenspräliminarien schienen die Gefahren, mit denen der polnische Erb- folgekrieg das Land bedrohte, noch nicht beseitigt. Dieser besorgten Stimmung hat Bach in seiner Muidk

574 ♦—

Rechnung getragen, zum Teil mit der Absicht sie zu überwinden.

Besonders ist der erste Satz, der stattlichste der ganzen Kantate, der Aufrichtung gedrückter Gemüter gewidmet Er stellt vor die Fantasie ein Bild des Friedens und der Freude und sucht die Gefühle der Kraft und des Ifots zu be- leben und zu erwecken. Dem ersten Ziel dient das freudig heitere Thema, vnst^gn ««ktento.

Satz eröffnen: ä.i^B. H. 0. ab. o.

Das ist eine volkstümliche Melodie vom Schlage des

Händeischen: »Seht, er kommt mit Preis gekrönt«, eine

Anspielung auf Friedensfeiern und heimziehende Krieger.

Bedeutungsvoll wird sie von lebhaften Schlägen der

^^,_^ Nach wenigen

Pauke begleitet: !^» ^ J J J J J ^^^u>w j^^^^ ^^^

Bach diesen Eingangssatz von »Gott der Herr usw.« für eine seiner Kleinen Messen, die in Gdur, benutzt. Da singt der Chor über die Hornmelodie sein Gloria, das Paukenmotiv aber hat Bach gestrichen.

Dem Kampfesmut und dem Siegesvertrauen gibt Bach durch ein Thema Ausdruck, das an den Rhythmus der Pauken anschließt:

i'»rrrrf

Es wird von Streichinstrumenten und Oboen zu einer dreistimmigen Fuge aufgenommen, in der zweiten Durchführung verbindet sich mit ihm der Gesang der Homer, die Friedensklänge kehren wieder, diesmal erregt umspielt und^ mit einem Schluß, der den Jubel streift

So weit die Einleitung des Satzes, deren Aufbau in drei Abschnitten das beliebte Schema der dreiteiligen Arie durchblicken läßt Genau dieselbe Anordnung, nur in größeren Verhältnissen, wiederholt nun auch der Hauptteil vom Ghoreinsatz ab und auch dieser Haupte

-^ 675 ♦—

teÜ bleibt im wesentlichen Orcbesterkomposition. Die Singstimmen sind wie der Techniker sagt nur darüber geschrieben, aber doch mit einem wunderbaren, .eigenen Ausdruck. Dieses bei Bach sehr häufige, manch- mal bis auf die wörtliche Übernahme von Konzert- und Suitensätzen gesteigerte Verfahren war im 4 8. Jahrhun- dert ■ weit davon eQtfernt Anstoß zu erregen. . Hatten doch in der Liturgie reine Orchestermusik und Solospiel noch ihren festen Platz. Den Text verteilt Bach auf drei Gruppen. Die beiden Zeilen:

f Qtoii, der Herr, ist Sonn' und Schild,

Der Herr gibt Gnade und Ehre

bilden die erste, die Worte: »Er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen« die mittlere. Die dritte Gruppe ist im Text einfache, in der Musik erweiterte Wiederholung der ersten. Hauptsatz und Einleitung haben aber auch das gleiche thematische Material, denn als Hauptthema der ersten Ghorgruppe zeigt sich der Friedensgesang (a), mit dem der Satz begann. Zwar setzen die Singstimmen auf die ersten Zeilen mit eigenen Melodien ein, auf »Gott der Herr usw.« mit dem Baß als Hauptstimme, choral- artig breit, auf »Der Herr gibt Gnade usw.« in schönen

Nachahmungen des f r^^^ f f ^üp # I Tür 1 lundlichen Gedankens: vy f I II ' I ri!ul''"r' '

asw.

freundlichen

aber sie führen sie nicht durch und treten, sobald der Text ausgesprochen ist, das Wort an die Homer ab, deren Thema den Abschnitt wie ein Refrain beherrscht, den Spruch des Chores begründend, bekräftigend und beweisend, lliema b) hat in dieser ersten Gruppe eine Nebenrolle, es dient als begleitender Kontrapunkt zu den beiden Chorstellen. Zu um so größerer Bedeutung ge- langt es aber in der mittleren. Hier wird es ähnlich wie an der entsprechenden Stelle der Einleitung zu einer Fuge ausgeführt, aber diesmal zu einer eingehen- den, mehrteiligen, die durch Engführungen, Umkehmngen, doppelte Kontrapunkte die vertrauensvolle Stimmung der Frommen zu sehr entschiedenem Ausdruck bringt. Vor-

wiegend klingt die Freude an Gott aus diesem Fugensatz. An seinem Ende aber es ist nach dem dritten Einsatz des Basses kommt ein düsterer, streitbarer Ton auf: Bach hat der Feinde der Frommen gedacht. Diese Wen- dung will eb^n von den Sopranen her einen" ener- gischen Charakter annehmen. Da setzen ganz plötzlich die Hörner mit der Friedens^ und Siegesmusik des The- mas a) ein. Es ist die herrlichste Stelle des ganzen Chors und ihr entspricht die ganze Natur der sich daran anschließenden dritten Gruppe: des Wiederholungsteils, der sogenannten Reprise. Sie ist das Ideal eines da capo, gibt wie es sein soll, der Wiederholung des An- fangs jetzt die Kraft eines Beweises und hebt die uns bekannten und vertrauten Worte und Töne zu doppelter Wirkung. D^e Mittel, durch die das Bach erreicht, sind scheinbar einfach, jedenfalls äußerst natürlich. Die Zu- sammenlegung des ersten choralartigen Choreinsatzes mit den beiden Orchesterthemen und das Einfallen der Chorstimmen in den Gesang der HÖmer tut dabei die Hauptsache.

Die dem Chore folgende Altarie (Ddur, 0/3) nimmt den Gedanken, daß Gott Sonn* und Schild ist, nochmals und mit ziemlich gleichen Worten wie der Qior durch. Aber während er sich im Chor auf erregtem Grunde ge- staltet, Kriegs-, Sieges- und Festbilder hervorruft, wendet ihn in der Arie ein ruhiges Gemüt zu einem einfach frommen Danklied. Sein schUc)it volkstümlicher Cha- rakter wird durch den Anfang des Hauptthemas bestimmt:

j fcff' L '^""" j iT I I 1^ I ^^^^ ^^®^® ^^^ ^st <^H[ J^ J J) JJj J I i" J=^F=I dreiteülg, doch be-

Gott ist un.86r_JLL''SoiafundSchild. steht ihr mittlerer Teil im wesentlichen nur aus einer Versetzung des Haupt- satzes von D- nach Adur. Der Aufbau des Satzes folgt der alten Form des Strophenliedes und dient also auch hierin der Absicht, in der Zunge des Volkes zu sprecheuy Die höhere Kunst hat ihren Anteil an der Komposition auf die Mitwirkung eines in Scarlattischer Art obligat gehaltenen Soloinstruments beschränkt, die sich Bach

•J

bekanntlich in seinen Arien nur in seltenen Fällen ver- sagt. Nach der Originalpartitur ist dieses Soloinstru- ment die Oboe, nach den Originalstimmen eine Flöte. Diesmal verdient die Willensmeinung der Originalpartitur den Vorzug, schon weil sich der Klang der Oboe dem der Altstimme besser eint. Die Musik dieser Oboe ruht auf dem Thema des Gesangs, trägt aber schon in das Vorspiel anmutige Figuren hinein. An drei Stellen (Takt 8, 98, 46) hat sie Bach sehr wirksam durch den alten Echo- effekt belebt.

Mit dem Choral »Nun danket alle Gott« (Gdur, O schließt der erste Teil der Kantate. Der vierstimmige Chor singt ihn im einfachen Kirchensatz, das Orchester aber spielt die Friedensmusik des Eingangschors hinein; Anfang und Ende des Teils sind demnach ähnlich the- matisch verbunden, wie im zweiten Teil des Weihnachts- oratoriums, wo Bach das Pastorale im Schlußchor wieder aufnimmt. Je seltener dieses poetische Verfahren in der alten Kirchenmusik vorkommt, desto wichtiger ist es für die Erkenntnis Bachscher Kunst.

Der zweite Teil der Kantate wurde nach der Predigt aufgeführt und scheidet sich vom ersten scharf im Cha- rakter. Dieser ist auf Hoffnung, Freude und Dank ge- stimmt, der zweite auf Sorge und Bitte. Das ihn ein- leitende Baßrezitativ: »Gott Lob, wir wissen den rechten Weg zur Seligkeit« nimmt zum erstenmal die Idee des Reformationsfestes deuthch auf^ rühmt die Wohltat des protestantischen Bekenntnisses, geht aber davon sofort über auf dessen Gegner und bittet um ihre Erleuchtung. Das Auffällige ist nun aber, daß nach dieser Stelle nicht wieder in die Stimmung des ersten Teils der Kantate eingelenkt wird. Das als Arie be- zeichnete Duett von Baß und Sopran: »Gott, ach Gott, verlaß die Deinen nimmermehr« (Hmoll, C) schlägt einen trüben Ton an und vertieft sich in die Gefahren, die der Kirche und dem Lande von den Feinden des Glaubens drohen. Und unter dem Druck dieser Vor- stellung geht die Kantate mit dem kurzen Choralvers

n, 4. 37

> Erhalt* iin& in der Wahrheit« (Gdur, 8/4) zu Ende, nicht jubelnd, wie es der Charakter des Festes erwarten läßt, sondern ganz demütig. Es ist wohl kaum zu be- zweifeln, daß dieser wunderliche Ausgang den Zeitver- hältnissen entsprach. Ein Seitenstück dazu bietet die Kantate: >Herr Jesu Christ, du Friedensfürst«*), die von Dörffel mit der Schlacht von Kesselsdorf in Verbindung gebracht wird. Im ersten Teil unserer Reformations- kantate hat Bach über die Sorgen der Gegenwart hinaus- geführt, im zweiten hat der große Melancholiker sich ihnen gebeugt und sucht ihnen mit Gebet zu Gott zu begegnen. Der Hauptträger dieser Aufgabe ist das an- geführte Duett, ein auch in der Form sehr ungewöhn- liches Tonbild, dem Inhalt nach eine Szene, die in den Vordergrund den geängsteten Beter, in die Mitte und auf die Seiten drohende und drängende Feindesscharen stellt. Sie sind vertreten durch den Chor der Violinen, der mit dem stolz stampfenden, an den zweiten Satz von >Ein^ feste Burg«

Sr"'" y».iJiii^irjrjiiq;^irjrjir

beständig unterbricht und stört. Den Beter zeichnen die beiden Singstimmen mit der Melodie:

fTfif I f III II lu I I'

Qott» ^^ - Gott, ver.laS die De», nen nimj&er.iiiehr.

Ti*ast in jedem Einsatz kehrt sie wieder und dadurch erhält der Satz seine besondere Form und auch seinen Charakter. Er ist eine freie Nachbildung der Litanei.

Aus Bachs letzter Periode, von der Mitte der dreißi- ger Jahre ab, zählen nur wenige Kantaten zu den heute bekannteren. Die erste ist die Choralkantate J. S. Back, >Ach Gott, wie manches Herzeleid«, ein schwer- Ach Gott, mutiges Werk, welches sich nur am Schluß ein wenig wie manches, aufhellt. Bezeichnender Weise hat sich in ihm Bach der Chromatik in der Melodiebildung sehr nachdrücklich

•) B. W. (d. 1. Gwamtausgabe der Werke Ba-hs) XXIV, 136.

bedient. Die Hauptnoten in dem durchfagierteh Thema des eisten Chors (Choral im Baß) bilden ein Stück der chromatischen Skala. Geradezu ans Quälerische streift die Stimmung in der andern chromatischen Nummer der Kantate, in der schweren Baßarie »Empfind ich Höllen- angst usw.c. Die zweite ist die in das Jahr 4736 fallende Kantate »Bleibe bei uns, denn es will Abend wer- j. s. Baeh,

den«. Der Text dieser Komposition knüpft an das Evan- Bleibe bei uns. gelium von den Jüngern an, welche auf dem Wege nach Emmaus dem auferstandenen Heiland begegnen. Die Musik gehört unter das Schönste, was wir von Bach- scher Kunst besitzen. Ein tiefer milder Geist tritt in diesem Werke in besonderer Klarheit und in einer ge- wissen patriarchalischen Hoheit hervor. Alles in wärm- ster Empfindung ohne Leidenschaft, in bildlicher An* schaulichkeit ohne jede Äußerlichkeit. Das Hauptstück ist der erste Chor, aus dem im Anfang etwas von den Weisen erklingt, welche in den beiden großen Passionen die Grablegung Christi begleiten. Ein frommer, liebe- voller, herzlicher Ton spricht aus den lebendigen Zu- reden der Jünger; in ihrem Klang und in ihrer Ber wegung liegt überdies etwas von dem Charakter der Abendstunde. Dramatisch ist das Bild weiter geführt, wie sie mit ihren Bitten beginnen einzudringen, zu eifern und fast zu drohen. Und dann klingt aus dem bewegt . gewordenen Satz das »Bleibe« in langen Noten bald aus dieser, bald aus jener Stimme, wie ein Hilf- und Mahn- ruf in der Finsternis.

Die Kantaten dieser letzten Periode verbindet ein gemeinsamer Zug in der Behandlung des Chorals, den Bach in seiner Originalform so deutlich als möglich sprechen lassen möchte. Was diese beeinträchtigen kann, vermeidet er. Das sprechendste Beispiel für die- ses Bestreben bietet die Kantate »Ach wie flüchtig« J. S. Baoh, in ihrem ersten Satz. Wie aus Stein gebildet tritt uns Ach wie hier die Kirchenmelodie aus dem Munde des Soprans flüchtig. . entgegen. Die übrigen Stimmen kreuzen sie nicht, sie fugieren nicht, sondern deklamieren: der Charakter ihrer

87*

!

580 ♦—

Motive spiegelt die stete Klage der Hauptstimme Yeikkiiiert und YervielfiQtigt wider. Obwolil an sich von großer male- rischer Kraft, stimmen doch die übrigen Satze der Kantate nicht mit dem strengen Ton des Eingangs überein.

Unter den Bachkantaten, die erst in nener Zeit einen breiten Boden in der Offentfichkeit gewonnen haben, steht die 4784 geschriebene Dreikönigskamtate : »Sie wer- den aus Saba alle kommen« obenan. Sie zeigt noch ein letztes Mal den jnngen Badi in seiner vollen Unbe- Cangenheit nnd Liebenswürdigkeit Wie er da auf einem bloßen (von den Hörnern glänzend eingeführten und immer wieder angespielten) Skalenthema den großen Ein- gangsdbor aufbant nnd sich dabei im Aosdrack von Frende und Jubel gar nicht genng tan kann, ja in ihn das Jauchzen der Kinder mit hineinklingen laßt, das er- innert an die glücklichsten Thüringer Zeiten. Gleich groß ist aber auch die Meisterschaft im Satze, mit der dem spärlidben thematischen Material diese Fülle von Bildern abgewonnen ist Wie gleich der Anfang zeigt, spielen hierbd die Künste der Engfühmng eine besondere Rolle. Es gibt nur wenige Sätze in der ganzen Musik, die von einem gleich einfachen Grunde aus so viel Schwung und Kraft entwickeln. Unter den Sologesängen der Kantate steht die Tenorarie : »Nimm mich dir zu eigen hin« diesem großen ■Chor in Stimmung und Wirkung am nächsten. In ihr ver- dienen die Zwischenspiele der Flöten besondere Beachtung.

Mit der Zahl der Aufführungen ist gleich&Ils die zwischen 4783 und 4 787 entstandene Kantate »Du Hirte Israel, höre« neuerdings weit vorgerückt Sie gehört nicht unter die gewaltigen, aber zu den anmutigsten Leistungen Seb. Bachs, und der Hauptträger ihres Wesens ist der Eingangschor, der die Stimmen frei fugierend ver- wendet Mit Verzicht auf eigentlich große Stellen fuhrt er ziemlich gleichmäßig mittelst Triolenmotiven, Orgel- punkten und Schalmeienklang ein traulich liebenswürdiges Fastoralbild vor, das trotz seiner Breite in jedem Abschnitt frisch wirkt

Unter den Sologesängen ist die von zwei Oboen

—4 684 ♦—

umspielte Tenorarie wegen der ernsten Dissonanzen auf >6angen< ^ die Baßarie >Beglückte Herde« wegen ihres weit ausgreifenden Themas und der den »Todesschlaf« mit tiefen Tönen malenden Wendungen bemerkenswert Der Schlußchoral, der hier auf »Der Herr ist mein getreuer Hirt« gesungen wird, ist: »Allein Gott in der Höh sei Ehr«.

Hier anzureihen ist noch die 4740 oder 4744 geschrie- bene Piingstkantate »0 ewiges Feuer, o Ursprung der Lieb Q«. In ihrem festlich rauschenden Klang, in der Menge ihrer fröhlichen, den Ernst nur spärlich berück- sichtigenden Motive, in der Freiheit ihrer Polyphonie steht sie unter den Kirchenkantatien Bachs ziemlich vereinzelt. Das erklärt sich daraus, daß sie aus einer größeren, in der Hauptsache verloren gegangenen Hochzeitsmusik um* gearbeitet ist. Sie hat nur drei Sätze, emen Eingangs- un^ einen Schlußchor, dazwischen eine sehr liebenswür- dige, an das Weihnachtsoratorium erinnernde Altarie. Der Schlußchor, der merkwürdig homophon verläuft, ent- hält in den Eingangstakten auf die Worte: »Friede über Israel« die Hauptstelle der ganzen Kantate.

Die übrigen zu der hier in Betracht kommenden Gruppe gehörenden Stücke sind sämtlich Choralkantaten nach Pajchelbelschem Muster. Sie verfolgen den Choral nicht, wie etwa »Ein* feste Burg« oder »Christ lag. in Todesbanden«, durch die einzelnen Verse, sondern sie beschränken ihn auf den ersten Satz, einen breiten Chor mit dem Sopran als Hauptstimme und Vertreterin des cantusiinnus. Die frühere Zeit verhielt sich zu dieser Art Choralkantaten etwas kühler, erst im letzten Drittel des 4 9. Jahrhunderts ist versucht worden, sie als die Spitzen der Bachschen Kantatenkunst hinzustellen. Sie fallen alle in die spätere Leipziger Zeit, wo Bachs Freude am Amt gedämpft war, und lassen mehr den Meister des Satzes, als den großen Erfinder und Menschen erkennen. Das schließt eine glänzende äußere Wirkung einzelner Sätze nicht aus.

Mit besonderer Auszeichnung muß unter diesen Ar- beiten die Kantate »Jesu, der du meine Seele« her- vorgehoben werden, einmal, weil der erste Satz besonders

\

kunstvoll in den Nebenstimmen dasselbe chromatische Thema, das allgemein aus dem Cruciiixus der Hmoll-MesBe bekannt ist, durchführt und in der Stimniungsentwicklung sich vom tiefsinnigen Ernst zur hoffnungsvollen Erregung steigert, zum andern, weil diese Kantate auch in den Nebensätzen auf einen höchst eigentümlichen KünsÜer hinweist. Unter ihnen fällt namentlich das Duett (So pran und Alt) »Wir eüen mit schwachen, doch emsigen Schritten« auf. Zu ihm findet sich in dem ganzen Bach- schen Kantatenschatz kaum ein Seitenstück; es klingt gar nicht Bachisch und nicht kirchlich, sondern durchaus. weltUch, wie der vertrauensvolle Zwiegesang anmutiger Kinder. Spittas Vermutung wird wohl richtig sein, daß Bach bei der Komposition der dritte Vers des Gesang- buchliedes vorgeschwebt hat, der davon spricht, wie be- törte Püger dem Höllenpfuhl entgegentänzeln. Auch die Tenorarie >Dein Blut« ist durch die Malereien auf > Streit«, die Baßarie >Du wirst mein Gewissen stillen« durch das Eingreifen der beiden obUgaten Oboen fesselnd.

An Wirkung und Güte der Arbeit ist unter diesen Choralkantaten des späteren Bach vielleicht »Wie schön leuchtet der Morgenstern« die bedeutendste. Sie nimmt gleich durch ihre breite, über die Motive des Chorals entwickelte, durch den prunkenden Hörnerklang gekrönte Orchestereinleitung gefangen. Dann folgt der Chor mit dem cantus firmus im Sopran, der aus den Nebenstimmen fortwährend in Verkürzungen oder Andeutungen wider- hallt. Der Satz bedeutet das Höchste, was unter Beibe- haltung der Originalform an Ausnutzung einer Choralmelodie geleistet werden kann, und steht zweitens auch durch seine Klanggewalt mit an der Spitze Bachscher Kantaten- arbeiten. Die darauf folgende Arie des Sopran und des Tenors stellen der Größe dieser Leistung freundliche, an- mutige Idyllen gegenüber. Der Choral im einfachen Chor- satz beschließt das Werk.

Die Kantate »Wachet auf, ruft uns die Stimme«, die schon 4 734 geschrieben wurde, kann in der Anlage und Durchführung des ersten Satzes als ein Vorläufer der

583 ^—

eben behandelten gelten. Sie hat einen besonderen Wert durch die Nebensätze. Unter ihnen ist das Duett (Sopran, Baß) >Wann kommst du, mein Heil?« eines der längsten, die sich bei Bach finden, zugleich aber auch durch den Ausdruck bräutlicher Inbrunst eines der schönsten. Ein zweites Duett derselben Stimmen: >Mein Freund ist mein«, schlägt in seiner Freundlichkeit einen weltlichen Ton an, der an manche ältere Komposition des »Hohen Lieds« erinnert. Zwischen beiden Nummern steht eine Tenorarie von sehr mystischer Wirkung, in der der Sänger nichts weiter als den einfachen Choral vorzutragen hat

Als letzte unter den heute bekannter gewordenen Choralkantaten Bachs mag noch »0 Jesu Christ,mein's Lebens Licht« verzeichnet werden. Sie bestehf aus einem einzigen Satze und ist die einzige unter allen Kan- taten Bachs, die das Orchester auf Messingbläser beschränkt. Wahrscheinlich hat sie als Begräbnismusik gedient.

Zwei seiner Kantatenwerke hat Bach Oratorien he* nannt: die Himmelfahrtskantate >Lobet Gott in seinen Reichen« und den Zyklus von Weihnachtskantaten, welcher mit »Jauchzet, frohlocket« beginnt. Mit einem dritten Oratorium Bachs, dem Osteroratorium , hat es eine andere Bewandtnis. Es gehört zu einer ähnliehen, wirklich dramatischen Formengruppe, wie sie früher in den Auferstehungshistorien der Scandellus, Besler, Schütz und anderer Tonsetzer des 4 7. Jahrhundert, oder in den Dialogen Hammerschmidts vertreten ist. Die Oratorien zur Himmelfahrt und zu Weihnachten sind aber Kantaten, welche sich von den übrigen Kirchen- . kantaten formell nur im Rezitativte^t unterscheiden. Dort ausschließlich betrachtender und lyrischer Natur, nimmt er in diesen sogenannten Oratorien erzählende Elemente in sich auf.

Das Weihnachtsoratorium, das Bach im Jahre 4 734 komponiert hat, besteht aus sechs Kantaten, je eine für den ersten, zweiten und dritten Weihnachtsfeiertag, für Neujahr, für Sonntag nach Neujahr und für das Epiphanias- oder Hohneujahrsfest. Sie gehören liturgisch zusammen,

J. 8. Baohi

Welhnachts-

oratoriom.

584 «—

denn die kirchliche Weihnachtszeit erstreckt sich über die alten Zwölfnächte. Künstlerisch bilden sie ein kaum ge- schlossenes Ganzes: der wichtigste Teil der dargestellten Ereignisse liegt am Anfang, die Darstellung selbst setzt sechsmal in denselben Formen an und ab. Trotzdem lassen wir uns das Weihnachtsoratorium nicht nehmen. Denn Weihnachten ist unser Hauptfest, trägt von alters her in das bürgerliche Leben eine Freude und Poesie herein, wie sie sich das ganze Jahr nicht zum zweiten- male bietet Die ganze Schönheit und der tiefe Gehalt der Weihnachtszeit lebt aber in vielen Stücken jenes Werkes so herzlich auf, daß man ihnen aus aller Kunst wenig an die Seite setzen kann. Für Weihnachten t^rar Bach ganz besonders begabt und geschult; eine große, große Anzahl seiner Instrumentalstücke sind unbenannte Weihnachtsdichtungen! So ist denn das Weihnachtsora- torium eine der melodienreichsten, eingänglichsten und volkstümlichsten unter seinen großen Kompositionen.

Bachs Weihnachtsoratorium im geistlichen Konzert im ganzen einzubürgern hat zuerst (i. J. 1844) Mosewius versucht Seitdem ist dieser Versuch zwar ab und zu wieder erneuert worden; überwiegend haben aber die gewonnenen Erfahrungen dahin geführt, es bei den ersten zwei Teilen oder bei einem Auszug, der das Wichtigste und Wertvollste aus den sechs Kantaten zusammenfaßt, bewenden zu lassen. Derlei Auszüge und Einrichtungen des Weihnachtsoratoriums existieren aber nur hand- schriftlich.

Die Musik des Weihnachtsoratoriums besteht wie in den meisten Kirchenkantaten Bachs aus Chören, Arien und Rezitativen, den zweiten Teil eröffnet ein selbstän- diger Orchestersatz, das aus Einzelaufführungen weltbe- kannt gewordene Pastorale. Choralbearbeitungen in dem großartigen Stil, wie sie in der Matthäuspassion, in einer Reihe der bedeutendsten Kantaten die Hauptstücke bil- den, kommen im Weihnachtsoratorium nicht vor; aber in einfachen und kleinen Formen vertritt der Choral das kirchliche Element genügend, besonders sinnreich und

585

überraschend in Solosätzen. Keine zweite unter den> größeren Vokalkompositionen Bachs ist so reioh an Paro- dien, d. h. aus weltlichen Werken übertragenen Sätzen, wie das Weihnachtsoratorium. Der größte Teil der so- genannten madrigalischen, der frei gedichteten, nicht der Bibel oder dem Gesangbuch entnommenen Texte, wurde mit Chor- und Solosätzen aus dramatischen Fest- musiken gedeckt, die Bach kurz vorher als Direktor des früheren Telemannschen studentischen collegium musicum für den Geburtstag der Königin und des Kurprinzen von Sachsen, für den Leipziger Besuch des Königs selbst und für ähnliche Gelegenheitsakte geschrieben hatte*)* Das Verfahren an sich war im 4 8. Jahrhundert allgemein und bei der volkstümlichen Haltung der da- maligen Kirchenmusik ganz natürlich. Beim Weihnachts- oratorium legte es der fröhliche Grundton des Werkes besonders nahe.

Gleich der große Eingangschor der ersten Kantate »Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage« ist eine solche Parodie. In dem >Dramma per musica« zu Ehrep der Königin, dem sie entnommen, lautet der Text: »Tö- net, ihr Pauken, erschallet, Trompeten«. Deshalb das

« , ^. fcvff f*^ zurEröffnung des Satzes. *

Paukenmotiv : V^ f f f | ^ Jj die Trompetenfanfare :

^ ^1 ^_ gleich hinterdrein,

ylltf rHJJJlIrprrrriP deshalb die bevor- ir " äiiä- ii- .'ii um zugte Stellung dieser

Instrumente im Orchesterteile der Nummer! Doch passen das Trompetengeschmetter und der Paukenlärm ganz voHrefitlich zu der Feststimmun^, die alles Volk am ersten Weihnachtsfeiertag ergreift und auch noch in die Kirche hinein begleitet und gerade, daß er ein wenig die Fär- bung eines rauschenden Volksfestes zeigt, unterscheidet den Anfangschor des Weihnachtsoratoriums von den andern Chören, die die einzelnen Teile einleiten. Sie

^1 11 mim

*) Die näheren Nachwelse finden sich in der Vorrede zn V2 der B.W. und In Philipp Splttas Baohbiographle II, S. 404 ff.

I

i

586 ♦^—

gleichen sich sonst sämtlich in der Form, die immer aaf die dreisät^ige italienische Arie zurückgeht, und auch in der Stimmung. Sie sollen alle Freude und Dank aus- sprechen; um aber diese Hauptidee zu heben, hat Bach immer in der Mitte dieser Chorbilder einen kleinen Schatten angebracht Auf eine eigentliche Ouvertüre des ganzen Werkes, wie sie die gleichzeitigen ttaliener oder die Neueren dem Orchester geben, hat Bach verzichtet. Die Aufgabe, im richtigen Ton vorzubereiten, fiel in solchen Fällen dem Organisten zu, dessen Spiel den Instrumentalisten zugleich zum Einstimmen diente. Dem Einsatz des Chores geht in der ersten Nummer nur ein sogenanntes Ritornell voraus, ein kurzes Orchestervor- spiel, das den Inhalt der Nummer durch einen knappen Hinweis auf die beiden Hauptthemen ihres Hauptsatzes andeutet. Sie heißen: ^

Jaach.zet, froh . lok m ket, auf, preLset . g», ^ ruh

1*-^ iiiiiji PirrfT^

Tmet, was hdoie der Höchste ge . tao

•^ IH ; ^Brt^da» . ZaLgen,ver; banjMl diej Kla^ »er;

i"iiiiiiLiiii'i'iiiiyi min

Klage, v^r.,ban ... netdie Klage.

Vom zweiten erscheint aber im Vorspiel nur das mit + bezeichnete Motiv aus dem Schluß. Die Stimmen singen es einander nach. Das erste Haupttfcema tritt vorwie- gend immer in kompakter Vierstimmigkeit, leichter stiü- siert und auf großen Klang berechnet auf. Eingeleitet wird es durch einen sehr spannenden Abschnitt, der das vorhin angegebene Paukenmotiv äußerst wirksam für den Chorsatz umbildet: in ein Unisono, bei dem der sehr tief

^p

687 ♦—

hinabsteigende Sopran ersichtlich auf den breiten Brüste ton von Knabenstimmen oder Falsettisten rechnet. Das kleine Sätzchen wirkt außerordentlich lebendig, fast dra- matisch, namentlich als es am Schluß mit kurzen Rufen: »jauchzet, frohlocket c kühn und heroisch die Höhe auf- sucht So ist auch de^ ganze Aufbau des Hauptsatzes in aller Einfachheit meisterlich. Allgemeines Jauchzen und Freuderufen beginnt. Dann erst äußert sich die Stimmung in klaren fortlaufenden Gedanken und diese Gedanken stehen zu einander im Verhältnis der Steige- rung und Vertiefung. Der Mittelsatz geht in den, ruhigen Ton frommer Andacht über. Sein Hauptthema:

Dia not 4fim Höchsten mit berr^Iijche

ijchsn Chö .

wird von den Stimmen in Nachahmungen durchgeführt; bei den Worten >laßt uns den Namen des Herrschers verehren« folgt ein homophon gehaltener, wieder beweg- ter gestimmter Nachsatz, der die Verbindung mit dem Schlußteil des Chors, einer Wiederholung des Haupt-^ Satzes, herstellt.

Nach dem Eingangschor bjeginnt der Solotenor den Bericht des Evangelisten in jenem dem Text im Einzel- nen folgenden, melodisch reichen Stil, der Bach und sei- nen deutschen Zeitgenossen im Seccorecitativ eigentüm- lich ist. Von da ab besteht der erste Teil in Betrach- tungen über das angekündigte Ereignis. Bedeutender als die Musik selbst, in die sie gesetzt sind, ist die Auffas- sung der Weihnachtsfeier, die, Bach zugrunde gelegt hat. Es ist ein Weihnachten fast in Thomaschen Farben, für das sich in jeglicher Art Kunst des 4 8. Jahrhunderts schwerlich Vor- und Seitenbilder finden. Bachs Ge- danken sind auf den Gegensatz zwischen Christi Mensch- werdung und zwischen seiner Göttlichkeit gerichtet und das Hauptgefühl, das ihn bewegt) ist die Rührung über das Opfer, das der Heiland der Welt gebracht hat. Der Glanz des Gottessohnes als Herr und König ist im wesent- lichen auf die Baßarie: > Großer Herr und starker König«

688 ♦—

beschränkt; in allen anderen Sätzen klingt stärker oder schwächer schon das Leiden und Sterben Christi an. Bie Adventsverse : »Wie soll ich dich empfangen« läßt Bach geradezu auf einen Passionschoral, auf den Choral »0 Haupt voll Blut und Wunden« singen. Bas musika- lische Hauptstück des Teils ist das Buett: »Er ist auf Erden kommen arm«, eine außerordentlich geistreiche, tief gedachte und tief wirkende Verschmelzung von Lied, Rezitativ und Choral, von einfachster Volksmusik und hoher Kunst. Wie aus der Ferne singt der Solos^pran von Schalmeienmotiven umgehen den Choral »Gelobet seist Bu, Jesus Christ« mit Weihnachtsworten; im Vordergrunde fügt der Solobaß tief ergriffen fromme Bemerkungen' hinzu. Erst am Schlüsse des Teils kommt ein richtiger Weihnachtschoral, der Choral: »Vom Himmel hoch«, aber zu innig liebevollen und zarten Gebetsworten: »Ach mein herzliebes Jesulein« und ganz einfach vom Chor vorgetragen. Nur in gedämpfter Farbe erinnert der Trompeten- und Paukenklang im Zwischenspiel noch einmal an den Eingangschor, an die Baßarie und an den freudigen Charakter des ersten Feiertags.

In der ersten Kantate des Weihnachtsoratoriums herrscht noch etwas Adventsgeist, Schwermut und Nacht Um so heller bricht der Tag in der. zweiten Kantate herein und bringt die Bilder und Klänge, die wir am Christfest gewohnt sind, in höchster Schönheit und Weihe. Bie Musik zum zweiten Feiertag ist der bedeutendste Teil des ganzen Werkes; in den Schlußchören, in der Altarie und in dem Pastorale enthält er Stücke, die un- vergeßlich und in ihrer Art einzig sind.

Ganz besonders gilt das von dem Einleitungssatz, dem als »Sinfonia« bezeichneten Pastorale. Hätte Bach nichts weiter geschrieben als diesen Orchestersatz, er müßte genügen, seinen Namen zu verewigen. Es ist eine Vereinigung von Naturpoesie und hohen Christen- gedanken, von Idylle und Offenbarung, von Fantasie und religiöser Andacht in dieser Musik, wie wir sie so herr- lich nicht zum zweitenmale haben. Und dabei ist die

589 ♦— Anlage und Ausführung so einfach und volkstümlich

als möglich. C0b««ilma8AamrtÄJ ^, _• ^

für die i ' 'if;^'^J^\ dl J/ ÜJ^Z.^^^ Hirten: Ä^ ^^-^ "^

ein ande- ^^riaun^»;^^^

res für die i£» W irrT F JT^f f I Ul IJ.JJ I J* # mn^

p^^

Engel: JiJ^^ ^T^ ^

damit wird alles bestritten. Aber was entwickelt Bach aus diesen Mitteln und ohne die Form des Siciliano zu verlassen für einen Reichtum an Empfindung und an malerischen Anschauungen! Wie spielen da Erde und Himmel, die geheimnisvolle Feierlichkeit der Stemennacht und die unschuldige Fröhlichkeit naiver Menschen in und mit einander! Ganz am Schluß hat Bach auch in dieses Bild auf einen Augenblick eine leichte Passionswendung eingemischt.

Der Bericht des Evangelisten wird wie im ganzen Werke, so namentlich im zweiten Teile häufig durch lyrische Einlagen unterbrochen. Es gab keine Fülle von Ereignissen wie in den Passionen, die Mitteilungen waren in allen Einzelheiten im voraus jedem Hörer bekannt. Da erschien es Bach naturgemäß als die Hauptsache, der Stimmung Ausdruck zu geben, die durch sie hervor- gerufen wurde. So folgt dem Satz des Evangeliums, daß die Hirten sich fürchteten, der Choral »Brich an, du < schönes Morgenlicht«» aber sinnvoll auf die Weise von »Er muntre dich, mein schwacher Geist«, der Verkün- digung des Engels selbst nach einem kurzen, begleiteten Baßrezitative die Tenorarie »Frohe Hirten eilt«. Spitta*) stellt fest, daß mit diesen beiden Stücken Bach einer Beziehung auf eine Sitte in den alten, zu seiner Zeit auch bei den Protestanten noch nicht vergessenen Weih- nachtsspiele^ entsprochen habe. Diese ließen hier einen oder mehrere Hirten auftreten und ein Lob . des Hirten-

•) A. *. 0. IT, 4il-

-♦ 500 ^—

Stands anstimmen. Die hiernach entbehrliche Tenorarie gehört zu den schwierigsten Sologesängen, die Bach, so wie so schwieriger als aller seine Zeitgenossen, überhaupt geschrieben hat. Man tut, wenn man nicht einer ganz vollendeten, namentlich geistig vollendeten Ausführung sicher ist, gut sie wegzulassen. Die bedeutendste unter den lyrischen Einlagen des zweiten Teils ist die schon erwähnte Altarie >Schlafe, mein Liebsterc. Niemand * sieht dieser Arie an, daß sie aus der Kantate zum Ge- burtstage des Kurprinzen stammt, in der sie vom Sopran (eine Terz höher) gesungen wird. Sie muß Bach beson- ders lieb gewesen sein, denn er setzt sich auch darüber hinweg, daß die vorausgehenden Worte des Basses den Hirten eigentlich eine^ Chor auftragen. Die Komposition ist ebenso ausgezeichnet durch die Wiedergabe der Situation wie durch den Ausdruck der Stimmung. Das malerische Element, das den Hauptteil des Stückes trägt, kommt in der

ten,^^^^^^^^ J 1 l^rr^lr ^

denMelodie:^' ^"^U >^ --iiä^*—

und in den sich hin und her wiegenden Rhythmen des Basses zum Ausdruck, und am schönsten, wo sie die Instrumente still und heimlich spielen, die Empfindung kurz, aber intensiv in den Schlußtakten der einzelnen Abschnitte, in die die Arie sich im Hauptsatz gliedert. ' Der Mittelsatz >Labe die Brust« ist der zweiten Aufgabe ausschließlich gewidmet.

Die noch folgenden zwei Sätze der zweiten Kantate haben ganz oder halb dramatische Bedeutung. Den ersten, den Chor >Ehre sei Gott« singen die Engel allein, den andern, den Chorchoral: >Wir singen dir in deinem Heer« Engel und Hirten, und die Gemeinde mit dazu.

Das Häuptthema des Engelchors ist eine aus liturgischen yj^^e.

l0(]2e: Ell lesei 0on,Eh- . . Asei Goiv

Sie setzt gleich in Engführungen ein, an denen alle

-♦ 591 >—

Stimmen beteiligt sind. Niemandem aber wird sich der Eindruck kunstvoRer Arbeit aufdrängen, sondern nur der, daß hier breit und erhaben große Freude zum Aus- druck kotnmt. Wo immer Bach die Worte »Und Friede auf Erden« in Töne gebracht 'hat, ist ihm das immer wieder mit eindringlicher, eigner Schönheit gelungen, stets hat er dafür neue überraschende Wendungen bereit. Hier er sie ruhigei

Sie erhält aber durch die Harmonie des Einsatzes (Sext- akkord vom übermäßigen Dreiklang h-dis-g) einen ganz merkwürdig romantischen Charakter, einen deutlichen Hinweis auf die schmerzvollen Lagen, in denen der Friede entbehrt wird. Mit einer einzigen Note hat da Bach ein BUd angedeutet, das bekanntlich Beethoven im Agnus Dei seiner Missa solemnis in breiten Zügen und mit großen Mitteln ausführt. Der Schluß- . ^

de in der einfach h 'V^ f * T ' ^ ^'^ P * ^ /V ligen Weise: und Prie . . . deaUf« S;r-<ien

^^^^ '^^^'^ anddLifoLJmeinW^. ge.fiü^ . Jen.

das Thema:

Bei diesen Worten schließen sich die Instrumente dem

Ton der Singstimmen an; bis dahin haben sie durchaus

ihre Motive für sich, lauter kurze knisternde Stakkato-

Noten^aus denen der Schimmer des Wunderbaren sich

über den Gesang der Engel breitet.

In dem Choral >Wir singen dir usw.«, der zu der weihnachtlichen Normalmelodie »Vom Himmel hoch« ge- sungen wird, kehren in den Zwischenspielen des Or- chesters poetisch schön und abrundend die Motive des Pastorale wieder, das in den zweiten Feiertag hinein- führte.

Für das Konzert zwingen schon Rücksichten auf Zeit und Aufiiahmefähigkeit die folgenden vier Kantaten zu- sammenzuziehen und diesen Auszug auf eine Länge zu beschränli^en, die der der ersten beiden Kantaten ohnge- fähr gleich ist. Für Beibehalten und Weglassen wird in

592

erster Linie der Lauf der Erzählung und die Wichtigkeit der berichteten Ereignisse maßgebend sein. Damach kann keine (Ueser Kantaten ganz überschlagen werden, denn jede enthält ein Stück Geschichte. In der dritten handelt es sich um die Auffindung des Heilandkindes durch die Hirten, in der vierten um die Namensgebung, in den beiden letzten um die Ankunft der Weisen aus dem Morgenland und um d^ie Nachstellungen des Herodes. Von den Chören, die die letzten vier Kantaten ein- leiten, ist der bedeutendste der der fünften Kantate: »Ehre sei dir Gott gesungene. Wenn man das ganze Weihnachtsoratorium in der Weise aufführt, daß die ersten zwei Kantaten den ersten Teil bilden und die anderen zu einem gleichlangen zweiten vereint werden, so wird man diesen zweiten Teil am besten mit diesem Chor: >£hre sei dir Gottt eröffnen. Der Text eignet sich dazu und noch mehr die Musik. Sie hat den hohen Stil der Bachschen Chöre stärker als der Eingangschor der dritten Kantate, »Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen«. Der der vierten »Fallt mit Danken, fallt mit Loben« ist im Weihnachtskreis überhaupt ein Fremdling, innerlich und äußerlich nähert er sich den Chorarien, die als Ersatz der alten gratiarum actio so schön die Passionen Bachs schließen. Von den Stücken der dritten Kantate kommen am meisten in betracht der dramatische Chor der Ifirten: »Lasset uns nun gehen

genBetMehe^^auf g^^^^^

sehr lebendig aufgebaut und die Altarie: »Schließe mein Herz6, dies selige Wunder« ein Seitenstück zu der der zweiten Kantate: »Schlafe, mein Liebster«. Sie ist in dem Mund der Maria gedacht und gehört zu den wenigen Originalsätzen, die der Sologesang des Weihnachtsora- toriums enthält.

Aus der vierten Kantate wird niemand den Schluß- choral »Jesus richte mein Beginnen« missen wollen. Neben ihm fesselt die Aufmerksamkeit besonders die Sopranarie »Flößt mein Heiland« und zwar als histo-

593

rische Kuriosität. Die Sängerin, die die Braut des Hohen- liedes vertreten soll, stellt an den Heiland Fragen, die von dessen Stimme aus der Ferne mit »ja« und »nein« in denselben Tonfällen beantwortet werden, mit denen die Hauptsolistin schließt. Wir haben es also in diesem Stücke mit einer Verwendung des alten in Chor- und Sologesang, auch in der Instrumentalkomposition der vorhergehenden Jahrhunderte so wichtigen »Echos« zu tun und zwar ist diese Bachsche Arie wohl der letzte Fall seiner Art. In der dramatischen Kantate, aus der die Nummer übertragen ist, fragt Herkules das Orakel. Das Echo ist da also natürlicher an seinem Platze.

In der fünften Kantate steht unter den hervor- ragendsten Stücken zuerst der Chor der Weisen aus dem Morgenlande: »Wo ist der neugeborene König der Ju- den«, eine Probe ähnlich dramatisch, kurz und schlagend gehaltener Musik, wie sie Bach in seiner Matthäusp'assion an vielen Stellen geboten hat. Eigen ist er aber in sei- ner Anlage durch die Unterbrechungen mit schönen, aus- drucksvollen begleiteten Rezitativen. An zweiter Stelle zeichnet sich das Terzett für Sopran, Alt und Tenor: »Ach wann wird die Zeit erscheinen« aus, schon des- halb, weil derartige Ensemblesätze in dem Werke und in der Zeit überhaupt selten sind. Unmittelbar vorher geht ihm eine Stelle im Sekkorezitativ »Und du Bethle- hem im jüdischen Lande«, die sich gleichfalls stilistisch und durch reichen Gefühlston sehr hervorhebt.

Aus der sechsten Kantate paßt, der Eingangschor »Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben« sehr gut an eine andere Stelle, nämlich dahin, wo . der Evangelist von den tückischen Absichten des Herodes berichtet hat. Sein Hauptsatz geht über das siegesfreudige Thema:

Herr wenn die stol.zen Fein, de sohnauA'^.

Auch der mittlere Teil des

p II ^ - _ I T— ' ^^^"^ **®^ miiuere reu aes

^^* rrrrrir^rCliCir^ ^^^^ ^^^ ^^^ diesem Thema

--^ben. abgeleitet. Die sechste II, 4. 38

e 594 ♦—

Kantate ist wie alle des Weihnachtsoratoriums reich an kleinen Solosätzen, die die Formen des Rezitatives und des Arioso frei verschmelzen, unter ihnen besonders wirk- sam das Quartett: »Was will der Hölle Schrecken nun«, in das sich die Stimmen, ähnlich wie in dem bekannten Stück am. Schluß, der Matthäuspassion, teilen. Auch der Tenorsolist hat in dieser Kantate endlich eine Nummer von dankbarer Natur. Es ist die Arie: »So mögt ihr stolzen Feinde«. Der letzte Satz der Kantate ist eine breitere Choralfantasie: »So seid ihr wohl gerochen«. Die Choralmelodie ist die von »0 Haupt voll Blut und Wunden«, dieselbe, die in der ersten Kantate den Anfang der Choräle machte. So rundet sich also das Ganze schön ab, und nochmals bringt Bach seine tiefsinnige Auffassung des Weihnachtsfestes zum Ausdruck.

Kürzlich hat der Vorgang Sr. Kgl. Hoheit des Prinzen Friedrich Wilhelm von Preußen gezeigt, wie sich den zahlreichen Weihnachtskantaten Bachs noch weitere Weih- nachtsoratorien abgewinnen lassen*).

Unter den i 90 als echt beglaubigten Kirchenkantaten, welche die große Bachausgabe mitteilt, befinden sich 53 Solokantaten. Der kleinere Teil fällt in Bachs Wei- marsche, der größere in seine Leipziger Zeit und da überwiegend auf die hohen Feste und andere Zeiten, die an Kantorat und Chor besondere Ansprüche stellen. Zu- weilen, z. B. in den Kantaten: »Ich liebe den Höchsten« und »Er rufet den Schafen« hat sich da Bach sehr kurz gehalten: zwei SoIOnummern, Rezitative dazwischen und Choral. Oder er hilft sich mit fertigen langen Instrumental- sätzen, auch solchen, die wie die Eingangssätze aus dem ersten und dritten brandenburgischen Konzert heute kirch- lich beanstandet würden, er erledigt ferner manches Stück betrachtenden Textes, das Gesang verlangt, als Rezitativ und begnügt sich endlich in den Arien selbst häufig mit Mittelgut. Jedoch werden wie bei den Chorkantaten die schwächeren Stücke durch die vollendeten und eigensten

♦) Bach-Jahrbuch 1913.

595 ♦—

aufgewogen, wie sie erfüllt und beseelt auch die Solo- kantaten alle ein ausgeprägt evangelischer Geist; nur ganz wenige sehen vom Gemeindelied ab. Ja ähnlich, wie die Klavier- und Kammermusik der großen modernen Instrumentalkomponisten zu ihren Symphonien hinzuge- nommen werden muß, so ergänzen sie das Bild des klassischen Meisters der Kirchenkantaten und zwar nach zwei Seiten seiner Kunst, der poetisch-sinnigen und der dramatischen. Jene spricht aus Ghoralzitaten und kleinen Ghoralgebilden, wie sie das Wei|inachtsoratorium aus- zeichnen, diese aus dem Erfassen und Schildern der Situa- tionen, aus dem Lösen der Konflikte. Keine andere Kunst des damaligen Deutschland hat einen Bach und auch die Musik besitzt ihn nur einmal!

Den Zugang zu diesen Sätzen werden praktische Ausgaben, die vor allem das Äkkompagnement stil- gerecht vervollständigen, erleichtern müssen, eine all- gemeine Verbreitung jedoch, wie sie Hammerschmidts Dialoge oder Tunders und anderer Komponisten geist- liche Konzerte beanspruchen können, ist für die Mehr- zahl der Bachschen Solokantaten deshalb nicht zu er- warten, weil sie in den Gesangpartien und in den konzertierenden Instrumenten außerordentlich schwer sind. Die Weimarschen, soweit sie sich feststellen lassen, sind populärer gehalten, die Leipziger aber spotten der bekannten Eingaben und Klagen Bachs über die Armseligkeit seiner Sänger und Spieler und setzen ein mehr als alltägliches Solistenmaterial voraus: in der Geläufigkeit und im Ausdruck virtuos geschulte Sopranisten, Altisten, Tenoristen und Bassisten, dazu bei allen Stimmen einen gewaltigen Umfang, für den Tenor insbesondere die aus den Passionen gefürchtete Höhe.

Die gesamten Stücke zerfallen in drei Gruppen: a) Kantaten für eine Solostimme, b) Dialoge und c) Kan- taten für drei oder vier Solostimmen.

Aus der ersten Gruppe ist heute die Altkantate: Schlage doch, »Schlage doch, gewünschte Stunde« am bekann- gewünschte testen, wohl durch Forkel, der sie ^ 802 in seiner Biographie Stunde.

38*

^ 596 «

mit zwei anderen namentlich anführt Es ist nur das Fragment, wahrscheinlich der zweite Satz einer im übrigen verlorenen Kantate, die Bach entweder fQr einen Trauer- tag oder für ein Osterfest komponiert haben wird. Der Text enthält die Moral des Bachschen Osterglanbens : Da Christas dem Tod die Macht genommen, ist Sterben ein Gewinn. Sterben und Eingehen zu Jesus, zu den Lieben im Himmel, das ist wieder der bekannte Lieblingsgedanke des Komponisten. Immer wurde es ihm dabei warm, bis zum Ausbruch grimmiger Freude. Aber die Naivität und schwärmerische Inbrunst der Todessehnsucht hat er nir- gends schöner ausgedrückt als in diesem »Schlage dochc mit seiner lieblichen, freundlichen, frohen, kindlichen Musik. Ihr Ton führt darauf sie einer zarten Frauengestalt, einer »gläubigen Seele« in den Mund zu legen und die ganze Kantate, zu der die Arie gehört hat, unter den »Dia- logen« zu suchen. Der Höhepunkt des dreiteiligen Stücks liegt in dem, Mittelteil »Kommt ihr Engel«. Die »Campa- nella« d. i. die Mitwirkung zweier in H und E gestimmten Glöckchen gehört wesentlich mit zur Staffage des kleinen Tonbilds und zur Veranschaulichung der Spannung, mit der der letzte Stundenschlag erwartet wird. Auf den Orgeln der Hansestädte waren solche Glockenspiele noch bis in die neueste^ Zeit erhalten.

Nur zwei weitere Solokantaten leisten dieser Altarie im heutigen Konzert regelmäßiger Gesellschaft: die beiden ^ Baßkantaten: »Ich habe genug« und »Ich will den Kreuz-

stab«, jene seit dem letzten Drittel des neunzehnten Jahr- hundierts, diese erst seit wenigen Jahren Dank dem Programmbuch des Berliner Bachfestes und dem Eintreten Meschaerts. Auch sie behandeln den Gegensatz zwischen der Mühsal irdischen und der Seligkeit himmlischen Lebens und stammen beide aus Bachs rüstigster Zeit« Ichbabegenug Der Kantate: »Ich habe genug«, deren Text den Lob- gesang des Simeon umschreibt, merkt man an der zweiten Arie »Schlummert ein ihr matten Augen« die Nähe der Matthäuspassion unmittelbar an. So meisterhaft wie dieser Satz das stille Glück, schildert der vorausgegangene

--4 597 ♦--

>Ich habe genug« das Leiden und den Druck der Christen- Seele. In der aufschlagenden Sext, mit der das Haupt- thema einsetzt, tut sich ein wahrer Berg von bitterer Er- fahrung und Weltüberdruß auf, in einer weniger frommen Zeit würden Töne der Verzweiflung die Fortsetzung ge- bildet , haben. Im Autographenband der Bachausgabe (Jahrg. 44) findet sich auf dem 53. Blatt eine Fassung der Kantate für Frauenstimme, dem Klavierbüchlein für Anna Bach von 4725 entnommen; es ist aber kaum möglich, sie für die ursprüngliche zu halten. Nur der Baßkläng gibt die ganze Schwere der Empfindung wieder, die den Satz so tief einprägt.

Die Kantate »Ich will den Kreuzstab gerne Ich will den tragen« wendet sich wie die Altarie »Schlage doch« viel KreuzsUb der Tonmalerei zu, im ersten Satz der Schilderung der gerne tragen. Lasten und Mühen des Kreuzträgers, im zweiten (mit einer Weüenfigur des obligaten Gellos] der von Meer und Schiff- fahrt Die Größe der Komposition liegt in der Einführung der Stelle: »Da leg* ich den Kummer auf einmal ins Grab«, die auf leichten Triolen volkstümlich und wie ein Kinder- lieb hingleitend zu dem vorherigen Ernst aufs lieblichste kontrastiert. Mit dem schließenden Choral, der noch dazu statt in GmoU in Cmoll steht, erhält die düstere Emp- findung das letzte Wort, aber in dem vorausgehenden Rezitativ: »Ich «tehe fertig usw.« klingt ganz unerwartet die kindliche Triolenmelodie noch einmal an. Das ist Bachsche Poesie im Formenbau. ^

Handelt sich*s um Bachsche Solokantaten für S opr an, 80 seien leistungsfähige Sängerinnen auf »Jauchzet Jauchzet Gott, Gott in allen Landen«, auf »Falsche Welt, dir Falsche Welt, trau ich nicht« und auf »Ich bin vergnügt mit Ich bin meinemGlück« aufmerksam gemacht, insbesondere auf Tergnügt die erste (42. Jahrgang der Bachausgabe), deren freudige Musik eine Meisterin der Koloratur verlangt. Im ersten und letzten Satz hat sie mit der Trompete zu konzertieren. Der Beschaulichkeit und Gemütstiefe sind das begleitete Rezitativ: »Wir treten zu dem Tempel an« und der vor- letzte Satz: »Sei Lob und Preis mit Ehren« (eine Choral-

598 ♦—

bearbeitung, in der das Orchester über fröhliche Motive fagiert, die Sängerin die Kirchenmelodie »Nun lob mein Seel« mit kleinen Verzierungen vorträgt) gewidmet.

Unter den Solokantaten für Alt steht die Komposition

"Widerstehet von »Widerstehet doch der Sünde c obenan. Sie

doch der Sünde, setzt ungewöhnlich und kühn gleich mit freier Dissonanz

ein und läßt schon hierdurch keinen Zweifel darüber, daß eine erregte Seele spricht und eine Künstlerin des Aus- drucks verlangt wird. Die Kantate gehört mit der weitem, sehr schön melodischen, den Lebensüberdruß ergreifend Vergnügte Ruh. edel singenden Altkantate: »Vergnügte Ruh« zu den

wenigen Ausnahmen, in denen Bach vom Choral abgesehen Gott allein soll hat In einer dritten Altkantate: »Gott allein soll mein mein Herze Herze haben« ist <die Einleitung der ersten Arie durch haben. die Mischung von Rezitativ und Gesang sehr eigen, die Arie selbst fesselt koloristisch: die Singstimme konzertiert mit der Orgel. Diese konzertierende Orgel kommt nach dem Jahre 4 730 bei Bach häufig vor, so gleich in einer Geist und Seele, weitern Altkantate: »Geist und Seele wird ver- wirret«. In diesem sehr schweren, aber durch einen kräftigen Grundton hervorragenden Stücke dient das Kon- zertieren, Nachahmen und das Dazwischenspielen unter anderm auch zum Ausdruck der Verwirrung.

Eine durch ihre Kürze zum Zwischenstück sehr ge-

Meine Seele eignete Solokantate für T e n o r ist : »M e i n e S e e 1 e r ü h m t

rühmt a. preist, und preist«. Die durch frische Erfindung und geist-

Ich weiß, daß reiche Führung bedeutendste »Ich weiß, daß mein

mein Erlöser Erlöser lebt« stammt aus der Weimarschen Zeit Eine

lebt, dritte: »Ich armer Mensch, ich Sündenknecht«, die

Ich armer Spitta um 4732 setzt, ist etwas ungleich und durch die

Mensch. enorme Höhe nur wenigen Sängern zugänglich. Den

Schluß bildet derselbe Flittnersche Choral, der in der

zweifelhaften Lukaspassion so anheimelnd hervortritt

In der zweiten Gruppe, in den »Dialogen« ist das be- kannteste und wohl auch bedeutendste Stück die Kantate: 0 Ewigkeit, du»0 Ewigkeit, du Donnerwort«. We bei anderen Donnerwort Komponisten sind auch bei Bach diese Dialoge durchaus nicht immer Duette. Hier können sich »die Furcht« (Alt)

-—♦ 599 ♦—

und »die Hofihungc (Tenor) in ihrer Auffassung des Todes nicht einigen. Da tritt eine dritte Stimme, die des heiligen Geistes (Baß) hinzu und beruhigt mit dem Bibelwort: »Selig sind die Toten c Streit und Zweifel, wie das in dem in den »Actus tragicus« eingeschobenen Dialog die Stimme des Heilands tut. J^it dem Hinzutritt des Basses endigt dies Stück, den förmlichen Schluß gibt der Chor mit dem Ahleschen Choral »Es ist genug«.

Bekanntlich hat Bach über den Text »0 Ewigkeit, du Donnerwort« auch eine große Ghorkantate komponiert. Sie ist viel leidenschaftlicher gehalten, ähnelt aber dem Dialog darin, daß das Orchester an der Darstellung einen wesentlichen Anteil nimmt. Im ersten Satz geschieht das in der Weise, daß den Instrumenten die entgegengesetzten Stimmungselemente übertragen sind: Die Streichinstru- mente führen ein tiefgelegtes tremolierendes Sechzehntel- motiv durch, das auch in anderen Kantaten wiederkehrt, wenn an das Grollen des fernen Donners erinnert werden soll, die Bläser stellen sich mit bittenden und schmeicheln- den melodischen Figuren entgegen, die bald die Stimme der »Hoffnung« und später die »Stimme des heiligen Gei- stes« aufnehmen. Das ist also der Gegensatz, von Furcht und Hoffnung. Er kommt in den Singstimmen in anderer selbständiger Form zum Ausdruck. Der Alt (die Furcht) singt breit und schwer gedrückt den Choral, der Tenor (die Hoffnung) mutige, frohe Weisen. Der Eingangssatz des Dialogs ist also der Form nach eine äußerst male- rische, bewegte und sinnreiche Choralfantasie. In dem Rezitativ, das die Fortsetzung dieses Duetts bildet, ragen die Stellen hervor, an denen die Deklamation in ge- messenen Gesang und Tonmalerei übergeht. Der Alt ver- breitet sich auf dem Bild der »Martern«, der Tenor auf dem »Ertragen« der Last. In dem folgenden Duett: »Mein letztes Lager will mich schrecken« klingen aus der Oboe und dem Instrumentalbaß die Rhythmen eines jener langsamen Reigen, die aus der neueren Musik verschwun- den sind. Bach will auf einen Totentanz anspielen. Um das noch deutlicher zu machen, fügt er der Solooboe

--♦ 600 ♦--

noch eine Solovioline bei, die wie ein Gespenst immer die Skala hinab und hinauf rennt und gleitet. Die Sing- stimmen sind dem Instrumentalsatz »aufgeschriebene, der Tenor mit durchaus charaktervollen Schlußstellen, der Ältpartie, als der Stimme von Klage und Furcht, muß der Vortrag etwas nachhelfen. Erst im nächsten Rezitativ schlägt sie wieder deutUcher den Ton des Todesgrauens an und da kommt schon nach der ersten Zeile die Stimme des heiligen Geistes > Selig sind die Totenc und damit der Höhepunkt der Komposition, vorausgesetzt, daß die schöne, balsamisch ruhige Baßmelodie auch mit •einem schönen und farbenreichen Akkompagnement ver- sehen wird. Dreimal ruft die Stimme aus der andern Welt, dann bekennt sich auch die Furcht zur Hoffnung und zum Glauben.

Was an diesem Beispiel ergreift und entzückt, kehrt in allen Dialogen Bachs wieder: die Meisterschaft in der Herausarbeitung des Gegensatzes, die verklärte überirdi- sche Schönheit, in der bei allen diesen Stücken nach Kampf, Angst und Zweifel endlich der Seelenfrieden ein- zieht. In der Vorbereitung und Einführung dieses drar matischen Moments zeigt sich Bach mit seinen Dialogen allen Vorgängern nicht musikalisch, aber persönlich über- legen. Sollen welche herausgehoben werden, so wird die

Selig ist der Wahl auf »Selig ist der Mann« und auf »Ach Gott, Mann, f wie manches Herzeleid« fallen müssen. Jener, ein

Ach Gott, ^e lichtiges Duett (Sopran und Baß), für den zweiten Weih- manches nachtsfeiertag komponiert, zeichnet sich durch die Weite Herzleid. und den Reichtum der von Schlummerfantasien bis zu Händelscher Kraft schreitenden Stimmungsentwicklung aus, dieser durch eine poetische Choralkunst höchster Art Wie da der frei erfundene Baß dem im cantus firmus bangenden Sopran zuspricht, das ist unvergeßlich lebens- voll. Auf der Seite des Trösters stehen auch die Instru- mente, in dem letzten Satz, wo die bangende Seele den Choral »Ach Gott, wie manches Herzeleid« nochmals und noch schwermütiger als am Anfang des Werkes anstimmt, tragen sie eine geistreiche Anspielung auf »Wachet auf.

ruft uns die Stimme« hinem. Ebenfalls Duette für Sopran und Baß und ebenfalls sehr schön sind die Dialoge: »Liebster Jesu, mein Verlangen« und »Ich geh Liebster Jesa, und^suche mit Verlangen«, letzterer noch formell mein Verlangen, durch Verknüpfung von früheren und späteren Abschnitten Ich geh n. suche, fesselnd. Auch die Kantaten »Der Friede sei mit dir« Der Friede sei und die besonders schöne »Ich lasse dich nicht« mit dir, (Sopran und Tenor) gehören in diese Klasse. Unter den, Ich lasse dich dreistimmigen Dialogen ragen die Nummern: »Jesus nicht, schläft«, »Mein liebster Jesus ist verloren« und Jesus schlaft, »Schau, lieber Gott, wie meineFeinde« hervor, die Mein liebster Je- erste durch die Kombination von Seelenschilderung unds^is ißt verloren, Naturmalerei, die zweite durch die Verwaiidtschaft mit Schau, lieber »0 Ewigkeit, du Donnerwort« und durch die Innigkeit des Gott.

Bittens. Auch sie bringt den Flittnerschen Hauptchoral aus der strittigen Lukaspassion. Die dritte »Schau, lieber Gott« fängt ausnahmsweise mit dem vierstimmigen Choral ich bin ein an. In den eigentlichen Kunstsätzen fesselt der Gegen- guter Hirte, satz zwischen der Ruhe der Stimme Gottes und der immer iVahrlich, ich neuen Erregung der Kleingläubigen. sage euch,

Die dritte Ghippe der Bachschen Solokantaten, die Bisher habt ihr der vierstimmigen, der noch einige dreistimmige, die nichts gegeben, nicht Dialoge sind, eingereiht werden müssen, ist die Siehe, ich \trili stärkste und unbekannteste. Gewiß sind vier gute Solisten viel Fisclier schwerer zu beschaffen, als einer oder zwei, aber dieser aussenden, Mehraufwand wird durch die Mannigfaltigkeit der in diesen Süßer Trost, Werken enthaltenen ^Kombinationen und Klangbilder so Die in der Angst, reich belohnt, daß gerade sie neben den Dialogen sich Ach ich sehe, da zur Einführung in die Bachschen Solokantaten am besten ich jetzt zur eignen. Unter den vierstimmigen sind Hauptstücke: »Ich Hochzeit gehe, bin ein guter Hirte«, »Wahrlich, ich sage euch«, Nur jedem das »Bisher habt ihr nichts gegeben«, »Siehe, ich will Seine, viel Fischer aussenden«, »Süßer Trost, mein Wo gehest Du Jesus «, »Die in der Angst nach dem Herrn rufen«, hin,

»Ach ich sehe, da ich jetzt zur Hochzeit gehe«, Ihr Menschen, »Nur jedem das Seine«, »Wo gehest Du hin?«, rühmet, »Ihr Menschen, rühmet Gottes Liebe«, »Meine Meine Seufzer, Seufzer, meine Tränen«, unter den dreistimmigen: meine Tränen,

602

Sehet, wir geben

hinauf gen

Jernsalem,

Erfrente Zeit,

Schau, lieber

Gott,

Ich steh mit

einem Fuß im

Grabe, Was soll ich aus dir machen, Ephraim?

^r. L. Erebi. Ol Homilinsi Poles, Hiller.

»Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalemc, »Er- freute Zeit im neuen Bunde«, »Schau, lieber Gott, wie meine Freunde«, »Ich steh mit einem Fuß im Grabe«, ^Was soll ich aus Dir machen, Ephraim?«

Wie schon erwähnt, ist von den sämtlichen Kirchen- kantaten S. Bachs zu Lebzeiten des Komponisten nur eine einzige, die Mühlhausener »Gott ist mein König« (4708) in Druck gekommen. Eine besondere Zurücksetzung Bachs darf man darin nicht erbhcken. Denn auch die Kirchen- kantaten der G. Benda, Gessel, H. Graun, Hoffmann, Kellner, Kirchner, Römhild, Tag, Wendel, Wir- bach,Wundsch und andrer mit vollständigen Jahrgängen hervortretender Mitarbeiter, überhaupt alle evangelischen Kirchenkantaten blieben un^druckt. Das »Thematische Verzeichnis usw.« von Breitkopf & Härtel sagt noch im Jahre 4770 ausdrücklich, daß niemand in Deutschland gern nach gedruckten Noten musizierte, Burneys Tagebuch begründet ziemlich zu gleicher Zeit für ItaUen den Mangel an gedruckter Musik mit der Wut nach Neuigkeiten und der Kurzlebigkeit der meisten Kompositionen. Es verlohne sich nicht, Mühe und Kosten auf Stich- und Kupferplatten zu verwenden. Bei den protestantischen Kirchenkantaten kamen aber als wichtigstes Hindernis die schon erwähnten partikularis tischen Abweichungen in Text und Melodie der Choräle hinzu.

Mit Recht aber nehmen wir daran Anstoß, daß die wenigen Schriftsteller, die von der Mitte des 48. Jahr- hunderts ab von Bach als Kantatenkomponisten Notiz nahmen (Scheibe, Hiller, Schubart) ihn in eine Reihe mit Kegel, Kramer, Pfeiffer und Genossen und nicht wie wir obenan stellen. Die Ursachen dieser Verkennung lagen in der Herrschaft der italienischen Musik und im Ratio- nalismus. Der Kantatenbestand der Nach-Bachischen Periode ist für eine eingehende Darstellung noch nicht genügend durchgearbeitet, aber fest steht, daß die (hand- schriftlich vorhandenen) Arbeiten seiner Schüler J.L. Krebs, G, H 0 m i 1 i u s , oder seiner Am tsnachf olger D 0 1 e 8 und H i 1 1 e r

603 ^~

an kirchlicher Würde weit geringer sind. Am ersicht- lichsten entfernen sich die späteren Kantatenkomponisten von Bach und seinen Zeitgenossen in der Stellung zum Choral. Wohl kömmt er in der einfachen Kirchenform am Anfang oder am Schluß, auch etwa zu einem Duett verarbeitet noch vor. Aber die großen Choralfantasien, in die besonders Bach die ganze Fülle von Geist, Herz und Kunst gelegt hatte, verschwinden und machen der Chorarie Platz, die in den Kantaten der in italienischer Schule erzogenen Deutschen wie G. Naumann schon Ö. Hanmann. früher ein Hauptstück gewesen war. Ausnahmen gibt es. Eine solche ist der Eisenacher Ernst Bach, namentlich Ernst Bach, in seiner durchgeführten Choralkantate >Kein Stündlein geht dahin«. Sie hat in der Altarie >Wenn Sprach', Ver- stand und Sinn« eine Stelle von echt Bachscher Ursprüng- lichkeit. Auf einen Cdur-Schluß setzt ohne jede Pause und Vermittelung Cis moll auf die Worte > Wenn ich nicht mehr weiß, wer ich bin« ein. Wenn die Kantaten nach Bach auch beträchtlich kürzer wurden, so kann man das vom kirchlichen Standpunkt aus kaum i^s Schuldbuch der Aufklärungsperiode schreiben. Sie hat jedoch durch ihre Gleichgültigkeit gegen die musikalische Liturgie indirekt sehr stark zum Verfall der Kirchenkantate beigetragen. Die von Fprkel mit Recht lebhaft beklagte Preisgabe von Schul- und Kirchenchören hat auf diesem Gebiet die Frucht- barkeit besonders stark unterbunden, und wie immer in der Kunst ging da mit der Quantität auch die Qualität zurück. So ist ähnlich wie die Klaviersonate nach Beet- hoven, die Kirchenkantate nach Bach von der größten bis dahin erreichten Höhe jäh in eine Krisis geraten, von der sich zurzeit nicht absehen läßt, wie sie enden wird.

Es haben allerdings noch bis in die erste Hälfte des 49. Jahrhunderts sächsische Kantoren mit dem alten E. Weinllg, Fleiß in der Kantate weitergearbeitet, es sind auch Kan- Th. Weinlig, taten bekannter Komponisten, Ehregott W e i n 1 i g s , Theodor A. Bomberg, Weinligs, A. Rombergs, G.Schichts, F. Schneiders G. Sohioht, ins Konzert gedrungen. Aber länger gehalten haben sich F. Sohneideri ^ nur CM. V.Webers Kantaten: >Ernte undFriedens-G. M. ▼. Weber.

604 ♦—

feier<, »Kampf und Sieg«. Seit Menschenaltern sind auch sie aus den Listen gestrichen, seine schöne Choral- kantate >In seiner Ordnung schafft der Herr« ist überhaupt wenig beachtet worden. Der durch Mendelssohns früher erwähnte Psalmenkantaten gegebene Anstoß hat einigen

R. Schvnuin. Erfolg gehabt. R. Schumanns geistliche Kantaten »Neu- jahrslied« und das »Adventslied« sind ihm zu danken. Beiden liegen Dichtungen von F. Rückert zu- grunde, die jedem neuen Gesangbuch zur Zierde gereichen würden, musikalisch gehört das »Adventslied« zu den Stücken, die allgemein gekannt zu sein verdienten. Melodienreich und eingänglich bis' zur Volkstümlichkeit, tut nur die z er stückte Anlage seiner Gesamtwirkung einigen Abbruch.' F. Draeieke. Felix Draeseke hat denselben Text einige Jahr- zehnte später wieder und im ganzen kraftvoUier als Schumann komponiert. Mit ihm stimmt er in dem Be- streben überein, den Kirchenton ankhngen zu lassen. Das Baßsolo des ersten Satzes: »Dein König kommt in niedren Hüllen«, der Mittelsatz über die Worte »0 großer Herrscher ohne Heere« -sind moderne Choralsurrogate bester Art, Marschmotive' des Orchesters stellen sie in einen szenischen Rahmen. Inspiration ist überall in dieser Kantate zu merken, die größte äußere Wirkung liegt im zweiten Teil. Doch ist sie von einem ährdich guten Solo- sopran abhängig, wie ihn die Neunte Symphonie verlangt.

(. Hauptmann. Auch M. Hauptmanns früher häufiger im Konzert auf- geführte Kantaten: »Und Gottes WilP ist dennoch gut« und »Nicht so ganz wirst meiner du ver- gessen« schließen an Mendelssohn an, an dessen »Ver- leih* uns Frieden« und andere begleitete Motetten. Ihre schhcht demütige, etwas gedrückte Frömmigkeit macht sie eigen, ihre knappe Einsätzigkeit weist sie nicht nur von der Bachschen Kantate weit weg, sondern widerspricht überhaupt dem alten Kantatenbegriff. Hauptmann hat sie deshalb »Kirchenstücke« benannt. Von solchen ähnlichen geistlichen Miniaturkantaten der Hauptmannschen Zeit M. Brach, ist M.Bruchs »Jubilate, Amen« (die Dichtung von

605 ♦—

Freiligratb) als die poetisch bedeutendste den Konzert-, instituten in Erinnerung zu bringen. Wer diese Alters- genossin von »Fritbjof« und > Schön Ellen c kennen gelernt hat, behält die Refrains des über Chor und Orchester schwebenden Solosoprans lebenslang im Gedächtnis.

Von den mehrsätzigen Kirchenkantaten der zweiten . Hälfte des 19. Jahrhunderts verdient die »Trauerkantate auf Friedrich VILc des Dänen J. P. E. Hartmann noch j, p. E. Hart- heu te eine allgemeine Beachtung. Zu einer regeren Pro- mann, duktion gab Luthers vierhundertster Geburtstag Veran- lassung. Unter den durch ihn hervorgerufenen Festkantaten ist A. Beckers Reformationskantate ein Werk von A.Becker, bleibendem Wert Sie schildert dramatisch anschaulich, wie der protestantische Trutzchor: »Ein' feste Burg ist unser Gottc aus kleinen Keimen ins Große und Volle wächst. Historische Treue hat der Komponist dabei nicht angestrebt, wahrscheinlich auch nichts davon gewußt, daß einzelne Motive dieser im heißen Guß dahinström enden Kraftmelodie in der Niederländischen Schule und in der Meistersingerei wurzeln. Aber seine Kantate ist eine der geistreichsten und effektvollsten Leistungen auf diesem Gebiete und hat vielleicht etwas dazu beigetragen, daß auch außerhalb des Kirchendienstes stehende Musiker sich ihm wieder zuwendeten. Unter ihnen hatH. v. Herzogen- H. ▼. Henogen« bergs »Totenfeier«, eine edle Komposition, in der die berg. Bachsche Choralkunst wieder auflebt, einen Platz obenan.

Gleich beachtenswert ist unter den in letzter Zeit in Druck gekommenen Kirchenkantaten G. Schrecks sinnige, 0. Bokreck. phantasievolle, mit strengen Formen modernen Geist und Effekt verbindende Komposition von »Gott ist die Liebe«.

Etwas älter ist die durch ein Königsberger Musikfest bekannter gewordene Krönungskantate von Constanz G. Berneoker. Bernecker, ein Werk, das sich im wesentlichen auf Mendelssohnschem Boden, aber gewählt und zugleich natürUch bewegt und den Vorzug großen Wohlklangs hat. Von ihm ab tritt im Druck größerer, mehrsätziger Kirchen- kantaten eine längere Pause ein, der erst in neuester Zeit einige bedeutende oder doch beachtenswerte Arbeiten

606

ein Ende gemacht haben. Unter ihnen muß namentlich die als »Preis- und Danklied«, betitelte Festkantate

0. SoliQmann. (op. 47) von Georg Schumann hervorgehoben werden. Ihr Eingang verzichtet etwas befremdend auf einige Takte feierUcher Einleitung und gibt sofort frei nach Händel das Bild einer jauchzenden Menge. Er tut das aber mit der Freiheit und der Originalität, von der fast alle Komposi- tionen dieses Tonsetzers Zeugnis ablegen, und so läßt die Arbeit auch im weiteren durch ihren frißchen, leben- digen Stil, durch große Stellen und Steigerungen keinen Zweifel an ihrer Bedeutung und ihrem Gehalt Der ton- dichterische Höhepunkt der Kantate liegt am Anfang des zweiten Satzes, in den unbegleiteten Reden, die der Solobariton von der Hohe herab an die Massen des Volkes richtet. 8t. KrehlB. Eine rühmHcbe Leistung ist auch Stephan Krehls

für Soli, gemischten Chor und Orchester geschriebene Kantate »Tröstung« (op. 83). Wäre sie in der Erfindung etwas einfacher, so hätte sie alle Anwartschaft darauf, als Totenfestmusik volkstümlich zu werden. Jedenfsdls zeigt sie im Aufriß und Festhalten der Stimmungen, in der Menge eigener Wendungen, in der kunstvollen und natür- lichen Vokalität einen Komponisten, der neben einem beträchtlichen Können eine selbständige Persönlichkeit einzusetzen hat.

G. Prohaska. Auch Carl Prob askas als Motette betiteltes op. U

»Aus dem Buch Hi ob« für achtstimmigen Chor, Or- chester und Orgel gehört unter die hervorragenden neueren Kantatenleistungen, wenn sie auch den Mangel hat, der Chorentwicklung zuliebe hie und da den Text zu sehr ins Breite zu ziehen.

Überall erfreut in der Auffassung die ernste Hingabe an den Gegenstand und der immer angemessene Ausdruck. Der schönste Abschnitt ist der Anfang des zweiten Teils, der die Worte »Ein Baum hat Hoffnung, wenn er schon abgehauen ist« sehr einfach, aber mit überzeugendem melodischen Talent gibt. Auch das Zurückgreifen des Schlusses auf den Anfang wirkt tiefer.

--4 607 ♦—

-Einem Anlauf zu einer großen Kantatenleislung be- gegnen wir in der »Offenbarung Johannisc für Tenor- solo, Doppelchor und Orchester, dem op. 17 des durch Instrumentalwerke vorteilhaft bekannt gewordenen Münch- ner Komponisten WalterBraunfels. Vielleicht hat das W. Brannfeli >Triumphlied< von Brahms vorgeschwebt, jedenfalls aber sollte der moderne Stil zur Geltung kommen. Zu diesem Zweck wird das Orchester mit einer in der Kirchenmusik bisher nicht üblichen Regsamkeit zu ähnlichen Klein- malereien herangezogen, wife sie sich seit Wagner in Oper und Oratorium eingebürgert haben. Die Wirkung ist mehr aufdringlich als eindringhch, und. die großen breiten Chöre lassen die Anforderungen an melodisches Talent un^ vokale Schulung zum Teil unbefriedigt.

Bescheideneie Ziele steckt sich Martin Grabert in M. Oral)ert« den beiden Kantaten »0 Tod, wie bitter bist du« (op. 25) und >Der Pharisäer und der Zöllner« (op. 24). Namentlich die erste ist in der Stimmung bedeutend, zuweilen Bachisch, « und bietet auch in der melodischen Erfindung vieles Schöne. Sie schließt mit dem Choral »Christus, der ist mein Leben«. Die andere, die sich vorwiegend auf kleinere Sätze beschränkt, erfreut durch sinnige Züge. Einer der wirksamsten ist, daß am Schluß die Oboe das Haupt- thema aus der Arie des Zöllners: »Gott sei mir Sünder gnädig« nochmals anstimmt.

Beide Kantaten begnügen sich mit Streichorchester und Orgel, nur in der ersten sind noch zwei Oboen hin- zugezogen. Dieser 2ug nach Vereinfachung der Mittel und Formen ist keine Besonderheit Graberts, sondern er begegnet uns in der neuesten Kirchenkantate häufiger. Zu erwähnen ist da das op. 70 von Franciscus Nagler,F. Hagler. das unter dem Gesamttitel »Schlichte Kirchenmusik« eine Pfingstkantate, eine Weihnachtskantate und eine kleine Ostermusik bringt, die alle einsätzig verlaufen, aber durch den Wechsel der Mittel in den einzelnen Abschnitten wirksam belebt sind und das Nötige sehr eingänglich und gut melodisch sagen.

Der Vater und Hauptvertreter dieser Richtung ist

608 ^—

V. Beger. Max Reger. Seine vier Chor alkantaten er&eaen sich einer weiten Verbreitung, die sich namentlich aus zwei

Gründen erklärt. Diese Arbeiten ermöglichen auch solchen Kirchen Kantatenauffafarungen, die sich den sonst nötigen Apparat von Orchester, von technisch leistungsfähigen Solisten und schlagfertigen Chören versagen müssen. Die Begleitung besteht in einem nicht schwierigen Orgelsatz, der Gesangteil verlangt kaum mehr als den Vortrag be- kannter Choralmelodien. Dieser Leichtigkeit der Aus- führung stehen aber in diesen Kantaten große und bis zu einem gewissen Grade neue koloristische Reize gegen- über, die auf der Zuziehung obligater Soloinstrumente beruhen. Der Form nach sind diese Arbeiten Choralvaria- tionen, die Variation beschränkt sich aber im wesentlichen darauf, daß der Vortrag der einfachen Kirchenmelodien zwischen Solosängern, Chor und Gemeinde wechselt. Die Beziehungen zwischen Text und Musik sind im Durch- schnitt nur lose, der harmonische Satz neigt etwas ein- seitig zur Chromatik. Die erste dieser vier Choralkantaten, die Weihnachtskantate »Vom Himmel hoch«, die 4 Solo- stimmen, 2 Soloviolinen, Gemeindegesäng und Orgel verlangt, steht wohl auch an Wert obenan, weil hier die Variationen tiefer in das Wesen des Chorals eindringen. Die zweite, die Totenfestkantate »0 wie selig seid ihr doch«, macht von den übrigen dadurch eine Ausnahme, daß sie außer der Orgel für die Begleitung auch ein Streichorchester verlangt. In den Vortrag der acht Verse teilen sich Gemeinde, Sologesang und Chor. Die . dritte über »0 Haupt voll Blut und Wunden«, die mit Soloalt, Solotenor, gemischtein Chor, Solovioline, Solooboe und Orgel zu besetzen ist, ist die am gediegensten gearbeitete. Der zum cantus iirmus geschriebene Chorsatz sowohl wie die Kontrapunkte des Halbchores haben einen höheren künstlerischen Wert. Die vierte: »Meinen Jesum laß ich nicht« für Solosopran, gemischten Chor, SolovioUne, Solo- bratsche und Orgel ist die knappste und bescheidenste, zugleich aber an Klangreiz reichste.

Die Erwartung, daß sich an den Vorgang Regers ein»

--♦ 609 ♦—

Schule anschließen werde, wird sich mit der Zeit erfüllen. Anfange dazu liegen in 6. Schrecks »Gott rückt als 0, Sohreok. Kriegsheld in das Feld« (mit Trompete) und in den «für Solostimmen,- Chor, Solovioline, Soloklarinette und Orgel geschriebenen Kantate »Herzlich lieb hab ich dich« (op. 33} von Ernst Müller vor. In den Kontrapunktßn der In- e. Mtüler. Strumente, wie in der Führung der Harmonie erfreulich natürlich und gehaltvoll, macht sie namentlich durch die Stellung des Sologesangs zum Chor großen Eindruck. Mit großer Wahrscheinüchkeit darf außerdem das »Tränen- krüglein« von Georg Schumann, das allerdings mehr a. Schamaim» zu den oratorischen Szenen als zu den Kirchenkantaten gehört, mit Regers Choralkantaten in Zusammenhang gebracht werden. Denn es gleicht ihm in der Beschränkung der Besetzung: Orgel, Harfe, Harmonium, Klavier. Die. Komposition führt die Geschichte des toten Kindes, das durch das Weinen der Mutter um seine Grabesruhe ge- bracht wird, so zart, innig und rührend vor, daß ihm in der neueren deutschen Komposition ein Ehrenplatz gebührt.

Als biblische Kantate hat auch Enrico B 0 s s i e. Bowi. seine in deutschen Konzerten häufiger mit Erfolg aufge- führte Komposition des Hohenlieds (canticum canticorum) für Sopran- und Baritonsolo, Chor, großes Orchester und Orgel veröffentlicht. Der begabte Italiener^ unterscheidet sich aber von den vielen Tonsetzern, die seit den Zeiten der Niederländer dieses merkwürdigste Stück des Alten Testaments in Musik gebracht haben, dadurch, daß er mit einigen vereinzelten Bibelerklärern die rätselhafte Dichtung dramatisch auffaßt, den (lateinischen) Text an Frau (la sposa), Mann ilo sposoj und einen Chor der Gefährten verteilt und ihn in drei Akte gruppiert. Da- mit rückt seine Kantate zu den oratorischen Bibelidyllen in die Nähe von 0. Goldschmidts »Ruth«, scheidet aber aus der Gruppe Kirchenmusik aus. Die Einflechtung der liturgischen Hymne: Fange lingua in den zweiten und dritten Teil ändert daran nichts.

Nach wie vor bleibt die Kantate ein wesentlich pro- testantischer Musikzweig und ist als solcher noch immer

II, <. 39

610

gefährdet Das Konzert kann mit beitragen ihn zn er- halten, die durchgreifende Hufe muß aber die Kirche selbst bringen. Sie besteht in der Errichtung von Schulen für Kirchenmusik und in der Vermehrung geschulter und disziplinierter Eirchenchöre!

REGISTER.

AbkUrsungen.

H-Zo = Hymnen : Lobg:esang des Simeon ; B.-Mg = Hsrmnen : Magnificata ^

H-S^^ = Hymnen :Btabat mater; H-T = Hymnen: Tedeums; E = Ean

taten; La = Lamentationen; Li = Litaneien; M = Messen; M-R =

Messen : Bequiems ; Mt = Motetten ; P = Passionen ; Ps = Psalmen.

Abos, G. 354 (ß'St).

Adam 438.

Agazzari 346 (EL-St).

Agricola, A. 172, 477 (Mt).

Ahle, R. 197, 391 (H-Jlfsf), 491 (Mt), 530, 543— 545 (K), 599.

Aiblinger, J. K. 225 (M), 242, 245.

Alchinger 345 (EL-St), 495 (Mt).

Albert, H. 530.

Albinoni 77, 395 flf.

Allegri, G. 405—406 (Ps, Mi- serere), 407, 446 (La), 472 (Mt).

Allison 473 (Mt).

Altenburg, M. 73, 416, 490.

Andrtf 185.

Anerlo, F. 177—178 (MJ, 346 {H-50)366(H-r), 383(H- Mgl 406, 410 (Ps), 446 (Li), 470 (Mt).

Anerio, G. Fr. 271, 366 (H-T).

Anglicus, J. B. 144.

Allimaccia, G. 467 (Mt).

Arcadelt, J. 460 u. 467 (Mt).

Arebbo, A. 412 (Ps).

AsoU, L. 293 (M-Ä).

Asola, M. 476 (Mt).

Astorga, E. 348—351 (R-St).

Bach, Ohr. 498 (Mt), 651 (K). Bach, Ernst 603 (K). Bach, L. 197. Bach, M. 497—498 (Mt). Bach, Ph. E. HO (P), 197, 400

(Ei-Mgl 433 (Ps), 498, 572. Bach, S. 3, 21, 37, 44 f., 56,

61 f., 64f., 66—102 (P;

Lokas-F. 66, Joh.-P. 70, Matth.- P. 83), 104,106,110, 112, 116,

118, 126, 130ff., 140, 142, 145, 147, 166, 180 f., 186— 199(M), 206,213,216, 219, 237, 244, 247, 253 ff., 309, 311, 319, 336, 347, 360, 369, 372, 387, 390, 394— 399 (U'Mg), 413, 422, 434, 437, 444, 478, 480, 491,

498—611 (Mt; Singet dem Herrn 500, Komm^ Jesu, komm 502, Fürchte dich nicht 50 :i, Der Geist hilft 504, Jesu, meine Freude 505, Lobet deu Herrn 5 1 1), 614,531, 637, 640, 647, 551—602 (K; Gottes

39*

642

?

' Zeit 565, Ich hatte yiel Be- kftmmemis 557, Nan ist das Heil nnd die Kraft 659, Ein' feste Sarg 561, Christ lag in Todesbanden 662, Gott, der Herr, ist Sonn' nnd Schild 5 7 2, Weihnachtsoratorium 583, SolokanUten 694), 604 f., 607.

Bai, T. 406, 472 (Mt).

Baini, L. 355 (H-Ät), 406.

Bargiel, W. 441 (Ps).

Bässani, G. B. 272 (M-Ä).

Bateson 473 (Mt).

Becker, A. 254—269 (M), 309, 336—336 (M-^, Selig ans Gnade), 521, 606 (K).

Beethoven, L. van 74,112—116 [P, Christus am ölberg), 119,

131 f., 136, 140, 146, 147, 186, 199, 204—224 (M;

Cdur-H. 204, Missa solemnis

210), 226, 228, 230 f., 234, 236, 239, 260 ff., 254, 268, 276, 282, 297, 313, 320 f., 332, 422, 613 (Mt, Die

Himmel rühmen), 667, 691. Benda, G. 648, 602. Benevoli, 0. 179—180 (M). Bennet 473 (Mt). Berchem, J. de 450 u. 461

(Mt), 466. Berger, W. 622. Bergt, A. 376 (H-T). Berlioz, H. 226, 261, 288,

290, 296—308 (M-Ä), 313,

330, 332 f., 336 f., 339,

376-377 (H-T), 432, 522. Bemabei, E. 426 (Ps), 476 (Mt). Bernecker, C. 606 (K). Bernhard, Chr. 402 (H-Lo),

540-643 (K). Besler, S. 16—18 (P), 23, 27,

48, 583.

Beyer, S. 530.

Binchois 152, 448.

Biordi 446.

Blumner, M. 621.

Boccherlni, L, 356 (H-5t).

Bochsa 283 (M-Ä).

Bodenschatz 490.

Böhm 669.

Boito 231.

Bortniansky, D. 517 (Mt).

Bossi, E. 479, 609 (K).

Brahms,' J. 241, 309, 314- 328 (M-5), 334 f., 373, 441-442 (Ps), 610, 619, 620-521 (Mt), 623, 607.

Brasart 448.

Braunfels, W. 607 (K).

Briegel, 0. 490, 646 (K).

Brixi 376 (H-T).

Brosig 241.

Brach, M. 254 (M).

Brückner, A. 260—267 (M; Fmoll-M. 260, Emoll>H. 266),

377—378 (H-T), 442 (Ps),

626—527 (Mt). Brumel, A. 163 f.,' 165—166

(M), 407, 468 (Mt). Bull 473 (Mt). Burgk, J. V. 14 (P.), 16, 60,

490. Buxtehude 11, 638, 646—547

(K), 548f., 551. Byrd 366 (H-T), 473 (Mt).

Cacclni, Fr. 639.

Oaccinl, G. 528.

Oaldara, A. 184, 346, 364, 367 (H-T), 391-392 (H- Mg), 426-426 (Ps), 432.

Oalvisius 366 (H-T).

Campioni 376 (ff-T)-

Oarissimi 62, 68, 133, 417 (Ps), 629 (K), 532, 642.

613

Castelbarco 121.

Cauroy, E. de 461 (Mt).

Cavaccio, G. 271.

Cavalli, Fr. 271— "272 (M-Ä),

351, 409. Gesare 529. Cesena 529. Cesti 351.

Cherubini, L. 139, 169, 185, 206, 224, 226—234 (M;

DmoU-M. 227, Credo 233),

255, 259, 284—295 (M-Ä;

Cmoll-B. 284, Dmoll-B., flir Männerstimmen, 293), 296 if.,

310, 312f., 317, 330, 336,

356, 380, 513 (Mt). Oiampi 375 (H-T). Civitate, A. de 144. Clari, 0. M. 346, 347 (H-Sft),

352, 425 (t>s).

Clemens (non papa), J. 141,

461—462 (Mtl Cleve, J. de 163, 167 (M),

407, 462-465 (Mt). Cobbold, 473 (Mt). Colerus (Köhler), M. 74. Colonna, ß. P. 272 (M-£\

346, 426 (Ps). Gomp^re, L. 449. Conti 253. . Cornelius, P. 231, 255, 517

(Mt), 522, 524, 526. Cr^quiUon, Th. 450 u.461 (Mt). Croce, G. 178 (M), 383 (H-

Mg), 390, 411 (Ps). Crüger, J. 490, 530. Curschmann 231.

Dalberg 120. Daser, L. 14 (P), 50. Dehn, S. 518, 522. Demantius, Chr. 15 (P), 366

(H-T), 384, 390, 416, 496

(Mt), 535 (K). Diabelli 245. Dietrich, S. 477 (Mt). Doles 602 (K). Donizettt 253, 522. Dowland 473 (Mt). Draeseke , F. 26Ö - 260 (M),

332-333 (H-Ä), 334, 442

(Ps), 604 (K). Drechsler 283 (M-Ä). Dreßler, G. 490. Drobisch 283 (M-Ä). Dufay 137, 144f., 147, 149—

151 (M), 152ff., 157, 161,

163, 166, 168, 383 (H-vlfp),

405, 448, 449—450 (Mtl

464, 487. DnUchius, P. 491 u. 496 (Mt> Dunstable 144, 152, 448. Durante, Fr. 182, 199, 272

(M-Ä), 367 (H-T), 392— " -Jtfö), 398 f., 446 (La, Li), 476 (Mt).

393 (H-Jlf^

Dnrante, 0. 528 (Kl. Dvotak, A. 337—338 (M-Äl 357-361 (H.5*>

Ebeling, J. 490.

Eberl 276.

EberUn, J. E. 511 (Mt).

Eccard, J. 73, 130, 326, 414,

490—491 (Mt),509, 530, 563. Elgar, E.126.

Elsner, 126, 283 u. 293(M-12). Erfurt 438. Este 473 (Mt). Ett, K. 225 (M), 242, 244 f.,

283 (M-Ä). Eybler 237, 283 (M-Ä).

Faißt, I. 438 (Ps). Farmer 473 (Mt).

644

ramat 473 (Mt).

Fasck, C. F. 242. 283 (M-B).

Faack, J. F. 197, 431 (Ps).

Fautf, G. 339.

FedeM, B. 395.

Feltre. G. de 144.

Feo 431 (Ps).

Ferdinand m^ KiiBer B46f..

416 (Ps). Femdini 375 (H-T), 39a Fesca 513 (Mt> Fesu, C. 366 (H-T), 466 (Mt),

467. FeTin, A. de 270 (M-B). F^vin, J. 163 f.. 166 (IQ. Finck, H. 172. Fischietti 395. Fiittner 69, 598, 60L Flor, Th. 490. FlögeL G. Ö2^ Fossa. J. de 446 (Li). Fiaack, IL 493, 492 (Mt> Franck. S. 545. Franz, R. 441 (Ps). Fiescobaldi 538. Frenndt, C. 4J0. Friebert, J. 122. FröhUdk 390.

FaldA, A. ▼. 172, 477 (Mt). Fax, J. 111, 182—184 (M),

185, 354, 367 (H-T). 383

(H-lfp), 425 (Ps), 472,

495 (Mt).

GabrieU. A. 137. 178 (MTL

179, 476 (Mt), 476. Gabricli, G. 44, 56, 137, 179

(MX383(H-lfy), 410 (Ps),

475—476 (Mt), 488, 634,

537, 5U, 564. GAgliano 47. GaUw (Handl), J. 14 (P), 60,

178 (M> 366 (H-T), 4^3,

482-481 (MO. Galopp! 201, 2^. Ginsbacher 235. 283 (M-l?). GasparinL F. 253, 354. 425(P8> Gaßmann 354^ Gazzani^ 376 [JBL-T). Gebel 54a Gereinia 395. Geriiaidt P. 622. Gemsheim, Fr. 380—381 (H-

T), 526. Gesins, B. 14 (P), 16. Gessel 602.

Gibboiis,0.366(H-T),473(Mt). Glofik iU, 293, 432 (Ps). Glück. J. 121. Goldschmidt 609. Gombeit, N. 448, 450 (Mtl

469. Gösset 284. Götz, H. Ul (Pft). GoudimeL GL 173, 412 (Ps),

413 ff., 419, 443. 450 (Mtl

459. 467 (Mt). Goonod 121. 356. Gonvy, Th. 333 (M-B). 357

(H-5l> Grabert, M. 442 (Ps), 525 (Mt),

607 (K). Graan. C. H, 3. 101, 104—110

(P. Der Tod Jes»), 111, 117,

128, 199, 362, 373—374

(H-T), 602. Graupner, Chz. 54a Grell, Ed. 242— 2U (M), 441

(Ps), 517 (Mt> 521. Grieg, Ed. 443 (Ps). Gaerero. Fr. 176, 270 (M-B),

3S3 (R'Mgl 406, 466 (Mt). Guerrero siehe Gaerero. Gnlbins, M. 526. Gnmpeltzhaimer 491.

1 1

615

Habermarm 201.

Habert, J. E. 246 (M>

Hainlein 560 (K).

Haller, M. 246 (M).

Hammerschmidt, A. ÖO, 66, 185, 199, 412 (Ps), 471, 492 fMt); 530, 636—538 (K), 583, 595.'

Händel, 21, 49, 59—61 (P), 78, 106, 126, 142, 166, 188, 194, 223, 247, 277, 347, 360 f., 367—373 (H-T; üt-

rechter T. 307, Dettinger T.

372), 376,. 396, 421,427—

431 (Ps, Anthems), 434, 437,

444,002,532,546,651,558,

567,x574, 600, 606. Hartmann, J. P. E. 111, 605 (K). Hartmann, Pater 442 (Ps). Häser 283 u; 293 (M-Ä), 376

(H-T).

Hasse, J. A. 65, 119 (P), 185, 199(M),203,205,273(M-Ä), 354, 373, 374 (H-T), 431 (Ps), 549.

Haßler, L. 137, 141, 178—179 (M), 366 (H-r), 383—384 u. 390 (H-%J, 401 (Lo\ 415 (Ps), 484-487 (Mt), 491. ^ ^

Haßlinger 245.

Hauptmann, M. 241 (Ml 317, 441 a>s), 515 (Mt), 517, 604 (K).

Hausegger, S. v. 527 (Mt).

Haydii, J. 74, 120—126 (PI 162, 179, 185, 201-203 (M), 205f., 222,226,228f., 276, 285, 354-356 (H-^t), 356, 375 (H-T), 379, 382, 387, 433 (Ps), 444, 457; 511—612 (Mt), 527, 546.

Haydn, M. 199 (M), 276, 283 (M-JB), 313, 512 (Mt).

Hecht, G. 522.

Heine, S. Fr. 397.

Helder, B. 490.

HeUwig 283 (M-5).

Henkel 283 (M-JS), 314.

Hentschel, G. 386 (M-Ä).

Herbst 490.

Herzog, J. G. 521.

Herzogenberg, H. v. 334 (M-JB), 442 (Ps), 521, 605 (K).

Heubner, 0. 622.

Hiller, F. 438.

Hiller, J. A. 602 (K).

HUton 473 (Mt).

Himmel, Fr. 375 (H-T), 513

(Mt). Hiützfe, J. 490. Hirsch, 0. 526. HoflPmann 602. Hohmann, H. 522. Holzbauer, 1. 109, 184 (M), 222. Homlüus, G. A. 110 (P), 400,

514, 648, 602 (K). Hummel 185. Hüttenbrenner 283 (M-Ä).

Isaak, H. 173, 466—458 (Mt), 461, 482.

Jadassohn, S. 441 (Psl

Jeep 490.

Johnson, E. 473 (Mt).

Jomelli, N. 111, 273 (M-Ä), 329, 373 (H-T), 399-400 (H-Afp), 477 (Mt).

Josquin de Pros 146, 161, 153,

161-163 (M), 164 flf.,168ff.,

341—343 (U-Stl 344, 351,

362, 409, 463—454 (Mt),

455ff.,461,466, 470, 480,485. Junne, 0. 522.

616

Käfer, J. P. 58 (P). Kapsberger, H. 528 (K). Kauer, F. 284. Kauffmann, Fr. 522. Kegel 602.

Keiser, R. 45, 67 (P), 58, 62

—63 (P), 65, 67, 81, 111. Kellner 602. Kerle, J. de 163, 168-170

(M), 270 (M-Ä), 366 (H-T),

407, 462 (Mt). Kerll, J. K. 183, 383 (B-Mg),

385 n. 391 (H-AffiF), 631—

533 (K). Kesselring, J. A. 547. Keuchenthai 47 (P), 23. Kiel, Fr. 126—130 (P, Christus),

131-, 253—254 (M), 255,

276, 309-314 (M-ß), 356

—367 (H-St), 522. Kindermann, E. 490. Kirchner 602. Kisler, 0. 522. Klein, B. 241 (M), 245, 356

(H-50, 376 (H-T), 390,

438 (Ps). Klose, Fr. 267. Knefel, J. 15 (P). Knüpfer, S. 535—536 (K), 540. Koch, Fr. E. 524—625 (Mt). Köler, D. 407 (Ps). Kramer, Ohr. 11 (P), 602. Krebs, J. L. 102, 602 (K). Krehl, St. 606 (K). KTeichel 547.

Krieger, Ad. 418—419 (Ps). Krieger, J. 650. Krieger, Ph. 550-551 (K). Kücken 522. Kuhnau, J. 563.

Lachner, Fr. 308—309 (M-Ä), 357 (H-50, 438 (Ps).

Lalande, M. 529.

Lasso, 0. (di) 16 (P), 142, 146, 163, 171-172 (M), 216, 271 (M-B), 329, 345-346 OU-StX 366 (H-n 383 (H- Mg\ 387, 38Ö (H-Afsf), 397, 408-410 (Ps), 478, 479- 481 (Mt), 482, 487, 507, 519.

Lechner, L. 172, 492 (Mt).

Legrenzi, G. 476 (Mt), 546.

Leisring, F. 492 (Mt).

Lejeune, Ol. 412 (Ps).

Lemalstre (Le Maistre) 383 (H- Mgl 450 (Mt).

Leo, L. 119, 122, 182, 199, 367 (H-T), 398, 431—432 (Ps), 477 (Mt).

Leopold L, Kaiser 182 (M), 347, 416, 417 (Ps), 531 (K>

Lesueur 297, 376 (H-T).

Levini 394 f., 547.

Lieber, Chr. 547.

Liebhold 647.

Limbert, Fr. 626 (Mt).

Liszt, Fr. 126, 147, 246-263

(M: GranerM. 248, Krönungt>- M.25l),255,260,314(M-JB),

338, 361, 421, 439—441

(Ps), 513—614 u. 517 (Mt),

526. Löhner, J. 490. Lollfuß 547. Lossius, L. 9 (P), 22. Lotti, A. 181 (M), 272 (M-Ä),

383 u. 391 (H-Aff^), 395,'

399, 426 (Ps). Löwe, K. 118. Löwenstern, A. v. 490. Lübeck, V. 547.- Ludecus, M. 9 (P). LuUy 194, 367 (H-T). Luther 9, 17, 22, 27, 37, 51,

en

139, 161, 182, 255, 411 f., 419, 438, 450, 477. Lutz 120.

Machaut, G. de 144. Machold, J. 14 (P\ 15. Macqn^, J. de 44o (Li). Manclnus, Th. 11 (P). Marbeck 473 (Mt). Marcello, B. 423—425 (Ps),

426, 432 ff., 439. Marenzio, L. 383 (H-Jlfp), 390,

471-472 (Mt). Marschner, H. 293, 438 (Ps). Martelaere 460 (Mt). Martini, G. B. 182 (M), 246,

383 (n-Myl 425 (Ps). xMattheson 60, 63 (P), 540. Mayr, S. ,283 (M-Ä). Mazzocchi 529 (K). Meder, V. 185, 415 (Ps). Megerle, A. 381. M^ul 226, 284, 317. Melle, R. v. 383 (H-Afp), 390,

446 (Li), 450 (Mt). Mendelssohn, A. 526. Mendelssohn, F. 10, 100, 102,

126, 131, 174, 400-401

(JB.-Mg^ Hein Herz erhebet),

401 (H-Lo), 431, 433—438

(Ps;42.P8. 435, 95.P8. 436),

441, 479, 497, 516-516

(Mt), 517, 520, 636, 556,

604. Mercadante 121. Meyer, G. 477 (Mt). Meyerbeer 424. Mitterer, J. 246 (M). Molique, S. 225 (M). Monte, L. da (de) 383 (H-Afp),

390, 460-461 (Mt). Monte, Ph. de 163, 170—171

(M), 464.

Monteverdi, C. 27, 44f., 48, 179(M), 329, 361,388,422, 475, 485, 528— Ö29(K), 534.

Morales, 0. 141, 176, 270 (M-Ä), 383 (H-Afy), 39Q, 466 (Mt).

Moralt 283 (M-B), 314.

Morlacchi 283 (M-Ä), 390.

Morley 473.

Mouton, J. 163, 166—167 (M), 454 (Mt).

Mozart 111, 201, 203— 204(M), 206, 218, 274—283 (M-Ä), 284, 287, 292, 307, 313, 352, 375 (H-T), 376, 382, 432, 433 (Ps), 446 (Li), 451, 512-513 (Mt), 527.

Müller, E. 609 (K).

Müller-Hartnng 441 (Ps).

Magier, Fr. 607 (K). Nanini, B. 469 (Mt). Nanini, G. M. 345 (nstX 446

(La), 469 (Mt). iJaumann, J. G. 119—120 (P),

199 (M), 376, 433 (Ps), 441,

603. Navarro, M. 383 (H-A/gf). Neefe 206. Neukomm, S. 120 (P), 283

(M-Ä), 355 (H-St), 372, 390. Nenmark, G. 130, 572. Nicolai, 0. 231, 517. Noordt, A. van 413 (Ps).

Obrecht, J. 14 (P), 17, 144, 146, 165—161 (M), 163, 450 n. 452—453 (Mt).

Ockeghem 144 ff., 152—164 (M), 155, 163, 178, 451 (Mt), 458.

Olthof 412 (Ps).

618

Ortiz, D. 366 (H-T), 383

Oslander 388.

Otto, J. 246, 438 (Ps).

Pachelbel, J. 886 (B.'Mg)f 640, 650 (K), 566, 569, 681.

Padna, B. de 144.

PaisleUo 111, 372.

Palestrina 49, 101, 137, 139 ff., 146, 148, 173—176 (M), 177, 182, 216, 220, 230, 234, 238, 246 f., 270 u. 271 (M-Ä), 280, 329, 336, 343— 346 (H-50, 351, 364, 382, 383 (H-itfy), 388 f., 402, 406, 409, 410 (Ps), 462,

. 466, 467—468 (Mt), 469 f., 472 f., 480, 483, 486, 607, 563.

Palme, R. 621.

Papperltz, R. 621.

Pareja, R. de 383 (U-Mg).

Pasterwltz, G. v. 274 (M-Ä), 400 (H-Afp).

Perez, D. 477 (Mt).

Perez, J. 466 (Mt).

Pergolesi 182, 199, 831, 848, 351—354 (H-äO, 356.

Perl 293, 628.

Perosi, L. 132—134 (P), 267.

Perotinus 143.

Perti 199.

Perugia, M. de 144.

Pevemage, A. 461 (Mt).

Pfeiffer 602.

Pinelli, J. B. 383, 390.

Pipelaere, M. 460 (Mt).

Pitonl, G. 271 (M-Ä), 888 (H-Jlf^), 472 (Mt).

Piutti, 0. 442 (Ps).

Porta, C. 474 (Mt).

Pr&torius, H. 186, 366 (H-T), 383(H-Jtf^), 488— 489 (Mt).

Pritorius, M. 416, 490, 630.

Preindl, J. 241.

Prioris, J. 270 (M-Ä).

Prohaska, 0. 606 (K).

Purcell, H. 142, 366 (H-T), 367, 629.

Baff, J. 441 (Ps).

Rameau, Ph. 142, 393 (R-Mg).

Ravanello 267.

Rebllng, G. 441 (Ps), 521. .

Reger, M. 443-445 (Ps), 608

(K), 609. Reinecke, K. 442 (Ps). Reiner, J. 16 (P). Relnthaler, G. 617. Reiter, J. 338 (M- 12). Reutter, G. 201, 203, 235. Rheinberger, J. 244, 333—334

(M-12),857(H-50. 517 (Mt). Ribera, B. 383 (R-Mg), Richafort, J. 461 (Mt). Richter, E. F. 244 (M), 367

(B-8t% 441 (Ps), 616 (Mt> Rletz, J. 377 (H-T). Ripa, A. 347 (H-5t). Ritter, A. 518 (Mt). Roda, Fr. v. 126. Rodewald 354. Regler, Ph. 163, 167 (M). * Rolle, J. H. 111 (P), 514. Romberg, A. 433 (Ps), 603 (K). Römhüd 602. Rore, 0. de 14 (P), 450 u.

474 (Mt). . Rosenmüller, J. 490. Rossini, G. 263 (M), 355—356

(H-Ät)- Rößler, R. 625 (Mt).

Rovetta, G. 476 (Mt).

Rubinstein 479.

619

Rue, P. de la 163, 166 (M), 270 (M-Ä), 454—456 (Mt). Rust, Fr. W. 441 (Ps), 521.

Säle, Fr. 163, 165 (M), 461 (Mt). Salieri 283 (M-Ä). Sarti 372, 433 (Ps). Scandelli, A. 16 (P), 48, 492

(Mt), 583. Scaiidellus siehe Scandelli. Scarlatti, A. 60, 111, 182 (M),

347 (H-50, 361,^ 425 (Psl

476 (Mt), 546, 576. . Scheidt, S. 185, 385 (H-Afp),

413,485,491,530,540,563. Schein, J. H. 185, 366 (H-n

384, 412 (Ps), 416, 419,

486, 491 fP., 496 (Mt), 530,

534, 535 (K), 550. Schelle, J. 535—536 (K), 540. Schemeln 530. Schicht, J. Gt. 116-117 (P),

118, 120 (P), 129, 376 (H-

20, 497, 514 (Mt), 603 (K). Schieferdecker, Ohr. 545 (K). Schneider, Franz 284. Schneider, Friedr. 3, 117—118

(P),126,245,438(P8),603 (K). Scholz, B. 314 (M-ß). Schop, J. 490, 530. Schreck, G. 126, 521, 605 u.

609 (K). Schröter 490. Schubert, Ferd. 314. Schnbeit, Franz 231, 234—241

(M; Asdur-M. 236, Esdnr-M.

238), 265, 262, 355 (H-5t), 433 (Ps), 441, 614 (Mt).

Schultz, Ohr. 18—21 (P), 23 f.

Schulz, Chr. 122.

Schulz-Beuthen, H. 442 (Ps).

Schumann, G. 523—624 (Mt), 606 u. 609 (K).

Schumann, R. 70, 241—242 (M), 252, 255, 267, 308 (M^Ä), 616 (Mt), 604 (K).

Schurig, V. 522.

Schürmann, G. 548.

Schuster, J. 355 (H-fiQ» ^00.

Schütz, H. 3, 18, 23, 24-49

(P; Matth.-P. 26, Lukas-P. 34, Joh.-F. 38, Harkns-F. 40^ Die sieben Worte 42, Historia V. d. Auferstehung 46), 50 ff.,

66, 63, 68 f., 77, 80, 90, 93, 101, 120, 142, 185, 314, 346, 383 .(H-Mp), 384, 390 (H-Mp), '402 (Lo), 416, 417—422 (Ps), 423, 425 f., 440, 446 (Li), 488f., 492— 496 (Mt), 632, 633— 535 (K), 636, 640 ff., 560, 583.

Schweitzer 111.

Schwemmer 560 (K).

Scomparin, M. 293 (M-Ä).

Sebastian! 46, 61—66 (P), 67, 69, 90, 186, 648.

Sechter, 185, 283 (M.Ä>

Seifert 111.

Seifert, ü. 526.

Seile, Th, 490.

Selneccer, N. 10 (P).

Senfl, L. 120, 172, 383 u. 386 (H-Jlf^), 397, 408 (Ps), 477, (Mt).

Seydelmann, F. 400.

Seyfried, J. v. 186, 293 (M- Ä), 355 (H-/S), 376 (H-T).

Sgambati, G. 339 (M-Ä).

Shephard 473 (Mt).

Siefert,P. 391, 415-416 (Ps).

Smyth, Ed. 267.

Soriano, Fr. 10, 177 (M), 383 (H-Afgr), 471 (Mt).

Spohr, L. 117 (P), 118, 226. 241 (M), 513 (Mt), 522.

6S0

StebUe, A. 471 (Mt). Stade, W. 438, 441 (Pi). Stftdeh, G. 490. Stadler 283 (M-Ä), 426 (Ps),

433 439. Stadlmayr, J. 495 (Mt). Stange, M. 626 (Mt). Steflfani, A. 46, 346-347 (H-

«0, 351. Stehle, E. 517 (Mt). Stephan!, 0. 10 (P). Stobäas, J. 185, 490f., 496

(Mt). Stockmann 74, 82. Stoltzer, Th. 407 (Ps). , Stölzl, G. H. 64 (P), 67, 101,

197, 648-649 (K> Stolzenberg 651. StradeUa 396. Stranß, R. 618—519 (Mt). Strunck (Strungk), N. 418 (Pi> Sncco 521. Supptf 522. Snriano siehe Soriano. Süßmayer, F. X. 204, 275 ff.,

280 ff., 292, 307. Sweelinck, P. 147, 391, 413—

415 (Ps), 465 (Mt). Sylvanus, A. 477 (Mt).

Tag 602.

TaUis, Th. 178, 473 (Mt). Taubert, E. Ed. 443 (Ps). Taubmann, 0. 268 (M), 442

^ (Ps),

Telemann, G. P. 45, 56—67 » . u. 63-65 (P), 102, 104, HO, 530, 647, 649 (K> Theile 65. Thiel, 0. 627 (Mt). Thieriot, F. 622. Thomas, 0. 522. Tinel, E. 380 (H-T).

Tomaschek 225, 283 (M-Ä),

376 (H-T). Tonentes, A. de 383 (H-Afy). Traetta 354. Tritonius 411. Tuma, F. 199 W. ^'?'8- Tunder, Fr. 401-402 (Lo),

538-640 (K), 545, 548 f.,

551 596. Tye, Ohr. 186, 473 (Mt).

ürio, F. A. 373. üthredecenis 412 (Ps).

Vaet, J. 366 (H-ST). Vargas, H. de 383 (H-Jlfy). Vecchi, 0. 15, 271. Verdi, G. 328-332 (M-iJ),

336 ff., 361—364 (R-Sti

378-380 (H-n 424, 563. Verdonck, C. 383 (H-Af^), 390,

450 (Mt). Vetter 572. Viadana, L. 47, 416 (Ps), 528

(K), 529, 631. Victoria, L. da (de) 10, 176—

177 (M), 271, 469-470

(Mt), 471. Vitry, de 144. Vittoria siehe Victoria. Vivaldi 396. Vogler 185, 226 (M), 283 u.

293(M-Ä), 376(H-r), 378,

433 (Ps> Volkmann, R. 245 (M\ 519-

620 (Mt), 621. Vopelius 10 (P), 60. VouUaire, W. 522. Vulpius, M. 18—21 (P), 23f.,

41.

Wagenseil 354.

Wagner, R. 132, 261, 258,

621

263, 329, 345, 356, 377, 387, 607. ^

Walliser, Th. 416 (Ps.). Walther, J. 17, (P), 21 f., 27. Weber, G. 283 u. ^93 (M-Ä),

376 (H-T). Weber, K. M. v. 225 (M), 255,

310, 603 (K). Wecker 550 (K). Weckmann, M. 540—543 (K). Weelkes 473 (Mt). Weigl 111.

Weingartner, F. v. 526 (Mt). Weinlig, E. 375 (U-T), 603

Weinlig, Th, 603 (K).

Welak 10 (P).

Wendel 602.

Wübye 473.

WiUaert, Ad. 164, 383 (H-Afp),

384, 450-451 u. 473-474

(Mt).

Wilm, N. V. 517 (Mt).

Winter, P. v. 185, 355 (H-Stl

433 (Ps). Wirbach 602. Witt, Fr. 246 (M). Wittasek 283 (M-Ä). Wolf 111. Wolf, H. 518 (Mt). Wolff, Ohr. 67 (P). Wölfl 276.

Woyrsch,F. 130, 131— 132 (P). Wüllner, Fr. 357 (H-Ä«), 442

(Ps). Wundsch 602.

Zaccariis, 0. de 383 (R-Mg). Zachau (Zachow), Fr. W. 197,

549, 551 (K). Zelenka 112. Zelter 283 TM-ß). Zenger, M. 367 (R-St). Zeuner 490. ZingareUi, N. 283 TM-Ä), 355

(RSt), Zöiluer, A. 245.

i

I

DATE DUE 1

MUBIC UBRARY

STANFORD UNIVERSITY LIBRARIES STANFORD, CALIFORNIA 94305-6004

FEB 14 m.