)RONTO ; > nee Te rn bsac. ® schritie der EEE naturwissenschaftlichen Forschung herausgegeben von. | EN s$ Abderhalden. DE EN FORTSCHRITTE DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN FORSCHUNG. HERAUSGEGEBEN VON PROF. D* EMIL ABDERHALDEN, DIREKTOR DES PHYSIOLOGISCHEN INSTITUTES DER UNIVERS{TÄT HALLE a. S. SIEBENTER BAND. MIT 106 TEXTABBILDUNGEN. „c 6) = SO \n 4 D> URBAN & SCHWARZENBERG BERLIN WIEN N., FRIEDRICHSTRASSE 105b IL, MAXIMILIANSTRASSE 4 1913. 5 Alle Rechte vorbehalten Copyright, 1913, by Urban & Schwarzenberg, Berlin. Inhaltsverzeichnis. Seite Der gegenwärtige Stand der Seenfersehung von Prof. Dr. W.Halb- PAD ea en 0 fa TE ee ee l Vergleichende Neurologie und Psychologie von Dr. V.Franz, Frank- BIER ee ee 2 ep. ee Perlen (Altes und Neues über ihre Struktur, Herkunft und Verwer- tung) von Geh. Rat Prof. Dr. E. Korschelt, Marburg . . . 111 Neuere Fortschritte in der Radiotelegraphie von Dr. Gustav Eichhorn, Zuriche 2: Wa 5 er a u + 10 Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale von Prof. Dr. Hermann Klaatsch, Breslau . . . 2 2.2.2.2..2..210 Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. Von W. Halbfaß, Jena. II. Topographie, Hydrographie, Geologie der europäischen Seen. 1. Rußland. Max von zur Mühlen‘) hat über die Seen von Tilsit, Alt-Weimel und Schreibershof Untersuchungen angestellt, namentlich in bezug auf die Ver- breitung der in ihnen enthaltenen Pflanzen und die Beschaffenheit ihrer Ufer. Daneben werden auch Lotungen gemacht, allerdings wohl nicht in genügender Zahl, so dal die der Abhandlung beigegebenen Tiefenkarten in 1:5200 nur als provisorische anzunehmen sind. Sämtliche untersuchten Seen, 17 an der Zahl, sind nur klein, der größte ist der Raipalsee, der 32 ha groß und 33 m tief wird, der zweitgrößte See ist der Nixensee, der nur 15 ha groß ist, aber mit 41 m Maximaltiefe der tiefste See Liv- lands zu sein scheint. Seine mittlere Böschung beträgt 16°, ein hoher Wert, der nur von wenigen Seen erreicht wird. Die bedeutendsten Tiefen so kleiner Seen (2 Seen von nur 5 resp. 2 ha erreichen eine Tiefe von über 30 m) lassen vermuten, daß sie durch Evorsion entstanden sind. Der- selbe?) hat auch den 25 km südlich von Dorpat gelegenen 1'/, km? großen Spankauschen See sehr sorgfältig ausgelotet (größte Tiefe 11 m) und sich besonders mit den massenhaften Ablagerungen des Schlammes_ be- schäftigt, der in der Mitte und in einigen Buchten eine Mächtigkeit von 9 m erreicht. Er besteht keineswegs ausschließlich aus organischen Bestand- teilen, welche mit der Tiefe an Gehalt beständig zunehmen, sondern auch aus zahlreichen anorganischen Stoffen, die besonders durch den Wind vom Ufer in den See verfrachtet werden. Von der Mächtigkeit der Schlammablage- rungen hat der Verf. eine sehr genaue Tiefenkarte entworfen, welche es ermög- licht, bei späteren Nachmessungen die Zunahme des Schlammes exakt nach- weisen zu können. Neuerdings hat er auch den 17 km nördlich von Dorpat ge- 1) Sitzungsbericht der Naturf. Gesellsch. zu Jurjew. Dorpat 1908, Bd. XVII, Heft 3/4. ?) Ebenda, Dorpat 1907. E. Abderhalden, Fortschritte. VII. 1 9 W. Halbfaß. legenen See Saadjärw, der etwa 7 km: groß ist, in den Kreis seiner Unter- suchungen gezogen.!) Seine größte Tiefe beträgt 27 m, die Schlammablage- rung des Bodens erreicht eine Dicke von über 5m, sie besteht zumeist aus abeestorbenem Plankton und ist von kaffeebrauner Farbe, nur am Süd- ostufer finden sich stellenweise reine Mergelablagerungen, welche fast nur aus Schalen von Pisidien und Schnecken bestehen. Gleich den in der Nähe befindlichen Seen ist auch der Saadjärw von Drumlins eingefaßt, die sich parallel seinem Ufer in der Richtung NO.—SW. erstrecken. Der Ab- flulß des Sees — 300 Z/see — übertrifft erheblich den Niederschlag im Einzugsgebiet, so daß er jedenfalls in erster Linie durch Grundwasser ge- speist wird. In gleicher Entfernung von Dorpat, aber in entgegengesetzter Rich- tung, befindet sich der See von Kekrimois-Uhlfeld, der etwa 1'5 km? eroß ist und bis 45 m tief wird. Die Mächtigkeit der Schlammschicht beträgt in der größeren östlichen Hälfte nahezu 7 m, in der kleineren westlichen Hälfte 6 m; sie ist stark mit Sand vermischt und besteht im übrigen aus Pflanzenresten. Wahrscheinlich ist der See vor dem Durch- bruch des Embachs bei Dorpat. der viel Wasser dem Peipus zuführte, viel größer gewesen. Dieser Durchbruch soll in prähistorischer Zeit am Ende der letzten Glazialperiode erfolgt sein. Den Obersee bei Reval, den größten See Esthlands, welcher zwar über 9 km? groß, aber nur etwas über 4m tief wird, hat @. Schneider?) in mehreren Abhandlungen untersucht. Da er die Bewohner von Reval mit Trinkwasser versorgt, so hat Schneider das Hauptgewicht auf chemische und biologische Untersuchungen gelegt, die wir hier nicht behandeln. Die Sanddünen an seinen Ufern schreiten in östlicher Richtung fort und haben ihn seit 50 Jahren um etwa 40 m weiter östlich verlegt. Es ist sehr wahr- scheinlich,. daß über kurz oder lang ein gewaltsamer Durchbruch nach dem Meer zu erfolgen wird, zu großem Nachteil der Bewohner der Stadt Reval. Die Küstenseen des Rigaer Meerbusens hat F. Ludwig) nach ihrer chemischen Seite sorgfältig untersucht und dabei auch einige morphologische Angaben gemacht, deren Exaktheit allerdings anzuzweifeln ist. Die meisten von ihnen sind nur wenige Meter tief; der größte von ihnen ist der Angernsee, dessen Areal 40 km? beträgt. Die überaus zahlreichen Seen Finnlands sind wiederholt Gegenstand eingehender geologischer Untersuchungen gewesen: die letzte Zusammen- stellung hat J. E. Rosberg*) gegeben, welcher allerdings nur das eigent- t) Ibid., Bd. XIX, 3/4, 1910 (russisch), Ref. von @. Schneider in P.M., 1912, Februarheft. *) Der Obersee bei Reval. Med. af Geogr. Foreningen i Finland, 1904/06, Bd. VII. — Derselbe, Der Obersee bei Reval. Archiv für Biontologie, herausgegeben von der Gesellsch. naturf. Freunde in Berlin, Bd. II. Berlin 1908. °) Die Küstenseen des Rigaer Meerbusens. Arbeiten d. Naturf. Ver. zu Riga., N.F., 11, 1908. *, Fennia, Bd. 30. Atlas de Finlande. Erläuterung zur Karte Nr. 12: Le plateau lacustre finlandois. Helsingfors 1911. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 53 liche Seenplateau bespricht, also den nördlichsten an Lappland angrenzen- den Teil Finnlands, und. die Küstenzone unberücksichtigt läßt. Die Zahl der Seen ist ungeheuer groß), auf einer Schulwandkarte des Landes in 1:625.000 kann man ungefähr 1250 Seen zählen, auf der Karte, die der Erläuterung Rosberg zugrunde gelegen hat, im Maßstab 1:400.000, sind im ganzen ungefähr 35.500 Seen gezählt worden, wobei natürlich der Begriff See nicht immer leicht festzustellen ist. Davon treffen 9600 Seen auf das eigentliche Seen- plateau, welches ungefähr !/, des ganzen Landes umfaßt und in die drei Flub- systeme Pyhäjärvi-Kokemäenjärvi, Päijänne-Kyminjoki und Saima-Vuoksi zerfällt. Im ganzen nehmen die Seen von diesem Gebiet 18'2°%/, ein, in dem letztgenannten Bezirk steigt die Anteilnahme auf 20°8°/,. Uber den Zusammenhang der Seenbildung mit der früheren intensiven Vergletsche- rung des Landes ist kein Zweifel mehr vorhanden. Als der Diluvialgletscher gegen die Schuttmasse, welche auf dem Boden der Fennoscandia etwa ein Volümen von 200.000 cm? aufgehäuft hatte, heranrückte, spülten seine Schmelzwässer das leichtere Material fort, während er selbst den Trans- port der gröberen Verwitterung übernahm. Dadurch wurden auf der einen Seite Schuttmoränen aufgestaut und Talbecken in mäßiger Weise ausge- hobelt und zu flachen, sanft gewölbten Wannen umgestaltet, auf der anderen Seite aber auch viele Vertiefungen des Landes, welche andere Seen be- herbergten, mit Moränenschutt vollgefüllt und die Seen selbst zum Er- löschen gebracht. Jene Wannen gingen, nachdem sie das Schmelzwasser des Gletschers in sich aufgenommen hatten, fast unmerklich ineinander über und erzeugten so die großen Seensysteme des Näsijärvi, des Päi- jänne, des Saima u.a. welche in erster Linie Finnland den Namen des Landes der 10.000 Seen gegeben haben. Eine charakteristische Eigentüm- lichkeit namentlich der größeren Seen ist ihre große Länge bei geringer Breite: der 180 km lange Näsijärvi hat bei einer Längenausdehnung von 180 km eine durchschnittliche Breite von nur 2—4 km und gewährt mehr den Anblick eines großen Stromtales als eines Seebeckens; auch die größte Breite des 120 km langen Päijänne ist nur 25 km, im Durchschnitt geht sie nicht über 6—-7 km hinaus. Viele Anzeichen sind dafür vorhanden, dal die Zahl der Seen vor Beginn der historischen Zeit erheblich größer war als jetzt, auch jetzt noch macht die künstliche Beseitigung resp. Tiefer- legung der Seen zu besserer landwirtschaftlicher Ausnützung des Bodens beträchtliche Fortschritte, die noch viel reißender wären, wenn nicht das Seenplateau so überaus schwach bewohnt wäre. Aosberg bringt auf S. 12 eine Größentabelle der Seen, welche mindestens 100 km? grob sind, nach planimetrischen Vermessungen von @. Burmester. Es sind im ganzen 47 Seen. Die Zahlenangaben stimmen aber mit solchen mit anderen Quellen nicht immer überein und sind daher wohl nur mit Vorsicht zu benutzen. Nur in wenigen Seen sind hinreichend Lotungen gemacht worden, die Seen Pyhäjärvi, Näsijärvi, Vesijärvi, Tunlavesi, Ruovesi, Jis- vesi, Vanavesi, Pieiavesi u.a. sind nur insoweit ausgelotet. als die 1* 4 W.Halbfaß. Schiffahrt es erforderte, also nur für denjenigen Teil, der von ihr berührt wird. Der tiefste aller soll der Paanajärvi (128) sein, ihm folgt der Päijänne (93 m), von welchem K. Lederholm nach den Lotungen des finn- ländischen Oberzollamtes, vervollständigt durch die im Auftrage der Ge- sellschaft für die Geographie Finnlands ausgeführten Lotungen, deren Gesamtzahl nach einer brieflichen Mitteilung von Lederholm an den Ref. etwa 200.000 betragen mag, eine ausgezeichnete Tiefenkarte im Maßstab 1: 100.000 entworfen und näher beschrieben hat.!) Der. See besitzt ein Areal von 11115 km?, ein Einzugsgebiet von 26.136 km? und ein Volumen von 183 km3, woraus eine mittlere Tiefe von 17 ın resultiert. Da sein Wasserspiegel, bezogen auf den Mittelwasserstand der Periode 1871/1909, 782 m über dem Meere ist, so repräsentiert er eine Kryptodepression von rund 15 m. Die Länge der Strandlinie ist 650 km, die aller Inseln zusammengenommen 800 km, die Uferentwicklung also 1228, d.h. um ebensovielmal größer, als sie sein würde, wenn die Fläche des Sees kreisrund wäre. Es ist dies bei weitem der größte Betrag, den diese Zahl bei irgend einem genau bekannten See erreicht und über- trifft z. B. die Uferentwicklung des Mälaren in Schweden (75) ganz be- deutend. Der See zeichnet sich durch eine sehr große Zahl enger Gräben aus, von denen die größten und am tiefsten eingeschnittenen in der Rich- tung NW.—SO. laufen, während andere nach Nordosten, Nordnordosten oder in nordsüdlicher Richtung gehen. Der tiefste von ihnen, derjenige von Rutapohja im äußersten Norden des Sees, birgt die größte Tiefe. Diese (Gräben sind wahrscheinlich durch einen Bruch der Erdkruste in eine Menge kleiner Stückchen entstanden zu einer Zeit, als die dadurch entstandenen Sprünge der Erdoberfläche nicht wieder durch die Zersetzung der Gesteine vor dem Beginn der Glazialzeit ausgefüllt werden konnten. Die weniger scharf ausgeprägten Gräben, die mehr den Rinnen oder „Lanken“ unserer baltischen Seen entsprächen, dürften auch als Abflußrinnen des schmelzen- den Gletschers gedeutet werden. Mit Recht macht ZLederholm darauf auf- merksam, daß bis dahin noch keine Tiefenkarte eines Sees von größeren Dimensionen existiert hat, welcher ein ähnliches Relief wie der Päijänne besitzt und man darf al; den vielen Personen und Anstalten dafür dank- bar sein, dal) sie eine zugleich so mühsame und wissenschaftlich so lohnende Arbeit eeleistet haben. Dem groß angelegten Werk von Kdv. Blomgrist „Bidrag till Fin- lands Hydrografi“ ?) entnehme ich noch, daß der Keitele, der nach dem Päijänne der größte See im Wassersystem des Kymmeneflusses ist, eine Wasserfläche von 526 km?, eine Niederschlagsfläche von 6221 km? besitzt. Die größte Tiefe (schematische Tiefenkarte bei Blomgvist, S. 18) beträgt 64 m, seine mittlere 65 m, sein Volumen 33 km. Da seine Meereshöhe ') Fennia, Bd. 30. Begleitworte zu der Carte de Finlande, Nr. 13. ?) Hydrografiska Byrän vid Öfverstyreisen för väg-och vattenbyggnaderna i Fin- land, II, Bd. I—Ill. Helsingefors 1911. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 5 im Mittel 994 m ist, so ist er keine Kryptodepression. Außer den schon genannten Seen sollen noch der Kyrosjärvi, Punlavesi, Näsijärvi, Saima, Haukivesi und der Vesijärvi eine größere Maximaltiefe als 50 m erreichen; nämlich der Kyrosjärvi (118 km:) 126 m, der Punla- vesi (427 km?) 12 m, der Näsijärvi (275 km?) 59'4m, der Saima (1300 km?) 576m, der Haukivesi (517 km?) 504m und der Vesijärvi (113 km?) 50 m. Mehrere der genannten Seen sind sicherlich Kryptodepressionen. Über sonstige morphometrische Werte — mit Vorsicht zu gebrauchen — vgl. Rosberg, a. a. O0. S. 15. Von der Seenplatte des eigentlichen inneren Finnlands sind die Seen der südfinnischen Küstenlandschaft zu unterscheiden, die namentlich in ihrem westlichen Teil so überaus zahlreich auftreten. So sind z. B. auf der geologischen Karte des westlichen Nylands mindestens 220 Seen einge- tragen, deren größter der 110 km? große LojJosee ist. Von diesem See haben Boldt und Streng!) auf Grund von ca. 5000 Lotungen eine Tiefen- karte in 1:35.000 auf 2 Blättern herausgegeben. Die größte Tiefe (58 m) liegt in der Osthälfte, die ein großes Zentralbecken bildet, während der West- teil, Hormavesi genannt, in eine Anzahl schmaler Buchten (siehe oben) zerfällt, deren Tiefe selten mehr als 20 m beträgt. Da die Meereshöhe des Sees nur 31 m beträgt, so ist der See eine Kryptodepression.2) Dr. Hult:) hat, wie es scheint mit Erfolg, den Versuch gemacht, den See als ein Ver- witterungsprodukt zu erklären. Die meisten übrigen Seen dieser Gegend sollen nur flach sein, mit Ausnahme des 273 km? großen Pyhäjärvi, der bei 35 m Meereshöhe eine Tiefe von 80 m erreichen soll (?). Auch der größte See im Kyrkslätt, der Hvitträsk (202 m tief), ein Stausee, ist eine Kryptodepression, da sein tiefster Punkt noch 1'2 m unter dem Meeresspiegel reicht. *) Über die Morphologie des großen lappländischen Sees Enare, der mit 1420 km? wohl der größte aller rein finnländischen Seen ist, gehen die Ansichten immer noch sehr auseinander. Im allgemeinen gilt er als sehr flach. Bei den bekannten simultanen Temperaturuntersuchungen, die im Jahre 1900 auf Petterssons Veranlassung inszeniert wurden, figurieren Temperaturmessungen in 81 m Tiefe; es müßten demnach solche Tiefen auch gemessen worden sein. Nach brieflichen Mitteilungen von Professor Homen soll Herr Forstmeister Waenerberg im Enare Lotungen vorgenommen haben, die bis jetzt nicht veröffentlicht sind, ihre absolute Richtigkeit ') Djupkarta öfver Lo3osjo östra hälften af R. Boldt. Geogr. Fören. Vetens Medde- landen, III, 1896, västra hölften af A. E. Streng, ibid., 1897, Helsingfors 1902. Id. Dei Lojosee. Förh. vid. Nordiska Naturf, oct Läk. i Helsingfors. ?®) Nach brieflicher Mitteilung von Dr. Blomgvist ist die mittlere Meereshöhe des Sees im Jahre 1911 3158 m über dem finnischen Normalwasserstand gewesen, welcher selbst nach dem Werk „Das Präzisionsnivellement Finnlands, Helsingfors 1910“ 115 cm unter dem mittleren Wasserstand des finnischen Meerbusens sich befindet. ®) Lojobäckenets bildning. Finska Vetens-Societen, Heft 45. *) F. O. Karstedt, Die südfinnische Skärenküste von Wiborg bis Hango. Leip- ziger Inaug.-Diss. Lübeck 1906. 6 W.Halbfaß. wird bezweifelt. wenn auch Lederholm nur mitteilt, dal in dem nord- westlichen Teil des Sees ziemlich große Tiefen, bis 80 m, vorkommen könnten. Aus der Spezialkarte des Kilpisjärvi, der ganz im Norden des Landes unweit der schwedischen Grenze liegt, welche N. Tanner in 1:150.000 seiner Arbeit über die geologische Geschichte dieses Sees beigefügt hat !), erkennt man sehr deutlich, daß er einst in präquartärer Zeit eine viel größere Fläche als jetzt (39 km?) und demnach auch eine größere Tiefe (Jetzt 60 m) gehabt haben muß. In seiner jetzigen Form füllt er ein Teil- stück eines alten Flußtales aus, das vielleicht zur Pliocänzeit entstanden ist. Zahlreich sind die Terrassen, welche sich an seinen Ufern befinden, die meisten in 230 m Höhe und den Wasserstand des vorquartären Sees angeben. Der nordfinnische See Paanajärvi ist nach Nordgvist?) nur 89 m tief und keine Kryptodepression, weil seine Meereshöhe 112 m beträgt: nach der Zusammenstellung bei Burmester (siehe oben) erreicht er eine Tiefe von 126 bzw. 128 m. Sicheres war hierüber nicht zu erlangen. Für die Wasserstandsverhältnisse liegen bei einer Reihe von Seen, z.B. beim Keitele und Päijänne, Beobachtungen vor, die in Blomgvists großem Werk eingehend behandelt wurden. Leider ist die Zeit, während welcher die Wasserstände beobachtet wurden, nicht lang genug, um sichere Rück- schlüsse in bezug auf ihre Periode zu ziehen. Nach dem Durchschnitt der 14 Jahre 1805/1909 tritt der Hochstand aller dem Kymmene tributären Seen durchschnittlich Ende Mai/Anfang Juni ein, der Tiefstand Ende März/Anfang April. Es liegen also nur 2 Monate dazwischen. Die Ampli- tude war am stärksten bei dem Ruotsalainen, nämlich 114 cm, aller- dings nimmt hier das Seeareal nur 0'3°/, des gesamten Einzugsgebietes ein; beim Vesijärvi, wo dies Verhältnis am größten, nämlich 29:6°%/, be- trägt, ist die Amplitude nur 32 cm, beim Päijänne (45°/,) 76 cm. Im Päjänne,. wo die Aufzeichnungen der Wasserstände mit dem Jahre 1871 beginnen, fallen die höchsten Wasserstände auf das Jahr 1899, die niedrig- sten jeweils auf die Jahre 1874/76, 1885/87, 1895/86, 1908/09, irgend welche Beziehungen zur Brücknerschen Periode sind nirgends ersichtlich. Auch der Keitele zeigt 1899 seinen höchsten Stand. ungefähr 1m höher als z. B. 1887. Im Päijänne erhob sich der Hochwasserstand im Juli 1899 etwas mehr als 2 m über denjenigen in demselben Monat des Jahres 1895. Von den Riesen unter den rein europäischen Seen Rußlands, dem etwas über 18.000 km? großen Ladogasee — Regierungsbezirk Posen, er- schien im Atlas de Finlande®) eine Karte in 1:800.000, nach welcher im nördlichen Teile Tiefen bis zu 250 m vorkommen, während der südliche *) Bulletin de la Commission Ge&ologique de Finlande, Nr. 20. Helsingfors 1907. ®) 0. Nordgrist, Höjdmätningar och djuplodningar i norra Finland och ryska Karelen. Finsk. Vetens. Soe. Förhandl., Bd. 29, 1886. *) Fennia, 30. Bull. de la Soeicte de Geographie de Finlande. Helsingfors 1910 bis 1911. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. a Teil durchweg flach ist. Sein Volumen hatte ich nach der in den Denk- schriften der Kais. Russ. Geogr. Gesellsch. zu St. Petersburg, 1867, Bd. I enthaltenen Tiefenkarte von 1: 1,000.000 zu 1020 km3 berechnet, die Rech- nung nach der nun oben erwähnten Karte ergab fast genau das gleiche Resultat, nämlich 1010 km3.!) Nach W. Ramsay?) stellt der See einen Ein- sturzgraben dar, der während der Glazialzeit durch den Kontinentalglet- scher in seinem Nordteil ausgehobelt und vertieft wurde. Nach der Zeit der größten Vergletscherung bildete er zunächst einen Teil des Yoldia- meers, das auch diejenigen Gegenden bedeckte, welche im Nordwesten bis zu 115m, im Südosten bis zu 40 m unter dem heutigen Niveau des Landes liegen, also ein erheblich größeres Becken ausmachte. Zur Litorinazeit stand der See durch die Enge von Viborg mit dem Finnischen Meerbusen in Verbindung. Als aber das feste Land emporstieg, schloß sich allmählich diese Verbindung und der See fand einen Ausflußb nach Norden. Die Ufer- terrassen des Sees in seiner früheren Ausdehnung erheben sich aber in Norden etwa 20 »n über das heutige Niveau, während sie im Süden sogar noch einige Meter unterhalb des jetzigen Seespiegels liegen. weil durch die ungleich stärkere Hebung des Landes im Norden das Wasser nach Süden sich ausdehnte und dann wieder einen neuen Abfluß in der noch jetzt existierenden Newa fand, nachdem der nördliche Abfluß wieder ver- schwunden war. Über die Geschichte der Aufnahme des Kaspisees hat Schokalsky?) kurz berichtet bei Gelegenheit des 1897 in St. Petersburg abgehaltenen Internationalen Geologentages. Die ersten Lotungen fanden 1660, die letzten 1860 statt, die letzte Publikation erfolgte 1877 durch den Leutnant Pushtchin. Auf Grund der in Stielers Atlas enthaltenen Tiefen- karte des Sees habe ich sein Volumen zu 88.000 km?, seine mittlere Tiefe zu rund 200 m berechnet; sein Umfang beträgt rund 4000 km. Es sollen im ganzen etwas über 100 Punkte mit einer Tiefe von über 1000 m gelotet worden sein. A.S.Yermoloff*) hat in der südlichen Umgebung des Onegasees und von Archangelsk periodische Seen näher beschrieben, welche glazialen Ursprungs sein dürften; sie haben oberirdische Zuflüsse, wässern aber unterirdisch ab, da ihr Boden tiefe Schlünde besitzt. Das Trockenwerden der Seen geschieht nicht in jedem Jahr und nicht regelmäßig, weil die Niederschläge in jener Gegend in jeder Jahreszeit erfolgen können. Yer- molof nimmt als Ursache der Periodizität der Seen unterirdische Hohl- räume und Flüsse an und setzt sie also auf gleiche Stufe mit dem Zirknitzer See. Auffallend ist, daß jeder See nur einen Ponor besitzt, so dab man den See perennierend machen kann, sobald man vor dem Ponorschlund 1) Die Angabe von J. E. Rosberg in der Fennia, 30, Le Plateau lacustre finlan- dois, S. 15 von 2070 km® ist völlig apokryph und falsch. ?) Carte bathymetrique du Golfe de Finlande et du lac Lodoga. Fennia, Bd. 30. ®) cf. G. Z., Vol. 29, pag. 632ff. Die geschichtliche Entwicklung seiner Kenntnis gibt A. Falk, „Om utvecklingen“ af kännedomen om Kapiska hafvet. Ymer, Bd.25, 1905. *, Spelunca, VII, Nr. 49, Referat in P. M., 1909. g W. Halbfaß. einen Staudamm errichtet. Jedenfalls spielt bei der Periodizität dieser Becken die Überlagerung mit undurchlässigem Quartär um so mehr eine erhebliche Rolle. als dieselbe durch das Grundwasser einmal durchbrochen wurde; eine nochmalige Untersuchung dieser interessanten Seengruppe er- scheint dringend nötig. Lebedef*) hat das Seenplateau östlich vom Uralgebirge in der Nähe der bekannten Eisenbahnstation Tscheljabinsk, des ursprünglichen Ausgangs- punktes der sibirischen Eisenbahn, näher untersucht. Bei der großen Zahl der vorhandenen Seen hat sich Verfasser auf einen beschränkten Komplex (13 Seen) beschränkt, welche zum größeren Teil einen Abfluß besitzen. Die beiden größten unter ihnen sind Uweldy (69 km?) und Irtiasch (68 km?). welche eine Tiefe von 28 bzw. 165 m erreichen: alle übrigen sind erheblich kleiner und seichter. In bezug auf den Ursprung dieser Seen pflichtet er im ganzen P. Krotow*) bei, dab sie tektonische Seen seien in einer meridional verlaufenden Depression. Die Richtung ihrer Hauptachsen, ebenso die Re- gionen der maximalen Tiefen laufen der Lokationslinie parallel. Karpinsky 3) hatte sie im wesentlichen als Karstseen angesprochen, welchen Charakter nach ZLebedeff wohl nur Berdenisch und Uruskul tragen. Über Seen im Innern Rußlands, namentlich im Gebiet der Wolga. ist eine große Zahl von Arbeiten erschienen, meist in der von Anutchin herausgegebenen Zeitschrift Semlevedenie (Erdkunde). Da dieselben aber sämtlich in russischer Sprache erschienen sind und der Herausgeber trotz wiederholter Aufforderung durch den Referenten sich nicht entschließen konnte, wenigstens die hauptsächlichsten Resultate in einer westeuropäi- schen Sprache zu veröffentlichen, so müssen die Ergebnisse dieser fleißigen und gewiß interessanten Untersuchungen hier unberücksichtigt bleiben, so- fern nicht ab und zu durch einen L. b. in P.M. oder sonstwo ein Resümee gegeben wurde. Die Seml. bringt im Jahrg. 1904, H. 1/2 eine Tiefenkarte des Lukomljasees im Gouvernement Mohilew im Maßstab 1:84.000: er ist 50 km? groß, wird 10 m im Maximum, 6m im Mittel tief: von den Seen im Witebsker Kreis ist der tiefste 22 m tief, Kolmagorow +) besuchte 56 und erforschte 29 Seen des Kreises Tich- win, welche sämtlich Reste der Eiszeit sind und alle Typen der Moränen- landschaft vertreten. Im Königreich Polen sind das größte Sülwasser- becken die Wigorschen Seen im Gouvernement Suwalki, mit denen sich K. Kuljwez (Seml., 1904, Heft 3) beschäftigt hat, namentlich was ihre Fauna und Flora angeht. Sie umfassen zusammen ca. 25 km? (Referat im Globus). Über die Entstehung eines Hauptteiles der mittelrussischen Seen. nämlich der „Oberwolgaseen“, berichtet Gravelius*) im Anschluß an die ') Bericht über eine Expedition zur Erforschung der transuralischen Seen im Sommer 1907. Mitt. d. Kais. Russ. (Greogr. Gesellsch., Bd. 45, 1909 (russisch); Referat in P. M., 1908, H. 7. *) Ibid., Bd. 34. St. Petersburg 1905. °) In dem Bericht über den 1897 in St. Petersburg abgehaltenen Internationalen (reologentag. *) Semi. 1907. S. 1—35. Ref. von Woeihow in P.M. EEE Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 9 Arbeiten von Nikitin, Anutchin und Sbroshek, welche sämtlich russisch sind, folgendes. Eine Waldaihöhe im Sinne einer domförmigen Aufwölbung im Quellgebiet der Wolga existiert nicht, vielmehr eine Peneplain der karbonischen Oberfläche, über welcher sich das nordische Finnlandeis hin- wegschob, wobei es jedoch einige Grundzüge des alten Reliefs des Alaun- schen Systems nicht gänzlich verwischte. In den so entstandenen Hohl- räumen liegt die größte Zahl der Oberwolgaseen. Sie lassen sich in drei Gruppen scheiden. Die erste umfalit den großen Sseliger See mit seinen vielen „Plesso“ genannten flußseeartigen Zwischengliedern und den in un- mittelbarer Verbindung mit ihm stehenden Seen. Die zweite Gruppe wird von einer Anzahl Seen gebildet, die durch Wasseradern mit dem Sseliger verbunden sind und die dritte Gruppe umfaßt diejenigen Seen, welche die Quellwolga selber durchfließt. Über die Tiefen- und sonstigen morphologi- schen Verhältnisse habe ich bereits nach Anutchin in meiner „Morpho- metrie der europäischen Seen“ berichtet. Eine Fortsetzung der Ergebnisse der Seenforschung in Mittelrußland, welche Gravelius angekündigt hatte, scheint leider nicht erfolgt zu sein. Die Bodenverhältnisse eines dieser Seen, des 72 km? großen Bolo- gojesees, im Waldaischen Kreise des Nowgorodschen Gouvernement, hat K. Hülsen‘) untersucht und in dankenswerter Weise ein kurzes Referat in deutscher Sprache gegeben. Danach besteht die oberste Schicht des Seegrundes aus Schlick von schokoladebrauner Farbe, der reich an Fe, O,;. aber sehr arm an CaO ist; der unter diesem Schlamm gelegene Tief- schlamm ist etwas heller gefärbt, unterscheidet sich mechanisch nur wenig von ihm, ist aber erheblich reicher an organischen Stoffen. Die mittlere Schlammschicht des Sees ist ungefähr 6 m mächtig, unter ihr liegt grün- blauer Lehm. Von den Seen des Kreises Tichwin, gleichfalls Gouvernement Nowgorod, die Kolmagorow (Semlewedenie, 1907, russisch, Ref. in P. M.) untersucht hat, ist der Nurmo der tiefste (29 m). W.Leonow?) hat einen Teil der zahlreichen kleinen vielfach ver- zweigten Seen im nördlichen Teil des Gouvernement Rjäsan, welche sämt- lich nach der Oka entwässern, hydrographisch untersucht und ist zu dem merkwürdigen Resultat gelangt, daß sie vulkanischen Ursprungs aus der Glazialzeit sind. Zwar zeigen die größeren Seen Swajtoje und Welikoje, welche den Charakter ausgedehnter Sümpfe angenommen haben und bei einem Areal von 14 bzw. 5i km? nur wenig mehr als 1 m tief sind, nur geringe Spuren davon, aber die beiden kleineren Seen Gluchoje (225 ha) und Bjeloje (304 ha), die aber eine Tiefe von 345 bzw. 52:5 m erreichen. sollen nach dem Verfasser das Gepräge von Kraterseen tragen. Auffallend ist, daß der Boden beider Seen keineswegs ein einheitliches Becken bildet, 1, Untersuchungen der Grundproben des Bologojesees. Berichte der Livl. Süß- wasserstation d. Kais. Naturf. Gesellsch. zu St. Petersburg, Bd. III, 1911. ?2) Die Seen des Beckens der Pra, Polja, Jalma im Gouvernement Rjäsan. Seml. 1899, 3, russisch, Ref. von Immanuel in P.M. 10 W. Halbfaß. daß vielmehr im Glukoje zwei verschiedene Wannen und im Bjeloje eine rundliche Einsenkung in seiner nordöstlichen Ecke existiert. Ich möchte zunächst den vulkanischen Charakter beider Seen stark bezweifeln und annehmen, dal) wir es hier mit Evorsionsseen zu tun haben. 2. Schweden. Die neueren Arbeiten über die Seen Schwedens heben mit den For- schungen ‚von Karl Ahlenius!) in der Seenkettenregion von Schwedisch- Lappland an, deren morphometrischen Ergebnisse ich bereits in meiner „Morphometrie der europäischen Seen“ verwertet habe. Leider liegen nur von wenigen dieser Seen auch nur einigermaßen genügende Tiefenkarten vor: die der Arbeit beiliegenden Karten in 1:200.000 sind eigentlich mehr Kartenskizzen als Tiefenkarten zu nennen. Der größte von ihnen, der 282 km? große Hornafvan, ist mit 221 m zugleich der tiefste See Schwedens: Tiefen über 100 m kommen noch vor im Wojmsee (145 m). im Storumann (135 m) und im Malgomajsee (117m). Wahrscheinlich sind diese Seen als ein Rest gewaltiger präglazialer Flubßtäler oder Fluß- rinnen zu betrachten, die durch Erosionen entstanden sind, aber durch den Rest des Inlandeises ihre Tiefe und Form bewahrt haben und dann durch mächtige spät- und postglaziale Ablagerungen abgedämmt worden sind. Die Grenze zwischen den westlich gelegenen tieferen Becken und dem östlichen flacheren, etwa unter 25 m_Tiefe, wird auf dem Lande teils durch das Auftreten von langgestreckten Äsbildungen. teils durch das Vor- kommen von mächtigen Geröllmassen und Moränenablagerungen markiert. Der Hornafvan, wie schon gesagt, der größte und tiefste von ihnen, besteht aus 2 durchaus verschiedenen Teilen, einem oberen Seebecken bis zur Tiefe zu 221 m. und einem unteren inselreichen Teil. welcher durch eine lang- eestreckte Asbildung charakterisiert wird und nur eine Tiefe bis zu 25 m er- reicht. Sein Plafond besitzt auf eine Entfernung bis zu D km die gleiche Tiefe. Derselbe Forscher, der leider so früh der Wissenschaft entrissen wurde, hat später auch über den Siljansee, den Mittelpunkt der Land- schaft Dalarne, Untersuchungen angestellt.°2) Er hat seiner Arbeit auch eine Tiefenkarte dieses Sees und des nördlich an ihn grenzenden Orsa- sees nach Lotungen von Landberg und Wahlberg in den Jahren 1887/90, die zuerst in der Svensk Fiskeritidskrift veröffentlicht waren, publiziert, leider in dem sehr großen Maßstab 1:200.000. Danach beträgt sein Areal 320 km?, wovon die Inseln 20 km? einnehmen; in der Mitte befindet sich eine steil abfallende Rinne bis zu 120 m Tiefe, während der größte Teil des Sees so flach ist, dal) seine mittlere Tiefe nur 27 m, d.i. !/, der Maximaltiefe, beträgt. Auch die mittlere Böschung ist nur klein (18). Ähnlich liegen die Verhältnisse bei dem Orsasee, der 58 km? erob ist, ', Beiträge zur Kenntnis der Seenkettenregion in Schwedisch-Lappland. Bull. Geol. Inst. of Upsala, Nr. 2, Vol. V, Part. 1, 1900. *) Bidrag till Siljanbäckenats georrafi. Ymer, 1905, Bd. 25. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 11 eine größte Tiefe von 97 m, eine mittlere Tiefe von 21 m besitzt und gleichfalls nur eine schwache mittlere Böschung hat (13%). Ahlenius falit diesen Graben als ein Stück eines präglazialen Flußerosionstales auf, wäh- rend Steu de Geer!) ihn als die tiefsten Stellen einer ringförmigen Graben- versenkung von Paläozoikum bezeichnet, zu welchem wahrscheinlich noch die Seen Skattungen und Oresjön im Nordosten des Orsasees ge- hören.2) Soviel steht fest, daß die beiden zuerst genannten Seen geolo- gisch wie morphologisch ein gemeinsames Becken bilden, das bei Mora erst durch das von Westen anwachsende Delta des Osterdalälvs voneinander getrennt wurde. Man sieht dies auch sehr gut in der in 1:50.000 ge- zeichneten Karte des dem Delta zunächst liegenden Teils beider Seen, die der Arbeit von de Geer beiliegt. Der Osterdalälv mündet jetzt in südlicher tichtung in den Siljansee, während er wahrscheinlich bis zum Jahre 1659 in den Orsasee floß. Nach meiner persönlichen Kenntnis möchte ich der Ansicht de @eers beipflichten, da so prägnante und einheitliche Flußero- sionen in Seen ähnlicher Art mir sonst nicht bekannt sind. Eine genaue Auslotung aller 4 in Betracht kommenden Seen wird geplant und jeden- falls zur Klärung dieser Fragen wesentlich beitragen. Bedeutend später hat der schwedische Geologe O. Sjögren?) eine größere Arbeit über den in Schwedisch-Lappland gelegenen See Torne- träsk veröffentlicht und die hauptsächlichsten Ergebnisse in Nr. 7 der Geologischen Führer zu den Exkursionen des Stockholmer internationalen Geologenkongresses unter dem Titel „Der Torneträsk, Morphologie und Glazialgeologie* kurz zusammengefaßt. Der See, an dessen Südufer sich die bekannte Ofotenbahn Gellivare—Narvik hinzieht, besteht aus 5 größeren und einigen kleineren Becken, die durch Schwellen voneinander getrennt sind und sowohl in ihrer Gesamtheit wie im einzelnen durch glaziale Ero- sionen in einem präglazialen Flußtal entstanden sind. Von Ver- werfungen und glazialen Abdämmungen, welche bei den Seen weiter süd- lich in Frage kommen, findet man keine Spur: sogar die Schwellen zwischen den Talbecken bestehen ganz überwiegend aus festem Gestein. Auf Grund der von Sjögren mitgeteilten Tiefenkarte in 1:100.000 habe ich das Vo- lumen des 350 km? großen und bis 164 m tiefen Sees auf 16°8 Am3 be- rechnet, das ist etwas mehr als das des Neuenburgersees in der Schweiz, aber erheblich weniger als das des Hornafvan. Von den übrigen Fels- wannen in der Nähe des Torneträsk hat Sjögren den Sildviksvattnet ausgelotet, der nach unten zu durch eine quer über die Talsohle sich er- streckende reingespülte Felsbarriere abgegrenzt wird. Obwohl dieser schmale See nur 1'5 km? groß) ist, erreicht er doch eine Tiefe von 87 m und steht an mittlerer Tiefe seinem größeren Bruder nur wenig nach. 1) Führer der morphologischen Exkursion in Mittelschweden. Nr. 36 der geol. Führer bei dem intern. Geologentag in Stockholm 1910. 2) J.G@. Andersson, Geol. För. Förh. Stockholm 1908. 3) Geogr. och glacialgeol. Studies vid Torneträsk. Sveriges Geologiska Undersökning, Nr. 219; Ärsbok, 3, 1909, Nr. 2. 1? W.Halbfaß. John Frödin') hat einige Seen im südlichen Dalekarlien untersucht und von mehreren von ihnen Tiefenkarten in 1:75.000 publiziert; der größte von ihnen ist der Vessmann (402 km?), der eine Maximaltiefe von 57, eine mittlere Tiefe von 14 m besitzt, während die übrigen kleiner und flacher sind. Eine Anzahl in der Nähe der Küste befindlicher Seen in den Pro- vinzen (röteborg, Smäland und Södermanland, welche Kryptodepressionen sind, hat Stolpe ?) ausgelotet, ohne leider irgend welche andere Mitteilungen über ihre Größe und wahrscheinliche Entstehung mitzuteilen; der tiefste von ihnen ist der Storsjö (45°5 m). Von den 3 großen Seen des südlichen Schwedens habe ich nach den amtlichen Seekarten der schwedischen Marine die hauptsächlichsten mor- phometrischen Werte in meiner „Morphometrie der europäischen Seen“ mitgeteilt. Der Wetternsee, der auf beiden Seiten von Verwerfungen be- grenzt wird, also wahrscheinlich eine echte Grabenversenkung bildet, er- reicht seine größte Tiefe (120 m) in einer schmalen Rinne, die am Ost- ufer entlang von der Südspitze aus noch etwas nördlich vom Omberg reicht, wo südlich von Grenna die Uferberge steil in einer relativen Höhe von 237 m in den See abstürzen. Durch eine ausgezeichnete Arbeit von Axel Wallen >), dem Vorstand des neugegründeten schwedischen hydrographischen Amtes, sind wir über die Wasserstandsschwankungen des Wenersees in dem Jahrhundert 1807 bis 1907 sehr gut orientiert. Diese Schwankungen sind bei der Größe des Sees (= 10mal Bodensee) und dessen Einzugsgebietes (= Flußgebiet der Weser) sehr kompliziert und erregten schon frühzeitig das Interesse des schwedischen Geographen, aber erst im Jahre 1807 begannen die syste- matischen Aufzeichnungen, welche anfangs in Wenersborg, seit 1810 in Sjötorp, am Ausgang des Götakanals, gemacht worden. Wallen unterscheidet nicht weniger als 5 verschiedene Perioden der Schwankungen: eine jähr- liche mit einer mittleren Amplitude von 37 cm, eine solche von ungefähr 35 Monaten von 36cm, eine von 11 Jahren von 90 cm. eine von noch mehr Jahren, deren Dauer nicht zu bestimmen ist und eine von noch län- gerer Dauer, die etwa einer säkularen Schwankung entspricht. Die Schwan- kungen von 11 Jahren, welche. wie man sieht, am kräftigsten hervortreten, stehen im genauesten Zusammenhang mit der Periode der Änderungen der Sonnenflecken und werden von Wallön als die eigentliche Periode der Schwankungen des Sees bezeichnet, mittelst welchen es ihm gelungen ist, seine Wasserstandsschwankungen wenigstens für ein Jahr im voraus zu berechnen. Ob die Periode von längerer Dauer mit der Brücknerschen von >35 Jahren übereinstimmt, erscheint sehr zweifelhaft. Es liegen nämlich ’) Nägro bidrag till södra Dalarnas fysika geografi. Ymer, 1910. *) Les eryptodöpressions de l’Europe septentrionale. La Geographie. Bü. 30. °, Vinerns vattenständs variationer, Medd. frän Hydrografiska Byrän, 1. Stock- holm 1910; idem: Vänerns vattenständ, dess perioder och dess Reglering. Ymer, 1910, Heft 4. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 13 zwischen den Maxima längere Schwankungen (1828, 1865, 1906), 37 bzw. 41 Jahre, zwischen den Minima (1810, 1859, 1900) 49 bzw. 31 Jahre. Das Mittel aus diesen Zahlen ergibt etwa 40 Jahre, man darf aber wohl behaupten, daß die Zeit der Beobachtungen noch zu kurz ist, um sich definitiv für oder gegen die Existenz einer Brücknerschen Periode im Wenersee zu entscheiden. In den 100 Jahren der Beobachtung betrug die Differenz zwischen dem höchsten und niedrigsten Wasserstand nur 2:55 m, und selbst wenn man das 18. Jahrhundert zu Hilfe nimmt. so gelangt man nach glaubhaften Angaben nur zu einer Differenz von rund 3 m. Vergleicht man damit die Differenz der Wasserstände im Lago Maggiore, welche in den 50 Jahren, 1867—1897, 7 m betrug, so erkennt man den gewaltigen Einfluß, den die Retention des Sees auf seinen Abfluß ausübt. Sein Reten- tionsvermögen tritt auch aus den Kurven der Regenhöhen in seinem Ge- biete und den Seespiegelhöhen sehr deutlich hervor. Die 11jährige Periode der Wasserstände folgt durchweg mit einigen Monaten Verspätung der gleichen Periode der Niederschläge, deren Amplitude etwa 12 cm beträgt, während bei den anderen Perioden das Abhängigkeitsverhältnis beider Größen weniger deutlich ist. Der Jahreshochstand erfolgt gewöhnlich im Juni oder Juli, der Tiefstand im März. Nach Rosens Wasserstandsbeobachtungen ist der Mittelwasserstand des Mälaren von 1774—1895 ununterbrochen gesunken, und zwar im ganzen 56 cm, um ebensoviel im Salts)ön. Dieser Umstand läßt aber nicht ohne weiteres auf Niveauveränderungen schließen, sondern kann vielmehr durch Aufschüttungen im Waxolmsund erklärt werden; darauf deuten auch die allmählichen Minderungen des Hochwasserstandes hin, welche in gleichem Zeitraum im Mälaren etwa 160 cm betragen haben. Über den in der Landschaft Schonen gelegenen Odensjö, dessen runde Form und große Tiefe ihm den Ruhm eines Kratersees verschafft hatte, eine Annahme, welcher auch R. Kjellen !) beigepflichtet hatte, äußert sich R. Hennig ?), welcher eine Detailuntersuchung mit Lotungen und Boh- rungen vorgenommen hat, daß der See nicht rund, sondern elliptisch (175:126 m) sei, und auch diese rundliche Form nur einem Torfmoor an seinen Ufern verdanke, welches ein Teil des alten Seebeckens einnimmt. Dieses Moor liegt auf einer Moräne, welche 80 m» unterhalb des Sees zu- tage tritt, wo das Tal zu 10 m verengt ist. Der See zeigt eine zentrale tinne, und seine größte Tiefe (20 m) liegt seinem oberen Ende näher. Kjellen®) meint dagegen, Hennig habe nicht erklärt, warum der obere Teil des Tales, das Seebecken, den unterhalb folgenden an Tiefe und Breite so erheblich zurücklasse. Sieger stellt sich in seinem Referat über beide Abhandlungen (in P.M.) mehr auf Seite Pennigs und ist nur zweifelhaft, ob die Einengung des Tales unterhalb des Sees durch die Moräne bewirkt ') Bidrag till Sveriges endogena geografi. Geol. Fören. Förh., Bd. XXIV, Heft 4, Nr. 214. Stockholm 1902. 2) Studier et ofver Skänes ytskulptur. Ibid., Nr. 217. Stockholm 1903. 3) Kittelkrater eller dödt fall? Ibid., Nr. 221. Stockholm 1903. 14 W.Halbfaß. wurde oder durch ein Zusammentreten der Felswände, er plädiert für er- neute Lotungen und Ausführung eines Nivellement. Mir scheint der Um- stand, daß die größte Tiefe des Sees an seinem oberen Teil gefunden wurde, dafür zu sprechen, daß der See durch eine Moräne abgedämmt wurde: am Feldsee im Schwarzwald, dessen Entstehung als Moränenstausee nicht bezweifelt werden kann, habe ich die gleiche Beobachtung gemacht. 3. Norwegen. Voi dem größten norwegischen See, dem Mjösen, ist auf Grund von über 2000 Lotuneen eine Tiefenkarte in 1:100.000 erschienen). auf welcher ich sein Volumen auf rund 69 km3, seine mittlere Tiefe auf 192 m berechnete, also größer als die irgend eines Sees der Alpen. Über seine Maximaltiefe gehen die Angaben auseinander. Helland ?) gibt 452 m an, während Saetren, der frühere Kanaldirektor und oberster staatlicher Baubeamter Norwegens, in seinem Buche „Beskrivelse af Glommen“, Chri- stiania 1904. nur 443 m angibt, eine Zahl, die er auch in dem Buche „Beskrivelse af Skiens Vasdrag, 1908" wiederholt. Ist diese Angabe richtig. dann ist nicht der Mjösen, sondern der Tinnsjö mit 445 m Maximaltiefe der zweittiefste Norwegens, während bekanntlich die erste Stelle dem Hornindalsvand gebührt, welcher nach Helland (siehe dort) mit 486 m Maximaltiefe zugleich der tiefste See Europas ist, soweit unsere bisherigen Kenntnisse reichen. Bei dieser (Gelegenheit mag hervorgehoben werden, dal unsere Kenntnisse über die Morphologie der großen norwegischen Seen noch immer sehr mangelhaft sind. Helland gibt z. B. vom Hornindalsvand nur 15 Lotungen an, eine bei einem See von der Größe des Starnberger- sees gewib lächerlich geringe Zahl. Huitfeld-Kaas ?) gibt von einer ganzen Reihe von Seen Maximaltiefen an, sie sind aber wohl sämtlich nur als provisorische anzusehen, der Mjösen figuriert in der Liste mit 446 m. In der Liste über die größten Seen Norwegens, die Holmsen +) zusammenge- stellt hat, figuriert der Bandakvatn mit 211m, während Saetren (nach Dubislav) seine Tiefe mit 2859 m angibt. Zu den weniger genauer ausge- loteten Seen gehören auch die nahe der schwedischen Reichsgrenze am West- fluß des Lulitelma gelegenen Seen Nedrevand, Ovrevand und Lang- vand. Die Messungen, welche Schütz und Jörgensen im Auftrage einer schwedischen Minengesellschaft in diesen am inneren Ende des Saltenfjords ausgeführt hatten. hat zuerst 0. Nordenskjöld veröffentlicht 5) und später ') Dybdekart over Mjösen udfert vor de praktisk-vetensk. Undersög vedk Fersk- vandsfiskerierne ved Ing. Dahls Opmaalingskontor. Christiania 1906. ®) Om Beliggenheden af Moraenen og Terasser fovan mange Indsjöer, Öfversigt af K. Vetens,. Akad. Förh., 1875, Nr. 1, Stockholm. °) Nach freundlicher brieflicher Mitteilung vom Regierungsrat Dubislav in Mün- ster, welcher ein Buch „Neuere Wasserkraftanlagen in Norwegen“, München 1909, ge- schrieben hat. 4 Planktonundersögelser i Norske Vande. Christiania 1906. °), Om sjöarne Ovre Vand och Nedre Vand mellan Saltenfjorden och Sulitelma. Geol. Fören. Förh., XVII. Stockholm 1895. Der. gegenwärtige Stand der Seenforschung. 15 > durch eine Reihe eigener Messungen vervollständigt), welche er zur Kon- struktion von Tiefenkarten benutzte, von denen leider nur diejenigen des Langvand in einem ausreichenden Maßstab gezeichnet sind; für die beiden anderen Seen war wohl auch die Zahl der Lotungen nicht aus- reichend. Von den beiden Wällen, welchen die beiden zuerst genannten Seen ihr Dasein verdanken, besteht der westliche aus 2 Felseninseln. welche untereinander und mit dem Festland durch Endmoränenwälle miteinander verbunden sind, während der östliche Wall aus einem einfachen Bogen zwischen hohen Felswänden besteht, den man nicht ohne weiteres als eine eigentliche Endmoräne bezeichnen kann, wenn er auch vor der Eiswand, vielleicht unterseeisch, gebildet ist. Nordenskjöld schiebt die Hauptsache der Entstehung beider Seen einer starken Eiserosion zu. Der Ovrevand erreicht in seinem hinteren breiten Ende die bedeutende Tiefe von 327 m bei einer Meereshöhe von 12—3°5 m über der tiefsten Ebbe je nach den Jahreszeiten, aber auch durch seinen vorderen schmäleren Teil zieht sich eine tiefe Rinne, die teil- weise bis 300 m tief wird. In Nedrevand erreicht das Hauptbecken nir- gends 20m Tiefe, obwohl namentlich seine südliche Wand sehr steil ist. in der Nordwestbucht nahe dem nördlichsten Moränenbogen reicht die Tiefe bis 26 m, in der Südwestbucht wurde leider nicht gelotet. Vom Lang- vand konnte Nordenskjöld über 1000 Lotungen benutzen, welche zeigen, daß er aus 3 oder 4 getrennten Becken besteht, welche durch ziemlich steil emporragende Rücken voneinander getrennt sind; in dem westlichen Teile des Sees, der überall flach zu sein scheint, konnten bis jetzt nur wenige Lotungen gemacht werden. Zu bemerken ist, daß dieselben im Winter auf dem Eis gemacht wurden. Nordenskjöld nimmt an, dab er durch Erosionen strömender Gletscher an einer Stelle gebildet wurde, wo sich zwei bedeutende Gletscher vereinigt und wo die Erosion durch starke und tiefgehende Zerklüftung erleichtert wurde. Auch die das Becken zer- teilenden Rücken sind, falls sie aus anstehendem Fels bestehen, was bisher nıcht ermittelt werden konnte, nach Nordenskjöld auf gleiche Weise ent- standen. 4. Island. Die zahlreichen Seen Islands sind zum größeren Teile noch nicht näher erforscht: trotz mancher Lotungen in einzelnen Seen (siehe unten) existiert in Wahrheit nur von dem größten unter ihnen, dem Thing- vallavatn, eine einigermaßen brauchbare Tiefenkarte in 1: 120.000, die wir Saemundsson?) verdanken. Seine größte Tiefe beträgt 110 m; da seine Meereshöhe 106 m ist, so bildet er eine schwach ausgeprägte Krypto- !) Topographisch-geologische Studien in Fjordgebieten. Geol. Inst. Univ. Upsala, Vol. IV. Upsala 1900. °) Thingvallasöen. Geogr. Tidskrift, Bd. XVII, 1903/04, Kopenhagen 1904, 8. 175 ff. 16 W.Halbfaß. depression von 4n. Sein Becken bildet insofern eine Kombination von Lava- und Glazialsee, als es während der Eiszeit von einem Gletscher er- füllt war, der seinen südlichen Teil vertieft hat und in vorgeschichtlicher Zeit mächtige Lavaströme seinen nördlichen Teil ausgefüllt haben. Diese Lavaströme haben sich später auf denselben Bruchlinien gesenkt, die ur- sprünglich den See verursacht haben. Verschiedene Erdbeben in der Nähe des Sees beweisen, dal die tektonischen Bewegungen des Erdbebens in dieser Gegend noch immer nicht ihr Ende erreicht haben. Der Boden des Sees besteht in den großen Tiefen überwiegend aus tiefschwarzem Schlamm organischer Herkunft: seine Speisung geschieht wahrscheinlich überwiegend durch unterirdische Quellen.') Die gleiche Maximaltiefe wie der Thing- vallavatn soll nach Helland ?) der Lagarfljot erreichen, ein langgestreckter typischer Talsee im Ostland, der nur 26 m Meereshöhe besitzt, also eine erhebliche Kryptodepression darstellt; sein oberstes Ende ist jetzt durch Ablagerungen des Flusses ausgefüllt. Ein anderer typischer Talsee, deren Zahl in Island nur eine geringe ist, ist der Skorradalsvatn im West- lande®), der bei einem Areal von etwa 25 km? 38 m tief wird, früher aber gleichfalls bedeutend länger gewesen ist. Moränenseen sind im ganzen Lande häufig und meist seicht: der größte von ihnen, der Arnarvatn (25 km?), ist nur 2m tief. Eigentliche Karseen sind ziemlich selten; Thoroddsen erwähnt als größte den Nikra- tjörn und den Hraunsvatn (60 m tief?), welche 12 resp. 13 ha groß und von 300 m hohen Felswänden umgeben sind, ihre Tiefe steht nicht sicher fest. Noch höhere Ufer besitzt der Hvalvatn, der nur 3 km? eroß, aber über 100 m tief sein soll (?). Viele Seen Islands verdanken ihre Ent- stehung vulkanischen Kräften, der größte von ihnen soll der Snjoöldu- vatn (6 km?) sein, der durch Verschmelzung vieler Krater gebildet wor- den ist, auch Maare finden sich hie und da in den vulkanischen Gegen- den, der bekannteste ist der Viti, nordöstlich vom Myvatn, der bei einem plötzlichen Ausbruch am 17. Mai 1724 entstand. Der Myvatn*) selbst, zu deutsch Mückensee, gehört zu den am frühesten bekannten Seen Is- lands, er ist 27 km? gro, wird aber nur bis 5m tief und ist als Stausee aufzufassen, der «durch enorme Lavaströme aufgedämmt und teilweise zwi- schen Lavaspalten eingesenkt ist. Sein Boden besteht fast nur aus Lava und auf seiner Ostseite begegnen wir zahlreichen Solfataren. Mehrere Krater ragen als Insel aus seiner Wasserfläche empor. Auch an Lagunen- seen ist Island reich, namentlich an seiner Nordküste. Von diesen Seen ') Ostenfeld und Wesenberg-Land. A regular fortnightly exploration of the plankton of the two Icelandie Lakes, Thingvallavatn and Myvatn. Proc. Roy. Soc. Edin- burgh, Vol. XXV, Part. LII. Edinburgh, 1906, S. 1104. ?, Geogr. Tidskrift, VI, 1882, 8. 109. °) Siehe T’horoddsen, Island. Grundriß der Geographie und Geologie, Bd. I, Er- ränzungsneft 152 zu P. M.. 1905. 8. 35 ff. *) Eine Kartenskizze des Sees samt seinen Inseln soll sich bei Th. Krüper fin- den. Zeitschr. Naumannia, 1857, H. 2, S. 33/42. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 17 scheint der tiefste Miklavatn zu sein (26 m), der von einer Süßwasser- schicht bedeckt ist, während weiter unterhalb, wie bei den anderen Küsten- seen, das Wasser salzig ist. Der größte Strandsee ist das Hop (40 km?), der aber nur eine Tiefe bis zu 5 m erreichen soll. Für Seenforscher bietet Island noch auf lange Zeit hinaus ein lohnendes Gebiet. 5. Dänemark. Die Seen des eigentlichen Dänemarks sind zwar biologisch durch die ausgezeichneten Untersuchungen von Dr. Wesenberg !) sehr gut bekannt, im übrigen aber ermangeln die meisten von ihnen monographischer Be- arbeitungen. So existiert von Furesö bei Kopenhagen, wo sich Wesen- bergs biologische Station befindet, nur eine sehr oberflächliche Karten- skizze in 1:36.000 in der Publikation desselben Autors; genauere Karten finden sich in demselben Werke vom Esromsö in 1:50.000 und vom Sorösö in 1:15.000, während vom Tjustrupsö Feddersen schon seit längerer Zeit eine gute Tiefenkarte in 1:20.000 herausgegeben hatte. ?) Während die Seen Seelands wahrscheinlich Grundmoränenseen sind, rechnet Fritz Machatek die Seenreihe des Gudenaa zwischen Skanderborg und Silke- borg zu den Rinnenseen, welche inmitten einer vielfach zerschnittenen und aufgelösten fluvioglazialen Terrassenlandschaft durch lokalverstärkte Ero- sionen entstanden sind. Der Haldsö, südwestlich von Viborg, ist wahr- scheinlich durch die ihn im Südwesten vorgelagerte Endmoräne des Ravnsbjerg, die sich 55 m über seinem Spiegel erhebt, angestaut worden. Auch sein Ostufer erhebt sich ca. 50 m über den See, der als der tiefste See des Königreiches gilt (40 m?). Zahlreiche dänische Seen sind bei der geringen absoluten Höhe des Landes Kryptodepressionen, leider ver- schwinden jährlich mehr und mehr von ihnen infolge künstlicher Verlan- dungen. 6. Großbritannien und Irland. Über den Stand der Seenforschung in Schottland habe ich in den letzten Jahren ?) mehrfach berichtet, so daß ich mich hier kurz fassen und im übrigen auf diese Übersichten verweisen kann. Die schottische Lake Survey unter der Oberleitung von Sir John Murray und L. Pullar und der Mithilfe eines auserlesenen Stabes von technischen und wissenschaftlichen Mitarbeitern hat in öjähriger Arbeit 562 Seen Schottlands, einschließlich der Inselgruppen der Hebriden, Shetland- und Orkney-Inseln, ausgelotet und ihre Reliefver- hältnisse auf Grund von 54.025 Lotungen in genauen Tiefenkarten darge- stellt, die teils in dem Londoner Geographical Journal, teils in dem Edinburger Scott Geograph. Magazine, zum erößten Teil aber in den beiden Journalen veröffentlicht sind, teils endlich in einem besonderen ') Studier over de danske Söers plankton. Bd. I. Kopenhagen 1904. ?) Geogr. Tidskrift, Bd. 12. Kopenhagen 1894. ®) Referate in P.M. sowie im Globus; zusammenhängende Besprechungen im Globus, Bd. 95, Nr. 22 (1909) und in den Beiträgen zur Geophysik, Bd. X, 4 (1910). E. Abderhalden, Fortschritte. VII. 2 [ 18 W.Halbfaß. Werk „Bathymetrical Survey of the Fresh-Water lochs of Scotland“, Lon- don 1908. Die Karten dieses Buches unterscheiden sich von den vorhin genannten dadurch, daß sie nur die Seen selbst, nicht aber auch das um- gebende Land durch Höhenkurven darstellen. Ihre sämtlichen Publikationen über schottische Seen haben beide Autoren noch einmal in einem großen Standardwerk unter demselben Titel in 6 Bänden, Edinburgh 1910, zu- sammengefabt, welches auch eine Anzahl von Abhandlungen über verschie- dene Zweige der Seenforschung von einer Reihe von Autoren enthält, auf welche wir später noch zurückkommen werden.!) Durch diese Publikationen hat sich die schottische Lake survey ein unvergleichliches Denkmal gesetzt und Schottland in bezug auf Seenkunde zu dem besterforschtesten Land der Erde gemacht, dem kaum die Schweiz und andere Alpenländer die Spitze bieten können. Selbstverständlich gibt es auch in Schottland, nament- lich im Hochland, noch eine ganze Reihe bis jetzt noch nicht ausgeloteter und näher untersuchter Seen; der Lake Survey hat in Aussicht gestellt, auch diese Lücken noch nach und nach auszufüllen. Einige von ihnen haben bereits durch Oollet und Johnston ihre Bearbeitung gefunden.?) Aus dem überreichen Ergebnis der vielen tausend Lotungen, welche durch Chumley, den Sekretär der Survey, übersichtlich zusammengestellt sind, wobei noch zu bemerken ist, daß die Seespiegelhöhe jedes Sees an die Triangulationsmarke des Ordnance survey aneeschlossen ist, seien hier noch einmal ganz kurz die interessantesten Ergebnisse wiederholt: die tiefsten Seen sind Morar (310m), Neß (230), Lomond (187), Lochy (160), Ericht (156), Tay (155), Katrine (151), Rannoch (134), Treig (132), Shiel (128), Maree (112), Glaß (111). Von diesen 12 Seen besitzen S eine mittlere Tiefe von mindestens 5U m, an deren Spitze Neß (132 m) steht; 13 Seen sind größer als 10 km?, an ihrer Spitze stehen Lomond (711), Neß (56'5) und Awe (385). Ein Volumen von mindestens 1 km® haben 8 Seen, von denen Neß (71), Lo- mond (25) und Morar (2'2), jeder mehr als 2%ms fassen. Uber die Ent- stehungsursachen der schottischen Seen, deren es natürlich eine ganze Menge gibt, habe ich mich auf Grund der Aufnahmen der Lake Survey und der geologischen von Peach und Horne und eigener Anschauung in den oben genannten Übersichten bereits ausführlich genug geäußert: sehr be- merkenswert sind die Ausführungen der eben genannten Geologen 3) über die Entstehung der „rock-basins“. Beide stellen sich ganz entschieden auf die Seite der Forscher, welche die aushobelnde gegenüber der konservieren- den Tätigkeit der Gletscher in den Vordergrund stellen, betonen aber, dab die schon vor der Vergletscherung bestandene Oberflächenbeschaffenheit des Landes bei der Bildung der Seen eine entschiedene Rolle gespielt habe. ') Siehe mein Referat im P. M., 1911, Teil II, H. 6. 2) Proc. toy. Doc. Kdinburgeh, Vol. 26, Part. II, 1906. °) The scottish lakes in relation to the geological features of the country. Re- ports on the scientific results of the bathym. survey of the Scott fresh-water lochs. London 1910, Vol. I, pag. 43% ff. u N Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 19 Auch Tarr!) betont, daß nach seiner Meinung alle größeren Seen des schottischen Hochlandes glazialen Ursprungs seien und daß zum min- desten die Vergletscherung Verwerfungen und sonstigen tektonischen Vor- gängen stark nachgeholfen habe. Auch hier möchte ich auf die Tatsache hinweisen, daß eine Reihe von Seen nahe der Westküste sehr erhebliche Kryptodepressionen sind, die also mit der Bildungsgeschichte des angrenzenden Meeres irgendwie in Zusammenhang stehen müssen, so reicht der Boden des Morar bis 300, des Neß 215. des Lomond 180, des Lochy 131, des Shiel 125, des Maree 105 m unter den Meeresspiegel), während die Kryptodepres- sionen, welche im Binnenlande liegen, weniger stark ausgebildet sind. So wie über kurz oder lang die Mehrzahl der zuerst genannten Seen in Fjorde verwandelt sein wird, so mag ein analoger Vorgang in einer hinter uns liegenden Zeitepoche sie aus Fjorden in den See verwandelt haben, so dab sie wohl als alte Meeresteile anzusprechen sind. Die Seen in Nordwales waren schon früher häufig der Gegenstand geologischer und morphologischer Untersuchungen, aber erst Jehu?) hat, von Freunden unterstützt, Lotungen in den Seen in der Nähe des Snow- don und im östlichen Carnarvonshire unternommen, welche hinreichten, um von ihnen genauere Tiefenkarten in 1:21.120 zu entwerfen. Sie sind meist schmale Talseen, in denen die tiefste Stelle im oberen Ende liegt, während sie bei den höchstgelegenen mehr in die Mitte fällt. Die meisten von ihnen sind echte Felsbecken, mehrere sind teils als Felsbecken, teils als Abdämmungsseen anzusehen, nur wenige von ihnen sind durch Moränen allein angestaut: dab sie durch eine ehemalige starke Vergletscherung des Gebietes ihre heutige Form erhalten haben, steht außer Zweifel. Nur einer von ihnen, der Llyn Padarn, ist etwas über 1 km? groß, der Llyn Llydaw, der Liyn Dulyn und der Llyn Cawlyd sind über 50 m tief. Die Seen- forschung auf der Insel Irland liegt noch sehr im argen; seit der kleinen Abhandlung von Hoswwarth*), welcher in 5 Seen, im äußersten Westen der Insel, in der Grafschaft Galway, Loch Dhulough, Clencullin, Nafovey, Lotungen unternahm, wobei sich als größte Tiefe des zuerst genannten Sees 50 m ergab, sind mir weiter keine hierher gehörigen Arbeiten bekannt geworden. Howarths Lotungen haben übrigens noch nicht zu Tiefenkarten der betreffenden Seen geführt. F. R. Cowper Reed’) hat die kleinen Hochseen der Comeragh Moun- tains an der Südküste Irlands in der Grafschaft Waterford auf ihre Ent- !) Glacial erosion in the Seottish Highlands. Scott. Geogr. Mag., Bd. 24, 1908: ef. @. Eisenmeyer, Sur l’origine glaciaire du loch Lomond et du lac Tay. C.R. Acad. des sciences. Paris 1909. ?) Vgl. Halbfaß, Les eryptodepressions de l’Europe septentrionale. La Geog. 1911. >) Transactions of the Roy. Soc. of Edinburgh, Vol. 40, Part. II, Nr. 20. Edin- bursh 1902. *) Notes on an Irish Lake Distrikt. G. J., XXV, Nr. 2. 5) Notes on the Corries of the Comeragh Mountains, Co. Waterford. Geol. Mag. London 1906. 30 W. Halbfaß. stehungsweise untersucht, ohne aber selbst Lotungen veranstaltet zu haben aus Mangel an Fahrzeugen. Sie liegen im Durchschnitt 4—500 m hoch und werden von ihm als Moränenstauseen angesprochen, der Charakter von Felsbecken soll ihnen nicht anhaften. Der größte von ihnen ist der etwa 14 ha große Coumishingann in etwa 380 m Meereshöhe. 7. Frankreich. Frankreichs klassische Periode der Seenforschung hat mit Dele- beeques großem Werk „Les lacs francais“, Paris 1898 und dem von ihm herauszegebenen Seenatlas seinen Abschluß gefunden: das Buch von Ant. Magnin „La vegetation des lacs du jura“, Paris 1904, wird erst später gewürdigt werden. Über die Küstenseen der „Landes“ hat Kretschmar !) mit Berücksichtigung von Karten des Claude Masse, der vor 200 Jahren die ganze Gegend in dem großen Maßstab 1:29.235 sehr genau aufge- nommen hatte, eine neue Darstellung gegeben. Ein Teil der jetzigen Strand- seen scheint noch im Mittelalter Hafenbuchten gewesen zu sein, bis ein sich allmählich vergrößernder Landstreifen die Bucht völlig abschnürte und ihr Wasser durch die einströmenden Flüsse langsam ausgesüßt wurde. Die Tatsache, daß, trotzdem der Boden mehrerer Strandseen, vor allem des lace d’Hourtin und des lac de Lacanan, nicht unbeträchtlich über dem Meeresspiegel liegt, wenigstens nach den von Delebeeque im Dezember 1895 gemachten Lotungen, erklärt sich ganz einfach dadurch, dal die beiden oben genannten Seen, namentlich in ihrer westlichen Hälfte, damals weit tiefer als zu Delebeeques Zeiten gewesen sind, nämlich um 13 resp. 10 m. Ihr Boden lag also damals noch unter dem Meeresboden, so daß ihr frü- herer Zusammenhang mit dem Meere klar zutage liegt. Der Vergleich der alten Karten mit den neueren zeigt ferner, daß), wenn auch die ehemaligen juchten durch den Dünengürtel schon vor 200 Jahren geschlossen waren, doch noch unter Wasser liegende Vertiefungen vorhanden waren, die in der Richtung der alten Mündungsstellen lagen und von den früher vor- handen gewesenen courants benutzt worden waren. Das Zeitmaß, in wel- chem diese Seen seitdem ausgefüllt wurden, läßt darauf schließen, daß sie wahrscheinlich zu Beginn des 16. Jahrhunderts entstanden sind. An der Küste des Mittelmeers ist ein anderer Strandsee, der Etang de Thau, von Louis Sudry, Professor an der Faculte des sciences in Caen, sehr ausführlich untersucht worden.?) Seine Arbeit darf als die beste Monographie angesehen werden, die wir bis jetzt von einem Strand- see besitzen. Der etwa 71 km? große See erreicht, abgesehen von einer nahe dem östlichen Ufer 100 m im Durchmesser enthaltenden, bis 30 m tiefen Vertiefung des Bodens, der eine (Quelle, die Bise, entströmt, eine ') Die Küsten der „Landes“, Geogr, Zeitschr., XVI, 2, 1910. ?) L’Etang de Thau. Kssai de Monographie oc&anographique. Imprimerie de Monaco 1910. Ausführliches Referat vom Referenten in der Geogr. Zeitschr, XVII, 8 Leipzig 1911. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 2] Maximaltiefe von 11», eine mittlere Tiefe von 45 m, woraus ein Volumen von 350,000.000 m3 resultiert. Der Mont de Cette im Osten und der Mont d’Agde im Westen bilden die beiden Eckpfeiler der Nehrung, welche ihn vom Meere abtrennt, während der See mit dem Mittelmeer durch die künstlich offen gehaltenen Kanäle von Cette in Verbindung steht. Drei ältere Kanäle, die sogenannten „Graux“, gestatten nur noch bei hohem Wasserstand eine Verbindung mit dem Meere und versanden nach und nach, weil sie nicht mehr von den Gezeiten durchspült werden. Da sein Einzugsgebiet nur etwa 4mal so groß als sein Areal ist, die ihm tributären Flüsse nur unbedeutend sind und die herrschenden Nordwinde den Sand der Nehrungsdüne nicht in den See, sondern in das Meer blasen, so hat er sich, im Gegensatz zu anderen Strandseen, sehr gut konserviert, so dab seit historischen Zeiten kaum irgendwelche Veränderungen in seinen Kon- turen vorgekommen sein dürften. Die Entstehung des Sees, welcher in einer miozänen Mulde zwischen den jurassischen Falten von la Gardiole und Montpellier liegt, hängt offenbar einerseits mit der seit der Pliocän- zeit bis auf unsere Zeit ununterbrochenen Hebung der ganzen Ebene von Languedoc, andrerseits mit dem Umstand zusammen, dab die Gezeiten im Mittelmeer nur wenige Dezimeter Höhe erreichen, wodurch die den Strand- see vom Meere trennende Düne eine gewisse Stabilität erhält. Sein Wasser wird dadurch langsam salzreicher, daß das durch niedrige Temperatur und größeren Salzgehalt schwerere Ozeanwasser auf den Grund des Sees sinkt, während das leichtere und brackigere Oberflächenwasser bei den Gezeiten durch die Kanäle in den freien Ozean hinaustritt. Der Salzgehalt selbst schwankt naturgemäß örtlich wie zeitlich (zwischen 13 und 19°/,,) und ist etwas geringer als im benachbarten Ozean. Über den Ursprung der Seen des Sept Laux hat Delebecque !) Untersuchungen angestellt, durch welche er zu dem Resultat gekommen ist, daß nur durch tiefere Bohrungen in dem benachbarten Gelände die Frage erst entschieden werden kann, ob sie echte Felsbecken oder durch Moränen abgedämmt sind. Neuere Untersuchungen desselben Autors?) über die Entstehungs- weise einer Reihe von Seen in den Pyrenäen wollen dartun, daß sie sämt- lich sicher oder höchstwahrscheinlich echte Felsbecken sind; die meisten von ihnen sind in Granit oder Gneis eingebettet, es sind dies die Seen von Oo, Caillaouas, Oredon, Aubert, Aumar, Cap-de-Long, Peyre- lade, Estom, Gaube, Miguelon, Artouste. Die Hochseen der Insel Korsika sind in der letzten Zeit mehrfach der Ge- genstand besonders von Gletscherforschungen gewesen ; die ausführlichste Ar- beit über die frühere Vergletscherung der Insel verdanken wir R. Lucerna°), ') Bull. Serv. Carte G6ol. de la France et des topogr. souterraines 1903/04, Nr. 102, Bd. XV. Paris 1905. 2) Ibid., 1904/05, Nr. 110, Bd. XVI, 1906. ®) Die Eiszeit auf Korsika. Abhandl. der k. k. Geogr. Gesellsch. in Wien, Bd. IX. Wien 1910. 22 W.Halbfaß. welcher allerdings sein Augenmerk weniger auf die Seenbildung selbst gelenkt hat. Der lago del Monte Rotondo oder lago dell’ Oriente (2088 m) liegt nach ihm (S. 27) in einer plattgeschliffenen Felswanne am Ausgange mit einer von Rundhöckern besetzten Felsschwelle; an seinem Ostrande hat sich in einer Nische der Felswandung ein Grundmoränen- rest erhalten, die Karflanken tragen Seitenmoränen der Gschnitzzeit. Noch höher hinauf liegt im gleichen Gebirgsstock der lago Bettaniella (2280 m), der mit 7 ha der größte Hochsee Korsikas sein soll.!) Die Moränenwälle am lago Cinto (2280 m) fand zuerst Briquet?), nach Lucerna gehören sie der Daunzeit an. Der Ninosee, im Quellgebiet des Tavigniano (1745 m), der letzte Rest eines noch deutlich zu erkennenden früheren weit größeren Sees, ist nach Zucerna durch Aushöhlung eines Bühlgletschers geschaffen. Auch die kleinen Seen am Capo al Berdato, von denen der 2250 m hoch gelegene lago Maggiore mit 160 ha der größte zu sein scheint ®), sind echte Zirkusseen. Leider sind noch in keinem korsischen See bis jetzt Lotungen gemacht worden. 8. Spanien, Von den zahlreichen, wenn auch nur kleinen Hochseen Spaniens wissen wir bis jetzt noch immer nichts genaueres, da Messungen irgend welcher Art fast gänzlich zu fehlen scheinen. Von dem einzigen größeren Binnensee, den überhaupt die Pyrenäenhalbinsel besitzt, dem lago de San Martin de Castaüeda, der in der Provinz Zamora liegt, also ganz ab- seits von den großen Verkehrslinien, ist zwar eine, mit einigen typischen Landschaftsbildern versehene Arbeit von D. Joaquin de Ciria y Vinent *) erschienen, allein sie erweitert unsere geographische Kenntnis dieses interessanten Sees durchaus nicht, weder was seine Entstehung, noch was seine topographischen und hydrographischen Verhältnisse anlangen. Im wesentlichen gibt sie nur eine Reproduktion der Arbeit von Cesdreo Fer- nandez Duro, „el lago de Sanabria 0 de San Martin de Castaneda“ (Bol. R.Soc. Geogr. Madrid, 1879, Bd. 6), welche seibst wiederum eine Abhandlung von Antonio Cesares (Astorga 1878) wiederholt. Die Angaben über Tiefe (SO m?) und Areal schwanken sehr. In der geol. Beschreibung der Provinz Zamora (Memorias „Comision del Mapa Geol. de Espana“ von Puig % Larraz |1885|) wird seine Größe auf 11 km? angegeben, während ich nach der Karte bei Fernandez Duro 4 km? planimetrisch vermal). Die Kar- ', C’astelnau, Observations sur les phönomenes glaciaires en Corse. ©.R. Acad. Se., Bd. 146, 1903, pag. 1705. 2, Note sur la Glaeiations Quaternaire des Hauts Sommets de la Corse. Arch. Se. Phys. et Nat. Geneve 1901, 4 me ser. 3) Castelnau, le Niolo. La G£ogr., Bd.17, 1908, pag. 97/108, pag. 211/222. Deprets Arbeit, Etude analytique du Relief de la Corse. Revue de Ge£ogr. annuelle 1908, habe ich nicht einsehen können. +) La provineia di Zamora y el lago de San Martin de Castaüeda. Bol. R. Soc. Geogr. Madrid 1908, Bd. 50. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 23 seen der Sierra Nevada sind in neuerer Zeit der (Gegenstand von Untersuchungen seitens A. Benrath!) und Quelle?) gewesen. Nach ersterem liegen die Hochseen dieses Gebirges in echten Karen, sind sehr flach und besitzen nach dem Talausgang hin eine wenige Meter hohe Barre, die der Bach durchsägt hat; sie sind sicher durch Gletschererosion entstanden. Derselben Ansicht ist auch im allgemeinen @xelle;, um den erößeren der beiden Seen, welche in dem mächtigen Zirkus liegen, welcher sich westlich von der 2970 m hohen laguna de la Caldera erhebt, zieht sich eine gut ausgebildete Moräne in einer Höhe von 2 m in seiner West- seite entlang. In seiner Umgebung, wie in der der laguna de las Yeguas (2350 m) sind Rundhöcker sehr deutlich ausgebildet, dagegen konnten Gletscherschliffe nicht aufgefunden werden. Letzteren bezeichnet Quelle als den schönsten Karsee des ganzen Gebirges. Die beiden genannten Seen sind zugleich die größten; sie sind, wie auch die kleineren, kreisrund oder oval geformt und wahrscheinlich nur sehr flach. Leider hat Quelle keine Lotungen in den Seen unternommen. Über die Zirkusseen der Sierra de Gredos werden im Bol. R. Soc. Geogr., Madrid 1907, Bd. 49, S. 266ff. einige Bemerkungen gemacht. namentlich über die 2055 m hoch gelegene laguna de Gredos, die mir aber keinen höheren wissenschaftlichen Wert zu besitzen scheinen. Die Literatur über andere Bergseen der Iberischen Halbinsel scheint sehr dürftig zu sein, vgl. Penck, Zeitschr. Ges. f. Erdk. Berlin, Bd. 29, 1894. S. 136. 9. Italien.) Nach den großen Aufnahmen des kgl. Hydrographischen Amtes und den Arbeiten des unermüdlichen Dioskurenpaares O. Marinelli und @. de Agostini ist auch in Italien, wie in Frankreich, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Seenkunde in ein ruhigeres Fahrwasser gekommen und die letzten Untersuchungen gehen mehr auf Einzelheiten bestimmter Seen ein. Von dem bereits lange fertiggestellten, aber immer noch nicht veröffentlichten Atlante dei laghi italiani von de Agostini, welcher alle Seen Italiens, sofern sie mindestens !/, km? groß und 5 m tief sind, im ein- heitlichen Maßstab von 1:50.000 umfassen soll, sind mir durch die Liebens- würdigkeit des Herausgebers mehrere zur Verfügung gestellt. Das größte Interesse besitzt das Blatt, welches den lago di Bolsena enthält, denn es zeigt, dab dieser See doch ein recht verwickeltes Bodenrelief besitzt, welches in der bereits publizierten Skizze der vulkanischen Seen der Pro- vinz Rom*) nicht genügend hervortrat. Die tiefste Stelle des Sees (146 m) ‘) Eindrücke aus der spanischen Sierra Nevada. Geogr. Zeitschr., Bd. 13, 1907, 8.122. °) Beiträge zur Kenntnis der spanischen Sierra Nevada. Zeitschr. d.Ges. f. Erdk. zu Berlin, 1908; Nr.5 u. 6. °) Die zu Italien gehörigen in den Alpen gelegenen Seen werden erst später in Zusammenhang mit den Seen der Alpen überhaupt behandelt werden, siehe S. 32 u. 35 f. *) @. de Agostini, Esplorazioni idrografiche nei laghi vulcanici nella provineia di Roma. Nota preliminare. Roma 1898. 24 W.Halbfaß. befindet sich genau in seiner Mitte; östlich von ihr steigt aus tieferem Wasser eine Untiefe empor, welche sich bis zu 832m unter dem See- spiegel erhebt. Offenbar stellt dieselbe neben den beiden Inseln des Sees. der isola Martana und der isola Bisentina, einen dritten er- loschenen Vulkan dar. Das Verhältnis der beiden Inseln zum Festland ist übrigens ein ganz verschiedenes: während die isola Martana von der Küste nur durch flaches Wasser, von etwa 6 = Tiefe, getrennt ist. steigt der See zwischen der anderen Insel und dem Ufer bis nahezu 100 m unter seinem Spiegel hinab. Die vulkanische Beschaffenheit seiner Ufer läßt sich auf einer Spazierfahrt von Monte Fiascone nach Capodimonte, welche namentlich prachtvolle Aufschlüsse über Tuffbildungen gewährt, sehr gut übersehen. Die Entstehung des vor einiger Zeit künstlich um 1'26 m!) gesenkten lago di Trasimeno hat Ristori ?) ausführlich dargestellt. Er verlegt dieselbe ins Quartär und faßt ihn als einen Teil desjenigen Sees auf, welcher das Tal der toskanischen und einen Teil der römischen Chiana bedeckte. Die nach dem Quartär erfolgte Hebung lief) im Süden eine Hohlform unaus- gefüllt, eben den trasimenischen See, der vielleicht noch in historischen Zeiten durch die Tresa einen Abfluß zur römischen Chiana hatte. Später bildeten sich in der Südwest- und in der Nordweststrecke durch die Schutt- kegel von Gießbächen nur wenige Meter über dem heutigen Seespiegel liegende Wasserscheiden und die Tresa wurde Zufluß des Sees, bis sie am Ende des 15. Jahrhunderts nach Westen abgelenkt und zur Verkleinerung des Sees von Chiusi verwandt wurde.®) Jistori verhält sich zur Frage seiner gänzlichen Austrocknung sehr richtig ablehnend, weil eine Ver- sumpfung der Gegend die unausbleibliche Folge sein müßte. In seiner größeren Osthälfte ist der See in Eocänschichten eingebettet, aus welchen inselförmig Kreide aufragt; an der Westseite finden sich teils marine, teils lakustre Ablagerungen, die bis 40 »m über den heutigen Seespiegel reichen und hie und da deutliche Terrassen bilden. In der Landschaft Molise liegen östlich von dem (rebirgsstock La Majella in ungefähr 1000 m Höhe eine Reihe kleiner Bergseen, welche wahrscheinlich als Karstseen anzusprechen sind und nach den Untersuchun- gen von KR. Almagia *) nur eine sehr geringe Tiefe besitzen. Die beiden Kraterseen von Monticchio am Monte Vulture in der Provinz Basilicata hat @. Stegagno®) näher untersucht. Der größere besitzt ein Areal von 42 ha, eine Tiefe von 35 m: der kleinere ist nur 16 ha groß, wird aber ') Cadalini, Proseiugamento del lago Trasimeno. Annali delle Societa degli ingeg- neri ed architetti italiani 11, fase. VI. *) 11 bacino Trasimeno. Mem. Soe. Ital. delle Scienze, 3 ser., Vol. XII. °) Vgl, Halbfaß, Die Entwässerung des Val di Chiana in Toskana, Globus, Bd. 98, Nr. 7, 1910. *#) Notizie sopra aleuni laghetti nelle valli del Sangro, del Sinello et del Trigno. Rev. Geogr. Ital., XV, 9. Firenze 1908. ’, I erateri lagbi di Montiechio (Monte Vulture), Mondo Sott., IV. Udine 1908. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 5 38 m tief. Wegen seiner bedeutenderen mittleren Tiefe besitzt letzterer ein größeres Volumen. Beide Seen, deren Speisung und Abfluß zumeist unterirdisch sich vollziehen, sind nicht etwa Reste eines größeren Sees, sondern bilden 2 völlig getrennte Krater, sie sollen vor Stegagno bereits von Agostini ausgelotet worden sein, doch habe ich das betreffende Blatt seines Seenatlas noch nicht gesehen. Von den nicht zahlreichen italienischen Strandseen ist der lago di Marano, welcher unmittelbar an der österreichischen Grenze am Golf von Triest liegt, hinsichtlich seiner Niveauschwankungen von O.Valussi unter- sucht worden; er fand, daß der Unterschied zwischen Flut und Ebbe im Mittel etwa TO cm beträgt; in der Zeit von Mitte Juli 1900 bis Mitte Juli 1902 betrug der größte Ausschlag 2:38 m. 10. Südosteuropäische Halbinsel. Hinsichtlich der Seenforschungen auf der südosteuropäischen Halb- insel hat sich unzweifelhaft Crrjic die größten Verdienste erworben. Sein im Jahre 1902 erschienener Atlas der großen Seen der Balkanhalbinsel gehört nicht mehr in den Bereich unserer Darstellung, vor kurzem ist aber ihre längst erwünschte textliche Erläuterung, leider in serbischer Sprache?), erschienen. Dem Referat desselben in P. M. (1912, Februarheft), das Kratzer gegeben hat, entnehmen wir, dal Crijid 3 Typen von Karstseen unter- scheidet, solche, die unterirdisch gespeist werden und keinen genügenden Abfluß haben, daher immer mit Wasser gefüllt bleiben, solche, die durch periodische Zuflüsse zeitweilig überschwemmt werden und solche, die zwar unterirdische Abflüsse, aber nur oberflächliche Zuflüsse haben. Die Schwan- kungen ihres Niveaus entsprechen nicht der Brücknerschen Periode, son- dern betragen z. B. beim Ostrowosee 26 Jahre. Über die Vorgeschichte der größeren dessaretischen Seen hat Cviji@?) sich dahin geäußert, dab sie die letzten Reste eines großen Sees der Pliocänzeit seien, über dessen Entstehen und Vergehen er sich aber weiter nicht verbreitet. Philippson äußert mit Recht in seinem Referat über Cvijid Arbeit (P. M., Februar- heft, 1912) Bedenken über diese Anschauung, wir können aber hierauf an dieser Stelle nicht weiter eingehen. Charakteristisch für das Seengebiet ist die Tatsache, daß es, abge- sehen von einigen kleinen Gletschern, die sich nur auf die höchsten Gipfel der vorhandenen Gebirgsstöcke beschränkt haben, nie im ganzen verglet- schert gewesen zu sein scheint. Zur Zeit seiner größten Ausdehnung be- deckte der alte Ägäische See alles Land zwischen Wodena im Westen bis zum Defilee der Mesta im Osten und von der Belasica im Norden bis zu den nördlichen Sporaden im Süden, besaß also eine Ausdehnung von zirka 250 bzw. 260 km und eine Meereshöhe von 740—800 m in seiner ersten . ') Grundlinien der Geographie und Geologie von Macedonien und Altserbien usw. III. Belgrad 1911. ?) L’ancien lac Egden. Ann. de Geogr., XX, Nr. 111. Paris 1911. 6 W. Halbfaß. Periode, von 670—680 m in seiner zweiten. Es umfaßte im ganzen 8 Seen- gruppen, von denen mehrere jetzt gänzlich verschwunden oder zu Sümpfen zusammengeschrumpft sind. A. Struck‘) hat die Schwankungen des Ostrowosees, welcher be- kanntlich keinen sichtbaren Abfluß hat, näher verfolgt. Dieselben sind ziem- lich groß und betrugen in der Zeit vom Januar 1900 bis zum Juli 1902 etwas über 4m. Der unterirdische Abfluß des Sees kann nur im schmalen Sattelrücken sein, der sich zwischen Ostrowo und Vladowo erstreckt, wo der Nissiafluß, Woda von der Landbevölkerung genannt, als der eigentliche Abfluß des Sees betrachtet wird. Der Devnasee, eine besondere Art von Liman, in Bulgarien unweit der Hafenstadt Varna ist im Jahre 1897 von Leutnant Stoikow ausge- lotet worden; publiziert sind diese Messungen erst im Jahre 1905 durch Prof. Ischirkoff in Sofia (Universitätsjahrbuch 1904—1905). Kassner hat in P. M.. 1906. H. 11 ein Referat dieser Arbeit gegeben. Der See ist 19 km? groß, wird 21m tief und seine Längsachse steht senkrecht zur Hauptrich- tung der Küste, die hier im Golf von Varna einen Meerbusen bildet. Un- zweifelhaft bildet der See ein durch Flußerosionen vertieftes Tal im Niveau des Schwarzen Meeres, das damals niedriger stand. Sein Wasser ist übrigens süß und ist grünlich gefärbt. Außer dem Devnasee besitzt Bulgarien nur noch am Rilagebirge an der Grenze der europäischen Türkei eine Reihe von Hochseen, über welche bereits Orzjic vor einer Reihe von Jahren eine Arbeit veröffentlicht hat ?), auf welche wir hier nicht weiter eingehen können. /schirkoff gibt in seiner Hydrographie Bulgariens ®) eine Zusammenstellung dieser Seen nach An- gaben seines Assistenten A. Radew, welcher sich dort aufgehalten hat. Da- nach sind im ganzen dort 110 Seen vorhanden, von denen etwa die Hältte auf das Flußgebiet des Isker kommen. Lotungen scheint auch er nicht darin gemacht zu haben, so daß für Hochseenforscher hier noch ein reiches Arbeitsfeld übrig bleibt. (Gelegentlich seiner letzten topographischen Aufnahmen in Montenegro hat Hassert auch in 3 Seen Montenegeros Peilungen gemacht, die er in Tiefenkarten dargestellt nat.*) Der Gornje Blato ist in noch höherem Grade als der Skutarisee ein außerordentlich seichter Sumpfsee vom Typus der Karstwannen und sinkt nur an einer Stelle in einen engen Schlot., vergleichbar den Oki des Skutarisees, bis zu einer Tiefe von 26 m. Rika- vac und Bugomirsko sind abflußlose Glazialseen von kesselförmiger Ge- stalt. ihre größten Tiefen betragen 15 bzw. 17 m. Die zahlreichen Seen der unteren Donau, welche auf rumänischem !) Die macedonischen Seen. Globus, Bd. 83, Nr. 14, 1903. :) Das Rilagebirge und seine ehemalige Vergletscherung. Zeitschr. d. Ges. f. Erdk. zu Berlin, Bd. 32, 1898. ®, Jahrbuch der Universität Sofia 1908/09 (bulgarisch). Obige Zahlen nach einer gütigen brieflichen Mitteilung von Aassner an mich. +) Topographische Aufnahmen in Montenegro. P. M., 1905, X. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. IT Staatsgebiet liegen, wurden von Antipa!) zwar überwiegend nach ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung gewürdigt, doch wurde auch ihre Ent- stehung und physische Beschaffenheit gestreift. Von dem 4400 km? um- fassenden Seengebiet entfällt die kleinere Hälfte auf die Seen des Deltas, deren Sohle durchweg bis 2m unter dem Spiegel des Schwarzen Meeres reicht. Die eigentlichen Donauseen sind sämtlich sehr flach, sie sind teilweise frühere Arme der Donau oder verlassene Limane an den Mün- dungen von Nebenflüssen in dieselbe. Andere sind alte Erosionstäler oder Depressionen des Überschwemmungsgebietes, deren Ränder aus den Ab- lagerungen des Flußwassers erhöht wurden; einige wenige werden auch durch eigene Quellen gespeist, die aber auch mit der Donau in Verbin- dung stehen. Die Entstehung der Deltaseen hängt aufs engste mit den sogenannten „Grinds“ zusammen, Erhöhungen, welche wahrscheinlich der Tätigkeit des Meeres, vielleicht auch der des Flusses selbst, ihre Existenz verdanken. 11. Ungarn und Nebenländer. Der bekannte kroatische Seenforscher Gavazzi?) hat in einer um- fangreichen Abhandlung Material über die beständigen und die periodisch überschwewmten Karstseen zusammengebracht, von denen die letzteren einen sehr schwankenden Umfang besitzen, über dessen Periodizität der Verfasser zahlreiche Angaben gesammelt hat. Da aber die Speisung fast aller Karstseen durch die Öffnungen unterirdischer Kanäle, welche eine sehr wechselnde Menge von Wasser enthalten, geschieht. so ist demzufolge der Wasserstand auch der beständigen Karstseen ein sehr schwankender, die Amplitude betrug im Racinesee während der Jahre 1897—1898 etwa 8!/);, m. Der Abfluß der Seen erfolgt durch Spundlöcher (Ponore), welche teils am Boden des Sees, teils im anstehenden Gestein der Ab- hänge sich befinden. Je nach der Menge und Häufigkeit der Niederschläge können die Ponore auch Speilöcher werden, dort Estavellen genannt. Die Speisung der Seen erfolgt stets schneller als ihre Entleerung und ist ins- besondere wegen der starken Verdunstung im Sommer von der Regen- dichte abhängig. Unter den eigentlichen Seen ragen die Plitvicerseen hervor (13 an der Zahl), welche durch die erodierende Tätigkeit des Wassers entstanden sind. Drgutin France hat über sie eine Monographie, leider in kroatischer Sprache °), geschrieben, welche nach einem Referat von Katzer (P. M., 1911, Februarheft) in bezug auf die geologischen Ver- hältnisse dieser interessanten Seengruppe keinen Fortschritt bedeutet, aber über die sonstigen Verhältnisse, über welche hier nicht referiert werden soll, viel wertvolles Material bietet. Die Flächenmaße mancher Seen soll ') Das Überschwemmungsgebiet der unteren Donau. Bukarest 1912. ?) Die Seen des Karstes. I. Teil. Morphologisches Material. Abh. d. k.k. Geogr. Ges., Wien 1903/04, Bd. V, Nr. 2. ») Plitivka jezera i njihova okolika. Agram 1910. 38 W. Halbfaß. Gavazzi nach France zu klein angegeben haben. Auch Gavazzis Schrift’) über den gleichen Gegenstand ist leider nur kroatisch publiziert worden. Die heilen Salzseen in Ungarn sind von Schafarzik?) von neuem einer Untersuchung unterzogen worden, aus denen sich ergibt, daß die Temperatur und der Salzgehalt des Medvetö am Boden zugenommen, dal) dagegen die Maximaltemperatur von 56° auf 45'6° gesunken ist, und dab seine größte Tiefe nicht 34 m. wie v. Kaleczinsky angab, sondern nach der genauen Tiefenkarte, welche Schafarzik entworfen hat, nur 23 m be- trägt. Seit den Untersuchungen von Schafarzik hat nach Rözsa®) der See weitere 3m an Tiefe eingebüßt; derselbe hat bei Vizalena weitere heiße Salzwasserseen nachgewiesen, die gleichfalls durch Unterhöhlung der Seiten- wände alter Salzgruben entstanden sind; einer von ihnen wird bis 46 m tief. Von dem großen Werk der Balaton-Kommission, welche die unga- rische geographische Gesellschaft mit Unterstützung des Ackerbauministe- rıums eingesetzt hatte, ist der geographisch wichtigste Teil, nämlich die geographische Beschreibung des Sees und die Orographie und Geologie seiner Umgebung, noch immer nicht erschienen, weil die geologischen Auf- nahmen dort noch nicht abgeschlossen sind, dagegen gab L. von Loczy die von ihm entworfene Spezialkarte des Sees in 4 Blättern in 1:75.000 1902 heraus. Die Darstellung des Seebodenreliefs beruht auf den in den Jahren 1592—1896 ausgeführten Lotungen der Hydrographischen Sektion des genannten Ministeriums. Das Relief ist durch Isohypsen im vertikalen Abstand von je 1 m dargestellt, die den Wassertiefen von 057, 1'57 usw. bis 1057 m entsprechen. Die größte Tiefe befindet sich nahe der äußersten Spitze der Halb- insel von Tihany, welche den See in ein nördliches Drittel und ein süd- westliches Zweidrittel teilt. Sein Bodenrelief ist im allgemeinen einfach und nur an der schmalen Stelle zwischen der Halbinsel und dem gegen- überliegenden Südufer verwickelt. Ein schmaler Rücken von wenig mehr als 1m Wassertiefe teilt hier den See in zwei verschiedene Becken von wesentlich gleicher Tiefe. Unweit seines Westufers liegt bei Keszthely der kleine Hevizsee, welcher zwecks Akklimatisationsversuchen mit tropischen Seerosen von Lo- vassy*+) ausgelotet wurde. Der nur 475 ha große See hat eine größte Tiefe von 365 m, seine mittlere ist aber nur 3°6 m, da nur ein sehr kleiner Teil, der Trichter der warmen Quelle, welche ihn speist, eine erößere Tiefe besitzt. !) Naravoslovnoga Glasnika. Godina, XV (Bote der Kroat. Naturf. Ges.). ®) Über die geologischen, hydrographischen und einige physikalische Verhältnisse der durch Insolation erneuerten Salzseen, insbesondere des heißen Medvetösees bei Szo- väta, Föld.-Közlöny, 1908, Bd. 38. °) Neuere Daten zur Kenntnis der warmen Salzseen. Berlin 1911. *) Die tropischen Nymphüen des Ilevizsees bei Keszthely. Resultate der Wiss. Unters. des Balaton, II. Bd., 2. Teil, 2. Sekt. Wien 1909. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 29 Über die Schwankungen des Neusiedlersees hat @Goll!) eine Zu- sammenstellung aller bisher bekannten Beobachtungen geliefert, welche zeigt, daß sie im engsten Zusammenhang mit den Niederschlägen stehen, von welchen die Wasserzufuhr abhängt, wenigstens bis zum Jahre 1898. Seit Beginn dieses Jahrhunderts hat er, wie besonders auch aus den Unter- suchungen Th. r. Czontaghs?) hervorgeht, beständig an Wasseroberfläche verloren, und es hat sich gezeigt, dal weder im Becken noch am Ufer wesentlichere Quellen vorhanden sind. Nach den neuesten Mitteilungen ist er definitiv aus der Reihe der Seen gestrichen worden, indem die Raab- regulierungsgesellschaft, welche seine Trockenlegung schon seit Jahren be- trieb, sein Wasser jetzt durch einen Kanal der Raab und dadurch der Donau zugeführt hat. Die Seen der Tatra sind in neuerer Zeit wieder der Gegenstand auch seenkundlicher Forschungen gewesen. Halbfaß hat im Jahre 1903 einige Beobachtungen gemacht, die leider abgebrochen werden mußten); er hat bei dieser Gelegenheit einige kleinere Seen, die im Jagdgebiet des Herzogs von Ujest liegen, besucht. Im kleinen Froschsee fand er Tiefen bis zu 17, im großen bis zu 22 m, beide sind Karseen, der Cesky-stav, der nur 45 m tief wird, ist an seiner Ostseite durch Trümmergestein in situ etwas angestaut worden, wodurch er an einer völligen Entleerung ge- hindert wurde. Das gleiche gilt vom Zeleny-stav, der nur 2!/, m tief wird. Der Litvorovy-stav erreicht eine Tiefe von 19m und ist früher weit größer gewesen. Bei den beiden zuletzt genannten Seen fand sich keine Staumoräne, dagegen sind der Pflocksee, der Grünsee und der Schwarzsee ausgesprochene Stauseen, namentlich beim Pflocksee sind sowohl die typische Endmoräne wie die Seitenmoräne mit großen und kleinen Geschieben sehr gut erkennbar. L.v. Sawicki und Minkiewiez *) haben über ihre Arbeiten an den Seen der galizischen Seite der Tatra einen Bericht (polnisch) herausgegeben, dem wir entnehmen, daß der unter dem Namen Meerauge, auch Schwarzer See, polnisch Czarny-stav, bekannte, nördlich von der Meeraugspitze 1584 m» hoch gelegene See eine Tiefe von 84m besitzt, also zu den tiefsten Hochgebirgsseen Europas ge- hört: der 200 m tiefer gelegene Fischsee, auch Morski Oko genannt, der nach den bisherigen Lotungen 495 m erreichte, wird nach Sawicki bis 535 m tief; der Schwarze See nördlich von Koscielic (1620 m tief) wird nicht 47, sondern 504 m tief. Unter den neu ausgeloteten Seen be- sitzt der Große Hinzensee südlich von der Mengsdorferspitze eine Tiefe von 5ö'l m. Der Große See (Wielki-stav), im polnischen Fünfseegebiet. ') Die Schwankungen des Neusiedlersees. 37. Jahresbericht der deutschen Staats- oberrealschule in Triest, 1907. ?) Jahresbericht der Ungarischen Geologischen Anstalt für 1902. Budapest 1904. °) Zur Kenntnis der Seen der Hohen Tatra. (Vorläufige Mitteilung.) Mitt. d. Geogr. Ges. für Thüringen in Jena, Bd. 28, 1910. *) Rapport preliminaire sur les travaux limnologiques dans les monts de la Haute Tatra en 1909. Krakau 1909. 30 W.Halbfaß. der größte aller Tatraseen, übertrifft in seiner Maximaltiefe vielleicht noch das zuerst genannte Meerauge, nach den bisherigen Lotungen wird er 78 m tief. Sarwie/ki hat ihn noch nicht von neuen ausgelotet. Von den Meer- augen der Südkarpathen, deren Zahl v. Loczy auf 90 schätzt, hat derselbe !) die beiden größten des Retyezätgebirges näher untersucht, nämlich den 10:6 ha großen Bukurasee (2041 m hoch) und den 8'1 ha großen Zenöga- see (2001 m hoch), welche eine Tiefe von 142 bzw. 24m erreichen: sie sind durch Gletschererosionen entstandene Felsbecken. Einen gänzlich an- deren Charakter zeigt der St. Annasee in Siebenbürgen), ein Kratersee einer (rebirgskette, deren Vulkane bereits im Neocom der unteren Kreide tätig waren. Der 21 ha grobe, bis 10 m tiefe See zeichnet sich durch eine ganz merkwürdige Reinheit des Wassers aus. Die chemischen Analysen von Prof. R. Fabinyi ergaben auf 17 Wasser nur 0'002 g unlöslichen Ge- samtrückstand und eine Härte von nur 0'028°. v. Gelei erklärt diesen höchst auffälligen Befund, der sich mit der Tatsache. daß die Fauna im See zahlreiche Vertreter aufweist, im starken Widerspruch befindet, damit. dal) der See ausschließlich Regenwasser enthalte. Da aber der Regen doch auch im Einzugsgebiet des Sees fällt, so müßte er doch irgend welche Lösungen des Bodens zuführen und daher möchte ich einstweilen hinter die Resultate der chemischen Untersuchung, welche das Seewasser des St. Annasees zum bei weitem reinsten der Erde machen würde, ein bedeutendes ? setzen. Sehr erwünscht würden eingehende Temperaturuntersuchungen sein, denn da das destillierte Wasser — als solches müssen wir das des Sees beinahe be- zeichnen — den Sonnenstrahlen gegenüber sich weit durchsichtiger verhält als weniger reines Wasser, so müßte das Seewasser von oben bis unten beinahe gleichmäbig temperiert sein, falls wirklich der See ein so reines Wasser besitzt. wie die bisherigen Untersuchungen ergeben haben sollen. 12. Die Alpenländer. Unter diesem Titel fassen wir ohne Rücksicht auf politische Grenzen diejenigen Arbeiten zusammen, welche sich mit den Seen innerhalb der Alpen oder ihres Vorlandes beschäftigen, wobei wir zunächst auf allgemeine Fragen eingehen und sodann nach chorographischen Gesichtspunkten ein- zelne Seen bzw. Seengruppen behandeln. Über die Entstehung der großen Alpenseen hat Penck ®) Ansichten entwickelt. welche zum Teil im Gegensatz zu denjenigen stehen. die früher Heim), Garwood®), Kilian‘) u.a. ausgesprochen haben. Nach ihm bezeichnen ') Über die Seen des Retyezätgebirges. Ibid., Bd. 32, Heft 5. Budapest 1905. ?) Dr. Jöszef v. (elei, Der St. Annasee in Siebenbürgen. Föld. Közlemenyek, Vo1.37, Heft 5—7. Budapest 1910. °) Die großen Alpenseen. Geogr. Zeitschr., XI, 1905, 8. 381 ff. ') Die Entstehung der alpinen Randseen. Vierteljahrsschr. Naturw. Ges. Zürich 1894. °) On the origin of some hanging valleys in the Alps and Himalayas. (Quart. Journ, Geol. Soe. London 1902. °) (Juelques reflexions sur l’erosion glaciaire et la formation des terrasses. CE. R. de l’assoe. franc. pour l’avancement des se. Lyon 1906. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 31 sie das Ende der glazialen Talübertiefung, welches beinahe mit der letzten Zeit der eiszeitlichen Gletscher, deren Zungenbecken sie ausfüllten, zu- sammenfiel. Sie nehmen aber nur Teile der übertieften Talsysteme ein. nämlich nur diejenigen, deren Sohle ein Gegengefälle durch das Nach- lassen der Erosion und durch die glaziale Akkumulation erhielt. Ihre Wannenform geht daher, abgesehen vielleicht von ihrer größten Tiefe, im wesentlichen auf glaziale Erosion zurück: sie sind daher zum Teil auch durch die glaziale und fluvioglaziale Abdämmung entstanden, welche im Süden sich bedeutend stärker entwickelte als im Norden und daher dort auch weit tiefere Seen erzeugte als hier. Für die Seen der Ostalpen, ins- besondere diejenigen des Salzkammergutes, besteht ein Zweifel über die Entstehung durch glaziale Erosion eigentlich nicht mehr. Anders verhält es sich mit den Seen der Westalpen und zum Teil denjenigen Oberbayerns. Hier wogt der Kampf der Tektoniker mit den Erosionsglazialisten noch unentwegt weiter, wenngleich nicht zu leugnen ist, daß allmählich eine Annäherung der beiden feindlichen Lager erfolgt ist. Es ist ganz ausge- schlossen, daß hier auf die äußerst umfangreiche Literatur über diese Streitfrage näher eingegangen werden kann, zumal sie überwiegend geo- logisches, weniger limnologisches Interesse besitzt. Wir werden uns mit einigen Beispielen begnügen und geben im folgenden ganz kurz die Ansichten von Penck und Brückner wieder, welche sie in ihrem monumen- talen Werk „Die Alpen im Eiszeitalter“, 3 Bde., Leipzig 1909, über die Entstehung der wichtigsten Seen der Ost- und Westalpen niedergelegt haben. Bemerkt sei noch, daß die einzelnen Teile dieses Werkes in einem Zeitraum von nahezu 20 Jahren erschienen sind und daß) dadurch manche Partien durch neuere Forschungen gewissermaßen überholt wurden. Die Entstehung des Bodensees fällt nach Penck (Bd. 2. S. 418) gleich derjenigen der glazialen Zungenbecken auf der Nordseite der Ost- alpen in das Eiszeitalter und nicht die leiseste Spur verrät, daß er oder sein weites Becken vorher vorhanden gewesen sei. Während die Bildung des Zürichsees von anderen Autoren, namentlich von Heim, Aeppli‘) und zum Teil Gogarten 2), auf tektonische Vorgänge zurückgeführt wird, kann er nach Brückner (Bd. 2, S. 525) nur als Erosionsbecken gedeutet werden. Er entstand durch glaziale Übertiefung und stellt das Ende des vom Linthgletscher übertieften Tales dar, analog dem alten See von Rosen- heim und dem von Salzburg. Auch der Vierwaldstädter- und der Zuger- see sind nach demselben Autor (S. 537) sowohl in den präglazialen als auch in den interglazialen Talboden eingesenkt, und zwar beide in festem (Gestein: ihre Existenz kann keineswegs auf eine Dislokation, sondern nur auf Erosion zurückgeführt werden. Alpnacher- und Küssnachersee sind nicht ertrunkene Seitentäler, sondern glaziale Zungenbecken. die dem Streichen der Schichten folgen. In derselben Weise sind auch die Niede- !) Beiträge zur geologischen Karte der Schweiz. XX1V. Bern 1894. ?) Über alpine Randseen und Erosionsterrassen im besonderen des Linthtales. P. M., Ergänzungsheft Nr. 165. Gotha 1910. 9%) W. Halbfaß. rungen des Genfersees wie die der Neuenburger Seengruppe (8.568) durch glaziale Erosionen gebildet worden, wobei der (Genfersee und der Nenenburgersee in die präglaziale Landoberfläche eingesenkt, also Felsbecken sind, was sich für den Murtener- und den Bielersee nicht erweisen läßt. In ihrer hentigen Form sind die 3 zuletzt genannten Seen, obwohl sie in dem durch Glazialerosionen gebildeten nordöstlichen Zungenbecken des Iihonegletschers liegen, durch Akkumulation bedingt. Der lac de Bourget (S. 656) ist gleich dem Zellersee des Pinzgaus neben der Salzach und dem Walensee neben dem Rheintal als ein Stück übertieften Tales zwi- schen größeren Flüssen erhalten geblieben und war durch eine Bifurkation des (Gletschers bedingt. Gleichen Ursachen verdankt auch der lac d’An- necy seine Entstehung (S. 587), oberhalb dessen die Übertiefung noch weithin deutlich sichtbar ist. Die Erscheinungen der Übertiefungen treten nach Penck auch beim Ortasee (Bd. 3, S. 799), beim lago Maggiore (5. 802), Comersee (8. 804) und Luganersee (S. 3803 und 805) auf; die großen Tiefen des lago Maggiore und des Comersees sucht er mit der Tatsache zu erklären (S. 809), daß der Anstieg von der tiefsten Stelle des Seebodens bis ans Südende des Sees durchaus nicht das entsprechende (refälle der Gletscheroberfläche überschreite. Baltzers Einwände gegen die glaziale Erosion des Iseosees!) sucht er S. 836 zu widerlegen. Wenn er auch S. 889 zugibt, daß der Gardasee gleich dem lago Mageiore und dem Üomersee zu einem großen Teile durch Moränen und Schotter abge- dämmt sei, so erblickt er dennoch in seiner Wanne (8.906) nur die tiefere Partie einer Furche, welehe in die höheren Talböden eingeschnitten war und welche der alte Etschgletscher erodiert hat; den Gedanken einer ver- meintlichen Entstehung durch Krustenbewegungen, ebenso einer solchen durch eine Längsverwerfung, welche etwa das Westufer hob und das Ost- ufer senkte, lehnt er ab. Der Millstättersee (S. 1115) ist ein Diffluenzbecken nördlich der Drau, zu welcher er sich ähnlich verhält wie der Ortasee zum Tocental oder der Comersee zum Val Sassina. Der Schuttkegel des Liesertales staute Ihn über den Rand des eigentlichen Diffluenzbeckens empor, erhöhte da- durch seinen Wasserstand und bewirkte, daß er nicht in der Richtung seiner Achse zur Drau entwässert wird. Ganz analoge Ursachen ließen den Ossiachersee und den Weißensee entstehen, welch letzterer eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Achensee besitzt, insoferne auch er nicht direkt zum nächsten Punkt des Drautales, sondern erst eine weite Strecke unterhalb entwässert. Der Achensee wird aber vom Inntal durch glaziale und fluvioglaziale Aufschüttungen getrennt, der Weißensee dagegen vom Drautal durch eine Felsschwelle (bei Urschitz); auch in den Tiefenverhält- nissen weichen beide Seen erheblich voneinander ab. ') Vgl. Baltzer, (seologie der Umgebung des Iseosees in Kokens Geol. Pal. Abh., N.F., Bd. V, H.2. Jena 1901. — Cozzaglio, Studi di geologia sui laghi di Garda ed Iseo. Breseia 1902; idem: le moderne teorie sulla formazione dei laghi prealpini. Comm. dell’ Ateneo di Brescia 1899. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. DB: Die Übertiefung des Beckens des Gmundner Sees veranschlagt Penck (S. 211) auf ca. 270 m und läßt sie auf sämtliche vier verschiedene Eiszeiten und die drei Interglazialzeiten verteilen. Die Störungen des Ge- birgsbaues seiner Umgebung — die Schichten am rechten Ufer sind gegen- über denjenigen des linken Ufers nach Norden verschoben — erfolgten nach Penck in einer Zeit, welcher der Entstehung des Sees weit voran- ging, während @. M. Koch sie unmittelbar mit der Bildung des Sees in Verbindung gebracht und geradezu die Behauptung aufgestellt hatte, dab er diesem großen @Querbruche seine Entstehung verdanke. Auch der Attersee ist ein inneralpines Zungenbecken (S. 215), das aber nirgends in das Kalkgebirge selbst hineinragt wie der Gmundnersee, sondern nur bis an seine steilen Abstürze hinausreicht. Beide Seen be- sitzen in ihrer Mitte Untiefen oder sublakruste Rücken, deren Profil wegen der ungenügenden Zahl von Lotungen noch nicht ermittelt werden konnte. Der Mondsee und der Wolfgangsee sind in festes Gestein einge- senkte Zungenbecken, also Felswannen, während der Irrsee und der Fuschlsee als durch Moränenablagerungen angestaute Talstrecken anzu- sehen- sind (S. 217). Gegenüber den Aufstellungen von Böse (Zeitschr. der deutschen Geol. Ges. 1898), welcher den Königssee als einen tektonisch durch Ver- werfungen bedingten See auffaßt, bleibt Penck (S. 515) dabei stehen, daß seine Wanne das übertiefte Bett eines Gletschers ist, der von den Höhen des Gebirges sich in einzelnen Furchen in das umgebende tiefere Land herabzog, da die Grabenbrüche böses nicht auf Beobachtung beruhten, son- dern rein hypothetischer Natur seien. Am Altausseersee wie am Grundlsee, die beide teilweise von End- moränen des Gschnitzstadiums umklammert werden, fand Penck (S. 368) Spuren eines früheren höheren Wasserstandes von 8—10 m Höhe über dem heutigen Wasserspiegel. Auf die gesamte Kontroverse Pencks und seiner (segner können wir hier, wie schon oben erwähnt, nicht eingehen, wir begnügen uns hier mit der Hervorhebung einiger wichtiger neuerer Arbeiten und verweisen im übrigen auf die bei Penck und Brückner angegebene Literatur. Unter den bayrischen Vorlandseen ist es insbesondere der Starnberger- oder Würmsee, der eine Kontroverse zwischen Ule!) und Penck hervor- gerufen hat. Während letzterer die Ansicht aufgestellt hatte, dab auch dieser See durch Gletschererosionen, und zwar zur Zeit der letzten Vereisung entstanden sei, vertritt UZe die Anschauung, dab wir es hier mit einem Werk des fließenden Wassers zu tun haben. Durch seine genauen Lotungen hat er festgestellt. daß die Wanne des Würmsees keineswegs völlig gleichmäßig in den Boden eingesenkt sei, wie man nach den unzulänglichen Lotungen !) Der Würmsee (Starnbergersee) in Oberbayern. Eine limnologische Studie. Wiss. Veröff. des Ver. f. Erdk. zu Leipzig, Bd. V, 1901. Ders., Alter und Entstehung des Würm- sees. Zeitschr. Ges. f. Erdk. zu Berlin, 1904, Nr. 9; ef. Jäger, Der Starnbergersee. Globus, Bd. 96, 3/4, 1909. E. Abderhalden, Fortschritte VII. B) 34 W.Halbfaß. Geistbecks annahm, daß vielmehr der deutlich erkennbare „Schweb“ nicht die Mitte des Sees einnehme, sondern dicht an das Ostufer gedrängt sei und in seiner Breite nicht mehr schwanke, als jedes rezentes Flußtal. Anch kehren die treppenartig Aufeinanderfolgen der Terrassen auf der Westseite des Sees, die stets von Norden nach Süden geneigt sind, im Relief des Untergrundes genau wieder und ebenso entsprechen im Südteil, wo die größeren Höhen am Ufer weiter zurücktreten. seine Bodenformen durchaus denen des Landes. Zu diesen morphologischen Gründen gegen eine zlaziale Erosion treten nach Ule noch geologische hinzu; die den See in langen Wellen begleitenden Moränen sind in ihrer Gesteinsschichtung nicht mehr ungestört, sondern steigen nach Süden zu etwas an und auber- dem fanden sich bei dem Orte Seeshaupt 1—2 m mächtige Schotterab- lagerungen, über welchen sich echte Moränen befanden. Der See stellt demnach nach Ule ein interglaziales Talsystem dar, welches schon vor der letzten großen Vergletscherung bestanden hat. Auch den Ammersee hält UZe!) für eine vorwiegend durch Wasser- erosion entstandene Talsenke, welche durch eglaziale und fluvioglaziale Schotten abgedämmt und erst dadurch in einen See verwandelt wurde. Trotzdem seine Entstehung selbstverständlich mit der großen Vergletsche- rung der Alpen aufs engste zusammenhängt, lehnt Ule Glazialerosion im Penckscehen Sinne entschieden ab und verlegt die Bildung des Seetals in die Rißzeit. Als Penck seine Bemerkungen über diesen See schrieb (a. a. O., Teil I. p. 187 ff.), war ihm natürlich noch nicht das Ergebnis der Uleschen Lo- tungen bekannt, welche nicht nur eine größere Maximaltiefe des Sees, als man früher annahm, ergaben, sondern auch in der Mitte eine deutlich ausge- prägte Rinne erkennen ließen, wie sie für die Bildung durch Wassererosion so charakteristisch ist (siehe Würmsee). Ich möchte meinerseits glauben, daß die Aufstellungen von Ule bis jetzt noch nicht endgiltig wiederlegt worden sind. Gogarten kommt in seiner oben erwähnten Schrift zu einer Bestäti- eung der Ansichten von Heim und Aeppli, dab nämlich der Züricher- see seine Entstehung einer Dislokation verdanke. welche dem Alpenrand parallel strich, und zwar nach Ablagerung des Deckenschotters und vor Eintritt in die Rißzeit (a. a. O.S. 29): er ist also ein altes Flußtal, welches zwischen den beiden angegebenen Zeiten angestaut wurde. Als Beweise für seine Behauptung führt er (S. 31): 1. die rückläufigen Flußerosionsterrassen an, die nicht als Schichtterrassen aufgefaßt werden können, weil sie die Molasseschichten schneiden; 2. die rückläufige alte präglaziale Landober- fläche zwischen Albis und Zugerberg in dem Plateau von Menzingen; 3. die beiden alten ertrunkenen Täler am Schindellegi—Richterswil und Schindel- leei—Freienbach—Hurden; 4. die rückläufigen Schotter des Sihltales. Lau- tensach®) macht in einer Kritik der Arbeit Gogartens diesem den Vor- ') Studien am Ammersee in Oberbayern. Landeskundl. Forschungen. Herausgege- ben von der Geogr. Ges. München, Festschr. 1906. 2) Über alpine Randseen und Erosionsterrassen. P. M., 1911, Januarheft. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 35 wurf, daß die von ihm angeführten Beweise für die tektonische Entstehung des Zürichersees die Hauptfrage gar nicht berühren, denn sie genügen nicht, um die Entstehung eines Sees auf eine Terrassenlokation zurückzuführen und bringen keine entscheidende Auseinandersetzung mit der ganzen Lehre der Überlieferung der Täler, auf welche sich ja der Beweisgang des Penek-Brücknerschen Werkes in erster Linie stützt. An einer wesentlich tektonischen Entstehung wenigstens der ober- italienischen Randseen hält auch Taylor !) fest und glaubt, daß ihre Defor- mation gleichzeitig mit dem Vordringen des Podeltas erfolgte. Er stützt seine Behauptung darauf, dab er an verschiedenen Seen alte Uferlinien gefunden haben will, welche an ihrem Südende erheblich niedriger liegen als am Nordende. Diese Differenz schätzt er beim lago Maggiore auf 12—15 m, beim Comersee auf 10-11 m, beim Gardasee auf S—10 m, beim Genfersee auf nur 2—3 m, während er beim Luganer- und) Vier- waldstättersee keine Ditferenz, bzw. beim letzteren überhaupt keine Spuren früheren höheren Wasserstandes fand. Dem Ref. scheint die Zeit. während welcher Taylor seine Untersuchungen ausführte, zu kurz zu sein, um zu irgend welchen stichhaltigen Schlüssen kommen zu können. Auch in bezug auf die rein glaziale Entstehung des Bodensees ist Penck in der Person von Schmäidle, welcher sich besonders mit den glazi- alen Erscheinungen im nordwestlichen Teil des Bodenseegebietes sehr ein- gehend beschäftigt hat), ein beachtenswerter Gegner erstanden. Er hält an einer voreiszeitlichen Senkung bzw. Grabensenkung in der Gegend des heutigen Untersees fest, welche den aus dem Rheintal heraustretenden Gletscher schon zur Günzeiszeit nach Westen ablenkte. Die Grabeneinsen- kung ist nach ihm älter als der See, sie wurde von dem Gletscher bear- beitet, vertieft und allmählich zum heutigen See umgestaltet. Während bei Radolfszell ein Stausee in 410 m Höhe bestand, staute gleichzeitig im Überlinger Tal der Gletscher noch einen zweiten See in 440 m Meereshöhe auf. Die 3 Inseln des Sees waren mit hückzugsmoränen verknüpft, und zwar die Mainau mit dem 3., die Lindau mit dem 5. und die Reichenau mit dem 2. Stand der dritten Phase. Aus dem engen An- schluß der Seitenmoränen an die Stirnmoränen des letzten Rückzugsstadiums möchte er den Schluß ziehen, daß seit dem Delta der Postglazialzeit keine 1) Postglacial changes of altitude in the Italian and Swiss lakes. Bull. Geol. Soc. of America, Vol. XV, Rochester 1904. 2) Zur Kenntnis der Molasse und der Tektonik am nordwestlichen Bodensee. Zeitschr. d. deutsch. Geol. Ges., Bd. 63, Heft 4, Berlin 1912. Über den Rückzug des Würm- gletschers im nordwestlichen Bodenseegebiet. Zeitschr. f. Min., 1907, Nr. 9. Ders., Post- glaziale Ablagerungen im nordwestlichen Bodenseegebiet, ebenda, 1911, Nr. 4—8. Ders., Zur geologischen Geschichte des nordwestlichen Bodensees bis zum Maximalstand der Würmeiszeit. Schriften d. Ver. f. Gesch. d. Bodensees, Heft 35, 1906. Ders., Über äolische Bildungen während des Rückzuges der letzten Vergletscherung, ebenda, Heft 37, 1908. Zur Geologie des Untersees. Jahresber. des Oberrhein. Geolog.-Vereines N. F., Bd. 2, Heft 1, 1912. 3% 36 W.Halbfaß. nennenswerten Bodenbewegungen an den Ufern des Sees vorgekommen seien, doch hat €. Regelmann!) mit Recht auf die Tatsache hingewiesen, dal) noch nach der Diluvialzeit der Boden des südlichen Ufergeländes sich stärker gesenkt hat als der Wasserspiegel des Sees. Anläßlich eines Präzisionsnivellements, welches das Eidg. Topogr. Bur. in den Jahren 1894 und 1895 zwischen Rheinegg, Bregenz und Lindau ausführen ließ, zeigte sich, dal» sämtliche alte Höhenmarken von 1869 Senkungen erlitten hatten, deren Maximum im Hafen von Bregenz auf O1] m anstieg. Für die Stadt Bregenz wurde im Jahre 1906 ein neues Präzisionsnivellement im Anschluß an die schweizerischen Festpunkte aus- eeführt und hierbei weitere bedeutende Senkungen — bis zu 102 mm — seren den Stand des Jahres 1895 gefunden. Neben einer Schollenver- schiebung in der Tiefe der Seeachse und der Erdbebenherdlinie Dornbirn — Ludwigshafen wird nach Regelmann das Bodenseebecken noch von der Thurgauer Muldenlinie Frauenfeldl—Konstanz— Ravensburg durchschnitten, infolgedessen der Pegelnullpunkt bei Konstanz von 1817 bis 1864 um 154 mm, von 1864 bis 1874 um 68 mm, endlich von 1874 bis 1890 um 95 mm gefallen ist. Daß diese Senkung nicht nur stetig, sondern bei erößeren Erdbeben auch ruckweise erfolgt, hat man gelegentlich des letzten Erdbebens von 1911 deutlich beobachten können. Die bisherigen Beobach- tungen hierüber?) beziehen sich allerdings besonders auf Veränderungen im Untersee, doch sind solche auch im Überlingersee bei Münsterlingen, Lud- wigshafen und Süpplingen beobachtet worden. Das Resultat im ganzen jst, dal) die Seehalde auf einer Strecke von 10 km linksufrig mit einem Ge- samtbetrag von ca. !/, km, rechtsufrig auf 6 km ca. 1'/, km deformiert worden ist, im ganzen mag etwa 9000 m® Krustenmaterial bewegt wor- den sein. Regelmann glaubt, dal das sogenannte Seeschießen (Mistpöffers) auch auf solche Krustenbewegungen zurückzuführen ist und verweist auf das bekannte „Hörnlimannloch“, das 42 km südlich von Langenargen und 75 km westlich vom Rheinspitz etwa 13 m in seine Umgebung eingetieft ist. An dieser Stelle wurde am 3. August 1831 beobachtet, wie eine Wasser- säule unter gewaltigem (etöse haushoch in die Luft getrieben wurde. Wir gehen nunmehr zur Betrachtung einzelner wichtiger Arbeiten auf dem (rebiete alpiner Seenforschung über. Auf Blatt VI—VII des noch nicht im Buchhandel erschienenen Atlante dei laghi italiani (siehe S. 23) hat G. de Agostini eine ausgezeichnete Tiefenkarte des Comersees gegeben, in welcher sich die Tiefenlinien im Abstand von je 25 m, die Höhenlinien auf dem Lande von je 50 m folgen. Die Karte, das Resultat von über 5000 Lotungen, welche Agostini vor mehr als 15 Jahren unternahm, zeigt, daß die Bodenkonfiguration recht verwickelt ist im Vergleich z. B. zu dem ') Neuzeitliche Schollenverschiebungen der Erdkruste im Bodenseegebiet. Bericht über die 40, Vers. d. Oberrhein. Geol.-Ver. zu Lindau, 1907. *, M. Schmidle, Beobachtungen über das Erdbeben am 16. Nov. 1911 in Konstanz. Jahresber. d. Oberrhein. Geol.-Ver. N. F., Bd. 2, 1912 und Aüetschi, Vorläuf. Mitteil. über Veränderungen des Bodenseebeckens durch das Erdbeben vom 16. Nov. 1911. Ebenda. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 37 einfach gestalteten Becken des Lago Maggiore. Das tiefste Becken treffen wir im Comoarm, wo die beiden tiefsten Stellen von 410 m an zwei 2 km voneinander entfernten Punkten gefunden wurden; es endigt etwas süd- lich von Bellagio und wird von einem zweiten tief in den Leccoarm hinein- reichenden Becken mit einer Maximaltiefe von 286 m durch einen Rücken geschieden. der sich etwa 150 m über letzteres erhebt. Durch eine schwache Erhebung von 20 m von ihm geschieden befindet sich nördlich von der Enge bei Dervio-Rezzonico ein drittes isoliertes Becken im Colicoarm mit einer Maximaltiefe von 210 m. Die Kompliziertheit des Beckens hängt ohne Zweifel mit einer durch lange Zeiträume sich erstreckenden Verwerfung zusammen, welche den Comersee, so wie wir ihn jetzt sehen, nach und nach entstehen ließ. Stegagno') hat die kleinen Seen südlich vom Garda- see, die sämtlich durch eine ehemalige Vergletscherung dieses (Gebietes entstanden sind, morphologisch untersucht. Der größte von ihnen ist der westlich von Peschiera gelegene lago del Frassino mit 30 ha Fläche und 152 m größter Tiefe, der nächstgrößte, der 17 ha große lago Lava- gnone,. wird nur 1 m tief, dagegen erreicht der nicht ganz 1 ha große lago di Sovenigo eine Tiefe von 8 n. Interessant sind die Ergebnisse seiner Berechnung des Volumens des Moränenamphitheaters, welches, seine mittlere Höhe zu 75 m angenommen, eine (Gesteinsmasse von 50.201 km}, d.h. nur wenig mehr als das Volumen des Gardasees, falit. Eine historische Untersuchung von V. Bellio?) zeigt, dal) etwa seit dem Jahre 1200 eine Anzahl von Seen und Sümpfen an der Nord- und Südseite der südlich von Viecenza sich erhebenden Colli Beriei verschwunden sind, aber nicht etwa infolge verminderter Niederschläge, sondern lediglich durch die kultivierende Tätigkeit des Menschen. Klimatische Änderungen dieser Gegend können also daraus nicht abgeleitet werden. Salmojraghi?), dem wir bereits mehrere grundlegende Arbeiten über den Iseosee verdanken, hat ausführlich über die allgemeinen und mor- phologischen Ursachen des großen Ufereinsturzes bei Tavernola, der am >. bis 4. März 1906 erfolgte, berichtet. Musoni*) hat von dem unweit des linken Ufers des Tagliamento gelegenen lago di S. Daniele del Friuli eine Tiefenkarte in 1: 5000 entworfen. Der nur 9 m tiefe See gehört zum Amphitheater der Moränen des Tagliamento, das durch den ehemaligen karnischen Gletscher entstan- den ist. Auch er ist im raschen Erlöschen begriffen, denn nach der Karte des istituto topografico militare in 1:86.400, welche im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts aufgenommen und 1833 veröffentlicht wurde, beträgt ‘) I laghi intermoreniei dell’ anfiteatro benacense, laghi, stagni e paludi. Mem. Soc. Geogr. Ital., 1905, Bd. XII. Rom 1907. ?) Limnologia medioevale delle regioni dei colli Beriei. Seritti di Geogr. e Storia della Geogr. pubblicati in onore di G. dalla Vedova. Firenze 1908. >) L’avallamento di Tavernola. Atti Soc. Ital. di seienze nat., V01.46. Milano 1907. *) Il lago di San Daniele. Studio limnologieo. Mondo sotterraneo. Anno II/III. Udine 1907. 38 W.Halbfaß. sein Areal noch 3375 ha, während Musoni ihm nur 25°4 ha gibt. Übrigens besitzt er ein kleines bis 10 m Tiefe reichendes entonnoir. Im Valmareno (alto Trevisano) hat Toniolo!) zwei kleinere Moränenstauseen, den lago di S. Maria und den lago di Lago ausgelotet (Tiefen 92 bzw. 122 m) und Tiefenkarten in 1:4000 gezeichnet. Die sogenannten Lapisinischen Seen, der lago Santa ÜUroce und der lago Morto in der Provinz Belluno, in einem Seitental des Piave relegen, haben schon früher den Gegenstand wissenschaftlicher Unter- suchungen gebildet. Futterer ?2) trat einst für den tektonischen Ursprung dieser Seen ein und verlegte ihre Entstehung in die Postglazialzeit. Derselben Ansicht war schon früher Beyrich®), der von einer großen Verwerfung sprach. die dem lago di Santa Croce parallel laufen sollte; Futterer sprach auber- dem von Tiefen bis zu 800-900 m. Schon O. Marinelli#) hat diese letzte Angabe durch seine Lotungen widerlegt und als größte Tiefe des lago di Santa Croce 34m, des lago Morto 51 m» gefunden und @. Boehm >) hat von Verwerfungen nichts entdecken können und spricht sich für eime glaziale Entstehung beider Seen aus, an der auch die späteren Beobachter entschieden festhalten. Beide Seen sind. wie das ganze Tal des Rai, durch die Schotter, welche in postglazialer Zeit im Piavetal abgesetzt wurden, abeedämmt und wenigstens der See von Santa Croce konnte sich nur des- wegen erhalten, weil er abseits des großen Gletscherstromes lag, als dieser sein Bett aufschüttete (Penck, Alpen, Eiszeitalter, Bd. III. S. 987). Marinellis an Zahl nicht genügende Lotungen haben fast gleichzeitig @. Zaniol®) und @. Magrini?) ergänzt, jener im Juli 1904 und 1905 (beziehen sich nur auf lago di Santa Croce), dieser im Oktober 1904 (be- ziehen sich auf beide Seen). Beide fanden im zuerst genannten See nahezu die gleiche Maximaltiefe (34:8 bzw. 3535 m), ersterer hat 312, letzterer 348 Lotungen gemacht. Die Tiefenkarten beider Autoren (1: 25.000) zeigen indes gewisse Abweichungen voneinander (siehe Fig. 1), mir scheint die- jenige von Zaniol lebensvoller zu sein: Magrini hat zahlreiche Profile seiner Karte hinzugefügt. Entsprechend den Unterschieden der Tiefenkarten weichen auch die gefundenen morphometrischen Werte etwas voneinander ab: Zaniol findet als Volumen rund 100 Mill. Kubikmeter, Magrini rund 109 Mill, ersterer als mittlere Tiefe 1975 m. letzterer 23°3 m. Die Unter- ') Aleune rieerche sui laehi di Revine. Riv. Geogr. Ital., XII. Roma 1905. ?) Die Entstehung der Lapisinischen Seen. Zeitschr. d. Deutschen Geol. Ges., 1892, S. 124 £. », Ibid., Bd. 30, 1878, S. 533. #) Osservazioni batometriche e fisiche eseguite in aleuni laghi del Veneto nel 1897. Atti R. Istituto Veneto di scienze, lettere ed arti, Vol. VI, Serie VII, 1894/95. ®) Geologische Beobachtungen am lago di Santa Croce. Zeitschr. d. Deutschen Geol. Ges., Bd. 50, 1898. °) Studi sul Jago di Santa Croce (Belluno), Mondo sotterraneo, anno III. Udine 1907. ”) Contributo allo studio dei laghi Lapisini. Mem.Soe. Geogr. Ital., Vol. XII, 1905. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 39 schiede beruhen zum Teil aber auch auf den verschiedenen Arealzahlen des Sees, für welche Zaniol 508 ha, Magrini nur 470 ha annimmt. Fig.1. Tiefenkarte des Lago di S. Croce in 1: 25.000. Die schwarz gezeichneten Linien geben den Umrif) und die Tiefenlinien bei Zaniol, die rot gezeichneten bei Magrini an. Zaniol betont, daß der See durch Alluvionen, welche die Gielibäche des Flußsystems des Alpago von den Bergen heruntergeführt haben, ziem- 40 W. Halbfaß. lich schnell an Ausdehnung und Tiefe verliert. Da das Einzugsgebiet des Sees zum größeren Teil aus durchlässigem Material besteht !), so wird er in der Hauptsache durch Quellen an seinem Grunde gespeist, die nament- lich in seinem nördlichen Teil zahlreich auftreten. Der jetzt bestehende Abflul), der Rai, ist ein 72 km langer Kanal, der teilweise künstlich regu- liert ist: vermutlich besitzt der See auch unterirdische Verbindung mit dem lago Morto. Sehr genau ist sein Wasserhaushalt besonders durch Magrini?) studiert worden. Der Niederschlagsverlust durch Verdunstung und Vegetationsverbrauch beträgt nach ihm nur etwa 6°/,, während er z. B. beim lago Maggiore sich auf 10—11°/, stellt. Der ungewöhnlich niedrige Prozentsatz läßt sich nur durch unterirdische Zuflüsse erklären, deren Be- trag sich nicht ermitteln läßt und die ihren Ursprung außerhalb des ober- tlächlichen Einzugsgebietes nehmen. Beim lago Morto scheint das Verhältnis ein normales zu sein, er ist abflußlos. Von diesem See hat Magrini eine Tiefenkarte in 1: 10.000 entworfen, welche einen sehr wesentlichen Fort- schritt gegenüber der Karte des Sees bei Marinelli bedeutet. Als größte Tiefe fand Magrini 55 m (Marinelli nur 51m); die mittlere Tiefe be- rechnete ersterer zu 315 m, letzterer nur zu 291 m, dementsprechend sind auch die Angaben über dıe Volumina beider Seen verschieden. Es verdient hervorgehoben zu werden, dab die Spiegel beider Seen auf die italienische Landesaufnahme eingepeilt sind, so daß Zu- und Abnahme ihrer Wasserstände sehr genau kontrolliert werden können. Auch ist durch Auf- stellung neuer Iegenmesser im Einzugsgebiet der Seen, Geschwindigkeits- messer des Ausflusses usw. reichlich gesorgt, so daß das schwierige Problem: Wie verhält sich in einem beschränkten Gebiet Niederschlag und Abfluß zueinander? an dieser Stelle vielleicht seiner Lösung erheblich nahe ge- bracht werden kann. Als einen Moränenstausee stellt Biamechi®) den nur 22 ha großen, aber bis 43 m tiefen lago Deglio unweit des Ostufers des lago Maggiore auf, wiewohl auch Wirkungen eines früheren Bergesturzes nicht ganz von der Hand zu weisen sind. Dagegen gehört der kleine (72 ha) lago di Co di lago im Val Ossola ‘), der eine Maximaltiefe von 19» besitzt, in die Kategorie der durch Gletschertätigkeit ausgehöhlten Zirkusseen (Felsseen). ') A. Kt. Toniolo, Carta delle permeabilitä delle roccie del bacino d’Alpago. Pubbl. 10 dell’ Uffiecio Idrog. del Magistrato alle Acque. Venezia 1910. *) Sulle variazioni di livello dei laghi Lapisini. Nota preliminare. Atti R.Istituto Veneto di scienze, lettere ed arti, Vol. 67, Teil II. Venezia 1908. °) Ricerche su un laghetto alpino (il lago Deglio). Riv. Geogr. Ital., 1906, XII, 4. *) Paolo KRevelli, Il lago di Cö di lago (Ossola). Riv. Geogr. Ital., 1908, XV, 4; ef. C. de Stefani, sulla possibilita geologiea di un solido sbarramento per sopraelevare sensibilmente il pelo d’acqua del L. di Codelago. Unione tipografico editrice Torinese 0. J. mit einer geologischen Karte in 1: 10.000. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 41 Andere Zirkusseen desselben Gebietes schildert ©. Marinelli }), von denen der 37 ha große und bis 31 m tiefe Kastelsee der bedeutendste ist. Seine sehr unregelmäßige Bodenkontiguration, die übrigens, wie Marinelli selbst bemerkt, bis jetzt nur sehr mangelhaft bekannt ist, schreibt Marinelli Alluvionen zu, die die ursprüngliche Form des Beckens bereits stark ver- ändert haben. Carlo Errera ?) zeigt in einem historischen Abrib, daß der Comersee und der nördlich von ihm liegende lago di Mezzola, die ohne allen Zweifel früher einen See bildeten, aber durch die Anschwemmungen der Mera nach und nach getrennt wurden, schon bereits im 12. Jahrh. n. Chr. durch einen so breiten Landstreifen getrennt waren, dal) im Volk niemand mehr an ihre frühere Vereinigung dachte. Vittorio Largaiolli®), der sich mit der Physik und Biologie des Ka- tavotrensees Cepich in Istrien beschäftigt, wiederholt in bezug auf seine hydrographischen Verhältnisse und Entstehungsursachen lediglich bereits von anderen Autoren Vorgebrachtes. Der nur: !/, km? große und wenig über 3 m tiefe Jago di Fimon in der colli Beriei südlich von Vicenza verdankt nach Revelli#), dem auch Fabiani®) beistimmt, seine Entstehung den Alluvionen der alten Flußbette im Gebiete der colli Beriei: dal er früher einen größeren Umfang besessen hat, ist noch deutlich sichtbar, ebenso ist aber zu erkennen, dal sein Schicksal schon in absehbarer Zeit be- siegelt ist. Die Lunzer Seen, welche südwestlich vom Ötscher in den nieder- österreichischen Kalkalpen im Gebiet der Ybbs liegen, sind der Gegenstand mehrerer wichtiger Arbeiten von Götzinger ®) gewesen, welcher dieselben nach verschiedenen Gesichtspunkten sehr eingehend behandelt hat. Der Grund hierfür liegt zum Teil darin, daß an ihnen im Jahre 1906 die erste alpine biologische Station in Lunz errichtet wurde, welche auch die !) Osservazione morfologiche nell’alta Ossola. Seritti di geogr. e di storia della geogr., pubblicati in onore di G. dalla Vedova. Firenze 1908. ?) Sulla separazione del lago di Mezzola dal Lario. Boll. Soc. Geogr. Ital., 1905, 11. ») Notizie fisiche e biologiche sul lago di Cepich in Istria. Progr. del Ginnasio Reale in Pisino. Parenzo 1904. *) Un nuovo scandaglio del lago di Fimon (Berici). Riv. Geogr. Ital., XVII, fase. 2. Firenze 1910. °) La regione dei Berici. Pubbl. 28/29 dell’ Uffieio Idrogr. del Magistrato alle Acque. Venezia 1911. %) Die Lunzer Seen. Mitt. Geogr. Ges. Wien, 1909, Heft 6; idem: Der Lunzer Mit- tersee, ein Grundwassersee in den niederösterreichischen Kalkalpen. Intern. Rev. f. d. ges. Hydrobiologie und Hydrographie, Bd. I. Leipzig 1908; idem: Die Sedimentierung der Lunzer Seen. Verh. der k. k. geol. Reichsanstalt, 1911, Nr. 8; idem: Geomorphologie der Lunzer Seen und ihres Gebietes. Supplementheft zur Intern. Revue der ges. Hydrobiologie und Hydrographie. Leipzig 1912. Dieser Aufsatz bildet nur den Anfang einer Mono- graphie der Lunzer Seen vom Verfasser, welche die eingehendste zu werden verspricht, welche jemals von einem kleinen See geschrieben wurde. 42 W. Halbfaß. geographischen und hydrographischen Grundlagen ihrer Studien schaffen wollte. Von den 3 staffelförmig im Seebachtal angeordneten Seen hat der Obersee eine Höhe von 1113 m, ein Areal von 8 ha und eine Tiefe von 15 m bei Niederwasserstand, der Mittersee eine Höhe von 765 m, ein Areal von 25 ha und eine Tiefe von 2—3 m, je nach dem Wasserstand, der Untersee eine Höhe von 608 m, ein Areal von 68 ha und eine größte Tiefe von 54 m, auf Niederwasserstand bezogen. Ihre Entstehung verdanken sie der diluvialen Vergletscherung des Dürrensteins, welcher eine seiner (rletscherzungen auch in das Seebachtal entsandte. in welchem eine ge- waltige Übertiefung entstand, der die Seen teils direkt (Ober- und Unter- see). teils indirekt (Mittersee) ihre Entstehung verdanken. Letzterer ist ein typischer (Grundwassersee, welcher hauptsächlich vom Grundwasser des Seebaches gespeist wird, der sich oberhalb in den Alluvionen verliert. Die beiden anderen Seen sind typische Felswannen ohne Anstauung durch End- moränen, alle drei steilen geologisch sehr junge Bildungen dar. welche erst in der Postelazialzeit entstanden sind. Ein besonderes Interesse flößen die Untersuchungen von @Götzinger über die Bodensedimente des Unter- und Obersees ein, welche mehrere Jahre in Anspruch nahmen und wobei Bodenproben der Seen durch ein von ihm ersonnenes neues limnologisches (rerät an die Oberfläche befördert wurden. Im Untersee setzte sich die Schlammfacies der Bodensedimente ohne Einschaltung einer eigentlichen Sandfacies direkt von der Schotterfacies ab. Die Schlammablagerung auf der Seehalde, die Götzinger durch eine Reihe von Profilen scharf charak- terisiert, stammte teils von der Uferbank, teils. wie bei der Schweb, von der allgemeinen Trübung des Seewassers. Die Analyse des Schlammes ergab, dab er reich an Kalk und Al,O, ist, während die Schlammsedimente des Obersees, die sich flockig und braunrot auf den Uferbänken. zähe und ziegelrot auf der Schweb, abgelagert hatten, sich reich an SiO, und F,0, erwiesen und ein viel feineres Korn besaßen als die des Untersees (982°, war kleiner als O°1 mm im Durchmesser). Über die Mengen der an verschiedenen Stellen und zu verschiedenen Zeiten gesammelten Bodensedi- mente wird S. 49 berichtet werden. Außer einer Tiefenkarte des Obersees in 1:1500, des Mittersees in 1:1000 und des Untersees in 1:3000 hat (Götzinger von letzterem See auch eine Bodenfacieskarte in 1:6000 ent- worfen, meines Wissens die erste, die überhaupt von einem See existiert. Auch der Faistenauer Hintersee bei Salzburg ist. wie die Un- tersuchungen von Micoletzky!) gezeigt haben, ein Grundwassersee; da er keine regelmäßigen Zuflüsse besitzt. kann er als der Rest der Wasser- mengen angesehen werden, welche durch die Schotter des einst im Brun- auer Tale sich erstreckenden Gletschers angestaut wurden. Die Tiefenver- hältnisse des jetzt etwa 82 ha großen Sees hat schon Fugger?) festgestellt, Nachmessungen von Micoletzky ergaben ihre Richtigkeit bis auf die Ge- ') Zur Kenntnis des Faistenauer Hintersees bei Salzburg. Intern. Revue für die ges. Hydrobiologie u. Hydrographie, Bd. III, 1910— 1911. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 45 send, wo die Taugl bei höheren Niederschlägen in ihn einmündet: hier hat sich nämlich eine mächtige Schotterbank angesammelt und infolge- dessen ein besonderer kleiner See, der Hirschpointteich, gebildet, der in der Karte bei Fugger noch als Bucht nördlich vom Tauglzipf figuriert. Es ist bemerkenswert, daß die Emanzipation dieses Beckens von seinem Mutterwasser sich außerordentlich schnell (innerhalb 4—6 Jahren) voll- zogen hat. Von den über 60 Hochseen, die sich in den zahlreichen Karen der Kreuzeckgruppe in den Tauern befinden, hat Polscher !) die 20 größten aufgenommen, ausgelotet und die Resultate in Kartenskizzen 1:2500 dar- gestellt, sie sind teils Eintiefungs-, teils Abdämmungsbecken. Die Kare gehören teils dem Daun-, teils dem Gschnitzstadium an. Die größten Seen sind der Glanzsee (258 ha) und der Gipersee (267 na): der tiefste ist der Einzigersee (845 m), der aber nur 0'7 ha groß ist. Sie liegen sämtlich in einer Meereshöhe von 2000 bis 2400 m. Dr. Endrös hatte gelegentlich seiner Seichesuntersuchungen an den Seen des Salzkammerguts im Juli 1906 2) die Ansicht geäußert, daß im Mondsee, wo die Zahl der Lotungen Simonys nur gering war (8 auf 1 km?), größere Tiefen existieren müßten. als sie Simony gefunden hatte. Ref. hat im Juli 1909 in der Gegend des Sees, welche man als die tiefste annehmen kann, neue Lotungen gemacht:), welche gezeigt haben, daß Simonys Lotungen richtig sind, daß der Untererund des Sees in der Gegend seiner größten Tiefen wenig Unebenheiten aufweist und daß eine größere Tiefe als die von Simony gefundene (685 m) sehr wahrscheinlich nicht existiert. Prof. Eberhard Fugger in Salzburg hat seinen früheren Aufnahmen in den Seen Salzburgs noch ein 8. Heft hinzugefügt), in dem eine heihe kleinerer Karseen behandelt wird: der bei weitem größte von ihnen ist der Tappenkarsee, der 24 ha groß und etwa 48 m tief wird. Die übrigen Seen sind erheblich kleiner und flacher. Die Seen des unteren Inntales in der Umgebung von Rattenberg und Kufstein hat Mällner’) in bezug auf ihre morphologischen und geologi- schen Verhältnisse näher untersucht. Selbstverständlich verdanken sie alle der Eiszeit ihre Entstehung, doch spricht sich Verfasser nicht näher darüber aus, in welche Zeit er sie versetzt. Der Längssee, Eglsee und der Pfrill- see sind Karstwannen, der Hechtensee, der tiefste von ihnen (56°5 m). ist ein Kesselbecken, der Hintersteinersee ein in Kalkgestein einge- senktes Felsbecken. der Walchsee trotz seiner 21 m Tiefe eine sehr flache Abdämmungswanne. ') Die Hochseen der Kreuzeckgruppe. Mit 4 Tafeln und 20 Abbildungen. Geogr. Jahresbericht für Österreich (8), Wien 1910. *) Seichesbeobachtungen an den größeren Seen des Salzkammergutes. P. M.. 1906, Heft XI. ®) Halbfaß, Die Tiefe des Mondsees im Salzkammergut. P. M., 1909, H. XII. *) Salzburgs Seen. VIII. Mitt. d. Ges. f. d. Landeskunde Salzburgs. °) Ferdinandeums-Zeitschrift, III. Folge, 49. Heft. Innsbruck 1905. 44 W. Halbfaß. Von den Seen in Südtirol haben nur die beiden Montiggler Seen in nenerer Zeit eine Bearbeitung gefunden), hauptsächlich allerdings in biologischer Beziehung; beide Seen von 12 bzw. 15 m Maximaltiefe faßt Huber als Reste von Flußkolken im Fels auf, welche in der Glazialzeit wesentlich ihre jetzige Tiefe erreichten. Die Geschichte des Alleghesees, welcher bekanntlich einem Berg- sturz im Jahre 1771 seine Entstehung verdankt, hat Karl Schmid?) ge- schrieben: er unterscheidet die beiden Katastrophen vom 11. Januar und l. Mai jenes Jahres. Die Arbeit, welche im übrigen wesentlich beschrei- bender Natur ist, benutzt eine reiche Lokalliteratur und Aktenmaterial. Im westlichen Tirol ıhat Halbfaß einige Seen im oberen Lechge- biet untersucht und Tiefenkarten im Matistab 1:5000 veröffentlicht 3): es sind dies der Spullerssee, der Zürschersee und der Formarinsee; der zuletzt genannte ist ein typischer Zirkuskarsee von 28 ın Tiefe, in welchem die tiefste Stelle nahezu in der Mitte liegt. Von den Seen im St. Gotthardstock hat Garwood*) eine Anzahl aus- velotet, mittelst einer Vorrichtung. welche er in der Proc. of the Roy. Soe. A.. Vol. 81, London 1908 beschrieben hat. Die echten Felsbecken Ritom, Tom, Cadagno und Tremorgio verdanken nach ihm ihre Existenz der Auslaueung der kalkhaltigen Schichten, deren Grenze mit Gneis oder Schiefer nieht in der Gegend ihrer größten Tiefe liegt. man kann sie daher als Einsturzseen unter Mitwirkung tektonischer Verhältnisse bezeich- nen. Auch bei den Seen Scuro, Taneda, Lucendro, Sella, die gleich- falls echte Felsbecken sind, kommt die Wirkung langsamer Verwitterung in Betracht. dagegen sind die übrigen Seen im Becken des Ticino, welche Garwood nur flüchtig besucht hat, keine Felsbecken, sondern durch loses Material angestaut, welches teils von den Felsen in situ herrühren mag, teils aus Moränenschutt besteht. Von dem lago Tremorgio konnte Garwood keine Tiefenkarte entwerfen, weil seine Lotungsmethode hier auf unüberwindliche Schwierigkeiten zu stoßen scheint, er glaubt, dal) er min- destens eine Tiefe von 80 m, vielleicht aber noch bedeutend mehr erreicht. Was die Tiefenkarten von Garwoods ausgeloteten Seen anlangt. so stimmen sie nicht immer mit den Ergebnissen der Lotungen von Delebeeque®) über- ') @. Huber, Monographische Studien im Gebiet der Montiggler Seen (Südtirol) mit besonderer Berücksichtigung ihrer Biologie. Züricher Inaug.-Diss. Stuttgart 1905. ®) Die Entstehung des Alleghe-Sees in den Dolomiten. Würzburger Inaug.-Diss. Kempten 1906. ») Halbfaß, Beiträge zur Kenntnis der Seen der Lechtaler Alpen. Globus, Bd. 83, Nr. 2, 1903. 4 The tarns of the Canton Ticino. (Quart. Journal of the Geol. Soc., Bd. 62, Heft 2, Nr. 246. London 1906. 5) Sur les lacs du Grimsel et du massif du Saint-Gothard. Ü. R. des seances de l’acad. france. Paris, 28 nov. 1904; idem: Sur l’origine de quelques lacs des Pyrenees. Comparaison avec les lacs de la region du Saint-Gothard et du Titlis. Bassins rocheux ou barrage erratique ? Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 45 ein, welcher die meisten von ihnen ein Jahr vorher besucht hatte. Diffe- renzen rühren vielleicht von den verschiedenen Lotungsmethoden her, welche sie benutzten, wahrscheinlich aber von der ungleichen Anzahl der geloteten Punkte. Delebeeque gibt für den Ritomsee als größte Tiefe 446 m (ohne Tiefenkarte), Garwood 163 feet = 497 m (Tiefenkarte in 1:42.240). Nach der vom Eidgenöss. Hydrometr. Bureau der Schweiz herausgegebenen Tiefen- karte in 1:5000 ist die größte Tiefe 46°S m, nämlich gleich der Differenz zwischen der Spiegelhöhe des Sees 185145 m (im Jahre 1907) und dem tiefsten Punkt des Bodens 17847 ın. Diese Karte weicht im einzelnen nicht unerheblich von der @arwoodschen ab und ist ungleich lebensvoller ent- sprechend der jedenfalls ungleich größeren Zahl von Lotungen (1942 gegen 276). Gerade an diesem Beispiel läßt sich deutlich übersehen, wie sehr es bei Seen mit komplizierterem Bodenrelief auf die Zahl der Lotungen ankommt. Über die Entstehungsursachen der Seen dieses Gebiets sind Garwood und Delebeegue wesentlich der gleichen Ansicht. Die Seen von Ritom und Cadagno zeichnen sich durch Anomalien in bezug auf die Zusammensetzung und die Temperatur ihres Wassers aus, worauf wir im 3. Teil zurückkommen werden. Delebecgue hat in derselben Arbeit auch die kleinen Seen des Grimselpasses behandelt, welche eine Tiefe von 185 bzw. 126 m erreichen, sie sind durch Glazialerosion im Fels ent- standene Becken und sind eigentlich Ein See, der durch die Straße von Meiringen nach Gletsch künstlich in 2 Seen getrennt worden ist. Die 3 oberen Seen des Oberengadin, der Silser-, Silvaplaner- und der Campfersee, welche Heim für Moränenstauseen anzusehen ge- neigt war, hält Delebeeque!) für die Reste eines früheren einheitlichen Felsbeckens, das, 12 km lang, von der Maloja bis Campfer reichte und erst nachträglich durch die Ablagerungen der Zuflüsse des Inn in 3 Ein- zelbecken geteilt sei. Tektonische Ursachen fehlen, vielmehr plädiert er für Bildung von Glazialerosion. Bourcats von der Schweizer Naturforschen- den Gesellschaft mit dem Schäflipreis gekrönte Arbeit „Les lacs alpins suisses, etude chimique et physique“, Geneve 1906 kommt an dieser Stelle insofern in Betracht, als sie die Maximaltiefe mehrerer von ihm unter- suchten Seen, z. B. des Amsoldingen (142 m), des Engstlensees (51m) und einer Anzahl kleinerer Seen. mitteilt, und neue Resultate über den Zusammenhang der Beschaffenheit des Seewassers mit der chemischen und geognostischen Beschaffenheit des Einzugsgebietes bringt. Das Wasser von Seen, die im Urgebirge liegen, enthält sehr viel weniger Trockenrück- stände als dasjenige von Seen im Kalkgebirge, selbst m dem Falle, dal erstere zuflußreich, letztere zuflubarm sind. Dagegen hängt seine Oxydier- barkeit in der Hauptsache von der Beschaffenheit des Sees selbst ab, be- sonders von seiner absoluten und mittleren Tiefe. 1) Sur les lacs de la baute Engadine. €. R. de l’academie des seiences. Paris. 28 decembre 1903. 46 W.Halbfaß. Eine nach vielen Richtungen hin mustergültige Bearbeitung hat der im Berner Oberland gelegene Öschinensee durch M. @Groll!) erfahren, der von dem im Mittel 116 ka großen See auf Grund von 700 sehr gut fixierten Lotungen eine schöne Tiefenkarte in 1:5000 entworfen hat. Bei Normalwasserstand ist seine größte Tiefe 566 m. seine mittlere Tiefe 346 m, bei Niederwasserstand dagegen nur 41'6 bzw. 295 m. Der See zeichnet sich nämlich durch enorme Schwankung seines Niveaus aus, die im Mittel jährlich 15 »» betragen und unter den Schweizer Seen nur noch vom lac des Brenets im Jura annähernd erreicht wird. Die von Groll festgesetzten Pegelpunkte sind an das allgemeine schweizerische Nivelle- ment angeschlossen, so dal Nachmessungen der Tiefe des Sees und der Höhe seines Wasserstandes jederzeit leicht vorgenommen werden können. Im Gegensatz zu anderen Hochseen ist seine Uferzone nicht das Resultat etwaiger abradierender Kräfte, sondern lediglich eine unter Wasser ge- setzte Landbildung, da die steilen Felswände, welche unmittelbar an die Oberfläche des Sees herantreten. sich ohne Kniekung unmittelbar unter dem Wasserspiegel fortsetzen. Auch die Schuttkegel des Nord- und des Ostufers besitzen über und unter dem Wasser denselben Böschungswinkel. Bei Niederwasserstand bietet der See die ausgezeichnete, in Europa kaum wiederkehrende (Gelegenheit, Uferzone und Halde eines Sees im trocknen Zustand genau zu studieren. Entstanden ist der Öschinensee durch die Aufstauung des Schuttes von Bergstürzen, deren Abrißgebiet die großen Nischen nördlich von Spitzstein unterhalb des Bibergletschers am Dolden- horn sind: ihre Zeit verlegt G@roll in die Postglazialzeit. Der viel gefeierte Klöntaler See hat durch Heuscher ?2) eine an- ziehende Darstellung gefunden, welche die meisten Gebiete seenkundlicher Forschungen berührt. Der gleichfalls durch gewaltige Bergstürze aus dem Glärnisch und der Deyen-Wiggiskette angestaute See hatte einst einen viel größeren Umfang und eine viel größere Tiefe, Geröll und Schutt füllen seinen hinteren Teil immer mehr aus, so daß seine Maximaltiefe (33 m) jetzt nicht mehr in der Mitte, sondern im unteren Viertel des Sees liegt. Auch sein Wasserstand schwankt so bedeutend, daß z. B. vom 1. Oktober 1900 bis 1. Oktober 1901 die Amplitude 501 »» und der Unterschied im Wasservolumen die Hälfte des gesamten Seevolumens bei niedrigerem Wasserstand betrug. Im Gegensatz zum Klöntaler See ist der Ägerisee, über den gleich- falls Heuscher eine ansprechende Monographie geschrieben hat), seit der Zeit, da er durch die massenhaften Moränen des Plateaus von Menzingen bei Neuägeri angestaut wurde, fast in seiner heutigen Größe erhalten ge- ') Der Öschinensee im Berner Oberland. Bern 1904. ?) Untersuchungen über die biologischen und Fischereiverhältnisse des Klöntaler Sees. Zürich 1903. ») Beiträge zu einer Monographie des Ägerisees mit besonderer Berücksichti- gung seiner Fischereiverhältnisse. Beilage zur Schweizerischen Fischereizeitung. Pfäffi- kon 1906. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 47 blieben, nur an seinem unteren Ende ist durch das Delta des Hüribaches und am oberen Ende durch Vertorfung ein kleiner Teil verschwunden; im übrigen ist sein Verschwinden durch Ablagerungen von seiten der Zuflüsse auf absehbare Zeit nicht zu befürchten. Durch einen Wall am Seegrunde, der sich vom Nashof gegen Teufsetzi hin quer durch den See zieht und sich ca. 20 m über die tiefsten Stellen erhebt, wird er in ein kleineres oberes und ein größeres unteres Becken getrennt. Die Wasserstandsschwankungen sind im allgemeinen gering; in den Jahren 1895— 1904 betrug die Höchst- differenz 118 cm, also etwa 7°/, seiner Maximaltiefe. Die von Fritz Mühlberg bearbeitete geologische Karte der Umgebung des Hallwilersees') läßt erkennen, daß sie reich an Diluvialbildungen ist, unter welchen das Tertiär nur an einzelnen Stellen hervortritt. Beson- ders mächtig sind die Moränen der letzten Vergletscherung. Die Doktordissertation von Brutschny?) über den Zugersee kommt nur für Teil III in Betracht, dagegen ist die Dissertation von Guyer >) über den Greifensee, welcher gleichfalls überwiegend physikalisches und biologisches Interesse bietet, insofern hier von Bedeutung, als sie sich im Gegensatz zu Penck in bezug auf die Entstehung dieses Sees mehr auf die Seite von Zeim und seiner Schüler stellt und in der Gegend zwischen dem Dörfchen Greifensee und der Südecke von Mauerholz 120 neue Lotungen bringt, welche ein genaueres Profil ergeben haben, als es die topographische Karte bisher zuließ. Das linke und rechte Seeufer fallen mit ganz ver- schiedener Neigung gegen die Sohle des Sees ein, was in den geologischen Verhältnissen seine einfache Begründung findet. In den Appenzelleralpen wurde in den letzten Jahren zweimal durch Experimente der unterirdische Abtluß von Bergseen festgestellt. Das Wasser des 1200 m hoch gelegenen Säntisersees strömt durch die zerklüfteten Kalkfelsen des Hohen Kamors hindurch dem 800 m tiefer gelegenen Rhein- tal durch Vermittlung des Mühlenbaches bei Sennwald zu und der im Hoch- sommer beinahe eingetrocknete Voralpsee bei Grabs speist, wie die sorg- fältigen Untersuchungen von Dr. Hug*) gezeigt haben, eine 21/, km nord- östlich des Sees gelegene Quelle (Rogghalmquelle), welche selbst zur Zeit ihrer geringsten Mächtiekeit immer noch 35—40 Sekundenliter liefert. um freilich den größten Teil desselben sehr bald wieder an den Boden abzugeben. Da der See schon im Herbst fast völlig trocken ist, der mini- male Wasserstand der Quelle aber erst im Januar oder Februar sich zeigt, so ist das Wasser vom See her bis zur Quelle etwa '/, Jahr auf der heise. ‘) In den Beiträgen zur Geologischen Karte der Schweiz 1:25.000. Spezialkarte Nr. 54. °) Mono$raphische Studien am Zugersee. Arch. f. Hydrobiologie u. Planktonkunde. Bd. VII, 1912. ») Beiträge zur Biologie des Greifensees. Ibid. Bd. V, 1910. *) Der Voralpsee bei Grabs. Eine geologisch-hydrologische Studie. Schweizerische Wasserwirtschaft, Nr. 24, 1911. 48 W.Halbfaß. In Graubünden ist der etwas oberhalb von Ober-Tschappina (1807 m) gelerene abflußlose Lüschersee!) durch einen 2'/, km langen Kanal in die Schwarze Nolla künstlich entwässert und dadurch gänzlich trocken ge- lert worden. Damit sind die unheilvollen Erdschlipfe, denen im Laufe der Jahrhunderte viele Wohnhäuser zum Opfer fielen und deren Ursache un- zweifelhaft der See war, endgültig beseitigt worden. Die Arbeiten von Tanner-Fullemann ?) über den Schönenbodensee und von Bally®) über den oberen Zürichersee sind geographisch so gut wie belanglos, dagegen bieten die Resultate der Versuche über Schlamm- ablagerungen im Brienzersee, welche im Auftrage der Hydrologischen Kommission der schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft Herr Doktor Epper*). früher Vorsteher des Eidg. Hydrographischen Bureaus in Bern. unternommen hat. großes Interesse. Die mittlere tägliche Ablagerung betrug in der Zeit vom 22. April 1908 bis 5. Dezember 1908 0'088 mm: in der Zeit vom 11. Dezember 1908 bis 4. Mai 1909 0'014 mm: in der Zeit vom 4. Mai 1909 bis 19. November 1909 0'092 mm und in der Zeit vom 15. No- vember 1909 bis 2. Juni 1910 0'020 mm: die Mengen sind also im Winter- halbjahr nur etwa !/;—'/, von demjenigen im Sommerhalbjahr. Der Wassergehalt der beiden ersten Proben war merkwürdigerweise bedeutend geringer als derjenige der beiden letzten, nämlich nur etwa !/,; ein Grund hierfür ist nicht einzusehen. Die chemische Analyse des bei 110° ge- trockneten Schlammes, welche von der schweizerischen agrikulturchemischen Anstalt in Bern vorgenommen wurde, ergab keine wesentlichen Differenzen. nur war der Glühverlust der beiden ersten Proben nicht unerheblich größer als der der beiden letzten. Bei dieser (Gelegenheit möge noch auf einige andere Messungen des jährlichen Schlammabsatzes in Seen hingewiesen werden. Die Messungen von ZHeim®) am Vierwaldstättersee erstrecken sich leider jeweilig auf ein ganzes Jahr, so daß der jahreszeitliche Ein- fluß bei den Resultaten nicht zum Vorschein kommen kann. Die absoluten Zahlen differieren ganz außerordentlich. denn während der Absatz nassen Schlammes vom April 1897 bis dahin 1898 im Urnersee eine Höhe von 15 mm erreichte, betrug er im gleichen Zeitabschnitt 1902/03 nur 3°5 mm, 1901/02 dageren 8? mm (wahrscheinlich in der Hauptsache durch ein einziges Unwetter veranlaßt), im Muottabecken 1897/98 80 mm, 1902/03 dagegen nur D mm. Im Öschinensee konnte @roll (siehe oben) vom 23. August 1901 bis 20. Oktober 1901 0'025 mm täglich, vom 23. Mai 1904 bis 28. Oktober ') Tarnuzzer, Nollakorrektur und Lüschersee. P. M., 1910, Novemberheft. *) Contribution A l’&tude des lacs alpins. B. de l’Herbier Boissier, 2. srie, Vol. VL. Genf 1907. >) Der obere Zürichersee. Beiträge zu einer Monographie. Arch. f. Hydrobiologie 1. Planktonkunde. Bd. Ill. Stuttgart 1907. (Züricher Dokt.-Diss.) #) Verh. d. Schweizer. Naturf, Ges.. 93. Jahresversamml., Basel 1910, Bd. III und Solothurn 1911, Bd. II. 5, Der Schlammalhsatz am Grunde des Vierwaldstättersees. Vierteljahrschr. der Naturf. Ges., Zürich 1900, Bd. 45. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 49 1904 10—11 mm, täglich also 007 mn, also erheblich mehr konstatieren. Wohl die ausführlichsten und genauesten Untersuchungen über Schlamm- absätze, nämlich die im Lunzer Untersee, verdanken wir @. Götzinger (siehe S. 42). Er fand in der Schweb in Seemitte vom 10. September bis 14. De- zember 1909 026 mm; vom 14. Dezember 1909 bis 2. April 1910 0'532 mm, dagegen vom 2. April 1910 bis 3. August 1910 1’14 mm. Die Sedimentation im Frühjahr und im Sommer war etwa viermal größer als im Winter, absolut genommen in beiden Jahreszeiten erheblich geringer als im Brienzersee, was bei den geringen Zuflüssen des Lunzersees und seinem kleinen Ein- zugsgebiet sehr begreiflich ist. Immerhin würde durch die Schlammabla- gerung allein der See in etwa 18.000 Jahren ausgefüllt sein, wenn man den Betrag von 1mm pro Jahr als Durchschnittswert annimmt. Die Schlammmessungen nahe am Ende dieses Sees beim Seereit, welche gleich- zeitig mit den vorhin genannten erfolgten, ergaben einmal (im Winter 1909/10) gleiche, einmal (Herbst 1909) erheblich höhere Werte, können aber nicht mit denjenigen in der Schweb verglichen werden, weil durch eine große Uferbank in der Nähe, an welche die Wellen schlagen, lokale Trübungen hervorgebracht werden, dagegen lieferten die Messungen nahe dem Einfluß schon viermal so viel Schlamm als gleichzeitig über der Schweb, womit. nebenbei bemerkt, auch die Verschiedenheiten in der Sicht- tiefe beider Stellen sehr gut übereinstimmen. Am Märjelensee hat Dr. Wpper!) einen neuen Pegel aufgestellt, der von dem jetzigen Seespiegel bis zu der Höhe reicht, auf welche der See, mit Rücksicht auf den gegenwärtigen Stand des großen Aletschglet- schers, noch anzusteigen vermag. Der höchste bekannte Seestand (17. Juli 1878) ist 73°55 m höher als der niedrigste bekannte Stand, welcher eintrat, als der See vollkommen ausgelaufen war. Das gesamte Material über diesen interessanten See soll im Jahrgang 1909 der „Graphischen Darstellung der schweizerischen hydrometrischen Beobachtungen“ veröffentlicht werden. Im untersten Teil des Walensees fanden im Herbst 1910 und im Früh- ling 1911 Sondierungen statt zur Feststellung des Wachstums des vom Escherkanal im See abgelagerten Deltas. Anschließend wurden an einer gegenüber Mühlehorn gelegenen Stelle Versuche über die Schlammablage- rung auf dem Seegrunde ausgeführt. Über subaquatische Rutschungen im Zuger- und Zürichersee be- richtet A. Heim.?) Sie liegen zwar schon nahezu ein Menschenalter zurück, aber der amtliche Bericht, welchen damals sein Vater abstattete, ist nicht allgemein bekannt geworden. Der Abrutsch am Zugersee bei der Stadt Zug erfolgte am 5. Juli 1887 in Form einer Nische und ergoß sich in einer mittleren Breite von 200—250 m und einer Dicke von 1/,—3 m, etwas über 1 km weit vom Ufer in den See hinaus, wo er eine Tiefe von 45 m 1) Blatt 41a und 44 der von der Schweiz. Landeshydrographie herausgegebenen graphischen Darstellungen der Pegelstandsbeobachtungen. :) Über rezente und fossile subaquatische Rutschungen und deren lithologische Bedeutung. Neues Jahrb. f. Min.. Geo]. u. Paläont. für 1908, Bd. 1. E. Abderhalden, Fortschritte. VII. 4 50 W.Halbfaß. besaß. Seine mittlere Böschung betrug daher nur 44°/,, von Tiefenab- eründen kann also keine Rede sein. Da nach der Richtung des Landes naturgemäß eine steile Böschung entstanden war, so griff das Ausfließen des Schlammgrundes rasch nach rückwärts. In Horgen am Zürichersee war der Abrutsch (September 1875) durch Überlastung in Form von künst- licher Aufschüttung bedingt, erinnert also an den 5.37 erwähnten Absturz bei Tavernola am Iseosee. Unter gleichbleibenden Bedingungen könnten oanze Seen durch periodische Rutschungen vom Rande gegen die Mitte zugeschittet werden, doch ist mir aus der Literatur bisher kein Fall be- kannt geworden. Von 3 in den Alpen gelegenen Seen, dem Genfersee, dem lac du Bourget und dem Würmsee, hat Yalbfa/} die Wasserstandsschwankungen in den 50 Jahren von 1856 bis 1906 bzw. 1866 bis 1906 mit Rücksicht auf das Verhältnis zu den Niederschlagsmengen im Einzugsgebiet und die Brücknersche Klimaperiode untersucht!) (s. auch Teil I, S. 5) und ist zu folgendem Resultat gekommen (s. Fig. 2). Die Aufzeichnungen des Wasserstandes des lac du Bourget in Port-Puer ergaben Maxima in den Jahren 1867. 1883, 1897 und 1902, Minima 1874, 1884 und 1894, ein schwach ausgeprägtes Maximum der Lustrenmittel gegen Ende der 90er Jahre, aber während der ganzen Be- obachtungszeit kein ausgeprägtes Minimum. Irgend einen Beweis für die Brücknersche Klimaperiode können sie schon deswegen nicht liefern, weil der canal Savieres, sein Ausfluß nach der Rhone, ihm zu Zeiten auch als /utluß dient, je nachdem die Rhone oder der Kanal höheren Wasserstand besitzt. Am Würmsee erhielt er das überraschende Resultat, daß die Ma- xima Anfang der 60er und der Mitte 90er Jahre, und die Minima Ende der 60er Jahre des vorigen und Anfang dieses Jahrhunderts mit der Brückner- schen Periode sich in vollem Einklang befinden: Ules Beobachtungen ?), welche damit im Widerspruch stehen, berücksichtigen nicht die Tatsache. daß) zwischen den Jahren 1875/80 der Pegel im Ausfluß des Sees um 32 cm tiefer gesetzt worden ist. Da das Einzugsgebiet des Sees relativ klein und nach seiner Bodenbeschaffenheit und Terrainlage sehr gleich- mäßig ist, die Zuflüsse sehr unbedeutend sind, der See also ganz über- wiegend durch atmosphärische Niederschläge gespeist wird, deren jähr- liche Amplitude nur eine mäßige ist, so darf es nicht wundernehmen, dal die Schwankungen seines Wasserstandes Klimaänderungen gut wider- spiegeln. Dazu kommt noch der günstige Umstand, daß er in seiner Um- cebung so eingesenkt ist, daß einerseits den Winden noch hinreichend Gelegenheit gegeben wird, das Oberflächenwasser bis zu einer mäßigen Tiefe aufzulockern, andrerseits die Ufer einen gewissen Schutz gegen Stürme gewähren, welche seine Fluten bis in eine größere Tiefe aufwühlen könnten. Durch diese Verhältnisse wird eine gewisse Gleichmäßigkeit in 1, Klimatolorische Probleme im Lichte moderner Seenforschung. Teil II. Progr, des Gym. zu Neuhaldensleben, 1908. Mit 4 Blättern graphischer Darstellungen. ?) Ule, Der Würmsee. Leipzig 1901, 8. 197. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 51 seiner Verdunstung herbeigeführt, ein Moment, das für die Exaktheit der Periode einer Klimaschwankung von großem Einfluß ist. Beim Genfer See liegen die Verhältnisse weit ungünstiger, schon aus dem Grunde, weil er durch die Korrektionen der Ihone bei ihrem Ausfluß aus dem See kein natürliches Wasserbecken mehr ist. Der Ab- stand 1842—1877 der ausgeglichenen Hochwasserstände entspricht aller- dings genau der Brücknerschen Periode, aber der nächste Hochwasserstand im Jahre 1910 bzw. 1912 hat sich bis jetzt noch nicht eingestellt. Die Fig. 2 RER EIFERE FE FETTE] enter Traun 1 u IOOTTe | Jahressummen der Re -H BERBEBESBRSTIREBERGRESSESBNNN SHARE EER A „N o0Sseh nz 2 less Sr Ben =Br AH;H AR aiwenr ZauıBit ns Gar a az 2“ DREPTTIREIT 1] inie gibt das Mitte EIRE wnzT. mi N SERBEBERL/4RJNE ESTG STE a Niederschla® [50| BagTEaguusssktatgbtekgeee.e [11 gen in Genf und = Montreux, bzw. I Territet an. 7 2 a [22 F- Bun IH su 1 Pr ams IX Eum.'s ID BERBRNNE ven AN PHHHN BARS Fr HER’ sr -ANERANNHEREERME TR N, - höchs mol LI JFFT) EFEFFEFFEF ER BOB Mittel der höchsten Bi FMH III I IF IY II IT| Jahreswasserstände 5 BEENDEN BRGEanE FSU IT LAITH in Secheron bei Genf IMENTIEBEREEEE EEERERRBEENEREHALNDZABNNENF. wi] - NOB\IBEBREEBS NEBBRNNRS?- > VENEREEEEEREX-ZINER DS 4BRBENE ER IEEBEBEP-ZSERTEED -UEEN' SUP WPUNUBEREBENE @lelzjzjeisjalgiele) BBEBEBERY 4BRNZ, am... BEBBAP a2" a4. VERERFAUEEBENEERER | ittler mol III Std | RU4BEREE URBRVABERNRZ-- 02.07.77 su Mittel der mittleren 0 EBEBENEESEEE/ENERNENERE LIRFRATT u Jahreswasserstände Fi ZBBEZBESER [11 | in Seeheron bei Genf. er zusam — —— u GREBSEBaSEREBEFSEnGE EHER Berk ]7ESBEREBBERHERNENEN + Jahressummen der KIERBEENEREEREENEEENE [1 BF VEREEEPIBBREREENE Niederschläge in STARRSREESRERHENENBEBEBRERBERBERHEN?F. NEE = re FRRERBEBEEBEBEGERGNSESGESERESENBN "".\ EBmur In SAH München; die punk ENEBENNUR BEBBBS NESEERD: AN INT PRL LH tierte Linie gibt die- EIBB-STEUGuS Ra N VEN N AEBRENT AM BELLA selbe für das Mittel Ki -4ENBERELVIERANZEERE HN HH Y H-| der Regenstationen sol! 1 FETEFFERRERR EFF EEREEH im E.G. des Starn- S@EzIEz2E BEEBERBEEESEEBELEEBEBEBEREEEERRBEERERBE berger Sees an. ki TEREEBBRSERZENBERFESHEBEENE Kassa FEER Her EIEBRREEBERTE 5 HH HN TH EEFESFFERCCHE TAtBgESEeEE Ei un [11 AT] Mittel der höchsten Jahreswasserstände in Starnberg. Mittel der mittleren Jahreswasserstände in Starnberg. Jahresmitteld.Temp. in München. Das Jahresmittel in Harlacbingist durch- schnittlich 1'4° niedriger. Die roten Linien geben die Lustremittel an. Minima fanden 1800, 1813, 1834, 1858, 1892 mit einem mittleren Inter- vall von 23 Jahren statt und schon Forel!) hat es deutlich ausgesprochen daß seine Wasserstandsschwankungen mit der Brücknerschen Periode sich durchaus nicht im Einklang befinden. Im letzten Grunde ist es das ge- waltige und nach jeder Richtung hin differenzierte Einzugsgebiet, von dem sein Wasserstand abhängt, das ihn als Klimamesser ungeeignet erschei- nen läßt. !) De Leman. Vol. I, p. 509. Lausanne 1892. 52 W, Halbfaß. Breu‘), ein leider sehr früh verstorbener Jünger der Seenkunde, olaubte den Beweis dafür erbracht zu haben, daß der Kochelsee über- wiegend tektonischen und nicht glazialen Ursprungs sei. Seine Beweise stützt er auf zahlreiche Falten und Verwerfungen. die er in der Nähe des Sees gefunden haben will, sowie auf das Vorhandensein von Natronquellen, welche in Zusammenhang mit den in den Spalten hervorgedrungenen vul- kanischen Dildungen stehen sollen. Ich glaube nicht, dab dieser Beweis ihm seelückt ist, wenn auch gewisse tektonische Vorgänge bei der Vor- bildung des Sees mitgewirkt haben mögen. Wertvoller ist seine Arbeit über den Tegernsee?), die von ihm entworfene Tiefenkarte in 1:12.500 zeigt. dab sein Bodenrelief keineswegs so eintönig wannenförmig ist, wie es auf der Geistbeckschen Karte erscheint. sondern dal) mehrere Uneben- heiten im See, welche vielleicht auf eine verschiedene Geschwindigkeit im Rückzug der Moränen zurückzuführen ist, Abwechslung in das Tiefen- relief bringen. Interessant ist auch das Petroleumvorkommen bei Wießee, wo seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Erdölquelle bekannt gewesen ist, welche unter dem Namen .St. Quirinus-Öl“ vom Kloster in Tegernsee finanziell verwertet wurde. Nach Fink°) entstammt sie den Kieselkalken des Flvsch. Auf Veranlassung von Prof. Öbbecke in München wurden neu- erdings Bohrungen bis zu einer Tiefe von 714 ,n gemacht, welche die reichste Schwefelquelle ergaben, die bis jetzt in Deutschland bekannt ist, sie tritt in periodischen Abschnitten als Sprudel hervor und besitzt eine Temperatur von 23—24° C. Eine gute Darstellung unserer Kenntnisse vom Schliersee, von welehem bisher eine monographische Bearbeitung fehlt. verdanken wir .J. Jäger *), welcher auch die prähistorische Geschichte seiner Umgebung berücksichtigt; in bezug auf seine Entstehung folet er Penck. Die Topographie des Walchensees wie des Chiemsees liegt noch sehr im argen. da die Tiefenkarten beider Seen bei Geistbeck nur sehr summarisch genannt werden können. Eine Neuauslotung wäre sehr wün- schenswert und es ist besonders auffallend, daß bei der Projektierung des bekannten Walchenseewerkes keine neueren Lotungen vorgenommen wurden. Bei (selegenheit des Heraufholens von (Grundproben erwähnt Gebbing®) eine Tiefe von 209 m, welche bisher noch keine Bestätigung gefunden hat. Auch Breus®) Mitteilungen über Tiefen im Königssee, welche eine Tiefe ') Der Kochelsee. Limnologische Studie. Berichte d. Naturw. Ver. zu Regensburg, H.X. München 1906. ®, Der Tegernsee. Limnologische Studie. Mitt. d. Geogr. Ges. München, Bd. IH, H. 1, 1905. J. Jaeger, Der Tegernsee. Globus, Bd. 88, Nr. 23, 1905. ») Der Flysch im Tegernseer Gebiet mit spezieller Berücksichtigung des Erd- ölvorkommens. Geogr. Jahreshefte, München 1903. +, Der Schliersee, Globus, Bd. 89, Nr. 23, 1907. °) Hydrochemische Untersuchungen des Würm-, Kochel- und Walchensees. Leip- zieer Inaug.-Diss. Jahresber. d. Geogr. Ges. München 1902. 6) Nach einer Zeitungsnotiz in der Augsburger Abendzeitung vom 15. August 1908 soll Breu zwischen dem Kesselfall und dem Echo 192 m, also 38 m mehr gelotet haben, als einst Simony an dieser Stelle. -o Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 53 von mehr als 190 m» angeben, scheinen apokryph zu sein. Eine Mono- eraphie des Plansees ist in Bearbeitung begriffen. Von den kleinen Karseen der deutschen Alpen sind meines Wissens nur die Soiernseen in der Karwendelgruppe durch März!) einer ge- naueren Untersuchung unterzogen worden. Der Soiernkessel ist von allen Karen dieses Gebirges der größte (3 km), er ist nicht durch Glazialero- sionen. sondern durch die Erosion des fließenden Wassers entstanden, während chemische Erosionen die Karwanne im Kampf gegen die Schutt- massen vertieft haben. Von den beiden unteren Seen hat März nur den hin- teren ausgelotet und 151 m als größte Tiefe gefunden; die Tiefe des vorderen Sees schätzt er auf 6 m. Beide Seen sind ungefähr gleich groß (34 ha), der vordere Soiernsee ist nur eine häufig gänzlich austrock- nende Lacke. Dreu?) zählt die in historischer Zeit erloschenen Seen Bayerns auf und stellt allein in Südbayern 35 Seen fest, welche zum Teil noch auf der hydrographischen Karte Bayerns vom Jahre 1854 vorhanden, zum Teil allerdings schon bei der Zedelschen Karte vom Jahre 1807 verschwunden waren. Diese Liste kann schon aus dem Grunde nicht vollständig genannt werden, weil fortwährend durch Menschenhand an der künstlichen Vernichtung bzw. Verkleinerung gearbeitet wird. Außer- dem zählt Breu noch 27 im Fichtelgebirge und in der Oberpfalz zum Teil erst seit 1834 ausgetrocknete Seen und Teiche auf, zu denen noch in der Umgegend von Bamberg, im Juragebiet, im Maintal und vereinzelt noch in einigen anderen Gegenden Bayerns eine ganze Reihe hinzutreten. J. Reindl?) zeigt, daß die kleinen Moränenseen zwischen dem Ammer- und Würmsee zum größten Teil einer schnellen Vernichtung entgegen gehen, bis auf den Weßlingersee, in der Nähe des Wörthsees, welcher eine Tiefe von 16 m erreicht; er teilt zugleich mit, dal die im Wörthsee befindliche Insel in kurzer Zeit mit dem nahen Ufer verlandet und zur Halbinsel werden wird. 13. Nord- und Mitteldeutschland. Von den im Deutschen Mittelgebirge gelegenen Seen hat in neuerer Zeit meines Wissens nur der kleine Frickenhäuser See am Südabhang der Langen Rhön durch Halbfaß*) und Blanckenhorn®) eine Bearbeitung gefunden. Der nur 11.000 m? große See besitzt eine größte Tiefe von 153 m und die sehr bedeutende mittlere Böschung von 22°5°, er hat ober- ') Der Seenkessel der Soiern, ein Karwendelkar. Leipziger Inaug.-Diss. 1903. :) Neue Seestudien in Bayern. Verh. des XVI. Deutschen Geographentages in Nürnberg. Berlin 1907. ®) Sammler Nr. 93. Beiblatt zur Augsburger Abendzeitung, 1910. #) Der Frickenhäuser See in Unterfranken. Globus, Bd. 86, Nr. 16, 1904. 5) Bericht über die wissenschaftlichen Ergebnisse der Aufnahmen auf Blatt ÖOst- heim a. d. Rhön in den Jahren 1901 und 1902. Jahrb. d. königl. preuß. Geol. Landes- anstalt für 1902, Bd. 23, H. 4. Berlin 1905; idem: Erläuterungen zur geol. Karte von Preußen usw. Lief. 171. Blatt Östheim a. d. Rhön. Gradabt. 69, Nr. 35. Berlin 1910. 54 W. Halbfaß. irdisch weder Zu- noch Abfluß, sondern wird, wie ich durch Temperatur- messungen im Tiefenwasser feststellen konnte, in der Hauptsache durch starke Quellen an seinem Boden gespeist. Darauf deutet auch die große bleibende Härte seines Wassers sowie der nicht unbeträchtliche Gehalt an Halogenen hin. Ich hatte damals seine Entstehung auf die gleichen Ur- sachen wie die der Seen der Vorderrhön (Globus, Bd. 81, Nr. 1) zurückgeführt, nämlich auf Auslaugung der unter dem Muschelkalk bzw. Buntsandstein liegenden Steinsalzlager des Zechsteins. Wie sich jedoch aus der geolo- gischen Aufnahme des Blattes Ostheim durch Blanckenhorn ergibt, ver- dankt er einen lokalen Einsturz an der Vereinigung von 2 NW.—SO.-Spalten, die ihn quer durchziehen, mit einer dritten in SSW.—NNO.-Richtung seine Entstehung, er ist also ein Katavothrensee, gleich dem Kopaissee in (riechenland und anderen Seen (s. die Karte auf 5.8 der 2. Abhandlung von Blanckenhorn). Das Volk der Umgegend sucht seine Abflußstelle in der ungewöhnlich wasserreichen Quelle an der Eisenbahn bei Mittelstreu, doch kommt für diese der Abfluß des Sees jedenfalls in einem nur sehr beschränkten Maße in Betracht. Halbfaj*) ‚hat jüngst die im südlichen Teil des Neustädter Kreises des Großherzogtums Sachsen-Weimar dicht gedrängt liegenden Knauer Teiche einer Besichtigung unterzogen und gefunden, daß sie sämtlich künstlichen Ursprungs sind, gemacht, um die namentlich in früherer Zeit sehr bedeutende Nachfrage nach Fischen während der Fastenzeit zu decken. Dagegen hat Dr. Br. Müller?) nachgewiesen, daß die zahlreichen größeren und kleineren Seebeeken im Gebiet des oberen Polenztales in Nordböhmen, von denen der mit einer biologischen Station versehene Hirschberger Großteich der bekannteste ist, keineswegs künstliche Teiche, sondern natürliche Ein- bruchsseen sind, deren bisher als künstliche Staudämme angesehene Damm- eänge mauerförmige, mit einer Sandsteinhülle bekleidete vulkanische Gänge tertiärer Eruptivgesteine sind, welche sämtlich dem Erzgebirgsbruche pa- rallel laufen. Die Seen werden meist unterseeisch gespeist und entgehen dadurch der natürlichen Versandung. Von den in Norddeutschland vereinzelt liegenden Seen hat neuerdings der Seeburger See) zwischen Bernshausen und Seeburg im Eichsfeld die Aufmerksamkeit dadurch auf sich gelenkt, daß am 19. August 1911 etwa 300 m östlich von der Mündung des Auebaches eine 25 m lange und 4 m breite Insel auftauchte*), die in Form einer 7 bis zu 35 cm aus dem Wasser hervorragte und in einem nach Norden gerichteten Kamm endigte, welcher eine offene Spalte zeigte. Geh. Bergrat v. Koenen aus Göttingen, ') Über die Teiche bei Knau im Neustädter Kreise des Großherzogtums Sachsen- Weimar. Allgem. Fischereizeitung, 1912, Nr. 3. ®) Die Entstehung der Seebecken im Gebiete des oberen Polenztales in Nord- böhmen. Intern. Revue der ges. Hydrobiologie und Hydrographie. Hydrogr. Supplement, II. Serie, H. 1. Leipzig 1912. ») Halbfaß, Der Seeburger See bei Göttingen. Globus, Bd. 75, Nr. 12, 1899. *#), Über Land und Meer, Jahrg. 1911. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 55 der sie bald darauf besuchte‘), fand sie schon stark wieder eingesunken und mit zahlreichen Unio und Anodonta sowie Bithynia bedeckt; er glaubt, dat) infolge eines besonders tiefen Wasserstandes im Sommer 1911 die plastische Moorerde des Untergrundes durch Seitendruck an jener Stelle emporgepreßt wurde. Nach einer brieflichen Mitteilung des dortigen Fischer- meisters ist übrigens die Insel auch jetzt noch vorhanden, es ist nur die obere Schicht durch die letzten Stürme etwas abgespült worden. Merk- würdig ist, daß nach Aufzeichnung einer Chronik am 18. August 1653 an der gleichen Stelle eine Insel aufgetaucht und nach kurzer Zeit spurlos wieder verschwunden ist. Offenbar haben wir es hier mit einer analogen Erscheinung zu tun, wie sie in der Nacht vom 23. Oktober 1910 im Ögel- see bei Beeskow in der Mark Brandenburg beobachtet wurde. Potonie, welcher diese Erscheinung genau studiert hat?), ist der Ansicht, daß diese und andere schon früher beobachteten plötzlich entstandenen Inseln durch den Auftrieb der Gase zustande kommen, welche von den Sapropeliten der Seen gebildet werden. Während sie sonst allmählich entweichen, werden sie zuweilen mit einer Sanddecke überzogen, welche, wenn sich Gas genügend angesammelt hat, gesprengt und emporgehoben wird und dadurch als Insel an die Oberfläche kommt. In dem Falle des Ögelsees hängt die Entstehung der Insel damit zusammen, daß der See jetzt infolge eines Durchstichs von der Spree durchflossen wird, welche reichlich Sand hineinführt, wäh- rend er früher mit dem Fluß nur eine kurze Verbindung besaß. „Über besondere Erscheinungen und umgestaltende Vorgänge in norddeutschen Binnenseen“. welche überwiegend zu ihrer Verlandung führen, hat 4. Jentzsch?) in einem Vortrage in der Deutschen Geol. Gesellschaft aufmerksam gemacht, nämlich auf die Bildung eigenartiger Haken und Nehrungen, welche nicht selten zu einer quer durch den See sich ziehen- den Barre sich auswachsen, für welche er den Namen „Seehrücke“ vor- schlägt. Sie sind. wie z. B. der Kliffhaken der Halbinsel Hela an der Ost- see, das Werk von Driftströmungen, also durch Bewegungen des Wassers, welche durch den Wind veranlaßt werden, erzeugt. Solche Haken können auch da entstehen. wo Moränen, Drumlins oder Asar in einen Binnensee hineinragen. Bei meinen Seenstudien in Hinterpommern habe ich sie z.B. am Zetzinsee, Großen Kämmerersee, Großen Cremminsee, Piel- burgersee, besonders schön aber am Großen Lübbesee beobachten können. Jentzsch glaubt, daß die Auflösung größerer zusammenhängender Seen in Einzelseen, die wie Glieder einer Kette ineinander gereiht zu sein '!) Die Entstehung einer Insel im Seeburger See. Jahrb. d. königl. preuß. Geol. Landesanstalt für 1911, Bd. 32, Teil 1, H. 3. ?) Über eine neu entstandene Insel im Ögelsee bei Beeskow in der Provinz Brandenburg. Sitzungsber. d. Ges. Naturforschender Freunde, Nr. 9, Januar 1910. Derselbe, Eine im Ögelsee plötzlich neu entstandene Insel. Jahrb. d. königl. preuß. Geol. Landes- anstalt für 1911, Bd. 32, Teil 1, H.2; cf. Naturw. Wochenschr., N. F. X. Nr. 41. ®) Umgestaltende Vorgänge in Binnenseen. Monatsber. d. Deutschen Geol. Ges., 1905, Nr. 11. 6 W.Halbfaß, pflegen, gerade durch solche Ursachen bewirkt werde, dab Aufstauung durch Moränen oder Erosion erst in zweiter Linie in Frage kommen. Ich bin hierin ganz seiner Meinung, nur vermag ich nicht zuzugeben, dal) diese Entstehungsursache auch für die zahlreichen Sölle der baltischen Seen- zone passen soll, selbst wenn diese häufig am Ende von Rinnenseen vor- kommen, möchte mich vielmehr der Anschauung Wahnschaffes!) anschließen, welcher sie in der Hauptsache auf die ausstrudelnde Wirkung stark strö- mender Gletscherschmelzwasser zurückführt, die von der nördlich gelerenen Eiswand ‚mit großem Gefäll herabkamen und das gesamte Vorland stark erodierten. Als Ursache dafür, dal) diese oft recht unbedeutenden Eissen- kungen sich bis auf den heutigen Tag erhalten haben, führt er die Tat- sache an. daß sie vielfach vom Landvolk künstlich erhalten werden, um sie zum Flachsröten, Viehtränken und Schafwaschen zu benutzen. Um ihr Zuwachsen und ihr Verlanden zu verhüten, schaffte man namentlich in trockenen Jahren den Schlamm heraus, der zugleich als Dünger für die Felder diente. Speziell mit der Verlandung der Seen des Norddeutschen Tieflandes beschäftigen sich mehrere Aufsätze, die teilweise durch praktische Rück- sicht auf die Fischerei veranlaßt sind. Da in Norddeutschland der Wind beständig an der Ost- bzw. Nordostseite der Gewässer Land fortnimmt, wäh- rend an der West- bzw. Südwestseite das Ufer im den See hineinwächst, so liegen, wenn Ostwinde Holz und andere Gegenstände an das Ufer treiben, sie unter Wind fest und es entwickelt sich dann zwischen ihnen und dem Lande ein starker Pflanzenanwuchs, welcher die Verflachung des Sees schnell herbeiführt. Zur Verlandung tragen auch die Gewächse des offenen Wassers bei, weil ihre Rückstände bei unvollkommener Verwesung einen Torfschlamm zurücklassen, welcher den Seeboden erhöht und dadurch neuen Pflanzenwuchs herbeiführt: endlich lockt auch der von Potonid soge- nannte Sapropel oder Faulschlamm, der sich an den flachen Stellen des Sees ablagert, eine neue Flora an, welche wiederum notwendig neue Ver- landungen des Sees hervorrufen. Diese Erscheinungen werden, durch gute Abbildungen trefflich erläutert, von Bugow*) geschildert. Derselbe gibt eine anschauliche Schilderung $) von der allmählichen Versumpfung und dem Zuwachsen einer ausgedehnten Seengruppe südwestlich von Potsdam, von welcher jetzt nur noch das Karineken oder der Saugartensee, die beiden Linewitzseen und der Caputhersee übrig geblieben sind. Ein klassisches Beispiel für die Verlandung von Seen, teils durch natürliche Vorgänge, teils durch die Tätigkeit des Menschen, bildet die Seenrinne des Grunewalds bei Berlin, welche Wahnschaffe*) und MW. ') Die Ursachen der Oberflächengestaltung des norddeutschen Flachlandes. 4. Aufl. Stuttgart 1910. ») Mitteilungen des Fischereivereines für die Provinz Brandenburg, N.F., Bd. Il, Nr. 3/4. Berlin 1909. >) Die Linewitzseen und das Karineken. Ebenda, Bd. III, Nr. 4. Berlin 1910. #) Die Seenrinne des Grunewalds und ihre Moore. Naturw. Wochenschr., N.F., Bd. VI, Nr. 21, 1907. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 57 Kisse!) beschreiben. Die Grunewaldseenrinne ist als eine alte eiszeitaltliche Nebenrinne der viel bedeutenderen Havelseen entstanden und hat sich aus Mangel anZufluß sehr bald in einzelne Seen aufgelöst, während die Havelseen durch die alluvialen Gewässer der Havel dauernd miteinander verbunden wurden. Beide Rinnen gehören zu dem von Berendt aufgestellten glazialen Seetypus der Schmelzwasserrinnen, der im Norddeutschen Tiefland weit verbreitet ist. Das Gefäll der Grunewaldseenrinne ist im allgemeinen nach Südwesten gerichtet, ihr Boden ist nicht gleichmäßig ausgetieft, sondern es wechseln durch Sand gebildete Schwellen mit tiefer eingesenkten See- beeken ab, und diese wiederum sind durch vertorfte Zwischenstücke mit- einander verbunden und zeigen dadurch an, dab die Rinne nicht etwa erst in jüngerer Zeit durch Wasser ausgefurcht sein kann, sondern daß sie einen alten, jetzt toten Wasserlauf darstellt. A?sse, welcher speziell den Grunewaldsee studiert und von ihm eine Tiefenkarte in 1: 8000 mit einer Anzahl von Profilen entworfen hat, findet, daß die Verlandung dieses Sees am Westufer ungleich größere Fortschritte gemacht hat als am Ostufer und glaubt die Ursache in den vorherrschenden Westwinden zu suchen, welche das Wachstum der Pflanzen verzögert, während für die ungleichen Verhältnisse an seinem Nord- und Südende die verschiedene Tiefe des Untergrundes die Ursache sein soll. Um eine Grundlage für weitere Mes- sungen für spätere Jahre zu haben, hat er eine besonders genaue Über- sichtskarte über das Verlandungsgebiet am Nordende des Sees gegeben, deren geometrische Grundlagen hoffentlich nicht durch irgend welche Un- bilden der Witterung vernichtet werden. Gegenüber der vielfach verfochtenen Auffassung, daß der Wasser- spiegel aller Seen des Grunewalds in beständiger Abnahme begriffen ist infolge der durch die Wasserwerke der westlichen Vororte Berlins bewirkten Senkung des Grundwasserspiegels in der dortigen Gegend, betont Keilhack in einem im Bürgerverein von Nikolassee gehaltenen Vortrag (Referat in der Zeitschr. f. d. ges. Wasserwirtschaft, VIL, Nr. 8), dab man auf Grund fünf- jähriger Beobachtungen zwischen den nordöstlichen Seen vom Riemeister- see bis zum Halensee und den südwestlichen von dem Nikolassee bis zur Krummen Lanke unterscheiden müsse. Der Wasserstand der Seen der ersten Gruppe schwankt im allgemeinen innerhalb derselben Grenzen, sie sind also nicht im Sinken begriffen und das tiefe Minimum des Jahres 1911 ist lediglich auf die große Niederschlagsarmut des gleichen Jahres zurückzuführen. Dagegen sind die südwestlichen Seen, mindestens seit 1908, im fortwährenden Sinken begriffen, das in der Hauptsache durch die oben erwähnte Inanspruchnahme des Grundwassers durch die Wasser- werke zurückzuführen, wodurch also auch die Speisung der genannten Seen durch Grundwasser klar bewiesen ist. Die Verwaltung der märkischen Wasserstraßen hat als Manuskript die Tiefenpläne der im Zuge der märkischen Wasserstraßßen gelegenen Seen !) Die Verlandung des Grunewaldsees. Jahresber. d. Realgym. zu Schmargendorf, Ostern 1911. D8 W. Halbfaß. mit einer Erläuterung im Jahre 1909 herausgegeben. welche, abgesehen von hier nicht in Betracht kommenden Teilen der Havel und Spree, sehr eenaue Tiefenkarten in 1:10.000 von 107 Seen umfaßt. Natürlich ist eine scharfe Aberenzunge von Fluß und See nicht immer möglich. Die Seen sind zu einem groben Teile vom Eis aus, also besonders genau, gepeilt worden, ihre Spiegelfläche ist stets auf NN. eingepegelt worden. Der tiefste von ihnen ist der 8 km? große Werbellinsee, der mit 50 m Maximaltiefe zu den tiefsten Seen der Mark gehört (siehe unten): er reicht bis 6°7 m unter NN. und wird als Kryptodepression in der Mark nur noch von dem Saerower See (— 72 m) und dem Schermützelsee (— 18°3 m) über- trotfen. Der äußeren Gestalt nach sind die meisten Seen Rinnenseen, doch ergibt sich namentlich hinsichtlich der kleineren Rinnen und der größeren, in denen man im wesentlichen Teile der Urstromtäler vor sich hat. inso- fern ein wesentlicher Unterschied, als in den kleineren Rinnen die Schmelz- wasser ganz überwiegend eine auswaschende Tätigkeit entfalteten, während in den größeren neben dieser die ablagernde Tätigkeit des Wassers deut- lich zutage tritt. Infolge dieses Unterschiedes nehmen die Seen der kleineren Rinnen meist die ganze Breite des Tales ein, die anderen jedoch nicht. vecht deutlich tritt dieser Umstand in die Erscheinung. wenn man z.B. den Müggelsee mit dem Werbellinsee oder den Kremmersee mit dem benachbarten Ruppinersee vergleicht. Hinsichtlich der in nicht wenigen Seen dieser Gruppe vorkommenden kolkartigen erheblichen Ver- tiefungen in sonst ziemlich ebenem Boden möchte der die Beschreibung zu den Tiefenplänen liefernde Baurat Scholz auch an Einstürze als Ur- sache denken: ich halte diese Entstehungsursache wenig wahrscheinlich, neige mich vielmehr der Evorsion im Geinitzschen Sinne als Erklärungs- srund zu. Die von den märkischen Wasserstraßen nicht berührten Havelseen hat nach einer Mitteilung von Wahnschaffe (siehe oben) Dr. Brasse ausge- lotet und gefunden, daß diejenigen Seen, welche von der Havel nicht direkt durchflossen werden, eine ganz ansehnliche Tiefe erreichen, so der Glie- necker See (12m), der Heilige See (14) und besonders der Sacrower See (37 m), über den noch eine ausführliche Publikation seitens des In- stituts für Meereskunde in Aussicht steht (siehe auch Teil III). Die Arbeiten Brasses sind bis jetzt noch nicht publiziert. Teils auf die Resultate der von der oben erwähnten Verwaltung der märkischen Wasserstraben veranstalteten Lotungen, teils auf die Aufnahmen der kgl. preub. Geol. Landesanstalt, welche neuerdings auch die Tiefenver- hältnisse der Seen berücksichtigt und in ihren geologischen Blättern zum Teil einzeichnet, teils endlich auf privaten Mitteilungen fußend, hat Samter !) eine sehr dankenswerte Übersicht über das Areal und die Maximaltiefe von 191 märkischen Seen gegeben, welche zugleich auch den Maßstab der vor- ') Märkische Seen in Areal und Maximaltiefe. Mitt. d. Fischereiver. f. d. Prov. Brandenburg, 1908/09, H. 6. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 59 handenen Tiefenkarten angibt: ein weiteres Verzeichnis soll seit Jahr und Tag im Archiv der Seenabteilung der kgl. preuß. Geol. Landesanstalt ver- graben liegen. Danach ist der tiefste märkische See der unweit der mecklen- burgischen Grenze gelegene Große Stechlinsee (645 m), der wahrschein- lich in der Reihe der tiefen Seen Norddeutschlands die vierte Stelle ein- nimmt (Ss. S. 65). Neuerdings hat Samter auch eine Anzahl märkischer Seen im östlichen Teil dieser Provinz kurz monographisch bearbeitet). darunter auch den Großen Mohriner See und den Schermützelsee. Letzterer sollte nach Girard?) nur 200 Schritte von dem Fischerhäuschen nahe seinem Nordende eine Tiefe von 142'’—= 446 m erreichen, eine An- gabe. welche auch Wahnschaffe sich zu eigen gemacht hatte.°) Samter hat aber gefunden, daß die „genauen Messungen“ Girards eben keine genauen gewesen sind, sondern ungenaue, denn er fand an der gleichen Stelle nur 36 m. wie seine im Maßstab 1: 10.000 gehaltene Tiefenkarte zeigt. Im Mohriner See fand er, gleich dem Referenten +); als Maximaltiefe 585 m: im einzelnen weicht seine Tiefenkarte an manchen Stellen nicht unerheblich von der meinigen ab, was wohl in der Hauptsache damit zusammenhängt. dal) Samter erheblich mehr Lotungen unternahm und sie vom Eis aus ausführen konnte. Übrigens bildet gerade dieser See ein vor- treftliches Beispiel dafür, dab das Wasser die Formen der Erdoberfläche konserviert. denn sein äußerst verwickeltes Bodenrelief kontrastiert gewaltig mit dem überwiegend dem „Sande“ angehörigen festen Land, das ihn um- sibt und größerer Unebenheiten fast völlig entbehrt. Ich halte den See für einen Grundmoränensee, in weichem die nur einen geringen Umfang einnehmenden kolkartigen Vertiefungen durch Evorsion entstanden sind, Die in seiner unmittelbaren Nähe vorbeiziehende Endmoräne ist quantitativ nur sehr schwach entwickelt. Der größte der von Samter aufgenommenen Seen ist der 686 ha grole Soldiner See, der aber nur eine Tiefe von 195 nm erreicht. Er liegt zwischen der geroßjen Endmoräne, die vom Mohriner See zum Berlincher See nach Osten zieht, und dem von Beyersdorf nach Lippehne verlaufenden Endmoränenbogen mitten in einer ausgesprochenen Grundmoränenland- schaft. Wie auch die zu den Blättern der nördlichen Neumark gehörigen Erläuterungen der geologischen Karte des Königreiches Preuljen in 1: 25.000 ausführen, kann man in dortiger Gegend zwei beinahe senkrecht aufeinander stehende Richtungen der Seenketten bemerken, nämlich eine nach NW. bis SO. und eine nach NO.—SW. gerichtete Anordnung, welche offenbar mit der Bewegungsrichtung zusammenhängen, in welcher das Inlandeis seinen ') Zehn märkische Seen. Beiträge zur Seenkunde, berausg. v. d. kgl. preuß. Geol. Landesanstalt, Teil III, 1. Abh. d. kgl. preuß. Geol. Landesanstalt, N.F., H. 57, 1912. ?) Die norddeutsche Ebene insbesondere zwischen Elbe und Weichsel. Berlin 1855. >) Die Lagerungsverhältnisse des Tertiärs und Quartärs der Gegend von Buckow. Jahrb. d. kgl. preuß. Geol. Landesanstalt für 1893. Berlin 1894. *) W. Halbfaß, Der Mohriner See in der Neumark. Globus, Bd.98, Nr.16, 1910. 60 W. Halbfaß. Rückzug aus den südlichen Gebieten bis zur neumärkischen Endmoräne vollzog. Die meisten der vortrefflich ausgeführten Karten Samters in 1:25.000 enthalten auch das umgebende Land, daneben sind von einigen Seen noch besondere Karten in 1:10.000 ohne die Umgebung gezeichnet. Wesentlich die gleichen natürlichen Verhältnisse treffen wir bei den vier Seen des Sternberger Ländchens an, welche Schütze!) bearbeitet hat. Lagowsee und Tschetschsee liegen in einer nordsüdlich gerich- teten. nach Süden zu sich allmählich verflachenden Schmelzwasserrinne, welche von der im Buchwald konstatierten Endmoräne ausging. und sind ausgesprochene Rinnenseen. Der Tschetschsee gehört zu den tiefsten Seen der Mark:und steht an Tiefe nur noch dem Großen Stechlinsee und dem (roßen Mohriner See (siehe oben) nach. Die tiefen Kessel in beiden Seen, wie in dem Großen und Kleinen Bechensee, schreibt Sch. in der Hauptsache der Evorsion des Schmelzwassers des Eises zu. Eine kleine monographische Bearbeitung erfuhren auch die Seen des Rhinluchs?), des letzten der Kultivierung noch harrenden Restes des großen Gewässers, das zu Ende der Diluvialzeit die Abflüsse der pommer- schen und der preußischen Seenplatte aufnahm und in der Richtung des jetzigen Elbestromes zur Nordsee führte Von ihm sind jetzt nur noch der Bützsee und der Kremmener See erhalten geblieben, beide flache Seen gehen der Verlandung entgegen, der Kremmerer See im verstärkten Maße, weil hier die Kalkabscheidung der Pflanzen aus dem Wasser wesent- lich übertroffen und verdeckt wird durch die Humusproduktion aus der reichen Pflanzenentwicklung. Sehr dankenswert sind die statistischen Zusammenstellungen der zu den einzelnen Küstenflüssen der Ostsee gehörigen Seen mit Angabe ihres Areals und Meereshöhe, welche sich in dem von der preußischen Landes- anstalt für (Gewässerkunde bearbeiten Werk .Deutsche Küstenflüsse“, Berlin 1911. finden. Relativ den größten Teil im Gebiet der Küstenflüsse nehmen die Seen im Gebiet der Schwentaine ein (11°/,), ihm folgt das- jenige der Leba (5°1°/,), wobei allerdings der Lebasee selbst eingerechnet ist. Über 1°/, des Sammelgebietes treffen auf Seen noch bei der Piasnitz (43), der Lupow (42), der Warnow (41), der Trave (2°6), der Uecker (25), der Eider (22), der Peene (2:1), der Passarge (2), der Stolpe (19), der Zarow (17), der Rega (14) und der Wipper (1'0°/,). Die zahlreichen Seen Mecklenburgs harren zumeist noch ihrer genaueren Erforschung. Seit dem zusammenfassenden Werk von Geinitz, „Die Seen, Moore und Flußläufe Mecklenburgs, Güstrow 1886“, ist insbeson- dere eine schöne Tiefenkarte des größten Sees des Landes, der Müritz in 1:50.000 mit Isohypsen im Abstand von je 21/, m auf Grund von un- ') Die vier schönsten Seen im Lande Sternberg. P. M., 1908, H. 8. ”) A. Seligo, Die Seen des Rhinluchs. Aus Deutscher Fischerei. Neudamm 1911. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 61 gefähr 3000 Lotungen veröffentlicht worden.) Da letztere sämtlich von Eis aus gemacht wurden, so ist die Karte besonders genau. Die größte Tiefe (30°5 m) ist ganz im Norden, nahe der Stadt Waren, die mittlere Tiefe ist nur 65 m, daher wird sein Volumen z. B. von dem des mal so kleinen Madüsees übertroffen. @einitz bezeichnet die Müritz als eine Kombination von Rinnen- und Grundwassermoränensee. Inwieweit schon vor der Eiszeit etwa vorhandene Querbrüche in dem herzynisch streichenden Kreidegebirge bei der Gestaltung des Beckens mitgewirkt haben, bleibt eimstweilen noch zweifelhaft. Geinitz gab auch eine Tiefenkarte des Gonventersees bei Doberan heraus?), der nur im nördlichen Teil 1 m Tiefe erreicht, sonst aber weit flacher ist. Aus der Mächtigkeit seiner Alluvialmassen (Karte in 1:25.000) ergibt sich, daß in seiner Gegend das Land zu Beginn der Alluvialzeit mindestens 20 m höher gelegen haben muß als jetzt. Der sowohl zu Mecklenburg-Strelitz wie zu Lauenburg gehörige Schaalsee hat durch die Preuß. geol. Landesanstalt eine neue Auslotung erfahren’). welche gegen die frühere Karte von Peltz, welche in dem oben erwähnten Buch von @Geinitz veröffentlicht worden ist, ziemlich erhebliche Differenzen aufweist. Die ausführliche Beschreibung dieser Gegend ist, wie unten erwähnt, noch nicht erschienen. Bartling berichtet in den Erläute- rungen zu Blatt Seedorf (S. Böff.), dab einzelne Teile dieses Sees das Ge- präge eines Grundmoränensees bewahrt haben, wie z. B. der Bernstorfer Binnensee, der Lassahnersee, Borgsee, Techinersee, Kirchensee, dal) aber unmittelbar daneben das Schmelzwasser des Diluvialeises eine tiefe zu- sammenhängende Rinne gegraben habe, die vom Nordende des Niendorfer Binnensees zwischen dem Kampenwerder und Großen Zecher hindurch, an der Techiner Halbinsel vorbei bis zu seinem Südende reicht und auch jene große Tiefen enthält, welche in Norddeutschland nur noch im Dratzigsee (um 11 »») übertroffen werden. Auch Bärtling führt diese steilrandigen Kessel auf Evorsionen zurück. Am Ufer des Schaalsees lassen sich an ver- schiedenen Stellen Spuren ehemaliger höherer Wasserstände in Form von Strandterrassen und alten Wasserabsätzen erkennen. Die älteste liegt durch- schnittlich 12 »» über seinem heutigen Wasserspiegel und ist am deutlich- sten am nördlichen Ufer des Salemer Sees bei Dargow und westlich vom Gute Bresahn ausgeprägt. Die nächstjüngere Terrasse liegt 7 m über dem Seespiegel und tritt meist da deutlich auf, wo die ältere fehlt. Endlich ist auch noch eine 11/,—2 m über dem See befindliche Terrasse, welche sich gegen seine Alluvionen deutlich absetzt, besonders gut auf dem Werder von Grob-Zecher entwickelt. während sie sich sonst nur unbedeutend ab- hebt. Zu den reinen Evorsionsseen rechnet Bartling auch den nur 300 in breiten, aber bis 23 m tiefen Garrensee und den Plötschersee, während !) W. Peltz und E. Geinitz, Begleitworte zur Tiefenkarte der Müritz. Archiv der Freunde der Naturgeschichte in Mecklenburg 1906, Bd. 60. ?) Mitt. der Grh. Mecklenburgischen Geol. Landesanstalt, IX. Rostock 1898. >) Blätter Seedorf und Zarrentin der Geologischen Landesaufnahme, Lieferung 140. Berlin 1907. 52 W. Halbfaß. die meisten Seen der (Gegend Mischformen darstellen. Dröscher hat gele- gentlich seiner fischereiwirtschaftlichen Untersuchungen auch diesen See berücksichtigt), leider ohne Kenntnis der eben erwähnten Neuaufnahme. Auch er ist wie Ule der Ansicht, daß er in der Hauptsache durch Grund- wasser gespeist wird, seine Hochwasserstände sind in den Monaten Februar bis Mai, hinken also den Niederschlägen in seinem Einzugsgebiet um 5—8 Monate nach. Die neuesten Landeskunden über Mecklenburg von Geinitz, le und Schwarz liefern zur Seekunde des Landes keine neuen Beiträge. In dem an Mecklenburg-Strelitz grenzenden Gebiet der Hansastadt Lübeck befindet sich die stärkste Kryptodepression, die man bis jetzt in Deutsch- land kennt, es ist der von Halbfaß?) ausgelotete Hemmelsdorfer See, welcher in seinem südlichen Teile bis 44 m unter den Spiegel der Ostsee reicht. Das Ergebnis seiner Lotungen, die er in einer Karte 1:12.500 niedergelegt hat, stimmt ziemlich genau mit derjenigen überein. welche aut Veranlassung Napoleon I. 1815 publiziert wurde. Verf. ist mit Gagel der Ansicht, daß der See eine noch ungelöste Föhrde ist. deren Tiefen- verhältnisse komplizierter geblieben sind als diejenigen der Föhrden an der Ostküste von Schleswig, welche schon seit langer Zeit mit dem Meer in unmittelbarer Verbindung gestanden haben. Halbfa/ hat auch den Selen- tersee, den zweitgrößten See Ostholsteins, näher untersucht), er ist keine Kryptodepression, wie man bisher annahm, sondern die tiefste Stelle seines Bodens befindet sich noch 3 m über dem Spiegel der Ostsee. Seine Boden- konfiguration ist trotz der Einfachheit seiner Ufer ziemlich kompliziert, die dem Südufer vorgelagerte Endmoräne, deren charakteristischer Kulmi- nationspunkt der Petersberg und eine von der Blomenburg eekrönte Hü- geleruppe sind, stempelt ihn zu einem Endmoränenstausee, die man, wenn auch nicht übermäßig zahlreich, so doch in allen Teilen des baltischen Höhenrückens trifft. Grundwasserspeisung ist auch bei diesem See sehr wahrscheinlich. Die Seen des Eidergebietes hat Wegemann gemeinsam mit Scheer aufgenommen) und hat bei dieser Gelegenheit, was vorauszusehen war, eine ganze Anzahl (16) von Kryptodepressionen konstatiert, welche zu- sammen ein Areal von 18'2 km?, also fast die Hälfte aller Seen des Eider- gebietes (40 km?) einnehmen. Die stärkste Depression findet sich im Flemhuder See, dessen Boden 22 m unter den Meeresspiegel reicht. Die Zahl der Lotungen ist namentlich bei den 1886 vom Kanalamt erfolgten Vermessungen und den Neuvermessungen nach Beendigung des Kanals im Jahre 1897 eine außerordentlich große. Durch den Kanalbau einerseits, durch künstliches Senken und durch Zuwachsen andrerseits sind eine ') Der Schaalsee und seine fischereiwirtschaftliche Nutzung. Zeitschrift für Fischerei, XIII, Heft 3—4. ?) Der Hemmelsdorfer See bei Lübeck. Mitt. der Geogr. Ges. Lübeck, 2. Reihe, Heft 24, 1910. *, Der Selentersee in Ostholstein. Globus, Bd. 96. Nr. 3, 1909. ‘) Die Seen des Eidergebietes. P. M. 1912, Aprilheft, Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 65 größere Zahl stark verkleinert worden, andere ganz verschwunden; infolge der Erweiterung des Kanals werden noch mehr Seen verschwinden bzw. in ihrem Umfang verkleinert werden. Die meisten noch vorhandenen Seen gehören alten Abflußlinien an und stellen Endmoränenseen dar, der Both- kamper und der Flemhuder See werden als Endmoränenstauseen aufgefaßt. Der sogenannte „Haderslebener Damm“ bei der Stadt gleichen Namens ist nach demselben Verfasser (Litt.-Beilage zur Schleswigschen Grenzpost, Hadersleben 1912) ein um 2 m aufgestauter alter Landsee, der von etwa 220 ha auf 300 ha vergrößert wurde und auch vor dem AÄufstau schon eine Tiefe von mehreren Metern besessen hat, ohne daf) irgendwo eine Furt vorhanden gewesen wäre. Von den seenkundlichen Arbeiten neuerer Zeit, welche Pommern be- treffen, behandelt diejenige von Bellmer!) die wichtigsten Seen und Sölle Neu-Vorpommerns und Rügens. Im Südostwinkel Neu-Vorpommerns findet sich zwischen Anklam und Wolgast eine Gruppe von 20 Seen, von denen der Berliner See bei Buggenhagen der tiefste ist (15 m). Von den Seen auf Rügen sind 5 Produkte der früheren Vereisung des Landes, die übrigen sind Strandseen. Der bekannte Herthasee ist nur 2 ha groß, wird aber 11 m tief und ist der letzte Rest einer zum größten Teil schon vermoorten Senke, welche durch die Tektonik des Untergrundes bedingt ist, also kein Erdfall. Mittelst Peilstangen hat Bellmer noch die Tiefe von 26 Söllen ermittelt, von denen nur 2 ihre ursprüng- liche Bodenfiguration behalten haben. Das nur 50 m lange und 28 m breite Söll bei Hohenmühl erreicht die ansehnliche Tiefe von 7 m, die übrigen eine solche von 2—4 m. Die Frage nach der Entstehung der Sölle lehnt der Verfasser aus Mangel an hinreichendem Vermessungs- und Beobachtungsmaterial ab. Von 9 Seen liegen Tiefenkarten und Profile in verschiedenem Maßstab vor. außerdem noch von 2 Söllen Profile in 1: 1000. Von dem größten pommerschen Binnensee, dem Madüsee, liegt eine neue von Samter in 1: 25.000 entworfene Tiefenkarte vor?), welche die- jenige ven Halbfaß in 1:50.0003) glücklich ergänzt. Er hat auch die alten Uferlinien des Sees genauer verfolgt und festgestellt, daß der Wasser- stand am Ende der Glazialzeit etwa 10 m höher war als heute. Da er zur Zeit der Gründung des Klosters zu Colbatz (1170) etwa 1 m tiefer war wie jetzt, und noch früher, zur Zeit der neolithischen Pfahlbauten, die namentlich am benachbarten Plönersee gut erhalten gewesen sind, etwa der gleiche wie heute war, so sind Klimaschwankungen in diesem Gebiete deutlich zu erkennen. !, Jahresber. d. Geogr. Ges. Greifswald, Bd. X, 1906. ®) M. Samter, Der Madüsee. Beiträge zur Fauna des Madüsees in Pommern. III. Mitt. Arch. f. Naturgesch., 71. Jahrg... Bd. I, H. 3, Berlin 1909. 3) Beiträge zur Kenntnis der Pommerschen Seen. P. M., Ergänzungsh. 136, 1901. 64 W.Halbfaß. Die geologischen Aufnahmen dieser Gegend (Blatt Kublank und Wer- ben. Liet. 149 und 165 der geologischen Karte des Königreiches Preußen, Erläuterungen von Wunstorf) haben ergeben, daß der See erst zu Ende des Alluviums zu der Höhe anstieg, die er besaß, ehe Friedrich der Große 1770 die Senkung vornahm, denn es sind bei Moritzfelde Reste mensch- licher Ansiedlungen der jüngeren Steinzeit in einem Gebiet gefunden worden, welches um 1770 noch vollkommen sumpfig gewesen sein muß, und andrer- seits findet man an dem Südwestufer des Sees häufig Reste mächtiger Eichenstämme als deutliche Anzeichen einer ehemaligen Waldbedeckung, die gleichfalls nicht 1—2 m tief im Wasser gestanden haben kann. Ich hatte in meiner oben erwähnten Arbeit die Hypothese aufge- stellt. daß zur Alluvialzeit der See durch die Ihna entwässert worden sei; die neuesten geologischen Aufnahmen haben aber gezeigt, dal an keiner Stelle eine alluviale Verbindung zwischen dem Randalluvium des Sees und den flachen Alluvialflächen, welche sich in nördlicher Richtung zu einem Nebental der Ihna zusammenschließen, bestanden haben kann. Samter ist der Ansicht, daß das Becken des Sees bereits im Tertiär vorgebildet war und während der Glazialzeit im ganzen nur unwesentlich verändert wurde. Wenn er aber die den See bei Mittelwasser um 04. 09 und 2:4 m überragenden Terrassen mit der Yoldiaepoche-und den Haffstauseeterrassen Keilhacks in Verbindung bringt, so hat F. W. Paul Lehmann!) sehr richtig darauf hingewiesen, daß sie mit jener Zeit nichts zu tun haben, sondern die Wahrzeichen des Wasserstandes sind, den der See vor den Regulie- rungsarbeiten unter Friedrich dem Großen besaß: auch die von Samter „Steinpackungen“ genannten Steinanhäufungen am Südende von Werben (s. Abb. a. a. O., S.9) sind gar keine natürlichen Packungen, sondern von den Bewohnern Werbens künstlich zusammengetragen zum Schutz gegen die Wellen des Sees, der damals bis an jene Anhöhe heranreichte. Von großem Interesse, auch vom geographischen Standpunkt aus, sind Samters und Weltners Untersuchungen über die eigenartige Reliktenfauna des Sees.?2) Die im Madüsee lebenden Ostseerelikten Mysis relicta, Palla- siella quadrispinosa und Pontoporeia affınis sowie die ihm eigentümlichen Maräne, Coregonus maraena, beweisen nur, dab eine alte Fauna mit eiszeit- lichen Lebenserscheinungen im See ihre Existenz finden kann, sind aber kein Beweis dafür, dal er ein Reliktensee in dem Sinne eines abge- schnürten ehemaligen Tales eines noch vorhandenen Ozeans gewesen sei. Vielmehr wurden die genannten Tierformen im Verlauf der Spät- und Postglazialzeit im Ancyelusbecken aus moränen Eisformen zu Süßwasser- formen umgebildet,. welche im Madüsee ihnen zusagende Lebensbedingungen fanden. weil er zu den verschwindend wenig Seen Norddeutschlands ge- ') Das Alter der Madüsee-Terrassen. Monatsber. der Deutschen Geol. Ges., Bd. 63, Jahrg. 1911, Nr. 1. ?) Zool. Anz., Bd. XXIII, Nr. 631, 1900; Bd. XXV, Nr. 666, 1902; Bd. XXVII, Nr. 22, 1904; Arch. f. Naturgesch., 71. Jahrg., 1. Bd., 2. u. 3. H., 1905. Abhandl. d. Kgl. preuß. Akad. d. Wissenseh., Berlin 1905. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 65 hört, die die Mitte zwischen den kalten alpinen Gebirgsseen oder den kalten Seen des hohen Nordens und den flacheren, schnell aufgewärmten Seen Mitteleuropas halten. Sehr wahrscheinlich ist er sogar der einzige See dieser Art, den unsere baltische Seenzone besitzt. Ohne Zweifel war der Madü ein Teil der Ostsee zur Ancycluszeit, die aber damals selbst ein Reliktenbecken war, folglich kann man nach dem allgemeinen Sprachge- brauch den Madüsee nicht als Reliktensee bezeichnen. Halbfaß hat als Nachtrag zu seiner größeren Arbeit über die Pom- merschen Seen (siehe oben) weitere Beiträge erscheinen lassen), welche eine Anzahl Seen in den Kreisen Lauenburg, Bülow und Schlawe betreffen und teils zur Wipper und Brahe abwässern, teils abflußlos geworden sind. Der größte von ihnen ist der Chottschower See (150 ha) mit einer größten Tiefe von 13 m, der Große Luggewiesersee (155 ha groß und 15 m tief) und der Deepersee (148 ha groß, 22 m tief); die größten Tiefen erreichen der Piaschensee und der Schwarze See (Kreis Lauenburg) mit je 24 m. Die Provinz Posen, deren Seen bisher von allen Seen der baltischen Zone am unbekanntesten geblieben waren, hat an Schätze?) einen sehr eifrigen und gewissenhaften Bearbeiter gefunden. Nachdem er die Kol- marer Seengruppe, den Schwersetzersee bei Posen, den Malitschsee bei Premessen, die Ilgederseen bei Fraustadt, den Gurka- und Kessel- see zwischen Warthe- und Obrabruch, endlich die Ketscherseengruppe bei Posen untersucht und Tiefenkarten in 1: 25.000 entworfen hatte, hat er in einer besonderen Arbeit?) die Seen der Provinz nach den Flußge- bieten, Höhenstufen, Tiefen und Arealen zusammengefalit und sodann eine tabellarische Übersicht gegeben, welche 502 Seen über je 10 ha Größe umfaßt, die sich über die Provinz sehr ungleich verteilen. Der größte von ihnen ist der zu einem guten Teile zu Rußland gehörige Goplosee mit 365 km?, über welchen Schätzes jüngste Publikation in P. M., 1912, Juli- heit, handelt. In seinem preußischen Anteile erreicht er eine Maximaltiefe von 157 m; es ist nicht wahrscheinlich, dal er in dem zu Rußland ge- hörigen Anteil größere Tiefen erreicht, seine mittlere Tiefe ist vermutlich 4—5 m. Leider konnten in dem russischen Teile nur wenige Lotungen semacht werden. Er stellt eine in geologisch noch sehr junger Zeit erloschene Bifurkationsstelle zwischen Warthe und Netze dar und ist in seinem Nordteil nur ganz flach in die kujawische Geschiebemergelhochfläche eingesenkt, während die Endmoränenlandschaft noch über sein Südende hinausgeht. Die aufgeführten Seen (zusammen 372 km?) nehmen 1'28°/, der ganzen Provinz ein. Die Gesamtfläche stehender Gewässer in Posen, darunter also auch die Seen unter 10 ha zu rechnen sind, nehmen nach PB. M.. 1904, H. XI. ?) Aus dem Posener Land. 1909, Zeitschr. d. Naturw. Abt. in Posen, XV, 3/4, 1908 und XVL 1/5, 1909. P-M. 1909, H..V. 3) Die Seen der Provinz Posen nach ihrer Verteilung und Größe. Abh. d. Kgl. Preuß. Geol. Landesanstalt, N. F., H. 5, Berlin 1909. E. Abderhalden, Fortschritte. VII. 5 66 w. Halbfaß. Schütze 390 /m® ein; nach den „Ergebnissen der Grund- und Gebäude- steuerveranlagung” (in welchem Jahre?) soll die gesamte Wasserbedeckung der Provinz 57049 km? einnehmen, es müßten also 190 km? auf die Flüsse und kleinsten Tümpel kommen, was ganz ausgeschlossen ist, da das Areal der beiden Hauptflüsse Warthe und Netze nach reichlicher Schätzung sich nur auf 31 Am? beläuft. Wenn man nun auch einen Teil der Differenz auf Ungenauigkeiten jener Katasteranlagen zurückführen mag, so unter- liegt es doch keinem Zweifel, daß die Gewässer der Provinz Posen seitdem eine ganz beträchtliche Verminderung durch Ablassungen, Meliorationen usw. erlitten haben müssen. Nach Flußgebieten verteilt, kommen 116 Seen auf das Obra-, 128 auf das Warthe- und 156 auf das Netzegebiet. Entsprechend der mittleren Höhe der Provinz, welche Schütze auf 76 m berechnet hat. liegt ein starkes Viertel der Seen in der Höhenlage von T0—80 m, der höchst- velegene ist ein kleiner See im Kreise Ostrowo (1377 m). Die erößte Tiefe scheint nach den bisherigen Erfahrungen der Popielewoersee im Kreise Mogilno (50°5 m) zu besitzen. In einer späteren Arbeit!) bespricht Schätze auch die Entstehung der Posener Seen, welche eine sehr mannigfaltige ist. Besonders zahlreich ist der Typus der End- moränenseen vertreten, wozu vor allem die große Seengruppe am linken Ufer der unteren Warthe zwischen Birnbaum und Zirke, ein großer Teil der Seen auf der Südposener Hochfläche, die Seen im Winkel zwischen Warthe und Obra, endlich viele Seen in Nordposen gehören. Eine andere Klasse stellen die Endmoränenstauseen dar, z. B. der Stadtsee bei Kolmar, der Launersee bei Storchnest, der Bythinersee in der Mitte von Westposen. Sehr zahlreich sind auch die Seen vertreten, deren Entstehung als Schmelzwasserrinnen des abtauenden Eises zu erklären sind. Schätze?) hat neuerdings 2 typische Beispiele, den Strykowoer- und den Niepruszewoersee, ausgelotet, zwischen denen bei der Station Okusch die Berlin-Posener Bahn hindurchfahrt. Sie gehören zu (den größten Seen der Provinz, werden aber nur 45 bzw. 31m tief: die der Arbeit beigefügten Tiefenkarten in 1 :25.000 zeigen einen sehr gleich- förmigen Untergrund. Neben reinen Rinnenseen kommen auch Mischformen von solchen und Grundmoränenseen vor, während reine Grundmoränenseen nur selten auftreten. Schütze nennt den Kalischauersee im Kreise Wongrowitz, den Chrzypskosee im Kreise Birnbaum 3) und den Skor- zeneinersee im Kreise Witkowo. Auch die Äser geben nicht selten zur ’) Die Verbreitung und Entstehung der Posener Seen. Geogr. Zeitschr., Bd. 17, Heft 2, 1910. ®) Monatsblätter für Heimatkunde. Aus dem Posener Lande. Heft 4, Jahrgang 1912, Lissa. 3) Mit dieser Seengruppe hat sich auch Schild(}) in einer Arbeit „Zwischen Warthe und Obra“; Beilage zum Progr. des kgl. Gymnasiums zu Meseritz, Ostern 1906, beschäftigt, welche auch von einer Anzahl von Seen Skizzen von Tiefenkarten in :25.000 enthält. Schild hat noch später Seen in dieser Gegend ausgelotet. Leider liegt sein gesamtes Material schon Jahr und Tag im Archiv für Seenkunde der kgl. Preuß. Geol. Landesanstalt unbenutzt vergraben. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 67 Bildung von Seen Veranlassung, z. B. bei Otusch, westlich der Stadt Posen, und bei Seehorst. Eine ganz eigenartige Kategorie von Seen fabt Schütze unter den Namen: Dünenseen zusammen, welche zwischen Wolstein und der unteren Obra liegen, also nicht mehr in dem klassischen Dünengebiet des Zwischenstromlandes. Er glaubt, daß diese Seen zwar zunächst durch abschmelzende Wassermassen entstanden sind, dann aber in ihrer Form durch die Dünenbildung beeinflußt worden sind. Am schönsten soll diese Bildung am Klossowskisee zu erkennen sein. Nach ihm spricht ihr Vorhandensein gegen die Annahme eines großen Stausees. welcher einst Warthe und Netze mit den Sandmassen zuschüttete, aus welchen dann die Winde später die Dünen des Zwischenstromlandes aufbauten. Sölle finden sich am meisten in der Umgebung von Krotoschin auf der Südposener Hochfläche, und zwar hier in ungeheurer Zahl. Ihre Existenz läßt darauf schließen, daß der Süden der Provinz von jeher seenärmer als die Nord- hälfte gewesen sein muß, denn sonst hätten sich die größeren Seebecken erst recht erhalten müssen. Auffällig findet es Schätze, dab die Sölle in der genannten Gegend im waldbedeckten Gelände nicht auftreten und ist geneigt anzunehmen, daß die Hand des Menschen bei der Herstellung dieser kleinen Hohlformen eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hat. Eine besondere Art von Rinnenseen in Posen sind an eine Drumlin- landschaft geknüpft, welche sich südöstlich von der Provinzialhauptstadt von Kurnik bis Santomischl erstreckt und ein Gebiet von ca. 265 km? umfaßt. Nach E&. Werth!) stellen sie besonders tiefe und breite Senken in derselben dar und liefern den Beweis dafür, daß auch die Drumlins im wesentlichen durch subglaziale Erosionen herausgebildet sein müssen. Die seenreichen Provinzen Ost- und Westpreußen mögen den Be- schluß dieses Teiles unserer limnologischen Übersicht bilden. Seit der um- fangreichen Arbeit von Braun über die Ostpreußischen Seen (Königsberger Doktordiss. 1903) hat derselbe Autor (jetzt Professor der Geographie in Basel) zunächst in den Berichten des Fischereivereines für die Provinz Ostpreußen (1903/4, Nr. 4, 1904/5, Nr. 1 und 1905/6, Nr. 6) Tiefenkarten in 1 : 25.000 des Okull- und des Kortsees bei Allenstein, der Legienerseen in West- masuren, des Debrongsees im Kreise Allenstein und des Tiefensees in den Trunzer Bergen (Kreis Heiligenbeil) gegeben, denen sich meist eine kurze Beschreibung und Erklärungsversuche ihrer Entstehung anschließen. Von den beiden erstgenannten Seen finden sich auch Tiefenkarten in P. M. 1903, Heft XI, in denen auch das umliegende Gelände vortrefflich dargestellt ist. Beide Seen sind Grundmoränenseen, während der in P.M. 1903, Heft III beschriebene Schillingsee den Typus eines Rinnensees in besonders schöner Form darstellt. Eine bei uns nur unter besonders günstigen Verhältnissen vorkommende Eiswirkung an Seeufern hat Braun ?) 1) Eine Drumlinlandschaft und Rinnenseen südöstlich von Posen. Monatsbericht der deutschen Geol. Ges., Bd. 61, Nr. 6, Berlin 1909. 2) Eiswirkung an Seeufern. Schriften der Physik.-Ökon. Ges. zu Königsberg. Jahr- gang 47, 1906. r- 5*# t 68 W. Halbfaß, im Januar 1906 am Nordufer des Löwentin beobachten und photographisch festhalten können. Bilden sich bei starkem Frost ohne erheblichen Schnee- fall zahlreiche breite Sprünge, die später wieder zusammenfrieren, so dehnt sich bei plötzlich eintretender Temperaturzunahme das Eis schnell aus und baut längs einem flachen Ufer Strandwälle auf, welche durch An- häufung und Aufschiebung des Ufersandes zustande kommen. Der Wall erreichte an einer Stelle eine Höhe von 15m. Braun bringt in dieser Arbeit und in einem Nachtrag dazu die Literatur über diesen Vorgang zusammen, der besonders häufig an den Seen Nordamerikas beobachtet werden konnte. Den tiefsten See der Provinz hat Halbfaß') in dem Wuchsnigsee im Kreise Mohrungen unweit des Nariensees gefunden. Seine Tiefenkarte zeigt in einem relativ kleinen Gebiet des Südteiles eine kolkartige Vertiefung, welche bis 64 m unter dem Wasserspiegel herab- geht und nach ihm auf Erosion der Abflüsse des Gletscherwassers zurück- zuführen ist. Unter den norddeutschen Seen gebührt diesem See, was die absolute Tiefe anbetrifft, die 3. Stelle nach dem Dratzigsee (83 m) und dem Schaalsee (715 ;»). Ihm folgen dann der Große Stechlinsee (645 m) und der Große Plönersee (605 m). Andere Seen über 60 m Tiefe sind mir in Norddeutschland nicht bekannt. In bezug auf die mittlere Tiefe steht immer noch der Arendsee in der Altmark (297 m) an der Spitze. Seitdem Braun sich anderen Spezialgebieten zugewandt hat, wäre die Seenkunde in Ostpreußen verwaist geblieben, hätten nicht die Geologen der kgl. Preuß. Geol. Landesanstalt sich bemüht, diese Lücke in ihren letzten Publikationen auszufüllen. Sie haben zwischen Lötzen und Angerburg einen diluvialen Ur- Mauersee ?) festgestellt, welchen im Süden Endmoränen. im Norden aber der Eisrand selbst aufgestaut hat, während er im Osten und Westen meist von Geschiebemergelflächen eingefaßt wird. Die Höhe dieses Sees, dessen Spuren sich z. T. in sehr schön ausgebildeten Terrassen von Sand- und Tonablagerungen, z. B. als alte Strandlinien, im Diluvialplateau er- halten haben, hat eine Meereshöhe von etwa 132 m besessen, während der Wasserspiegel der jetzt noch vorhandenen Seen dieses Gebietes, die nur als kümmerliche Reste jenes alten Glazialsees aufzufassen sind, etwa 15 m tiefer liegt. Bei dieser Gelegenheit wurde konstatiert, daß die größte Tiefe des Löwentin gerade vor dem alten Gletschertor liegt, welches durch die Lücken der Endmoräne bei Lötzen festgelegt wurde, während die größte Tiefe des Kissainsees ebenfalls vor einer solchen Lücke liegt und die größte Tiefe im Mauersee einer Rinne entspricht, welche aus dem Pri- staniersee herauskommt. Außer diesem großen glazialen Mauersee war ') Der tiefste See Östpreußens. Mit einer Karte in 1:25.000. Globus, Bd. 86, Nr. 11, 1904. ®) Übersichtskarte des Mauerseegebietes in jungdiluvialer Zeit in 1:100.000. 1904. Erläuterungen zur geologischen Karte von Preußen. Gradabteil. 19, Blatt 51—58. Ber- lin 1905. Berichte über die wissenschaftlichen Ergebnisse der Aufnahmsarbeiten von Gagel, Kaunhoren, P. G. Krause und Klautzsch in den Jahrbüchern der königl. preuß. reol. Landesanstalt. 1898 — 1900. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. 69 aber in etwas jüngerer Zeit noch ein zweites, etwas kleineres, Staubecken vorhanden gewesen, das sich nordöstlich von Angerburg befand, das Ska- lische Becken, dessen Diluvialterrassen sich etwa 10 m über seinen tiefsten Punkt erheben. Die Seen der zur Lieferung 133 der Geologischen Karte des Königreiches Preußens usw. gehörigen Blätter Sensburg, Sorquitten, Aweyden und Ribben hat der Kulturtechniker der Landesanstalt, Dr. Th. Wölfer ausgelotet und das Ergebnis seiner Lotungen in Tiefenkarten mit Isobathen in vertikalem Abstand von 5 m dargestellt. Eine Tiefe von über 40 m erreicht nur der 279 ha große Pillacker- oder Tluckensee (51'8 m), nahezu 40 m tief wird der 129 ha große Czoossee. Verhältnismäßig sehr gering ist die mittlere Tiefe aller Seen, die selbst beim Pillackersee nur 145 m beträgt. Ihrer Entstehung nach sind fast alle Seen Grundmoränen- seen von einfacher oder zusammengesetzter Beckenform. Die Schlammbildungen erreichen in ruhigen Buchten einzelner Seen eine Mächtigkeit von 1265 m (!). Nach der Beschaffenheit ihres Wassers unterscheidet Wölfer Humus-, Ton- und Kalkseen, zu welchen letzteren die tieferen Seen, wie der Pillacker- und der große Aweydersee, gehören. Die Seen Westpreußens sind die Domäne des verdienstvollen Ge- schäftsführers des westpreußischen Fischereivereines, Dr. A. Seligo, während die in Bildung begriffene Seenkommission des westpreußischen Botanisch- Zoologischen Vereins bisher noch keine Arbeiten gezeitigt hat. In den Mit- teilungen des westpreußischen Fischereivereins (Bd. XIV, Nr. 2, XV, Nr. 1 und 3 u. XXI) gibt er ganz kurze Beschreibungen von 78 Seen, denen im letztgenannten Hefte für einige von ihnen Tiefenkarten in verschiede- nem Maßstab beigefügt sind, die aber nur den Charakter von Skizzen tragen. Eine große Zahl ausgearbeiteter Tiefenkarten befindet sich im Manuskript im Archiv des westpreußischen Fischereivereins, Kopien davon sind der königlich geologischen Landesanstalt überwiesen worden, welche dieselben in ihren geologischen Karten zu verwerten beabsichtigt, was na- türlich längere Zeit dauern kann. Auf Grund dieser Karten, deren Exakt- heit ich nicht kontrollieren kann), hat Seligo einmal in den „Beiträgen zur Landeskunde Westpreußens, Festschrift zum 15. Deutschen Geogra- phentag, Danzig 1905“ und sodann in den „Schriften der naturforschenden Gesellschaft zu Danzig 1906“ eine Reihe morphometrischer und sonstiger Angaben gemacht, denen wir folgende Daten entnehmen. Es gibt 1856 Seen, welche mindestens 2 ha groß sind, sie nehmen ein Areal von 59.689 ha ein; 1372 Seen mit 41.741 ha Fläche kommen auf den westpreußischen Teil der Pommerschen Seenplatte, während der Rest auf die Seen östlich der Weichsel entfällt. Von letzteren sind 84 Seen über 50 ha groß aus- schließlich des nicht in der Seenplatte liegenden Drausensees. Ein Ver- gleich mit der Seenentwicklung in Ostpreußen auf Grund der Zahlen von Braun und Bludau ergibt, dal) die Seen in beiden Provinzen annähernd ') Leider verschmäht S. noch immer die Verwendung einer Lotmaschine und beschränkt sich auf Benützung einer Hanfleine, zumeist nicht zum Vorteil seiner oft so mühsamen und sehr dankenswerten Messungen. 70 W.Halbfaß,. gleich verteilt sind. wenn auch das Gesamtareal der stehenden Gewässer in Ostpreußen dank den gewaltigen Flächen des Spirdingsee- und des Mauerseekomplexes erheblich größer ist. Die seenreichsten Kreise West- preußens sind Rosenberg (5'1°/,), Konitz (4'8°/o), Karthaus (47°/,) und Berent (3°8°/,), im Durchschnitt sind 2'3°/, der Provinz mit Seen bedeckt. Der bei weitem größte See Westpreußens ist der Geserichsee (3228 ha), welcher aber nur eine größte Tiefe von 12 m erreicht; der tiefste ist der Weitsee (DD m), welcher, obwohl er an Größe (1422 ha) auch hinter dem Drausensee und dem Zarnowitzersee zurücksteht, das größte Volumen (175 Mill. m®) besitzt. Außer den eigentlichen Seen kommen an kleineren stehenden Gewässern, von 5. Pfuhle genannt, noch etwa 6000 vor. Leider wird nicht bemerkt, in welchen Gegenden der Provinz sie am häufigsten auftreten. Auf die übrigen Ergebnisse der Untersuchungen Seligos werden wir im 5. Teil zurückkommen. Namensverzeichnis der behandelten Seen. Seite | Seite Seite Aachen . . . .832 | Bolsena . . . ..23 | Debrong . . . .67 Aeeeri. . . . .46 | Bothkamper . . .63 | Deeper. . . . ..65 Alleghe. . . . .44 | Bourget . . . .32 | Deglio. . . . .40 Alpnacher. . . . 31 | Brienzer . . . .48 | Devna “_ a. 2 Altaubeeer . 35 | Bugomirsko . . . 26 | Dhuloueh. . . .19 Ammer. .34 | Bukura . . . .30 | Drazig . . . .68 Amsoldinger . . .45 | Bütz . . .....60 | Draussen . . . .69 Ansen. . . ... 23 | Bythiner . . . .66 | Dulın. . ...1% Anna. St... ...30 | Cadaeno . . . „4 |Egl......4 Amecy . . ...532 | Caillaouas. . . .21 | Einziger . . . .43 Arend : : : x »68 | Caldera . ... »23|Enare. . u .. 98 Amar . » 2.2.16 | Campfer . . ...45 | Ensstien . . . „45 Artouste . . ...2L|CapdeLong. . .21 | Ericht. . ....18 Atter : 2 2 833 °| Caputher . . . „öS6 | Esrcm. . . >. 10 Aubert. . „21 |Cawiyd... . . .19 | Estm. ... 0.21 Aumar. > 22..21 Cepieh. . . . . 41 |) Faistenauer Hinter. 42 Aw... 2.00.18 | Gesky . =» « 229 | Fimon. ..0. 01 Aweyden, Gr. . .69 Chottschower . .65 | Flemhuder . . . 62 Balaton . . ...28 | Chrzypko . . . .66 | Formarin. . . .d4 Bandakvatn . . . 14 | Cinto . 2 2....22|Frasino . . . „87 Bechen. . . . .60 \ Cleneullin. . . .19 | Frickenhäuser . . 53 Berdenisch 8 ı Codilaeo . . . . 40 | Froschsee, Gr. . . 29 jerliner . .63 | Comer. . ...3 s Ki »r 2.2023 Bettaniela . - .22 Conventer. . ...61 Fure . ........47 Bieer . . . ...532 Coumishingann . .20 | Fuschl. . .....85 Bjeloe. . - - . 9 | Cremminer, Gr.. „55 | Garda. . .....92 Boden . . : » .31 | Czoos . . ...69 | Garen. . . . .61 e = Aral v Bologoje . . - » 9! Daniele. . . . .37 I! Gabe. . ...2 Genfer . (reserich (Giper Glanz (Glass Glienicker. Gluchoje Gmundner (oplo Gornje Blato . (rredos . (reifen Grimsel (Grün Grundl . Grunewald Gurka . Haderslebener Hald Halen Hallwiler Hauki Hechten Heiliger Hemmelsdorfer . Hertha. Heviz Hintersteiner Hinzen. Gr. Hirschberger Grob- teich Höp. Horma . Hornafvan Hornindals Hourtin Hrauns Hval Hvit Ilgeden Irr Irtiasch Iseo . Kämmerer, Gr. : Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. Seite ‚s2uol 0) via 5) „418 . 58 9 23 „65 . 26 25 an m wi ur SD » w- a | - n2 ” - Seite Kalischauer . 66 Karineken . 56 Kaspi Sl Kastel . . 41 Katrine 18 Keitele . A: Kekrimois-Uhlfeld . 2 Kessel . „65 Ketscher 65 Kilpis 6 Kissain . 68 Klöntaler . 46 Klossowski 67 Knauer 54 Kochel . 52 Kolmarer Stadt . 66 Königssee . 33, 02 Kort 261 Kremmener 58. 60 Krumme Lanke . 57 Küssnacher 31 Kyros > Lacanan 20 Ladoga Ö Lagarflyot = 16 Lago di al Lagow . 50 Längs 5 Lang 15 Launer.. 66 Lavagnone IR Legiener 67 Linewitz 56 Litvorovy . 29 Llydaw . 16 Lochy 15 Lojo 5 Lomond 18 Löwentin . 68 Lucendro . 44 Lübbe, Gr. 3) Luganer 5 Luggewieser, Gr. 65 Lukom]ja . fe) al Seite Lunzer . .41,49 Lüscher 8 Madü 0 Maeeiore (Korsika) 22 " (Italien) . 32 Mälaren 12 Maigomay . 10 Malitsch 68 Marano 2 Maree 18 Maria S. 58 Märjelen 49 Martin S. de Castaneda . 22 Mauer 68 Medveto 28 Meerauge . 29 Mezzola Al Miguelou | Mikla ri Millstätter 32 MjJösen . 14 Mohriner, Gr. . 59 Mondsee el Monte Rotondo . 32 Monticchio . 24 Montigeler . 44 Morav 18 Morto ale Müritz . . 60 Murter . D2 My 16 Nafovey 19 Näsi 5 Nedre 15 Ness \ 18 Neuenburger . 32, Neusiedler 29 Niepruszewoer 66 Nikolas 57 Nikratjövn 16 Nino 22 Nixen 1 Nurmo. 9 Ober Oden Oegel Oeschinen . Okull ()o Oredon . Oresjün . W.Halbfaß. Der gegenwärtige Stand der Seenforschung. Seite .46, Oriente, dell’. Orsa Urta Ossiacher . ()showo Ovrevand . Paana Padarn . Päijänne Peyrelade . Pflock Pfrill Piaschen Pillacker Plan Plitvicer Plötscher . Popielewoer Pristanier Punlavesi . Pyhä Racine . Raipal . Rannoch Riemeister Rikavac tom wuotsalainen . wppiner . Saadjärw Sacrower . Salma . Saltsjön Santa Croce . Säntiser Schaal Scharmützel . Schermützel Schilling ' Schlier. e Schönenboden Seite . 61 . 58 59 . 67 . 52 . 48 Schwarzer (Tatra) . 29 Schwarzer (Hinter- pommern) . Schwersetzer . Scuro Seeburger . Selenter Sella Sept Laux Shiel Sildviks Siljan Silser Silvaplana.. Skattungar Skorradals Skorzenciner . ' Snjoöldu Soiern . Soldiner Sorö Sovenigo Spankauscher Spullers Sseliger Stechliner, Gr. ' Storoman . Stor Strykowoer Swajitoje . Taneda Tappenkar Tav. Tegern . Thau Tiefen . Thingvalla . 69 . 69 | 44 Seite ‚ Tinn . 14 ' Tjustrup AR‘, Tlucken . 69 Tom . 44 Torne „al Trasimeno 24 Treig >18 Tremorgio . 44 Tschetsch . 60 Uruskul Ss Uweldy 8 Vesi A) Vessmann. . . ..12 Vierwaldstätter. . 31 Viti +36 Vizalena . 28 Voralp .. . 47 Walch . . 45 Walchen 52 Walen . . 49 Weit 0 ' Weißer. .32 Welikoje 9 Wenern 12 Werbellin . D8 Wesslinger dd Wettern ..12 Wielki . BE Wigorsch . fe) Wojm . . 10 Wolfgang . 38 Wörth . 53 Wörther Pr Y Wuchsnig . . 68 Würm . BY Yeguas, de las . 23 Zarnowitzer 70 Zelenv . . 29 Zetzin . 2); Zenoöga . I Zuger 31; 47, 49 Züricher 31, 34, 49 Zürscher 44 Vergleichende Neurologie und Psychologie. Von Dr. V. Franz, Frankfurt a. M. Unter vergleichender Psychologie versteht man die Psychologie der Tiere, doch wird der Inhalt dieses Begriffes sehr verschieden aufge- fabt. Einige unter den Tierpsychologen möchten in den sichtbaren Ver- richtungen der Tiere etwas von dem Innenleben der Tiere lesen, den Be- erift Psychologie also bei den Tieren ähnlich auffassen wie bei unseren Mitmenschen, und zwar entweder in der mehr populären Art, welche nur danach fragt. in welcher Weise man mit dem Tiere in Konnex treten gleichsam mit ihm verkehren kann, oder in mehr wissenschaftlicher analy- sierender Art. In beiden Fällen aber stößt man auf die zum Quell unend- licher Diskussionen werdende Schwierigkeit. daß das Innenleben anderer Wesen sich der unmittelbaren Beobachtung durch unsere „fünf Sinne“ entzieht, und daß wir Annahmen über dasjenige, was im „Innern“ der Tiere vorgeht, mit einiger Gewißheit vielleicht höchstens beim Hunde oder bei Affen gewinnen können. Eine andere Partei der Tierpsychologen, und zwar die in Forscher- kreisen zahlreicher vertretene, bilden die, welche „Psychologie ohne Psyche“ (Seelenkunde ohne Seele) treiben, in der klaren Erkenntnis, daß es, ganz strenge genommen, niemals möglich ist. zu entscheiden. was und ob über- haupt etwas zu irgend einem Zeitpunkte im Innern. im Bewußtsein eines Tieres vor sich geht. dab namentlich bei den kaltblütigen unter den Wirbeltieren und bei zahlreichen Wirbellosen — sagen wir einmal bei Seesternen — diese Frage kaum beantwortbar ist, wohl aber eine Gefahr für anthropomorphisierende (vermenschlichende) Annahmen bedeutet. Diese Forscher wollen also das „Verhalten“ der Tiere so objektiv wie mög- lich beschreiben, oder höchstens an die Beschreibung noch die „Er- klärung“ anfügen, welche stets eine rein mechanistische, eine rein phy- sikalische bzw. chemische sein muß, da auch den kompliziertesten psychi- schen Leistungen ein materielles Substrat nicht fehlen kann, und die Kette der rein physischen Kausalvorgänge in sich geschlossen sein mul. Wir werden es im folgenden mehr mit dieser zweiten Partei der Tierpsychologen halten, und speziell werden wir uns diesmal weniger für das Erklären, als für das einfachere Beschreiben des „Verhaltens“ der Tiere interessieren. — 74 V. Franz. Unter vergleichender Neurologie versteht man natürlich die vergleichende Anatomie des Nervensystems, speziell auch des Zentralnerven- systems. (es Gehirns. Wenn ich ein neues Wort hätte prägen wollen, so hätte ich diesen Aufsatz überschreiben können „Vergleichende Neuropsychologie“. Wir wollen uns im folgenden mit der Frage beschäftigen, inwieweit das psycho- logische Verhalten und der Bau des Gehirns bzw. Nervensystems bei den einzelnen Tieren in Beziehung zueinander gebracht werden kann. Damit haben wir unser Thema im Verhältnis zu dem. was man über Psychologie der Tiere überhaupt sagen kann, bereits be- trächtlich eingeengt, und das wird zweckmäßig sein. um nicht in der Fülle (des Stotfes zu ertrinken. Wir wollen uns auch nicht wesentlich mit der Sinnespsychologie der Tiere befassen, denn daß ein Tier, welches große. ut ausgebildete Augen hat, einerseits gut sieht. andrerseits im Gehirn auch mächtig entwickelte Endstätten der Sehnerven aufweist — diese und ähnliche Beziehungen zwischen den Organen und ihren Leistungen müsen für diesmal zurücktreten gegenüber der Frage nach den verschiedenen Stufen psychischer Tätigkeit im Verhältnis zum Baue des (rehirns resp. des Nervensystems. Unter den verschiedenen Stufen psychischer Tätigkeit kann man als die hauptsächlichsten vielleicht folgende nennen: Reflexe, Instinkte, Schaffen von Relationen, Assoziationen, Intellekt. Mir scheinen jedoch diese Stufen untereinander nicht gleich hoch, sondern zwischen Instinkten und dem „Schaffen von Relationen“, wie Edinger die einfachsten Stufen der Asso- ziationsbildung bezeichnen möchte, besteht ein wesentlicher Unterschied. Reflexe sind diejenigen Verrichtungen, welche in immer ganz konstanter Weise, so daß man also den Erfolg der Reizung sicher voraussehen kann, eintreten. Der dem Zentralnervensystem zugeführte Reiz wird bei ihnen gleichsam wie der Lichtstrahl an einem Spiegel reflektiert und trifft ein peripheres Organ des Körpers, einen Muskel oder eine Drüse, die er zu erhöhter Tätigkeit anregt. Instinkte sind nichts anderes als komplizierte Retlexe oder Ketten von Reflexen. Der größte Teil des komplizierten Lebensablaufes der Ameisen dürfte sich z.B. rein instinktiv abspielen, d.h. er besteht aus Schritt für Schritt aufeinander folgenden Reflexen. Ob die- selben von Bewußtsein begleitet sind oder nicht, diese Frage interessiert uns nach oben Gesagtem hier ebensowenig wie bei dem Assoziations- vermögen mit seinen verschiedenen Stufen, welche sich gegenüber dem reflektorischen und instinktiven Verhalten durch die Ausbildung neuer Leistungen im Leben des Individuums, seien es auch nur neuer Reflexe. also durch die Modifizierbarkeit des Verhaltens der Lebewesen aus- zeichnet. Ob also ein Tier imstande ist irgend etwas zu lernen, das ist eine Prinzipalfrage beim Beschreiben des Verhaltens der Tiere: ein Tier, welches etwas lernen kann. welches Erfahrungen „verwertet“, d.h. neue Verbindungen im Nervensystem herzustellen vermag, leistet grundsätzlich mehr als das maschinenmäbie immer im ausgetretenen Gleise arbeitende Vergleichende Neurologie und Psychologie. 15 Reflex- oder Instinkttier, Ja das einfachste Lernen ist von den eminentesten Verstandesleistungen nur graduell verschieden. Dabei ist jedoch das Lernen nicht mit der Übung zu verwechseln, welche nur in der größeren Be- schleunigung bereits vorgebildeter Gehirm- bzw. Nervensystemsvorgänge besteht. Beim Versuche, den Grad der psychischen Leistungen in der ange- deuteten Weise mit dem Ausbildungsgrade des Gehirns in Beziehung zu bringen, diesen aus jenem oder jenen durch diesen zu verstehen, werden wir sehen. daß dieses nur in überraschend geringem Grade möglich ist. Nene und zum Teil überraschende Gesichtspunkte ergeben sich ferner daraus, daß zurzeit immer klarer wird, daß, je weiter wir uns im Tier- reich vom Menschen entfernen. um so leichter wir dem Irrtum ausgesetzt sind, dal wir bei den Tieren einen zu geringen Grad der Kompliziert- heit des „Verhaltens“ annehmen, weil nämlich die Beobachtung in ent- sprechendem Maße erschwert ist, und man sie bei Tieren noch nie in gleichem Maße hat üben können wie beim Menschen, wo sie Sache des psychiatrischen Klinikers und außerdem Gegenstand unserer täglichen Be- schäftigung ist. Je weiter vom Menschen entfernt ein Tier in seiner Or- ganisation dasteht, um so leichter entgehen uns die kleineren schwieriger zu beobachtenden Einzelheiten in seinem Verhalten, um so eher laufen wir Gefahr, nur das Gröbste zu sehen: und so hat manche Tiergruppe lange in dem Rufe gestanden, lediglich reflektorische Handlungen vollbringen zu können, obwohl eingehende Beobachtungen schließlich beträchtlich mehr als bloß reflektorische Leistungen nachweisen konnten und in dieser Hin- sicht immer noch am ehesten Uberraschungen zu gewärtigen sind (siehe z. B. die unten folgenden Angaben über Amphibien und Fische). Die Mehr- zahl der Tiere ist in psychologischer Hinsicht nicht ganz so „nieder“, wie man es ihnen manchmal zugeschrieben hat. Es ist damit etwas Ähnliches, wie mit den körperlichen Merkmalen. Weit verbreitet ist die Vorstellung, daß der Mensch in seiner ganzen Organisation Endelied und Höhepunkt der Tierreihe darstelle, da ja die dem Menschen verwandtschaftlich entfernter stehenden Tiere in jeglicher Hinsicht einfacher organisiert seien. Dieses Urteil beruht großenteils nur darauf, daß man bei dem vorherrschenden Interesse, welches gegenüber den übrigen Lebewesen der Mensch aus praktischen Gründen verdient, den Bau der Tiere oft zunächst von dem Gesichtspunkte aus betrachtete, in- wieweit sie die Eigentümlichkeiten des Menschen auch haben. Natürlich. gehen ihnen so und so viele ab, und deswegen erscheinen sie „nieder“. Genaueres Zusehen, genaueres Eingehen auf die Eigenarten ihrer Organi- sation läßt aber bei den Tieren in der Regel eine Unzahl von Merkmalen erkennen, die dem Menschen fehlen, so daß die Frage, ob das betreffende Tier viel niedriger steht, unentscheidbar wird oder zu verneinen ist. Zu diesen Anschauungen, deren Überwindung gerade jetzt ihr erstes Stadium hinter sich hat, gehört die von der Entwicklung „von der Amöbe bis her- 76 V. Franz. auf zum Menschen“, die aufzugeben ist, ohne dal) man die Entwicklungs- lehre überhaupt aufgeben würde. Hierher gehört auch die Behauptung, daß der Mensch das größte und das windungsreichste Gehirn habe. was beides nicht zutrifft. Dieser hier nur kurz angedeutete Umschwung in unseren Anschaungen wird unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß ein Anthropologe, wie Klaatsch, sich zu dem Ausspruch herbeiläßt, der Mensch sei jetzt nicht mehr die Krone der Schöpfung, und dal ein Protistologe, wie (©. Clifford Dobell, die Ansicht verteidigt, die Protisten seien weder die einfachsten noch die Urlebewesen, sondern sie seien von ganz anderer Organisation als die mehrzelligen Tiere und Pflanzen. In gewissem Sinne kann man in der Tat dem alten Ehrenberg Recht geben, welcher die „Infusionstierchen als vollkommene Organismen“ bezeichnete, womit er freilich infolge offen- kundiger Fehlauffassungen in untergeordneteren Dingen hernach den Ver- techtern der Lehre von der unvollkommenen Organisation der Einzelligen unterlag. Ich gehe auf diese allgemeinen Dinge hier aus Rücksicht auf den kaum nicht weiter ein, zumal es an anderer Stelle geschehen ist. Ob es zu utriert war, Unterschiede der Organisationshöhe im Reiche des Leben- den überhaupt abzuleugnen, mag die Zukunft lehren. Daß an psychischen Leistungen der Mensch von irgend einem Tiere übertroffen würde. hat noch niemand nachweisen wollen. Jedenfalls ist es gut. sich der Ausdrücke „höhere“ und „niedere Tiere“ zu enthalten, da in ihnen stets die Gefahr liegt. nach altem Brauche das menschenähnlichere Tier für das höhere zu erachten und in die verschiedenen Tierformen in physischer wie in psy- chischer Hinsicht Abstufungsreihen hinein zu interpretieren, die lediglich Abstufungsgrade der Menschenähnlichkeit sind und nicht im Wesen der Sache liegen. Was speziell die Wirbeltiere betrifft, so werden wir sehen. dab in Bau und Leistungen des Gehirns nicht die Fische, die „unterste“ Wirbeltierklasse,. als die einfachsten, gleichsam „niedersten“ dastehen. son- dern die Amphibien, die vielleicht auch hinsichtlich ihres ganzen Körper- baues mit den Fischen um die Ehre, dem Urwirbeltier näher zu stehen. konkurrieren könnten. Wohl in teils unbewußter, teils bewußter Opposition gegen das popu- läre Bestreben der Vermenschlichung der Tiere hat die wissenschaftliche psychologische bzw. hirnphysiologische Forschung die Mehrzahl der Tiere vom Menschen manchmal etwas weiter abeerückt. als sie es verdienen. Um im Pendelschlage der Meinungen der „goldenen Mittelstraße* möglichst nahe zu kommen, dürfte es daher einmal angebracht sein, bei allen Tieren weniger auf die erstaunliche Einfachheit der vom Nervensystem abhängigen Vorgänge, als auf die uns bekannt gewordenen Höchstleistungen hinzu- weisen. Dabei kann es auch nicht unzweckmäßig sein, wenn wir unseren Anfang nicht bei den Protozoen, nicht bei den Wirbellosen, sondern viel- mehr beim Menschen und den Säugetieren nehmen. Sonst kämen wir wiederum dazu, uns über die „Tropismen“ als die einfachsten Reflexe und Vergleichende Neurologie und Psychologie. 77 gleichsam als die tierpsychologischen Elementarvorgänge zu freuen, ob- schon sie sich beim Säugetier und Vogel geradesogut erzielen lassen wie beim Spaltfußkrebs, wenn man jene nur in ebenso gekünstelte Bedin- eungen bringt, wie dieser sie im Planktonglase vorfindet. 1. Homo sapiens. Neben dem Dooma, dal der Mensch das größte und windungsreichste Gehirn unter allen Tieren habe, steht das zweite, daß) innerhalb der Spezies Homo sapiens die Größe und der Reichtum an Windungen des Gehirns sich steigere mit zunehmender Kultur und Intelligenz. Es ist populär, dies in erster Linie von dem Reichtum an Windungen (und Furchen) zu behaupten, während wissenschaftliche Untersuchungen in der Größe des Gehirns, d.h. in seinem Gewichte eine bequemere Handhabe finden. Wenn man vom Gehirn des Menschen spricht, so meint man damit in der Regel nur das Großhirn, welches ja den bedeutendsten Anteil an der Zusammensetzung des ganzen Gehirns hat. Ganz strenge genommen wäre allerdings unter „Gehirn“ außer dem Großhirn auch das Kleinhirn, das unter der Großhirnmasse recht verborgene Zwischen- und Mittelhirn und das verlängerte Rückenmark, die Medulla oblongata, zu verstehen; doch geht man wohl nicht weit fehl in der Annahme, dab diese letztge- nannten Hirnteile sämtlich in erster Linie unbewußt bleibenden Hirnfunk- tionen dienen und in ziemlich starrer unmodifizierbarer Weise arbeiten, während das Assoziationsvermögen und alle bewußt werdenden Vorgänge in der Rinde des Großhirns ihren „Sitz“ haben. Allerdings rechnen manche Ärzte — darauf macht mich besonders Dr. Kohnstamm aufmerksam —- mit der Möglichkeit, daß z.B. das Schwindel- gefühl im Kleinhirn lokalisiert sei und das Übelkeitsgefühl im verlängerten tückenmark, insbesondere im Endkern des Eingeweidenerven (Nervus vagus). Immerhin wären diese extracortical!) lokalisierten Bewußtseinsinhalte so geringfügig gegenüber den sonstigen, dab wir wohl berechtigt sind, für unsere Betrachtungen zur „vergleichenden Neurologie und Psychologie“ beim Menschen nur die Beziehungen zwischen den geistigen Fähigkeiten und der Ausbildung des Großhirns zu berücksichtigen — so sehr wir uns auch die Möglichkeit extracorticaler Bewußtseinsvorgänge für unsere späteren Darlegungen im Gedächtnis notieren wollen. Die Anschauung, daß) das Gehirn sich mit der Kulturhöhe vergrößere, die auch zeitweilig die Form angenommen hat, daß die Völker Europas andere an Hirngewicht übertreffen, befindet sich zurzeit in interessanter Weise in Defensive gegenüber der wahrscheinlich berechtigteren Lehre, daß eine solche gesetzmäßige Abhängigkeit nicht erkennbar sei und dal) vielmehr die großen Unterschiede im Gehirngewicht auf andere Ursachen als auf Unterschiede im Intelligenzgrade zurückgeführt werden müssen. ’) Cortex — Rinde, Großhirnrinde. TS V. Franz. J. H. F. Kohlbrugge hat neuerdings die einschlägigen Tatsachen übersicht- lich zusammengestellt!), so daß wir sie wesentlich nach diesem Autor re- ferieren können. Schon unter den europäischen Völkern gibt es schwerhirnige und leichthirnige. Schwerhirnig sind z. B. die Hannoveraner, Badenser. Schotten. Engländer, Russen, Schweden, Böhmen (Gehirngewicht 1400-4146 9). leicht- hirnie dagegen sind Franzosen, Österreicher, Schweizer und Sachsen. mit (rehirngewichten von 1265— 1558 9 (Mittelwerte für die einzelnen Völker). \lan kann wohl nicht die Behauptung aufstellen wollen. daß die schwer- hirnigen Menschen intelligenter wären als die leiehthirnigen. Auch bei (den Negern scheint es schwerhirnige und leichthirnige Völker zu geben. Iı Rußland haben die die Herrschaft führenden Großrussen ein leichteres (rehirn als die beherrschten russischen Völker. Die europäischen Völker übertreffen keineswegs andere an Gehirn- gewicht, sondern die Japaner und vor allem die Chinesen überragen den europäischen Durchschnitt des Gehirngewichtes durchaus. Dasselbe eilt bis zu gewissem Grade von den Eskimos. Die Kanarier und sogar die Feuer- länder haben anscheinend größere Gehirne als die Europäer. Allerdings haben die Australier den kleinsten Schädelinnenraum unter allen Menschenrassen. Doch das ist wohl nur eine Tatsache gegen viele. Oft ist betont worden, dal die berühmten Männer an Gehirngewicht die Durchschnittsmenschen überträfen. Kohlbrugge zeigt uns, daß dies weder immer zutrifft, noch auf höherer psychischer Digenität — die wohl eher in der feinsten struktuellen Ausbildung des Gehirns beruhen dürfte zurückgeführt werden muß. Vor allem hat Matiegka nachgewiesen, dab hoher Wuchs. starker Knochenbau, gute Ernährung und mächtige Muskulatur auch stets mit erheblicher Gehirnschwere einhergehen, so daß der Einfluß der Ernährung auf das Hirngewicht unverkennbar ist. „Die berühmten Männer behielten also nur so lange ihren Vorsprung,“ sagt Kohlbrugge, „als man vergaß. daß die gute Ernährung großen Einfluß auf das Hirn- gewicht hat und sie deshalb mit dem gewöhnlichen Krankenhausmaterial verglich.“ 2) Läbt sich also schon beı der Vergleichung der Menschen und Men- schenrassen untereinander keine Beziehung zwischen Gehirneröße und (zeistesentwicklung feststellen. so können wir uns schon denken. daß dies ') JS. H. F. Kohlbrugge, Kultur und Gehirn. Biolog. Zentralbl., Bd. 31, 1811. *) Hierzu gibt es auch andere Ansichten, welche, schon der Objektivität halber, hier zu Worte kommen mösren. So gelangt Bayerthal (Über den gegenwärtigen Stand der Frage nach den Beziehungen zwischen Hirngröße und Intelligenz. Arch. f. Rassen- u. Gesellsch.-Biologie, 1906) auf Grund neuer Messungen zu dem Ergebnis: „Eine hun- dertjährige Erfahrung hat die Annahme Galls bestätigt und das, was Broca für er- wiesen hielt, nämlich daß das Hirngewicht zenialer Menschen das Mittel überschreite, in das Bereich der Wahrscheinlichkeit gerückt. Jedenfalls haben wir das Recht, bis auf weiteres bei einem Kopfumfang von 56 em und weniger Geuialität auszuschließen.“ — Die Mögliehkeit einer Umdeutung dieser Erfahrungen im oben auseinandergesetzten Sinne ist aber nicht von der Hand zu weisen, um Vergleichende Neurologie und Psychologie. yi bei der Vergleichung verschiedener Tierarten untereimander noch viel schwieriger sein wird. Denn vergleichen kann man strenge genommen nur „ceteris paribus“ und die einzelnen Tierarten sind untereinander weniger eleich als die Menschenrassen. Daß wir dennoch zu einem positiven Er- gebnisse kommen werden, weil nämlich die Unterschiede in der Gehirn- bildung bei den verschiedenen Tieren ungemein groß sind, sei vorläufig nur nebenbei zum Troste für den Leser gesagt. Fragen wir zunächst noch, ob eine Zunahme des Windungsreich- tums beim menschlichen Gehirne mit zunehmender Kultur und Intelligenz bemerkbar sei. Kohlbrugge leugnet auch dieses ab und legt dar, dab die gegenteilige Auffassung immer nur an durchaus ungenügendem Material. nämlich an geringem, zur Ausschaltung von Zufälligkeiten nicht hinreichen- den Zahlen von Gehirnen gewonnen sei. Kohlbrugge hat 59 Gehirne von Malaien untersucht und kam zu dem Resultat. dal) dieses recht niedrig stehende Volk kein einfacheres oder prinzipiell anders beschaftenes Gehirn habe als die höheren Kulturrassen. Ist somit auch der Windungstypus des ganzen Gehirns nicht in eine einfache Beziehung zur Höhe der Gehirnleistung zu setzen —- wir kommen übrigens später noch bei Tieren anf mancherlei Tatsachen zu sprechen, die den Windungsreichtum unabhängig von der psychischen Leistungs- fähigkeit beeinflussen —., so dürfte dennoch eine Vergrößerung und kompliziertere Furchung bestimmter Hirnteile manchmal mit der besonderen Entwicklung bestimmter Fähigkeiten zusammenhängen, obwohl sich von vornherein genug gegen diese Annahme anführen liebe. nämlich 1. daß eine besondere Leistungstähigkeit eines bestimmten Hirn- teils allein von größerer geweblicher Feinheit desselben ohne äußerlich er- kennbare Unterschiede abhängen könnte, 2. dal» bei Vergrößerung eines bestimmten funktionellen Gehirngebietes sich die betreffende Rindenpartie weder zu verdicken noch stärker zu falten braucht. sondern sich mit ihrem Rande vorschieben und dann zum Teil Gebiete einnehmen kann, in denen sonst andere Funktionen lokalisiert sind. Der redegewandte Gambetta besaß an seinem Gehirn eine ungewöhn- lich entwickelte Sprachgegend (Basis der 3. Stirnwindung). Den ungewöhn- lichen Windungsreichtum des Stirnhirns bei hochbegabten Männern betont besonders Edinger, der als Beispiele die Gehirne von Helmholtz, Loven (Mathematiker), Bunsen, Mommsen, Menzel und einem mittelbegabten Sonderling, der 54 Sprachen beherrschte, erwähnt.!) Bei mehreren Musikern fand sich — nach Siegmund Auerbach — eine Vergrößerung der ersten Schläfenwindung auf der linken Gehirnhälfte, und bei Hans v. Bülow hatte sich diese zu einer derartigen Kompliziertheit entwickelt, daß sie als ein- ziger Windungszug kaum noch zu erkennen war. Diese Tatsachen. die also eine Beziehung zwischen Gehirn- und Geistesentwicklung bei in be- 1) L. Edinger, Vorlesungen über den Bau der nervösen Zentralorgane. 3. Aufl. Leipzig 1911. 80 V. Franz. stimmter Weise veranlaeten Menschen erkennen lassen. sind wohl kaum bestreitbar, im übrigen aber sehen wir auch bezüglich des Windungsreich- tums des Gehirns, daß hier etwaige Beziehungen zwischen der Organisa- tion des Gehirns und der Höhe seiner Leistungen gar nicht so klar zu- tage lieren. wie gemeinhin angenommen wird. Wir zweifeln nicht. dal) bei oröberer geistiger Leistungsfähiekeit die Größe und der Windungsreichtum des Gehirns erheblicher werden kann, doch ist es sehr schwer, diesen für (die Gestaltung des Gehirns wichtigen Faktor für unser Verständnis klar von sonstigen, welche gleichfalls die Gehirngestaltunge maßgebend beein- flussen, herauszuschälen. 2. Säugetiere. Wir wollen uns nicht entmutigen lassen. wenn auch bei den Säuge- tieren die Resultate an Beziehungen zwischen Neurologie und Psychologie nur gering ausfallen. Die Gründe, weshalb dieses so ist, sind interessant genug. Vorab sei bemerkt, daß wir es auch bei den Säugetieren wie beim Menschen — nur mit dem Großhirn zu tun haben werden. denn es scheint eine berechtigte Annahme, das die komplizierteren und mit Be- wußtsein verbundenen Gehirnverrichtungen im wesentlichen an das Groß- hirn geknüpft sind, obschon —- wie der geroßhirnlose Hund von Rothmann zeigt die nach Entfernung des Großhirns verloren gegangenen Fähig- keiten von dem operierten Tiere allmählich wiedererlangt werden können. so dal) dann andere Hirnteile als Ersatz für das Großhirn offenbar noch eintreten können, gleichsam in alter Erinnerung an eine ehemals weniger eng lokalisierte höhere psychische Tätigkeit im ganzen Gehirn. Zunächst ist nunmehr einiges gegen den Glauben zu sagen, dal das Großhirn in der Säugetierreihe „mit aufsteigender Entwicklung“ an Größe und Windungesreichtum zunehme. Was ist zunächst die Säugerreihe, was heißt hierbei aufsteigende Entwicklung? Nur wenn wirklich der Mensch in irgend einer Weise das Endglied wäre und das Schnabeltier das Anfangselied, wäre mit jenen Worten etwas gesagt. In Wahrheit stellt aber die Gruppe der Schnabel- tiere und ebenso die der gleichfalls als niedere Säugetiere bezeichneten Beuteltiere je einen besonderen Zweig dar, der neben, nicht unter den der übrigen Säugetiere (der Placentalier) geordnet ist. Daß in jenen beiden Gruppen Gehirnentwicklung und Intelligenz geringer sind als in dieser, mülte also erst erwiesen werden, und die Annahme, daß es so ist, wurzelt zum Teil nur in dem oben bereits hinlänglich besprochenen alten Glauben an die im Menschen gipfelnde Abstufung der tierischen Organisationen. Wir dürfen also nieht mit entwicklungsgeschichtlichen Vorurteilen an die Betrachtung der Gehirme herantreten, sondern müßten möglichst jedes einzelne Gehirn gleichsam für sich auf seine Eigenschaften hin untersuchen. Dab nun der Mensch das größte Gehirn habe, trifft in bezug auf die absolute Größe natürlich nieht zu. Jedermann wird es für selbstver- Vergleichende Neurologie und Psychologie. Ss] ständlich halten, daß Elefanten und Walfische größere Gehirne wie auch größere Körper haben als der Mensch, und man wird sie deshalb nicht für besonders intelligente Tiere halten, so wenig wie man der kleinen Maus wegen der absolut geringen Kapazität ihres Schädels einen beson- deren Intelligenzmangel zusprechen wird. Aber auch an relativer Größe des Gehirns, d. h. an Gehirngröße im Verhältnis zur Körpergröße, steht weder der Mensch unter den Tieren obenan, noch findet sich bei den Säugetieren eine deutliche Reihe zu- nehmender relativer Gehirngröße. Vergleicht man nämlich das Hirngewicht mit dem Körpergewicht, so zeigt sich, daß der Wert für das relative Hirn- gewicht ungemein verschieden ausfällt, und daß er insbesondere bei kleinen südamerikanischen Affenarten (Pinseläfichen, Hapale) erheblicher ist als beim Menschen. Dies dürfte sich aus zweierlei Gründen erklären: einmal nämlich zeigt sich durchgängig, daß kleine Tiere ein relativ größeres — absolut natürlich kleineres — Gehirn haben, als die ihnen nächstver- wandten größeren Arten, ebenso auch junge Tiere ein relativ größeres als ältere, wofür wir schon die Größe des Kopfes beim neugeborenen Menschen als Beleg anführen können; offenbar ist eine gewisse Hirngröße zum ge- eieneten Funktionieren der Gehirnzellen, die eben nicht unter eine ge- wisse Größe herabgehen können, erforderlich: zweitens kommt hinzu, dab jene kleinen Affen von außerordentlich leichtem Körperbaue sind, die Natur hat bei diesen Baumtieren wie auch bei den „leichtbeschwingten“ Vögeln so viel wie möglich an Körpermasse gespart, und daher fällt bei ihnen (wie auch bei den Vögeln) das relative Hirngewicht ungewöhnlich groß aus. Man sieht, in diesem Falle wäre es richtiger, nicht zu sagen, das Gehirn ist im Verhältnis zum Körper groß, sondern der Körper ist im Verhältnis zum Gehirn klein. Bei klarer Überlegung ist weiterhin kein /weifel, daß es ein einheitliches Maß für die verschiedenen Tierkörper überhaupt nicht gibt, denn diese sind von sehr verschiedener Bedeutung. Ein Schwimmer wie die Wale braucht natürlich viel mehr Muskelmasse als ein Landtier, darf sich auch gleich manchem Landtiere viel mehr Fett- massen erlauben als z. B. die Fledermäuse. Alle diese und ähnliche Tat- sachen beeinflussen natürlich das relative Hirngewicht, so daß uns der bloße Anblick einer Tabelle nicht nur gar nichts sagt, sondern wir sogar alle Mühe haben, mit Verstand und Nachdenken etwas in den Zahlen zu lesen. Was speziell den Menschen betrifft, so beruht die erhebliche Gehirn- größe bei ihm gegenüber derjenigen der Affen wohl zum Teil auf der geringen Entwicklung des menschlichen Körpers, denn es ist kein Zweitel, daß der menschliche Körper in vielfacher Hinsicht rudimentär und längst nicht so kräftig ausgebildet ist wie der der größten, die Körpergröße des Menschen aber doch nicht erreichenden Affen. Man hat auch manchmal die Entwicklung der Großhirnrinde im Ver- hältnis zu den übrigen Hirnteilen betrachtet und darin neuropsychologisch verwertbare Daten gesucht. Ob es nun mit unseren Erwartungen überein- E. Abderhalden, Fortschritte. VII. 6 82 V. Franz. stimmt. dab man dabei bei der Fledermaus eine geringe und beim Gürtel- tier eine mittelmäßige Entwicklung der Hirnrinde gefunden hat. möchte ich dahinzestellt sein lassen. wogegen eine überwiegende Entwicklung der letzteren namentlich bei denjenigen Säugergruppen, welche der Hauptsache nach aus großen Tieren bestehen, wie Huftiere, Raubtiere und namentlich Affen. wohl zuzugeben ist. Zdinger betont dabei besonders die in etwa dieser Reihenfolge zunehmende Entwicklung des Stirnlappens, welcher beim Känguruh sehr klein, bei Katze, Ziege, Halbaffen schon größer, beim Hunde und Affen noch mächtiger und überragend beim Menschen entwickelt ist. Fassen wir das über die Großhirngröße bei den verschiedenen Säuge- tieren Gesagte zusammen, so sehen wir uns zunächst aus dem Bereich exakter Messungen durchaus in das Gebiet subjektiver Schätzungen ver- wiesen. da die Gehirngröße bei verschiedenen Tierarten von einer noch erößeren Anzahl von Variablen abhängt, als innerhalb einer Tierart, z. B. des Mensehen. Wüßte man nicht, daß wir beim Menschen besondere In- tellieenzgrade antreffen —— es ist fraglich, ob dann jemandem die erheb- liche Gehirnentwicklung des Menschen bereits aufgefallen wäre. Fast möchte man sich fragen. ob sie nun wirklich vorhanden ist oder ob wir sie nur in die Tatsachen hinein interpretieren. Doch wollen wir, bis zum Beweise des Gegenteils, nicht nach exakten Messungen, wohl aber nach ungefähren Schätzungen beim Affen und beim Menschen eine mächtigere relative Ge- hirnentwieklung als bei den übrigen Säugetieren, in Korrelation mit höherer psvchischer Entwicklung zugeben. Dies dürfte denn auch mit psychologisch feststehenden Tatsachen vereinbar sein. denn dab die Affen an Intelligenz die übrigen Säugetiere etwas überragen, wird man zugeben können. In dieser Hinsicht dürfte namentlich ihre sprichwörtliche Nachahmungslust in Betracht kommen, oder fällt uns diese nur deshalb gerade bei den Affen am meisten auf. weil diese Tiere vermöge ihrer ganzen körperlichen Organisation natürlich besser als andere Tiere dazu geschaffen sind, gerade den Menschen nach- zuahmen? Kaum jemand wird mir widersprechen, wenn ich sage, die Ge- samtheit der Säugetiere steht hinter dem Menschen zurück durch die Un- fähigkeit zur Begriffsbildung. Statt von einer Unfähigkeit sollte man lieber von einer geringeren Fähigkeit sprechen, und es wäre vielleicht doch mög- lich. daß, uns unbekannt, dieses Vermögen bei den Säugetieren in wesent- lich höherem Maße entwickelt ist, als wir bis jetzt meist annehmen, wobei die Fraee ist. ob der beim klugen Hans und den Elberfelder Pferden beschrittene Wege der richtige ist, um es nachzuweisen. Diese psychologischen Dinge sind ebenso stark den Diskussionen unterworfen wie die anatomischen. Wir haben also nicht einmal „die Teile in der Hand“. Wo bleibt das geistiee Band? Man wird sagen. unsere anatomischen Betrachtungen seien einseitig, so lange wir nieht die Struktur, des Gehirns berücksichtigen. Was nun den Windungsreiehtum des Gehirns betrifft, so wäre es wohl unriehtig, anzunehmen, daß er in der „Säugerreihe* eine zu- Vergleichende Neurologie und Psychologie. 853 nehmende „Vervollkommnung“ aufwiese. Unter den Schnabeltieren hat die eine Art, Ornithorhynchus,. zwar ein sehr glattes Gehirn, aber bei einer anderen Art. Echidna, weist die Hirnoberfläche erstaunlich viele Falten auf. Manche Gehirne sind reicher gefurcht als das menschliche, so z.B. das des Seehunds. Für die Furchungsstärke ist vor allem die absolute Größe des Gehirns von maßgebender Bedeutung. Offenbar muß ein großes Gehirn tiefer gefurcht sein als ein kleines, damit die Blutgefäßstämme nahe genug an das Innere der Hirnmasse herantreten können. So finden wir unter den Nagetieren z. B. beim Stachelschwein ein viel reicher gefurchtes Ge- hirn als bei der Maus, und ganz entsprechendes eilt sogar von Affen, wo die kleinen Pinseläffehen eine ganz glatte Gehirnoberfläche haben, wie ein menschlicher Embryo. Im Sinne der Abhängigkeit der Furchungsstärke von der absoluten Größe des Gehirns ist auch die ungemein reiche Furchung des Walgehirns und des Elefantengehirns zu deuten, und auf Rechnung dieser Abhängigkeit ist auch großenteils die starke Furchung des mensch- lichen Gehirns zu setzen. Wir sehen also, reiche Gehirnfurchung beweist durchaus nicht sogleich reiche Entwicklung der Gehirntätigkeit. Außer von der absoluten Größe des Gehirns ist übrigens die Furchungsstärke sicher noch von anderen Momenten, die wir nicht kennen, abhängige. Unerklärt ist für uns der erwähnte Unterschied zwischen den beiden Schnabeltier- arten, unerklärt ist, warum die Sirenen eine für ihre Größe (und die Größe ihrer Gehirne) erstaunliche Glattheit der Gehirnoberfläche aufweisen. Wir werden auf Grund dieser Unterschiede in der Gehirnfurehung wohl kaum entsprechende Unterschiede in der psychischen Entwicklung der betreffen- den Tierarten annehmen dürfen. Auch die innere Struktur des Gehirns gibt uns keinen sicheren An- haltspunkt. Auffällig ist zwar, dab kleine Gehirne aus einer geringeren Anzahl von Zellen bestehen als größere, z.B. das Katzengehirn aus weniger Zellen als das Tigergehirn, obwohl die Katze nicht weniger intelligent sein wird als der Tiger. Dieser Strukturunterschied hängt nur damit zusammen. dab die Größe der Zellen bis zu gewissem Grade eine gegebene ist, und daß auf größerem Raume mehr von ihnen Raum finden als auf kleinerem. Eine größere Gehirnzellenzahl braucht jedoch nicht notwendig zu einer größeren Menge von Gehirnleistungen zu befähigen, als eine! kleinere, sondern es müssen wohl manchmal viele Leistungen auf eine Anzahl Zellen verteilt sein, die das andere Mal nur einer Zelle zufallen, so daß also die Zerteilung der Masse in eine bestimmte Anzahl Zellen nicht das für die spezi- fische Funktion des Gehirns Wesentliche ist. Wenn die Neurofibrillenlehre damit im Rechte ist, daß die die Nervenfasern und -zellen durchziehenden feinen Fäden, die Neurofibrillen, die reizleitenden Elemente sind (und nicht skelettartige Stützgebilde, wie einige mit nicht sicher widerlegbaren Grün- den annehmen), dann wäre völlig erklärt, daß das eine Mal eine kleine, das andere Mal eine größere Zellenzahl zu einer bestimmten Verriehtung be- fähigt ist, denn dann wären ja nicht die Zellen, sondern die innenliegen- den Neurofibrillen die spezifisch funktionierenden Elementargebilde. Dann 6* S4 V. Franz. hätte die gzepriesene Neurofibrillenlehre auch einmal einen gewissen Er- klärungswert. Wenn die Zahl der Zellen für die Leistungsfähigkeit des Gehirns nicht maßgebend ist, dann ist es vielleicht die Gesamtzahl der Fibrillen in den Zellen. Aber wegen der Unzulänglichkeit unserer hierfür in Betracht kommenden technischen Methoden können wir diese Zahl nicht feststellen. veschweige denn sie bei den verschiedenen Tieren miteinander vergleichen. Auch könnte man daran denken, daß die Anzahl der Verzweigungen und Verästelungen der Gehirnzellen und die Feinheit dieser bäumchen- artigen Bildungen einen Maßstab für die Leistungsfähigkeit des Gehirns abzäbe. In der Tat steht in dieser Hinsicht das Kind hinter dem erwach- senen Menschen noch weit zurück. Aber bezüglich der Tiere sind unsere Erfahrungen-hierüber noch nicht hinreichend, um auch nur einen Versuch einer Vergleichung nach diesem Gesichtspunkte anzustellen. Es bleibt demnach zur psychologischen Bewertung der verschiedenen Säugergehirne wohl als einziger Maßstab der zuerst erwähnte, die relative Gehirngröße. und auch dieser ist sehr ungenau und nur mit Vorsicht zu verwerten. Wenn wir durch diese Tatsachen etwas vorsichtiger werden sollten, im Gehirnbau der Tiere Unterschiede in betreff des psychologischen Verhaltens zu lesen, so wäre schon etwas erreicht. Es fehlt uns noch sehr an psychologischen Beobachtungen. Greppin‘) meint, daß die einzelnen Familien unserer einheimischen Fledermäuse betreffs ihres individuell er- worbenen Unterscheidungsvermögens sehr verschieden veranlagt sind: so verschwinden die Vesperugoarten sehr rasch, wenn auf sie ein Schuß ab- segeben worden ist, während die Vespertilioarten sich um den Schuß gar nicht bekümmern und auch dann immer wieder erscheinen, wenn einige ihrer Artgenossen gefallen sind. Unsere Kenntnisse des Hirnbaues reichen nicht aus. um einen entsprechenden anatomischen Unterschied bei den genannten Fledermäusen zu finden. Unser Tatsachenmaterial ist bis jetzt so relativ oeyrobkörnie, daß wir nur viel allgemeinere Beziehungen aufstellen können. 3. Vögel. Auch bei den Vögeln werden wir damit kein Glück haben. Am Ge- hirn der Vögel ist das Großhirn stets sehr mächtig, es bildet den größten Teil des Gehirns, und wenn es das Kleinhirn nicht in gleichem Mabe über- ragt, wie bei den Säugetieren, so liegt dies nur daran, daß das Kleinhirn, obschon von einfacherem Baue als bei den Säugern, doch —- wohl im Zu- sammenhange mit den erheblichen Anforderungen, die die Bewegungsweise der Vögel an die Aufrechthaltung des Gleichgewichtes stellt — stets relativ groß) ist. Dal das Gehirn als Ganzes im Verhältnis zum Körper ein relativ hohes Gewicht hat (gegenüber dem der Säugetiere), erklärt sich durchaus aus dem leichten Bau des Vogelkörpers. ') L. Greppin, Naturwissenschaftliche Betrachtungen über die geistigen Fähig- keiten des Menschen und der "Tiere. Biol. Zentralbl.. 1911, Bd. 31. Vergleichende Neurologie und Psychologie. 85 Was nun die Gehirnleistungen der Vögel betrifft, so wird man nicht umhin können, diese für recht kompliziert zu erachten; dennoch handelt es sich großenteils wohl um instinktive und nur zum kleinen Teile um ver- standesmäßige Verrichtungen. „Wer der Psyche der Warmblüter und ins- besondere der Vögel auf den Grund geht, dem ist es klar, daß auch hier das meiste angeboren und also allen Individuen der betreffenden Art eigen- tümlieh ist,“ sagt O. Heinroth.!) Diese Worte treffen nicht nur für den bekanntlich höchst komplizierten Nestbau der Tiere zu, sondern beziehen sich bei ihrem Autor auf kompliziertere Erscheinungen im täglichen Leben der Vögel, speziell auch auf das sehr ausgebildete und innige Familien- leben der Gänse, die unverkennbaren — aber instinktiv ausgeführten — Hochzeitszeremonien, ferner darauf, dab diese Tiere z. B. am Paarungsakt ihrer Artgenossen Ärgernis nehmen u. del. Freilich ist zweifellos, dab die Vögel auch mancherlei psychische Leistungen erst im individuellen Leben erwerben können, daß sie also lernen, assoziieren u. dgl. Aber sehr weit geht diese Fähigkeit nicht. Ihr Maximum können wir vielleicht darin erblicken, daß, wie z.B. auch @reppin hervorhebt, viele Vogelarten den sie verfolgenden Menschen als Person kennen lernen und ihn fliehen, ob er im speziellen Falle die Flinte trägt oder nicht. Auch kann es wohl zu einem bis zu gewissem Grade innigen Konnex zwischen Vogel und Mensch kommen, ähnlich wie zwischen Mensch und Hund, so dab ein Austausch von Regungen des Innenlebens stattfindet, wenn auch das Tier dabei nicht so viel geben kann, wie mancher Tier- pfleger vielleicht meinen könnte. Auch sonst noch erwirbt der Vogel manche Fähigkeiten, er begreift unter Umständen schnell. Greppin berichtet, daß Sperlinge, die viel verfolgt werden, in einigen Monaten den Instinkt, beim Aufsuchen eines Baumes zunächst auf einem vorstehenden Aste zu „sichern“, ablegen und sich beim Anblick des Menschen dann sofort mit größter Ge- schwindigkeit in das ihnen schutzbietende Dickicht hineinstürzen. Unlängst wurde berichtet, daß bei Gelegenheit eines Schaufliegens in der Nähe von 3asel der erste Flugapparat eine große Schar Krähen und Dohlen von ihren Bäumen aufscheuchte, daß aber viele von diesen — weil sie gerade dem Brutgeschäft oblagen — nach und nach in ganzen Gruppen zurück- kehrten und einem zweiten Aviatiker gegenüber bereits aggressiv wurden; sie hatten also rasch begriffen, daß der „große Vogel“ ihnen nichts tut. Dieses Lernvermögen der Vögel ist auch exakten experimentellen Untersuchungen zugänglich. Katz und Revesz?) warfen zwischen 20 fest- geklebte Reiskörner 10 Weizenkörner. Ein ausgehungertes Huhn sucht zuerst die Reiskörner zu picken, weil es diese vorzieht, lernt jedoch in kurzer Zeit, daß die Reiskörner festliegen, denn nach einer halben Stunde bei Wiederholung des Versuches pickt es schon viel seltener nach den !) 0. Heinroth, Beiträge zur Biologie, namentlich Ethnologie und Psychologie der Anatiden. Bericht über den 5. Internationalen Ornithologen-Kongreß, Berlin 1910. °) D. Katz und @. Revesz, Experimentell-physiologische Untersuchungen an Hühnern. Zeitschr. f. Psychol., Bd. 50. S6 V. Franz. teiskörnern und nach abermals einer halben Stunde nur noch nach den Weizenkörnern. Auch lernt es rasch, aus einer Reihe genau parallel ge- richteter Körner nur jedes zweite oder jedes dritte herauszupicken, wenn man die dazwischen liegenden festklebte, oder aus Figuren wie diese: I 1—1— | oder [| — 1 — 11 — oder [II —III— |] I— mar die auerliegenden Körner herauszupicken. Parallelversuche an Kindern zeigten, daß das Huhn hierin einem 2--3jährigen Kinde überlegen ist. Auch beim Wanderflug der Vögel ist der Verstand, das individuell erworbene Ortsgedächtnis, das Lernen der Jungen von den Alten wahr- scheinlich mit im Spiele, ja es erscheint mir fraglich, ob der Wanderflug auch nur zum Teil auf instinktiver Basis zustande kommt. Daregen ist er auch keine Leistung sehr großer, etwa gar übermenschlicher Verstandes- gaben. Die cerebrale Verarbeitung von Sinneseindrücken braucht für einen Flieger bei einer sehr weiten Reise offenbar nicht größer zu sein als bei einem Fußgänger beim Zurücklegen eines viel kürzeren Weges: denn was für den Fußgänger Merkzeichen sind, wird von dem fliegenden Vogel vollkommen übersehen, und die Merkzeichen des fliegenden Vogels liegen in viel größerem Abstande voneinander als die, welche der Fußgänger benützt. Wie geringe in mancher Hinsicht die Verstandesgaben der Vögel sind. dürfte durch die Tatsache bezeugt sein, daß viele Vögel (Entenarten, Singvögel) Nester an solchen Stellen bauen, die zwar in den frühen Mor- genstunden. wenn die Tiere sich ihre Plätzchen suchen, ungestört sind, während den ganzen Tag über der Menschenstrom die Vögel stört und ein Brüten unmöglich macht. Die Vögel denken nicht daran, einen auch in (den übrigen Tagesstunden ungestörten Nistplatz zu suchen (Zeinroth). (rehen wir nun wiederum zum Gehirn der Vögel zurück, so müssen wir uns sagen, dab wahrscheinlich nicht nur die verstandesmäßi- ven. sondern anch die instinktivsten Tätigkeiten. welche einen viel erößeren Teil an der täglichen Lebensweise der Vögel ausmachen, an den durch seine Masse imponierenden Haupt- teildes Gehirns, das Großhirn, geknüpft sein werden. Es wäre dies (der erste, aber nicht der letzte Fall in unserer Darstellung, daß hohe In stinkt- ausbildung die Ausbildung des Gehirns so entscheidend beeinflußt. Was nun in höherem Grade in Betracht kommt, ob die Instinkte oder die Verstandestätigkeiten. könnten wir entscheiden, wenn wir bei Vögeln, die sich psychologisch verschieden verhalten, auch wesentliche Unterschiede im Bau des Gehirns fünden. Nun stehen die einzelnen Vogelarten wohl an Intelligenz etwas verschieden da. „Unter unseren einheimischen Vögeln ist es der Sperber, welcher nach unseren Erfahrungen kein oder nur sehr mangelhaft entwickeltes. individuell erworbenes Unterscheidungsvermögen besitzt. Die systematische Untersuchung seines Gehirns und die Verglei- chung dieses (rehirns mit demjenigen einer Rabenkrähe wäre daher sehr zu empfehlen“ (Greppin). Unter den Anatiden (Enten, Schwäne, Gänse usw.) scheint nach Feinroth Dafila aenta große psychische Fähigkeiten nicht zu Vergleichende Neurologie und Psychologie. 87 besitzen. Die trennende Eigenschaft des Drahtgeflechts will den Bewohnern des zoologischen Gartens lange nicht in den Kopf. In der Tat wäre es sehr interessant, in derartigen Fällen einen Pa- rallelismus zwischen Gehirngeröße und Verstandesausbildung aufzufinden. Bis jetzt ist das weder gelungen noch versucht worden. Jedoch nach allem. was wir bisher über das Vogelgehirn wissen, ist dieses überhaupt bei den verschiedenen Vogelarten sehr gleichartig, wir finden speziell im Vorder- hirn durchaus keine irgendwie auffälligen Größen oder Gestaltsunterschiede. Für eine vergleichende Neurologie und Psychologie der Vögel liegt also eigentlich noch gar kein Material vor. 4. Reptilien, Amphibien und Fische. Viel Interessanteres ergibt sich in dieser Hinsicht bei den kaltblütigen Wirbeltieren, d.h. bei den Reptilien, Amphibien und Fischen. Bei allen diesen Tieren kommt es wohl niemals zu einem wahren Konnex zwischen dem Tiere und dem Menschen, und die Eidechse lernt nicht ihren Pfleger kennen, sondern wenn sie nach einiger Zeit der Gefangenschaft gezähmt ist, so beruht dies nur auf dem Ablegen des Fluchtreflexes, so dal) sie nunmehr las Futter aus der Hand frißt, was sie vorher vermied, oder es kann allenfalls auch noch die Erfahrung hinzukommen, daß das optische Bild der menschlichen Hand für das kleine Reptil das Signal wird: jetzt gibt es Futter, und daß es deshalb herankommt. Auch können solche Tiere wohl manchmal auf die Stimme einer bestimmten Person abgerichtet werden. vielleicht auch noch auf andere Merkzeichen, niemals aber hat man Anhaltspunkte dafür finden können, dal) der Mensch als Ganzes, als lebendes Wesen ihnen etwas ist. Hierin prägt sich wahrschemlich zum Teil eine gegenüber den Säugetieren und Vögeln verminderte Fähigkeit zu ver- standesmäßigen Leistungen aus, wennschon ich zur Erwägung stellen möchte, daß bei so weitgehend verschiedenartiger Organisation auch die psychische Einstellung des ganzen Apparates der Sinnesorgane bei einem kaltblütigen Wirbeltiere eine andere sein muß, als z. B. bei uns Menschen, und daß es nicht als intellektuelle Unfähigkeit gedeutet werden darf, wenn jemand bei einer Aufgabe versagt, die seinem Gedankenkreise gänzlich fern liegt. Aus diesem Grunde dürfte namentlich bei den Fischen, als Wasserbewohnern, eine gewisse Vorsicht geboten sein, wenn man die Un- möglichkeit eines Konnexes zwischen Mensch und Tier als Kennzeichen ge- ringer psychischer Fähigkeiten verwerten will. Mit den geringen psychischen Fähigkeiten scheint nun allerdings die geringe Größe des Gehirns bei den kaltblütigen Wirbeltieren im Kinklange zu stehen. Wir werden jedoch sehen, dal» diese Auffassung nicht ganz ein- wandfrei ist.- Ausgehend von der Annahme, dab alle verstandesmäßigen (Gehirn- fähigkeiten lediglich an das anatomische Korrelat des Großhirns des Menschen und der Säugetiere geknüpft sein können, hat man wiederum zwischen dem Bau des Gehirns und den geringen psychischen Leistungen 88 V. Franz. der Kaltblüter eine Übereinstimmung finden wollen. Die Großhirnrinde ist nämlich bei den Reptilien viel schwächer entwickelt als bei den Vögeln, bei den Amphibien steht sie noch umfangärmer da, und von den Fischen wurde lange Zeit gelehrt, daß die Mehrzahl derselben, nämlich sämtliche Knochenfische. an Stelle des Großhirns statt eines funktionierenden Gehirnteiles nur eine funktionslose dünne, epitheliale Zellenplatte besitzen. Demnach würde man etwa „in aufsteigender Reihenfolge“, d. h. von den Fischen zu den Amphibien und von diesen zu den Reptilien auch eine Zunahme der (rehirnausbildung in bezug auf den psychologisch wichtigsten Hirnteil erkennen und eine entsprechende Zunahme der psychologischen Fähig- keiten postulieren dürfen. Wenig würde sich daran ändern, wenn es sich nur darum handelte, daß wir heute (mit Johnston und Kappers) der Studnickaschen Auffassung beipflichten müssen, dab massive Vorderhirn- teile als morphologisches — psychologisch aber längst nicht gleichwertiges Korrelat des Säugergroßhirns auch beim Knochenfischgehirn zu finden sind, wenn auch in anderer Lage. nämlich mehr seitlich statt oben. Sehen wir uns die psychologischen Leistungen der verschiedenen kaltblütigen Wirbeltiere an, so stehen allerdings die Amphibien hinter den Reptilien weit zurück. Die Reptilien verfolgen und suchen das augenblicks aus dem Auge verlorene Beutetier, während die Amphibien nur durch den unmittelbaren Sinnesreiz, der von dem Futterstück ausgeht, also nur durch den Anblick des sich bewegenden Würmchens oder Insekt zum Zu- schnappen veranlaßt werden können, jedoch die Jagd aufgeben nach einem Bentetier, dal sich vor ihren Augen bewegt hat, nun aber still dasitzt: gleich als hätten sie nicht genug Gedächtnis, um noch zu wissen, dab das jetzt ruhende Objekt sich eben vorher noch bewegt hat. Jedenfalls liegt hier bei den Amphibien ein geringeres Assoziieren oder Schatten von Rela- tionen vor, als bei den Reptilien (Edinger). Immerhin wäre es auch keineswegs richtig, die Amphibien als le- dielich reflektorische angehende Tiere zu betrachten, sondern in neuerer Zeit haben sich die Beispiele von der Fähigkeit zum Lernen, zum Sammeln und Verwerten von Erfahrungen im individuellen Leben auch bei Amphi- bien gehäuft. Von den Urodelen, den Schwanzlurchen (Salamander, Tritonen) sind mir aus der Literatur zwar keine einschlägigen Tatsachen bekannt, daher sei es gestattet, eine eigene Beobachtung anzuführen. Während der Zeit ihres Wasserlebens suchen die Tritonen (auch Molche genannt) ihre Nahrung unter Wasser vorzugsweise mit dem Geruch, und so fiel es ihnen nicht schwer, Mehlwürmer zu finden, wenn ich diese zuvor der Quere nach halbierte und den weißen Inhalt etwas herausquetschte. Mit der Zeit aber bemerkte man deutlich, daß auch der Anblick eines derartigen, still am Boden des Aquariums liegenden, gelben, geringelten Wurmes die Molche aufmerksam machte, was früher gar nicht der Fall war. Sie fuhren dann mit der Schnauze den Wurm entlang. bis sie an das herausgepreßte Eingeweide kamen. So hatten sie offenbar den Riechreiz, der zuvor allein den Freb- Vergleichende Neurologie und Psychologie. 89 akt auslöste, mit dem Sehreiz, der vorher ganz unwirksam war, verknüpfen gelernt, und ließen sich nun durch beide zusammen leiten. Dal) auch die ungeschwänzten Amphibien, die Froschlurche, mancher- lei lernen können, ist Ja eigentlich schon länger bekannt, denn die Aqua- rienfreunde wissen von dem Ortssinn dieser Tiere zu berichten, der sich im Aufsuchen immer wieder einer und derselben Stelle zeigt. Man be- merkt leicht, dab sie ihren Standplatz nach Exkursionen auch dann wieder finden können, wenn sie ihn auf dem Rückwege nicht dauernd sehen können, sondern z. B. durch Gräben hindurch wandern oder anderweitige Schwierig- keiten auf Umwegen überwinden müssen. In interessanter Weise konnte Yerkes!) diesen Ortssinn des Frosches experimentell beweisen : Der Frosch lernte den Ausweg aus einem Labyrinth so genau kennen, daß er ihn ohne vergeb- liches Suchen fand, während er in einem gleichartigen, nur spiegelbildlich vom vorigen unterschiedenen Labyrinth lauter Irrwege machte. Das Auffinden und Erreichen der stets lebenden Nahrung bei den Froschlurehen verläuft zwar bekanntlich — wie schon angedentet wurde — in hohem Grade in bestimmten unveränderlichen Bahnen: Die Bewe- gung des Beutetieres ruft zuerst die Kopfbewegung, dann die Schreitbe- wegung nach ihm hin bei dem Amphibium hervor, dann folgt, anscheinend mit unausbleiblicher Gewißheit, der Zungenschlag, mit welchem die Beute erreicht wird: vorausgesetzt natürlich, daß letztere nicht vorher sich zu bewegen aufhört. Ganz starr, ganz unplastisch, sind aber auch diese Reaktionen nicht. Es kann mit ihnen z. B. das Ortsgedächtnis in Interferenz treten. So sah ich eine Kreuzkröte, die in einem im Terrarium liegenden Glase nahe dessen Boden saß und von dort aus außerhalb des Glases liegende Mehlwürmer erblickte, auf großem Umwege auf diesen hingelangen, indem sie nämlich, Kopf und Augen immer auf die Würmer gewandt, halb rückwärts zunächst zu der Öffnung des Glases ging und dann erst gerade- wegs auf die Würmer losmarschieren konnte. Gleich darauf kehrte sie, natürlich auf demselben Umwege, an ihren Wohnplatz zurück. Auch können die Frösche nach Beobachtungen von Asa A. Schäffer ?) durch schlechte Erfahrungen mit einer gewissen Nahrungsart abgehalten werden, sich dieser fortan zuzuwenden. Sie verwerten also die Erfahrung zweiffellos. Schäffer legte seinen Fröschen haarige Raupen vor und stellte fest, dab nach 4—Tmaligem Zuschnappen von seiten der Frösche und je- desmaligen schleunigen Ausspeien der Reflex des Zuschnappens gänzlich ausblieb. Die neuangenommene Gewohnheit, haarige Raupen zu verschmä- hen, blieb etwa 10 Tage lang bestehen. Fast noch interessanter ist fol- gender Versuch. Regenwürmer wurden in Verbindung mit einer elektri- schen Leitung gebracht, so daß den Frosch im Augenblick des Zuschnap- !) R. Yerkes, The instinets, habits, and reactions of the frog. Harvard Psy- cholog. Studies, vol. 1, 1903. ?®) Asa A. Schäffer, Habit formation in frogs. Journal of animal Behavoir, Band 1, Nr, 5, 1911. gu) V. Franz. pens ein elektrischer Schlag traf. Der Wurm wurde anscheinend ohne jegliche Beschwerden heruntergeschluckt, aber der Frosch rührte darauf 7 Tage lang keinen Regenwurm mehr an, während er Mehlwürmer. mit denen er keine schlechte Erfahrung gemacht hatte, nach wie vor schnappte und frab. Nicht zu unterschätzen sind auch einige Beobachtungen. welche (. Zimmer‘) mitteilt. Die Zeit, in welcher gefangene Lurche ans Futter sehen und ihren Fluchtreflex ablegen, ist nach Zimmer länger, wenn der Lurch allein, als wenn er mit anderen schon eingewöhnten Tieren im Terra- rum war: „Es zeigte sich hieraus, dal) die Lurche imstande sind. aus dem Verhalten ihrer Verwandten durch Nachahmung zu lernen“, es liegt also etwas wie ein Erkennen des Artgenossen, also wohl wirklich eine Be- eritfsbildung vor. Auch wenn man die Tiere daran gewöhnte, Fleischstücke von einem hingehaltenen Federhalter zu schnappen, zeigte sich, dab ein ins Terrarium eingesetzter Neuling dies überraschend schnell lernte, wenn (lie übrigen Insassen bereits an den Federhalter gewöhnt waren. Auch konnte nach Zimmer bei den Amphibien die Gewohnheit, nur nach sich bewegenden Objekten zu schnappen, ersetzt werden durch die. nach einem ruhenden Stück gleich zu schnappen , was immerhin eine ge- wisse, wenn auch nicht eine sehr bedeutende Lernleistung ist. Schließlich möchte ich erwähnen, daß nach Beobachtungen von mir und anderen, besseren Amphibienkennern unsere braunen Froscharten wahrscheinlich ihre Todfeindin, die Ringelnatter kennen, wenn sie älter geworden sind und die Kenntnis von ihr augenscheinlich im individuellen Leben erworben haben. Auch hier kann vielleicht zum Teil an ein Klug- werden durch fremden Schaden gedacht werden, obschon auch mancher Frosch eigene Bekanntschaft mit dem Gebiß der Schlange macht. ohne jedesmal gefressen zu werden. Wie steht es nun im Verhältnis zu den Amphibien mit der Psycho- logie der Fische. Hierüber kann ich mich nicht ganz so eingehend äußern wie bei den Amphibien, aber es scheint doch, daß das Gedächtnis. Lernen. Verwerten von Erfahrungen bei den Fischen hinter dem der Am- phibien mindestens nicht zurücksteht. Ja, allem Anschein nach übertrifft sogar der Fisch im allgemeinen das Amphibium. (sehen wir zunächst wieder auf das Ortsgedächtnis ein. Die Frage nach dem Ortsgedächtnis der Fische hat mich in letzter Zeit eingehend beschäftigt, und ich bin ihr auf dem Wege einer Umfrage, deren Ergeb- nisse bis jetzt nur vorläufig veröffentlicht sind?), näher getreten. Hiernach vermögen sich die Karpfen sehr detaillierte Ortskenntnis anzueignen. Beim Aufsuchen der Laichplätze sollen sie sogar Vorposten aussenden, die das (rewässer nach einem passenden Platze absuchen und dann erst ihre Ge- ') €. Zimmer, Zur Psychologie der Lurche. „Kosmos“, 1909, Heft 12. °) V, Franz, Über Ortsgedächtnis bei Fischen und seine Bedeutung für die Wan- derungen der Fische. Berichte der Versamml. D. Naturf. u. Ärzte zu Karlsruhe 1911, Abteilung für Zoologie. — Definitiver Bericht erschien inzwischen im Archiv für Hydro- biolorie und Planktonkunde. Bd. VII, 1912. Vergleichende Neurologie und Psychologie. 9] nossen holen. Bei vielen anderen Fischen ist das Ortsgedächtnis weniger detailliert als beim Karpfen nach diesen und anderen Beispielen, dafür aber reicht es räumlich weiter. So kehrten einzelne alte Hechte auf 600 m hin an ihren Standort zurück. wenn sie in der genannten Entfernung ausge- setzt wurden oder dem Fischer entsprangen,, andere sogar auf 2 km, Bachforellen in einem Falle sogar auf 6 km usw. In einem Bache ist das Wiederfinden zwar verhältnismäßig leicht, weil der Fisch nur in einer Richtung zu schwimmen braucht, aber in manchem der genannten Bei- spiele mußten die Fische auch ein Gewirr von Gräben oder einen Graben, der einen Teich mit einem anderen verband, durchschwimmen. Diese Orts- sinnleistungen sind nun freilich schwer mit denen. die ich von den Am- phibien erwähnte, abschätzend zu vergleichen, wenn man aber eine Ent- scheidung fällen will, so kann sie wohl nur zugunsten der Fische ausfallen. Erstaunlich ist auch, daß Fische, die gewöhnt sind, an eine bestimmte Futterstelle heranzukommen oder sich von ihrem Pfleger mit der Hand aus dem Wasser fangen lassen, diese „Zahmheit* durchaus ablegen. wenn ihnen nur einmal eine Unbill zugefügt worden ist. Ein solches Beispiel er- wähnt Edinger!) von einer hegenbogenforelle, die einmal am Schwanze empor- gehoben wurde, und ich weiß einen ganz analogen Fall von einem Stichling zu berichten, der einmal durch Ungeschicklichkeit in ein am Boden liegendes Tierfell gefallen war und aus ihm nur mit Mühe herausgeholt werden konnte. Alle Angler sind sich ferner darüber einig, dab Fische, namentlich wenn sie alt werden. die Angel kennen lernen. Alte Fische leisten auch an Ortsgedächtnis mehr als junge, und wenn das Niveau in einem Teiche sich senkt, so bleiben nur junge Fische in kleinen am Ufer zurückblei- benden Seitenlachen zurück, die älteren merken das Sinken des Wassers ganz genau und flüchten rechtzeitig in die Tiefe. Man beobachtet sogar bei Fischen, die in ein ihnen unbekanntes Gewässer gesetzt werden. zu- nächst ein anscheinend planmäßiges Absuchen ihrer neuen Umwelt, bevor sie eine geeignete Aufenthaltsstätte wählen. Diese und anderweitige Tatsachen zeigen zunächst, daß die Fische durchaus nieht bloße Reflextiere sind, ja solche gibt es offenbar unter den Wirbeltieren überhaupt nicht, weder in der „untersten“ noch in einer anderen Klasse. Sodann aber ist auch wahrscheinlich. daß nach ihrem psy- ehischen Verhalten die Fische gar nicht zu unterst, sondern vielmehr über den Amphibien stehen. Verträgt sich nun diese Schlußfolgerung mit den Tatsachen der Hirnanatomie oder wird sie gar durch diese bestätiet? Wir sahen oben, daß man auf Grund gewisser Merkzeichen eine von den Fischen zu den Amphibien usw. aufsteigende Gehirnentwicklung hat feststellen wollen. Nicht wenn wir nach gewissen speziellen Merkzeichen, wohl aber wenn wir nach der Gesamtausbildung des Gehirns urteilen. so sind augenschein- ') L. Edinger, Haben die Fische ein Gedächtnis? Münchener Allgemeine Zeitung vom 2]. u. 22. Okt. 1899. 92 V., Franz. lich die Gehirne der Fische viel komplizierter als die der Amphibien. Schon die ganze gewebliche Struktur des Gehirns ist bei den Fischen viel kom- plizierter als bei_den Amphibien. Hierher kann wohl gerechnet werden, dal auf gleichem Raume im Fischgehirn vielmehr (natürlich entsprechend kleinere) Zellen vorhanden sind als im Amphibiengehirn, ferner dal) die einzelnen Zellen, was ihren Reichtum an seinen Fortsätzen betrifft, beim Fisch durchsehnittlich viel komplizierter sind. Aus diesem Grunde bezeich- nete Edinger die Amphibiengehirne ziemlich treffend als „embryonal“. Auch jeder Teil des Fischgehirns ist sowohl in seiner eröberen inneren Struktur als auch in seiner äußeren Form in der Regel komplizierter als beim Am- phibiengehirn. Dazu kommt noch. daß die Fischgehirne im Verhältnis zum Körper der Tiere größer sind als die Amphibiengehirne. Dieses „im Verhältnis zum Tierkörper“ müssen wir nun noch nach Ge- sichtspunkten, die wir schon bei den Säugetieren streiften, unter die Lupe nehmen. Es ist offenbar, dab die Fische als Wassertiere, als gute Schwim- mer, die stets einen erheblichen Reibungswiderstand überwinden müssen. einer starken Körpermuskulatur bedürfen, und die Tatsache, dal) das Mus- keltleisch am Fischkörper im Verhältnis zu den übrigen Bestandteilen, wie Eingeweide, Kopf, Knochen usw., eine so große Masse bildet. ist es ja auch. die uns diese Tiere für die Tafel begehrenswert erscheinen läßt. Die dadurch sehr große Körpermasse des Fisches drückt natürlich das relative Hirn- gewicht herab, und wenn wir im Geiste die hierin liegende Fehlerquelle unserer Schlubßfolgerungen auszuschalten suchen, so erscheinen uns die Fischgehirne aufs neue recht groß, also bedeutend entwickelt und zu mancherlei Leistungen befähigt. Freilich fehlt bis auf geringe Spuren (Anfangsstadien) im Fischge- hirn der dem Großhirn der Säugetiere entsprechende Bestandteil. Steht dies mit den vorher erwähnten Tatsachen im Widerspruch ? Sollten keine anderen Hirnteile als das Vorderhirndach kompliziertere Assoziationstätig- keiten des Organismus vermitteln können? Augenscheinlich doch! Denn wir müssen uns sagen. dab. wenn im Säugergehirn die höchstkomplizierten und speziell auch die bewußtwer- denden Hirnvorgänge ans Großhirn gebunden sind, sie wahrscheinlich auf früheren Stadien, eventuell schwächer entwickelt, auch anderen Hirnteilen eigen waren. Ja mit der Tatsache, dal im Großhirn des Säugetieres (oder des Menschen) sich Bahnen aus sehr verschiedenen Sinnesgebieten sammeln. dab in ihm gleichsam ein universeller Zentralapparat des Gehirns und des ganzen Organismus geschaffen worden ist, mit dieser Tatsache würde es sich wohl hinreichend erklären, dab die am wenigsten starr gewordenen und mit Bewußtsein verknüpften Hirnvorgänge auf diesen Hirnteil konzen- triert erscheinen: sie sind offenbar ihm allen geblieben, während sie den übrigen Hirnteilen nach und nach verloren gegangen sind. Es liegt also gegen unsere obigen Ausführungen, wonach das Fisch- vehirn zu recht bedeutenden Leistungen und auch Neuerwerbungen be- fähigt ist, zunächst kein Widerspruch in dem Bau des Fischgehirns. Trotz Vergleichende Neurologie und Psychologie. 95 fast völlig fehlender Großhirnanlagen erscheint es uns infolge seines kom- plizierten Gesamtbaues durchaus zu derartigen Leistungen, wie wir sie oben erwähnten, befähigt. telativ nebensächlich ist gegenüber dieser Feststellung die Frage, ob nun im Fischgehirn auch noch ein ähnlicher Zentralapparat. wie er im Großhirn der Säugetiere gegeben ist, aufgefunden werden kann. Ich könnte mir die Frage vorlegen, ob das im folgenden hierüber zu Sagende an dieser Stelle mitgeteilt werden soll, weil es sich um meine eigenen, von Hypothese nicht ganz freien Untersuchungen handelt, die erst jüngeren Datums sind und der Prüfung durch spätere Forschungen noch bedürfen. Aber ich denke, nachdem dieser ausdrückliche Hinweis vorausgegangen ist. darf ich auf die zu recht interessanten Schlußfolgerungen führenden Ansichten. die ich an anderer Stelle ausführlich veröffentlicht habe!), kurz eingehen. So kompliziert auch das Knochenfischgehirn im ganzen ist, aus so vielen komplizierten Einzelapparaten sich auch jeder Teil desselben, z. B. das Zwischenhirn oder das Mittelhirn, aufbaut, ein großer Bestandteil des Knochenfischgehirns ist im großen ganzen relativ einheitlich gebaut, er ist ein Organ, im Gegensatz z. B. zum Mittelhirn, welches sich aus einer Anzahl Organen aufbaut. Ich meine das Kleinhirn der Knochenfische. Und in dieses Kleinhirn nun strahlen Bahnen aus sehr verschiedenen „Sinnesgebieten“ des Gehirns ein, so dab —- ganz wie es beim Großhirn der Säuger ist — die Sinnesorgane des Tieres (z. B. Auge, Hautgefühl). wenn sie Impulse ins Gehirn entsenden, immer einen Teil davon ins Kleinhirn abgeben. Sicher gehen ins Kleinhirn eine Bahn, welche optische Impulse zuführt, eine vom statischen Sinnesapparat (dem inneren Ohre), eine aus dem Rückenmark wahrscheinlich Empfindungen der Körperhaut dem Kleinhirn meldend — und eine Bahn von den Sinnesorganen der Seitenlinie, die bekanntlich den Fischkörper seitlich entlang zieht und mit Sinnes- organen zur Empfindung von Wasserbewegungen besetzt ist. Wahrschein- lich kommen dazu ferner Bahnen aus den Endstätten des Nervus trige- minus und facialis (beides der Hauptsache nach sensible Kopfhautnerven) und des Nervus vagus, eines Eingeweidenerven, auch können wir vielleicht mit einer Riechbahn zum Kleinhirn rechnen. Wir sehen also, daß eine ganz stattliche Anzahl von Nerven gleichsam Ableger ins Kleinhirn ent- sendet. daß dieses also einen recht vielseitigen Zentralapparat im Fischge- gehirn darstellt, ganz anders als im Säugergehirn, wo seine Verbindungen mit anderen Hirnteilen und wohl auch seine Funktionen, die nach einer Meinung hauptsächlich in der Erhaltung der Gleichgewichtslage. nach einer anderen in einer Regulierung der gesamten Tätigkeit der Skelettmusku- latur besteht, viel einseitiger sind. — Ich könnte mich auch so ausdrücken: das Kleinhirn verdient bei den Fischen nicht diesen Namen, seine Stellung unter den anderen Hirnteilen und seine mutmaßliche Wirkungsweise ent- ') Y, Franz, Das Kleinhirn der Knochenfische. Zoolog. Jahrb., Abt. f. Anat. Bd. 32, 1911. — Das Mormyridenhirn. Ebenda. — Beiträge zur Kenntnis des Zwischen- hirns und Mittelhirns der Knochenfische. Folia Neurobiologica, Bd. VI, Nr. 5 u. 6, 1912. 94 V. Franz. spricht vielmehr dem Großhirn der Säugetiere. Es ist fraglos, dab sich von dieser Auffassung aus Problemstellungen für experimentell-physiologische Untersuehungen ergeben. Die bisherigen experimentellen Studien am Fisch- eehirn sind, auch insoweit sie die Resektion des Kleinhirns betreffen, nicht dazu angetan, zu unserer obigen Auffassung etwas Entscheidendes zu sagen. Natürlich erhebt sich nunmehr die Frage, warum haben die Fische in diesem Hirnteil, die Säugetiere in jenem ihren Zentralapparat? und warum haben Säugetiere und Vögel Kleinhirn und Großhirn nebeneinander in starker. Ausbildung? Diese Frage läßt sich wohl beantworten. Nach übereinstimmender Meinung aller vergleichenden Anatomen entstand das Kleinhirn ursprünglich als ein Anhang des Endkerns des Nerven der Sei- tenlinie und des Gleichgewichtssinnesorgans, es bildete sich also aus, indem in diese Nervenendstätten nach und nach mehr und mehr Bahnen aus anderen Sinnesnervenendstätten einstrahlten und es sich in gleichem Male vererößerte. Das heißt aber nichts anders als: Das Kleinhirn entstand in Anlehnung an diejenigen Hirnnerven, welche für das Wasserleben der wichtigste sind. In ganz gleicher Weise entstand nun, wie schon fast aus seiner Lage hervorgeht, und wie neuerdings von Kappers eingehend aus- geführt wurde. das Großhirn in Anlehnung an die Endstätte der Riech- bahn (des „Riechnerven“, wie man — anatomisch nicht ganz richtig — auch wohl sagt), also an denjenigen Hirmteil, welcher für das Leben der Landtiere eine ganz besondere Wichtigkeit hat, namentlich wohl für das Leben der ersten Landtiere, die vermutlich ganz nahe über dem Boden eelebt haben. Darin also, daß die Wirbeltiere wohl ursprünglich nur Was- sertiere waren. wie noch hente die Fische, und dab später ein Teil von ihnen zum Landleben überging die heutigen Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere liegt der Grund, weshalb jene, die Fische, den Zentralapparat des Gehirns im Kleinhirn haben, während diese, namentlich die Reptilien, Vögel und Säugetiere, die Großhirnrinde zum Zentralapparat sich entwickeln lieben, wobei das Kleinhirn seiner Funktionen zum Teil ent- hoben wurde und zu einseitigerer Tätigkeit kam, bei den Säugern sogar in Anhängiekeit vom Großhirn verfiel, wenn auch dabei zu komplizierter Form und Struktur gelangte. Ist es also berechtigt. das Kleinhirn als den wichtigsten Zentralap- parat des Fischgehirns zu betrachten, so ist überflüssig. noch darauf hin- zuweisen, dab dieses Kleinhirn, an sich sehr oft von überragender Größe unter den Hirnteilen des Fisches, bei einigen afrikanischen Sübwasserfischen, den Mormyriden, eine so enorme Größe erlangt, dal) es alle übrigen Hirn- teile zudeekt. von seinem ersten Untersucher Zrdl sogar als Großhirm be- schrieben wurde und dadurch dem Gesamtgehirn dieser Fische eine ebenso mächtige Größe gegenüber dem Fischkörper verleiht, wie wir es sonst nur noch beim Menschen und aus speziellen Gründen, die wir oben auf- führten bei Vögeln und kleinen Affen finden. Leider wissen wir nicht, was nun eigentlich in der Lebensweise dieser Fische der enormen Kleinhirnvergrößerung entspricht, die in viel Vergleichende Neurologie und Psychologie. 95 deutlicherem Maße einen Sonderfall unter den Fischgehirnen darstellt, als das vergrößerte menschliche Großhirn gegenüber den übrigen Säuger- oder Affengroßhirnen. Man hat diese Tiere im Aquarium beobachtet, auch wohl einige besondere Fähigkeiten bemerkt, z. B. geschicktes Schlängeln durch Wasserpflanzen — wozu jedoch auch der in seinem Gehirmbau nicht besonders ausgezeichnete Stichling imstande ist — ferner die Fähiekeit, durch schwache elektrische Schläge, Angreifer sich bereits aus der Ferne vom Leibe zu halten, während der Schlag des Zitterrochens, des Zitteraales und des Zitterwelses mit viel elementarer Gewalt hauptsächlich nur aus großer Nähe oder bei Berührung wirkt — aber das sind doch nicht so auffal- lende Fähiekeiten, wie die Kleinhirnvergrößerungen eine auffallende Eigen- schaft des Mormyridengehirns ist. Was folgt hieraus? Daraus ergibt sich deutlich, dab wir im Beobachten des Verhaltens der Tiere, z. B. bei den Fischen, noch ungemein weit zurück sind, daß uns dies — wie es sich ja leicht versteht — um so schwerer fällt, je weiter uns eine Tierart ver- wandtschaftlich entfernt ist. Wir erwähnten schon Eingangs ähnliches, und hierin haben wir zweifellos eine der Wurzeln dafür, daß man die kaltblü- tigen Wirbeltiere zeitweilig so betrachten konnte, als wären sie der Mehr- zahl nach im wesentlichen bloße Reflextiere, und dab man lange Zeit die Leistungsfähigkeit des Fischgehirns nicht erkannt. und demgemäß auch den Bau des Fischgehirns in bezug auf seine Leistungsfähigkeit nicht richtige gewürdiet hat. 5. Gliedertiere, besonders Insekten. Ein „Gehirn“ ist auch sämtlichen Insekten eigen. Obwohl bei diesen Tieren der mächtigste Strang des Nervensystems an der Bauchseite liegt und man daher bei ihnen von einem Bauchmark sprechen muß, statt von einem Rückenmark, wie bei den Wirbeltieren. obwohl also bei den Glieder- tieren die Organisation des Nervensystems wie die des ganzen Körpers auf ganz anderer Grundlage beruht als bei den Wirbeltieren, finden sich doch zwischen den beiden genannten Abteilungen des Tierreiches gewisse Parallelerscheinungen im Bau des Nervensystems. So ist bei beiden außer dem erwähnten Bauchmark bzw. Rückenmark ein mit ihm in schwacher Verbindung stehendes, viel diffuseres, aber doch ziemlich selbständigeres Eingeweidenervensvstem (System des Sympathiens) vorhanden, welches weder zu den Sinnesorganen, noch zu den Glieder- und Körpermuskeln irgendwelche Beziehungen hat, dagegen die Bewegungen des Darmes, des Herzens usw. reguliert und wie beim Menschen so auch vermut- lich mutatis mutandis bei den Insekten Schmerzempfindungen, Hungergefühle und dergleichen auf den schwachen Verbindungswegen mit dem „Haupt*- Nervensystem dem Bewußtsein zuführen kann. Selbstredend sind die Teile des Nervensystems gleich allen Organen des tierischen Körpers von der Funktion abhängig, sie vergrößern. bzw. verstärken sich nicht nur den Muskeln eines Turners im individuellen Leben, sondern auch stammesgeschichtlich, und darauf beruht es z. B., dab beim 06 V. Franz. Menschen das Schultermark und Lendenmark dicker sind, als das übrige Rückenmark, weil von jenen Teilen die Nerven für Arme und Beine aus- zehen. Stärker als bei Säugetieren fallen meist bei den Vögeln die ge- nannten Anschwellungen des Rückenmarks ins Auge, und bekanntlich er- reichte bei einem riesigen Reptil der Juraperiode, dem Stegosaurus, das Lendenmark eine so enorme Dicke, dab es das kleine im Kopfe gelegene Iteptilsgehirn um ein vielfaches übertraf und man sich sogar von einem „Steißbhirn” zu sprechen erlaubt hat. Ganz entsprechende Anschwellungen am Bauchmarke finden wir wiederum bei den Gliedertieren. Sehr auffällige Knoten bilden sie z.B. im Brustteile bei den Krabben (Taschenkrebsen). wo ja die vorderen Beine ähnlich wie beim Flußkrebs und Hummer oder in noch stärkerem Grade kräftig ausgebildet sind, während die hinteren stark reduziert sind. Die Anschwellungen des Bauchmarkes, welche dem mit seinen drei kräftig schreitenden Beinpaaren ausgerüsteten Käfer eigen sind, fehlen noch der kurzfüßigen Käferlarve. Selbstredend kann man nun das Gehirn diesen Anschwellungen in gewisser Weise zurechnen, was uns einerseits zum Philosophieren über eine Rückenmarks- bzw. Bauchmarksseele, andrerseits zu der Anschauung verlocken könnte, daß das Gliedertiergehirn etwas derartig besonderes nicht wäre, daß man ihm besondere, wohl gar verstandesmäßige oder sogar — selbstredend hypothetisch — bewußte Vorgänge zumuten könnte. Doch sprechen wohl schon die uns bekannten psychologischen Tatsachen dagegen. Das Vermögen, dieses oder jenes zu lernen, ist wohl sehr weit im Tierreiche verbreitet und dürfte auch keinem Gliedertiere fehlen. Immer wenn wir Ortssinn bei den Tieren konstatieren können, ist es vorhanden, denn der Ortssinn oder das Ortsgedächtnis muß von jedem Individuum im eigenen Leben erworben werden, es kann nicht ererbt sein. Nun ist es vielleicht ein häufiger Fall, dab z. B. unsere Käfer oder sonstigen Insekten einen bestimmten Schlupfwinkel haben und in einem gewissen Umkreise um denselben die Gegend kennen, so daß sie von ihren Exkursionen aus, die ja immer nur eine bestimmte Ausdehnung haben werden, wiederfinden. Diese Fähigkeit, die zweifellos mindestens beginnende Verstandestätig- keit ist, ist ja wahrscheinlich im Tierreiche weit verbreitet, soweit die Tiere hinreichend beweglich sind, um sie entwickeln zu können. Ich selbst habe gelegentlich einmal gesehen, dab die Wasserinsekten eines kleinen Teiches bei Beunruhigung immer nur der Teichmitte zueilten, auch wenn die Quelle der Beunruhigung, ein Stock oder ein watender Menschenfub Ihnen den Weg versperrte. Unlängst wird mitgeteilt!), daß man an der Norfolk-Küste Ostenglands ein Experiment auf den Ortssinn der Krabben angestellt habe, wobei sich ergab, dal von einer großen Anzahl mit Merk- zeichen versehener, weit vom Fangorte entfernt ausgesetzter Krabben etwa 400 - also wohl eine vertrauenerweckende Zahl — größtenteils in nächster Nähe des Fangortes, andere auf dem Wege dorthin, wieder gefangen wurden. ') Allg. Fisch.-Ztg. 1912, Nr. 8, S. 212. u Vergleichende Neurologie und Psychologie. 97 jeispiele für Lernvermögen der Insekten liegen auch darin, daß man diese Tiere bis zu gewissem Grade abrichten kann. Forel war es gelungen, einen Wasserkäfer abzurichten, so dal; er herbeikam und Nahrung ent- gegennahm, wenn man ihm den Finger entgegenhielt, und Wasmann!), be- stätigt, daß dies möglich ist und daß) bei Ameisen sogar ähnliches in we- nigen Tagen zu erreichen ist. Natürlich ist das nichts anderes als die ein- fachste Art der Abrichtung, die eben einfach mit der Freßlust des Tieres rechnet. Frau M. Sondheim, Frankfurt a. M., erlebte, dat) eine Libellenlarve (Aeschna) nicht nur ihre anfängliche Scheu ablegte und sich gewöhnte, das Futter aus der Hand zu nehmen, sondern auch herankam, sobald die Pflegerin nur an das Aquarium herantrat; ja das Tier verfolgte die Bewegungen der Dame im Zimmer und saß, wenn diese sich längere Zeit an einer be- stimmten Stelle aufhielt, regelmäßig an der ihr zugewandten Glaswand des Aquariums. Zweifellos hatte die Libellenlarve alle diese Bewegungen ihrer Pflegerin, die allerdings für das Tier wohl nur ein „Etwas“ gewesen sein wird, mit der Vorstellung vom Fressen erfahrungsmäßig verknüpfen gelernt. ?) Die Ameisen, oft als sehr intelligente Tiere betrachtet. zeitweilig auch als bloße Reflexmaschinen angesehen, verstehen nun Jedoch, nach Wasmann noch mancherlei anderes zu lernen. So begreifen sie, was eine Glaswand ist, und lassen von ihren Abwehrreflexen ab, wenn der gefahrdrohende Finger des Menschen durch die Glaswand von der Ameise, die sich in ge- wohnter Umgebung befindet, getrennt ist. Auch manches an dem ausge- sprochenen “eruchssinn der Ameisen zeigt das Vermögen zu lernen, indi- viduelle Erfahrungen zu verwerten, und danach das Verhalten zu modifi- zieren, an. Sonst könnten sie nicht friedlich reagieren auf den Geruchs- stoff einer fremden Art. wenn diese einmal in ihrem eigenen Neste auf- gezogen wurde, und feindlich auf den Geruchsstoff der eigenen Schwestern, aus deren Kolonie sie als Puppen geraubt wurden. Schließlich kann man sich auch das Wegfinden bei den Ameisen begreiflicherweise keineswegs anders erklären, als durch die Annahme. daß sie im individuellen Leben Erfahrungen machen und verwerten können. Auch die Biene gilt als ein sehr intelligentes Wesen. Ausführlich hat v. Buttel-Reepen®) sich mit der Frage beschäftigt, ob die Bienen Reflex- maschinen sind, und er verneint sie aus vielen Gründen. Doch nicht alles. was da angeführt wird, kann als Beweis für das Vermögen, im indivi- duellen Leben zu lernen, Erfahrungen zu verwerten, gelten. Sichere Beweise für diese Fähigkeit liefern allerdings die erstaunlichen Beispiele von Orts- gedächtnis bei den Bienen, welches bis 4 km weit reicht, der- maßen, dab Bienen, die in dieser Entfernung von ihrem Stocke mitten ') E.S.J. Wasmann, Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen. II. Auflage. Stuttgart 1909. ®) M. Sondheim, Wahrnehmungsvermögen einer Libellenlarve. Biolog. Zentralbl. 1910, Bd. 2. ?) v. Buttel-Reepen, Sind die Bienen „Reflexmaschinen“? Experimentelle Beiträge zur Biologie der Honigbiene. Biolog. Zentralbl. Bd. 20, 1900. E. Abderhalden, Fortschritte. VII. =] gg V. Franz. auf einer Wiese oder auch inmitten eines Hofes in der benachbarten Stadt ausgelassen wurden, ihr Heim wiederfanden. Auch bei den Geruchsleistungen der Bienen haben wir vielleicht zum Teil ähnlich wie bei den Ameisen die Mitwirkung verstandesmäßiger Fähigkeiten anzunehmen: sehr vieles jedoch fällt unter den Begriff Instinkt und ist damit — nach unseren einleitenden Ausführungen vom Reflex nur graduell,. nicht qualitativ verschieden. Die Fähigkeit, auf eine große Anzahl verschiedener Gerüche (Nestgeruch, Individualgeruch. Königingeruch, Dronengeruch usw.) verschieden zu reagieren, ist wahrscheinlich angeboren. Auch das ganze komplizierte Mitteilungs- oder Verständigungswesen der Bienen, welches auf verschiedenartigem Summen beruht, dürfte in seinen Grundzügen Stück für Stück rein reflek- torisch, im ganzen also rein instinktiv zustande kommen. Auch wissen wir natürlich heute genau, daß die Bienen nicht als gelehrte Mathematiker ihre sechskantigen Waben. deren Regelmäßigkeit oft über Gebühr gepriesen worden ist!), bauen, und da wir heute ebenso genau wissen, daß nicht ein einfach mechanisches Prinzip die sechskantige, in eine Pyramide auslau- fende Form der Waben erzeugt, daß sie auf viel komplizierterem Wege entstehen als die kantigen Abplattungen bei quellenden, sich aneinander drückenden Erbsen. daß die Biene Stück für Stück die wächserne Wand aufbaut, wie auch ähnliches mutatis mutandis bei den Termiten oder „weißen Ameisen“ vorkommt, so müssen wir auch den Wabenbau der jiene als eine hochkomplizierte instinktive Tätigkeit betrachten. Überflüssig ist es, nun auch noch zu erwähnen, daß die Anlegung von Bauten oder Nestern bei den Ameisen gleichfalls eine hochentwickelte instinktive Tätigkeit ist. Im allgemeinen sind derartige Instinkte bei der Ameise wohl noch komplizierter als bei der Biene. Wissen wir doch, dab manche Ameisenarten sich Blattläuse als ihre Milchkühe halten, und dab andere auf selbstabgeschnittenen, faulenden Blätterhaufen sich Pilze züchten, von denen sie sich ernähren. Es würde zu weit führen, auf diese sehr interes- santen Dinge hier näher einzugehen, da Ja nicht Fragen der Psychologie allein, sondern der Nenrologie und Psychologie heute unseren Gegenstand bilden. Fragen wir uns daher nach dem Bau des Gehirns der Gliedertiere und speziell danach, ob wir Beziehungen zwischen den psychologischen Lei- stungen und dem Bau des Gehirnes auffinden können. Das ist nun gewiß) der Fall. An den Gehirnen der Insekten heben sich verschiedene Teile mit mehr oder weniger großer Deutlichkeit ab. Solche sind zunächst die Endanschwellungen (Endstätten oder primären Zentren) gewisser Sinnesnerven, insbesondere der Sehnerven und des An- tenen-(Fühler-)Nerven. Diese Sehlappen (Sehloben) und Riechlappen (Antennal- loben) am Gehirn haben begreiflicherweise mit den vorhandenen komplizier- teren psychischen Fähigkeiten wenig zu tun, ihre Größe geht genau pa- rallel der Stärke der zu ihnen tretenden Nerven und damit der Größe der betreffenden Sinnesorgane. Tiere mit großen Augen, wie z. B. das meer- ') HH. Vogt, Geometrie und Ökonomie der Bienenzellen. Breslau 1911. Vergleichende Neurologie und Psychologie. 99 bewohnende Krebschen Hyperion, haben relativ große Sehloben an ihrem (rehirn, und bei unseren eroßäugieen Libellen bilden die Sehloben den größten Bestandteil des Gehirns. Wichtiger für die eigentlich psychologische Beurteilung des Insekten- gehirns werden natürlich solche Teile an ihm sein, die durch Verbindung mit mehreren anderen Hirnteilen sich gewissermaßen als Zentralorgane mehr oder weniger vielseitiger Verrichtung kennzeichnen. Es wird z.B. ein „Zentralkörper“ am Insektengehirn beschrieben, und er mag wohl eine derartige Verrichtung haben. Noch viel wahrscheinlicher aber ist dies für die sogenannten „pilzhutförmigen Körper“, welche, an der Rückenseite des Gehirns gelegen, wohl keinem Insekt fehlen, auch bei Krebstieren in ähnlicher Weise ausgebildet sein dürften, auch bei Tausendfüßern vorhanden sind !) und gleichsam ihre Vorstufen in den Gehirnen der Regenwürmer erkennen lassen’), und die seit Dujardins Untersuchungen oft als die In- telligenzorgane des Insektengehirns bezeichnet worden sind. Diese pilzhutförmigen Körper, auch Becher genannt, sind bei den verschiedenen Insekten in der Tat sehr verschieden entwickelt, und ihre höchste Entwicklung und bedeutendste Größe weisen sie bei Ameisen, Bienen und Wespen auf. Schon diese Tatsache läßt annehmen, daß sie mit den psychischen Leistungen viel zu tun haben, wenn auch die oft nieder- geschriebene Behauptung, daß die pilzhutförmigen Körper mit „allen“ Teilen des Gehirns Verbindungen hätten, nach dem gegenwärtigen Stande der Kenntnisse noch auf recht schwachen Füßen steht; denn sicher bekannt sind nur Verbindungen dieser Körper mit den Seh- und Riechanschwel- lungen sowie indirekte mit den Endigungen der kleinen Ozellarnerven (welche von den kleinen Punktaugen oder Ozellen, die neben den beiden großen Augen in Dreizahl vorhanden sind, ausgehen). Viallianes hat das Wort geprägt, zwischen einem Heuschreckengehirn und dem Gehirn einer Wespe sei im Hinblick auf die hier in Rede ste- henden Zentralorgane ein ebenso großer Unterschied, wie bei den Wirbel- tieren zwischen dem Gehirn eines Frosches und eines Säugetieres. Das ist wohl durchaus richtig: womit jedoch —- bei den Säugetieren wie bei den Insekten — nicht gesagt ist, daß diejenigen Formen, welche gewöhnlich als die niedrigsten gelten, auch das einfachste Gehirn aufweisen. Als viel- mehr jemand unlängst eigens das Gehirn eines „niederen“ Insekts (Lepisma) untersuchte, fand er an ihm keine besondere Einfachheit des Baues, sondern nur ein hochgradiges Abweichen von den sonst be- kannten Verhältnissen. Im einzelnen sind die pilzhutförmigen Körper nach einer Untersu- chung von Flögel?) am schwächsten unter allen Insekten bei den Halb- ') B. Haller, Über den allgem. Bauplan des Tracheaten-Syneerebrums. Arch. f. mikr. Anat., Bd. 65, 1904. °?) C. H. Turner, Notes on The Mushroom Bodies of the Invertebrates. Zoolog. Bull. Boston. Bd. II, 1899. ®) J. H. L. Flögel, Über den einheitlichen Bau des Gehirns in den verschiedenen Insekten-Ördnungen. Zeitschr. f. wiss. Zoolog. Leipzig 1878. 7# 100 V. Franz. tlüglern entwickelt. also bei den Wanzenarten, sie stellen hier angeblich nichts mehr als Rudimente dar. In größerer Entwicklung finden sie sich schon bei Bremsen, bei den Libellen, bei den Wasserkäfern, noch größer bei den Heuschrecken, beim Ohrwurm, bei kleinen Schmetterlingen . bei (sallwespen und Blattwespen. Viele Schmetterlinge jedoch, z. B. Uossus, Vanessa. Sphinx zeigen die Becher in viel bedeutenderer Ausbildung, ähn- lich die Küchenschabe (Blatta),. und nun kommen wir zu den Formen. bei welchen sie den Höhepunkt erreichen: Ameise, Biene und, auch diese noch übertreffend, die Wespe. Die Grehirne der Ameisen und Bienen sind besonders interessant da- durch. dat) sich bei ihnen bei den verschiedenen Geschlechtern bzw. Ge- schlechtsformen noch bedeutende Unterschiede in der Größe und Ausbil- dung des Gehirns zeigen, worauf zwei neuere Untersuchungen von Jonescu und Pietschker eingehen.') Bei der Biene sind die drei Geschlechtsformen bekanntlich die Drohne (das Männchen), die Königin (das Weibchen) und die Arbeiterin (das ru- dimentierte Weibchen). Der erste Anblick des Gehirns lehrt. dab die Bienenmänner, die Drohnen, die größten (Gehirne besitzen, dann folgen die Arbeiterinnen, die verkümmerten Weibchen, und die Königin weist schließ- lich die geringste (Grehirngröße auf. Diese Unterschiede sind natürlich weit auffälliger als die zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen beim Menschen und haben viel mehr zu sagen als diese, welche möglichenfalls. sich schon im Zusammenhange mit der durchschnittlich erheblicheren Körpergröße des Mannes erklären könnten. Es folgt aber aus obigen An- saben noch nicht, daß die Bienenmänner die klügsten Tiere ihrer Art wären. Denn der Hauptsache nach beruht ihre erhebliche Gehirngröße le- diglich auf den Endanschwellungen der Sehnerven, und diese beruhen wieder auf der Größe der Drohnenaugen und erklären sich daraus. dab der Drohne die Aufgabe zufällt, der Königin auf dem Hochzeitsfluge zu folgen, wozu outes Sehvermögen gehört. In gleichem Maße, wie bei der Drohne die Sehanschwellungen, sind bei der Arbeitsbiene «die Riechanschwellungen stark entwickelt. weil mit jiilfe dieser Organe der größte Teil der Nestbau-. Futter- usw. Arbeit zustande kommt. Bei der Königin stehen diese Sinnes- zentren an Ausbildung am weitesten zurück, aber nicht nur diese Sinnes- zentren. Auch die Assoziationsapparate sind bei ihr am schwächsten aus- gebildet, und insbesondere gilt dies von den sogenannten „pilzhutförmigen Körpern“. Viel erheblicher als bei der Königin sind sie bei der Drohne und der Arbeiterin entwickelt, und zwar steht in dieser Hinsicht die Ar- beiterin am vorzüglichsten da, namentlich beim Vergleich dieser Organe mit der viel geringeren Körpergröße der Arbeitsbiene. Bei diesen Tieren fällt also der Königin das leichteste und am wenigsten verantwortungs- reiche Leben zu, „mitten durch“ sind die Männer, und die Arbeitsbienen '), CE. N. Jonescu, Vergleichende Untersuchungen über das Gehirn der Honigbiene. Jenaische Zeitschrift, Bd. 45, N. I". Bd. 38, 1909, H. Pietschker, Das Gehirn der Ameise. Ebenda Bd. 47, N. F. Bd. 40, 1910 Vergleichende Neurologie und Psychologie. 101 haben das meiste zu tun und verfügen auch über die größten „Intelligenz- organe“. Doch ist der Ausdruck „Intelligenz“ hier wirklich voll am Platze ? Keineswegs, denn zweifellos sind die im Verhalten der drei Geschlechts- formen bemerkbaren Unterschiede, welche sich ja in den Unterschieden des sehirnbaues widerspiegeln. in ersterer Linie nur Unterschiede des in- stinktiven Verhaltens. Ähnlich wie bei den Bienen ist es bei den Ameisen. Die pilzhutför- migen Körper sind nun bei der Ameisenarbeiterin wiederum am stärksten entwickelt, dann folgt bereits — zum Unterschiede von der erst an letzter Stelle kommenden Bienenkönigin — das Ameisenweibchen, und dann kommen die Männchen, welchen man früher die „Intelligenzorgane“ ganz absprechen zu müssen glaubte. Auch hier werden wir wohl mit Ziegler‘) in den pilzhutförmigen Körpern den hauptsächlichsten Sitz nicht nur der Verstandestätigkeiten, sondern auch der hochentwickelten Instinkte zu erblicken haben. Und so wenig wir dazu neigen können, Verstandesleistungen den Bienen und Ameisen abzusprechen oder diese Tiere gar für Reflexmaschinen zu erklären, so ist doch der Bau ihres Gehirnes, wenigstens soweit bis jetzt erkennbar, anscheinend in viel höherem Grade von den Instinkten abhängig. Andere wirbellose Tiere. Die auf den vorangegangenen Blättern noch nicht zur Sprache ge- kommenen unter den wirbellosen Tieren können wir etwas summarischer behandeln, denn über sie ist weniger zu sagen, was teils in der Sache selbst liegt, teils darauf beruht, daß sie bisher weniger der Gegenstand neuropsychologischer Studien waren. Unter allen Weichtieren (Mollusken), ja vielleicht unter allen wirbel- losen Tieren überhaupt kommen die Cephalopoden (Tintenfische) den Wir- beltieren im Charakter ihrer Organisation am nächsten. Bei ihnen finden wir auch recht deutlich ausgebildete Gehirne, es sind dies die größten Ge- hirne, welche im Bereiche der Wirbellosen überhaupt vorkommen. Ent- standen sind sie-wohl durch Konzentrierung der bei den übrigen Mollusken mehr verstreut im Körper liegenden Ganglienknoten,, aber weshalb ist diese Konzentrierung, diese Vereinigung der verschiedenen Ganglien auf eine Stelle im Kopfe eingetreten? Wahrscheinlich deshalb, weil zwischen den Ganglien vermehrte Nervenverbindungen sich ausbildeten, für welche es eine Abkürzung des Weges, eine Materialersparnis bedeutet, wenn diese einzelnen Ganglien näher aneinanderrücken als bei denjenigen Mollusken, bei welchen sie weniger Beziehungen zueinander als zur „Peripherie“ des Körpers mit seinen Sinnes- und Bewegungsorganen haben. Somit wird schon durch die erhebliche Konzentration des Nervensystems bei den Üe- phalopoden wahrscheinlich, dab wir hier bestimmte Teile des Gehirns als Zentralorgane im engeren Sinne, im ähnlichem Sinne wie beim Großhirm !) H. E. Ziegler, Der Begriff des Instinktes einst und jetzt. II. Auflage. Jena 1910. 102 V, Franz. der Säugetiere oder beim Kleinhirn der Fische oder bei den pilzhutför- mieen Körpern der Insekten, werden auffassen müssen, und tatsächlich haben anatomische und physiologische Untersuchungen wahrscheinlich ge- macht, dal die sogenannten drei „Zentralganglien“ des Cephalopodenge- hirns eine derartige übergeordnete Bedentung haben, während sie anderer- seits mit bestimmten Ganglien der übrigen Mollusken nicht ohne Weiteres zu homologisieren sind. Bei den übrigen Mollusken, ferner bei den Würmern, den Stachel- häutern (Echinodermen) und den Hohltieren (Uoelenteraten) ist das Ner- vensystem stets viel weniger konzentriert, viel mehr diffus, wenn wir auch nirgends den hypothetischen Urzustand ganz verwirklicht finden, bei welchem ein Netz von Nervengewebe den ganzen Körper ganz gleichmäßig durch- zöre. Bei den Würmern und Plattwürmern finden wir stets eine freilich oft sehr kleine gehirnartige Anhäufung von Nervenzellen und -fasern im Vorderende des Körpers. Die Bedeutung derselben kommt im Verhalten der Tiere für unser hierfür nicht hinreichend geübtes Auge in nichts zum Ausdruck. Wenn eine Planarie nach Querdurchschneidung ihres Körpers mit ihren beiden Hälften mit der gehirnhaltigen wie mit der gehirnlosen dieselben Bewegungen ausführt wie vorher, so besagt dies, dab wir über die Bedeutung des „Gebirns“ nichts wissen. Nicht bei allen Tieren ist eine auf einen Punkt gerichtete Zentralisierung des Nervensystems be- merkbar, sondern bei strahlenförmig gebauten Tieren ist dies ganz anders als bei den bilateral-symmetrischen (zweiseitig-symmetrischen). So finden sich bei den Seyphomedusen, der einen Abteilung unter den Medusen oder (Juallen,. 8 über den Scheibenrand verteilte, um je einen Sinneskörper kon- zentrierte Bezirke verdichteter Nervenzellen und -fasern, und bei den Hv- dromedusen, der zweiten Abteilung dieser Tiere, gibt es einen den Schei- benrand entlang laufenden Nervenring, der — gleich jenen Randkörperbe- zirken der Seyphomedusen — besonders reich an Nervenzellen und -fasern ist. Was speziell die Seyphomedusen betrifft, so nähert sich bei diesen ein Individuum infolge der besagten Beschaffenheit des Nervensystems bereits dem Zustande der aus mehreren Individuen zusammengesetzten Tierkolo- nien oder Tierstöcke an, natürlich nur in physiologischer Hinsicht, nicht in morphologischer. Bei den Aectinien, den Seeanemonen, Seerosen, See- nelken oder wie man sie nennen mag, ist gleichfalls eine gewisse Anrei- cherung mit Nerven auf der Mundscheibe und auf der Innenseite der Ten- takeln erkenbar. Den Schwämmen (Spongien) fehlen Nerven, so viel man weiß, eänzlich. Fragen wir uns nun, was wir nach den erwähnten Tatsachen über den Bau des Nervensystems erwarten dürfen in bezug auf die Leistungen des Nervensystems dieser wirbellosen Tiere ? So viel ist ja ganz klar. dal die verminderte Zentralisation des Ner- vensystems, seine mehr diffuse Anordnung oder gar die bis zu gewissem Grade durehgzeführte Dezentralisation desselben bei den Medusen zur Folge Vergleichende Neurologie und Psychologie. 103 hat, dal) die einzelnen Teile des Tierkörpers weniger gemeinsam arbeiten, einander weniger „in die Hände arbeiten“, daß statt eines harmonischen /usammenwirkens der Teile mehr Selbständigkeit der einzelnen Teile erreicht wird. Es ist wohl, beiläufig bemerkt, die Frage, ob dies durchaus ein niederer Zustand gegenüber der auf ein Zentrum gerichteten Kon- zentration des Nervensystems ist, wie sie vornehmlich die Cephalopoden, die Gliedertiere und die Wirbeltiere auszeichnet. Viel schwieriger wäre, „a priori” zu entscheiden, ob mit verminderter Zentralisation des Nervensystems auch die Fähigkeit zur Erwerbung neuer Verknüpfungen im individuellen Leben, also zum Lernen vermindert, oder bis zum Fehlen geschwunden sein muß, ob also diese Fähigkeit. bei welcher man in gewisser Weise die „Psychologie“ erst anfangen lassen kann, wie ja auch manche mit ihr den Eintritt des ersten Bewußtseins vermuten, der Mehrzahl der wirbellosen Tiere fehlt. „A priori* ist die Frage wohl kaum zu entscheiden, sehen wir daher zu, was wir über die Lebensweise und Funktionen der hier in Rede ste- henden wirbellosen Tiere wissen. Vorab behandeln wir kurz die Cephalopoden. Wir erwähnten schon die 3 Zentralganglien, jetzt sei noch bemerkt, daß nach deren Fortschnei- dung eine hochgradige Steigerung aller Reflexe, also wahrschemlich ein Ausfall zahlreicher Hemmungen eintritt, dazu eine unerwartete Lebhaftig- keit des Farbenspiels. Diese Tatsachen sind sehr interessant, sie besagen aber in psychologischer Hinsicht wohl nichts, sie gehören durchaus ins Be- reich der Physiologie (und wollen auch nichts anderes sein). Ins Bereich der Psychologie würde aber die Beobachtung Th. Beers gehören, dal) ein Pulp sich den leckeren Inhalt einer mit geöffneten Schalen daliegenden Muschel zu verschaffen wußte, indem er vorsichtig einen Stein zwischen die Schalenklappen brachte und somit dem Tiere das Zusammen- schließen der Schalen unmöglich machte. Es wäre dies ein dermaßen nach Überlegung aussehender Fall, dal) er sich allenfalls nur den Leistungen der Vögel und Säugetiere anreihte. Weniger anspruchsvoll sind die Angaben Baglionis!), welche uns außer vielen Tatsachen zur Reflexphysiologie des Octopus auch einige auf Modifizierbarkeit der Reflexe hindeutende Erscheinungen kennen lehren. So gewöhnt sich Octopus an wiederholte unschädliche Reizwirkungen, wie kontinuierliche Wasserströmungen, auf die er nach einiger Zeit nicht mehr mit Änderung der Hautfarbe und Zusammenfahren des Körpers reagiert. Diese „Gewöhnung“ ist etwas der „Zähmung“ in unseren früheren Bei- spielen ganz Analoges: Ablegung der Abwehr- und Fluchtreflexe, die anfangs bei ungewohnten Reizen eintraten. Ein geblendeter Octopus er- kennt ferner ein ihm gereichtes Glasrohr beim zweiten Male schneller als ungenießbaren Gegenstand denn beim ersten Male. Als Ortsgedächtnis !) Baglioni, Zur Kenntnis der Leistungen einiger Sinnesorgane (Gesichtssinn, Tastsinn und Geruchssinn) und des Zentralnervensystems der Cephalopoden und Fische. Zeitschr. f. Biologie, Bd. LIli. 104 V. Franz. dieses Tieres kann es wohl aufgefaßt werden, dab er seine Speisereste und Exkremente immer an einen und denselben Ort des Aquariums ablagerte. Was die übrigen Wirbellosen anbetrifft, so steht es mit deren Ver- mögen, Erfahrungen mit einander zu verknüpfen, also etwas zu lernen. zweifellos schwächer. Dennoch fehlt es ihnen nicht ganz. Der: Versuch, die Tiere so viel lernen zu lassen, dal) sie eine von 2 Öffnungen regelmäßig als Zugang zum Futter benutzen, der bei Krebsen allerdings sehr langsam zum Ziele führte (Yerkes und Huggins)'), blieb bei Mollusken, Würmern und Seesternen aber auch in viel längerer Zeit erfolglos (Bohn.)?) Gleich- wohl liegt sicher eine Fähigkeit zur Verwertung von „Erfahrungen“, wenn man so sagen will, zum Lernen vor bei den Actinien und Hvdroiden, nach den Beobachtungen von Zoja®) und M. Wolff*), welcher sogar von einer „Zähmung“ bei Tubularia mesembryanthemum spricht. „Zoja konnte nämlich sehr häufig beobachten, daß frisch aus den Wassergräben gefangene Hydren oder solche, die aus Aquarien genommen waren, wo sie lange Zeit nicht beunruhigt waren, recht große Reizempfind- lichkeit zeigen, solche dagegen aus Untersuchungsgefäßen, wo das Wasser immer wieder gewechselt und das Tier fortwährend gereizt wird, kontra- hieren sich häufig nur schwach oder gar nicht, wenn man sje aus einem Gefäß ins andere bringt.“ „Zu meinem Erstaunen,“ sagt Wolff weiter, „be- merkte ich. dal) jetzt (d.i. zwei Tage nach Einbringung der Tiere ins Aquarium) trotz der starken Strömung alle Hydranten schön ausgestreckt waren. Ja ihre Tentakeln wurden im anmutigsten Spiel von den aufstei- genden Luftblasen hin und her bewegt. Ich schloß daraus, daß die Tiere sich nunmehr an diese bestimmte Reizart gewöhnt hatten. Denn dal) nicht etwa eine Ermüdung der Nervenzellen oder der kontraktilen Fortsätze der Nenromuskelzellen vorlag, ließ sieh sehr leicht feststellen .....* In der Tat gelang diese Feststellung durch eine Reizung mit einer Nadel wohl einwandfrei. Die Frage, ob nach diesen Beobachtungen den Hvdrariern ein bewultes Gedächtnis abgesprochen werden müsse (wie Zoja meint) oder zugesprochen (wie Wolf meint), dürfen wir natürlich ablehnen, zu beant- worten. ‚Jedenfalls aber tiegt mindestens bereits der Anfang von dem, was wir Lernen nennen müssen, vor. Hierher dürfte auch die so sehr interessante, von Pieron und Bohn >) nachgewiesene Anpassung der Aktinien an die rhythmischen Schwankungen des Wasserstandes infolge des Pulsschlages der Ebbe und Flut gehören. Eine in der (sezeitenzone des Meeres festsitzende Aktinie schließt sich. ') R. Verkes und @. E, Huggins, Habit formation in the erawfish Cambarus af- finis. Harrard Psychol. Studies, vol. I, 1903. *) Bohn, La naissance A lintellirenee, Paris, Felix Alean. ’) R. Zoja, Aleune rieerehe morphologiche e fisiologiche sull’Hydra. Dissertation. Pavıa 1890 ') M. Wolff, Das Nervensystem der Polypoiden Hydrozoa und Seyphozoa. Zeit- schrift für allgem. Physiologie, Bd. 3, 1903. °) Compt. rend. des seanees de la Soc. de Biol. Tom. LIX, p. 658- 660 u. 662—663. Vergleichende Neurologie und Psychologie. 105 wenn das Wasser zurückweicht. sie öffnet sich, wenn es wieder steigt. Es könnte scheinen, als wüßte die Aktinie im voraus, daß ein Zurück- treten oder eine Wiederkehr des Wassers eintreten wird. Und wenn auch die Schließung eime Folge nicht nur von dem gänzlichen Zurückweichen des Wassers, sondern auch von der Verminderung seines Sanerstoffgehaltes, das Sichöffnen der Aktine von der Bereicherung mit Sauerstoff abhängt. so können doch diese rhythmischen Bewegungen, wie insbesondere Bohn zeigte, zur Gewöhnung werden, so daß sie sich auch im Aquarium nach Fortfallen der Schwankungen des Wasserstandes noch 8 Tage lang kon- statieren lassen. Diese „tendance latente“ ist als Zeitgedächtnis oder Zeit- sinn dem Ortsgedächtnis oder Ortssinn in gewisser Weise vergleichbar, und wie das Ortsgedächtnis auf der Verknüpfung von Eindrücken von der Umgebung mit Bewegungsempfindungen beruht, so beruht diese Fähigkeit der Aktinien auf Verknüpfung von Eindrücken der Umgebung und den- jenigen Eindrücken, welche, beim Menschen nicht weniger dunkel wie bei jenen Tieren (vielleicht auf irgendwelchen Sekretionsprozessen oder ähn- lichem beruhend), den Zeitsinn vermitteln, mit Bewegungseindrücken: sie ist also jedenfalls mindestens der Anfang eines Lernvermögens, und dieses fehlt mithin wie es scheint, wenn wir auch aus der großen Klasse der Echinodermen noch keine Tatsache dafür angeben können, auch im Be- reiche der Wirbellosen keiner Tierklasse ganz. Suchen wir die zuletzt erwähnten Tatsachen „nach oben hin“ in Be- ziehung zu setzen mit anderen, so tritt an uns die Frage heran, ob wir sie als verknüpft mit Bewußtsein betrachten sollen oder nicht. Wir haben schon oft hervorgehoben, dal) diese Frage hier nicht zur Diskussion steht. Nur sei nachdrücklich darauf hingewiesen, daß zwischen diesen Fähig- keiten z. B. der Aktinien und den komplizierten Gehirnleistungen eines Säugetieres, selbst des Menschen, keine prinzipiellen Unterschiede, wohl aber Übergänge bestehen, Suchen wir jedoch die Tatsachen aus der Neurologie und Psychologie der Aktinien „nach unten hin“ in Beziehung zu anderen zu setzen, so möchte man sich wahrlich fragen, ob hier das Nervensystem wirk- lich das wesentliche, die unerläßliche Vorbedingung für das Zustande- kommen des „Lernvermögens“ ist: was allerdings wohl der allgemeinen Annahme entsprechen würde und von Zoja ausdrücklich als seine An- nahme ausgesprochen wird. (ranz Ähnliche Rhythmen wie wir sie hier von den Aktinien kennen gelernt haben, gibt es ja auch bei den der Nerven gänzlich entbehrenden Pflanzen in den sogenannten Schlafbewegungen der Pflanzen, welche ja gleich den Rhythmen der Aktinien bei Fortfall des sie verursachenden teizes (des- regelmäßigen Tag- und Nachtwechsels) fortbestehen. In der Tat. hält man diese Tatsachen nebeneinander, so scheint es fast, als ob dieser (Grad des Lernvermögens im Grunde eine Eigenschaft des lebenden Organismus als Ganzen ist und daß es sich nur um eine sekundäre, iediglich im Tierreiche ausgeprägte Eigenschaft handelt, wenn 106 V. Franz. zur Verrichtung dieser Leistungen ein Nervennetz oder Nervensystem aus- gebildet ist, d. h. wenn sich bestimmte Zellen absondern und lange Fort- sätze bekommen, in welchen die Reizleitung schneller vonstatten geht, als im übrigen (Gewebe, welches sogar daraufhin die Fähigkeit der Reizleitung tast völlige verliert. Somit werden wir uns nicht wundern, wenn wir auch bei nervenlosen Tieren eine Spur von Lernvermögen auffinden. Bei den des Nervensystems entbehrenden Schwämmen (Spongien) liegen allerdings keine einschlägigen Beobachtungen vor, wohl aber haben wir solche aus dem Bereiche der Protozoen. Im Körper der Protozoen, der stets eine einzige, jedoch — das darf man wohl auch für die Amöbenarten sagen — komplizierte Zelle darstellt gibt es zwar öfter feine muskulöse Differenzierungen, d.h. sehr feine contractile Fädchen, welche dieht unter der Oberfläche gelegen sind und die Zusammenziehung und Formveränderung bei den Wimperinfusorien hervorrufen und sich z. B. beim Trompetentierchen Stentor in der ganzen Längsrichtung des trichterförmigen Leibes erstrecken, bei dem Glocken- tierchen Vorticella aber sogar in den dünnen Stiel hineinreichen, in ihm den sogenannten Stielfaden bilden und die spiralige Zusammenziehung des Stieles verursachen können (während bei gewissen anderen Protozoen die Formänderung des Körpers durch die Kontraktilität des ganzen Plasma- leibes erreicht wird). Niemals jedoch gibt es etwas wie Nervenfäserchen oder gar Nervenzentren, niemals also Andeutungen von einem Nervensystem in einer Protozoenzelle. Zwar hat man gelegentlich sogenannte „Neuro- phane“, feine Fädchen, denen man die Fähigkeit der Reizleitung zu- schreiben zu sollen glaubte, in Protozoenzellen färberisch darstellen können. doch liegt wohl nicht der genügende Beweis vor, daß dies wirklich reiz- leitende Elemente wären. Obwohl nın aber ein Nervensystem den Protozoen nach dem Gesagten abzusprechen ist, können wir aen Protozoen solche Verrichtungen, die man gewöhnlich für ans Nervensystem gebunden erachtet, nicht völlig absprechen. Die Protozoen können lernen. ' Nachdem nämlich eine frühere Angabe von Metalnikow, wonach das Pantoffeltierchen (Paramaecium) nach Fütterung mit einem unverdaulichen Stoffe (Karminkörnern) diesen nach Ablauf einer bestimmten Zeit ver- schmäht. andere bekömmlichere Nahrung dagegen noch annimmt, nachdem diese Angabe, wonach das Paramaeeium eine Erfahrung zu verwerten im- stande wäre, nicht unwidersprochen geblieben ist, dürften sich die Angaben von Day und Bently®), die durch genaue zahlenmäßige Protokolle gestützt sind, als zuverlässiger erweisen. Ein einziges Tier (Paramaecium), in ein Oapillarröhrchen gesperrt. in welchem es, wenn es mit seinen Bewegungen ') Lucy M. Day and Madison Bently, The Journal of Animal Behavior, Vol. 1, 1911. pag. 67. Vergleichende Neurologie und Psychologie. 107 an die mit Wachs verstopften Enden des Röhrchens gelangte, nur unter starker Krümmung des Körpers umkehren konnte, „lernte“ die hinreichend starke Umkrümmung in einiger Zeit. so dab sie ihm beim erstmaligen Umkehren erst nach vielen Versuchen gelang, beim zweitmaligen schon viel schneller und bei der 15. Umkehrung oft auf Anhieb, ohne vergebliche Versuche. Diesen Angaben liegen Beobachtungsreihen an einer Anzahl Tieren zugrunde, und sie sind unter Anwendung von besonderen Kautelen angestellt: beispielsweise vergewisserten sich die Autoren darüber, daß nicht etwa eine zunehmende Anreicherung des in dem Röhrchen eingeschlossenen Wassers mit Kohlensäure die erleichterten Umkehrungen zur Folge hatte. Somit ist also das Lernvermögen bei Protozoen durch dieses eine Experiment festgestellt, und das gibt zu denken Anlab. Bevor wir aber ans Denken gehen. sei noch erwähnt. dab man auch noch in anderer Hinsicht die ursprünglich nur für die Funktionen des Nervensystems geprägten Ausdrücke auch bei den nervenlosen Protozoen anwenden kann: zunächst ist kein Zweifel, dad man für unveränderliche, mit einer gewissen Starrheit immer wiederkehrende Reizbeantwortungen bei Protozoon den Ausdruck Reflex anwenden kann, obschon er ursprüng- lich für die einfacheren Funktionen des Nervensystems geprägt ist. Aber auch wenn obige Beobachtung über das Lernvermögen bei einem Protozoon nicht vorläge, wäre fraglich, ob sich das Verhalten der Protozoen in Reflexen erschöpfte. Jennings, der so genau wie kein zweiter das Ver- halten der Protozoen unter natürlichen und experimentellen Bedingungen beobachtet hat, spricht sich wenigstens dahin aus, daß die Bezeichnung teflex auf das Verhalten der Amöben keineswegs paßt, die fressende Amöbe handelt nicht nach einem bestimmten Schema, sie reagiert nicht das eine Mal genau so wie das andere Mal. Bei der Reichhaltigkeit ihres Verhaltens in allen seinen Einzelheiten kommt Jennings sogar zu dem bereits öfter zitierten Ausspruche, daß man einer Amöbe, wenn sie ein größeres Tier wäre, die Empfindungen von Hunger und Schmerz mit demselben Rechte zuschreiben würde, wie dem Hunde. Freilich sind diese Worte nicht gerade im Hinblick auf unsere gegenwärtigen Ansichten in der Psychologie der Säugetiere geschrieben worden, immerhin aber besagen sie mindestens so- viel, dab das Verhalten der Einzelligen auch in psychologischer Hinsicht viel Mannigfaltiges und Schwieriges bietet. Manche Tatsachen könnten vielleicht auch andeuten, dab —- ent- gegen üblichen Anschauungen — im Protozoenkörper es bis zu gewissem Grade zu einer Zentralisierung der Funktionen komme, so dab die ein- zelnen Teile dem „Willen“, ich meine den Erfordernissen des Ganzen gehorchen. Allerdings wenn eine Amöbe zwei Nahrungskörperchen in ihrer Nähe findet und sie sich nun mit dem einen Ende auf den einen, mit dem anderen auf den anderen stützt und sie selbst sich hierbei in zwei nur durch eine schmale Brücke verbundene Hälften teilt, dann sieht es aus, als ob das Verhalten der Amöbe von dem eines leblosen Gallerttröpfehens nicht sehr verschieden wäre. Wenn dagegen eine Amoeba proteus, so 108 V. Franz. lange sie im freien Wasser schwebt, zahlreiche Fortsätze nach allen Rich- tungen ausstreckt, im Moment aber, wo ein Fortsatz einen festen Gegen- stand berührt. alle übrigen eingezogen werden, dann scheint es doch, als reagiere der Organismus der Amöbe als Ganzes. Und das ist in noch höherem Grade der Fall, wenn wir uns die Kriechbewegung der Amöbe vergegenwärtigen, wie sie sich nach ©. P. Dellinger ausnimmt. Der Autor beobachtet bei der ihm vorliegenden Art weder die rollende, noch die fließende Bewegung, die beide bei manchen Amöbenarten vorkommen, son- dern er sah, daß das Tier gleichsam auf Fortsätzen geht, einen langen Fortsatz ausstreckt, diesen an einer neuen Stelle der Unterlage befestigt. sich von den alten Befestigungspunkten löst und darauf seinen Körper durch eine Kontraktion der neuen Befestigungsstelle nähert, ihn hier wieder mittels eines oder einiger Fortsätze anheftet, wieder einen neuen Fortsatz aus- streekt usf. Diese Bewegungsweise erinnert durchaus an die des Blut- egels, und wenn der Autor sagt, die Bewegung der Amöbe sei nach seinen Beobachtungen nicht schwerer zu erklären als die des Blutegels. so müßte man statt „nicht schwerer“ lieber sagen: „nicht leichter“. Denn oft hat man die Amöbenbewegung als die am leichtesten unter allen Be- weeungsarten erklärbare und als die Urform der Bewegung hinstellen wollen. Nach allen vorstehenden Angaben sowie nach weiteren Daten. die jedoch zu meinem heutigen Thema nicht gehören, sind die Protozoen zweifellos schon recht verschieden von einfachen Mechanismen, und dies entspricht ja auch durchaus der schon eingangs erwähnten, neuerdings sich Bahn brechenden Anschauung. daß die Protozoen dem Lebensanfange nicht näher stehen als irgend welche anderen Lebewesen. Sie sind nicht in Wahrheit von niedriger Organisation, sondern von ganz anderer als die vielzelligen Tiere. die Metazoen, und die Verschiedenheit hat ihren tieferen Grund zum eroßen Teile in der geringeren Größe. Nur von diesem Gesichtspunkte aus können wir auch der merkwür- (lieen Erscheinung, dal» das nervenlose Plasma der Protozoen das Vermögen besitzt zu lernen. also ältere Erfahrungen mit neueren zu verknüpfen, und zwar verwertend zu verknüpfen, mit einigem Verständnis begegnen. Was heißt denn das, Erfahrungen verwerten? Ich glaube, man kommt diesem im täglichen Menschenleben nieht ungebräuchlichen Ausdrucke nur dann init tieferem Verständnis näher, wenn man sich klar macht, dab das Ver- werten von Erfahrungen zu den „zweckmäßigen* Erscheinungen im Reiche des Lebenden gehört. Damit will ich nicht einem dogmatischen Vıitalismus das Wort sprechen, aber doch darauf hinweisen, dab hier selbst die Pforte für das Verständnis der Ideen der Psychovitalisten zu finden ist. In der Tat, wenn ein Organismus Erfahrungen verwertet, und wenn er zweck- mäßige Wachstumsreaktionen zeigt, so gehören diese beiden Phänomene zusammen in eine größere Kategorie. In einem Falle führt er nämlich Be- weruneen aus, im anderen Falle erfährt er Gestaltveränderungen, in beiden Fällen aber reagiert er „zweekmäbig", d.h. so, wie es der Erhaltung seiner Vergleichende Neurologie und Psychologie. 109 selbst dient. Die Fähigkeit, Erfahrungen zu verwerten, ist gerade so er- staunlich. wie z. B. die des rudimentären Olmauges, bei dauerndem Auf- enthalte im Lichte zu einem großen sehenden Auge zu werden. Es ist nicht ganz leicht, sich von diesen Erscheinungen eine rein mechanische Erklärung zu geben. Auch die Untersucherg der Regenerationsvorgänge haben teilweise behauptet bzw. zugegeben, dab die Fähigkeit zur zweck- mäßigen Reizbeantwortung beim Ersatz verloren gegangener Teile dem Leben „von Anfang an” eigen sei. s Wenn dem nun so wäre, dann brauchten wir allerdings gar nicht die schöne Darwinsche Theorie, denn wenn das Zweckmäßige vom Lebens- anfang an da ist, dann braucht es nicht auf dem Wege der Selektion zu entstehen. Der Darwinist darf natürlich darauf antworten, eben diese allem Leben eigene Zweckmäßigkeit sei bereits etwas durch Selektion Entstan- denes, das erste Einsetzen der Selektion müssen wir also in unserer Vor- stellung gewaltig zurückverschieben: der Vitalist hat dann das Recht zu entgeenen, das sei nur eine Verlegenheitserklärung; denn wenn man wolle, könne man sich in der Tat mit Hilfe der Selektionstheorie das Zustande- kommen jeder einzigen zweckmäßigen Eigenschaft erklären. Rückblick. Mit wenigen Worten wollen wir hier einige Grundgedanken unserer Darlegungen in übersichtiger Form rekapitulieren. Die Fundamentalfrage der „Vergleichenden Neurologie und Psycho- logie“ ist offenbar die: inwieweit können wir die Organisation des Nerven- systems und die psychischen Leistungen bei den Tieren zueinander in Be- ziehung setzen? Was können wir für die Psychologie im Nervensystem lesen ? Vor allem ist zu bedenken, dal» diesem Problem Schwierigkeiten an- haften, die nicht nur in der Lückenhaftiekeit der vorliegenden Unter- suchungen, sondern auch großenteils in der Sache selbst liegen, indem vielleicht die Frage nicht ganz richtig gestellt ist. Denn zunächst sehen wir, dab es gewisse „psychische“ Leistungen, ich meine einen gewissen Grad von Lernvermögen gibt, der, weil auch bei nervenlosen Protozoen vorkommend, nicht an den Ausbildungsgrad des Nervensystems gebunden ist: und somit können wir aus dem ibloßen Bau des Nervensystems niemals entnehmen, ob nicht” ein schwacher Grad des Lernvermögens vorhanden ist. Auch die Zentralisation des Nervensystems spielt hierbei wohl keine Rolle, ein Organismus mit stark zentralisiertem Nervensystem ist nicht: notwendig in höherem Grade zum Lernen -be- fähigt als einer mit diffusem oder mit dezentralisiertem. Sodann ist allerdings nicht zu leugnen, daß eine reichere Entfaltung der psychischen Leistungen mit einer Vergrößerung des Nervensystems, speziell des Nervenzentrums einhergeht, und daß sich aus diesem Grunde — in verschiedener Weise bei Cephalopoden, bei Insekten, bei Wasser- und Landwirbeltieren — am Gehirn noch besondere Zentralapparafte aus- 110 V. Franz. Vergleichende Neurologie und Psychologie. bilden. welehe durch die Vielseitigkeit ihrer Verbindungen eine herrschende und überall „mitsprechende* Stellung unter den übrigen Hirnteilen ein- nehmen. Was speziell die Insekten betrifft, so ist jedoch nicht ersichtlich, dal) die Entwicklung des Gehirnes und speziell der Zentralteile an ihm, der sogenannten „pilzhutförmigen Körper“, die voreilig schon die „Intel- lirenzorgane“ des Insektengehirns genannt worden sind, von dem Grade des Lernvermögens abhängen, obwohl auch in dieser Hinsicht bei den ein- zelnen Arten sich Unterschiede finden. Ein merklicher Parallelismus be- steht nur zwischen dem Ausbildungsgrade des Gehirns und der Höhe der Kompliziertheit der instinktiven Leistungen, und Instinkte sind nichts anderes als komplizierte oder aneinandergekettete Reflexe. Bei den Wirbeltieren. wo Instinkte nicht eine gar so hohe Rolle wie bei den sozialen Insekten spielen, scheint das Vermögen, zu lernen, Erfahrungen zu verwerten, Relationen zu knüpfen oder wie man es nennen mag, sich in seinem Ausbildungsgrade deutlicher im Gehirn abspiegeln, und nun ist besonders interessant, daß die sogenannte „niederste“ Klasse der Wirbeltiere, die Fische, im Bau des Gehirns sowie in dessen Leistun- een den Amphibien. vielleicht auch den Reptilien sich als überlegen erweist. Die psychologische Beurteilung des Gehirns bei den Säugetieren stößt auf große Schwierigkeiten. weil die Größe und die Furchungsstärke des Großhirns längst nicht allein von dem Grade der psychischen Leistungen abhängen. sondern auch von anderen Momenten. So haben kleinere Tiere durchschnittlich relativ größere Gehirne als größere, und größere Gehirne sind durchschnittlich („ceteris paribus“) reicher gefurcht als kleinere. Unter diesen Umständen ist vielleicht aus den anatomischen Tatsachen nicht ein- mal mit zwingender Gewißheit ersichtlich, daß der Mensch unter allen Säugetieren das höchstentwickelte Gehirn hat. d. h. dasjenige, welches nach Ausschaltung der erwähnten Momente als das zu den höchsten psychischen Leistungen befähigte erschiene. Immerhin möchte ich die Gipfelstellung des menschlichen Gehirns unter den Säugergehirnen bis auf weiteres zu- veben. Andrerseits haben gewissenhafte Untersuchungen bisher nicht zu der Überzeueung führen können, dal) innerhalb der Spezies Homo sapiens die kultivierten Rassen ein reicher gefurchtes oder gar ein gröleres Ge- hirn besitzen als die unkultivierten. Perlen. Altes und Neues über ihre Struktur, Herkunft und Verwertung. Von E. Korschelt, Marburg. Seite 1. Wesen und Benennung der Perlen, Geschichtliches. . . ......:... . 11 2. Perlenerzeugende Tiere ee AS 3. Die Struktur der Mnschelsehale A Be A A ze a ee ae 4. Die Ursachen der Perlenbildung . : Fe 7 2 ey de lt) 5, Bintstehunp.der Perlen Eau ev: a ehe a nee I Flußperlmuscheln. . . ’ N Br SL Marine Perlmuscheln, Paiasttettliänre TE 2 2 A TA 6. Struktur, chemische Zusammensetzung, Härte und spezifisches Gewicht der [Berl er SEA 9 se 2 72 > Ralarbezunds Glanz. vu a a TAG 8. Größe und Form . . . RE ee a ee! 9. Verschiedene Arten von Perlen u ee 10. Perlgewinnung . . . 1 N 7 Un ee TA, Marine Perlen 2 u Seen. 15, 6 IB nie ca Pe (51 | Subwasserperlen: 3 = rn rare Be a a I ae #457 Perlen von Schnecken . . » 2: 2 2 2 Em m m nn nn nn... 2.163 11. Verwendung und Verwertung der Perlen, Perlenindustrie . . 2.2 .2......164 SCHALZUNg UNO W Er 0 a de en Verarbeitung .. 166 Ausbessern, Pflege, Haltrarktir W jöderherstellung echlndeter Perlen 170 Verwendung zu Heilzwecken. .. 2.22 22 222.2. 20.17 12. Perimutter und ihre Verwertung. =... -9....2 0... 005 u. a sa an 17a 132. Kunstliches Perlen Sy er ER Ai 14. Pflanzliche Perlen . . . BAER SARA 1 15. Den Perlen vergleichbare Bildungen des tierischen. Körpers. Schlußbetrach- tung . . Re. er 8 RATEN er I, Nachts a N he ee EEE RR lee Io DIteratur ee ee. 3 188 1. Wesen und Benennung der Perlen, Geschichtliches. Perlen“ sind aus Schichten kohlensauren Kalks und organischer Sub- stanz aufgebaute, vom tierischen Organismus, speziell von Weichtieren. gelieferte Gebilde von zumeist regelmäßiger, gewöhnlich kugelförmiger bis ovaler Gestalt. Abweichungen von dieser Form, die sogar recht weit gehen können, sind dabei nicht ausgeschlossen: mit Recht zählt man die Perlen 11? E. Korschelt. zu den schönsten und liebenswürdigsten Produkten, welche der tierische Orranismus hervorzubringen vermag. Ihre große Beliebtheit als Schmuck- stücke und Zierrate eeht bis weit in das Altertum und, wie Gräber- funde und bildliche Darstellungen zeigen, bis in die vorgeschichtliche Zeit zurück. Es scheint, dal) alle Völker, denen Perlen zugänglich waren, seien es nun kultivierte oder unkultivierte gewesen, sich diesen schönen und wertvollen Schmuck nicht entgehen ließen. In China wurden sie bereits zwei Jahrtausende vor Beginn der christlichen Zeitrechnung hoch bewertet, wie alte Überlieferungen berichten. Aus solchen ist bekannt, daß Perlen ebenfalls seit Jahrtausenden von den Indiern, Persern und Juden, wie in Ägypten und Äthiopien getragen wurden. Das Gleiche war bei den Griechen der Fall, durch welche sie die Römer kennen lernten und von ihnen die Namen: margaros, margarites, lat. margarita übernahmen. Als die Beziehungen der Römer zu den orientalischen Völkern engere wurden. zumal nach den von Pompejus geführten Kriegen und der Einnahme von Alexandrien, gelangten mit dem wachsenden Reichtum immer größere Perlenschätze nach Rom und es wurde damit schließlich ein enormer Luxus vetrieben, der von den verschiedensten Seiten Widerspruch hervorrief. Aus dem Lateinischen scheint indirekt auch die jetzt gebräuchliche Bezeich- nung der Perlen herzurühren, indem man sie außer mit dem Wort: mar- oarita auch als unio und bacca bezeichnete, ersteres, weil die „unvergleich- lichen Eigenschaften höchst selten zweimal in der gleichen Weise vorhan- den sind“, d. h. zwei Perlen von der gleichen Beschaffenheit und Schönheit sich selten finden, daher: unio, das einzige. Aus Beere, dem deutschen Wort für bacca, soll durch die Verkleinerunesform: Beerlein oder Berlin (mittelhochdeutsch), althochdeutsch berala, perala, nordisch perla. nieder- sächsisch und englisch pearl entstanden sein. Andere leiten das Wort Perle auf die lateinische Verkleinerungsform pirula (von pirus bzw. pirum, Birne) zurück, wegen dieser gelegentlich auftretenden Form oder vielleicht noch mehr wegen des Tragens als Gehänge wie an einem Stiel. Von den Römern übernahmen die mit ihnen in Berührung kommenden Völker die Vorliebe für Perlen, und wir wissen, dal) diese im Mittelalter eine orole Rolle spielte. Zu den orientalischen Ländern, welche bis dahin die Perlen zu liefern hatten, kam dann der große Perlenreichtum Amerikas hinzu. Als Columbus dort landete, fand er bei den Indianern Mengen von Perlen vor, und in der Nähe einer später nach diesen Schätzen benannten Insel: Margarita, an der Küste von Venezuela, traf er die Eingeborenen bei der Perlenfischerei. Bei der späteren Unterwerfung des Landes, zumal in Peru und Mexiko, fielen ungeheure Schätze an Perlen in die Hände der Eroberer, denn nieht nur die Sitte, Perlenschmuck zu tragen, war dort außerordentlich verbreitet, man benützte Perlen auch zum Ausschmücken der Festsäle und Tempel. Dieser Reichtum an edlen Perlen floß größtenteils nach Europa ab und man liest, dab ihre Wertschätzung unter der großen Überfüllung des Marktes schließlich gelitten habe; allerdings glich sich das bald wieder aus. Jedenfalls hat sich die eroße Beliebtheit der Perlen als Perlen. 113 Schmuckstücke durch die Jahrhunderte und Jahrtausende ziemlich unver- ändert erhalten und ist auch in unserer luxuriösen Zeit nicht zurückge- eangen, vielleicht eher noch gestiegen. Bilden doch heute wie im Mittel- alter und Altertum wertvolle Perlen den kostbarsten Schmuck an Prunk- gewändern und Kleinodien, zieren Haar und Hals schöner Frauen und prangen in Diademen und Fürstenkronen. Was man gemeinhin unter Perlen, echten Perlen, versteht, ist, wie gesagt, ein Erzeugnis des tierischen Organismus, und zwar nur desjenigen der Mollusken (Weichtiere). Bildungen ähnlicher Art, wie sie andere Tiere und auffallenderweise auch der pflanzliche Organismus ausnahmsweise zu erzeugen in der Lage sind, sollen späterhin noch Erwähnung finden. Unter den Weichtieren sind wieder die Muscheln die hauptsächlichsten Perlen- lieferanten, denn umschlossen von der mit prachtvoller Perlmuttersubstanz ausgekleideten Schale der „Perlmuscheln“ finden die aus der gleichen Sub- stanz bestehenden Perlen die rechte Bildungsstätte. Ohne Kenntnis der Be- schaffenheit der letzteren ist diejenige der Perlen nicht zu verstehen, weshalb zunächst auf die perienerzeugenden Tiere und diejenige ihrer Organe eingegangen werden muß, welche die Perlen in der Hauptsache hervorbringen. 2. Perlenerzeugende Tiere. Unter den Mollusken kommen als Produzenten von guten Perlen vor allem diejenigen in Betracht, deren Schalen durch den Besitz emer glänzenden Innenschicht (Perlmutter) ausgezeichnet sind. Wenn diese Vorbedingung nicht erfüllt ist, so können zwar auch Perlen hervorge- bracht werden, aber sie sind unscheinbar und entsprechen in keiner Weise den vom ästhetischen Standpunkt an sie zu stellenden Anforderungen. Diesem werden nur die Perlen und Schaleninnenflächen verhältnismäßig weniger Tiere gerecht; zu ihnen gehört in erster Linie die bekannte in den tropischen Küstengewässern des Indischen und Stillen Ozeans ver- breitete Margaritifera (Meleagrina, Avicula) margaritifera, die deshalb ihren kennzeichnenden Namen erhalten hat. Es ist eine große, bis 30 cm messende Muschel, mit stark abgeplatteter, runder, am Schloß gradrandiger Schale. Die beiden starken Schalenklappen liegen ziemlich flach auf einander, so daß in dem von ihnen umschlossenen Raum ver- hältnismäßig wenig Platz für das darin befindliche Tier bleibt. Äußerlich ist die Schale recht unscheinbar und erscheint häufig dadurch stark be- schädigt, daß sich infolge ihrer blättrigen Struktur Teile der einzelnen Schichten ablösen und die darunter befindlichen Lagen frei werden. was bis zur Perlmutterschicht und tief in diese hinein geschehen kann: in ähnlicher Weise findet man «dies bei unseren Süßwassermuscheln. Die innere Schalenfläche zeigt einen hellen, zart getönten, prachtvollen Perlmutterglanz. Von dieser Muschel (Margaritifera margaritifera) unterscheidet man mehrere Varietäten, z. B. diejenigen an der Ostküste von Arabien, welche von der typischen Art wie unter sich etwas ver- E. Abderhalden, Fortschritte. VII. s 1] | E. Korschelt. schieden sind und daher als M. margaritifera persica und M. m. ery- thracensis bezeichnet wurden. Eine andere Varietät: M. m. cumingi lebt an den Inseln des südlichen Stillen Ozeans und des östlichen Polyne- siens. wieder eine andere: M.m.mazatlantica an den Küsten von Panama und Mexiko sowie im Meerbusen von Kali- fornien. Verschiedene nahe Verwandte der genannten Muschel sind ebenfalls be- währte Perlenlieferanten. so vor allem die Marga- ritifera vulgaris (M. oder Avicula fucata Fie. 3), die ein ähn- liches Verbreitungsgebiet wie die vorige hat. im Persischen “Golf und Ro- ten Meer sowie in den Küstengewässern des In- dischen Ozeans. im Malaiischen Archipel, an der Küste von Australien und Neuguinea vorkommt. Diese Muschel. welche kleiner als die vorige ist und selten mehr als 20 cm im Durchmesser miht. liefert nebst jener die meisten Perlen. Man un- terscheidet ferner eine M. maxima von der Nord- on a en nuumörlieter BEBBE und: Westküste Austna liens und von verschie- denen Inseln des Malaiischen Archipels, eme M. earcharium ebenfalls von der australischen Küste, eine M.radiata von Westindien und den atlanti- schen Küsten des tropischen Amerika, eine M. mortensi von der japanischen Küste und noch andere weniger in Betracht kommende Arten, die hier nicht alle venannt werden können. Eingehendere Angaben darüber finden sich in dem schönen Perlenbuch von Kunz und Stevenson, dem die hier gerebenen ent- nommen sind. Von anderen perlenerzengenden Muscheln seien einige erwähnt, wo- init Jedoch nicht gesagt sein soll. dal diese Eigenschaft anderen hier nicht besonders angeführten fehlte: im Geeenteil ist das Vorkommen on Perlen noch bei manchen anderen Weichtieren als ziemlich sicher Perlen. 115 anzunehmen. Daß man beim Austernessen Perlen, zuweilen sogar recht wertvolle finden kann, ist eine bekannte Tatsache; sie werden sowohl von der europäischen Ostrea edulis, wie von der amerikanischen O.virginiana hervorgebracht. Außerdem werden Perlen, wenn auch kaum solche von be- sonderem Glanz und Wert, gefunden in der Scheibenmuschel (Placuna placenta), Zwiebelmuschel (Anomia cepa und A. ephippium), in ver- schiedenen Arten von Klapp- und Kammuscheln (Spondylus und Pecten), in der Venusmuschel und Schlammuschel (Venus, Cytherea und Lutraria), in der eßbaren (Mytilus edulis) und anderen Miesmuscheln, in der Sammetmuschel (Peetunculus), in Modiola- und Arcamuscheln (Modiola und Arca Noae) sowie in manchen anderen. Bekannt sind die großen, weißen, wie aus Alabaster bestehenden, sehr harten Perlen von Tridaena, jenen zu ganz bedeutendem Umfang heranwachsenden Riesenmuscheln, deren innerer opaken Schalenschicht die Perlen in ihrem Aussehen völlig gleichen. Ähnlich verhalten sich die Perlen der nahestehenden ebenfalls recht großen Pferdefuß- oder Hufmuschel (Hippopus). Bekannt und recht verbreitet sind ferner die Perlen der Steckmuschel (Pinna nobilis und anderer Pinna-Arten), kleine runde oder birnförmige Perlen von rötlicher oder dunklerer Färbung, die schon im Altertum bekannt waren und trotz ihres geringen Wertes in den Handel gebracht wurden. Die Perlen aller dieser zahlreichen Meeresmuscheln (mit Aus- nahme der vorhergenannten marinen Perlmuscheln) werden in Wert und Schönheit bei weitem übertroffen von denjenigen einiger Sübwasser- muscheln, von denen die „Perlmuschel* des süßen Wassers (Margaritana margaritifera, Fig. 4) schon altberähmt war und in den europäischen Gewässern gehegt wurde. Dies geschah seit Jahrhunderten bei uns in Deutschland, wie überhaupt in den europäischen Kulturländern: so wurden ihre Perlen schon im Mittelalter und früher in England, Frankreich, wie bei uns und in den skandinavischen Ländern, sowie in Sibirien hoch geschätzt. Die Flußperlmuschel kommt hier überall in den für sie geeigneten Wasser- läufen vor. In Deutschland ist es besonders Bayern, wo die Margaritana in einer Reihe von Bezirken Niederbayerns, in der Oberpfalz sowie in der Umgebung von Regensburg und in Oberfranken nicht nur gefunden, sondern seit Jahrhunderten sorgsam gepfleet und verwertet wurde. Th. v. Hessling, der in München wirkte, gibt in seinem inhaltsreichen Buch über die Perlmuscheln ein anschauliches Bild von der historischen Ent- wicklung der in Bayern bestehenden Perlenregale. Weniger ausgedehnte, aber wie in Bayern gut bewirtschaftete Perlengewässer befanden sich in Sachsen, und zwar besonders im Gebiet der Elster. In anderen deutschen Ländern, wo die Perlmuschel. wie z.B. im Rheinland, in Baden und Hessen. gelegentlich vorkommt, scheint man sich mit ihrer Zucht wenig abgegeben zu haben. ‘Dagegen gab es in Österreich eine Perlenfischerei im Gebiete der Moldau. Verwandte der europäischen Flußperlmuschel, d.h. andere Najaden oder Unioniden spielen als Süßwasserperlmuscheln in Asien und Amerika E. Korschelt. 116 eine Rolle, wo sie in ähnlicher Weise gepflegt und ausgebeutet werden: so sind in der Mongolei die Arten Unio dahuricus, M. mongolicus und complanatus bekannt, aus Japan Anodonta jJaponica und Cri- staria spatiosa, aus China besonders Dipsas plicatus, welche ziemlich role Flußperlmuschel dort zur Erzeugung der auf künstlichem Wege her- vorgerufenen Perlen oder mit Perlmuttersubstanz überzogenen Gegenstände Fig. 4 n Margaritana margaritifera,!der Flußperlmuschel, #, der natürlichen Größe. (Fig. 8, A ©) benützt wird. Unter den zahlreichen Najaden Nordamerikas gelten etwa 25 als Perlen produzierende, außerdem werden ihre zum Teil recht starken Schalen bei der Fabrikation von Schmuckgegenständen und Knöpfen verwertet. Als die bekanntesten zählen Kunz und Stevenson mit Ihren wissenschaftlichen und Vulgärnamen folgende auf: Quadrula ebena „niggerhead“), Qu. undulata und Qu. plicata („three-ridges“), Qu. (the Tritieonia wardı („maple-leaf“), Pleurobema aesopus („bull-head‘“), Perlen. 117 verrucosa („buckhorn“), Plagiola securis („butterfly“). Lampsilis alatus („pancake“), Symphynota complanata („hackle-back“) u.a. Obwohl die Muscheln (Zweischaler, Bivalven, Acephalen, Lamellibran- chiaten) es vor allen Dingen sind, welche Perlen liefern, kommen solche doch auch von den Schnecken (Gastropoden, Bauchfübern, Cephalophoren) her. Von ihnen dürfte der bekannteste Perlenlieferant der große, dickschalige Strombus gigas, die sogenannte Riesenflügelschnecke Westindiens, sein: sie bringt grobe kugelförmige oder ovale, rosafarbige Perlen hervor, die in ihrer zarten Tönung der inneren Schalenfärbung ungefähr entsprechen. Perlen werden ferner von Murex-, Trochus-, Turbo-Arten, von Fissurella und Patella, wie gewib noch von manchen anderen Schnecken erzeugt: bekannt ist dies besonders von Haliotis, dem Seeohr, mit seiner in den Regenbogenfarben schillernden Perl- mutterschicht. Auch von den schalentragenden Tintenfischen, nämlich von Nautilus pompilius, können Perlen hervorgebracht werden. 3. Die Struktur der Muschelschale. Die Schalenstruktur ist für die Beurteilung der Perlen und ihr Zu- standekommen sehr wesentlich. Die Schale der Weichtiere setzt sich aus mehreren Schichten zusammen und besteht bei den Muscheln regel- mäßig aus deren drei, wenn nicht etwa die äußere durch Abreiben, Korrosion u. dgl. nachträglich verloren geht. Bei jungen Muscheln oder Schnecken wird zunächst am Rücken ein sehr dünnes, aus organischer Substanz bestehendes (eutieulares) Häutchen abgeschieden. Eine solche or- ganische, verhältnismäßig nicht sehr dieke Haut bildet dementsprechend die äußere Schalenschicht,. das sogenannte Periostracum (Fig. 5 u. 7). Unter ihr wird (ebenfalls vom Mantelepithel) die umfangreichere Prismenschicht abgesondert, welche aus kohlensaurem Kalk besteht und ihren Namen von den Prismen hat, die sie in senkrechter Stellung zur Oberfläche zusammen- setzen (Fig. 5, pr). Darunter liegt die Perlmutterschicht. welche zur Oberfläche parallel gerichtete Lagen erkennen läßt (Fig. 5. apm, ipm), ebenfalls aus kohlensaurem Kalk besteht und vom Mantel abgeschieden wird. Ihre Struktur ist in verschiedenen Regionen der Schale ziemlich different; auch sondert sie sich, abgesehen von der parallelen Schichtung, in mehrere Lagen, zumal eine äußere und innere Perlmutterschicht (Fig.5). Die Perlmuttersehicht zeigt an ihrer Oberfläche bei manchen Muscheln und Schnecken einen prachtvollen Glanz und zuweilen ein wundervolles Farbenspiel, wie wir dies besonders bei den Perlmuscheln, bei Haliotis und anderen bewundern. Die hierbei in Betracht kommenden Farben wer- den im allgemeinen weniger durch Pigmente als durch die Schalenstruktur selbst hervorgerufen, und zwar dürfte es sich hauptsächlich um Interferenz- erscheinungen des Lichtes, Farbwirkung dünner Plättchen oder auch um Gitterbeugung handeln. Wie erwähnt, zeigt die Perlmutterschicht auf Quer- schliffen eine parallele Streifung, deren Linien gelegentlich aussetzen, um dann von neuem zu beginnen. Sie besteht somit aus feinsten durchscheinenden La- gen oder Blättern, die sich aber nicht über den ganzen Bereich der Schale er- 118 \\ ipm apm pr pe Fig.5. le] Schliff durch den Schalenrand der Fluß- perlmuschel; pe Periostracum, pr Pris- ınenschicht, apm und ipm üußere und innere Perlinutterschicht, ipe innere Pe- riostracurmlamelle, nach A. Rubbel. ı) Eingehend (vergleichsweise aber mi Mantellinie behandelt auch werden ;. Korschelt. strecken, sondern gegeneinander bzw. gegen die Prismen- und Periostracum- schichten unregelmäßige Aberenzungen zeigen. Allenthalben finden sich also in der Schale Grenzlinien dieser Schichten gegeneinander. Dieser unregelmäßigen Struktur entsprechend, werden die von außen eindringenden Lichtstrahlen ganz verschieden reflektiert; ein Teil der Strahlen wird von den oberen, ein anderer von etwas tiefer liegenden, wieder ein anderer von noch weiter nach unten ge- legenen Schichten zurückgeworfen. Diese verschiedenen Anteile des reflektierten Lichtes interferieren miteinander, wodurch die eigenartigen, wechselnden Farbentöne und der Glanz der Perlmutter zustande kommt. Es kann aber noch ein anderes Moment hinzutreten, worauf mich Herr Kollege Richarz freundlicher Weise auf- merksam machte und was er noch weiter verfolgen zu lassen gedenkt. Durch kleinste Unregelmäßigkeiten der Oberfläche, gru- ben- und rinnenförmige Vertiefungen so- wie höcker- und leistenförmige, ebenso unbedeutende, nur mit stark bewaffnetem Auge wahrnehmbare Erhebungen, die zum Teil durch den lamellösen Bau mit hervorgerufen werden, erhält die Ober- fläche eine gitterähnliche Struktur und die dadurch bedingte verschiedenartige teflektion der Lichtstrahlen ruft das Auf- treten von Beugungsfarben hervor. Die Beteiligung auch dieser Erscheinung beim Irisieren der Perlmutter ergibt sich aus der Tatsache, dab mit geeigneten Sub- stanzen (Wachsgemischen oder schwarzem Lack nach dem Versuch von Brewster) von der Perlmutterobertläche genommene Abdrücke ebenfalls schwaches Irisieren zeigen.!) Ganz ähnliche Farbentöne und die betreffenden Farbwirkungen an anderen den hier interessierenden) tierischen Objekten durch Biedermann in seiner Abhandlung über die Schillerfarben der Insekten und Vögel, auf dessen Untersuchungen über die Schalenstruktur ebenfalls zu verweisen ist. Perlen. 119 den Glanz der Oberfläche findet man infolge ihrer der Hauptsache nach entsprechenden Struktur bei den Perlen, die überhaupt mit der Perlmutter- schicht in engem Zusammenhang stehen, daher auch der Name. Die Aufeinanderfolge und Stärke der einzelnen Schalenschichten ist eine wechselnde und indem sich Periostracumlagen zwischen die übrigen Schichten hineinschieben (Fig.5). kommt eine gewisse Unregelmäßigkeit in Fig. 6. Fig. 7. re EST ). Bart Be ah ne a ee ee N £ & & > % 3 Be [2 Teil des Mantels einer Süßwasser- muschel mit der darüberliegenden Schale im Durchschnitt; aep äuße- Quersehnitt durch eine Süßwassermuschel (Unionide) in etwas schema- res, iep inneres Mantelepithel, tischer Darstellung: f Fuß, k Kiemen, m Mantel, s Schale, ss Schalen- bgBindegowebe, f Falten des Man- schloß (Ligament), darunter Herz mit Vorhöfen, vom Darm durch- telrandes, pe Periostracum , pr bohrt, darunter die Querschnitte der Nierenschläuche, darunter der Prismen-, pm Perlmutterschicht, Fuß (f) mit Darmquerschnitten, die von der Mitteldarmdrüse (Leber) sp Schalenmantelspalt. umlagert sind. der Schalenstruktur zustande. Außerdem kann sich zwischen die äußere und in- nere Perlmutterschichtnoch eine prismatisch und parallelstreifig strukturierte Schicht. die sogenannte durchsichtige oder helle, auch als Hypostracum bezeich- nete Schicht ( Tullberg, Ehrenbaum, Biedermann, Villepoix, Thiele, Rubbel ‘) einschieben. welche sozusagen als 4. Schalenschicht auch noch an anderen !) Die Literatur über die Muschelschalen und ihre Entstehung findet man in den Arbeiten von Rubbel (1911) und Rassbach (1912) angegeben. 120 E. Korschelt. Partien der inneren Schalenteile, besonders an den Ansatzstellen der Schlieb- muskel angetroffen wird und insofern bei der Verbindung der Schließ- muskel mit der Schale eine Rolle spielt. Wie erwähnt, werden die genannten Schalenschichten vom Mantelepithel abgeschieden. Der Mantel selbst ist eine vom Rücken des Tieres ausgehende Falte (Fig. 6), welche den Körper innerhalb der Schale umgibt und die Form der letzteren wiederholt. Mit seiner nach außen gerichteten Fläche liegt der Mantel der Innenfläche der Schale ziemlich dieht an: die innere begrenzt die Mantel- oder Atemhöhle. worin die blattförmigen Kiemen der Muschel liegen (Fig. 6). In der Haupt- sache besteht der Mantel aus einer äußeren und inneren Epithelschicht und zwischen beiden gelagertem mehr oder weniger umfangreichem Binde- gewebe (Fig. 7). Die Zellen der äußeren Epithellage sind es, welche die Absonderung der Schalenschichten zu besorgen haben und sie kommen auch für die Perlenbildung in Betracht, wie man weiter unten sehen wird. 4. Die Ursachen der Perlenbildung. Insofern die Perlen die Struktur der Schale wiederholen. perlenartige Auswüchse an der inneren Schalenfläche sehr häufig sind und dann nur als Umgestaltung einer geringen Schalenpartie erscheinen, erkannte man die Perlen schon bald als mit den Schalen identische Bildungen. „Perlen sind die in Kugelgestalt umgewandelten Schalen und teilen mit ihnen alle histologischen, physikalischen und chemischen Eigenschaften“, so beginnt schon Hessling (1859) in seinem vorerwähnten Buch den Abschnitt über die Perlen. Zwar trennt er unmittelbar darauf diese letzteren scharf von „den verschiedenartigen Excerescenzen der inneren Schalenfläche“ und de- tiniert sie als „freie, im Tier vorkommende, aus den Schalenstoffen be- stehende Konkretionen“. Diese Definition trifft gewiß das richtige und doch ist eine scharfe Unterscheidung insofern schwer durchzuführen, als ursprünglich frei im Gewebe des Tieres liegende Perlen später mit der Schale verschmelzen können: auch kann die Verbindung jener Erhebung der inneren Schalenfläche mit dem Auswuchs unter Umständen eine recht schwache sein, so daß sich der gestielte Schalenauswuchs kaum von einer freien Perle unterscheidet. Immerhin hat man auch dann noch von einer „Schalenperle“ zu sprechen und freie (also echte) Perlen werden wohl nur selten aut diese Weise zustande kommen, da nicht recht einzusehen ist. wie sie auch bei schwacher Verbindung mit der Schale zur Ablösung von (dieser gelangen sollen. Nennt man diese Gebilde Perlen, wie es oft geschieht, aber besser zu vermeiden wäre, so sind sie sicher zum Teil, wie sich auf experimentellem Wege zeigen läbt bzw. durch häufige Übung erwiesen wurde, auf Ver- letzungen der Schale zurückzuführen. Solche können z. B. auf natürlichem Wege durch bohrende Tiere hervorgerufen werden. Bei der Ausbesserung der verletzten Stellen durch das Mantelepithel kommt es dann nicht selten zu unregelmäßigen Bildungen, indem aus irgend einem Grund nach einer Perlen. 121 bestimmten Richtung verstärkte Abscheidung von Schalensubstanz eintritt und dadurch jene perlenartigen Bildungen zustande kommen. Linnes oft erwähntes und so lange geheim gehaltenes Verfahren, Perlen zu erzeugen. beruhte darauf, daß die Muschelschale von außen angebohrt und an einem feinen Silberdraht ein Kalkkügelchen ins Innere geschoben wurde. Um dieses sollte sich dann die Perle bilden. Dieses oz Verfahren beruht auf der Meinung. daß) Perlen sich in der Umgebung von Fremdkörpern bil- den, um diese gewisser- maben zu isolieren. Der letzteren Auffassung entsprechend, hat man Fremdkörper, welche zu- fällig zwischen Mantel und iunere Schalenfläche gelangten, für die Per- lenbildung verantwort- lich gemacht. seien es solche mineralischer, pflanzlicher oder tieri- scher Herkunft. Daß derartige Dinge Perlen oder perlenartige Bil- dungen hervorrufen kön- nen, unterliegt keinem Zweifel. denn auch dies ist auf experimentellem Wege, d. h. ebenfalls durch industrielle Übung erwiesen, wie die be- kannten Buddhabild- chen und andere Gegen- stände (Knöpfehen, 1a ap ; es A Schale einer chinesischen Süßwassermuschel (Dipsas plicatus) mit kleine Perlenschnüre) a a Buddhabildchen. Fig. 8, A—( zeigen, welche man zwischen Mantel und Schale der vorsichtig geöffneten Mu- scheln brachte, um diese dann wieder an ihren früheren Wohnort zu versetzen und monatelang dort zu belassen, bis man sie schließlich nach längerer Zeit wieder herausnahm und die betreffenden Gegenstände mit Perlmuttersubstanz überzogen fand. Dieses Verfahren wird seit Jahr- hunderten in größerem Malistab in China geübt und die im Handel be- findlichen oder in Sammlungen häufig anzutreffenden Buddhabildchen er- 122 E. Korschelt. läutern es in vorzüglicher Weise (Fig. 8 A). In nenerer Zeit hat man die Perlenproduktion nach diesen, nur anscheinend recht vervollkommneten Verfahren in Japan in rationeller Weise wieder aufgenommen, worauf noch ‚urückzukommen sein wird (vel. S. 157). Wie man in den Zeitungen liest. soll übrigens in Japan eine Methode, Perlen in den Muscheln hervorzurufen. aufgefunden worden sein. die ähnliches weitzehendes Inter- esse wie Linnes Entdeckung hervorrief, aber wie diese ee- heim eehalten wurde. Der wegen seiner Entdeckung sehr eerühmte Erfinder namens Nishikawa scheint die Angele- eenheitbegreiflicherweise sehı eeheimnisvoll behandelt und ähnlich wie Zinn mit hohen Kreisen in Verbindung gestan- den zu haben: jedenfalls wird neuerdings berichtet, daß nach seinem Tode von ihm behan- delte Perlmuscheln in Gegen- wart des Mikado feierlichst er- öffnet und ihnen wertvolle Per- len entnommen worden seien. Ob diese Berichte den Tat- sachen entsprechen, ob es sich wirklich um eine erfolgreiche Methode handelt und welcher Art diese ist, entzieht sich un- serer Kenntnis (vel. S. 157) Schon vor langer Zeit. nämlich bereits 1852 durch de Filippi, war behauptet worden, dab die Ursache zur Perlenbildung durch Parasiten vegeben würde, und zwar B hale einer chinesischen Süßwassermuschel mit Perlen hen der natürlichen Größe) sollten es die geschwänzten Larven (Üercarien) von Saug- würmern sein, welche in die Muscheln gelangten, dort die Perlenbildung veranlaßten und auch als Reste in den Perlen nachzuweisen wären. Kelaart vermutete, dal) neben anderen Ursachen Nematoden die Veran- lassung zur Entstehung von Perlen sein könnten (1858). Aüchenmeister (1856) machte andere l’arasiten, nämlich die Larven der in den Muscheln vorkommenden Wassermilben für die Perlenbildung verantwortlich. Es er- hoben sich Stimmen für und gegen die Parasitentheorie. Möbius, der die Perlen. 12%: Perlenfrage recht genau studierte, sprach sich dafür aus, während ein anderer vorzüglicher Kenner, Hessling, dagezen war, indem er die Perlen- bildung in der oben besprochenen Weise auf von außen in die Muschel hineingekommene Fremdkörper, aber allerdings auch noch auf eine andere Ursache zurückführte,. welche hier besonders interessiert und auf die des- halb noch einzugehen sein wird. Zunächst mub aber betont werden. dab die Parasitenlehre . in neuerer Zeit dureh die von verschiedenen For- schern {R. Dubois, H. l.. Jameson , H: rdınan und Hornell, Seurat) an marinen Muscheln auseeführten Untersu- chungen eine bestäti- eunge fand, indem die Larven von Saug- und Bandwürmern (Trema- toden und Öestoden) als die Ursache der Perlen- bildung erkannt wur- den. Gewiß) hätte man nach diesen Feststellun- een das gleiche auch für die Süßwassermuscheln erwarten sollen, doch stellte sich durch die vor kurzem im Marbur- eer Zooloeischen Insti- tut von A. Rubbel und in München von W. Hein an Margaritana un- ternommenen Untersu- chungen heraus, dab bei Fig. SsÜ. Ü Schale einer chinesischen Süßwassermuschel mit zahlreichen Knöj ihr nicht Parasiten, son- Chen. (fe der SeturlienennBe), dern vielmehr von der Muschel selbst produzierte eigentümliche Körnchen, die im Mantel auftreten, die Ursache der Perlenbildung sind. 5. Entstehung der Perlen. Flußperimuscheln. Anknüpfend an die zuletzt erwähnten Angaben sei wegen ihres verhältnismäßig einfachen Verlaufs und weil sie hier am Objekt 124 E. Korschelt. selbst verfolgt werden konnte, zunächst die Perlenbildung der Flut- perlmuschel dargestellt. Für sie hatte, wie erwähnt. bereits Hessling eine zweite innere Ursache der Perlenbildunge in kleinen Körnchen gefunden, welche zur Bildung der Schale in Beziehung stehen und in ihrer chemischen Beschaffenheit mit den die Schale bildenden Substanzen über- einstimmen dürften. Diese im Bindegewebe und Mantelepithel auftretenden hörnchen wurden nicht nur von Rubbel und Hein aufgefunden, sondern ebenfalls sowohl zur Schalenabscheidung, wie zur Perlenbildung in engste Beziehung, gebracht, wobei freilich hinzugefügt werden muß, daß ihre Natur und Herkunft zunächst noch dunkel blieb. Für gewöhnlich dürften diese gelb bis gelbbraun gefärbten Körnchen an das Mantelepithel (Fig. 9) und von diesem zur Bildung der Conchyolinlamellen nach außen abgegeben werden, jedoch bleiben einzelne Körnchen von recht verschiedenem Umfang im Epithel bzw. Bindegewebe des Mantels liegen und werden in Verbin- dung mit dem Mantelepithel von einer einschichtigen Zellenlage umgeben (Fig. d und 10). Es beginnt schon bald die Abscheidung von Kalksubstanz um das gelbe Körnchen, und zwar gewöhnlich in Form paralleler (konzentrischer) Schichten von Perlmuttersubstanz, wo- durch ersteres zum Perlenkern geworden ist (Fig. 10). Die Perlenbildung ist also eingeleitet und mit ihrem Fortschreiten. d.h. mit der Ablagerung neuer Schichten Fig. 9. a 2 ug vergrößert sich das. die junge Perle Körnchen der gelben Schalensubstanz o A In lesnrlr Alahad Too) in Binderewäbe, und Mantzlepi. umgebende Epithelsäckchen. welches thel der Flußperlmuschel, ep äußeres nunmehr als „Perlsack“ unter das Man- Epithel des Mantels (nach A. Rubbel). . . = telepithel verlagert wird (Fig. 11 und 12). Zunächst bewahrt das Epithelbläschen die Verbindung mit seinem Mutterboden, dem Mantelepithel (Fig. 11 und 12). doch wird diese später unterbrochen und der Perlsack liegt dann frei im Mantelbindegewebe, von diesem allseitig umgeben (Fig. 13). Letzteres Verhalten gab zu der Annahme Veranlassung, dal) das Perlsackepithel vom Bindegewebe herrühren möchte (W. Hein). Dagegen spricht jedoch die vorstehend geschilderte Ableitung des Perlsacks und die Fähigkeit seiner Epithelzellen. ganz wie das Mantel- epithel alle Schalenschichten abscheiden zu können, denn außer der schon erwähnten VPerlmutterschicht bringt das Perlsackepithel auch Lagen der P’rismen- und Veriostraeumschicht zur Absonderung. In welchem Umfang dies geschieht, wie die Schichten verteilt sind und gegeneinander über- wiegen, danach richtet sich die Art der Ausbildung. welche die Perle erhält und zuletzt ihr Glanz und ihre Schönheit. Marine Perlmuscheln. Parasitentheorie. Die letzteren Vorgänge sind ungefähr die- selben bei der Verlenbildung der Meeresmuscheln, nur der Beginn Perlen. 125 des Prozesses wäre ein anderer, insofern eingewanderte Parasiten die Veranlassung zur Perlbildung geben sollen, wie schon vorher erwähnt wurde. Die dabei in Frage kommenden Parasiten sind verschiedener Art, und zwar handelt es sich teils um Disto- Fig. 10. Fig. 11. meen, also Angehörige der Trematoden (Saug- würmer), teils um Lar- ven von Üestoden (Band- würmer). Die ersteren sind besonders eingehend untersucht worden, weil ein recht geeignetes und verhältnismäßig leicht zu beschaffendes Objekt, nämlich die eßbare Mies- muschel (Mytilus edu- lis) dafür zur Verfügung stand. In ihr fand R. Du- bois (1901) em etwa 4 bis 6 mm langes Disto- mum, welches sich inner- halb des Muschelkörpers einkapselt, indem sich eine aus kleinen Körnchen kohlensauren Kalksbeste- hende Hülleum denWurm- körper bildet (Fig. 16), die anfangs ganz unscheinbar ist, später mit ihrem fort- schreitenden Wachstum Perlenglanz erhält und durch Auflagerung neuer Schichten einer echten Perle immer ähnlicher wird. Diese birgt also jetzt den eingekapselten Wurm in sich und wenn Fig. 12. . a re : Verschiedene Stadien der Perlsack- und Perlenbildung von er in ihr stuı bt: wie es Margaritana. aep Außenepithel des Mantels, bi Bindegewebe, AQp 7 iQ bz Schleimzelle im Epithel, pe Periostracumschicht, p kleine {6} geschehen kann, dann ist Perle neben einem großen” Perlsack, pk Perlenkern, ps Perl- ; die von uns bewunderte sack. Vergrößerung 440mal (nach A. Rubbel). Perle nichts anderes als der glänzende Sarkophag eines Wurmes“ (Dubois). Es scheint, als ob sein Ab- sterben besondersdurch parasitische Protozoen (Sporozoen)veranlaßt würde und dann wäre also die Perlbildung durch den Parasiten des Parasiten veranlabt, 126 E. Korschelt. wie Dubois sagt. Dab der Wurm zugrunde geht, ist allerdings nicht notwendig. vielmehr kann er bis zum nächsten Sommer lebend überdauern., worauf seine „Hülle“, die „Perle“, einer gallertigen Auflösung verfällt und der Parasit frei wird. Wenn er nun auch für die Perlbildung nicht mehr in Betracht kommt. dürfte es doch von Interesse erscheinen. sein weiteres Schicksal kennen zu lernen. Dabei mul) allerdings vorausgeschickt werden, daß nach Fig. 13. Fig. 14. Perlsack (ps) mit in Bildung begriffener Perle (p) unter dern Außenepithel (aep) des Mautels in dessen Bindegewebe (bi); im Zentrum der Perle der Perlen- kern (pk). den Beobachtungen von Jameson das im Mvtilus schmarotzende Disto- mum vorher schon in einer anderen Muschel (Ta pes oder Cardium ) Leueithodendrium (Distomum) somaterite. A „Cercarie“ lel Ts ist bek; j and; s aus der Sporocyste von Tapes, B aus dem Mantel von ebte. Es ist bekannt, dal) die DAaug- Mytilus, © aus dem Darm der 'Trauerente (nach Jameson). würmer ähnlich wie andere Para- siten einen sogenannten Wirtswechsel durchmachen. d.h. in bestimmten Kntwicklungsstadien in ein anderes Wirtstier übergehen; außerdem besteht ihre Fortpflanzung in einem sehr komplizierten Generationswechsel. Nehmen wir an, das ausgebildete, geschlechtsreife Distomum lebte im Darmkanal eines Wirbeltieres, wie dies für gewöhnlich der Fall ist, so gelangen seine Eier mit dem Kot des Wirtstieres nach außen und wenn sie in eine Wasseransammlung geraten, so geht aus ihnen eine Flimmerlarve hervor. Perlen. 127 Diese sucht nach kurzer Zeit des freien Lebens als Wirtstier eine Schnecke oder Muschel (den 1. Zwischenwirt) auf, um sich in seinem Körper zu einem Keimschlauch, der Sporoeyste, auszubilden. In dieser letzteren ent- steht eine neue Generation von Keimschläuchen, welche zum Unterschiede von jenen mit Mund- und Darmkanal versehen sind und Redien genannt werden. Eine neue Generation, welche von diesen Keimschläuchen hervor- gebracht wird, gleicht in der Organisation dem ausgebildeten Distomum, jedoch tragen diese als Cercarien bezeichneten Individuen einen Schwanz- anhang, um sich im Freien aktiv bewegen zu können. Sie gelangen aus ihrem Muttertier, der Redie, in das Gewebe der Schnecke, welche der Redie und Sporocyste als Wirtstier diente und von hier aus nach außen, wo sie sich mit Hilfe ihres muskulösen Schwanzanhanges frei schwimmend herum- bewegen. Doch dauert ihr freies Leben nicht lange, sondern auch sie suchen wieder ein Wirtstier auf, diesmal ein Gliedertier (Krebs, Insektenlarve oder dergleichen, den 2. Zwischenwirt), um sich in dessen Körper nach Abwerfen des überflüssigen Schwanzanhanges eimzukapseln. Wenn der 2. Zwischen- wirt von einem Wirbeltier (Fisch, Amphibium, Vogel), dem Endwirt, ver- schlagen wird, so erwacht das junge Distomum im Darmkanal zu neuem Leben und erlangt die Geschlechtsreife, womit der Entwicklungsgang ge- schlossen ist. Der vorstehend gekennzeichnete Modus stellt einen typischen, freilich recht komplizierten Entwicklungsgang eines Distomums dar. Davon gibt es hinsichtlich der Aufeinanderfolge und Ausbildung der (Generationen, des Wirtwechsels usw. recht verschiedene Modifikationen. Eine solche läge auch im Fall der Miesmuschel vor, soweit er sich mit Sicherheit übersehen läßt. Nach Jamesons Beobachtungen soll es die Sporocyste sein, welche im Mantel der genannten beiden Muscheln (Tapes und Cardium) lebt; die in ihr erzeugten Larven sind schwanzlos, entsprechen also dem Begriff der Cercarie nicht ganz (Fig. 14 A), wie es auch von anderen Distomeen be- kannt ist. Jameson glaubte bei den von ihm angestellten Versuchen, diese „Cercarien* auf Mytilus übertragen zu können, wo sie sich, wenn auch nicht in sehr beträchtlichem Maße weiter entwickeln (Fig. 14 B). Man hat Jetzt die jungen Distomeen (Leucithodendrium somateriae) vor sich, welche in der vorher besprochenen Weise die Perlen der Miesmuschel hervorrufen. Ob dies nun gerade auf die Weise geschieht, wie ein anderer Beobachter des Parasiten, L. Boutan, den Vorgang schildert, nämlich, daß die jungen Distomeen in den Spalt zwischen Mantel und Schale gelangen (Fig. 6 u. 7) und von hier das Einsenken in den Mantel erfolgt, dürfte einigermaßen fraglich erscheinen: es könnte auch durch den von innen her vordringenden Parasiten eine Verbindung mit dem Mantelepithel gewonnen und dieses zur Bildung des Perlsacks veranlaßbt werden. Letzteren lernten wir bereits vorher von der Flußperlmuschel kennen (Fig. 10—13). Nach Boutan_ er- folgt seine Bildung bei der Miesmuschel durch Einsenken von der Mantel- oberfläche infolge der von dem hier liegenden Parasiten ausgeübten Reiz- wirkung. Wie die vier schematischen Bilder (Fig. 15 A—D) es erläutern, 128 E. Korschelt. schließt sich die Grube um den Parasiten und der dann fertige Perlsack löst sich in ähnlicher Weise vom Mantelepithel ab, wie es schon weiter oben für Margaritana dargestellt wurde (Fig. 10-13). Das Ergebnis ist also dasselbe, wenn auch der Ausgangspunkt in beiden Fällen ein recht verschiedener war. Nicht unerwähnt darf dabei bleiben, daß auch an die Entstehung des Perlsacks im Mantelinnern aus Bindegewebszellen oder aus Epithelzellen, die von der Oberfläche eingewandert gedacht wurde. wie dies von Margaritana ebenfalls angenommen wurde (8.124). 7, FT 2 w/a" ® Pr 2 V 5 w7 u 6g. In Bildung begriffene Perle (p) mit eingeschlossenem Distomum und umgebenden Perlsack (ps), an welchem Conchyolinlamellen der Perlsubstanz anhaften, d das im Schnitt getroffene Distomum mit Pharynx- und Darmschenkeln, bg Bindegewebe, aep, iep Außen- und Innenepithel des Mantels (nach Jameson). Bildung des Perlsacks (ps) (in schematischer Darstellung) durch Einsenkung eines Fremd- körpers in eine Vertiefung des Mantelevithels . . . (map); gm Perimutsarschiche, = Schals Knsch Das im Mantel der Miesmuschel von seiner ee Perlenhülle und dem Perlsack umgebene junge Distomum (Fig. 16) macht hier eine längere tuheperiode durch: allerdings kommt es vor, dal) es die Hüllen frühzeitig durchbricht und es mag sein, daß die Rückstände, falls sie nicht aufgelöst werden, ihrerseits zur Weiterführung der Perlenbildung Veranlassung geben können. Normalerweise verbleibt das junge Distomum in seiner Hülle, bis die Übertragung in den Endwirt und damit durch die Zerstörung der Perle seine Befreiung, sowie die Möglichkeit seiner Weiterentwieklung und Er- langung der Geschlechtsreife erfolgt. Dies soll nach der Annahme von Jameson im Darmkanal von Enten, besonders der Trauer- und Eiderenten (V)idemia und Somaterin) geschehen, zu deren Nahrungsmitteln die Mies- muscheln gehören. Jedenfalls zeigt das in ihrem Darmkanal lebende Leu- Perlen. 129 cithodendrium (Distomum) somateriae die größte Ähnlichkeit mit den jungen Distomeen der Miesmuschel, nur daß die Ausbildung, zumal die- jenige des Geschlechtsapparates, weiter fortgeschritten ist (Fig. 14 C). Um ein Bild von dem möglichen Entwicklungsgang der die Perlen hervorrufenden Parasiten zu geben, hielten wir uns an die bestimmt lau- tenden Angaben von Jameson, dürfen aber nicht verschweigen. daß sie bei einem guten Kenner dieser Verhältnisse R. Dubois (1909) auf entschiedenen Widerspruch stoßen. Er spricht sich dagegen aus, daß die jungen Disto- meen der Mies- muschel aus ande- ren Muscheln (Ta- pes, Cardium) stammen, rechnet auch das Disto- mum von Myti- lus zu einer an- deren Art (Gvm- nophallus mar- garitarum). Auf- fallender Weise 2 finden sich davon in der Miesmu- schel recht ver- schiedene Ent- wicklungszustän- de. Wie es sich damit verhält und wie sie aufeinan- der zu beziehen sind oder ob dies überhaupt derFall ist, müssen weitere Untersuchungen EN : A Freischwimmende, B und C Tetrarhynchuslarven aus der Perlmuschel, lehren. Desglei- D älteres Stadium (nach Herdman und Hornell). chen, welches der Endwirt der perlenerzeugenden Distomeen ist, denn Dubois findet keinen rechten Anhalt dafür, daß die Distomeen von Mvtilus in die ob- genannten Schwimmvögel übertragen und in ihnen geschlechtsreif werden, wenigstens haben die von ihm wie von Jameson angestellten Fütterungs- versuche zu einem wirklichen Ergebnis nicht geführt. Auch die Unter- suchungen an Fischen, in deren Darm man die geschlechtsreifen Disto- meen zu finden erwarten durfte, führten zu keinem befriedigenden Resultat. Wie erwähnt sind es außer Saugwürmern auch Bandwurmlarven, welche die Perlenbildung hervorrufen können, und zwar ist dies insofern von besonderem Interesse, als es sich dabei um die Perlen einer der E. Abderhalden, Fortschritte. VII. 9 Fig. 17. 130 E. Korsehelt. eigentlichen echten Perlmuscheln, Margaritifera vulgaris. handelt. In ihrem Körper, und zwar in den verschiedenen Organen (Leber, Kiemen, Mantel usw.) finden sich zahlreiche Cestodenlarven, kleine rundliche Ge- bilde mit einer Einstülpung am einen Pol, in der sich eine konische Pa- pille erhebt (Fig. 17 B und €). Diese von Herdman und Hornell beob- achteten Larven sind in ganz ähnlicher Weise bei anderen Perlmuscheln. z. B. Margaritifera margaritifera. von Seurat gefunden worden. und stimmen im ganzen mit den von Shipley und Hornell beschriebenen Larven überein. Vermutlich sind sie auf die kleinen frei schwimmenden, gewöhnlich als Scoleces bezeichneten Larven (Fig. 17 A) zurückzuführen und dürften nach Shipley, Herdman und Hornells Vermutung zu Rhyn- chobothrius (Tetrarhynehus) unionifacter gehören. Die Larven werden in ähnlicher Weise, wie es vorher von dem Distomum geschildert wurde, mit einer Hülle und darin von Schalensubstanzen umgeben. Die dritte Her- leitung des Perlsacks vom Mantelepithel ist schwer zu beobachten, öfter scheinen es isolierte Zellen zu sein, welche zur Bildung des Perlsackepithels zusammentreten, so dab dessen Herkunft von Bindegewebszellen nahe liegt, aber Herdman und Hornell helfen sich damit, daß sie einzelne Zellen aus dem Mantelepithel ins Innere auswandern und dann wieder zum Perlsack zusammentreten lassen. Natürlich ist ein solcher Vorgang schwer zu be- weisen, auch kann diese Frage hier nicht weiter verfolgt werden. Mehr interessieren dürfte diejenige, was aus den Parasiten später wird. Mit Sicherheit war sie bisher nicht zu lösen, aber die in der Perlmuschel gefundenen älteren Larvenstadien des Bandwurms (Fig. 17 D) machen es wahrscheinlich, daß sie zu dem oben genannten Bandwurm gehören, welche in Balistes-Arten lebt. Diese Fische nähren sich von Muscheln und fressen auch Perlmuscheln, so daß die Übertragung sich von selbst ergibt: es möchte aber sein. daß die betreffenden Bandwürmer ihr Endziel. d. h. die Geschlechtsreife, erst im Darmkanal von Rochen er- reichen, welche ihrerseits jenen anderen Fisch auffressen. Eine große Rochenart (Aöobatis marinari), welche übrigens zu den direkten Feinden der Perlmuschel gehört und sich mit von ihnen nährt. ist nach Seurats im Ar- chipel von Tuamotu (Üzeanien) ausgeführten Untersuchungen der Endwirt des als Larve (Scolex) in der Margaritifera margaritifera lebenden und die Perlenbildung veranlassenden Bandwurms (Tylocephalum mar- saritiferae Sevrat). Als Feinde der Perlmuscheln wurden dort außerdem Balistes und andere Fische festgestellt. Von Wichtiekeit scheint es besonders, daß auch in den Fällen, in welchen die Perlen durch tierische Parasiten hervorgerufen werden, der Ausgangspunkt ein verschiedener sein kann und sowohl Trematoden wie Gestodenlarven die Ursache der Perlenbildung sind. Ohne weiteres zu ver- muten war, dal eewil auch verschiedene Arten der betreffenden Saug- und Bandwürmer in Betracht kommen und dal) dies möglicherweise an verschiedenen Örtlichkeiten sich verschieden verhält. Wenn die Lebens- und Organisationsverhältnisse der betreffenden Muscheln es gestatten, ist Perlen. DJ nicht einzusehen, weshalb die Wurmlarven nicht so lange in ihrem Körper eine Existenzmöglichkeit finden, als es nötig ist, die Perlenbildung einzu- leiten. Weitere und sicherere Nachrichten hierüber müßten von besonderem Interesse sein. Übrigens können auch bei den Meeresmuscheln die Perlen ohne Mit- wirkung von Fremdkörpern und Parasiten entstehen. nämlich die soge- nannten Muskelperlen, welche nach /Zerdman von kleinen Kalkkonkrementen ausgehen und somit eine ganz ähnliche Entstehungsweise haben , wie sie oben für die Perlen der Flußperlmuschel angegeben wurde. Außerdem ist zu vermuten, dal) der weiter oben für die Flußperlmuschel beschriebene Anstoß zur Per- lenbildung auch bei den Meeresmuscheln in ähnlicher Weise bestehen möchte. Es ist nicht ohne weiteres mit Sicherheit zu sagen, daß bei ihnen die gleichen Verhältnisse obwalten müßten, welche im Stoffwechsel der Süßwassermuscheln zur Produktion jener gelben Körnchen führen, doch darf man dies wohl im ganzen als recht wahrscheinlich ansehen. Dafür spricht, daß von ver- schiedenen Autoren (Dubois, Jameson, Herdman und Hornell) gelegentlich durchaus vergeblich nach den Parasiten gesucht und z.B. von Jameson angegeben wurde, dal) im Zentrum mancher Perlen nichts anderes, als einige gelbliche Körnchen zu finden sind. Ebenso teilte Dubois speziell von marinen Perlmuscheln (Margaritifera vulgaris) mit, daß unter Umständen in ihrem Verlenkern kein Parasit vorhanden sei und die gleiche Wahrnehmung machten Herdman und Hornell ebenfalls bei marinen Mu- scheln (Margaritifera und Mytilus). Daß Parasiten und speziell die von den genannten Autoren beschrie- benen Saug- und Bandwurmlarven den Ausgangspunkt für die Perlen bilden können, soll trotzdem nicht in Abrede gestellt werden. Wie Fremd- körper anderer Art dazu befähigt sind, kann dies auch hinsichtlich jener Para- siten und möglicherweise sogar in noch höherem Maße der Fall sein. Aber die Wahrscheinlichkeit dürfte dafür sprechen, dab jener andere, an den Stoffwechsel des Tieres gebundene Vorgang auch bei den marinen Muscheln eine Rolle spielen möchte. Darüber können freilich erst erneute Untersuchungen Auf- schluß geben. Zunächst ist jedenfalls festzuhalten, daß die Ursachen. welche zur Perlenbildung Veranlassung geben, recht verschiedener Natur sind. — Abgesehen von den verschiedenen Ursachen, welche die Perlenbildung ver- anlassen, kann es für die Ausbildung der Perlen einen Unterschied be- deuten, in welcher Region des Mantels sie erfolgt, da auch die Schale an verschiedenen Stellen eine differente Bildung zeigt. Übrigens werden Perlen auch außerhalb des Mantels, d.h. in anderen Organen des Muschel- körpers gefunden (vgi. S. 185). Es liegt in der Natur der Sache, daß die Zahl der in einer Muschel entstehenden, zumal kleineren Perlen kaum beschränkt zu sein braucht, so hört man von 10, 20 bis 100 und mehr Perlen, die in einer Muschel gefunden worden seien, wobei es sich gewiß um solche recht verschiedenen Umfangs handelte, denn wirklich große, schöne Perlen in größerer Zahl dürfte die Muschel kaum hervorzubringen imstande sein. ge 152 E. Korschelt. 6. Struktur, chemische Zusammensetzung, Härte und spezifisches Gewicht der Perlen. Da sich die Perlen aus den drei verschiedenen Schalenschichten: Pe- riostracum-, Prismen- und Perlmutterschicht zusammensetzen, so wird ihre Struktur jennach dem Überwiegen der einen oder anderen Schicht eine sehr ver- schiedene sein. Dies ist aber insofern um so mehr der Fall, als nicht alle die genannten Schichten in der Perle vorhanden zu sein brauchen, sondern diese unter Umständen aus zwei oder gar nur einer der genannten Schichten Fig.18.A. — NN 7 SS ER > an Perlenschliff in schematischer Darstellung; die Periostraeumschichten sind dunkel bis schwarz gehalten (vgl. den Text S. 182). besteht. Nach der von der Perlenbildung gegebenen Darstellung findet sich inmitten der Perle ein Kern verschiedener Herkunft, um welchen sich die verschiedenen Schalenschichten konzentrisch lagern (Fig. 18.4). Auf Prismenschiehten können solche organischer Substanz (Periostracum), auf diese wieder Prismen und dann Perlmutterschichten folgen, wobei die Zahl der Schichten und ihre Stärke eine ganz verschiedene sein kann. Fire. 18.4 gibt in schematischer Darstellung die Struktur eines Perlen- schliffes wieder, welcher die Aufeinanderfolge der Schichten sozusagen in normaler Beschaffenheit erkennen läßt, innen der Kern, darum geschichtete Perlen. 133 Lagen, dann abwechselnd Periostracum- und Prismenschichten, außen mehrere Perlmutterlagen. Wie schon erwähnt, ist die Stärke und Verbreitung der Schichten in der Perle eine recht verschiedenartige. Um ein Beispiel dafür von einer Perle mit im ganzen „normaler“ Schichtenfolge zu geben, sei die in Fig. 18 B im Schliff dargestellte Perle gewählt. Es handelt sich um eine ovale etwas unregelmäßig geformte Perle von 72 mm größter Länge und 62 mm größter Breite im Durchmesser, welche ringsum sehr schönen Perlenglanz zeigte. Die Perle unbekannter Herkunft, vermutlich von einer Fig. 1S B. Schliff einer Perle mit 2—3fachem Kern ; um diesen die Prismen-, außen die Perlmutter- schichten. Vergr. 16mal. amerikanischen Süßwassermuschel stammend, erweist sich auf dem Schliff als zusammengesetzt (vgl. unter S. 146). Von zwei Zentren, einem einfachen und „Doppelkern“ gehen konzentrisch gelagert die Prismenschichten aus, um sich an den breiteren Pol bis dicht an die Oberfläche auszubreiten (Fig. 18 B rechts), während sie im übrigen von einer mehr oder we- niger dicken Perlmutterlage bzw. deren an Stärke wechselnden Schichten überdeckt sind (Fig. 18 B links, oben und unten). Eine ganz dünne Verl- mutterlage ist aber auch am breiten Pol vorhanden, was dadurch bestä- tigt wird, daß die Perle auch hier lebhaften Perlenglanz erkennen liel). Außer Perlen, die aus allen drei Schichten bestehen, findet man bei ein und derselben Muschelart auch solche, welche zwischen den Prismen- 134 E. Korschelt. nur Periostracumschichten aufweisen, sowie andere, bei denen auch diese sehr zurücktreten oder fast ganz verschwinden. Dann erscheint die Perle fast ausschließlich aus Prismenschichten zusammengesetzt oder zwischen diesen tritt nur ganz gelegentlich eine etwas stärkere Periostra- eumlamelle auf. Fig. 18 C gibt einen Schliff der bekannten stumpf, rötlich- gran gefärbten, erbsengroßen und überhaupt erbsenähnlich aussehenden Perlen von Margaritana wieder, die jedes Perlmutterglanzes entbehren. Der Schliff zeigt, daß die Perle in der Hauptsache aus Prismenschichten Fig. 18 C. un Yan, En u, Bu S ur } N N WO, 4 INNINN \\ Sr Ih u. “ = . MM UM ii a i Hit u‘ A N I \ N Ya N AT N NN N Mey, Ph In 5 h IR EL N TEL Ra Bi; Ce init Maren Finn, eh an mann u ul a Ha Schliff einer hauptsächlich aus Prismen- und dünnen Periostracum- schichten bestehenden Perle von Margaritana margaritifera. Vergr. 16mal. besteht, zwischen denen die Periostra- cumlagen hie und da etwas größere Stärke erlangen. Bei anderen derartigen Perlen ist dies je- doch noch weniger der Fall und die Prismenschichten überwiegen dann noch mehr. Solehe größ- tenteils glanzlose, rötlich grau ge- färbte Perlen der Süßwassermuscheln können übrigens an einem größeren oder geringeren Be- _zirk ihrer Öberflä- che eine hellere Fär- bung und mehr oder weniger ausgepräg- ten Perlmutterglanz annehmen, was durch eine nachträgliche Auflagerung von Perlmuttersub- stanz an den betreffenden Stellen bewirkt wird. Wie Perlen nur oder fast ausschließlich aus Prismenschichten be- stehen können, so kommen auch solche häufig vor, die sich größtenteils aus VPerlmutterlagen zusammensetzen. Wie dort zwischen den Prismen- schichten, finden sich bei ihnen ebenfalls schwächere oder stärkere Peri- ostracumlagen, doch können diese verschwindend gering und sehr dünn werden. Letzteres ist z. B. bei der im Fig. 19.4 dargestellten amerikanischen Sißwasser- (sogenannte Slug-) Perle der Fali. Die einen matten Perlen- olanz zeigende, im größeren Durchmesser 5°6 mm, im kleineren #3 mm messende, ziemlich regelmäßig geformte, ovale Perle gibt sich im Schliff als aus zwei Teilen zusammengesetzt zu erkennen. Um die beiden Zentren Perlen. 135 feinkörniger Substanz lagert sich eine ziemlich homogen erscheinende, kaum oder nur undeutlich geschichtete Masse ab, auf welche die Perlmutter- schichten von verschiedener Stärke folgen (Fig. 19 4). Zwischen ihnen sind Periostracumlagen kaum oder nur in ganz verschwindender Dünne wahr- zunehmen, was in der Figur kaum recht zum Ausdruck kommt, da die dunklen Linien hauptsächlich die durch besondere Lichtbrechungsverhält- nisse veranlaßten Abgrenzungslinien der Perlmntterschichten gegeneinander darstellen sollen. Einzelne dünne Periostracumlagen sind vorhanden und eine stärkere, sich aber nur über einen kleinen Bezirk der Perle ausbrei- Fig. 19 A. er Be nn Schliff einer amerikanischen Süßwasserperle mit doppeltem Kern, fast nur aus Perlmuttersubstanz bestehend. Vergr. 20mal. tende Lage findet sich in der Nähe ihres konvexen (in der Figur oberen) Randes. Ebenso tritt eine stärkere Periostracumlage an dem, die beiden Perlenhälften teilweise trennenden Spalt, auf (Fig. 19 A). Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß man solche fast nur aus Perlmuttersubstanz bestehenden Perlen auch bei anderen Muscheln findet, z.B. bei der Miesmuschel (Mytilus edulis), deren weiße, schwachen Per- lenglanz zeigende Perlen zuweilen kaum noch Spuren von Periostracum- lagen zwischen den Perlmutterschichten aufweisen: die letzteren sind bei ihnen dicht gedrängt; in manchen Fällen bestehen sie sogar nur aus einer fast ganz gleichartigen Perlmuttermasse, in welcher die Abgrenzung der einzelnen 136 E. Korschelt. Schichten gereneinander sehr zurücktritt. In anderen Fällen hingegen kommen die Schichten zu starker Ausprägung oder diese wird durch Ver- stärkung der Periostracumlagen bewirkt. Das letztere Verhalten ist bei der in Fig. 19 B dargestellten Mytilus-Perle zu erkennen, welche in der Um- eebung des granulierten Zentrums Perlmutter, weiterhin abwechselnd in verschiedener Stärke und Verteilung Periostracum- und Perlmutter- schichten aufweist. Die Perle war von ziemlich regelmäßiger Kugelform, 2:3 mm im Durchmesser, weiß, silberglänzend. Wie bei den nur aus Prismenschichten bestehenden Perlen schwindet der Perlenglanz auch bei denen, bei welchen die Periostracumlamellen stark überwiegen und schließlich an die Oberfläche zu liegen kommen, wie es bei der in Fig. 19C BIER abgebildeten Perle R der Fall ist. Es sind kleine Perlen von reichlich 1 mm Durch- messer und dunkler Färbung, wie sie sich am Rand des hinteren Schließmus- kels von Margarit- ana finden und gröb- tenteils aus Perl- mutter- und Peri- ostracumschichten mit Überwiegen der letzteren (Fig. 19C) bestehen können. Übrigens ist es gar nicht ausgeschlossen. dab bei derartig strukturierten Perlen Ansätze von Prismen- lagen an den Peri- ostracumschichten auftreten und dann wieder alle drei Schichten vorhan- den sind. Nimmt das Überwiegen der Periostracumschichten zu und werden die Perlmutterschichten immer mehr zurückgedrängt, d. h. wurde bei der Perlbildung nur noch Periostracumsubstanz ausgeschieden, so kommen braune, dunkelbraun bis schwarz schimmernde Perlen zustande, welche nur noch aus organischer Substanz, nämlich Periostracumlagen, bestehen (Fig. 19 D). Obwohl die hier gegebene Darstellung aus der großen Mannigfaltig- keit der Fälle nur einige besonders charakteristische herausgriff, läßt sie bereits erkennen, dal) Bau und Zusammensetzung der Perlen sehr ver- Schliff einer Perle von Myfiius edulis, aus Perlmutter- und Peri- ostracumschichten bestehend. Vergr. 85mal. Perlen. 157 schiedenartig sein können. Wenn dies, wie gezeigt wurde, für ein und die- selbe Muschel bzw. für einander nahe stehende Arten gilt, so wird es in noch höherem Maße für jene Weichtiere in Betracht kommen, welche Perlen von schon äußerlich recht abweichender Beschaffenheit hervorbringen. Wir denken dabei an die zwar auch konzentrisch geschichteten, aber größten- teils aus einer krystallinischen Kalkmasse bestehenden und in ihrer Struktur sehr unregelmäßig erscheinenden Perlen von Tridacna. Diese einen be- deutenden Umfang erreichenden Perlen zeigen eine porzellanartige Be- schaffenheit, wie auch manche andere Perlen in ihrem äußeren Aussehen von den Perlen der echten Perlmuscheln in mancher Beziehung abweichen. Fig. 19 C. lig.19 D. Kleine Perle von Margaritana margaritifer«, Kleine Margaritanae-Perle, nur aus Periostra- nur aus Perlmutter- und starken Periostracum- ceumschichten bestehend (etwas schematisiert). schichten bestehend (schematisiert). Vergr. Vergr. ca. 20mal. ca. 45mal. Auf dieses Verhalten der Perlen bei den genannten und anderen Weich- tieren wird weiter unten noch etwas genauer einzugehen sein. Dab dem verschiedenartigen Aufbau der Perlen entsprechend, ihre äußere Beschaffenheit, Farbe, Glanz, Durchsichtigkeit etc. ebenfalls ver- schieden sein muß), braucht kaum erwähnt zu werden. Man hat bestimmte Zahlen für die chemische Zusammensetzung der Perlen auf Grund quantita- tiver Analysen angegeben. Immer wiederkehrend findet man in der Literatur die durch Untersuchung von je zwei britischen, indischen und austra- lischen 4karatigen Perlen durch @. und H. S. Harley gewonnene Angabe, dal) diese wohl aus dem Sülwasser und Meer stammenden, allerdings als „oyster pearls*“ bezeichneten reinen weißen Perlen übereinstimmend die folgende Zusammensetzung zeigten. 138 E. Korsenelt. Koblensaurer Kalk. . . 2. 2 2.2. 91720% Organische Substanz . : . 2.2... .594% Wasser 94-3 un ee u) Padsıh Verlust 4. 20 re en SOSE 100°00°/, Eine andere Analyse edler Perlen. welche Dubois neuerdings mitteilt, stimmt damit ziemlich überein: Kohlensaurer Kak . . . . . 2.2...9159% Organische Substanz . . . 2 ..2.2..2.8383% ANasspr.ı 2 0. 9, ER EEE Verschiedenes . . 2 2.2.2.2.0.20..081% 100:00°%/, Dagegen ergab eine ebenfalls auf Veranlassung von R. Dubois vor- genommene Analyse der Perlen von Pinna nobilis (Steckmuschel) ein von jenen Analysen abweichendes Resultat. Kohlensaurer Kalk . ee 5 ...x..% %%. 72729 Organische Substanz . . . . ..2..2..2..421% Wassers 2 a ar EEE Nee le Verst. : der. ee 5 OD 100007, Abgesehen von der verschiedenen Zugehörigkeit der untersuchten Perlen. ist es nach den obigen Mitteilungen selbstverständlich, daß die chemische Zusammensetzung der Perlen infolge der differenten Struktur und besonders des Zurücktretens oder Überwiegens der Schichten organi- scher Substanz (Periostracum) eine verschiedene sein muß. Sicher würden sich bei Ausdehnung der Analysen auf die verschie- denartigen. weiter oben gekennzeichneten von denselben oder verschiedenen Tierarten herstammenden Perlen noch viel abweichendere Ergebnisse als in den wenigen hier mitgeteilten Analysen herausstellen. Da die Perlen nicht ausschließlich aus kohlensaurem Kalk bestehen. Jösen sie sich bei Behandlung mit Säuren nicht vollständig auf, vielmehr bleibt das (Gerüst aus organischer Substanz erhalten und eine längere Zeit mit verdünnter Salzsäure (60°/,igen Alkohol mit 1--2°%/, HCl) behandelte Sübwasserperle bewahrt ihre Form und läßt sich nachher in Schnitte zer- legen. Wie schon /arley bedauernd bemerkt, ist demnach die allbekannte schöne Erzählung von Cleopatras immens wertvoller Perle, welche sie vom Ohr nahm, um sie in Weinessig gelöst auf das Wohl ihres Verehrers Antonius zu trinken. mit einigem Militrauen zu begegnen, es sei denn, dal) sie das wertvolle Objekt vorher zerstampfen und pulverisieren lieb, wodurch sich beim Behandeln mit Essig eine Art von Brausepulver ergeben hätte, was aber freilich weniger poetisch und anregend, sondern eher niederschlagend gewirkt haben würde. Perlen. 139 Auch mechanisch sind die Perlen nicht so wenig widerstandsfähig, wie man gemeinhin glaubt und auch nach ihrer Struktur annehmen könnte. In dieser Hinsicht ist die ebenfalls von Harley gerebene Schilderung recht instruktiv, wonach eine erbsengroße Perle, die pulverisiert werden sollte. auf den harten Fußboden gelegt, mit dem ganzen eigenen Gewicht be- schwert. mit dem Stiefelabsatz bearbeitet, nicht zerbrach und durch kräf- tige Schläge mit dem Hammer in die Tischplatte getrieben wurde, ohne nachzugeben: erst mit Hammer und Meilel, auf eiserner Unterlage, gelang es, die Perle zu zersprengen. Diese Versuche, die sich jeden Augenblick an Margaritanaperlen mit gleichem Ergebnis wiederholen lassen, zeigen recht deutlich die Härte und Widerstandsfähigkeit. die aber gewiß bei den einzelnen Perlen, entsprechend ihrer verschiedenen Struktur, eine differente ist. Nach Möbius werden manche Perlen schon von Flußspat, andere erst von Apatit geritzt, stehen also in der Mohsschen Härteskala zwischen 3°5 und 45, womit sie (erklärlicherweise) ziemlich tief unter den Edelsteinen (Apatit 5, Orthoklas 6, Quarz 7, Topas 8, Korund 9, Diamant 10) rangieren, aber die Krystalle des kohlensauren Kalks an Härte übertreffen, obwohl sie zum größten Teil aus diesen bestehen. Dieses Verhalten dürfte sich mit Recht daraus erklären lassen. daß die Art des inneren Aufbaus und der damit in Verbindung stehende Gehalt an organischer Substanz bzw. deren Verteilung zwischen den Kalkteilchen,, einen innigeren Zusammen- halt dieser Teile bewirken, also eine höhere Kohärenz und damit eine größere Festigkeit mit sich bringen. Es braucht nicht besonders hervor- gehoben zu werden, daß edle Perlen, auch wenn sie eine große Wider- standsfähigkeit und Härte besitzen, schon deshalb vor mechanischen In- sulten, wie auch vor chemischen Einflüssen (Berührung mit säurehaltigen Flüssigkeiten) in acht genommen werden müssen, weil sie dadurch an ihrer Oberfläche Schädigungen in Form von Rissen, Sprüngen, Abspringen von Teilen der Außenschicht, Erblinden einzelner Stellen der Oberfläche ete. erleiden können, die ihren Glanz und ihre Schönheit sehr beeinträchtigen würden. Mit der Zusammensetzung und Struktur der Perlen steht natürlich ihre Dichtigkeit (spezifisches Gewicht) im engen Zusammenhang und mul dementsprechend ebenfalls verschieden sein. Demnach findet man auch recht differente Angaben über das spezifische Gewicht: für edle Perlen orientalischer Herkunft wird es auf 2'650--2'686 angegeben (Möbzus, Hessling, Harley), für ganz feine Süßwasserperlen sogar auf 2'724 (Hess- ling). Das spezifische Gewicht frischer, glänzender weißer Seeperlen steht nach Möbius um 0°1--0°3 hinter dem des Kalkspats und Aragonits zurück, was er sich aus dem geringeren Gewicht der organischen Substanz er- klärt. Wie gesagt, wird dazu die Art des Aufbaus kommen und so ist es erklärlich, dal für andere Perlen ein weit geringeres spezifisches Gewicht. für schlechtere Süßwasserperlen z. B. 2'238, 1'973 und 1'910, für andere (marine) Perlen sogar nur 1'684 und 1'540 angegeben wird, woraus wohl aber kaum mit Sicherheit hervorgeht, dal) dies gerade minderwertige Perlen 140 E. Korschelt. sein müssen. Vielmehr dürfte es vor allem auf die Beschaffenheit der änßeren Schichten ankommen. 7. Farbe und Glanz. Farbe und Glanz der Perlen stehen, wie schon mehrfach erwähnt, im engen Zusammenhang mit ihrer Struktur. Bei ein und derselben \Muschelart, und zwar sowohl bei den marinen Perlmuscheln wie bei denen des Süßwassers, bei Pinna und anderen Muscheln finden sich Perlen von ganz verschiedener Färbung. In den meisten Fällen gleicht diese wohl derjenigen der Perlmutterschicht, welche die Schale auskleidet, wie dies bei den edlen Perlen der marinen und Sübwasserperlmuscheln der Fall ist. Die großen Perlen des Strombus gigas zeigen die zarten Lila- oder Rosatöne der inneren Schalenschicht. Andrerseits werden von den Perl- muscheln andersfarbige, z. B. die wegen ihres Glanzes und eigenartigen Aussehens sehr geschätzten schwarzen Perlen hervorgebracht. Sogenannte schwarze Perlen, die nicht gerade schwarz zu sein brauchen, sondern auch dunkelbraune bis ins Schwarze gehende Töne zeigen können, finden sich bei verschiedenen Muscheln, so bei Margaritana und Pinna. Obwohl die Perlen der letzten Muschel gewöhnlich die gelbrote Farbe besitzen, kommen doch bei ihr auch hellere bis weiße und graue Perlen vor. Das gleiche gilt für die Flußperlmuschel. deren Perlen vom schönsten weiben Perlenglanz bis zu matter grauer Färbung, rötlichen bis braunroten, hell- und dunkelbraunen, auch grünen und anderen Tönen mit und ohne Glanz variieren, dabei durchscheinend und undurchsichtig sein können. Neben weiben bis grauen silberglänzenden sind auch gelbe, grüne, blaue, rote, violette Perlen von anderen Muscheln (wahrscheinlich von Perlmuscheln) bekannt; besonders zeichnen sich die amerikanischen Unioden durch Pro- duktion solcher farbiger Perlen aus, die ungefähr jede beliebige Farbe aufweisen können. Hervorgebracht wird die verschiedenartige Färbung offenbar durch die Kombination der Periostracum- mit den Prismen- und Perlmutter- schichten, wobei die Farbe hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich, an die ersteren gebunden ist und die Art der Bedeckung durch die anderen, besonders durch die Perlmutterschichten, die Art der Färbung erzielen dürfte. Wenn «die Periostracumschichten auf der einen Seite der Perle zutage treten. auf der anderen Seite jedoch von der Perlmutterschicht überdeckt sind. so kommen Perlen zustande, welche zur Hälfte braun ge- färbt sind, an der anderen weißen Hälfte jedoch einen schönen Perlmutter- glanz zeigen können. So spielt also bei der Färbung der Perlen ihre Struktur eine wich- tige Rolle, und das ist sicher insofern der Fall, als nicht nur die Kom- bination der organischen Schichten, sondern gewiß auch der feinere Bau der letzteren hinsichtlich «des Durchscheinens wie überhaupt der Licht- durchlässiekeit und Reflektion der einzelnen Schichten in Betracht kommt. Perlen. 141 In dieser Beziehung sei auch auf das bei Besprechung der Schalenstruktur über die Farbentöne der Perlmutter und die Farbwirkung dünner Plätt- chen sowie der Oberflächenbeschaftenheit Gesagte verwiesen (S. 118). Vor allen Dingen dürfte also die feinere Struktur der äußeren Schichten für den Glanz der Perlen ihr sogenanntes „Wasser und Lüster* und damit für die an ihnen am meisten geschätzte Eigenschaft von Bedeutung sein. Die Art, wie sie sich unter sich mit den darunter liegenden Schichten ver- binden, wie viele solche Schichten an der Oberfläche vorhanden und wie stark die einzelnen sind, welche Färbung und Zusammensetzung sie haben, wie die Außentläche der Perle sich verhält, ob sie sehr glatt ist oder un- erhebliche, vielleicht nur mit stärkeren Vergrößerungen wahrnehmbare Vertiefungen und Erhebungen zeigt, alles dies wird für den Glanz, wie auch für die Tönung der Perle (Wasser und Lüster) in Betracht kommen. Im einzelnen aber die Faktoren zu bestimmen, welche den wundervollen (lanz einer edlen Perle hervorbringen, die Brechung und Reflektion der Lichtstrahlen zu berechnen, die Gründe für die zarte Tönung und das Irisieren der Oberfläche anzugeben, wird bei der komplizierten und dabei sehr verschiedenen Zusammensetzung der einzelnen Perlen ungemein schwierig und kaum möglich sein. 8. Größe und Form. Aus dem über die Entstehung der Perlen Mitgeteilten ergibt sich von selbst, daß ihre Größe eine sehr verschiedene sein muß. Perlen können schon mit allen ihren charakteristischen Eigenschaften ausgestattet sein, wenn sie auch von mikroskopischer Größe sind. Es gibt also Perlen von kaum sichtbarer Größe bis zu solchen vom Umfang einer Haselnuß, Wal- nul oder eines Taubeneies und noch darüber, wenn die in der Literatur enthaltenen Angaben richtig sind. Bei so großen Perlen handelt es sich zumeist um solche von unregelmäßiger Gestalt; weiße kugelförmige oder höchstens ovale Perlen gehen nur selten über Haselmußgröße und 80 bis 100 oder höchstens 125 Karat (das Karat zu 2053 mg) hinaus. Runde weiße Perlen von 40 -50 Karat gelten schon für sehr umfangreich und stehen hoch im Preis. Dieser pflegt sich zu verringern, wenn die Perle Abweichungen von der kugelförmigen oder regelmäßig ovalen Gestalt oder andere Unregelmäßigkeiten in Form und Färbung zeigt. So hat eine der bekannten Perlen, die Hope-Perle (nach dem früheren Besitzer genannt). ungefähr Birnenform mit unregelmäßigen Erhebungen und Vertiefungen (Fig. 20). Diese nur zum Teil durch echten Perlenglanz und weiße Fär- bung ausgezeichnete Perle wiegt nicht weniger als 450 Karat (924 y). ist 51 mm lang und mißbt 114 mm im Umfang des breiten, 82 mm in dem- jenigen des schmalen Endes. Bei derartigen großen Perlen handelt es sich häufig am solche, welche früher mit der Muschelschale im Zusammenhang stan- den und die wir als „Schalenperlen“ noch kennen lernen werden. Wer sich für die einzelnen besonders großen und schönen Perlen, ihre zum 142 E. Korsehelt. Teil enormen Preise, ihre Verwertung und ihr Schicksal interessiert, findet diese wie die kostbarsten Edelsteine mit eigenen Namen belegten Stücke bei Möbius und Heyling, sowie in Kunz und Stevensons Verlenbuch ein- chend beschrieben, in welchem letzteren Buch auch Abbildungen wertvoller Perlen und Perlenschmuck- Fig. 20. stücke ohne und mit ihren glücklichen Besitzern in reicher Auswahl gegeben sind. Mit dem Begriff edler Perlen verbindet sich außer dem charakteristischen Glanz die kugelrunde, höch- stens noch ovale oder birn- förmige Gestalt. doch mußte bereits mehrfach erwähnt werden, dal) die Perlen häufig von der runden Form abweichen. Das kann in ge- ringerem Mabe infolge des Auftretens von Vorwölbun- gen und Vertiefungen an einzelnen Stellen oder aber Veränderungen der ganzen Gestalt geschehen, die dann etwa am einen Ende ver- breitert, am anderen Ende verschmälert und somit birnförmig erscheint. So eestaltete Perlen finden, wie schon mehrfach er- wähnt. besonders als Ge- hänge Verwertung und sind daher ebenfalls sehr oeschätzt. Weiter kann die Die Hope-Perle in natürlicher Größe (nach Kunz und Stevenson. oanze Perle eine längliche (restalt annehmen, wie es bei den sogenannten Hundszahnperlen der Fall ist (Fig. 21). Derartige lang- gestreekte Perlen finden sich bei den Süßwassermuscheln mit Vorliebe in der Ligamentfalte. Von unregelmäßiger Gestalt sind auch die an den Schließmuskeln auftretenden Perlen, die häufig in größerer Zahl dicht nebeneinander liegen. Bei so enger Aneinanderlagerung der Perlen kommt es nicht selten zu einer Verschmelzung, wodurch die Form ebenfalls be- einflußt und verändert wird. Man kennt Perlen von abgeplatteter, halb- kugel-, linsen-, nieren-, birn-, stab-, traubenförmiger und mancher anderen Perlen. 143 Gestalt. Die von der Kugel- oder Ellipsoidform abweichenden Perlen, zumal die von ungewöhnlicher Größe, pflegt man als Barockperlen zu bezeichnen. 9. Verschiedene Arten von Perlen. Obwohl vorher und zumal in den letzten Abschnitten von recht ver- schiedenartigen Perlen die Rede war, muß doch noch vergleichsweise darauf eingegangen werden. Zunächst handelt es sich dabei um die von den weiter oben angeführten perlenerzeugenden Tieren hervorgebrachten Perlen. die unter Umständen in ihrer Beschaffenheit recht weit von dem entfernt sind, was man sonst unter einer von dem Muscheltier hervorgebrachten Perle zu verstehen pflegt. Dies eilt z.B. für die bis zur Größe einer Kirsche heranwachsenden, kugelförmigen. ovalen, birnförmigen oder läng- Fig. 21. Zwei Broschen aus „Hundezahnperlen“ (nach Kunz und Stevenson). lichen Perlen von Tridacna und Hippopus, welche selten einen Perl- mutterglanz aufweisen, sondern gewöhnlich opak- und porzellanartig er- scheinen. Bei diesen sehr harten Perlen tritt die lamellöse hinter einer mehr scholligen Struktur der Kalksubstanz zurück, welche die ganze Perle erfüllt. Die letztgenannten großen, kompakten Perlen lassen recht deutlich den auch sonst wahrzunehmenden Zusammenhang zwischen Beschaffenheit der Schalen und Perlen erkennen, die im allgemeinen darin bestehen dürfte, daß bei Muscheln mit dicken und festeren Schalen umfangreichere und festere Perlen gefunden werden. Nach der im ganzen übereinstimmen- den Struktur dieser beiden Gebilde ist dies ohne weiteres verständlich. Die großen und dickschaligen Perlmuschen Margaritifera margariti- fera und M. maxima bringen die größten edlen Perlen hervor, während die kleinere M. vulgaris im allgemeinen weniger umfangreiche, wenn auch im Glanz sehr schöne Perlen erzeugt. Im Persischen Golf jedoch, wo dieselbe Muschel (M. vulgaris) größer und dickschaliger wird, sollen auch ihre Perlen voluminöser werden. Damit stimmt überein, daß größere Perlen erst bei 144 E. Korschelt. älteren Muscheln gefunden werden, bei denen die Schale bereits massiger eeworden ist; hierauf wird noch weiter unten einzugehen sein (vgl. S. 147). Daß ein und dieselbe Muschel oder Muschelart unter Umständen Perlen von recht verschiedenartiger Beschaffenheit hervorbringen kann, braucht nach dem früher Mitgeteilten kaum besonders hervorgehoben zu werden. Es wird dies von der Art der Schichtenablagerung in der Perle, von ihrem Ausbildungszustand usw., aber auch davon abhängen, wo sie im \lantel liegt. Diejenigen Perlen, welche an Stellen des Mantels entstehen, welche besonders glänzende Schalenpartien abzuscheiden haben, dürften von vornherein bevorzugt sein und größere Aussicht auf eine bessere Aus- bildung haben. Dementsprechend wird sowohl für die Meeres- wie Flul- perlmuschel angegeben, daß die guten Perlen mit Vorliebe in bestimmten, für ihre Ausbildung besonders geeigneten Regionen des Körpers gefunden würden. Stumpf, nur wenig glänzend erscheinen die weißen Perlen der Mies- muschel. Derartige des Perlenglanzes fast oder gänzlich entbehrende Perlen kommen auch bei anderen Muscheln vor, so wurden die gewöhnlich gelb- roten runden bis birnförmigen Perlen von Pinna bereits erwähnt, ebenso die großen, braun gefärbten, ganz matten Perlen von Margaritana. Die teihe der perlenerzeugenden Tiere kann hier nicht durchgegangen werden, doch sei, wie schon vorher, nochmals darauf hingewiesen, daß die Perlen begreiflicherweise der mit ihrer eigenen Substanz mehr oder weniger über- einstimmenden inneren Schalenschicht häufig sehr ähnlich sind, wie dies für die oben erwähnten porzellanartigen Perlen der Tridacna sowie für die rosafarbenen oder grünen Perlen der Gastropoden Strombus und Haliotis gilt. Wie erwähnt, wirkt abgesehen von der Zugehörigkeit zu verschiedenen Tieren auch die Lage im Weichkörper des Tieres auf Gestalt und Färbung der Perlen ein: von den Mantel-, Muskel- und Ligamentperlen wurde dies zum Teil schon vorher angegeben. Auch auf die Schalenperlen mußte bereits hingewiesen werden, doch ist auf diese als Schmuckgegenstände vielfach verwandten Perlenformen nochmals zurückzukommen, und zwar schon des- halb. weil es sich bei ihnen nicht immer um wirkliche, d.h. frei im Weich- körper des Tieres entstandene Perlen, sondern häufig um Auswüchse der inneren Schalenfläche handelt. Als eigentliche Schalenperlen wird man frei- lich nur diejenigen bezeichnen dürfen, welche im Mantel des Tieres ge- bildet und erst nachträglich mit der Schale vereinigt wurden. Wie dies eschieht, ist leicht vorzustellen; wenn Perlen dicht am Außenepithel des Mantels liegen, so kann der Perlsack sich nachträglich mit dem Epithel vereinigen und dieses an der Vereinieungsstelle auseinander drängen, so daß eine Lücke im Epithel entsteht (Fig. 22, A). An dieser Stelle kann (dann die Perle mit der inneren Schalenfläche in direkte Berührung kommen, und da die Produktion der Perlschichten weiter geht, so tritt infolgedessen eine Verlötung mit der Schale ein, wie man dies von recht kleinen l’erlen in den Fig. 22, Bund © sieht. Im ersteren Fall sitzt die Perle der Perl- Ber Perlen. 145 mutterschicht, im letzteren dagegen einer zufällig hier befindlichen Peri- ostracumlage (einem sogenannten „Ölfleck“) auf. Hier handelt es sich um sehr kleine Perlen, aber ganz ähnlich kann sich das Anlegen an die innere Schalenfläche und die Verlötung mit ihr bei größeren Perlen vollziehen. Der Umfang der Perlen nimmt dabei noch zu. Schreitet auch die Abschei- dung von Schalenschichten an der betreffenden Stelle noch fort, so können zumal kleinere Perlen immer enger mit der Schale verbunden und durch völlige Überdeckung schließlich ganz in sie einbezogen werden (Fig. 23, 4 und B), so dal) sie nun im Innern der Schale liegen, wo sie am Ende nur noch durch Anfertieen von Schliffen aufzufinden sind. Fig. 22. —————— >>> LITT TID DT A Gegen die Schale offener Perlsack, Bund ( Verschmelzung einer kleinen Perle mit der Schale. A 220mal, B 12mal, ÜC 48mal vergr. (nach A. Rubbel). aep Außenepithel des Mantels, bi Bindegewebe, A Hypostracum (helle Schalenschicht), ipe Peri- ostraeumschicht in der Schale, oe differenzierte Partiean der Innenfläche der Schale (sog. „Ölfleck®), p und ph Perle, pm Perlmutterschicht, pr Prismenschicht. ps Perlsack. Von den eigentlichen Schalenperlen sind die ebenfalls ganz perlen- ähnlichen Erhabenheiten der inneren Schalenfläche schwer zu unterscheiden. Die einen wie die anderen pflegen daher für gewöhnlich als Perlen be- zeichnet zu werden und man spricht von diesen mehr oder weniger regel- mäßig geformten Gebilden, die je nachdem eine breitere oder schmälere Verbindung mit der Schale aufweisen, auch als sogenannten Kropfperlen. Die nicht als freie Perlen entstandenen Schalenerhebungen dürften zu- meist auf Verletzungen der Schale zurückzuführen sein, was beson- ders für die Muscheln mit verhältnismäßig dünnwandiger Schale gilt. Bei Anodonta, einer unserer bekanntesten Flußmuschelgattungen, die eine sehr dünne Schale besitzt, sind derartige Schalenwucherungen der verschiedensten Form recht häufig, ebenso bei Unio und anderen Najaden (Fig. 24). Sie gehen über in die auf anderem Wege, nämlich durch E. Abderhalden, Fortschritte. VII. 10 146 E. Korschelt. Eindringen von Fremdkörpern in den zwischen Mantel und Schale be- findlichen Raum hervorgerufenen Gebilde. Diese können sehr verschiedener (tierischer, pflanzlicher oder mineralischer) Natur sein und gelangen wohl zumeist ziemlich gewaltsam infolge von Verletzungen der Verbindung zwischen Mantel und Schale in den beide trennenden schmalen Spaltraum (die. 6 u. 7. 8.119). Hier pflegen sie an die innere Schalenfläche eng angepreßt und in- folge der vom Man- tel ausgehenden Ab- scheidung mit Scha- len-. besonders Perl- mutterschichten überzogen zu werden. So kommen die be- kannten, schon vor- her erwähnten Bud- dhabildehen zustan- de, die man wie andere Gegenstände (Fig. 3 A—C) künst- lich in den Mantel- schalenraum brachte und es’werden nicht selten Tiere gefun- den, welche in den Schalenmantelraum der Muschel gelangt. auf diese Weise mit der Schale in feste Verbindung gebracht und dadurch in ihrer Form dauernd kon- serviert wurden. Die Objekte, nach wel- i und B Verschmelzung einer Perle mit der Schale und Einschließung chen die beigeeehe- in diese. Vergrößerung l14mal nach A. Rubbel. en 7 = u ||| | IL Il h Hypostracum (helle Schicht), ipe innere «Periostr acumschicht, nen Abbildungen pe Periostracum, ph die Perlen, aus heller Schi ht bestehend, pm Perl _,09x 9”. i P inutter, pr Prismenschicht. F le. 25—27 angefeı = tiet wurden, lassen noch sehr deutlich die Form der Schnecke, der Insektenlarve oder des Fisches erkennen, welche diesem Schicksal in einer Steckmuschel (Pinna), Fluß- muschel (Anodonta) und Perlmuschel (Margaritifera) verfielen. Die zu zweien oder mehreren verschmolzenen Perlen verdanken ihre Entstehung einem ganz ähnlichen Vorgang, wie er vorher für das Zustandekommen der Schalenperlen angegeben wurde. Wenn zwei oder mehrere in Bildung beeriffene Perlen im Mantel nebeneinander lieeen. was Perlen. 147 nicht selten vorkommt. und sich bei ihrer weiteren Ausbildung dauernd vergrößern, so stoßen zunächst die Perlsäcke aneinander (Fig. 28 A) und wenn an dieser Stelle das Perlsackepithel schwindet, gelangen die Perlen selbst zur Berührung und Verschmelzung (Fig. 283 B und C). So können ganze Konglomerate von Perlen zustande kommen, wie man sie in der nicht seltenen Traubenform der Barockperlen kennt. I0. Perlengewinnung. Nach der Entstehungsweise der Perlen, so weit wir sie mit einiger Sicherheit kennen, ist vorläufig anzunehmen, dal) die Erzeugung der Perlen mehr vom Zufall ab- hängt. Hunderte von Perlmuscheln können unter Umständen durch- sucht werden, ohne dal) eine Perle von erheb- licher Größe gefunden wird; kleinere Perlen allerdings mögen dabei der oberflächlicheren Untersuchung, wie sie für gewöhnlich nur vor- genommen werden kann, entgehen, denn es ist anzunehmen. daßirgend- weiche Ursachen zur Perlenbildung fast im- mer vorhanden sind und auch zu ihr führen. Daß solche kleine Perlen sich vergrößern und zu an- sehnlichen Perlen wer- den, ist kaum nötig und nichteinmal wahrschein- lich. Möglicherweise fin- Schale von Unmio pietorum mit Auswüchsen an der inneren Schalen det auch eine durch den fläche. Natürliche Größe. Stoffwechsel der Mu- schel bedingte Wiederauflösung, also eine Vernichtung der Perlen im Or- ganismus selbst statt. Von einer Erweichung der Perle war vorher in Ver- bindung mit der Parasitentheorie bereits die Rede. Nach der Bildungsweise der Perlen ist es wahrscheinlicher, daß man bei jungen Muscheln weniger, bei älteren größeren Muscheln dagegen mehr Aussicht haben wird, mit Erfolg nach Perlen zu suchen. Durch die Erfahrung wird dies im ganzen bestätigt. So sollen sich bei Marga- ritifera vulgaris, deren Alter man auf etwa 7 Jahre schätzt, vor dem 10% 143 E. Korschelt. >. Jahr nur wenige Perlen finden, während ihr Ertrag von da an steigt: besonders zahlreich sollen die Perlen in fünfjährigen Muscheln sein und von da sollen sie bis zum 7. Jahr besonders kostbar werden. Den grölieren Perl- muscheln dürfte ein höheres Alter zuzuschreiben sein; die Flußmuscheln sollen ein Alter von 12—14 Jahren erreichen, dagegen soll ihre Ertrags- fähiekeit schon früher, bei den ameri- kanischen Formen im 5. Jahr ein- treten. Ob die europäische Flußperl- muschel wirklich so alt wird, wie man Fig. 26. | ur; n; 1 17 U Pinna nob mit einen Imuttersubstanz ülc Anodontaschale mit Chironomuslarve, von Perl zogenen Üerithiun u ı Schalerfläch: mutter überzogen an der Innenfläche, °, natür Il’, nat j licher Größe annimmt, nämlich 50 -60. ja sogar 100 Jahre (Hessling), muß wohl einieermaßen zweifelhaft erscheinen: bei der Riesenmuschel (Tridacna), welcher man ebenfalls ein so hohes Alter zuschreibt, wäre dies vielleicht eher verständlich. Perlen. 49 Sehr erwünscht und erfreulich wäre es, wenn sich die Perlenproduk- tion auf irgend eine Weise befördern ließe; darauf hat man begreiflicherweise schon früher sein Augenmerk gerichtet und abgesehen von dem in China und Japan geübten Verfahren des Hereinbringens fremder Gegenstände zwischen Schale und Mantel, sollte die von Linnd angewandte Methode zur Erzeu- gung von Perlen auf künstlichem Wege führen (vgl. oben S. 121 u. 122). Im ganzen haben die Versuche zur Hervorbringung echter Perlen mit Unter- stützung von Menschenhand bisher kaum zu recht erheblichen Resultaten geführt, insofern derartig erzeugten Perlen gegenüber den echten immer eine gewisse Unvollständiekeit anhaftet (vgl. S. 157). Leider muß man sagen, daß auch die neueren Ergebnisse über die Perlenbildung in bezug auf die Fig. 27. Perlmuschelschale mit überzogenem Fischehen an der Innenfläche, */, natürlicher Größe. Erhöhung der Perlenproduktion bisher keine besonderen Erfolge brachten. Wenn bei den marinen Muscheln die Entstehung der Perlen wirklich der Hauptsache nach auf parasitische Wurmlarven zurückzuführen wäre, so mübte man die Infektion der Muscheln zu befördern und auf diesem Wege die Perl- produktion in ihnen zu heben suchen. Freilich ist dafür unsere Kenntnis des Vorgangs vorläufig noch eine zu unvollkommene und unsichere, um Aussicht auf Erfolg zu versprechen. Leider gilt dasselbe auch für die Siißwassermuscheln, bei denen es darauf ankäme, den Stoffwechsel des Tieres so zu beeinflussen. daß die Produktion der „gelben Körnchen“ und damit vielleicht diejenige der Perlen erhöht würde. 150 E. Korschelt. Die Angaben, dal die Perlmuscheln bestimmter Lokalitäten mehr zur Perlproduktion neigten und ein reicheres Erträgnis lieferten als diejenigen an anderen Örtlichkeiten, sind im Licht der neueren Untersuchungsergeb- nisse ganz verständlich, denn es können an den betreffenden Örtlichkeiten Verhältnisse obwalten, welche den Stoffwechsel der Muschel in geeigneter Weise beeintlussen oder die Entwicklung der Parasiten begünstigen und in A Zwei Perlsäcke von Margaritana, dicht aneinanderliegend, B und C verschmelzende Perlen in Perlsücken. A 110mal, B 200mal, © 200mal vergrößert (nach A. Rubbel). aep Außenepithel des Mantels, p Perlen, pe Periostracum, p/ Perlenkern, ps Perlsackepithel. beiden Fällen die Perlproduktion befördern. Strömungsverhältnisse, die Beschaffenheit des Wassers und Untergrundes oder andere Faktoren, welche man dafür verantwortlich machte, können gewiß eine Rolle spielen. So gibt Jameson an, dal bei der von ihm daraufhin genau untersuchten Miesmuschel diejenigen Tiere, welche in Buchten und Landkanälen leben. die meisten Perlen hervorbringen; an diesen Örtlichkeiten würden Perlen in jeder Muschel angetroffen, allerdings mit Ausnahme derjenigen Tiere, welche sich an exponierten oder frei schwimmenden Gegenständen an- Perlen. 151 hefteten. die offenbar andere Bedingungen bieten, als sie auf festerem Grund vorhanden sind. Bei der Perlengewinnung selbst hat man zwischen marinen und Süß- wassermuscheln zu unterscheiden. Marine Perlen. Von der Verbreitung der Meeresperlmuscheln war eingangs schon die Rede. Innerhalb der dort genannten Verbreitungsgebiete richtet sich ihre Ausbreitung und Häufigkeit nach der Gunst oder Ungunst der Boden- Fig. 29. land N SL um N NN N) \ I 1-- SE RS . A | FREIE “ 7 N dm FR PA B La i / a rt .% Se \\ H ; x & x ) 2 FERN Kira = vr A und B Larven der Auster (Ostrea), C von Dreissensia (mit ausgestrecktem Fuß), a After. dm Dor- salmuskel, f Fuß, ! Leber, m Mund, ma Magen, mu Muskeln, s Schale, sm Schließmuskel, ss Scha- lenschloß, » Velum, vm Ventralmuskel. verhältnisse, wonach sie vereinzelter oder in größeren Mengen neben- einander, in Form sogenannter Muschelbänke, meist in Tiefen von etwa 25—40 m vorkommen. Natürlich sind die „Bänke“ für die Ausbeutung besonders günstig und lohnend, wie dies von den indischen. besonders ceylonischen, japanischen, australischen Fundstätten, von denjenigen des (Golfs von Persien und anderen bekannt ist. Die geschlechtsreifen Muscheln bringen Eier hervor, aus denen sich, nachdem sie‘ von der Mutter entlassen und befruchtet worden sind, frei schwimmende Larven entwickeln, die mit Hilfe ihrer Wimperung an der Oberfläche des Meeres eine Zeit lang herumschwimmen. Die Larven gleichen denen anderer Muscheln, welche wie sie mit dem flimmernden Lokomo- 152 E. Korschelt. tionsapparat. dem Velum, ausgerüstet, sowie mit einer zweiklappigen Schale, Schlieömuskel. Darmkanal usw. versehen sind: die beigegebene Abbildung zeigt dies von einer noch frei schwimmenden Ansternlarve (Fig. 29 A und 5). Später bildet sich an der Bauchseite der Larve der Fuß heraus. der ziemlich weit hervorgestreckt werden kann (Fig. 29 € und 30.4). Nach einiger Zeit des Herumschwärmens setzen sich die Larven an irgend welchen im Meer schwimmenden Gegenständen, an Pflanzen, Holzstücken u. del, auch an Steinen fest. Die Abbildung Fig. 30 B zeigt eine große Zahl solcher unlängst fixierter Larven an einem Sargassum-Zweig, wie solche massenhaft im Meer flottieren. Später pflegen sich die Larven bzw. jungen Muscheln, die sie jetzt geworden sind. von der Unterlage wieder abzulösen und gelangen an den Grund, der für sie. wenn er etwas felsig oder steinig ist, besonders günstig erscheint: sie finden auf ihm besseren A ‚Junge ceylonesische Perlmuschel mit ausgestreektem Fuß und Bein Sargassumzweig mit einer Menge daran sitzender junger Perlmuscheln (nach Herdman). Halt als in sandigem Boden. von dem sie leicht überdeckt werden und dadurch zugrunde gehen. An der Unterlage fixiert sind die Muscheln nur während ihres Jungen und mittleren Lebensalters mittelst der Fäden ihrer Byssus- drüse. dem am Fuß gelegenen Befestigungsapparat, der in entsprechender Weise auch anderen Muscheln zukommt. Später liegen sie einfach am Boden gewöhnlich mit der linken Schale nach unten. Ihre Lebensweise ist also nicht unähnlich derjenigen der Austern, mit denen sie auch eine ge- wisse äußere Ähnlichkeit haben. Wie diesen erwachsen ihnen aus der um- gebenden Tierwelt manche Feinde, deren Angriffe nicht selten zu ihrer Ver- nichtung führen. Dal die nach oben gerichtete Schale von allen möglichen festsitzenden Tieren, wie Schwämmen, Polypen. Korallen, Röhrenwürmern und Seescheiden, überwachsen wird. würde weniger ausmachen. wenn nicht bohrende Spongien (Cliona), Ringelwürmer (Leucodora) und Weichtiere., 7. B. Bohrmuscheln (Lithodomus) und Schnecken (Murex, Turbinella) Perlen. 153 u. a. die Schale durchlöcherten und dadurch das Tier schließlich zugrunde richteten. Kleinere Schnecken wie Cerithium, welche zwischen die ge- öffneten Schalen gelangen, können ihren Schluß verhindern), worauf andere Tiere, wie Einsiedlerkrebse, den Weichkörper der Muschel verzehren. (re- fährliche Feinde der Perlmuschel- wie der Austernbänke sind auch die Seesterne, welche sich besonders von den jungen Muscheln nähren. Das gleiche gilt von verschiedenen Fischen, besonders Rochen (Trygon, Aöobatis) und andere Fische (Balistes, Tetrodon und anderen). deren festem Gebib auch größere Perlmuscheln nicht widerstehen. Eine gewisse Pflege und Schonung der marinen Perlmuscheln hat man schon seit langem insofern walten lassen, als man die Perlengründe nur in größeren Zwischenräumen befischte. sei es, dab man in bestimmten Ge- bieten das Fischen für gewisse Zeiträume ganz untersagte oder es nur in be- schränktem Maße zuließ. sowie dal man gewisse Bezirke öfter, andere seltener befischen ließ, je nach der Ausbeute, die sich ergeben hatte, bzw. nach dem größeren oder geringeren Reichtum an Muscheln überhaupt. Es ist dies ein Brauch, der schon seit Jahrhunderten geübt wurde und sich aus der Praxis von selbst ergab, wenn man nicht die Perlfischerei ganz ver- nichten wollte. Da Perlen schon im grauen Altertum geschätzt und jedenfalls seit 2000-3000 Jahren danach gefischt wurde, so wären die Perlmuscheln trotz ihrer großen Verbreitung in den tropischen Meeren wenn nicht ausgerottet, so doch sehr stark verringert worden, was bei der starken Nachfrage nach echten Perlen und der hohen Schätzung, deren sie sich in allen Zeiten erfreuten, ohnedies bis zu einem gewissen Grade der Fall war. In dieser Beziehung bemüht man sich von seiten der Be- hörden, besonders der englischen Regierung in Ceylon, diesem altbe- rühmten Perlfischereigebiet, die Perlfischerei nach Möglichkeit zu regeln und den kostbaren Tieren nicht nur Schutz zu gewähren, sondern auch für ihre Vermehrung zu sorgen, indem man ihre Lebensbedingungen möglichst genau erforscht. Die von dem englischen Zoologen Herdman erstatteten aus- führlichen Berichte legen davon Zeugnis ab. Wenn man bedenkt, daß der allein aus der ceylonesischen Perlfischerei seit Erwerbung der Insel durch die Engländer, d. h. etwa seit Anfang des vorigen Jahrhunderts gezogene Er- trag auf mehr als 20 Millionen Mark geschätzt wird, so ist eine derartige Fürsorge sehr naheliegend und sollte in diesen Ländern eine noch weiter gehende sein. Nach neueren Nachrichten und wenn das, was man ge- legentlich darüber liest, richtig ist, scheint es übrigens, als wenn in neuester Zeit trotz der angewandten, noch zu erwähnenden Vorsichtsmaßregeln die Perlenfischerei Cevlons stark zurückgegangen sei. Die Perlfischerei vollzieht sich heute in Ceylon kaum viel anders. als dies schon vor Jahrtausenden der Fall gewesen sein mag und wird in den zahlreichen Büchern, die sich damit beschäftigen. ziemlich überein- ') In dem Fall der in Fig. 25, S. 148, abgebildeten Steckmuschel ist freilich die Schnecke dabei schlecht weggekommen; von der Muschel aufgenommen wurde sie mit Perl- muttersubstanz überzogen und an der Schale festgekittet. 154 E. Korschelt. stimmend geschildert (Aelaart, Möbius, Hessling, Dubois, Herdman, Seurat, Kunz und Stevenson u.a.). Darin hat sich wie auch in anderen auf die Perlfischerei bezüglichen Dingen unter dem Wechsel der Regierungen, wie er zumal in Ceylon unter singalesischer Herrschaft und dann unter Portu- ojesen, Holländern und Engländern stattfand, keinerlei Wandel vollzogen: die Gebräuche sind auch jetzt noch die uralten geblieben, wie Herdman ın seinem Bericht betont. Zur Zeit der Perlfischerei,. die vorher bekannt gegeben wird und die vewöhnlich wochenlang dauert, finden sich an den betreffenden Küsten Fischer, Taucher. Händler und andere direkt oder indirekt interessierte l,eute in eroßer Menge ein, so dal zumal in früheren Zeiten bei diesen Fig. 31 radiographisches Bild einer großen Perle in der Perlmuschel, B mit einer größeren Zahl von Perlen (nach Dubois 1909) grolien Menschenansammlungen und dem Mangel dafür geeigneter Ein- richtungen der Drang nach Erwerb und Gewinn häufig zum Gegenteil, nämlich zum Verlust an Habe, Leib und Leben führte, indem unter den schlecht untergebrachten und ungenügend ernährten Leuten Krankheiten ausbrachen, welche durch die Ausdünstung der unachtsam weggeworfenen und verwesenden Muschelreste noch verschlimmert wurden, so dab die Menschenansammlung sich häufig ohne entsprechenden Gewinn des einzelnen wieder zerstreute Der Muschelfanz zeschieht von Booten aus. die sich den ganzen Tag über draulen befinden und mit Ruderern sowie solchen Leuten, welche diese abzulösen und «ie Muscheln in Empfang zu nehmen haben, gut be- setzt sind. Die von Jugend auf eingeübten Taucher beschweren sich zur Perlen. 155 Erleichterung des Hinabtauchens mit einem großen Stein; sie bleiben 2—53 Minuten oder noch kürzere Zeit, nur ganz selten bis zu 5 Minuten unter Wasser, in welcher Zeit sie, mit Taucherbrillen bewaffnet, oder ohne diese, so viel Muscheln wie möglich abzulösen und in ein Netz gesteckt herauf zu bringen suchen. Darauf beginnt das Tauchen von neuem und wird tags über fortgesetzt. Gegen Abend kehren die Fischer mit ihrer Beute zurück, die je nachdem abgeliefert oder sonst verwertet wird. Die Muscheln werden, nachdem sie sich infolge des Absterbens von selbst öffneten oder auch sofort auf Perlen untersucht, die Schalen, wenn es lohnt, zur weiteren Verwertung aufgehoben, die Weichteile ins Meer zurückge- worfen. Natürlich wird sich die Fischerei und das sonstige Verfahren je nach den Verhältnissen an den betreffenden Küsten in gewisser Weise modifi- zieren, woüber man sich bei den obengenannten Schriftstellern unterrichten kann (Hessling, Seurat, Kunz und Stevenson und andere). Die Ausbeute bei den Fischzügen ist eine sehr verschiedene, ebenso wie die ein- zelnen Kampagnen recht verschiedene Erträge liefern. Die Zahl der dabei vernichteten Muscheln ist eine enorme, so sind im Jahre 1887 an der Küste von Ceylon durch 120 Boote in dem zum Fischen freigegebenen Monat etwa 31 Millionen, im Jahre 1891 etwa 44 Millionen Perlmuscheln gesammelt worden, die auf Perlen durchsucht und also der Vernichtung preisgegeben wurden. Um letzteres zu verhindern und die bei den bishe- rigen äußerst primitiven, altgewohnten Verfahren nicht vermeidbare enorme Vernichtungsziffer nach Möglichkeit herunter zu setzen, kam Dubois auf den naheliegenden Gedanken, das radiographische Verfahren auf die Perlmu- scheln in Anwendung zu bringen und verwandte es zuerst (1901) bei Margaritana, später auch bei Margaritifera mit Erfolg (Fig. 31.4). Die sehr nützliche und im Interesse der Perlfischerei mit Freuden zu be- grüßende Methode wurde dann von J. Salomon weiter entwickelt, der in Ceylon, d. h. auf der Insel Ipantivu mit Aufwand großer Mittel eine nur für die Prüfung der Perlmuscheln bestimmte radiographische Anstalt ein- richtete. Die beigegebene, von Dubois (1909) übernommene Abbildung (Fig. 31 B) zeigt ein aus jener Anstalt hervorgegangenes radiographisches Bild einer ceylonesischen Perlmuschel mit einer ganzen Anzahl sehr deut- lich zu erkennender Perlen darin. Muscheln, die keine oder nur kleine Perlen enthalten, können bei Anwendung dieses Verfahrens gerettet und ins Meer zurückgebracht werden. Zucht der Perlmuscheln. Zur Förderung des Ertrags der Perl- fischerei lag es nahe, die Perlmuscheln zu hegen und zu züchten oder ihnen irgendwie günstige Lebensbedingungen zu schaffen. Diese Versuche gehen schon ziemlich weit zurück, in Ceylon bis zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, indem man größere Mengen von Perlmuscheln an besonders geeignete und geschützte Örtlichkeiten brachte. Dort wie anderswo hat man seine Sorgfalt besonders den jungen Muschen zugewandt, sie in Aquarien und größeren Kisten gehalten, um sie später an möglichst ge- 156 E. Korschelt. scehützten Orten im Meer auszusetzen. Solche Versuche sind an den indi- schen. australischen und amerikanischen Küsten, auf den ozeanischen Inseln, wie in ‚Japan gemacht worden und haben auch zu einem gewissen Erfolg, d.h. zu etwas reicheren Erträgen an einzelnen Örtlichkeiten geführt, ohne dal diese freilich anscheinend besonders erhebliche waren. Es ist eben nicht leicht, im größeren Umfang, wie es für das Gedeihen der Perl- muscheln nötig ist, günstige Lebensbedingungen zu schaffen. Möglichster Schutz und Schonung der unter natürlichen Verhältnissen lebenden Mu- scheln dürfte immer noch das Günstigste sein, so lange jene Schutzvor- richtungen sich nicht im größeren Umfang herstellen lassen. Das Halten der Perlmuscheln in abgeschlossenen Tanks wie in den Austernparks scheint keine rechten Erfolge gehabt zu haben: den Muscheln fehlt es wohl an der genügenden Nahrung und überhaupt an den richtigen Lebensverhältnissen. In Verbindung mit der weiter oben (S. 125 ff.) besprochenen Annahme von der Erzeugung der Perlen infolge der Infektion der Muscheln mit Parasiten hat man in Ceylon eine besondere Methode der Perlmuschelpilege angewandt. und zwar hauptsächlich aus dem Anlaß, daß der Ertrag der an der Westküste gelegenen, sonst sehr ergiebigen Perlmuschelbänke sich bei den Kampagnen der letzten Jahre als zu geringfügig erwies. Die eng- lische Gesellschaft, an welche diese Bänke verpachtet sind, suchte die Ur- sache darin. daß Fische unter der Perlmutterbrut und den jungen Muscheln große Verheerungen anrichteten. Man setzte das hier alljährlich im Sommer stattfindende Fischen auf einige Jahre aus. Die Muscheln selbst suchte man aber dadurch zu schützen, dal) man in zirka 1 m Höhe über dem fel- siegen Grund der Austernbank ein feines Drahtnetz anbrachte, welches den Fischen den Zugang zu den Muscheln verwehrt. Andrerseits war es im Hin- blick auf das ebenfalls oben S. 150 erwähnte Verhältnis der Fische zu den vermutlich die Perlen hervorrufenden Parasiten erwünscht, jene in der Nähe zu haben. Dies suchte man dadurch zu erreichen, daß man durch einen mit einem Seewasserbassin versehenen Dampfer eine Menge von Fi- schen aller Art und Größe zusammenfangen ließ und sie in eine über jenem Schutznetz befestigte Drahteinzäumung brachte, aus der sie nicht entweichen können. Das den Boden des Fischzwingers bildende Schutznetz ist mit Öffnungen versehen, welche den kleineren Fischen den Durchtritt zur Muschelbank gestatten: hier nähren sie sich von jungen Muscheln. ohne allzu großen Schaden unter ihnen anzurichten. Mit den Muscheln nehmen sie auch die Parasiten auf und indem sie selbst wieder von den erößeren Fischen gefressen werden, kommt der Parasit in diesen zur end- gültigen Ausbildung, wie Southwell, der diese Anlage vorschlug, anzunehmen geneigt ist. Indem dann mit den Exkrementen der eroßen Fische die Jugendstadien durch das Schutznetz auf die Muschelbank gelangen, können sich diese von neuem infizieren und die Perlproduktion in ihnen soll da- durch eine Beförderung erfahren. Dal) dies geschieht, ist zu wünschen, aber leider ist unsere Kenntnis der Parasiten selbst, wie ihres Entwick- lungs- und Lebensganges und schließlich auch ihrer Beziehungen zur Perlen- Perlen. 157 bildung in den Muscheln noch eine recht unsichere, um weit gehende Folgerungen daraus zu ziehen. Ob die hier getroffenen umständlichen und gewiß recht kostspieligen Maßregeln geeignet sind, die Perlenproduktion der Muscheln zu heben, muß vorläufig zum mindesten zweifelhaft erscheinen. Daß sie zur Hebung der Perlmuschelkultur beigetragen hätten, ist unseres Wissens nicht bekannt geworden. Freilich ist die seither verstrichene Zeit noch eine recht geringe, aber sehr groß scheint uns die Hoffnung infolge der früher mitgeteilten Anschauung über die Entstehungsweise der Perlen nicht zu sein. In Verbindung mit der Perlmuschelzucht hat man besonders in Japan die Erzeugung von Perlen auf künstlichkem Wege durch Einführung von Fremdkörpern, wie sie vorher schon mehrfach erwähnt wurde, wieder auf- genommen und dadurch anscheinend recht günstige Resultate erzielt, indem die auf diesem Wege hervorgebrachten, infolge des dabei verwandten Ver- fahrens meist halbkugelförmigen Perlen zum Teil recht gut ausfielen, einen schönen Glanz zeigten und unter annehmbaren Preisen zum Verkauf ge- bracht werden konnten. Nach dieser Richtung sind die von dem Japanischen Zoologen Mitsukuri gemachten Angaben von Interesse. Auf seine Anregung wurde von einem Herrn Mikimoto in der Bai von Agu, die an der paci- fischen Küste von Zentraljapan (Provinz Shima) liegt und Perlmuscheln in eroßer Zahl enthält, eine „Perlmuscheifarm“ angelegt, und zwar mit recht gutem Erfolg, wie es scheint. Die Bucht hat besonders günstige Küsten- und Bodenverhältnisse und ist sehr geschützt, so dal) die Muscheln in dem durchschnittlich nur 6—13 m tiefen Wasser des etwa 400 Hektar um- fassenden Gebietes gut gedeihen. Nach Möglichkeit hält man dabei die bis zu 3 Jahre alten und die älteren Muscheln in einem besonderen Bezirk, wo sie kontrolliert und vor Unbilden möglichst geschützt werden. Die ungefähr 5--6cm im Durchmesser haltenden (nach den vorliegenden Angaben) drei- jährigen Muscheln werden herausgefischt und durch Einführung geeigneter Gegenstände (vor allem kleiner Perlmutterkügelchen) für die künstliche Per- lenbildung behandelt, was jährlich etwa mit 250.000—300.000 Stück ge- schieht. Dann werden die Muscheln sorgfältig wieder auf den Meeresgrund eebracht und 4 Jahre oder länger dort belassen. Nach dieser Zeit (also im ganzen nach 7 71/, Jahren) nimmt man die Muscheln wieder heraus, um sie auf die seitdem in ihnen entstandenen natürlichen und künstlichen Perlen zu untersuchen. Die „Kulturperlen“ sind freilich nur halbe oder reichlich halbe, d. h. ungefähr plankonvexe Perlen, aber von guter Form, Größe und gutem Lüster, so daß) sie eigentlich über Erwarten schön aus- fielen und sich gut verkaufen (Mitsukuri). Die Anlage, in der über 100 Per- sonen beschäftigt werden, scheint somit recht lohnend zu sein. Dal) von einem Japaner ein besonderes Verfahren zur Erzeugung wertvoller Perlen aufgefunden sein soll, wurde bereits vorher (S. 122) erwähnt. Süßwasserperlen. Bei den Süßwassermuscheln gestaltet sich die Gewinnung der Perlen naturgemäß weit einfacher, da diese Muscheln viel leichter zu- 158 E. Korschelt. Fig. 32 A—D. A \ De er Aal 1112,770 e j . S 7) " In. Glochidium von Anodonta im freien Zustand (A, B) und Um bildung zur jungen Muschel /C, PD), in D mit Fuß versehen; d Darmanlage, / Larvenfaden, fu Fuß, g seitliche Gruben, k Kiemen, m Mund, s Schule, 54 Schalenhaken, sm Schließ- muskel, so Sinnesorgane, ım Wirnperfeld (nach Schierhole). gänglich sind. Dadurch sind sie allerdings auch wieder leichter zu schädigen und der Vernichtung noch weit mehr ausgesetzt als die Meeresperlmuscheln, so dal) ihr Bestand in den Kultur- ländern. zumal in denen mit fortschreitender In- dustrie sehr zurückgegan- gen ist. Für Europa kommt nur die Margaritana margaritifera in Be- tracht. die, wie schon ein- eangserwähnt wurde, unter Umständen ebenso schöne und wertvolle Perlen wie die marinen Muscheln hervor- bringen kann. In Deutsch- land sollen Einwohner des Voigtlandes durch zuge- reiste Venetianer auf die Fähigkeit der Muscheln, Perlen zu liefern, im 16. Jahrhundert aufmerk- sam gemacht worden sein und von da an oder doch bald nachher wurden die Flußperlmuscheln dort be- sonders im (Gebiet der weißen Elster, wie auch an einigen der vorher (S. 115) eenannten Bezirke Bayerns eehegt. Mit Vorliebe lebt die Flubperlmuschel in klaren Wasserläufen mit etwas steinigem oder doch sandigem Grund, wo sie einzeln oder zu größeren (Gruppen, sogenannten Mu- schelbänken, vereinigt eine recht geruhige Lebensweise führt und den einmal ein- genommenen Platz kaum erheblich wechselt, es sei Perlen. 159 «lenn, daß besondere Verhältnisse des Nahrungserwerbs, der Wasserbeschaffen- heit oder anderes sie dazu zwingen. Im Hochsommier, gewöhnlich Ende Juli bis Ende August, legt die Muschel ihre Brut ab, die sogenannten Glochidienlarven, welche vorher im Kiemenraum der Mutter die Entwicklung erlangt hatten, die sie zum freien Leben befähigen. Die Glochidien besitzen eine zweiklappige Schale wie die jungen Muscheln, zeigen aber besondere Vorrichtungen für ihre weitere, sehr eigenartige Lebensweise. Dies sind Haken am freien Schalenrand, ein sehr starker Schließmuskel, besondere larvale Sinnes- organe und endlich ein sogenannter Larvenfaden (Fig. 32). Dies gilt Fig. 33 A—C. Glochidien amerikanischer Süßwassermuscheln, A von Symphymota costatao, B Lampsilis alata, © Lampsilis subrostrata (nach Lefevre und Curtis). hauptsächlich für die Larven der Muschelgattungen Anodonta und Unio. wie sich auch die Larven von Margaritana im ganzen so verhalten. Dagegen können die Larven anderer Gattungen in ihrer Gestalt und Aus- stattung mit Larvenorganen von .dem geschilderten Typus einigermaßen abweichen. Während bei manchen von ihnen die Larvenhaken besonders groß und kräftig sind (Fig. 32 u. 33 A), treten sie bei anderen mehr zurück (Fig. 33 B) oder fehlen ganz. Dies gilt z. B. für eine größere Zahl ameri- kanischer Gattungen (Plagiola, Pleurobema, Quadrula, für einige Arten von Lampsilis |[Fig. 33 C] u. a.). Auch der für die Larven von Unio und Anodonta charakteristische Larvenfaden fehlt ihnen zum Teil. Eine eingehende Darstellung der verschiedenen Glochidienformen bezüglich ihrer Größe, Gestalt und Organisation im Hinblick auf die für den Para- 160 E. Korsehelt. Fig. 34 A—B. u EA RUtmaGTt ET Re Glochidien an den Kiemen. A mehrere Kiemenblättchen mit zahlreichen Glochidien. B der freie Teil eines Kiemenblättehens mit 3 Glochidien der Margaritana (nach einem Präparat von W. Harms). Fig. 355 A—B. b sitismus _ geeig- nete Ausrüstung haben ganz neuer- dings Leferre und Curtis für die amerikanischen Muscheln gegeben. Wenn ein Larvenfaden vor- handen ist. wie bei unseren ein- heimischen Uni- oniden. verflech- ten sich nach Ab- gabe der Eier, be- ziehungsweise der Larven aus dem mütterlichen Kör- per ganze Grup- pen von Glochidien zu kleinen Bäll- chen, die im Was- ser schwimmen und mit Fischen in Berührung kommen müssen, an denen die Glo- Aund BR stark mit Glochidien der Anodonin cataracta besetzte Brustflossen des Karpfens (nach Leferre und Curtis). cehidien wie die Larven anderer Flußmuscheln schmarotzen, um ihre weitere Entwicklung durehmachen zu können (Fig. 34 u. 35). Die im Gegensatz zu den Perlen. 161 Larven anderer Süßwassermuscheln sehr kleinen Glochidien von Margaritana scheinen an den Kiemen verschiedener Flußfische, wie der Elritzen und Forellen, geeignete Lebensbedingungen zu finden (Fig. 34). Um die am Fischkörper festsitzende Larve bildet sich eine Cyste (Gewebshülle), worin das Glochi- dium seine Entwicklung zur jungen Muschel durchläuft (Fig. 36), um nach einigen Wochen die Hülle zu durchbrechen und als junge, mit langem, beweglichem Fuß versehene Muschel (Fig. 37 A u. B) abermals zu freiem Fig. 36 A—B. A Glochidien von Anodonta cataracta in der Cyste am Flossenrand, B kleineres hakenloses Glochidium von Anodonta grandis und größeres hakentragendes Glochidium von Lampsilis rectus (nach Lefevre und Curtis). Fig. 37. A B Junge (A) und ein wenig ältere Muschel (B) von Anodonta mit ausgestrecktem Fuß (nach W. Harms). Leben zu gelangen und im Lauf der Jahre zur geschlechtsreifen Perlmuschel heranzuwachsen.') Größere brauchbare Perlen finden sich bei ihr ebenfalls erst in äl- teren Muscheln; da das Wachstum der Muscheln ein verhältnismäßig '!) Da der kurz charakterisierte Entwicklungsgang der Flußperlmuschel in den Hauptzügen mit demjenigen anderer Süßwassermuscheln übereinstimmt, wie neuerdings von W. Harms festgestellt wurde, so konnten hier zu seiner Erläuterung die weit in- struktiveren Bilder der gewöhnlichen Teichmuschel (Anodonta) und anderer Najaden herangezogen werden. Die betreffenden Vorgänge finden in den Arbeiten von Schierholz, Faussek, Lillie, Harms, Leferre und Curtis, sowie in der demnächst (Zeitschr. f. wiss. Zoolog. 1913) zu veröffentlichenden Abhandlung von C. Herbers eine eingehende Dar- stellung. Über das Wachstum der Flußperlmuscheln und das von ihnen vermutlich zu erreichende Alter gedenkt A. Rubbel auf Grund eigener Beobachtungen im Zoolog. An- zeiger (1912) einige Mitteilungen zu machen. E. Abderhalden, Fortschritte. VII. 11 162 E. Korschelt. langsames ist und sie, wie schon früher bemerkt, ein sehr hohes Alter er- reichen sollen, so ist dies ein für ihre Erhaltung und Verbreitung ebenso wie ihr komplizierter Entwicklungsgang wenig günstiger Faktor. Dement- sprechend ist dann auch der Ertrag, welchen die nach Möglichkeit ge- heeten Flußperlmuscheln brachten, in früheren Zeiten ein weit besserer oewesen als jetzt, wo Bäche und Flüsse durch die vordringende Kultivie- rung des Landes beeinflußt oder gar durch Abflußwässer verschiedenster Art verunreinigt werden. In Sachsen und Bayern beanspruchten die Fürsten die Perlenbäche, stellten diese unter besondere Aufsicht und regelten die Fischerei durch besondere Verordnungen. In gewissen Zwischenräumen wurden die Bäche abgefischt und die Erträge an die Hofhaltungen abgeliefert. wovon die Schatzkammern in Dresden und München noch jetzt Zeugnis ablegen. Im Dresdner Grünen Gewölbe befinden sich eine aus 177 großen und schönen Elsternperlen bestehende, auf 27.000 Mark abgeschätzte Halskette, wie auch manches andere damit verzierte Schmuckstück, Gefäß etc. Der in den Jahren 1830-1878 aus der sächsischen Perlfischerei gewonnene Erlös hat übrigens nur 30.000 Mk. betragen, dürfte aber wohl in früheren Jahren, als die Perlenbäche noch weniger ausgebeutet waren, größer gewesen sein. Aber wenn auch nach der von Jahn und Hessling über die sächsische und bayrische Perlenfischerei gegebenen ausführlichen Darstellung die Erträge nie besonders hoch waren, so lohnten sie doch immerhin und war es nicht der Fall, so legte man jedenfalls Wert darauf, die kostbaren Juwelen im eigenen Lande zu gewinnen. Für die Perlengewinnung wäre es gewiß sehr erwünscht, ohne Schädi- oung der Muscheln erkennen zu können, ob sie größere Perlen enthalten. Bei dem an und für sich nicht erheblichen Gewinn wird sich die für die ma- rinen Muscheln erwähnte Lurchleuchtung kaum mit Vorteil anwenden lassen, wenn nicht der ganze Betrieb mehr aus Liebhaberei geschieht. Dagegen ist von den mit der Perlfischerei Beschäftigten immer wieder behauptet worden, bei der Flußperlmuschel ließe sich das Vorhandensein größerer Perlen schon äußerlich an der Schale erkennen, sei es, dab ein oder mehrere Streifen, der sogenannte Faden der Fischer oder statt dieser Striemen, eine Art Rinne etwa in der Mitte der Schale quer über diese bis zum Rand verliefe. Auch eine buckelartige Erhebung am Ende der Schale oder ein Hinüberkrümmen der einen Schale über die andere am schmalen Ende, sowie ein Einschnitt am freien Schalenrande soll auf das Vorhandensein von Perlen hindeuten. Alles dieses klingt recht problematisch, aber immer- hin ist es denkbar, daß das Vorhandensein und weitere Wachstum größerer Perlen dasjenige der Schale beeinflussen und in gewisser Weise auf die Schalenform verändernd einwirken könnte. Für gewöhnlich wird die Untersuchung, um die Muschel zu schonen, mittelst eines zangenartieen Instrumentes vorgenommen, das zwischen die Schalenränder geschoben wird und diese bei einem darauf geübten Druck um 1—1'/, em zum Klaften bringt, wodurch das Vorhandensein oder die Abwesenheit größerer Perlen festgestellt und die Muschel gleichzeitig am Perlen. 163 Leben erhalten werden kann, um sie nachher wieder in den Bach zurück- zubringen. Sie scheint dadurch keine besondere Schädigung zu erleiden und weiter zu leben, wie auch neuerdings von Carl für die von ihm be- schriebenen Perlmuscheln angegeben wird. Die ganze Form des Tieres er- möglicht ein solches Verfahren, das wohl in ähnlicher Weise bei den Süb- wassermuscheln anderer Länder angewandt wird, wie aus den Versuchen zur Erzeugung von Perlen auf künstlichem Wege hervorgeht. Um diese gleich zu erwähnen, so bestehen sie im Einführen von Fremdkörpern, beson- ders der mehrfach erwähnten Buddhabildehen zwischen Mantel und Schale, mit welcher letzteren sie dann verwachsen (Fig. 8, A €) oder aber im Anboh- ren der Schale und Einführen geeieneter Gegenstände. Beide Verfahren sind (meist mit recht geringem Erfolg) an europäischen Flußperlmuschen, an denen Ostasiens hingegen mit recht schönen Ergebnissen ausgeführt worden. In dieser Beziehung kann auf das schon früher (S. 121 und 157) Mitgeteilte verwiesen werden. In den übrigen europäischen Ländern (Frankreich, Großbritannien, Skandinavien, Rußland) scheinen die Verhältnisse im ganzen ähnlich zu liegen, d. h. die natürliche Ausbreitung der Flußperlmuscheln scheint im Laufe der Jahrhunderte eingeschränkt und ihr Individuenreichtum ver- ringert worden zu sein, so daß die Erträgnisse in früherer Zeit weit besser waren, als sie heutzutage sind. Günstiger liegen die Verhältnisse offenbar in Ostasien und Amerika, wo die Wasserläufe, welche die Muscheln be- herbergen, durch kulturelle Einflüsse weniger gestört, vielleicht auch noch nicht so ausgebeutet sind. Die dort vorkommenden größeren Unioniden-Arten liefern zum Teil recht wertvolle Perlen, die sich bei den amerikanischen Formen durch verschiedenartige Färbung auszeichnen. Wie bei den marinen ist man auch bei den Süßwasserperlmuscheln bemüht, durch Schaffung geeigneter Lebensbedingungen für ihre weitere Ausbreitung zu sorgen und ihre Ertragsfähigkeit zu heben. Ob dies in den Kulturländern gelingen wird, muß bei den hier obwaltenden Verhältnissen einigermaßen zweifelhaft erscheinen. Perlen von Schnecken. Um die Perlengewinnung nicht ausschließlich von den freilich bei weitem wichtigsten Hauptlieferanten, den Zweischalern (Muscheln), zu schildern, sei noch ein allerdings nur in recht geringem Maße in Betracht kommender „Einschaler“, d. h. eine Schnecke (Bauchfüßer oder Gastropod) herangezogen, nämlich die Gattung Haliotis. Verschiedene Arten der (Gattung Haliotis, die an den europäischen, asiatischen, australischen und amerikanischen Küsten verbreitet sind, zeichnen sich vor einander durch besonders schöne Färbung ihrer inneren Schalenfläche aus und sind daher für die Perlenproduktion in verschiedener Weise geeignet; besonders be- kannt dafür sind die japanischen und kalifornischen Arten, von welchen letzteren die Haliotis splendens recht voluminöse Perlen von 2-5 cm Durchmesser hervorbringt. Die Haliotisperlen sind durch grün- oder blau- 11* 164 E. Korschelt. metallische Färbung ausgezeichnet, entsprechend der blaugrün irisierenden Perlmutterschicht der Schale. Diese letztere wird selbst als Schmuck- oder Gebrauchsgegenstand bearbeitet: bekannt sind die in verschiedener Weise verzierten oder mit Stativen versehenen Schmuckschalen u. del. Die Perlbildung bei Haliotis ist auch deshalb von Interesse, weil sie wie bei den Muscheln auf künstlichem Wege versucht wurde, und zwar von dem französischen Forscher Boutan auf die Weise, dal) er durch An- bohren der Schale eine Öffnung herstellte, durch welche er Kügelchen von Perlmuttersubstanz in den Mantel des Tieres einführte. ebenso wie er solche direkt in die Mantelhöhle brachte. Im Verlauf einiger Monate über- zogen sie sich mit einer irisierenden Perlmutterschicht, welche der na- türlichen glich, so dal) auf diese Weise wirkliche, wenn auch freilich zu- meist etwas unregelmäßig zeformte Perlen erzielt wurden. II. Verwendung und Verwertung der Perlen, Perlenindustrie. Schätzung und Wert. Nach Gewinnung der Perlen werden sie zunächst gereinigt, d.h. die vom Tier her noch an ihnen haftenden Unreinlichkeiten mit Salz- wasser abgewaschen, darauf getrocknet und sortiert. Beim Sortieren handelt es sich einmal um die Größe und sodann um die regelmäßige Ausbildung, sowie um Glanz und Farbe der Perlen. Die Sonderung nach der Größe geschieht durch übereinander gestellte, verschieden weite Siebe die in bestimmter Weise numeriert sind; in Üeylon tragen die 10 Siebe die Zahlen 20. 30, 50, 80, 100, 200, 400, 600, 800 und 1000. Das wei- teste Sieb (20) liegt oben, das engste (1000) unten; so bleiben die Perlen von den verschiedenen Größen zurück und durch das unterste fallen nur noch die sehr kleinen Saat- oder Samenperlen hindurch. Diese Methode wird jedenfalls seit den ältesten Zeiten angewandt und Herdman (1906) beschreibt sie nach Cordiner (Deseription of Geylon, London 1807) aus der ersten englischen Zeit Cevlons. Letzterer sah damals die Methode auf die Ausbentung von 17.000 Perlmuscheln angewendet, welche nur >/, Pfund wog und in einem Gefäß untergebracht war, kleiner als ein gewöhnlicher Suppenteller, darunter waren kaum 2 gute Perlen der 1. oder 2. Ordnung; die größeren Perlen, welche in ziemlicher Zahl (20-30) zurückblieben, waren von unreeelmäßiger Gestalt und somit weniger wertvoll. Die in den Sieben Nr. 20 80 enthaltenen Perlen werden, wenn regelmäßige geformt und von gutem Glanz, zur 1. Klasse gerechnet und mit dem Namen „Mell“ belegt, die von Nr. 100 1000 gehören zur 2. Klasse und heißen „Vadivu”. Die Perlen beider Klassen werden nach Form, Glanz und Färbung nach dem Gebrauch des Handels und dem Geschmack der zu den verschie- densten Nationen gehörigen Abnehmer wieder unter sich geschieden. In Ceylon nennt man die großen kugelrunden Perlen mit brillantem Lüster: |. Annis, 2. die Annadari sind von ungefähr derselben, aber doch etwas Perlen. 165 geringerer Qualität. Außerdem unterscheidet man noch 3. Kayerel, 4. Sama- diem, 5. Kallipu, das sind kleinere, noch schön gefärbte, aber vielleicht schon nieht mehr ganz runde, etwas abgeplattete oder birnförmige Perlen. Drei weitere Sorten: 6. Kurwel, 7. Pesul und 8. Tul, die kleinen Saat- perlen, schließen sich an. Mancherlei andere Bezeichnungen sind noch im Perlhandel gebräuchlich, worüber Herdman weitere Mitteilungen macht; hier konnte nur darauf hingedeutet werden, ebenso wie auf die Schätzung und den Wert der Perlen nicht näher eingegangen werden kann. Dieser richtet sich nach sehr verschiedenen Dingen und kann weder nach der Größe, noch dem Gewicht (Gran und Karat) allein bestimmt werden, denn nach dem vor- her Mitgeteilten ist es selbstverständlich, daß Perlen von geringerem Um- fang aber schönerem Glanz und Lüster weit wertvoller als größere sein können, denen diese geschätzten Eigenschaften in geringerem Male zu- kommen. Aber noch andere Dinge spielen im Handel bei der Schätzung der Perlen eine Rolle, so pflegen zwei in Größe, Färbung und Glanz ganz gleiche Perlen einen verhältnismäßig weit höheren Preis zu erzielen, als dies bei einer von ihnen der Fall wäre. Ähnlich verhält es sich mit einer größeren Anzahl in allen Eigenschaften gut zu einander passender Perlen, die sich zu einem Kollier oder einem anderen Schmuckstück in geeigneter Weise verarbeiten lassen. Ferner hängt der Preis zum Teil auch mit von der Mode ab, je nachdem etwa gewisse Färbungen oder auch Formen vor anderen bevorzugt werden. Daß edle Perlen von bedeutender Größe und herrlichem Glanz seit altersher mit enormen Preisen bewertet wurden und noch werden, bedarf kaum der besonderen Erwähnung. Einzelne Perlen von besonderer Schönheit wie die berühmte Perle der Cleopatra, welche nachher zum Schmuck der Venusstatue in dem neu erbauten Pantheon in Rom diente, oder andere aus dem Altertum oder Mittelalter bekannt ge- wordene Perlen, die sich zumeist im Besitz von Regierenden befanden oder auch zum Schmuck der Heiligenbilder verwendet wurden, erfreuten sich großer Berühmtheit und die einzelnen hervorragenden Stücke wurden auf Hunderttausende bewertet. Das Schicksal einzelner dieser berühmt ge- wordenen Perlen kann wie dasjenige wertvoller Edelsteine durch ziemlich lange Zeiträume verfolgt werden, worüber man (nebst Beschreibung und Schätzung bekannter Perlen) bei Möbius, Hessling, Kunz-Stevenson und anderen Autoren weiteres berichtet findet. Die für besonders große und schöne Stücke gezahlten hohen Preise beruhen auf Schätzungswert und sind durch gewisse Eigenschaften jener Perlen bedingt, welche sie in Um- fang, Form und Glanz vor anderen auszeichnen. Bei den großen edlen Perlen, wie“ sie sich im Handel finden, ergibt sich der Preis, wenn nicht Besonderheiten vorliegen, die sie noch wertvoller machen, aus einer alten Regel: Um ‘den Preis einer solchen großen Perle zu bestimmen, nimmt man denjenigen einer einkaratigen Perle von gleicher Beschaffenheit (Form, Farbe, Glanz ete.) gewissermaßen: als Einheit an, multipliziert ihn mit dem Quadrat des Gewichtes der großen Perle und das Produkt, noch mit der 166 E. Korsechelt. Zahl 8. Angenommen, die einkaratige Perle hätte den Wert von 3 Mk., so berechnete sich eine fünfkaratige von gleicher Beschaffenheit auf: 355.8=3.9.8=7.3=:600 Mk. oder eine zehnkaratige auf: 3:10.10:,8= 3.108 =300:3= 2400 Mk eine zwanzigkaratige auf: 3.20.20.8=3.400.8= 1200.8= 9600 Mk. Der Preis erhöht sich also mit Gewicht und entsprechender Größen- zunahme. sehr bedeutend, wozu dann freilich zumal bei größeren edlen Perlen noch die genannten Schätzungswerte, das paarweise oder in größerer Zahl Zueinanderpassen und anderes hinzukommen. Verarbeitung. Die eigentliche Verwertung der Perlen, d.h. ihre Verwendung zu Schmuckgegenständen, Zierraten usw. gehört nicht in den Rahmen dieses Fig. 38. EB m... EN Barockfigürchen aus dem Grünen Gewölbe in Dresden. Artikels. Dal schöne Perlen neben Fdelsteinen von jeher zu den wert- vollsten Schmueckstücken zählten und bei höchsten Festlichkeiten, wie Perlen. 167 in den Kronen und Diademen der Fürsten aller Länder und Zeiten, ebenso wie bei der Gottesverehrung alter und neuer Kulturvölker Ver- wendung fanden, ist eine altbekannte Tatsache. Schöne und wertvolle, dem profanen Gebrauch und der Heiligenverehrung gewidmete Schmuck- stücke findet man ebenfalls in dem schon mehrfach erwähnten, reich aus- gestatteten Buch von Kunz und Stevenson in größerer Anzahl beschrieben und abgebildet. Zumeist handelt es sich dabei um weiße, regelmäßig ge- formte Perlen von schönstem Glanz und großem Umfang, doch{hat man auch unregelmäßig geformte, zumal größere und irgendwie auffallend ge- staltete Perlen zur Verarbeitung bei Schmuckgegenständen verwertet. Wie dies auch jetzt noch geschieht, und man solche Schmuckstücke als Bro- a schen oder dgl. in Form von Tieren, Blüten oder ähnlichem hergestellt findet, so hatte man an derartigen, zuweilen recht hübschen und zier- lichen, häufig aber recht barocken Dingen eine besondere Freude in der Zeit des Rokoko zu Ausgang des 17. und Anfang bis Mitte des 18. Jahrhunderts. Diemannigfachen, von Dinglinger und anderen Künst- lern auf diesem Gebiet herrühren- den Barockfigürchen, wie sie sich in der reichen Sammlung des- Grünen Gewölbes in Dresden, im Wiener Kronschatz, in Paris im Louvre. im Londoner British Mu- seum, in Kopenhagen im Rosen- bergpalast und in der Schatzkammer des Mareusdomes in Venedig finden, zeigen die Verwertung dieser un- regelmäßig geformten Perlen und Barockfigürchen aus dem Grünen Gewölbe in Dresden. perlartiger Bildungen in verschie- denster Richtung. Menschen und Tierfiguren sind unter Benützung der „Perlen“ als Körper, Kopf und Giedmaßen, mittelst Verarbeitung durch Gold und emailliertem Gold hergestellt, häufig mit der Absicht einer humoristischen Wirkung, wie die in Fig. 38 und 39 abgebildeten, im (Grünen Gewölbe befindlichen drei Barockfigürchen zeigen. Bei allen dreien besteht vor allem der Körper aus einer perlartigen Bildung, bei dem Männchen mit der Traube auch die Gliedmaßen und der Körper des Hundes; die Traube ist ein Konglomerat verwachsener Perlen, wie man es häufig findet. Inwieweit es sich hierbei um wirkliche Perlen, Schalenperlen oder bloße Schalenwucherungen handelt, ist insofern schwer zu sagen, als größere Partien der Perlen durch Anbringen von in Metall 168 E. Korschelt. oehalt ndern oder del. verdeckt sind und die Vermutung nahe lieg diesen Stellen größere Defekte der „Perlen“ vorhanden waren. a rüher die Verbindung mit der Muschelschale stattfand. zu zeigen, welchen Umfang die „Barockperlen“ erlangen können, in natürlicher Größe die Abbildung einer Perle hinzugefügt | und B), welche Herr Prof. Klunzinger-Stuttgart am Roten Meer inem Eingeborenen erwarb. Das einen schönen Perlenglanz zeigende nm lange, 29 mm breite Stück ist im ganzen Umfang gut ausgebildet I nur an einer Stelle besteht der Verdacht einer hier vorhanden gewesenen verbindung mit der Schale, doch ist diese Stelle nur eine sehr beschränkte. Inwieweit es sich dabei um eine Schalenwucherung oder um eine sehr grobe, ınit der Schale erst wenig verbundene Schalenperle handelt, soll hier unerörtert Fig. 40 Brosche mit einer großen runden Barockperle und einer kleineren langgestreckten weißen Perle, von zwei Seiten abgebildet. bleiben. Die Perle ist zusammen mit einer länglichen, den früher er- wähnten Hundszahnperlen ähnlichen (Fig.21, S. 143) eigentümliche längsver- laufende, leistenartige Erhebungen und entsprechende Vertiefungen zeigenden Perle zu einer Brosche gefaßt, wie die beiden beigegebenen Abbildungen (Fig. 40, A und B) zeigen.!) Etwas genauer soll auf das interessante Stück bei anderer (Gelegenheit eingegangen werden. Hier seien zur weiteren Erläuterung der Barockperlen die Abbildun- ven zweier Perlen beigefügt, von denen die eine (Fig. 41, A und B) bei abgeplatteter, plankonvexer Form in der erößten Länge 223 mm, in der ', Für die freundliche Überlassung des merkwürdigen und auffallenden Schmuck- 1 'kes zur Beschreibung und Darstellung sei Herrn und Frau Prof. Klunzinger auch an lieser Stelle bestens gedan! Perlen. 169 erößten Breite 17 mm mißt und mit den aus den Figuren zu erkennen- aen Unregelmäßigkeiten (Erhebungen und Einsenkungen) behaftet war. Das zumal an der konvexen Seite schön weißen Perlenglanz zeigende Stück wog 281/, Karat und stand mit 450 Mk. zum Verkauf. Das andere in Fig. 42, A und B abgebildete Stück ist von sehr unregelmäßiger Gestalt, hauptsächlich in zwei Schenkeln entwickelt, aber auch im übrigen mit Er- hebungen, Vertiefungen und Einschnürungen versehen. Die schön gefärbte, über die ganze Fläche mit gleichem Glanz versehene Panamaperle hat einen Stich ins Bleigraue:; Länge der Schenkel von einer zur anderen Spitze 245 und 26 mm, größte Dicke 10 mn: ihr Gewicht betrug 14'/, Karat. Ihr Handelswert 150 Mk. Die Bearbeitung der Perlen, damit sie zum Gebrauch verwertet werden können. erfordert viel Geschick und Kunstfertiekeit. Da es sich Fig. 41. Fig. 42. Eine Barockperle in zwei verschiedenen Sehr unregelmäßig gestaltete Barockperle in Ansichten. der Ansicht von oben und unten. häufig um sehr wertvolle Objekte handelt, deren Schädigung bei der Be- arbeitung mit großen Verlusten verbunden sein kann, so werden beson- ders geübte Arbeiter dabei verwendet. Die runde Form der Perlen und die Art, wie sie häufig getragen werden. nämlich in Form von Ketten und Schnüren, bringt es mit sich, daß sie bei der Bearbeitung verletzt, vor allen Dingen angebohrt werden müssen. Dies geschah früher auf sehr mühsame und zeitraubende Weise mit der Hand und mit besonders da- für hergestellten Bohrern, bei welchem Verfahren höchstens 40—50 Stück täglich bewältigt werden konnten, während es jetzt möglich ist, mit einer dafür konstruierten Maschine sicherer und weit schneller zu arbeiten, so dal) 1500 Perlen am Tage gebohrt werden können. Es ist klar, daß die Öffnungen so klein wie möglich hergestellt werden, damit die Perle mög- lichst wenig an Gewicht und Ansehen verliert; zum Anbringen der Öffnungen werden nach Möglichkeit solche Stellen ausgesucht, an denen die Perlen Fehler zeigen, weshalb beide Öffnungen nicht immer einander gegenüber liegen, sondern ein geschickter Bohrer den Kanal so zu diri- 170 E. Korschelt. eieren versteht, dal) er an einer die Perle am wenigsten beeinträchtigen- den Stelle austritt. Die Bohrung größerer Perlen wird mit Vorliebe von beiden Seiten her vorgenommen, wobei sich das Zusammentreffen beider Kanäle ınit Sicherheit erreichen läßt. Besondere Vorsicht ist geboten, wenn der Bohrer ziemlich an den Mittelpunkt gelangt ist, weil erfahrungsgemäß ein festerer Kern das Brechen des Bohres oder Zerspringen der Perle veranlassen kann.!) Über die beim Bohren zu beobachtenden Vorsichts- nalrereln, wie über das dabei in früheren Zeiten und jetzt angewandte Verfahren sowie die dabei verwendeten Werkzeuge machen Kunz und Stevenson eingehendere Mitteilungen. Dort findet man auch Angaben über das Aufreihen und die weitere Behandlung der Perlen zur Verarbeitung für die verschiedenen Schmuckgegenstände, worauf hier nicht eingegangen werden kann. Ausbessern, Pflege, Haltbarkeit, Wiederherstellung erblindeter Perlen. Schädigungen, welche die Perlen bei der Bearbeitung oder sonstwie erfuhren, lassen sich bis zu einem gewissen Grade von geübter Hand wieder ausbessern. Übrigens legen in dieser Beziehung schon die mit der Perlgewinnung und dem Perlhandel beschäftigten Leute (Chinesen, Singhalesen, Indier u. a.) häufig ein großes Geschick an den Tag, nicht sanz vollkommene oder irgendwie beschädigte Perlen in ihrem eigenen Interesse und um den Wert der Stücke zu erhöhen, durch Anwendung seejeneter Mittel zu verbessern. Beim Öffnen der Perlmuschen kann es vorkommen, daß die Perlen verletzt werden oder sie zeigen andere Schädigungen, Rauhigkeiten, unschöne Erhebungen und Vertiefungen, olanzlose Stellen oder was es sonst sei. Mittelst sehr feiner Messer und Feilen sowie unter Anwendung eines durch Zerreiben von Perlen oder Perlmutter gewonnenen Pulvers, das auf Leder- oder Zeuglappen gebracht wird, läßt sich manches an den Perlen verbessern. Die Hauptsache ist jedoch das sogenannte Schälen der Perlen, welches in dem, mit jenen ein- fachen Werkzeugen ausgeführten Abheben der äußeren Schichten und Glätten bzw. Entfernen noch anhängender Reste besteht. Es wird mit Vorteil auch bei den schon getragenen Perlen angewendet, welche auf mechanischem Wege, durch Berühren mit Säuren oder dgl. irgend welche Schädigungen erlitten: die betreffenden Perlenarbeiter eignen sich darin eine große Fertigkeit an. Durch langes Liegen oder aus irgend welchen ') In diesem Falle wäre also zu vermuten, daß der Ausgangspunkt der betreffen- den Perle ein mineralischer Bestandteil gewesen sei, denn weder bei Parasiten, noch bei jenen oben geschilderten Körnchen als Ausgangspunkt liegt ein Grund für die größere Härte des Zentrums vor, wenn man nicht annehmen will, daß gegen die Mitte hin ganz besonders feste, ihr selbst zugehörige (etwa Prismen-) Schichten vorhan- den seien. Perlen. 378 anderen Ursachen glanzlos gewordene Perlen können durch geschicktes Entfernen der äußeren Schichten wieder neuen Glanz gewinnen, ohne daß ihr Umfang und Gewicht wesentlich vermindert wird. Dabei kommt es sehr darauf an, dal) die Prozedur in richtiger Weise vorgenommen wird: die betreffenden Bearbeiter scheinen darin, daß nicht zu viel entfernt und doch die rechte Schicht für die Herstellung der neuen Oberfläche ge- troffen wird, große Erfahrung zu haben. Insofern unter der Oberfläche ungeeignete, wenig oder gar nicht mit Glanz versehene Schichten liegen können. bedeutet dieses Verfahren ein gewisses Risiko, doch scheint dieses bei edlen Perlen nicht so groß zu sein, da ihre Außenschichten gewiß vorzugsweise aus Perlmutterlagen bestehen, organische oder Prismen- schiehten aber zurücktreten. Chinesische Perlenarbeiter sollen im Schälen der Perlen eine solche Geschicklichkeit erlangen, dab sie die abgelöste Schale in geeigneterweise gekittet und mit Wachs oder Schellack gefüllt, auf ein Stück Perlmutter befestigt, als echte Perlen verkaufen. Gelbliche oder zu dunkel gefärbte Perlen hat man dadurch, dal) man sie dem intensiven Sonnenlicht aussetzte, mit Erfolg bleichen können, wie man auch andere, freilich riskantere Bleichmittel, wie Chlor u. dgl., anwandte, die aber für das Erhaltenbleiben des Glanzes eine gewisse Gefahr bedeuten. Andrerseits hat man aus unschön gefärbten dadurch schwarze Perlen hergestellt, dal) man sie nach Anbohren mit einer Höllensteinlösung durch- tränkte. Auf diese und manche andere Weise hat man versucht, die Be- schaffenheit der Perlen zu beeinflussen, zumeist in dem Bestreben, ihnen einen höheren Wert zu verleihen. Dieses Bestreben mußte sich besonders auch auf solche Perlen erstrecken, die mit der Zeit aus irgend einem Grunde ihren Glanz verloren. Im Gegensatz zu den Edelsteinen bestehen die Perlen aus einem Material, welches sie weit vergänglicher erscheinen läßt als jene; die früher (S. 132) gegebene Darstellung von der Zusammensetzung der Perlen läßt dies ohne weiteres begreiflich erscheinen. Oft genug hört man von Perlenschmuck, welcher den schönen Glanz, den er früher zeigte, teilweise oder völlig einbüßte; es ist dann von „geblendeten“ oder „toten“ Perlen die Rede und mancherlei Märchen werden damit in Verbindung gebracht. Perlen, welche gewissen Schädlichkeiten ausgesetzt sind, werden sich natur- gemäß, zumal an ihrer Oberfläche verändern: die Einflüsse, welche dies be- wirkten, sind gewöhnlich schwer zu kontrollieren : Berührung mit den Ausschei- dungen der Haut beim Tragen ohne darauf folgende Reinigung, längere Aufbewahrung an zu feuchten, vielleicht aber auch an zu trockenen Loka- litäten, wobei in einem wie im anderen Falle unter Umständen gewisse Strukturveränderungen, besonders der äußeren Schichten, erfolgen können. Ist die Luft des Aufbewahrungsortes unrein, etwa infolge von .Kohlenverbren- nung mit schwefeliger Säure vermischt, so ist eine im Laufe der Zeit ein- tretende Veränderung der Perlen und der Verlust ihres Glanzes ohne weiteres verständlich. Wertvolle Perlen sollten unter Anwendung gewisser Vorsichtsmaßregeln, d.h. nicht in feuchten, aber auch nicht in solchen 172 E. Korschelt. Räumen aulbewahrt werden, die durch Sonnenbestrahlung oder auf künst- lichem \Wege zu stark ausgetrocknet werden; offen einer starken Belich- tunz ausgesetzt wird man sie ohnedies für gewöhnlich nicht aufheben, wenn nicht eine Bleichwirkung direkt erzielt werden soll. Am besten wer- den sie zwischen weiches Material gebettet aufbewahrt. Perlen sind natür- lich auf mechanischem Wege leicht zu schädigen, dürfen also nicht in \hrem Behälter geschüttelt werden. Auch beim Tragen kann dies durch anhaltende oder heftige Bewegungen geschehen, indem sie sich gegen- einander: reiben. Dal) sie beim Waschen und Baden abzulegen, überhaupt besser nicht (wegen der in die künstlichen Öffnungen und in sie selbst eindringenden Feuchtigkeit) in Wasser zu bringen, vor Berührung mit Bürste und Seife sowie mit anderen sie angreifenden Stoffen und Gegen- ständen zu bewahren, bei Sportleistungen, auf Touren, auf der Eisenbahn und im Automobil also besser nicht zu tragen sind, braucht kaum beson- ders bemerkt zu werden. Die Reinigung nach dem Tragen und vor der Aufbewahrung geschieht am besten durch zartes Abreiben mittelst eines weichen, in etwas Alkohol und warmes Wasser getauchten Tuches, nach- herigem Reiben mit Wasser allein und vorsichtigem Trockenreiben. Abge- sehen von den genannten schädlichen Einflüssen liegt es in der Struktur und chemischen Zusammensetzung der Perlen begründet, daß ihre Existenz- fähigkeit, nachdem sie dem Ursprungstier entnommen waren, eine zeit- lich beschränkte ist. Zwar kennt man Perlen, die unter besonders gün- stigen Bedingungen, als Kronjuwelen, an Heiligtümern und Buchdeckeln heiliger Bücher in Kirchenschätzen sorgfältigst aufbewahrt, die Jahrhunderte überdauerten, aber im allgemeinen bleiben sie nur über wenige mensch- liche Generationen, etwa durch 50-100, wohl auch 150 Jahre im guten Zustand erhalten. So wird eine im Jahre 1860 von der Kaiserin Eugenie erworbene Halskette, die offenbar sehr gut gehalten wurde, als absolut unverändert bezeichnet und auch von Perlenschmuck, der bereits von Maria Theresia getragen wurde und sich jetzt im Wiener Kronschatz be- findet, wird dies ähnlich wie von manchen Perlen des Petersburger und Pariser Kronschatzes angegeben. Im allgemeinen aber werden die edlen Perlen allmählich unscheinbar, indem sie ihren Glanz verlieren und wohl auch die Farbe verändern; sie scheinen mürbe und bröcklig zu werden; von der Oberfläche besonders an den Stellen, wo sie angebohrt waren, lösen sich kleine Teile ab, was die Unansehnlichkeit der Perle verstärkt. Deshalb werden sie schließlich nicht mehr geachtet und gehen mit der Zeit verloren; von Perlen, die wegen ihrer Schönheit berühmt waren, hört man am Ende nichts weiter. Wenn die mit enormen Preisen bewerteten Perlen des Altertums und Mittelalters, von denen die Schriftsteller be- richten, spurlos verschwanden, so dürfte die Ursache davon hauptsächlich mit in diesen Gründen liegen. (Gelegentlich hat man Perlen in Gräbern gefunden, die lange Jahre und Jahrhunderte nach der Bestattung der’ Toten geöffnet wurden. Der bekannteste und oft angeführte Fall ist derjenige.der Töchter des Stilichos, Perlen. 113 Maria und Thermantia, die nacheinander dem Kaiser Honorius als Braut verlobt, vor der Hochzeit (um 397 n.Chr.) starben und mit großer Pracht- entfaltung beigesetzt wurden. Bei den Arbeiten zur Fundamentierung der Peterskirche in Rom stieß man auf das Grabgewölbe und als es 1544 ge- öffnet wurde, fand man außer vielem Geschmeide an Gold und Edelsteinen 55 ziemlich große Perlen in der Form erhalten, aber so zersetzt, daß sie unter den Fingern in Staub zerfielen (Möbzus, S.63). Andrerseits wird aus Pompeji (zerstört im Jahre 79 n. Chr.) berichtet, daß an einer dort aus- gegrabenen Frauenleiche Ohrringe mit gut erhaltenen Perlen gefunden wurden (Bericht von 1820 nach Hessling, S. 320). Blind gewordene Perlen wieder herzustellen, ist begreiflicherweise schon immer das Bestreben von Laien und Sachkennern gewesen, aber selbst das vorher erwähnte Schälen der Perle muß erfolglos bleiben, wenn die Veränderungen bereits in tiefere Schichten eingedrungen oder über- haupt von innen her erfolet sind, wie es bei durchbohrten Perlen der Fall sein kann. Die für Perlenschmuck sehr eingenommenen orientalischen Völker (besonders Indier und Chinesen) versuchten die verschiedensten Mittel zur Erreichung dieses Zweckes: Reiben mit gekochtem Reis, mit Reispulver oder solchem aus geröstetem Korn, Einbacken in Brot, Reiben mit Salz, Magnesia-, Alabaster- oder Korallenpulver ete. Sollen doch, wie allen Ernstes angegeben wird, im Reismehl eingelegte Perlen an Umfang zunehmen und sogar Auswüchse hervorbringen können. Von den noch zu erwähnenden pflanzlichen Perlen wird behauptet, daß sie einen halben Tag lang in die Milch der Kokosnuß gelegt, die durch längeres Tragen ver- lorene Farbe und ihren Glanz von neuem erlangten. Ein bekanntes und immer wieder angegebenes Mittel ist, die Perlen von Tauben, Hühnern oder Enten verschlucken zu lassen und sie deren Kropf nach Ablauf einiger Stunden wieder zu entnehmen: daß die Perlen dadurch gewinnen und neuen Glanz erhalten könnten, ist jedoch recht unwahrscheinlich und verschiedentlich dahin angestellte Versuche zeigten. dab das (Gegenteil der Fall war, die Verdauungssäfte eher eine schädigende Wirkung auf die Oberfläche der Perle ausgeübt hatten. Daß auf diesem Wege eine nicht mehr glänzende äußere Lage weggenommen und eine bessere darunter liegende zum Vorschein kommen könnte, wäre schließlich möglich, ist aber an und für sich nicht besonders wahrscheinlich. Das Gleiche gilt für die Wiederherstellung erblindeter Perlen durch Tragen auf dem bloßen Hals, wie es häufig ganz im all- gemeinen oder von besonderen Personen angenommen wird. Die mystische Kraft der Perlensanierung, wie sie noch jüngst wieder einer Tänzerin zu- geschrieben wurde, welche am Petersburger Hofe erblindeten Perlen aus der Zeit der Kaiserin Katharina durch Tragen an ihrem Körper zu neuem Glanz verhalf, muß entweder in das Bereich der Fabel verwiesen oder durch andere Ursachen erklärt werden. deren Kenntnis jener Dame zur Verfügung stand. Im letzteren Falle wäre sie in der Lage, sich selbst noch mehr als den kranken Perlen zu nützen und durch Verwertung dieser Kenntnis zu Berühmtheit und Reichtum zu gelangen. 174 E. Korschelt. Verwendung zu Heilzwecken. Dal sich an so hoch geschätzte, von jeher mit enormen Preisen be- wertete und daher äußerst begehrte Objekte wie die Perlen allerlei mystische, unklare und abergläubische Vorstellungen heften mußten, lag nahe. Im Mittelalter, wie in früherer und späterer Zeit haben Perlen und aus ihnen herzestellte Schmuckgegenstände als Amulette und Talismane eine ähnliche kolle gespielt wie einzelne besonders kostbare Edelsteine. Einige sollten (Glück bringen und ihren Träger schützen, andere aber im Gegenteil ihn ins Unglück stürzen und sein Verderben herbeiführen. Näheres über diese märchenhaften und meist recht unkontrollierbaren Erzählungen findet man bei Kunz und Stevenson mitgeteilt, welche auch über die medizinische Schätzung und Verwertung der Perlen eine Zusammenstellung geben. Offenbar hat der große Wert der Objekte sie zum Heilmittel erhoben und ihre Schätzung auch nach dieser Richtung erhöht. So sind denn Perlen in pulverisiertem und aufgelöstem Zustand als heilbringende Pulver oder Mixturen im Lauf der vergangenen Jahrhunderte gegen verschiedene Krankheiten mit grö- herem, aber meist wohl geringerem Erfolg verwendet worden, wo die Suggestion nicht helfend eingreifen konnte. Die Heilwirkungen, welche den Perlmitten nachgesagt wurden, waren recht verschiedenartiger Natur, von bloßer appetitserregender und magenstärkender, öffnender, aber auch verstopfender Wirkung (bei Dysenterie), beruhigendem, anregendem und nervenstärkendem Einfluß bis zur Heilung der Epilepsie und anderer Erkrankungen des Nervensystems, des Herzens und der Lunge. Alles dies wird diesen Mitteln nachgerühmt, auch werden Fälle angeführt. in denen sie namhafte Persönlichkeiten von schweren Leiden befreit haben sollen; des Näheren darauf einzugehen, dürfte hier kaum angezeigt sein. 2. Die Perlmutter und ihre Verwertung. Unter Perlmutter lernten wir bei Besprechung des Baus der Schale deren innerste Schicht kennen (Fig. 5 und 7, 8.118): beim allge- meinen Gebrauch und zumal im Handel werden alle glänzenden Teile der Schale so bezeichnet und bei kompakteren Stücken, wie sie zur Verwer- tung gelangen, kommen zumeist größere Teile der Schale in Betracht, die Prismenschichten mit umfassen und in denen auch Periostracumlagen enthalten sein können. Lieferanten sind ungefähr dieselben Muscheln und Schnecken, welche eingangs als diejenige der Perlen genannt wurden (8.113). doch kommen außer den größeren See- und Süßwasserperlmuscheln vor allem auch die einzelnen Gastropoden, wie Turbo, Cassis, Haliotis, ebenso die Riesenschnecke Strombus (für die Kameenindustrie Italiens) und ferner der Nautilus mit in Betracht. j Entsprechend der Herkunft ist die Färbung der Perlmutter eine recht verschiedene und kann je nachdem alle Farbentöne von fast reinem Weib, ins Graue spielenden Silberglanz, gelber Tönung, rot, blau, grün usw. zeigen. Hierbei handelt es sieh natürlich um die inneren Teile der Schale, die mit Meibeln abgespaltet werden, nachdem die Schale selbst in Stücke Perlen. 175 zerlegt war oder bevor dies geschah. Perlmutter bzw. die sie enthaltenden Schalen bilden einen wichtigen Handelsartikel. für welchen London der Hauptstapelplatz ist. Die Herkunft bestimmt sich nach dem Vorkommen der schon vorher genannten Weichtiere und stimmt also im ganzen mit denjenigen Örtlichkeiten überein, an denen Perlfischerei betrieben wird (Persischer Golf, Rotes Meer, Indien, Ceylon, Südseeinseln, Australien, Panama usw., abgesehen von den Süßwasserperlmuscheln in Europa, Asien und Amerika), doch haben sich einige Orte, wie Macassar, Bombay, Sydney, Tahiti, Manilla, Panama u. a. in der Lieferung der Perlmutter hervorgetan, so dal) man diese mit ihren Namen belegt, worunter die von Macassar, Ma- nilla und Neuguinea, wie noch einige andere, besonders geschätzt werden. Es liegt in der Natur der Sache, daß sich die Perlmutterindustrie an diejenige der Perlen anschloß, schon um die erbeuteten Schalen und die darauf verwandte Zeit und Mühe nicht ungenützt zu lassen. Ein Beispiel dafür bietet die Perlmutterindustrie von Adorf in Sachsen, die aus recht bescheidenen Anfängen auf die Weise hervorging, dab der bekannte Perlen- fischer Moritz Schmerler (Ölsnitz i. S.). in dessen Familie dieses Amt seit Jahrhunderten erblich war, aus den Schalen der Flußperlmuschel (im Jahre 1850) kleine Schmuckgegenstände und Galanteriewaren anzufertigen be- gann. Daraus entstand dann allmählich die blühende Adorfer Industrie, welche zahlreiche Arbeiter beschäftigt und ihren Bedarf an Rohmaterial längst nicht mehr aus den einheimischen Muscheln decken kann, sondern dafür die schon früher genannten Muschel- und Schneckenschalen aus Ost- und Westindien, Australien etc. bezieht. Durch weiteres Zerschneiden, Feilen, Schleifen und Polieren werden die Perlmutterstücke in die richtige Form gebracht, um sie weiter ver- wenden zu können. Besonders kunstreich ist die Technik bei Herstellung der Kameen, für welche die Schalen großer Meeresschnecken (Cassis und Strombus) vor allem in Neapel, Florenz und Mailand verarbeitet werden. Die Verwendung von Perlmutter geschieht sonst in weitgehendem Mabe zur Fabrikation von Schmuck- und Gebrauchsgegenständen, alle mögliche eingelegte Arbeit. Messerscheiden, Stock- und Schirmgriffe etc. ete. Übrigens hat man sogar künstliche Perlmutter hergestellt. Dies geschieht durch Bestreichen eines Gelatineblattes mit der noch zu erwähnenden Perlen- essenz und Begieljen mit einer Gelatinelösung, worauf das Blatt getrocknet wird; dieses bringt man dann in eine Lösung von 1 Teil Alaun und 15 Teilen Wasser, bis es angeschwollen ist. worauf es mit verdünnter Potaschelösung abgespült und getrocknet wird. Letzteres Verfahren führt uns zu den künstlichen Perlen hinüber, denn auch diese hat man mit mehr oder weniger Glück nachgeahmt, wovon im folgenden Abschnitt die Rede sein wird. Insofern es sich dabei auch um die Herstellung künstlicher Perlmutter handelt, sei eines dieser Verfahren gleich hier erwähnt. Wird Colodium mit Schwefelkohlenstoff und Perlilüssig- keit gemischt, so entsteht eine perlmutterähnliche Substanz, die darauf hin führte, mit Zelluloselösungen weitere Versuche zu machen. Man erhielt 176 E. Korschelt. Zelluloidperimutter, die mehrfach Verwendung fand. Da Zelluloid aber wegen seiner Feuergefährlichkeit nieht in allen Fällen brauchbar ist, ersetzte man es durch Zellit. Die Herstellung der Kunstperlmutter aus diesem Grund- stott zeschieht folgendermaßen: Zu 100 Teilen Zellit, die in 8S0—90 Teilen Eisessig oder Chloroform gelöst sind, werden unter ständigem Umrühren 20) Teile gebrannte Magenesia und 4—8 Teile Perlessenz hinzugefügt. Daraus entsteht eine dickflüssige Masse, welche an der Luft rasch trocknet. Werden der Lösung einige Tropfen Schwefelkohlenstoff hinzugefügt, so wird ein Irisglanz erzielt. Auch in getrocknetem Zustand behält die Kunstperl- inuttermasse das Aussehen von polierten Perlmutterplatten und aus diesen können auf der Drehbank Perlen von beliebiger Größe und Form gedreht werden. Man vergleiche bierzu auch den Schluß des folgenden Abschnittes. 13. Künstliche Perlen. Ein als Schmuck so beliebtes und ungemein wertvolles Objekt wie die Perlen mußte den Menschen unwillkürlich zur Nachahmung reizen. Es scheint, daß diese schon vor mehr als einem ‚Jahrtausend wie manches andere von den Chinesen, und zwar auf ähnliche Weise vorgenommen wurde, wie unsere Industrie ungefähr noch jetzt dabei verfährt. Die Be- wohner der Insel Dahalak (im Roten Meer gegenüber Massauah an der Küste von Abessynien) verfertigten aus den Schneidezähnen der Seekuh (Halicore dugong) schöne, durch einen eigentümlichen Atlasglanz ausge- zeichnete Perlen (E. Rüppell, Reise in Abessynien, L, S. 253). Perlenähn- liche Gebilde schneidet man aus Korallen, Steinnuß oder Alabaster zu- recht und durchtränkt sie im letzteren Fall mit Wachs und Perlenessenz (als sogenannte römische Perlen). Recht einleuchtend ist der Vorschlag. künstliche Perlen in größeren Mengen aus Perlmutter, und zwar aus den bei der Perlmutterverarbeitung entstandenen Abfällen herzustellen, wozu (von R. Stübling) besondere Maschinen angegeben wurden. Je nach dem verwendeten Material werden sich solche Perlen durch schönen Glanz und oute Färbung auszeichnen ; sie lassen sich außerdem unter Anwendung von salpetersaurem Silberoxyd, übermangansaurem Kalı, Pikrinsäure und Karminbeizen blauschwarz, braun, gelb, rot und in anderen Tönen färben. Von den besonders in Thüringen, Böhmen, Wien und Paris aus ver- schiedenerlei Bestandteilen (Mineralien, Mineralmischungen, Emaille, Metall, Metallegierungen, Bernstein, Glas usw.) auf recht verschiedene Weise her- gestellten, als Perlen bezeichneten, ihnen oft recht unähnlichen Gebilden kann hier weiter nicht die Rede sein, nur diejenigen künstlichen Perlen seien noch erwähnt, welche den natürlichen in ihrem Aussehen am näch- sten kommen und bei sorgfältigster Herstellung zuweilen schwer von ihnen zu unterscheiden sind. Diese schon im Jahre 1656 von dem französischen kosenkranzfabrikanten ‚Jayuin erfundenen, damals für Katharina v. Medici fabrizierten und bis auf unsere Zeit in ähnlicher Weise angefertigten Perlen bestehen aus sehr zarten, dünnwandigen Glaskügelchen, zu deren Perlen. 177 Herstellung man opalisierendes, bläulich-weißes Glas verwendet und in die man in geeigneter Weise sogenannte Perlenessenz hineinbringt. Diese „Essenz d’Orient* ist eine silberglänzende, hauptsächlich aus mikroskopisch kleinen (Guanin -Kalk) Kristallen bestehende Masse, welche durch Zer- reiben der silberglänzenden Schuppen von Weißfischen (Cyprinus alburnus, Ukelei) mit Wasser und Nachbehandlung mit Ammoniak und 40—60°/,igem Alkohol erhalten wird. In letzterem hält sich die in gut verschlossenen Ge- fäßen aufbewahrte Substanz ziemlich lange. Vor der Verwendung wird sie einer geeigneten Gelatinelösung zugesetzt und diese mittelst einer Pipette in die Glaskügelchen gespritzt, deren Wand die silbrige Substanz auskleidet, worauf die Kügelchen rasch getrocknet und mit Wachs ausgefüllt werden, um ihnen Gewicht und Festigkeit zu geben. Auf diese Weise mit besonderer Sorgfalt hergestellte, häufig als „Wachsperlen“ bezeichnete Perlen können den natürlichen recht ähnlich und sogar schwer von ihnen unterscheidbar sein, wenn sie auch freilich mit diesen edlen, höchst kompliziert struktu- rierten Erzeugnissen eines sich durch lange Zeiträume erstreckenden Na- turvorganges in Wirklichkeit nicht vergleichen lassen. Diese alte und be- währte Methode wird bis heutigen Tags zur Herstellung künstlicher Perlen in großem Mafßistabe verwendet (0. Wäilhelmy), jedoch hat man sich dafür auch die durch den Fortschritt der Industrie und Technik dargebotenen Hilfsmittel nicht entgehen lassen, indem man Nitrocellulose zur Anwendung brachte. In einem Gemisch von Alkohol und Äther gelöst, ausgegossen und in sehr dünner Schicht zum Trocknen gebracht, nimmt diese Masse nach entsprechender Weiterbehandung einen schönen, weißen Perlenglanz an. Daraus werden dann wohl die Perlen so hergestellt, wie am Ende des vorigen Abschnittes angegeben wurde. Man hört, daß viele der neuerdings in großen Mengen in den Handel gebrachten künstlichen Perlen nach diesen neuen Methoden fabriziert wurden: ob dies richtig ist und inwieweit die älteren bewährten Verfahren dabei benutzt werden, entzieht sich unserer Kenntnis. 14. Pflanzliche Perlen. Die von den Perlen zu gebende Darstellung wäre nicht vollständig, würden wir nicht zuletzt noch jener perlenartigen Gebilde Erwähnung tun, wie sie in Pflanzen vorkommen und bei Erlangung eines größeren Umfanges direkt als Perlen bezeichnet werden. Die bekanntesten davon sind die Kokosperlen, die aus Kokosnüssen stammen sollen und von denen angegeben wird, sie glichen in Farbe und Glanz den echten Perlen, würden in Indien als Schmuck getragen und sogar noch höher als jene geschätzt. Freilich ist es merkwürdig schwierig, über diese pflanzlichen Perlen ge- naueres zu erfahren; sie müssen offenbar recht selten und den Botanikern nur wenig in die Hände gekommen sein. Van Breda de Haan berichtet in Teysmania, 1903, S. 150 über eine von Kirkwood und Gies in Üon- tributions from the New York Botanical Garden, Juni 1912, gemachte kurze Mitteilung, wonach man in Kokosnüssen ziemlich selten blauweiß ge- E. Abderhalden, Fortschritte. VII. 12 178 E. Korschelt. färbte „Steine“ findet. welche von den Chinesen als Vorbeugungsmittel geren Krankheiten hoch geschätzt würden. Sie bestehen aus Calciumcar- bonat ımd sind von einer harten, steinartigen Beschaffenheit. Nach Cart- haus beschäftigte sich @. E. Rumpf (genannt Rumphius 1627—1702), der „indische Plinius“, in seiner „Amboinschen Raritätenkammer“ mit den (zusammen mit den Steingebilden des Tierkörpers) als „Mestikas“ bezeich- neten pflanzlichen Perlen, die vor allem in Kokosnüssen, aber auch in Pi- sanestauden und anderen Pflanzen gefunden wurden. Diese Perlen be- schreibt‘er aus eigener Anschauung oder nach den Berichten solcher Per- sonen, die sie selbst in Kokosnüssen gefunden hatten, etwa so, wie es nach- folgend nach anderen Quellen geschieht. Nach der Angabe von Rumphius gelangte ein Ring mit einer Kokosperle in den Besitz des Groliherzogs von Toscana. Nach Dr. Morris’ Aussage seien die Kokosperlen sehr selten und einige davon wären unlängst nach England gebracht worden, wovon sich eine im Museum des Kew Garden (London) befände. Diese letztere Perle ist eiförmig und rein weiß, den von Perlmuscheln herrührenden Perlen in ihrer Beschaffenheit sehr ähnlich. Bei seinem Aufenthalt in Nord-Celebes (1886) fand Ziedel im Fruchtileisch der Kokosnuß eine birnförmige Perle von 28 mm Länge. Diesen kurzen Bemerkungen fügt die Redaktion der Teysmania hinzu, daß sie etwaige Mitteilungen über pflanzliche Perlen mit Vergnügen entgegennähme, falls über ihr Vorkommen auf Java mehr bekannt sei. Man sieht daraus, dal) die Kenntnis dieser merkwürdigen zebilde auch in den Gegenden, wo man genaueres darüber zu erfahren er- warten durfte, eine recht unvollständige zu sein scheint. Dazu stimmt die kurze Bemerkung von van Oijen (Bull. Kolon. Mus. Haarlem, S. 55, 1909), weicher die einzige von ihm gesehene, zu einer Damenbrosche gefaßte Perle als von blauweißer Farbe und der Größe eines Taubeneies beschreibt. Bei der Kärglichkeit der mir zugänglich gewordenen Nachrichten über wirkliche oder vermutliche pflanzliche Perlen erschien es nicht uner- wünscht, die vorstehenden an schwer erreichbaren Stellen niedergelegten Bemerkungen wiederzugeben. Wie schon erwännt, sollen die Kokosperlen in der Hauptsache aus kohlensaurem Kalk und außerdem aus organischer Substanz bestehen, also eine ganz ähnliche Zusammensetzung haben wie die echten (animalischen) Perlen. Harley allerdings, der eine solche, aus Singapur stammende Perle analysierte, ist etwas skeptisch, einmal deshalb, weil die chemische Zu- sammensetzung mit demjenigen des sonstigen Inhaltes der Kokusnuß nicht recht stimmt und die betreffende Perle in ihrer äußeren und inneren Be- schaffenheit einer solchen von Tridacna recht ähnlich, also möglicher- weise animalischer Herkunft war. Ablagerungen von Kalksalzen im Pflanzenkörper sind an und für sich nichts Ungewöhnliches und kommen in verschiedenen Geweben vor. Es kann sich dabei ebenso um kohlensauren Kalk, wie Kalziumoxalat und andere Kalksalze handeln: bei den regelmäßiger geformten, hier nicht in Perlen. 179 Betracht kommenden Gebilden allerdings spielt der oxalsaure ‚Kalk eine be- sondere Rolle. Die von @. Kohl und Anderen aus verschiedenen Pflanzen und Pflanzenteilen beschriebenen Sphärite erinnern infolge ihrer regelmäßigen sphärischen Form und ihres konzentrisch geschichteten und radiären Baues durchaus an die Struktur animalischer Perlen, nur erlangen diese Ge- bilde keinen bedeutenden Umfang, sondern bleiben zumeist von mikrosko- pischer Kleinheit. Letzteres braucht dagegen nicht der Fall zu sein bei den Kieselab- lagerungen, welche sich so häufig im Pflanzenkörper finden und ebenfalls recht unregelmäßige Formen erlangen können. Zwar sind sie häufig nur von mikroskopischer Größe und liegen wie jene innerhalb der Zellen, aber diese runden, ovalen, länglichen, mit glatter oder höckeriger Oberfläche versehenen Gebilde können auch größere werden und unter Umständen recht umfangreiche Massen bilden. Solche Kieselkörper kommen mit Vorliebe in den Stegmata oder Deckzellen vor, welche Begleitzellen von Gefäßbändchen sind und verhältnismäßig große, aus amorpher Kiesel- säure bestehende Körper enthalten. Solche Kieselkörper finden sich in der festen Schale der Kokosnul), wie auch sonst im Gewebe der Kokospalme und bei manchen anderen Pflanzen (Palmen, Piassaven, Manilahanf, Bam- bus, Farnen etc. nach @. Kohl). Besonders bekannt sind die als Tabaschir bezeichneten Kieselkörper, welche ebenfalls aus amorpher Kieselsäure be- stehen und als kugelige, halbxugel- oder plattenförmige Gebilde von kon- zentrisch geschichtetem Bau im Bambusrohr auftreten. Diese Kieselkörper werden recht umfangreich und besitzen eine große Härte und Widerstands- fähigkeit, so dal sie nach Absterben und Verfaulen des Bambusrohrs, zumal nach KRegengeüssen oft in Menge am Boden gefunden werden (F. Cohn). Diese zuletzt besprochenen Gebilde führen zumal wegen ihrer dif- ferenten chemischen Zusammensetzung wohl schon etwas weit von den Perlen ab: insofern es sich aber auch bei ihnen um regelmäßig geformte und struktuierte, größtenteils aus anorganischer Substanz bestehende Körper handelt, sollten sie hier doch nicht unerwähnt bleiben. 15. Den Perlen vergleichbare Bildungen des tierischen Körpers. Schlußbetrachtungen. Wie sich im Gewebe des pflanzlichen Körpers verschiedenartige Bil- dungen finden, welche mit Perlen eine gewisse Ähnlichkeit zeigen, unter sich aber wieder recht verschieden sind, so gilt ähnliches für den tieri- schen Körper. Es wird sich dabei in der Hauptsache um feste Gebilde von mehr oder weniger regelmäßiger Struktur handeln, die vor allem durch Ablagerungen von Kalksalzen zustande kommen. Die letzteren spielen als normale und pathologische Bildungen bekanntermaßen im tierischen Organismus eine große Rolle. Die Schale der Weichtiere lernten wir als ein sehr regelmäßig aus kohlensaurem Kalk und organischer Substanz 12% 180 E. Korschelt. aufgebautes Gerüstwerk bereits kennen; ähnliche den Körper stützende und schützende Bildungen finden sich, abgesehen von den Kalkschalen der Protozoen (Foraminiferen) bei den Schwämmen, Cölenteraten, Würmern, Krebsen,. Bryozoen und Stachelhäutern, wie sich das Knochengerüst der Wirbeltiere ebenfalls in sehr regelmäßiger Weise aus organischer Substanz und Kalksalzen (in der Hauptsache phosphorsaurem Kalk) aufbaut. Wenn auch derartige Bildungen natürlich nicht direkt mit den Perlen verglichen werden sollen, so ist doch immerhin der Gestaltungsvorgang bei ihnen in- sofern nicht ganz unähnlich, als organische Substanz und in oder an sie angelagerte Kalksalze jenes (Gerüstwerk zusammensetzen. Derartige normale Bildungen gewinnen dann eine größere Ähnlich- keit mit den von uns als Perlen bezeichneten Gebilden, wenn sie auch in der Form mit ihnen überein- stimmen, d.h. Kugelgestalt an- R nehmen, wie es bei den Oto- N lithen und Statolithen der Gehör- oder Equiliberorgane der N Medusen, Würmer, Krebse, Mol- lusken und Vertebraten der Fall zu sein pflegt. Diese Statolithen bestehen hauptsächlich aus koh- lensaurem Kalk und können sich Fig. 43. \ ® auch aus konzentrischen Schich- “ ten, nieht unähnlich der Perlen- Feosor , Rn Y struktur zusammensetzen. Wenn 030% 74 dazu noch eine radiäre Struktur . . 27 hinzukommt, wie es nach der I von Olaus gegebenen Darstellung Siatoeyake von Pie rokrachen Friederkel ausgekleidet bei dem Heteropoden (Kielfüßler) von „Zionen haartragenden Wimpern ul Pterotrachea der Fall ist (Fig43), Zelanz; 39 day Mala Ey Br RER so wird die Ähnlichkeit mit dem Bau der nur aus Prismenschich- ten bestehenden Perlen (Fig. 18 C) eine so große, dab man einen solchen Sta- tolithen ohne Kenntnis seiner Herkunft für eine Junge Perle halten könnte (Fig. 43). Entsprechend dem geringen Umfang, welchen die Statocysten bei den meisten der genannten Tierformen aufweisen, bleiben auch die Statolithen ziemlich klein; bei den Knochenfischen jedoch können sie eine recht beträchtliche Größe (bis 23 mm Länge und 11 nm Breite und 4 mm Dicke), z. B. beim Kabeljau (Gadus morrhua), sowie eine porzellanartige Beschaffenheit erlangen, wodurch sich die Ähnlichkeit mit den Perlen mancher Muscheln (Fig. 18 u. 19) noch erhöht. Allerdings weichen die Fischotolithen häufig sehr bedeutend von der Kugelform ab, wie die oben von Gadus gegebenen Malie erkennen lassen, indem sie bei starker Ab- plattung eine ovale oder gestreckte Gestalt annehmen können. Die Struktur jedoch zeigt eine weitgehende Übereinstimmung mit derjenigen der Perlen Perlen. 181 (Fig. 44, A—C). Wie bei diesen tritt unter Umständen der radiäre Bau, in anderen Fällen die konzentrische Schichtung mehr hervor: am besten ist dies aus den hier mitgeteilten Abbildungen einiger Fischotolithen zu er- sehen. !) In ihrer Bildung den Perlen ohne weiteres vergleichbar, weil von einem sonst die chitinöse Cuticula liefernden Epithel ausgeschieden, sind Fig. 44. Fischotolithen. A vom Aal (Anguilla vulgaris), Vergr. 125mal, B vom Stichling (Gaste- rosteus aculeatus), Vergr. 150mal, © vom Flunder (Pleuronectes flewus), Vergr. 60mal. die sogenannten Krebsaugen oder Krebssteine (Lapides cancrorum), welche in der Magenwand des zehnfüßigen Krebses gefunden und daher auch als Gastrolithen bezeichnet werden. Sie liegen in einer taschen- artigen Aussackung der Magenwand, in welcher sie abgeschieden wurden, bestehen nach Huxley (Der Krebs, 1881) zum bei weitem gerößeren Teil aus zirka 82°/, Kalksalzen (zirka 63°/, kohlensaurem und zirka 19°/, phos- !) Für die freundliche Überlassung des bereits präparierten Materials bin ich dem Direktor des Zoolog. Museums in Berlin, Herrn Prof. Dr. A. Brauer, sowie Herrn Dr. Pappenheim zu besonderem Dank verpflichtet. 182 E. Korschelt. phorsaurem Kalk) und setzen sich aus ungefähr konzentrisch gelagerten und radial gestreiften Schiehten zusammen (Fig. 45). Die Gestalt dieser häufig. zumal vor der Häutung bei unserem Flußkrebs zu findenden, recht nsehnlichen Körper ist eine ungefähr halbkugelförmige: die abgeplattete Seite hat eine umfangreiche kreisförmige Vertiefung. Die Oberfläche ist olatt und den stumpfen, glanzlosen Perlen mancher Muscheln sind sie nicht unähnlich, so daß in der Bildungsweise, Struktur und sonstigen Beschaffen- heit tatsächlich eine gewisse Übereinstimmung mit den Perlen mancher Weichtiere besteht Fig. 45. (Fig. 45). Die charakteri- stische konzentrische Schiehtung und ra- diale Streifung ' der Perlen ist eine bei Konkrementen im Tierkörper sonst noch, und zwar auch dann zubeobachtende Erscheinung, wenn sich diese Konkre- tionen aus ganz an- deren Substanzen aufbauen. Dies gilt z.B. für. die, wohl zumeist und größten- teils aus Harnsäure (anscheinend seltener aus Guanin) beste- henden, in den Nieren- Gastrolith (sog. ee ee erg eines Decapoden, zellen gebildeten, an Größe recht verschie- denen Harnkügelchen der Schneckenniere (Fig. 46). Sie lassen ebenfalls, nicht unähnlich den bei den Perlen obwaltenden Verhältnissen, je nach- dem ein Überwiegen der konzentrischen Schichtung oder der radiären Streifung erkennen, wobei die Übereinstimmung mit jungen Perlen wirklich eine sehr große ist (Fig. 46, A—D). Wie diese zeigen sie häufig von zwei oder mehreren Kernen ausgehende Doppel- und Mehrfachbildungen (Fig. 46, D). Als nicht in den Kreis normalen Geschehens gehörige, wenn auch nicht immer als eigentlich pathologisch zu bezeichnende Vorgänge treten Ablagerungen von Kalksalzen und anderer zur Bildung fester Körper führender Substanzen nicht selten im tierischen Organismus auf. Zuweilen handelt es sich dabei um eine Isolierung in den Körper eingedrungener lebender oder lebloser Dinge oder auch abgestorbener Teile des Organismus Perlen. 183 selbst, die ihm sonst schädlich werden könnten. Die Verkalkung nekroti- scher Gewebsteile ist eine bekannte Erscheinung, ebenso diejenige von parasitischen, im Wirtskörper weiter lebenden oder in ihm abgestorbenen pflanzlichen oder tierischen Organismen; so lagern sich in die Bindege- webshülle der in den Säugetiermuskeln encystierten Trichine feinste Kalk- körnchen ab: es tritt also eine Verkalkung der Kapsel und schließlich auch eine solche des ganzen Kapselinhaltes, also der Parasiten selbst ein, welcher dadurch getötet wird, wenn er nicht schon im Laufe der Zeit abge- storben war. Diese Isolierung von Fremdkörpern innerhalb des Organismus erinnert recht sehr an den Vorgang der Perlenbildung bei den Mollusken. Derartige Bildungen pflegen eine unregelmäbige Struktur zu zeigen, doch können solche pathologische Gebilde auch einen den Perlen nicht un- ähnlichen Bau annehmen. In dieser mat Beziehung ist es vielleicht nicht ohne Interesse, das sehr merkwürdige Ver- halten eines Krebses (Branchipus Fig. 47. ® Abnorme Chitinbildung aus dem Körperinnern Verschieden strukturierte Harnkügelchen aus der von Branchipus Grubei, von Wanderzellen um- Schneckenniere (Helix pomatia). Vergr. 600mal. lagert, nach F. Alverdes. Grubei) kennen zu lernen. Bei ihm treten gelegentlich in verschiedenen Gegenden des Körpers, z. B. am Grunde der Augen oder in anderen Regionen des Kopfes und übrigen Körpers, mikroskopisch kleine, später etwas größer werdende Gebilde auf, welche zunächst den Eindruck junger Perlen machen, zumal sie von einer Art „Perlsack“ umgeben sind (Fig. 47). Die Entstehung dieser eigenartigen (nicht aus Kalksalzen,. sondern aus chitin- artiger Substanz bestehenden) Gebilde ist freilich eine ganz andere als diejenigen der Perlen. Sie nehmen ihren Ursprung in den großen Iym- phoiden Zellen (Fettzellen von Claus) und können sich infolgedessen überall da im Körper finden, wo diese vorhanden sind. In einer Vakuole dieser Zellen wird chitinähnliche Substanz abgelagert, die eine konzentrische 184 ı E. Korschelt. Schiehtung annimmt: die Zelle selbst degeneriert, während sich Wander- zellen des Körpers (Leukocyten) herandrängen und sie in regelmäßiger Schicht umlagern. Die konzentrisch geschiehtete Chitinkugel ist nun nach völligem Schwinden der Bildungszelle von einem epithelialen Mantel wie von einem Perlsack umgeben (Fig. 47). Die meines Wissens noch nicht beschriebenen Gebilde werden durch F. Alverdes (im Zool. Anzeiger, Bd. 40) eine eingehendere Behandlung erfahren. Die vorher erwähnte Ablagerung der Kalksalze in Form von Im- prägnation vorhandener Teile oder wie sie sonst erfolgt, kann eine recht umfangreiche werden und zur Bildung ver- hältnismäßig mas- siger Körper von kon- zentrischer Schich- tung führen (Fig. 48). Diese Bildungen kön- nen somit eine ziem- lich regelmäßige Form und Struktur annehmen, wie es in noch höherem Maße bei denjenigen Kon- kretionen der Fall ist, welche sich als soge- nannte Darm-, Gallen- und Nie- rensteine in den entsprechenden Or- oanen finden. Ihre Bildungsweise und Zusammensetzung ist A und B radial gebaute Cholesterinsteine aus entzündeten Gallenblasen freilich eine andere Cholesterinkern und Figmentkalkmantel (nach .Aschof und Bachmeister, UNd ihrem Ursprung entsprechend recht differente. Die Harnsteine des Nierenbeckens und der Harnblase besitzen bei recht verschiedener Form und Größe eine wechselnde chemische Zusammen- setzung aus Harnsäure, harmsauren Salzen, aber auch Phosphaten und Karbonaten, wie auch aus noch anderen Substanzen. „Kalksteine*“ treten ferner in den Speicheldrüsen, in den Bronchien, im Pankreas und in manchen anderen Organen auf. Sehr bekannt sind die bei Huftieren, beson- ders bei Pferden vorkommenden Darm- oder Kothsteine, welche durch schichtenweise Ablagerung von Koth- und anderen Bestandteilen um zu- fällig verschluckte Fremdkörper entstehen, infolge Durchdringung von Kalksalzen eine recht bedeutende Härte erlangen, sehr groß und (bis zu mehreren Kilogramm) schwer werden, dabei häufig auf Schliffen einen re- Fig. 48. N 4 Wi} 5 ei « anmert gt ir %G dr, E: = UN Perlen. 185 gelmäßigen Bau zeigen. Das letztere gilt auch für die zum Teil ebenfalls aus Kalksalzen, hauptsächlich aus Cholesterin und Gallenfarbstoffen beste- henden in der Gallenblase, selten in den Gallengängen der Leber auftre- tenden Gallensteine, die von ganz geringer Größe (sogenannter Gallen- gries) bis zum Umfang einer Walnuß und darüber heranwachsen, ja so- gar die Größe eines Hühnereies erreichen können. Vom Bau und der Entstehungsweise dieser oft zierlich strukturierten, wie die Perlen eine radiäre Streifung und konzentrische Schichtung aufweisenden Körper gaben neuerdings Aschoff und Bachmeister eine von ausgezeichneten Abbildungen begleitete erschöpfende Darstellung. Um die oft recht weitgehende struk- turelle Übereinstimmung mit den Perlen zu zeigen, sei auf die Abbildungen Fig. 48, A—D verwiesen. Die Cholesterinsteine (Fig. 48, A, B) zeigen im allgemeinen einen radiären Bau und wachsen durch Anfügen neuer Schichten in derselben Weise weiter (Fig. 48, A, 3). Durch reichliche Kalkeinlage- rung kommt aber eine andere Struktur zustande, die sich in schichten- weiser Ablagerung ohne radiären Bau äußert. Unter Umständen besteht der ganze Stein aus solchen pigmentierten Kalkschichten (Fig. 48, ©) oder er setzt sich als sogenannter Kombinationsstein aus dem radiär gestreiften Cholesterinkern und einem Mantel von Pigmentkalkschichten zusammen (Fig. 48, D). Die zuletzt besprochenen, in verschiedenen Organen der Säugetiere und gewiß auch bei manchen anderen Tieren auftretenden (häufige mehr nach ihrer Struktur als nach ihrer Entstehung) mit den Perlen vergleichbaren pathologischen Bildungen hat man ebenso wie die Krebssteine und Statolithen wiederholt und besonders erstere schon seit langem mit den Perlen verglichen. indem man auch diese als pathologischer Natur ansah. Der Vergleich würde dann um so näher liegen, wenn Perlen bei den Weichtieren auch in an- deren Organen gebildet würden, wie dies angegeben wird (Möbius, Hess- ling, Boutan). Dann könnte die Entstehungsweise eine ähnliche sein, wie bei den Gallen- oder Nierensteinen der höheren Tiere, wenn dies auch für echte, den Mantelperlen entsprechende Perlen nicht gerade als wahrschein- lich angesehen werden kann. Beschrieben wurden Perlen jedenfalls aus dem Herzen, Herzbeutel, aus der Leber, dem Bojanisschen Organ (Nieren- wand) und den Geschlechtsdrüsen. Ob sie dorthin verschleppt wurden oder an Ort und Stelle entstehen konnten, dürfte schwer zu entschei- den sein. 2 Durch die am Schlusse dieser Ausführungen angestellten Vergleiche tritt die pathologische Natur der Perlen noch mehr hervor. Daß ihre Ent- stehung unter Umständen durch Ursachen hervorgerufen wird, welche nicht in die für gewöhnlich im Organismus sich abspielenden Vorgänge gehören, also abnormer Natur sind, kann nicht in Abrede gestellt werden. wenn auch die dadurch ausgelösten Bildungsprozesse sich als völlig normale er- weisen, da sie bei der Abscheidung der Muschelschale in ungefähr derselben 186 E. Korschelt. Weise verlaufen. Die Ursachen, welche zur Erzengung der Perlen führen, haben begreitlicherweise von jeher sehr interessiert, aber leider kann man nicht sagen, daß in dieser Beziehung unter den maligebenden Beurteilern eine Übereinstimmung bestände, wie aus der vorher (im 4. und 5. Ab- schnitt) gegebenen Darstellung hervorgeht. Obwohl die Perlen seit Jahr- tausenden bekannt und aufs höchste geschätzt sind, obwohl man sich seit den ältesten Zeiten bemüht hat, ihrem Ursprung nachzugehen, und zwar hauptsächlich aus dem Grunde, um ihre Produktion zu befördern, wurden darin käum irgendwie erhebliche Fortschritte erzielt. Dafür, dal) letzteres nicht recht gelang, lag der Grund zum Teil eben darin, daß man die Ursachen der Perlenbildung nicht genügend kannte oder wo ınan ihn richtig vermutete, die Bedingungen nicht herbeizuführen vermochte, unter welchen jene Ursachen wirken konnten. Das galt z. B. für die Infektion der Muscheln mit jenen Parasiten, denen man eine Einflußnahme auf die Perlproduktion oder deren tatsächliche Bewirkung zuschrieb. Vielleicht besteht die Hoffnung. dal) man jetzt, da auch Stoffwechselprodukte des Muschelkörpers als Ursache der Perlenbildung erkannt und die Lebensbedingungen der Muscheln selbst genauer studiert wurden, die Perlenproduktion erfolgreicher zu beeinflussen lernt. Daß diese Hoffnungen sehr groß wären, läßt sich freilich zunächst noch nicht sagen und am Ende erscheint es vielleicht nicht einmal wünschens- wert, eine Massenproduktion dieser von alters her hoch geschätzten edlen Schmuckstücke herbeizuführen und sie dadurch zu entwerten. Nachtrag. Während der Korrektur dieser Arbeit erhielt ich Kenntnis von einer soeben erschienenen wichtigen und inhaltsreichen Abhandlung von FT. L. Jameson iiber die ceylonesischen Perlmuscheln und die Entstehung der Perlen in ihnen (London 1912). Auf die Ergebnisse dieser neuen Publikation kann bedauerlicherweise nur noch kurz eingegangen werden, doch erscheint dies insofern notwendig, als die Auffassung von der Entstehung der Perlen bei den marinen Perlmuschen gegenüber der zuletzt herrschen- den Auffassung doch eine wesentliche Modifikation erfahren hat. Dies geht übrigens auch aus eimem kleinen mir ebenfalls nach Abschluß des vor- liegenden Aufsatzes durch die Freundlichkeit des Herrn Verfassers zugegan- genen Artikel von #. Dubois (Paris 1912) hervor, in welchem vom Verfasser, durch A. Rubbels Untersuchungen veranlaßt, sehr entschieden auf seine eigenen Beobachtungen der nichtparasitären Entstehung von Perlen und überhaupt auf die Möglichkeit einer solchen verwiesen wird. Auf die Para- sitentheorie wird begreiflicherweise auch in Jamesons Abhandlung besonderes (rewicht gelegt, da er von früher her dabei interessiert ist (vgl. oben S. 128). Wie wir bereits hörten, sollten es nach den Beobachtungen von Herdman, Hornell, Seurat, Southmwell u.a. Bandwurmlarven sein, welche bei den Meeresperlmuscheln zur Entstehung der Perlen Veranlassung &eben. Die Fraee. um welche Formen es sich dabei handelt, wird von Jameson sehr Perlen. 187 eingehend diskutiert und dahin beantwortet, daß die Parasiten nicht, wie Herdman will, zu Tetrarhynchus unionifactor, sondern Seurats Auf- fassung entsprechend, zur Gattung Tylocephalum gehören; von Jameson werden sie vorläufig als Tylocephalum Judificans und T. minus be- zeichnet, denn er nimmt in Übereinstimmung mit Herdınan an, dab es sich um zwei unterscheidbare Arten handelt. Sehr wichtig wäre nun die Beantwortung der im vorstehenden Artikel ebenfalls besprochenen Frage, welche Beziehungen die genannten Cestoden zur Perlenbildung haben und ob sie diese hervorrufen. In letzter Hinsicht ist Jameson nunmehr äußerst skeptisch und spricht es direkt aus, daß die Cestoden als Ursache oder auch nur als eine Ursache der Perlenbildung (in der Weise wie die Trematoden bei Mytilus) keinesfalls mit Sicherheit anzusehen seien: ihr gelegentliches Vorkommen in den Perlenkernen müsse sogar noch erwiesen werden und die ganze Theorie sei überhaupt unge- nügend gestützt. Jameson selbst konnte bei seinen Untersuchungen jeden- falls keine Cestodenreste in Perlen auffinden: er kritisiert nach dieser tichtung die Angaben der früheren Autoren und kann nicht einmal zu- geben, daß) von ihnen Cestodenparasiten in einem Epithelsack (dem späteren Perlsack) gefunden worden seien: vielmehr sei die Annahme eines solchen Gebildes nur theoretischer Natur. Unter Umständen seien die Parasiten zwar in großer Menge vorhanden gewesen, aber dennoch seien keine Perlen in den betreffenden Muscheln gebildet worden: so müßten also die Infek- tion mit Cestodenparasiten und die Perlenproduktion als zwei verschiedene Dinge angesehen werden, wie auch schon A. Willey ausgesprochen hat. Sind es nun nicht die Parasiten, welche in den Meeresperlmuscheln die Perlen hervorrufen, so drängt sich von neuem die Frage auf, welche anderen Ursachen dafür verantwortlich zu machen wären. Als solche treten wieder Fremdkörper wie Sandkörnchen u. del. auf, z. B. Partikel organischer Substanz verschiedenartigen Ursprungs, wie auch solche, die von schalen- bildenden Stoffen herrühren und dann auftreten, wenn die regelmäßige Abscheidung der Schale aus irgendwelchen Gründen gestört wurde. Die von Herdman als Ursache für die Bildung der Muskelperlen angegebenen Kalkkörnchen sieht Jameson nicht als „freie Konkretionen“”, sondern als „kleine Perlen“ an, welche aus Hypostracum-Substanz, d.h. also aus Teil- chen der früher erwähnten hellen oder durchsichtigen Schalenschicht be- stehen. Überhaupt ist Jameson bis zu einem gewissen Grade geneigt, den bei der Schalenbildung nicht zur Verwendung kommenden, aber ursprüng- lich dafür bestimmten Substanzen für die Perlenbildung eine bedeutungs- volle Rolle zuzuschreiben. Damit nähert er sich dem für die Perlenbildung der Süßwassermuscheln von Aubbel und Hein eingenommenen Standpunkt. Ich darf bemerken, dal mir dies besonders sympathisch ist, denn wie im vorhergehenden (S.151) und schon vorher in einem Artikel der „Umschau“ (Nr. 28, S. 584, Juli 1912) von mir etwas näher ausgeführt wurde, spricht die Wahrscheinlichkeit dafür, daß der für die Süßwassermuscheln festgestellte Bildungsmodus auch bei den marinen Perlmuscheln eine Rolle spielen dürfte: 188 E. Korschelt. Seit sich Jie Herren Prof. Meisenheimer, Dr. Harms, Dr. Wasserloos und Dr. 74%. ım hiesigen Zool. Institut mit der Entwicklung von Margaritana und ihrer Verienbildung beschäftigten, hat die Frage nach der Entstehung der Perlen allerdings eine gewisse Wandlung erfahren. Beim Beginn jener Unter- suchungen vor nunmehr länger als 8 Jahren mußte man nach dem da- malizen Stand der Kenntnisse die Hervorrufung der Perlen durch Parasiten für das Wahrscheinliche halten und es wurde von uns bei den Süßwasser- muscheln mit Eifer danach gesucht, aber vergeblich. Wir waren also zweifellos’nach der Richtung der Parasitentheorie stark voreingenommen, kamen dann aber zu der gegenteiligen Anschauung, wie sie in Aubbels Arbeiten und meiner kurzen Mitteilung (1911) niedergelegt ist. Hier ist noch nachzutragen, dab Jameson für Mytilus edulis den Standpunkt beibehält, welchen er in seiner früheren Publikation vertreten hatte; er spricht sich auch jetzt wieder dahin aus, daß für die Miesmuschel die Hervorrufung der Perlen durch (Trematoden-) Parasiten außer Frage sei. Überhaupt findet er schließlich doch noch, daß die Parasitentheorie auch für die marinen Perlmuscheln recht viel für sich habe (S. 329). Ge- rade aus der letzteren Bemerkung geht hervor, was übrigens von Jameson selbst betont wird, daß nämlich die Entstehung der Perlen noch immer nicht genügend geklärt und ein entschiedenes Bedürfnis vorhanden ist, für die verschiedenen perlenerzeugenden Muscheln, ganz abgesehen von den Schnecken, eine größere Übereinstimmung in der Auffassung des Bildungs- modus zu erzielen. Wie gesagt sollte hier nur auf diejenigen Punkte der Jamesonschen Arbeit eingegangen werden, welche für unsere Ausführungen vor allem in Betracht kommen: erwähnt sei nur noch, dab Jameson außer einer kriti- schen, ausführlichen Literaturbehandlung eine Darstellung von der Schalen- struktur und Schalenbildung bei den Perlmuscheln gibt, sowie von einer größeren Zahl verschiedenartieer Perlen deren Struktur beschreibt und ihre vermutliche Entstehung erörtert. 16. Literatur. Aschoff L. und: Bachmeister A., Die Cholelithiasis. Jena 1909. Biedermann W., Untersuchungen über Bau und Entstehung der Molluskenschalen. Jen. 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Versuche, eine Art drahtlose Telegraphie unter Be- nützung der Erde auszuführen, waren schon früher wiederholt gemacht worden (es sind hier etwa die Namen Rathenau, Lindsay, Bourbouze, Preece, Strecker, Orling, Armstrong zu nennen), bei denen aber nicht mit Hochfrequenzschwingungen gearbeitet worden war. Letztere zum erstenmal für solche Erdtelegraphie, nach den ohne weiteres verständlichen Schal- tungen gemäß Fig. 49—53 (D.R. P. Nr. 115.081, 1898), angewendet zu haben, ist ohne Zweifel das Verdienst von Prof. Ferd. Braun ?), der dann aber wieder davon abgebracht wurde durch seine so erfolgreichen Arbeiten in der heute gebräuchlichen Methode der Radiotelegraphie. Bemerkenswert sind dann aus den Jahren 1903—1905 eine Reihe von Vorschlägen von Prof. L. Zehnder?) für Anordnungen, die ähnlich den Braunschen waren, jedoch mit ganz präzisen Angaben über die Länge) der auszuspannenden Erdantennen im Verhältnis zur Wellenlänge: wie so häufig fanden diese !) Vgl. Bd. III der „Fortschritte“, S. 137 ff. ?) Vgl. F. Braun, Drahtlose Telegraphie durch Wasser und Luft. Leipzig 1901. ®) Einen neuen Gesichtspunkt für den Empfang mittelst drahtloser Telegraphie mit Erdströmen hat auch Lecher, Phys. Zeitschr., 4, 320, 1903, hervorgehoben: Wenn die Erde wesentlich an der Fortleitung der elektrischen Wellen beteiligt sei, so könne man die Zeichen eines Senders nach den bekannten Interferenzprinzipien auch dadurch auffangen, daß man im Abstand einer halben Wellenlänge zwei Metallplatten auf die Erde lege und dieselben über der Erde durch eine Drahtleitung verbinde, in der sich der Detektor, etwa der Kohärer, befinde. *) Braun fand allerdings schon, daß die richtige „Abgleichung der Drahtlänge*“ für bestes Ansprechen des Empfängers wesentlich ist. 192 Gustav Eichhorn. richtiven Ideen in der Praxis kein Entgegenkommen, und entscheidende Versuche wurden nicht gemacht. \\ie Prof. Zehnder!) angibt, machte er am 25. Januar 1903 dem Reichsmarineamt seinen ersten Vorschlag einer gerichteten drahtlosen Telegraphie mit zwei in gleicher Phase schwingenden Antennen S, und r E z >) der benutzten Wellen voneinander S,. die um eine halbe Wellenlänge ( entfernt sind und von einem Induktor, von einem gemeinsamen primären Sendersystem erregt werden. Ferner machte er in demselben Jahre dem Reichsmarineamt den weiteren Vorschlag. mit einer Wechselstrommaschine 8. = r 1 | die nach Fig. 54 an zwei um - z voneinander entfernten Stellen geerdet —_ Fig. 49. Fig. 50. Fig. 51. Fig. 58. Fig. 54. wird, Potentialschwankungen der Erde hervorzubringen, so dal wiederum eine gerichtete drahtlose Telegraphie (mit Erdströmen) zustande kommt. Dab für den Abstand der beiden Erdungen diejenige halbe Wellen- länge genommen werden müsse, welche der Fortpflanzungsgeschwindigkeit elektrischer Wellen im Erdreich, nicht der in der Luft entspreche, wurde erst in der späteren österreichischen Patentschrift hervorgehoben. Auch Marconi hat im Jahre 1896 für den Empfang eine Schaltung mit 2 Erdungen und eimem Kondensator angegeben (englisches Patent Nr. 12.039, 1896) und folgendermaßen beschrieben: „Beim Empfänger ist es möglich, die Oszillationen von Erde oder Wasser ohne die (früher er- läuterte) Platte W aufzunehmen. Dies geschieht, indem man die Enden der empfindlichen Röhre J/ (des Kohärers) mit zwei Erdungen verbindet, die ') D. R. P. Nr. 178.861. 1906 ; Österr. Patent Nr. 26.404, 1905; Engl. Patent Nr. 10.601, 1905. Neuere Fortschritte in der Radiotelegraphie. 193 vorzugsweise in einem gewissen Abstand voneinander und in einer Linie mit der Richtung angeordnet werden. von welcher die Oszillationen her- kommen. Diese Verbindungen sollen nicht durchweg leitend sein, sie müssen vielmehr einen Kondensator von geeigneter Kapazität enthalten, sagen wir von einer Quadratelle (one square yard) Oberfläche (mit paraffiniertem Papier als Dielektrikum).“ Es ist ohne weiteres einleuchtend, dal diese Marconische Schaltung von den Zehnderschen Anordnungen wesentlich verschieden ist. Von verblüffenden Erfolgen sind dann in jüngster Zeit die im Auf- trage des Kaiserl. Telegraphen-Versuchsamtes unternommenen Versuche mit Erdantennen von Dr. Franz Kiebitz (D.R.P. Nr. 227860, 1909) be- gleitet gewesen, die wahrscheinlich in vielen Fällen zu einer Beseitigung der ungeheuren Antennentürme führen können. Die Kiebitzschen Anord- nungen haben ohne Zweifel viel Gemeinsames mit denjenigen von Braun und Zehnder ; ich will aber auf den naturgemäß) jetzt entbrannten Priori- tätsstreit!) hier nicht eintreten: wer sich für die verschiedenen Darstel- lungen der Geschichte der Erdantennen nach Kiebitz, Zehnder und Braun Fig. 55. E KEG I; interessiert, sei unter anderen verwiesen auf H.4 und 6, 1912 des von mir herausgegebenen Jahrbuches der drahtlosen Telegraphie und Tele- phonie?) sowie auf einen Artikel von Prof. Braun in der Frankfurter Zeitung Nr. 104 (2. Morgenblatt) vom 15. April 1912.) Was nun die Kiebitzschen Versuche angeht, so wurde hauptsächlich folgendermaßen ver- fahren: In der Nähe von Berlin (bei Belzig) wurden um ein Stationshaus als Mittelpunkt Erdantennen verlegt in der Richtung NS. und OW. und eine in der Richtung NO.—SW. (Richtung nach der Radiostation Schöne- berg). Die Erdanschlüsse (ca. 4m tief versenkte Metallplatten) waren je 120 resp. 150 m vom Hause entfernt, so daß die gesamte Antennenlänge 240 resp. 300 m ausmachte. Die Empfangsvorrichtung (bzw. der erregende Schwingungskreis) befand sich im Stationshause. Als beste Schaltung be- zeichnet Kiebitz die in Fig. 55 wiedergegebene: In der Mitte variabler !) Die besonders heftige Polemik zwischen Zehnder und Kiebitz ist jetzt durch eine gemeinsame Erklärung (vgl. Ber. d. Deutschen Phys. Ges., 14, 508, 1912) ge- schlossen worden. °) Verlag Johann Ambrosius Barth, Leipzig. ®) Es sei auch auf die Versuche von Löwy und Leimbach, im Innern der Erde mit elektrischen Wellen zu telegraphieren, hingewiesen. Jahrbuch, 5, 386, 1912. E. Abderhalden, Fortschritte. VII. 13 194 Gustav Eichhorn. Empfangskondensator, rechts und links Spulen, dann beiderseits grad- linige Leitung von den angegebenen Längen, am Ende je ein Konden- sator. äußere Belegung an Erdanschluß geführt. Wesentlich die gleiche Anordnung diente für Senderversuche. Häufig konnten auch die Erdkon- densatoren weggelassen werden und die „Verbindungsleitungen“ frei endieen: bisweilen, je nach der Wellenlänge, war das Einschalten der End- kondensatoren günstig. Das praktische Ergebnis der Versuche ist im wesentlichen das fol- sende: Es ergab sich gerichteter Empfang und — wenigstens für größere Entfernungen — auch gerichtete Ausstrahlung.!) In geeignet orientierten Antennen konnte Empfang konstatiert werden von Schöneberg (65 km). Swinemünde (230 km), von Norddeich (405 km) sehr stark „in allen An- tennen“: ferner vom Eiffelturm, endlich konnte auch die Marconistation in Poldhu (1120 km) belauscht werden. Sendeversuche (2 KW primäre Energie) gelangen nach Schöneberg und Swinemünde; mit einer 1270 m langen Antenne (einerseits frei endend. andrerseits durch Kondensator geerdet) auch schwach nach Norddeich. Als wesentliche Bedingung bezeichnet Kiebitz die folgende: Span- nungsbäuche an den Enden, Strommaximum in der Mitte der Antennen. Dies würde einer beiderseits frei endenden Leitung entsprechen. Die Strom- und Spannungsverteilung werden natürlich, wenn geerdete Kon- densatoren an den Enden liegen, komplizierter und von den elektrischen Dimensionen abhängig. Die angewandten Dimensionen stimmen offenbar mit der Zehnderschen Vorschrift überein, die kurz folgendermaßen lautete: y von der Strom- quellenmitte bis zu den beiden Erdungen, in Wellenlängen % auf Drähten e semessen und von einer Erdung zur anderen, in Wellenlängen %, der = Erdsubstanz gemessen. Bei den Kiebitzschen Versuchen wurde mit einem Abstand der Erd- platten von 240—300 m gearbeitet. Bei einem Brechungsexponenten von n — 25, wie man ihn für das Erdreich als Mittelwert gewöhnlich annimmt, entspricht diesem Abstand eine 2n = 5mal so große Drahtwellenlänge, also % = 1200-1500 m, und tatsächlich wurde bei den genannten Ver- suchen des Telegraphen-Versuchsamtes der günstigste Wellenbereich von » — 1000— 1500 m für den Empfang festgestellt. Bei anderen Versuchen, bei denen die Zeichen über den Atlantischen Ozean von Kanada her ge- hört wurden, war die Entfernung der Erdungen En — 1270 m, welcher Ab- stand bei n= 25 für das Erdreich dem günstigsten Empfang einer ') Es sei hier darauf hingewiesen, daß zuerst Prof. J. Zenneck hervorhob, daß die gerichtete Wirkung von Marconis geknickten Antennen, deren einer Arm horizontal zum Boden verläuft, nur durch die Annahme einer endlichen Leitfähigkeit der Erde erklärt werden könne. -Neuere Fortschritte in der Radiotelegraphie. 195 Wellenlänge von 5°1270 = 6350 m entspricht, während 5800-6000 m als Wellenlänge von Glace Bay ermittelt worden ist. Was die Deutung der Versuche angeht, so empfiehlt sich darüber zunächst noch einige Zurückhaltung. Prof. Braun gab in seinem vorher zitierten Bericht (Jahrbuch, 5, 586, 1912) seine Anschauung, wie man unter Berücksichtigung der auf dem Erdboden auftretenden sogenannten fin- gierten Ladungen in allgemeinen Zügen die Vorgänge, durch welche die Übertragung auf die entfernte Stelle geschieht, verstehen kann. Wenn elektrische Wellen in Luft den Erdboden überstreichen, mit ihrer Front wesentlich senkrecht zum Boden gerichtet, so treten auf dem Boden sogenannte fingierte Ladungen auf, deren Größe aus dem Ver- hältnis der Dielektrizitätskonstanten der zwei aneinander grenzenden Mittel bestimmt ist. Indem abwechselnd positive und negative Ladungen in Ab- ständen von einer halben Wellenlänge über den Boden hinwegstreichen, werden sie in einem parallel geführten Draht entsprechende Ladungen und damit unter gewissen Bedingungen elektrische Ströme erregen. Für die Empfängerwirkung ist jedenfalls zu sagen, dab, wenn der elektrische Vektor E der Welle vertikal lieet, die Welle in einer durch den Draht s gelegten Ebene (E, s) fortschreitet, und bildet der Draht s den Winkel 3 mit dem elektrischen Vektor, so reagiert der Draht auf die Komponente # cos ®. Für die Anlage wagerechter Antennen scheint es von untergeordneter Bedeutung zu sein, ob sie unter die Erdoberfläche verlegt werden oder in einiger Höhe geführt sind, ebenso ob Erdanschlüsse verwendet werden ‚oder nicht. Kiebitz interpretiert den Ausbreitungsvorgang unter dem Gesichts- punkt, daß sich Zertzsche Wellen in der Atmosphäre und Ladungswellen auf der Erde gegenseitig bedingen. Zur Erklärung der Wirkungsweise von Sendern und Empfängern, die ohne Luftleiter arbeiten, vervollständigt er die Lechersche Ausbreitungstheorie !) durch die Theorie 2), dal) sich Erd- antennen verhalten wie metallische Einlagerungen in einem Halbleiter: diese Einlagerungen zeigen selektive Leitfähigkeit für Wellen von be- stimmter Frequenz: darum können stehende Wellen in ihnen erzeugt wer- den. Bei genügender Ausdehnung zeigen sie Strahlungsvermögen. Diese Theorie hat auch durch die zahlreichen Versuche von Löwy und Leim- bach), im Innern der Erde mit elektrischen Wellen zu telegraphieren. eine Stütze erfahren. Braun gelangt noch zu folgenden Überlegungen: „Denkt man sich einen Draht, in einer halben Wellenlänge schwin- gend, von einem unendlich ausgedehnten homogenen Dielektrikum allseitig umgeben, so findet bekanntlich keine Strahlung in der Richtung der Achse t) E. Lecher, Phys. Zeitschr., 3, 273, 1902 und 4, 320, 1903. ?) F. Kiebitz, Ann. Phys. (4), 32, 974, 1910 (vgl. auch ebenda S. 967 und Verh. d. Deutschen Phys. Ges., 10, 935, 1908). 3) Löwy und Leimbach |]. e. 13* 196 Gustav Eichhorn. statt. Nach den obigen Ergebnissen ist aber bei Erdantennen in dieser Richtung Energieübertragung in besonders starkem Male vorhanden. Diese Energieübertragung muß auch den Charakter einer Strahlung tragen, falls man unter ihr einen Vorgang versteht, der an die folgende Bedingung oebunden ist. Die Energie, welche in einem Störungsgebiet vorhanden ist, soll (für den einfachsten Fall, nämlich einer Strahlung, die nur in einer Richtung, etwa akustisch in einer Luftsäule oder optisch in der Achse eines Hohlspiegels erfolgt), sich nicht zerstreuen, sondern sich immer nur auf ein ‚weiteres gleich großes Gebiet übertragen, so daß die Energiedichte ungeändert bleibt. In unserem Falle wird die Energie sich flächenhaft ausbreiten. sie wird auch unterwegs durch Absorption geschwächt. Wenn aber trotz dieser schwächenden Ursachen noch so beträchtliche Wirkungen auf so große Entfernungen vorhanden sind, so beweist dies unzweifelhaft, daß die Übertragung den Charakter einer Strahlung trägt. Vergleicht man damit das oben erwähnte Ergebnis der Theorie, so muß man schließen, daß nur die Abweichungen der tatsächlichen Verhält- nisse von den der theoretischen Behandlung zugrunde gelegten Annahmen die Beobachtungen erklären können. Diese Abweichungen sind aber, so- weit ich sehe, in zwei und nur in diesen zwei Formen vorhanden: 1. wir haben hier die Antennen in der Grenzfläche zweier verschiedener Dielek- trika (Luft und Boden), 2. sie ist in der Nähe eines Leiters, des Grund- wassers. Ich will mit dieser zweiten Bedingung anfangen: sie würde zurück- führen auf die Bedingungen meiner Versuche — es würde sich um eine Ausbreitung längs einer Fläche handeln, welche hohe Dielektrizitätskon- stante neben mehr oder weniger gutem Leitvermögen besitzt. Denkt man sich aus derselben einen einzigen Streifen herausgeschnitten, ausgedehnt in der Richtung parallel zur Antenne, so wäre die Erscheinung qualitativ ähnlich der der Ausbreitung elektrischer Wellen an Drähten. Die Welle oleitet beim guten Leiter fast ausschließlich an dessen Oberfläche, ihre Energie bleibt zusammengehalten. In unserem Falle dringt sie bis zu Tiefen von einem oder einigen Metern ein. Dieser Fall würde etwa realisiert sein, wenn man längs eines Gebirgsbaches die Zeichen verschickt. Ist die Fläche nach zwei Dimensionen ausgedehnt, so läßt sich nur an der Hand einer durchgeführten Theorie etwas Bestimmtes aussagen. — Leitfähigkeit und dielektrische Eigenschaften bestimmen zusammen die Vorgänge in den Mitteln, die hier vorliegen. ei Wasser macht sich die Dielektrizitätskonstante für Wellen, welche etwa 1700 m (in Luft) lang sind, ebenso stark geltend wie das Leitver- mören. Für kleinere Wellen überwiegt die Eigenschaft des Dielektrikums. Je höher die Frequenz der Schwingungen ist, desto stärker wird die elektromagnetische Wirkung der in ihnen auftretenden dielektrischen Po- larisation. Man könnte nun denken, und damit komme ich zur Bespre- ehung der ersten Bedingung, daß an der Grenzfläche Luft— Erde die periodisch wechselnde dielektrische Polarisation, welche in der Richtung Neuere Fortschritte in der Radiotelegraphie. 197 der Erdplatten auftritt, ähnlich wie der Strom in einem Leiter wirkt und sich so auch in der Drahtrichtung eine Welle nach außen über die Grenz- fläche fortpflanze. Eine wesentliche Beteiligung eines derartigen Vorganges scheint mir aber schon in Anbetracht der geringen Frequenzen, welche benutzt wurden, ausgeschlossen.“ Ganz neuerdings äubert sich in der Elektrotechnischen Zeitschrift!) Dr. W. Burstyn über die Wirkungsweise der Erdantennen in Ausführungen, die mir sehr zutreffend zu sein scheinen. Er geht aus von einem Paar Richtantennen, die auf gut leitender Erde im Abstande einer halben Wellen- länge angeordnet sind und in entgegengesetzter Phase schwingen. Wie schon ausgeführt, geben dieselben infolge von Interferenz ein Maximum ihrer Strahlung in der Verbindungslinie. Mit ihren durch die Erdober- fläche gelieferten Spiegelbildern stellen diese beiden Luftdrähte im wesent- lichen einen doppelten Dipol dar. Dasselbe strahlende System erhält man aber auch durch einen einzigen horizontalen Luftdraht, wie er von Marconi in seinen geknickten Antennen zum Zwecke gerichteter Telegraphie be- kanntlich verwendet wird. Die Höhe der tragenden Maste darf dabei nicht zu klein sein, weil sonst der Abstand des Spiegelbildes der Antenne, also das Moment der Dipole, und somit ihre Fernwirkung, zu gering würde. Denkt man sich aber das ganze Gelände bis zur Spitze der Maste mit einer Schicht von Sand oder trockener Erde bedeckt, so bleibt die Ent- fernung der Spiegelbilder dieselbe, denn die Spiegelung findet nicht an der neuen Erdoberfläche statt, sondern nach wie vor an der alten Grenze, die in der Praxis ohne Zweifel eine gut leitende Schicht des Grundwassers ist. Die darüber befindliche Erdschicht muß also, um eine möglichst ge- ringe Leitfähigkeit aufzuweisen, möglichst trocken sein, wie es tatsächlich ja durch den sandigen Boden in den Kiebitzschen Versuchen realisiert war. Nach dieser Vorstellung müßten „Erdantennen“ knapp über der Meeresobertläche direkt versagen. Durch Betrachtung der Dämpfungsver- hältnisse zeigt Burstyn, dab für „trockenen Boden“, für den Eickhoff den spezifischen Widerstand s = 10% fand, bei einer Wellenlänge von 1000 m schon eine Dämpfung von dem hohen Wert 9 — 3 herauskommt, was eine fast aperiodische Schwingung bedeutet; die Wellen verlassen also kaum die Station. Die Fernwirkung kann daher nicht von den Kraftlinien des Erdfeldes, sondern hauptsächlich nur von jenen des Luftfeldes der Erd- antenne herrühren. Diese für den Sender angestellten Betrachtungen gelten in voller Reziprozität auch für den Empfang. Die Strahlung einer Erd- antenne kommt also dadurch zustande, daß ihr elektrisches Spiegelbild nicht von der Oberfläche der Erde, sondern vom Grundwasserspiegel ge- liefert wird. Bestimmte Bodenverhältnisse sind demnach für die Anwen- dung von Erdantennen Bedingung. Die Fortpflanzung der Wellen erfolgt nicht durch die Erde, sondern durch die Luft. Nach dieser Vorstellung ‘) H. 24, 1912. Wegen weiterer Ausführungen von Burstyn hierüber s. auch Jahrbuch der drahtlosen Telegraphie, Hefte 1 u. 3 (Bd. VD), 1912, ebenda Heft] auch eine neuere Mitteilung von Kiebitz. 198 Gustav Eichhorn. bleibt es dann auch nicht mehr unerklärt, warum bei Erdantennen die Strahlungsrichtung in Richtung der Antenne, also senkrecht zu der beim gewöhnlichen Hertzschen Oszillator gefundenen, liegt. Burstyn ergänzt dann diese Anschauung durch eine weitere Mit- teilung wie folgt: „Inzwischen habe ich gefunden, dal) eine derartige Zusammensetzung der oberflächlichen Erdschichten zwar die günstigste, aber nicht die einzige ist, welche für die Anwendung der Erdantenne vorausgesetzt werden muß. Es genügt vielmehr — und dieser Fall ist mindestens ebenso häufig —. dal) die Erde bis in größere Tiefen ein mittleres Leitvermögen besitzt, also: die elektrischen Wellen stark absorbiert. Über einem solchen Gelände stehen bekanntlich die elektrischen Kraftlinien der von einem weit entfernten Sender herrührenden und im Sinne des Pfeiles fortschreitenden Wellen nicht senk- recht zur Erdoberfläche, sondern bilden mit der Vertikalen einen Winkel «. Unter der Erdoberfläche ist der Einfallswinkel 3 entsprechend dem Brechungs- gesetze gröber. Die Folge davon ist, daß die Antenne nicht senkrecht, sondern schräg auf der Niveaufläche der Kraftlinien steht, also eine Komponente derselben aufzunehmen vermag, genau so wie ein schräg gezogener Luftdraht über einer gut leitenden Erdoberfläche. Der für die Komponente maßgebende Winkel ist, gleichgültig ob die Antenne eine etwas höhere oder niedrigere Lage einnimmt, weder x noch 5, sondern liegt zwischen beiden, wahrscheinlich näher x. Er entspricht nämlich dem mittleren Winkel, unter welchem sich das Strahlungsfeld der (als Sender gedachten) Erdantenne mit dem an- kommenden Felde in Luft und Erde schneidet. Ein Optimum für die Auf- nahmefähiekeit der Antenne wäre zu erwarten, wenn dieser Winkel 45° beträgt. Ob jemals und unter welchen Bedingungen diese Größe erreicht wird, müßte von einem Mathematiker untersucht werden. Die Richtungswirkung der Erdantenne ist ohne weiteres klar; denn würde sie in derselben horizontalen Ebene um 90° verdreht sein, so würde sich für sie trotz der Schrägheit des Kraftfeldes keine Komponente ergeben. Die Erdantenne wurde — im Gegensatze zur früheren Abhandlung — diesmal zunächst als Empfänger betrachtet. Reziprozität zwischen Sender und Empfänger ist auch bei den hier besprochenen Vorgängen anzunehmen. Selbstverständlich strahlt aber eine symmetrische Erdantenne nach beiden vichtungen gleichmäßig. Sie ist nichts anderes als ein Grenzfall des doppelten geknickten Senders für gerichtete Telegraphie nach Marconi, und die für solche Sender von Zenneck gerebene, für diese wohl nicht ausschließlich zutreffende Erklärung, dürfte hier vollkommene Gültigkeit besitzen. Die beiden Fälle, daß die Wirkung einer Erdantenne durch Reflexion am Grundwasserspiegel, und daß sie durch Absorption in den oberen Erd- schichten zustande kommt, sind nicht scharf zu trennen, sondern gehen stetig ineinander über. Die Fortpflanzung der Energie von der Sendestation erfolgt aber in beiden Fällen, ebenso wie beim gewöhnlichen Luftdrahte, nicht durch die Erde, sondern durch die Luft.. Aus diesem Grunde kann Neuere Fortschritte in der Radiotelegraphie. 199 auch die Erdantenne nicht die erhoffte vollständige Freiheit von atmo- sphärischen Störungen bieten.“ Außer diesen plausiblen Erklärungen auf Basis von Hertzschen Wellen kommt aber höchstwahrscheinlich auch noch eine andere Theorie in Be- tracht, nämlich die der sogenannten Oberflächenwellen nach Prof. Sommer- feld; das am meisten interessierende Resultat derselben sagt aus, dab, wenn eine gewisse Beziehung zwischen den Dielektrizitätskonstanten und Leitfähigkeiten der zwei Medien besteht, wir nicht nur elektromagnetische Wellen durch den Raum (Raumwellen) haben, sondern auch noch Wellen an der Oberfläche (Oberflächenwellen ). Die Raumwellen variieren in der Amplitude umgekehrt proportional mit der Entfernung und ihre Energie umgekehrt proportional wie das Quadrat der Entfernung. Die Oberflächen- wellen aber variieren in Amplitude umgekehrt proportional wie die Qua- dratwurzel aus der Entfernung und ihre Energie umgekehrt proportional mit der Entfernung. Auf große Entfernungen werden also die Oberflächen- wellen dominieren. Weiter noch hat Sommerfeld gezeigt, daß eine Ver- größerung der Wellenlänge günstig für die Ausbreitung der Wellen auf eroße Entfernungen ist. ferner daß die Oberflächenwellen rings um die Erdkrümmung sich ausbreiten, während die Raumwellen bis zu einem ge- ringeren Grade sich in das Schattengebiet erstrecken. In diesen Oberflächen- wellen kann also sehr wohl auch eine Erklärung der von Kiebitz beob- achteten Wirkungen liegen. ?) Diese merkwürdigen Versuche mit Erdantennen zeigen wieder, welche Fundgrube sowohl in wissenschaftiicher wie in praktischer Hinsicht die Radiotelegraphie der Forschung immer noch bietet. li. Hochfrequenzmaschine. „ Darauf weist auch wieder eine neue Erfindung des verdienstvollen technischen Leiters der deutschen Telefunkengesellschaft Graf Arco hin. Über Einzelheiten kann leider aus Patentrücksichten noch nicht berichtet wer- den. Es handelt sich um eine Hochfrequenzmaschine zur direkten Er- zeugung elektrischer Wellen zu Zwecken der drahtlosen Telegraphie und Telephonie, welche sich nicht wesentlich von einer gewöhnlichen Wechsel- strommaschine unterscheidet. Trotzdem ist es mit einer derartigen einfachen Maschine ohne weiteres möglich, beliebige Energiemengen mit Frequenzen von 15000 bis ') A. Sommerfeld, Über die Ausbreitung der Wellen in der drahtlosen Telegra- phie. Ann. Phys., 28, 665, 1909. Es sind dies übrigens ganz analoge Verhältnisse wie bei den bekannten beiden Arten von mechanischen Wellen, welche bei Erdbeben im Erdboden auftreten. :) Beide Wellenarten werden aber nur als zwei verschiedene Teile der Störung im Weltäther aufgefaßt. Deutlicher wird dies noch durch die Betrachtung der Kraft- liniendiagramme eines sich ausbreitenden Antennenfeldes nach P. Epstein, Jahrbuch der drahtlosen Telegraphie, 4, 176, 1910. 200 Gustav Eichhorn. 120000 und somit die für größere drahtlose Stationen erforderlichen Wellenlängen von 20000 m bis herunter zu 2500 m zu erzeugen. Angeregt wurde Graf Arco zu seinen Arbeiten auf diesem (Gebiete dureh die vor 1!/, Jahren Aufsehen erregende Erfindung der Goldschmidt- schen Hochfrequenzmaschine, über die ich in einem früheren Aufsatze in dieser Zeitschrift !) ausführlich berichtet habe; ich wies auch auf ge- wisse Schwierigkeiten hin, mit denen die Realisierung des theoretisch ingeniösen Prinzips im praktischen Radiotelegraphiebetrieb zu kämpfen haben würde. Graf Arco schlug deshalb einen einfacheren Weg ein, und die von ihm und seinen Mitarbeitern nach achtzehnmonatlicher unermüd- licher Tätigkeit hergestellte Maschine unterscheidet sich von allen bisher erfundenen Hochfrequenzmaschinen dadurch, daß sie mit normaler Touren- zahl beliebig hohe Frequenzen erzeugt und dabei einfach und billig in der Fabrikation ist. Die ersten Maschinen sind von der A. E.-G. gebaut und bereits von mehreren deutschen Behörden im Betrieb besichtigt worden: ferner hat Graf Arco seine Erfindung dem internationalen Kongreß für Radio- teleeraphie, welcher kürzlich in London?) tagte, vorgeführt. Eine weitere im Bau befindliche Maschine für 500 X W-Leistung ist für die Telefunken- Großstation Nauen bestimmt. Ill. Telefunkenkompaß.’) Seitdem man es erreicht hatte, die sogenannte „gerichtete“ *) Radio- telegraphie auszubilden, d.h. die elektrischen Wellen in eine bestimmte Richtung (wenigstens innerhalb eines gewissen Winkels) zu entsenden bzw. aus einer gewissen Richtung zu empfangen, konnte auch ein äuberst schwieriges Problem gelöst werden, das darin besteht, für Schiffe, Lenk- und Freiballons u. dgl. ihre augenblickliche Stellung oder ihren Kurs bei unsichtigem Wetter festzustellen. Man fand eine Reihe von Lösungen? die indessen bisher nie so befriedigten, daß sie zu einer erheblichen prakti- schen Anwendung führten. Die Aufgabe, etwas genauer präzisiert, besteht darin, die relative Lage einer beweglichen drahtlosen Station zu einer oder zu mehreren festen Stationen durch irgend eine Messung aufzufin- den. Zwei prinzipiell verschiedene Wege erschienen von vornherein gang- bar. Der eine bestand darin, daß die bewegliche Station, die sich orien- tieren will. nach den festen Stationen hin Signale sendet und die festen Stationen rückmelden, aus welcher Richtung sie die Signale aufgenommen haben. Es wird also die eigentliche Ortsbestimmung hierbei in den festen Stationen ausgeführt und das Resultat auf drahtlosem Wege der beweg- 1) Bd. III, S. 195 ff 2) 4. Juni bis 5. Juli ») Nach der Schrift „Telefunkenkompaß* der Gesellschaft für drahtlose Tele- graphie, Berlin. ') Vgl. Bd. III der Fortschritte, S. 200 ff. zus Si Genie A Neuere Fortschritte in der Radiotelegraphie. 201 lichen Station mitgeteilt. Das zweite Verfahren besteht darin, dal die festen Stationen Signale geben und die beweglichen feststellen, aus welcher Richtung die Signale bei ihr ankommen. Bei beiden Verfahren ist es selbstverständlich notwendig, daß die eine der Stationen, also entweder die feste oder die bewegliche, die elek- trischen Fernwirkungen nicht nach allen Seiten gleichmäßig abgeben bzw. aufnehmen, sondern mit gerichteter Telegraphie arbeiten. Eine Richtunggebung wird bekanntlich durch besondere, nicht sym- metrisch angeordnete Antennen ermöglicht, welche einseitig wirken. Solche Antennen sind wesentlich komplizierter als ungerichtete symmetrische und beanspruchen eine größere Installationsfläche bzw. einen größeren Instal- lationsraum. Dieser ist aber bei beweglichen Stationen, auf Schiffen oder in Lenk- und Freiballons selten vorhanden. Solche Antennen bilden in jedem Falle eine höchst unvollkommene Komplikation, die nicht ohne störenden Einfluß auf die Betriebsverhältnisse des Schiffes oder des Ballons bleibt. Es folgt hieraus, daß Aussicht für erhebliche praktische Anwendung nur eine Methode haben kann, weiche bei der beweglichen Station auf die Anbringung gerichteter Antennen verzichtet. Trotz dieser Sachlage ist, wenn auch vereinzelt, bei der französischen Handelsflotte eine Anordnung eingeführt worden, welche mit gerichteten Antennen an Bord der Schiffe arbeitet, und zwar mit zwei Doppelantennen. deren Ebenen im Winkel von 90° ge- kreuzt sind. Es ist dies die Anord- er nung!) von Bellini-Tosi, bei welcher der Empfangsapparat mit der eben beschriebenen Antenne unter Zwischen- schaltung eines sogenannten „Radio- goniometers“?) verbunden ist. Es sei mit einigen Worten an die Anordnungen für gerichteten Empfang nach Bellini-Tosi erinnert. Die Wir- kungen der Richtantennen nach Brown- Blondel setzen sich im Radiogonio- meter zusammen und geben eine resul- tierende Richtungswirkung, die mit der- jenigen des Senders zusammenfällt bzw. davon nach einem bekannten (Gesetz abhängt. Das Empfangsradiogoniometer ist gebildet aus zwei gleichen und zu einander senkrechten Spulen AA, Fig. 56, von denen jede in der Mitte des horizontalen Leiters eines Luft- leitergebildes eingefügt ist. Im Innern dieser beiden Spulen befindet sich eine dritte drehbare Spule, die an die Empfangsapparate (Detektor, Tele- !) Diese Anordnung ist jetzt durch Erwerbung der Patentrechte auch von Mar- coni angenommen worden unter der Bezeichnung: „Drahtlose Bussole“. ®) Vgl. Bd. III der Fortschritte, 8. 202. u 202 Gustav Eichhorn. phon. Kondensator ete.) angeschlossen ist. Wenn eine Sendestation sich gerade in der Ebene eines der Luftleitergebilde befindet, so muß man die bewegliche Spule parallel zu der festen Spule orientieren, an welche dieser Luftleiter angeschlossen ist, um maximale Empfangsintensität zu erzielen. Wenn der Sender in irgend welcher Richtung sich befindet, so sind die beiden festen Spulen von schwingenden Strömen durchlaufen, deren Inten- sitäten von den Winkeln abhängen, welche diese Richtung mit den Ebenen der beiden Luftleitergebilde bildet. Jede dieser beiden Strömungen erzeugt ein magnetisches Feld: indem man die Achse der beweglichen Spule mit der Richtung des resultierenden magnetischen Feldes zusammenfallen läßt, erreicht der Empfang seine maximale Intensität. Für jede Richtung des Senders existiert also eine Orientierung nz der beweglichen Spule, für welche der Empfang von maximaler Intensität ist. Man hat gemäß Fig. 57 zwei Em- pfangszonen AA, die gleich sind und um 180° voneinander abstehen und zwei gleiche und entgegengesetzte Zonen BB, in denen man nicht empfängt. Die Breite der Empfangszonen wächst mit wachsender Empfangsintensität und be- trägt im Mittel 60°. Es ist im allgemeinen schwierig, die Richtung maximaler In- tensität ganz genau festzustellen. Man bestimmt besser die beiden Grenzrich- tungen oa und ob einer der Empfangszonen und nimmt dann das Mittel, welches die Richtung des Senders angeben wird. Es kam zuerst die Lösung des Problems in Frage, dal Küsten- stationen mit Richtantennen ihre Feststellungen an Schiffe mit gewöhn- lichen Antennen übermitteln. In einer letztjährigen Veröffentlichung !) geben Bellini und Tosi eine Tabelle über die Resultate ihrer Versuche nach dieser Methode, die ohne /weifel den Vorzug großer keichweiten hat, da der Entwicklung der An- tennen keine engen Schranken sesetzt sind, die aber ersichtlich in sich sehr beschränkt ist. Eine zweite Lösung besteht in der Ausrüstung der Schiffe mit Richt- antennen. Die vorhin erwähnte Veröffentlichung gibt mehrere Tabellen von Versuchsreihen nach dieser Methode, die eine gute Übereinstimmung der Angaben des Bellini-Tosi-Kompaß mit der tatsächlichen Kursrichtung der Schiffe erkennen lassen. Die Orientierung der Schiffe erfolgt hier in der Weise, dal) sie beim Vorbeifahren an den Küstenstationen durch Drehung des Radiogoniometers feststellen, aus welcher Richtung die Signale der festen Stationen am ') La „Lumiere @leetrique“, Nr. 21, 27. Mai 1911. Neuere Fortschritte in der Radiotelegraphie. 203: stärksten oder am schwächsten eintreffen. Mit Hilfe der Karte, auf wel- cher die festen Stationen eingezeichnet sind, läßt sich auf diese Weise eine Ortsbestimmung der Empfangsstation ausführen. Der Nachteil dieser Anordnung besteht einmal darin, daß die Schiffsstationen unbequeme und komplizierte Antennen und unnormale Empfangsapparate einführen müssen, und andrerseits, daß eine individuelle verschiedene Eichung dieser „Kompaß- einrichtung“ bei jedem einzelnen Schitf ausgeführt werden muß. In Rück- sicht nämlich auf die geringen Breitenmaße der Schiffe, die nur kleine Antennengebilde zulassen, sind für das Bellini-Tosi-Verfahren sehr kurze Wellenlängen notwendig. Kurze Wellen haben aber bekanntlich die Eigen- schaft, von leitenden Flächen leicht reflektiert und damit aus ihrer ur- sprünglichen Richtung gebracht zu werden. Ein großes Schiff mit seinen gewaltigen Metallmassen besitzt stets zahlreiche Möglichkeiten der Re- flexion und die so hervorgerufenen Abweichungen müssen durch individuelle Eichung (ähnlich wie beim Magnetkompaß) beseitigt werden. Wesentlich einfacher und zweckmäßiger erscheint demnach für die praktische Einführung das andere Verfahren, wonach feste Stationen gerichtete Signale senden und der bewegliche Empfänger, mit einer ungerichteten Antenne ausgerüstet, die Richtung fest- stellt, aus welcher die Signale kommen. Die eben angeführten Über- legungen hat vor 2—3 Jahren bereits das preußische Ministerium der öffentlichen Arbeiten angestellt und hat dementsprechend ein Verfahren ausgearbeitet. Monatelange Versuche wurden in der Nähe Berlins am Müggelsee angestellt und hierbei an zwei festen Punkten Sender mit ge- richteten Antennen errichtet, welche aus sehr vielen einzelnen Drähten be- standen. Die Senderantenne bestand beispielsweise aus 32 niedrigen Masten, welche auf den Umfang eines Kreises von etwa 200 m Durchmesser in gleichen Abständen aufgestellt waren. Von je zwei gegenüberliegenden Masten wurden die Zuleitungen zu dem in der Mitte des Kreises befind- lichen Apparatenraum geführt. Die Senderapparate wurden nun zeitlich nacheinander mit jedem dieser Antennenpaare verbunden und von jedem Antennenpaar aus ein anderer Buchstabe oder ein anderes. Signal abge- geben. Befand sich ein gewöhnlicher Hörempfänger mit ungerichteter An- tenne in der Ebene des Mastpaares, mit welchem in dem betreffenden Augenblick gearbeitet wurde, so erhielt dieser Empfänger die Maximal- energie. Das Mastenpaar arbeitet nämlich mit einer solchen Wellenlänge, dal die Wirkung, welche von dem vorderen und von dem hinteren Maste mit entgegengesetzter elektrischer Phase ausgeht, sich in dieser Ebene addiert. (Die halbe Wellenlänge war annähernd gleich dem Mastabstand gewählt worden.) Befindet sich dagegen der Empfänger genau senkrecht zu der Ebene des benutzten Mastenpaares, so treffen gleichzeitig die beiden von den Masten ausgehenden und in entgegengesetzter Phase schwingenden elektrischen Senderwirkungen auf den Empfänger und heben sich auf. Die Anordnung wurde so gewählt, daß mit jedem Antennenpaar und damit bei jeder Raumstellung ein anderer Buchstabe abgegeben wurde. Der Emp- 204 Gustav Eichhorn. finger mulite nun im Telephon feststellen, welcher Buchstabe am leisesten oder am lautesten ankam. Auf einer Karte werden die Orte des Senders eingezeichnet, ferner die einzelnen Antennenpaare und die verschiedenen Buchstaben der einzelnen Antennenpaare. Sind zwei solcher Sender in bestimmten Abständen vorhanden, so kann der Empfänger die beiden zugehörigen Richtungen feststellen und diese dann auf der Karte so ein- zeichnen, daß der Schnittpunkt dieser Linie seine augenblickliche Stellung angibt. Bei diesem Verfahren war der Telegraphist genötigt, einerseits die Lautstärke verschiedener Signale sich zu merken, andrerseits aber auch den zugehörigen Buchstaben. Je mehr Antennen benutzt wurden, um so zahlreichere Signale mußte aber der Telegraphist auseinanderhalten. Von diesen Versuchen ausgehend, hat Telefunken eine neue Methode ausgearbeitet. Die Tätigkeit des Telegraphisten ist hierbei erheblich er- leichtert. Die Sendereinrichtung ist im großen und ganzen beibehalten, nur wird der eben beschriebenen gerichteten Senderantenne noch eine zweite ungerichtete hinzugefügt. Stets vor Beginn der Arbeit des gerich- teten Senders wird der Senderapparat an die ungerichtete Antenne ge- schaltet und es wird mit dieser ein kurzes Signal, das im folgenden als „beitsigenal“ bezeichnet werden soll, abgegeben. Alsdann wird durch eine automatische Schaltvorrichtung der Sender mit den einzelnen gerichteten Antennenpaaren verbunden und gibt in zeitlich regelmäßigen Abständen mit jeder der gerichteten Einzelantennen ein kurzes Zeichen. Dieses Zeichen ist für alle gerichteten Antennen das gleiche. Die gerichteten Signale be- einnen stets mit einer bestimmten Antenne, z. B. der Nord-Südantenne, und gehen dann im Sinne des Uhrzeigers mit konstanter Geschwindigkeit der Stoppuhr. Der normale Empfänger der sich orientierenden Station erhält einen neuen Zusatzapparat in Gestalt einer mit der Drehgeschwindigkeit des Senders synehronen Anzeigevorrichtung. Diese ist als „Stoppuhr“ ausgeführt, welche nicht in Grade geteilt ist, sondern in Himmelsrichtun- gen wie eine Windrose. Der Anfangspunkt der Stoppuhr ist mit derjeni- sen Himmelsrichtung bezeichnet, mit welcher der gerichtete Sender seine Drehbewegung anfängt, also in unserem Falle beispielsweise mit der Nord- Süd-Richtung. Der Telegraphist hört das Zeitsignal des Senders, drückt auf die Stoppuhr, so dab der Zeiger seine Bewegung anfängt. In diesem Moment gehen vom Sender gerichtete Signale in der Nord-Süd-Richtung aus und die Zeigerdrehung der Stoppuhr beginnt. Hört der Telegraphist das Minimum der Lautstärke, so arretiert er die Stoppuhr. Ihr Zeiger steht dann auf derjenigen Richtung, in welcher der Sender das mit mi- nimaler Lautstärke anzekommene Signal abgab. Die Umdrehungsgeschwindigkeit des Senders bzw. der Stoppuhr be- trägt eine halbe Minute, so dal beispielsweise in 5 Minuten 10 vollkom- mene Drehungen und demnach 10 vollkommene Messungen der Lautstärke ausgeführt werden. Der Mittelwert hat dann eine erheblich größere (Ge- nauigkeit, als bei einer einzigen Messung. Die Sendereinrichtungen er- Neuere Fortschritte in der Radiotelegraphie. 205 halten automatischen Antrieb, besonderes Bedienungspersonal ist daher un- nötig. Die Tätigkeit des Telegraphisten an der Empfangsstation ist auf die Feststellung des Minimums der Lautstärke und auf das Ingangsetzen und Arretieren einer Stoppuhr beschränkt. Fig. 58. Ist nur ein fester Sender vorhanden, so läßt sich nur ungefähr die Richtung des beweglichen Empfängers zu diesem festlegen und es muß, wenn eine eindeutige Ortsbestimmung erzielt werden soll, noch eine Ab- standsbestimmung von der festen Station hinzugefügt werden. Bei Schiffen auf See ist dies beispielsweise durch Lotungen oder dergleichen möglich. ‘ı | Sind zwei feste Stationen vorhanden, so werden vom Empfänger zwei Richtungsbestimmungen ausgeführt, diese auf der Karte eingetragen 206 Gustav Eichhorn. und der Ort des Empfängers als Schnittpunkt der beiden Richtungen ge- funden. Die Genauigkeit wird um so größer sein, je kleiner die Entfer- nung «des Empfängers von der oder den festen Stationen ist und je mehr der beobachtete Richtungswinkel sich 90° nähert. Nach den bisherigen Ergebnissen scheint es möglich zu sein, für einen festen Sender den Winkel bis auf 3 oder 4° genau zu bestimmen. Die neuen von der Gesellschaft für drahtlose Telegraphie für Rich- tungsbestimmungen ausgearbeiteten Apparate bestehen aus speziellen Sen- deeinrichtungen mit besonderen Antennen. Dazu kommen besonders ge- eichte Stoppuhren für den sonst normalen Hör-Empfänger. Die ganze Ein- richtung wird als „Telefunken-Kompaß“?) bezeichnet. Die Abbildungen Fig. 58 und 59 zeigten das Modell der Sender- antenne und die zugehörige Form der Stoppuhr. Die praktische Einführung dieser Me- thode für die deutsche Luftschiffahrt würde sich etwa folgendermaßen gestalten: Man würde z. B. an der politischen Grenze Deutschlands eine Kette von festen Stationen mit je 50 bis 100 km Abstand er- richten, so dal) die größte Entfernung für die Stationen an Bord der Luftschiffe von diesen Stationen beim Überfliegen der Kette höchstens 50 km betragen würde. Hierdurch würden die Insassen der Luftfahrzeuge nicht allein die Tatsache der Grenzüberschreitung in ihrem Empfangsapparat beobachten. son- dern eine genaue Feststellung ihres augen- blicklichen Standpunktes sehr leicht bewerk- stelligen können. Eine ähnliche Kette von Stationen, ebenfalls mit 100 km Abstand an der Nordküste Deutschlands installiert, würde die Luftschiffer vor der Gefahr eines unbeabsichtigten Überfliegens der See schützen. Die Abbildung 58 zeigt einen Hauptteil der inneren Einrichtung einer solchen Senderstation, nämlich die automatische Umschaltung auf die einzelnen Richtantennen. Man sieht eine vertikale Achse aus Isolations- material, an deren oberem Ende kreisförmig eine Reihe von Anschluß- punkten auf Isolatoren installiert sind. Mit diesen sind die einzelnen Richt- antennen elektrisch verbunden. Zwei durch den unten sichtbaren Motor in langsamer kotation erhaltene Kontakte verbinden in regelmäßigen Zeit- intervallen die auf der Abbildung nicht sichtbare Sendeapparatur mit den 52 verschiedenen Antennen zeitlich nacheinander. Durch das Getriebe zwi- schen Motor und Schaltapparat wird nach jeder halben Umdrehung die ') Die Idee zu der Kinrichtune und ihre Konstruktion stammt von dem Tele- funken-Ingenieur Dr. Ing. Alexander Meissner. Neuere Fortschritte in der Radiotelegraphie. 207 Sendeapparatur an die nicht gerichtete Zeitantenne einen Augenblick lang angeschlossen. Eine weitere von Telefunken herrührende Verbesserung, nämlich eine neue Antennenordnung für Richtsender, ist in Fig. 60 dargestellt. Von einem einzigen neutralen Mast, Schornstein oder dergleichen wird im der Mitte eine Schirmantenne in der üblichen Weise getragen, welche zur Abgabe der Zeitsignale dient. Unter dieser, und zwar durch Iso- latoren von den Schirmdrähten getrennt, sind die Drähte der Richt- antennen installiert. welche außen an niedrigen Masten oder Pfählen ver- ankert sind. Der Vorteil dieser Anordnung besteht darin, dab ein einziger Fig. 60. | ar z Par IR BITTER eWayar) nY5S REINE AET CHINESE TS EL BER 24 Mast beide Antennen trägt. Die Skizze oben links auf der Abbildung zeigt schematisch die Orientierung eines Schiffes, nach zwei Richtstationen an der Küste: oben rechts ist schematisch die Wirkung des Kontaktapparates zur Darstellung gebracht, welcher den Sendeapparat nach einander mit den Richtantennen verbindet, bei einer bestimmten Stellung aber mit der Zeitsignalantenne. IV. Richtungsbestimmung mit Erdantennen. Im Anschluß an diese Versuche über Richtungsbestimmungen will ich schließlich noch kurz über neuere diesbezügliche Arbeiten von F. Küiebitz I08 Gustav Eichhorn. mit seinen Erdantennen, die am Anfang dieses Aufsatzes behandelt wurden. berichten.’ ) In bezug auf ihre Richtwirkung verhalten sich auch Paare von Erd- antennen ähnlich wie Paare von Luftleitern. Wie ich es in meinem frü- heren Aufsatze in dieser Zeitschrift (III. Band) auseinandergesetzt habe. ergibt ein Antennenpaar eine bevorzugte Strahlungsrichtung und ein scharfes Minimum. Zu Anfang des vorliegenden Aufsatzes wurde schon bemerkt, dal) die Erdantennen wirken wie metallische Einlagerungen von selektiver Leitfähigkeit, also wie abstimmbare Gebilde in einem Halbleiter. Wie Kiebitz ausführt, beruht ihre Strahlungsfähiekeit daher darauf, dal) elektrische Verschiebungsströme in der Nähe der Antenne in das Erdreich eindringen bis zu einer gewissen Tiefe, die von der Boden- beschaffenheit abhängt: in tieferen Schichten schließen sie sich ganz durch den Leitungsstrom. Man sei darum berechtigt, die Fernwirkung einer Erd- antenne aufzufassen als die Vektorsumme der Fernwirkungen einer stetigen Folge von Dipolen mit senkrechter Achse: die Summenwirknng Kann man ersetzt denken durch die Wirkung eines einzigen gleichartigen Dipols. — Die Fernwirkung eines Paares von Erdantennen stimmt dann überein mit derjenigen von zwei gleichwertigen Dipolen mit senkrechten Achsen. Darum sind die Riehtungsunterschiede dieselben wie bei einem Paar von Luft- leitern. Die von Aiebitz mit Erdantennen angestellten zahlreichen Rich- tungsbestimmungen nach dem radiogoniometrischen Prinzip ergaben die Richtigkeit dieser Überlegungen. Beobachtete kleine Abweichungen und ge- wisse merkwürdige Schwankungen sind ohne Zweifel in der unhomogenen Beschaffenheit der Erdoberfläche und ihrer Veränderung mit der Wetter- lage zu suchen. So ließ sich beispielsweise bei einer Serie von Ver- suchen der Sinn der Abweichungen erklären durch die Annahme, daß die nördlich von Belzig liegenden Havelseen die Wellenausbreitung begünstigen und der Wellenfront eine den Seen zugeneigte Richtungsänderung erteilen. Beim gerichteten Empfang von Norddeich und vom Eiffelturm fiel besonders auf, dal es wohl gelang, je nach der Richtung ein lautes Maxi- mum und ein leises Minimum der Zeichen einzustellen, doch war die Emp- fangsstärke für keine Richtung Null. Diese Erscheinung erklärt Kiebitz so, daß auf dem Wege über viele hundert Kilometer die Welle durch Berge, Flüsse, Wälder, Städte, Wolken oder inhomogene Schichten im Erdinnern gebeugt und allmählich teilweise diffus werden. Kiebitz berichtet ferner noch folgendes: Wurden die wagrechten Erd- antennen mit freien Enden benutzt, so war in der Regel die Fernwirkung einer einfachen Antenne mit geringer Richtfähigkeit größer als die eines Krdantennenpaares mit starkem seitlichen Minimum. Dagegen wurde mit dem Antennenpaar größere Fernwirkung erzielt, wenn an die Außenenden Lei- ddener Flaschen mit geerdeter Außenbelegung angeschlossen wurden, deren !) Ausführlicher Bericht ist inzwischen im 1. Heft des VI. Bandes des „Jahr- buches“ erschienen. Neuere Fortschritte in der Radiotelegraphie. 209 Kapazität der Kapazität der benutzten einfachen Leitung ähnlich war. An wagrechten Antennen mit Erdkondensatoren wurden um so stärkere Rich- tungsunterschiede beobachtet, je kleiner die benutzte Wellenlänge war. Fig. 61 zeigt die benutzte Schaltung. Z bedeutet den 250 m langen wagrechten Leitungsdraht, 7 eine Leidenerflasche, 5 eine Koppelungs- spule, © einen Abstimmkondensator, & und E, sind Erdleitungen. Die An- ordnung entspricht einem Paar von unsymmetrischen und unsymmetrisch er- regten Erdantennen und ergab in der Richtung der Leitung größere Fern- wirkungen als in der Seitenrichtung, sowohl beim Senden wie beim Emp- fang. Zur Erklärung dieser Erscheinungen denkt Kiebitz sich die Fern- Fig. 61. zZ _ A —— - Nez £ £; - + wirkung der ganzen Anordnung ersetzt durch die Fernwirkung von zwei ihr gleichartigen Dipolen, die mit entgegengesetzter Phase und verschie- denen Amplituden schwingen, und führt eine Rechnung durch. Wie man erkennen wird, drängte sich hier wieder eine Fülle von Fragen auf, die noch lange Zeit die besten Köpfe unserer theoretischen Physiker beschäftigen werden. Den jetzigen Bericht will ich mit dem Hinweis abschließen, daß die schon vorher kurz erwähnte internationale Konferenz für Radiotelegraphie in London nunmehr endlich zur Festlegung einheitlicher und allgemein- eiltiger Bestimmungen für alle Länder gelangt ist, wodurch die Radio- telegraphie noch weit mehr als bisher zum Nutzen und Segen des Ver- kehrs, besonders in der Seeschiffahrt dienen wird. E. Abderhalden, Fortschritte. VII. 14 Die Entstehung und Erwerbung der Menschen- merkmale. Von Hermann Klaatsch, Breslau. II. TEIL. Der Menschenfuß und der aufrechte Gang. Nachdem im I. Teil dieser Studien der Versuch gemacht wurde, die Stammesgeschichte der Menschenhand zu beleuchten, wenden wir uns nun einer gleichen Prüfung des Menschenfußes zu. Daß diesem Teile bei der zoologisch-systematischen Betrachtung des Menschen die allergrößte Bedeutung zukommt, ergibt sich aus der ein- fachen Feststellung der spezifisch menschlichen Gestaltung desselben. In der Tat ist die Ausprägung eines solchen Stützapparates, für den die mächtige Ausbildung des innersten, der den Fingern entsprechenden Strahlen typisch ist, em nur dem Menschen zukommendes Charakteristi- kum. Es genügt für sich schon, um eine zoologische Sonderstellung zu begründen und ist zugleich die einzige Einrichtung des menschlichen Or- ganismus, die sowohl auf den ersten Blick, als auch bei eingehendster Untersuchung unbedingt als absolut unterscheidendes Merkmal sich be- währt. Außer der starken Ausbildung des innersten Strahles, des Hallux, der dem Pollex der Hand entspricht, ist es der nahe Anschluß dieser „großen Zehe“ an die zweite, der zur Definition des Menschenfußes hinzugenommen werden muß. denn ohne diesen Zusatz würde der Fuß des Gorilla nahezu mit in die menschliche Klassifikation aufgenommen werden können, wie er denn auch wirklich die relativ menschenähnlichste Ausbildung des End- abschnittes der hinteren Gliedmaße darstellt, die überhaupt vorkommt. Ohne die Betonung der starken Ausprägung des innersten Strahles würde die Fußbildung beim Bären als der menschlichen sehr ähnlich bezeichnet werden können, denn hier ist die erste Zehe auch den anderen senähert und bildet mit ihnen einen Stützapparat, der bekanntlich eine Aufriehtung des Rumpfes begünstigt. Aber weder der Bärenfuß, noch auch der des Gorilla reicht an «den Menschenfuß in physiologischer Vollkommen- heit heran. Erscheint doch der letztere für die Aufgabe, das Gewicht des Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 2711 aufgerichteten Körpers zu tragen, geradezu wie geschaffen. Kein Wunder daher, daß man den offenkundigen Zusammenhang zwischen Stützfuß und der Befähigung zu aufrechter Körperhaltung beim Stehen und Gehen in dem Sinne zu deuten suchte, die Eigenart des Menschenfußes sei durch den „aufrechten Gang“ bedingt. Eine genauere Analyse dieses Causalnexus wurde nicht vorgenommen. Die Tatsache, daß der menschliche Stützfuß außerordentlich günstig be- schaffen ist, um die Last des aufrecht gestellten Achsenskeletts und des Kopfes zu tragen, beweist als solche noch nicht, daß der Fuß infolge solcher Belastung seine Eigenart erlangt habe. A priori könnte man um- gekehrt argumentieren: Der Fuß hat in Anpassung an Bedingungen, die vorläufig als unbekannte Größe gelten sollen, gewisse Eigentümlichkeiten erlangt und diese erweisen sich als sehr geeignet, eine Balancierung von wumpf und Kopf zu gestatten. Wie für jede andere Lokomotionsmethode, so verlangen wir heute auch für den aufrechten Gang des Menschen eine genetische Betrachtungs- weise und von einer solchen kann naturgemäß erst dann die Rede sein, wenn man sich über die Art und Weise der Bewegung und Körperhal- tung der früheren tierischen Ahnen des Menschen einigermaßen im Klaren ist. Es verhält sich damit ganz ähnlich wie z.B. bezüglich der Erklärung des Flugvermögens. Daß die Flügel nicht ohne weiteres als Anpassung an das Fliegen entstanden sind, ist klar. Wir verlangen mit Recht zum Ver- ständnis des hoch entwickelten Endzustandes vorbereitende Einrichtungen. wie sie bezüglich des Fliegens offenbar in den so weit verbreiteten Flug- hautbildungen gegeben sind; diese lassen ein Springen und Fallen aus größeren Höhen als eine Vorstufe des Fliegens erscheinen und machen für die Ahnen der Vögel ähnliche Zustände wahrscheinlich, wie sie bei Ptero- sauriern sich finden und eine Analogie bei Flugsäugetieren besitzen. Welcher Art nun dieser niedere vorbereitende Zustand der Glied- maßen bei den Ahnen des Menschen gewesen sei, darüber haben wir be- reits im I. Teil einige Bemerkungen gemacht, sowohl in positiver als auch in negativer Richtung. Handelte es sich doch vor allem darum, die un- richtigen Vorstellungen zurückzuweisen, mit denen früher, wenn auch un- klar genug, bezüglich des Problems des „aufrechten Ganges“ operiert wurde. So lange man bei den tierischen Vorstufen des Menschen an ein „vierfüßiges“ Stadium dachte, mußte man die Annahme machen, daß das „zweifüßige“ sich durch eine Emporrichtung des Rumpfes aus horizon- taler in vertikaler Haltung unter Loslösung der vorderen Gliedmaßen vom Boden entwickelt habe, die nun aus Bewegungs- zu Greiforganen wurden und somit als Hände erst zu funktionieren begannen. Solche Vorstellungen lassen sich mehr oder weniger klar bis in die neuere Literatur verfolgen. Ihre Unmöglichkeit dürfte durch die Ausführungen des I. Teiles erwiesen sein. Die physiologischen Schwierigkeiten dieser älteren Vorstellungsweise werden recht deutlich durch das Experiment und die Tierdressur be- 14° 212 Hermann Klaatsch. leuchtet. Man hat Hunden die Vordergliedmaßen abgeschnitten (Fuld) und dieselben lernten, sich hüpfend wie die Känguruhs auf den Hinterbeinen fortzubewegen:; sie gewannen bezüglich ihres Rumpfes eine halb aufrechte Haltung, weiter brachten sie es nicht. Man würde die Resultate der Tier- ressur, der es gelingt, Pferde, Elefanten etc. für einige Zeit zum (Gehen auf den „Hinterbeinen“ zu bestimmen, nicht so sehr anstaunen, wenn man nicht das Unnatürliche solcher Haltung für die betreffenden Tiere deut- lich empfände. Keine Dressur würde es aber bis zur völligen Menschen- haltung ‘bringen, geschweige denn zum Handgebrauch der Vorderglied- maben. Das Irrtümliche der Vorstellung von einem „vierfüßigen“ Ahnenzu- stand des Menschen liegt in der Annahme der Möglichkeit, daß die End- abschnitte beider Gliedmaßen jemals ausschließliche Lokomotionsorgane gewesen seien. Wir haben ausführlich gezeigt, daß sie eine solche Speziali- sierung niemals eingegangen sind; wäre das bezüglich der Vorderglied- maße der Fall gewesen, so wäre eine Verkümmerung des 1. Strahles unausbleiblich gewesen. Die Erhaltung eines so zarten Gebildes wie des Daumens in seiner ursprünglichen Bedeutung ist nur begreiflich bei An- nahme dauernden Gebrauches als Teil eines Greiforganes. Durch jeg- liche Spezialisierung des Gliedmaßengebrauches zum Graben, Fliegen, sogar bestimmte Arten des Kletterns dem Untergang preisgegeben, konnte das künftige Kulturorgan in der tierischen Ahnenreihe nur durch günstige Bedingungen erhalten bleiben, wie man sie am ehesten noch durch das Baumleben der Halbaffen, die ja die Hand voll und ganz bewahrt haben, sich vergegenwärtigen kann. Nahezu ein Wunder bleibt freilich diese Durch- rettung der Menschenhand und ihre Combination mit der Gehirnentfaltung (ef. 1. Teil, pag. 347). Ein solches Prosimiern ähnliches Baumleben läßt uns für die ganze Haltung des Körpers nicht die horizontale Rumpflage der Vierfüßler, son- dern eine halbaufrechte Kletterhaltung als Ausgangspunkt für den Menschen erkennen. Aus einer halbaufrechten Haltung aber ist die völlige Aufrich- tung kein phvsiologisches Unding mehr. Nun kann man freilich als scheinbaren Einwand betonen, daß doch schließlich auch dieser halbaufrechte Zustand aus einem etwa dem der jetzigen urodelen Amphibien ähnlichen einer horizontalen Kriechhaltung sich entwickelt haben müsse. Das ist natürlich vollkommen richtig, aber gerade dieses Zugeständnis schließt die Bestätigung dafür in sich, daß die erste Phase der Aufrichtung — aus horizontal in halbaufrecht — eine in der Vorgeschichte des Menschen unendlich weit zurückliegende ist, die er mit den Vorfahren aller Landwirbeltiere teilt, ja die höchstwahrscheinlich be- reits bei dem Übergang vom Leben im Wasser zu der Luftatmung ange- bahnt und teilweise vollendet wurde. Wenn wir auch freilich über die physiologischen Bedingungen bei diesem Übergang vom Kiemen- zum Lungenstadium noch wenig aussagen können, so ist doch so viel sicher, dab ein Aufsteigen aus dem feuchten Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 213 s oO L [2 Element dabei eine Rolle gespielt haben muß, ein Hinaufbewegen, sei es nun aufs Land direkt, oder, was wahrscheinlicher ist, auf Bäume, die im Wasser wurzelten, wie die schwimmenden Wälder der Kohlenperiode sie dar- stellten. Wir brauchen uns durchaus nicht auf Einzelheiten hierbei einzu- lassen oder den Versuch zu wagen, die Lücke unserer Kenntnisse dureh Spekulationen ausfüllen zu wollen, das Resultat ergibt sich ganz von selbst und unbestreitbar, daß eine Art von Kletterbewegung, somit eine Empor- richtung des vorderen Körperendes, endlich eine Arbeitsteilung zwischen der vorderen und der hinteren Gliedmaße bereits in diesen ältesten Zuständen der Entfaltung von Landwirbeltieren eine wichtige Rolle spielten. Im Lichte dieser Betrachtung dürfte die Entstehung des sogenannten Gliedmaßenwinkels, des Ellbogen- und Kniewinkels von Interesse sein. Dab die verschiedene Stellung des Cubital- und des Kniegelenkes auf eine Arbeitsteilung der Gliedmaßen hinweisen, haben Auzxleg und Gegenbaur zuerst genauer gewürdigt. Letzterer wies darauf hin, dab die vordere Gliedmaße den Körper nach vorn zieht, daß die hintere dabei nachschiebt. Diese von Hatschek, Wiedersheim und anderen Morphologen akzeptierte Auffassungsweise stellt sich den Körper des Wirbeltieres in horizontaler Haltung vor — in der Kriechstellung etwa der Molche. Im Rahmen der hier vorgetragenen Auffassung läßt sich diese Ar- beitsteilung von „Arm“ und „Bein“ noch viel besser verstehen, wenn man dabei an ein Emporklettern denkt; dann wird die Funktion der vorderen Gliedmaße noch viel deutlicher, indem es sich dabei um ein Emporziehen des Körpers handelt, wozu die genau nach hinten gestellte Knickung des Cubitalwinkels sich vorzüglich eignet — noch besser als zu einem Vor- wärtsziehen auf ebener Erde. Die Betrachtung der Gangweise z. B. der gefleckten Salamander zeigt ja deutlich, daß die Gliedmaßen anfangs nur einen Teil der Lokomotion besorgten:; die starken schlängelnden Biegungen des ganzen Rumpfes erinnern durchaus noch an die schwimmende Be- wegungsweise, wobei die Gliedmaßen abwechselnd nach vorn geworfen werden; in der Art des Aufhebens der „Hände“ und „Füße“ vom Boden ist noch die Erinnerung an die Flossenbewegung unverkennbar. Die Arbeitsteilung zwischen Vorder- und Hinterflossen fehlt bei Fischen ja keineswegs und ist mit Rücksicht auf die Entstehung der Land- wirbeltiere bei dem Dipnoer Ceratodus von ganz besonderem Interesse. Hier schiebt bereits die Hinterflosse durch ihre Drehbewegungen den schwerfälligen Rumpf vorwärts, wie Hatschek treffend gezeigt hat. Leider besteht bei den Cronopterygiern, die durch ihre Vorderflosse für die Entstehung der Landwirbeltiere wichtige Anhaltspunkte liefern (ef. I, pag. 338 ff.), eine teils gänzliche, teils partielle Rückbildung des hin- teren Flossenpaares. Als eine interessante Konvergenzerscheinung zu dem Cubitalwinkel der Landwirbeltiere verdient die Flossengestaltung des bekannten Knochen- fisches Periophthalmus angeführt zu werden, der als Bewohner der 14 Hermann Klaatsch. Küsten in den Tropen der alten Welt, Afrikas, der Südseeinseln, Nordaustra- liens usw. eine Art von amphibischer Lebensweise führt, indem er an den Manerovenstiämmen in die Höhe steigt und auf dem bei der Ebbe zutage tretenden Uferschlamm umherhüpfend lange Zeit außer Wasser verweilt. Auch vermag sich dieser Fisch springend über die Wasseroberfläche fort- zubewegen. Die Brustflossen von Periophthalmus zeigen eine Winkelknickung nach hinten, wodurch der Flossensaum zum Aufsetzen auf feste Unterlage be- ähiet wird. Ohne entsprechende Gliederung im inneren Bau und ohne jegliche verwandtschaftliche Beziehung erinnert diese Haltung der Vorder- sliedmaße an diejenige von Amphibien. Als Parallelerscheinungen zu den in der Vorzeit wohl mehrfach er- folgten und sicher vielfach mißlungenen Versuchen des Überganges vom Wasseraufenthalt zu dem an der Luft verdienen diese Kletterfische eine noch eingehendere Beachtung als bisher. Die rein physiologische Umstellung eines Teiles der Flosse bei Peri- ophthalmus weist uns auf die Ursache der Entstehung der Gliedmaßen- winkel hin. Sie sind eine notwendige Folge des Aufsetzens auf eine Fläche; der distale Teil der Flosse wird abgebogen gegen den proximalen oder Stielteil. Durch Vergleichung der Vordergliedmaße eines Molches z. B. mit derjenigen von Polypterus kann man sich diese verschiedenen Stellungen leicht vergegenwärtigen. Es zeigt sich hierbei, dal) die mediale, dem Körper in der horizontalen Haltung der Flosse zugekehrte Fläche zum Aufsetzen dient, sie wird zur Volarfläche der Hand und der bei ersterer Haltung caudal gekehrte Rand, den das Propterygium einnimmt, wird nun zum la- teralen, an welchem sich das Propodium (Ulna) befindet. Der cranialwärts. gekehrte Rand, dem Metapterygium entsprechend, ist nun vom Metapo- dium (Radius) eingenommen. Aus einer solchen Biegung hat sich dann erst allmählich eine Ab- kniekung entwickelt. Für das Verständnis dieses Vorganges, der mit der Ausbildung des Oubitalgelenkes einhergeht, sind die hypothetischen Vor- stufen des Cheiropodiums wichtig, an denen die Entstehung eines Stylopo- diums durch Verschmelzung der distalen Teile von Pro- und Metaptery- gium (cf. I, page. 339, Fig. 145, 146) wahrscheinlich gemacht werden konnte. Die Umgestaltung des Ruderorgans in eine Hebelvorrichtung macht phy- siologisch die Sonderung im Skelettmaterial verständlich: Der ursprüng- liche Hauptteil des Ganzen, das Mesopodium mit seinen Rand- und End- strahlen wird unter Verringerung des Volumens und der Zahl zu Vorder- arm und Hand. Das Mesopodium gleitet zwischen den Randstrahlen (Mar- einalien, Radius und Ulna) distalwärts. Der aus Verschmelzung der beiden letzteren entstandene Stielteil gewinnt eine hohe mechanische Bedeutung. der eine beträchtliche Volumensvergrößerung entspricht, als knorpeliger Humerus wölbt er sich proximalwärts gegen die Vertiefung des Schulter- eürtels vor, der beim Ruderorgan an dieser Stelle (Cronopterygier!) um- gekehrt einen Vorsprung bildete. VERBRENNT DER E Fig. 62. Der zu den Gobiiden gehörende Knochen- fisch Periophthalmus, der an den Küsten der tropischen Meere der alten Welt eine am- phibische Lebensweise führt. Die Vordertlosse hat eine dem Ellbogen winkel der Lendenwir- beltiere entsprechende Knickung erfahren. (Nach Johnson, aus der bei R. Boug, Ber- lin, erscheinenden Zeit- schrift: „Wunder der Natur“ vom Verlag gütigst überlassen.) 216 Hermann Klaatsch. Über die mechanische Ursache der Continuitätslösung zwischen Stylo- podium und dem „Zeugopodium“ des Vorderarmes kann man verschiedener Meinung sein. Schon die ganz verschiedene Art der statischen Bedingun- sen ist hierfür wichtig: stellt sich doch mit der Bewegung außerhalb des Wassers eine bis dahin gänzlich fehlende Belastung ein, die aus der Bie- vung eine Kniekung zu gestalten vermag; wichtiger aber ist wohl die funk- tionelle Gestaltung, die in dieser Neuerung sich kundgibt. Es ist klar, dab erst hierdurch jene Gliederung in der Muskulatur möglich wird, durch welche die Umwandlung des Ruderwerkzeuges in ein Landbewegungsorgan gegeben ist. Die proxi- malen Teile der allgemeinen Flossenbeweger gewinnen Selbständigkeit, indem sie zum Cubitalwinkel Bezie- hung erhalten. Ein Teil der ursprünglich dorsalen und medialen Masse ge- winnt infolge der Anhet- tung an das Propodium (Ulna) nach Entstehung des Winkels die Bedeutung des Streckers, des Aus- gleichers des Cubitalwin- Fig. 63. kels. Eine schon bei den R Crossopterygiern geson- Die Extremitäten eines urodelen Amphibiums (Menobranchus) von der ventralen Seite gesehen: a vordere, 5b hintere. Der Kniewinkel ist direkt lateralwärts gerichtet zum Unterschied vom Ellbogenwinkel. der nach hinten und dorsal gerichtet bei dieser Ansicht gar nicht sichtbar ist. Für die Homologisierung der Flächen der Extremitäten ergibt sich hieraus ein Unter- schied: Distal vom Knickungswinkel sind Streck- und Beuge- flächen der beiden Extremitäten einander homolog, proximal davon aber entspricht die Streekfläche der hinteren Extremität derte vom Schültergürtel am unteren Rand der Glied- mabe bis zum freien Rande ziehende „zono-metaptery- ejale*“ Muskelmasse wird der lateralen Fläche der vorderen. Nach H. Klaatsch aus „Weltall und Menschheit II“. Vom Verlag Bong, Berlin, überlassen. zum Beuger des Vorder- arms. An der oberen und unteren Fläche der auf- vesetzten Endplatte des Chinopodiums erhalten sich die alten Zustände einer früher lateral und medial gelegenen, «distalwärts zu den Rand- strahlen divergierenden Muskelmasse; als extensores und ftlexores digi- torium begeemen sie uns bei den Landwirbeltieren, noch viel Primitives in ihrer ganzen Anordnung sich bis zum Menschen bewahrend, wie ja auch die ganzen Bewegungsweisen von Vorderarm und Hand, namentlich in Supination und Pronation nach vielfach an den Mechanismus der Flosse und besonders die Drehungen derselben erinnern. Wir sind auf diese Voreänge an den vorderen Gliedmaßen deshalb etwas genauer eingegangen, weil es für die Beurteilung des Wesens der Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. | hinteren Gliedmaßen von prinzipieller Bedeutung ist, zu wissen, inwie- weit dieselbe mit der vorderen in ihrem Entwicklungseang überein- stimmt. Das vielumstrittene Problem der sogenannten Homologie der Glied- maben wollen wir hier nicht weiter behandeln. als für unser eigentliches Thema unerläßlich ist. Es mag hier nur bemerkt werden, daß bei der vielfachen Erörterung dieses Problems häufig keine richtigen Fragestellungen der zum Teil übertriebenen De- tailforschung zugrunde gelegt wur- Fig. 64. den. Mehr als einmal ist der fehler- hafte Versuch gemacht worden, von 3 Border den Säugetieren aus diese Dinge K ee entscheiden zu wollen, stammes- Scapuia / geschichtlich späte Zustände als | Ausgangspunkt zu nehmen, wäh- \ 7 rend die ausschlaggebenden nie- N 2 deren und ältesten Phasen der Phylogenese vernachlässigt wur- den. Eine Berücksichtigung dieser Betunde namentlich bei Amphibien hätte manche unnütze Arbeit er- sparen können, indem sich ganz deutlich zeigt, daß von einer kom- pletten Homologie der vorderen und hinteren Extremität überhaupt gar nicht die Rede sein kann, dab daher viele der zum Teil zumeist gezwungenen Vergleichungsver- suche gewisser Muskelgruppen miteinander a priori bereits als völlig vergebliche Liebesmühe sich ‚darstellen. N . n s Skelett der vorderen und hinteren Extremität eines Das unzweifelhaft Gemein- urodelen Amphibiums (Menobranchus). Links Ober- same ist gegeben -in der gesamten sm und Vorderarm, hoide in der Ansicht von außen. x atn \ a Die verschiedene Stellung der Gliedmaßenwinkel tritt Anlage, dem Bestehen des Meso- deutlich hervor. Am Zeugopodium liegen hinten Fi- ” Se Gorarpid podium, der beiden Marginalien Bulls zig unds vornBelubrnzeteilius; und der Endstrahlen oder Acti- (Aus „Weltall und Menschheit“, IT.) nalien, ferner in der Beschrän- kung der letzteren auf die Fünfzahl und in der besonderen Ausprägung des 1. Strahles, der auch hier dem metapodialen Rande angehört, als eines ‘opponierbaren Gebildes, des Hallux, der dem Pollex entspricht. Diese Gleichartigkeit des Urzustandes der Landgliedmaßen oder Cheiropodien läßt sich nur dadurch erklären, daß sie vorn und hinten sich in analoger Weise von einander ähnlichen Flossengebilden, Cheiropte- rygien aus entwickelt haben. 218 Hermann Klaatsch. Dal eine völlige Gleichheit des Baues der letzteren bestanden habe, ist dureh die deutlich verschiedene Funktion der Flossen schon bei Fischen wie Ceratodus auszuschließen und überhaupt a priori gar nicht denkbar. Noch weiter zurück verliert sich die Vorgeschichte der Extremitäten in völlizes Dunkel, so daß auf die höchstwahrscheinlich schon auf den aller- seltensten Stufen vorhandenen Verschiedenheiten zwischen vorderer und hin- terer Urflosse nicht eingegangen werden kann. Die ungeheuren Schwierig- keiten des Problemes der Entstehung von Wirbeltierflossen!) überhaupt wurde schon im I. Teil dargestellt und betont, daß eine Theorie des Ur- zustandes‘ der paarigen Extremitäten nur dann befriedigen kann, wenn sie die Existenz der vorderen und hinteren erklärt, in erster Linie über- haupt die Vierzahl. Die schon dort gegebene Andeutung der gemeinsamen Wurzel der Flossenfische und Landwirbeltiere ist für unsere jetzige Be- trachtung insofern wichtig, als sie neben der Arbeitsteilung auf gewisse gemeinsame Leistungen hinweist, die für die ältesten Landwirbeltiere als gesichert gelten kann. Wir erkennen diese Funktion in der des Land- wirbeltierfußes als eines Greiforganes. Es ist eine logische Konsequenz, auch für den Fuß die strenge Pentadaktylie mit der Opponierbarkeit des Hallux in genetischen und kausalen Connex zu bringen, wie das für den Pollex bereits (I, pag. 332, 342) geschehen ist. Da das Greifen an Kletterbewegungen denken läßt, so wird auch von dieser Seite her die Berechtigung der oben gegebenen Betrachtung über die Entstehung des Cubitalwinkels und die primitive Funktion des Armes als Emporzieher des Körpers bestätigt. Noch eine andere Ein- richtung kann möglicherweise von diesem Gesichtspunkte aus verständlich werden, das sind die Nagelbildungen. Versucht man die Stammesgeschichte der terminalen Horngebilde. die wir bei allen Reptilien und Säugetieren finden, bis zum Übergang vom Kiemenstadium zur Luftatmung zurückzuverfoleen, so haben wir in erster Linie diese Einrichtungen als einen gemeinsamen Besitz der Landwirbel- tiere aufzustellen. Das Fehlen derselben bei der Mehrzahl der heutigen Amphibien wird daran nicht irre machen können. Das ist lediglich Rück- bildung. Solche Reduktion kommt auffälligerweise auch am Hallux von Didelphys und an dem des Orang-Utan vor. Morphologische Vermittlungsstufen zwischen der Hautsaumbildung der Flossen und der zerlegten Schwimmhaut des Chiridiums fehlen gänz- lich, aber eben diese Schwimmhaut, die ja beim Menschen in recht be- trächtlicher Ausdehnung bestehen bleibt, am Fuß sogar sekundäre Ver- ') In neuerer Zeit hat man bezüglich der Hautfaltentheorie an einen Urzustand wie beim Amphioxus gedacht und die Metapleuralfalten des letzteren mit herangezogen. Dieser Punkt ist in der Tat der Erwägung wert. Angenommen, der Peribranchialraum sei ein Besitz der Stammformen aller Wirbeltiere und habe sich zurückgebildet, so würden die ihn bildenden Hautfalten zum Teil in den Dienst der Lokomotion und der jalancierung haben übergehen können, während für einen anderen Teil des Peribran- chialraumes die mehrfach vermutete Homologie mit dem Vor- respektive Urnierengang fortbestehen würde. Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 219 stärkung erfahren kann (s. u. Syndaktylie), weist ja auf das Gemeinsame hin. Der Stützapparat des Hautsaumes, der bei den Fischen durch die Hornstrahlen eine so reiche Entfaltung zeigt, ist beim Chiridium in Fort- fall gekommen; es liegt nahe anzunehmen, dal die Betätigung des Haupt- saumrandes nach einer neuen Richtung hin, nämlich durch die Lieferung von Horngebilden, eine Art Ersatz für die früher nach innen erfolgende Abscheidung von Material darstellt. Eine Zwischenstufe, ein Vorbereitungsstadium für die Nägel ist funk- tionell vorläufig nicht nachzuweisen. Es ist aber auch die Urleistung dieser Horngebilde als solche nicht klargestellt. Wohl aber ist man über die Urform ziemlich einig, nämlich daß es wirklich terminale Gebilde waren, ähnlich den Krallen der Chelonier mit Nagelrücken und Sohlenhorn. Diesem Urzustand steht der Befund des Vornagels am menschlichen Em- bryo sehr nahe (7. Frieden- thal). Dab kleine Krallen Fig.65. beim Klettern sehr gute Dienste leisten, ist bei man- chen Beuteltieren und Na- gern festgestellt worden. In dieser Richtung liegt am wahrscheinlichsten die Ur- leistung der Nagelgebilde bei den ältesten Landwirbel- tieren. Daß der hintere Glied- mabenwinkel, die Knie- kniekung, der des Ellbogens : Er entgegengesetzt sei, d. h. fossenähnlichen Anlagen der Extremitäten zu zeigen, Supi. E = B nationshaltung der hinteren Extremitäten. Stellung des Knie- nach vorne gerichtet, ist die winkels nach außen. allgemein geläufige Darstel- Nach Prof. Mellier. lung des Sachverhaltes. Geht man von der Vorstellung der Belastung der Ektremitäten durch den Rumpf aus, so erscheint es ganz plausibel, dal) die Knickung vorn und hinten aufein- ander zu gerichtet erfolgt sei. Diese Auffassung besteht aber bei genauerer Betrachtung nicht zu Recht. Es zeigt sich nämlich deutlich, daß die ursprüng- liche Stellung des Kniewinkels genau lateralwärts gerichtet ist. So verhält es sich in den Jugendzuständen aller Landwirbeltiere, den Menschen nicht aus- genommen. Bei den urodelen Amphibien bleibt dieses Verhalten dauernd be- stehen. Der Gangmechanismus eines Salamanders läßt deutlich erkennen, daß bei den schlängelnden Bewegungen des Rumpfes die abwechselnd nach vorn gesetzten „Füße“ ein Abstoßen besorgen, wobei die beiderseitigen Ober- schenkel annähernd in einer Richtung senkrecht zur Wirbelsäule ge- stellt sind, relativ nur geringe Exkursionen im Hüftgelenk ausführend.t) 1) Diese Betonung der ursprünglich lateralen Richtung des Kniewinkels läßt meine Darstellung von der allgemein üblichen, z. B. auch von Hatschek vertretenen, etwas 320 Hermann Klaatsch. Leistung des Vorwärtsschiebens ist die offenbar funda- mı stieunge des Gliedmaßengürtels an der Wirbelsäule ganz not- W ıl aus der gemeinsamen Aktion von Wirbelsäule und hinterer it wie bei den Salamandern auch verständlich. Der ursprüngliche Zustand der von der Körperachse aus senkrecht enden Stellung des Stylopodiums prägt sich noch in der Gestaltung menschlichen Femur aus. Dasselbe erfährt in sich selbst eine Abknicekung, Skelette von Reptilien, oben Uromastix, unten Draco volans. Stellung der Gliedmaßenwinkel an der vorderen nach hinten, an der hinteren nach außen. Die Fibula steht hinter der Tibia. Zu ıchten ıst ferner die im Mittel vertikale Stellung des Femur zur Wirbelsäule (Aus „Weltall und Menschheit“, 1I.) die zur Sonderune des Halsteils von den des Schaftes führt. Der erstere behält die ursprüngliche Stellung bei, der Schaft folgt der sekundären Richtung des Knies nach vorn bei der aufrechten Haltung. So erklärt sich abweichend erscheinen. Es erreben sich hieraus naturgemäß auch andere Deutungs- weisen beim Homologisierungsversuch der Muskeln. Vom Gliedmaßenwinkel distalwärts ist ein solcher einigern n erfolgreich möglich, nicht aber proximal davon. Nach meiner Auffassung ist die ursprünglich lateral, später nach vorn gekehrte Fläche (Streekfläche) der hinteren Extremität dem lateralen Randteil der vorderen ent sprechend, während die „B efläche* der hinteren Extremität mit dem medialen Ranld- teil des Armes in Parallele zu setzen wäre. Untersuchungen, die ich über diese Fragen ehon vor langer Zeit angestellt habe, sind infolge der Verdrängung durch andere Ar- beiten bisher nicht publiziert worden Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 22} die Ausprägung des Winkels zwischen Collum und Schaft, der bekanntlich stark variiert. Je mehr sich dieser Winkel 180° nähert, um so ursprünglicher ist der Zustand; die Australier mit ihrem steilen Schenkelhals verhalten sich darin primitiver als andere Menschheitsgruppen; bei den „vierfüßigen“ Säugetieren wird diese Abknickung noch stärker und der Winkel ein rechter — nun findet sich jene Gegenüberstellung des vorderen und hin- teren Gliedmaßenwinkeis, die mit dem Stützen eines stark vom Boden an- gehobenen Rumpfes und einer mehr in sagitaller als in seitlicher Richtung erfolgenden Bewegung der Wirbelsäule harmoniert. Es ist sehr wichtig festzustellen, daß ein solcher extremer Grad quadrupeder Beschaffenheit nicht in die menschliche Vorfahrenreihe auf- zunehmen ist. Soweit es sich um die Ahnenstufen des Menschen als Säuge- tier handelt, ist im physiologischen Sinne ein „quadrumaner“ Urzustand anzunehmen, der mit halb aufrechter KRletterhaltung verbunden sich noch heute bei den Halbaffen findet. Die Kletterbeuteltiere wie Phalangista schließen sich diesem Verhalten ganz nahe an, nur ist bei ihnen der Hand- charakter an der vorderen Extremität undeutlich geworden, indem der Daumen seine Eigenart zum Teil einbüßte. Der Greiffuß aber besteht voll- ständig mit einigen Besonderheiten der zweiten und dritten Zehe (Fig. 76). Die Veränderung ihrer Phalangen, die den Namen Phalangista ver- ursacht, besteht in einer Verkürzung und Verkleinerung, mit der eine stärkere Vereinigung der beiden Zehen einhergeht. Diese Syndaktylie bei Marsupialiern ist eine interessante Konvergenzerscheinung zu dem, was sich bei manchen Gibbons findet, deren eine Varietät sogar hiernach die Bezeichnung syndactylus erhalten hat. Bemerkenswert ist, daß auch am Menschenfuß als eine häufige Varietät eine stärkere Erhaltung der gemeinsamen embryonalen Schwimm- haut gerade zwischen zweiter und dritter Zehe beobachtet wird. Daß die Opponierbarkeit der ersten Zehe bei den Beuteltieren klettern- der Lebensweise einen ursprünglichen Säugetiercharakter darstellt, hat be- reits Karl Vogt richtig erkannt. Seitdem haben sich zahlreiche Beweise dafür gefunden, daß alle Beuteltiere von solchen kletternden Formen ab- geleitet werden müssen. Die deutlichsten Beweise hierfür liefert die rudi- mentäre erste Zehe, die selbst noch da ihre dem Daumen ähnliche Be- schaffenheit behält, wo die Gestaltung des Fußes jegliche Greiffunktion aus- schließt, wie z. B. an den hinteren Extremitäten des fossilen Riesenbeutlers Diprotodon (Fig. 77). Auch bei einer den Känguruhs nahe verwandten Form Hypsiprymnoden findet sich dieser Fußdaumenstummel. Hieraus gewinnt die von dem belgischen Paläontologen Dollo zuerst vertretene Anschauung immer mehr Stütze, wonach sämtliche heutige Marsupialier sich von kletternden Formen mit Greiffuß ableiten. Die auffallende Ähnlichkeit eines solchen in seiner einfachsten Form, wie z. B. bei Didelphys, wo die bei Phalangista bestehende Besonderheit der zweiten und dritten Zehe nicht ausgeprägt ist, mit den Gangspuren jener triassischen Fossilformen, 292 Hermann Klaatsch. die als „Uheirotherien“ bezeichnet werden. ist schon von den ersten Unter- suehern derselben bemerkt worden, obwohl sie zunächst an die Zugehörig- keit zu großen Amphibien dachten. Cheirotherienfährten aus der Trias. Unten eine menschliche Hand zur Größenvergleichung. Die Fußspuren (resp. die Ausfüllungen derselben) zeigen einen starken opponierbaren, mit dem Endglied umgebogenen Hallux. Die Spuren der Hände sind viel kleiner und liegen unmittelbar vor denen der Füße. (Aus „Weltall und Menschheit“, II.) Im I. Teil haben wir diese Fährten bezüglich der Pentadaktylie ver- wertet und abgebildet. Hier müssen wir auf dieselben noch einmal zurück- kommen, insofern sie für das Problem einer primitiven Fußform der Säugetiere von Bedeutung sind. Diese Betrachtung läßt sich ganz unab- häneie von der anderen Frage anstellen, ob und mit welchen uns bisher bekannt gewordenen anderen Fossilresten diese Spuren eine Zusammengehörig- Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 2923 keit besitzen. Für die auffallend landähnlichen Fährten, wie sie zuerst bei Jiildburghausen bekannt wurden, hat man die Beziehung zu Stegocephalen vermutet: bei der zweifellos überaus primitiven stammesgeschichtlichen Stellung dieser Panzerlurche zu den Vorfahren der heutigen Reptilien und Säugetiere würde solche Zugehörigkeit der morphologischen Verwertung der Handfußabdrücke in keiner Weise Abbruch tun. Für die ähnlichen, noch viel älteren Spuren aus den in Thüringen gefundenen Tambacher Fährten aus dem Perm fehlt aber vorläufig noch die Kenntnis anderer Landwirbeltierreste. Diese älteren Abdrücke unterscheiden sich weniger vor denen der zugehörigen Hände, sind somit jedenfalls auch morphologisch noch primitiver. Sie erinnern auch mehr an die heutigen Amphibien. Die Vorder- und Hintergliedmaßen differierten weniger an Größe, als bei den trianischen Handtieren. Bei diesen haben die Fußabdrücke ungefähr die Größe von Menschenhänden, während die deutlich erkennbaren Handabdrücke bedeutend kleiner sind. Nicht nur in den Gliedmaßenproportionen erweisen sich die Triasformen als spezialisiert, sondern auch in der Fubbeschaffenheit selbst. Die Ver- eleichung mit den Füßen der Beutler und Prosimier zeigt, dal) die Cheiro- therien nicht mit der ganzen Fubfläche auftraten, sondern dal der Tarsal- abschnitt zum Teil angehoben war, und gerade hierauf beruht ja die sekun- däre Verstärkung der Handähnlichkeit. Diese als solche ist somit keine morphologisch wichtige Erscheinung, wohl aber ist die gerade in dieser Spezialisierung beruhende Annäherung der betreffenden Wesen aus der Sekundärzeit an primitive Mammalier so auffallend, daß der Schluß auf eine ähnliche Organisation der ganzen Gliedmaßen durchaus nahe liegt. Damit wird aber auch eine stammesgeschichtliche relativ nahe Beziehung zwischen den Cheirotherien und der Vorfahrenreihe der Säugetiere sehr wahrscheinlich. Daran ändern die offenkundigen Eigenarten der Cheirotherien nichts. Zu letzteren muß unter anderen auch die sonderbare Gestaltung der Hallux gerechnet werden, der mit seinem distalen Ende wie umge- bogen erscheint, wodurch sein Abstand von den anderen Zehen verstärkt wird. Eine ähnliche Umgestaltung findet sich bei rezenten Prosimiern in der klammerartigen Gestaltung des Fußes (und auch der Hand) mit der sekundär verstärkten Oppositionsstellung des ersten Strahles. Da die Tambacher Fährten dieses Abstehen des ersten Strahles in geringerem Grade zeigen, so ist die Fragestellung berechtigt, ob viel- leicht auch am Fuß der Säugetiere ein geringerer Grad der Halluxoppo- sition das primitivere sei, d.h. ob nicht auch bei den „Quadrumanen eine sekundäre Annäherung des Fußes an ein Handorgan stattgefun- den habe. Da bei den Prosimiern sich tatsächlich etwas derartiges findet, so ist auch für die Primaten Ähnliches nicht ohne weiteres abzulehnen. Diese Betrachtung ist wichtig für die Beurteilung des Menschenfußes und seiner Unterschiede von dem der Anthropoiden. Wirft man die Frage nach dem Urzustand auf, von dem die bezüg- lich der Abduktions- und Oppositionsfähigkeit des Hallux so auffällig ver- >94 Hermann Klaatsch. schiedenen Befunde bei Mensch, Gorilla, Schimpanse, Orang. und Gibbon sich herleiten lassen, so wären a priori drei Ansichten denkbar: erstens, dal) der menschliche Zustand sich Fig. 08. ableitet von einem solchen mit weit abstehender erster Zehe: zweitens dal) umgekehrt der Anthropoidenbefund der sekun- däre sei und dal) der mensch- liche als ganz primitiv zu gelten habe, so primitiv, dab er auf ein Ahnenstadium vor Entste- hung des Greiffußies aus einer mit fünf gleichartigen Strahlen versehenen Ruderplatte verwei- sen würde; drittens endlich, dal) ein mittlerer Zustand mäßiger Zwei junge menschliche Embryonen zur Vergleichung 24: E Y vd 5 a mit den Eidechsenembryonen, um die Gleichartig- Opposition deı Großzehe anzu- keit der Extremitätenanlagen zu zeigen. Stellung des nehmen sei und daß sich von Kniewinkels nach anßen. (Aus W. Leche, „Der Mensch“. Verlag G. Fischer, Jena.) diesem aus verschiedene Ent- wicklungsbahnen verfolgen lassen, deren Endergebnisse einerseits durch den menschlichen Zustand, andrerseits durch die- jenigen der vier An- thropoiden gegeben sind. Von diesen drei Möglichkeiten ist die zweite, so viel mir be- kannt ist, niemals ver- treten worden. Eine solche Auffassung wür- de auch vor den ein- fachen Tatsachen der Anatomie sowie der Embryologie nicht standhalten können. So sehr dieselben für die Hand die Primitivität Fig. 69. /wei menschliche Embryonen des zweiten Monats. Zu beachten die Stellung der Gliedinaßenwinkel in Vergleichung zu den Abbildungen x von Amphibien und Reptilien. Kniewinkel nach außen gekehrt. des Menschen bewel- Supinationsstellung der Füße. (Aus W.Leche, „Der Mensch“.) sen, so wenig für den Fub. Aus dem gemeinsamen Anfangszustand der Endplatten von vorderer und hinterer Extremität, der mit Schwimmhaut umhüllten Ruderplatte Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 225 geht der Fuß hervor, indem er ein durchaus handähnliches Stadium durchläuft. Für alle Strahlen ist zunächst ein radiäres Divergieren deutlich. Mit Verlängerung der der späteren Metatarsal- und Tarsalgegend gewinnen der II. bis IV. Strahl eine einander mehr parallele Richtung, während der erste Strahl deutlich daumenähnlich absteht. Embryonen des zweiten Monats zeigen diesen Zustand konstant. Auch stellt sich der Hallux hier bereits von stärkeren Dimensionen dar als die anderen Zehen, ist aber kürzer. Was nun den Grad der Ab- duktion des Hallux anbetrifft, so ist derselbe geringer als an den ausge- Fig.70. Schnitte von Unterschenkel und Fuß eines mensch- lichen Embryo aus dem zweiten Monat. Die Skelett- anlagen in Umrissen markiert. Fe Femnr, Ti Tibia, F Fibula, Ta, Tal. Talus, Cal. Caleaneus, Cub. Cuboid., Nav. Navieulare. CI, II Cuneiforme pri- mum und secundum, I—YV Metatarsalia. Zu beachten ist die dem erwachsenen Benuteltierzu- stand (Phalangista) ähnliche Gestaltung von Unter- schenkel und Tarsus, besonders das einem Inter- medium ähnliche Einschieben des Talus zwischen Tibia und Fibula. (Nach Henke und Reyher.) Menschlicher Embryo des zweiten Monats mit freigelegter Muskulatur der Extremi- täten. Der Fuß zeigt noch den abstehen- wachsenen Füben des Schimpanse. den Hallux. U P 1 A t} R . 1 k d u (Nach Pior Bird) nter den Anthr opo1den ommt der Zustand des Gorilla dem embryonalen Menschenbefund am nächsten. Von Orang und Gibbon muß) hierbei in An- betracht der starken Umgestaltung ihrer Füße zunächst abgesehen werden. Mit Rücksicht auf die oben aufgeworfenen drei Fragen spricht der menschliche Embryonalbefund ganz klar für eine Entscheidung im Sinne der dritten. Der menschliche Befund beim jungen Embryo steht dem ver- mittelnden Urzustand nahe. Aber nicht nur für diese, sondern auch für die Prosimier, Kletterbeutler und Cheirotherien gilt das Gleiche. Der mensch- liche Zustand läßt niemals eine solche extreme Abduktion des Hallux er- kennen, wie bei allen diesen Formen. Das ist um so bemerkenswerter, als die Entwicklung der ganzen unteren Extremität in ihrem distalen Teil unverkennbare Anklänge an jene primitiven Klettersäugetiere darbietet. E. Abderhalden, Fortschritte. VII. 15 RRIH Hermann Klaatsch. Die zuerst von Henke und Reyher beschriebenen früheren Stadien der Skelettanlage des Unterschenkelskeletts und des Tarsus gleichen derart den Zuständen erwachsener Rletterbeuteltiere, daß man geradezu von einem „"halangistastadium“ des Menschen spricht. Zugleich ist die Ähnlichkeit dieses knorpeligen Zustandes mit demjenigen der heutigen Amphibien sehr bemerkenswert. Wie bei den Urodelen schiebt sich der Talus einem Inter- medium ähnlich zwischen Fibula und Tibia ein. Die bereits oben betonte Fig. 72. ’ n = Nasenkapsel, sph = Sphenoidale, Keilbein, pe = Petrosum, Felsenbein, squ —= Squamosum, Schuppe des Schläfenbeines, occ — ÖOceipitale, Hinterhauptsbein, m — Meckelscher Knorpel, primitiver Unterkiefer, hy = Hyoid, Zungenbein. sc = Scapula, Schulterblatt, co = Coracoid, Anlage des Rabenschnabelfortsatzes des Schulterblattes, 4 = Humerus, OÖberarmknorpel, r = Radius, Speiche, uw = Ulna, Elle, ol = Öleeranon, Anlage des Kopfes der Ulna, ca = Carpus, Handwurzel, I—YV Strahlen der Hand. il = Knorpel des Os ilei, Darmbein, isch = Knorpel des Os ischii, Sitzbein, pw = Knorpel des Os pubis, Schambein, fe = Femur, Oberschenkelknorpel, ti = Tibia, Schienbein, fi = Fibula, Wadenbein, fa = Warsus, Fußwurzel, I—YV Strahlen des Fußes. Schwanzwirbelsäule Skelett eines menschlichen Embryo von 17cm Länge nach W. Hagen, etwas modifiziert. Die knorpligen Anlagen der Skelettstücke an vorderer und hinterer Extremität in ihren Homo- logien. Kniewinkel nach außen, Killbogenwinkel nach hinten gerichtet. Typische Supinations- stellung des Fußes. Stellung des Kniewinkels nach außen ist an den jungen menschlichen Em- bryonen ganz deutlich zu erkennen und damit ergibt sich die Supinations- stellung des Fußes, die auch im den späteren Monaten sich noch erhält. Diese ganze Haltung der unteren Extremität ist so typisch übereinstim- mend mit derjenigen der primitiven Klettersäugetiere, daß man erwarten sollte, über die stammesgeschichtliche Deutung derselben als einer Kletter- haltung, wie sie von mir aufgestellt und von Lazarus, Wiedersheim u.a. angenommen wurde, sei heute kein Zweifel mehr. Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. >27 Daß dieses aber nicht zutrifft. ergibt sich aus der folgenden Äuße- rung von Rudolf Fick in seinem vortrefflichen Handbuch der Anatomie und Mechanik der Gelenke, Ill. Teil. Fick schreibt pag. 656: „Auch der Annahme, daß die Supinations- stellung des fetalen Fußes in stammesgeschichtlicher Beziehung zum Kletter- mechanismus stehe, kann ich mich durchaus nicht anschließen, ich glaube vielmehr, daß sie eine einfache mechanische Anpassung an die Raumver- hältnisse im Uterus ist.“ Mit demselben Rechte könnte Fick auch die Stellung des Ellen- bogenwinkels auf Raumbeschränkung zurückführen. Es handelt sich hier doch um Organisationszustände, die im Lichte der vergleichenden Be- trachtung geprüft werden müssen. So wenig die verschiedenen Zustände der Gliedmaßen bei den Säugetierembryonen verschiedener Gruppen etwa durch Verschiedenheit embryonaler mechanischer Bedingungen erklärt werden können, so wenig ist es gestattet, fundamentale Organisations- zustände auf solche „Anpassung an Raumverhältnisse“ zurückzuführen. Ferner zeigen sich genau die gleichen Haltungen der Extremitäten beider Extremitäten bei den Beuteltieren außerhalb des Uterus im Beutel. Endlich wird diese embryonale Haltung ja auch gar nicht aufgegeben, nachdem die Raumbeschränkung aufgehoben ist. Fick selbst bildet ja auf Fig. 241 ein einjähriges Kind in typischer Supinationsstellung ab, das die Milch- flasche mit Händen und Füßen hält. Ich würde auf diese Äußerung kein weiteres Gewicht legen, wenn dieselbe nicht von einem von mir hochge- schätzten Kollegen stammte, der, wie ich mit Bedauern feststellen muß, auch meinen anderweitigen stammesgeschichtlichen Ausführungen über den Menschenfuß sehr wenig Verständnis entgegenbringt. worauf ich weiter unten noch einzugehen haben werde. Die späteren Embryonalstadien des Menschen lassen in der relati- ven Kürze der Zehen bereits eine Annäherung an den Endzustand erkennen, die als eine sekundäre Umwandlung gedeutet werden muß. So vereinigt dieser Befund bereits Sekundäres mit Primärem. In letzterem Sinne muß die Ein- beziehung des ganzen Tarsalgebietes in die Sohlenfläche aufgefaßt werden. Dieser Primatencharakter bedeutet die Fortführung eines ganz primitiven Landwirbeltierzustandes von einer Ahnenstufe aus, die noch jenseits der- jenigen der Cheirotherien auszusetzen ist.!) Die Anhebung des hinteren Teiles der Plantarfläche ist als eine unabhängig von einander immer wieder in den verschiedenen Tiergruppen erfolgte Erscheinung aufzu- fassen. Damit gelangen wir zur nochmaligen Feststellung der nicht mehr ursprünglichen Beschaffenheit der triassischen Cheirotherienfährten. Die sekundäre Handähnlichkeit derselben wird durch die Ausprägung der Ballen wesentlich erhöht. Diese Plantar- und Volarballen sind ein gemeinsamer Besitz der vorderen und hinteren Gliedmaßen, der auf die gemeinsame Funktion !) Bezüglich der Primitivität der ganzen Muskulatur der menschlichen Extremität :sei hier an das von mir behandelte Problem des kurzen Bicepskopfes erinnert. 15% 228 Hermann Klaatsch. der Lokomotion hinweist. In Ergänzung der Ausführungen des I. Teiles möchte ich hier noch bemerken, dal man gerade an diesen Hautpolstern recht gut den Charakter gemischter Funktion der Hand demonstrieren kann. Besitzt doch noch die Menschenhand in dem Hypothenar eine Art Sohlentläche, die ein Aufsetzen der Hand in Supinationsstellung gestattet. ohne dab die Aktionsfreiheit der Finger behindert wäre. Mit dieser Ar- beitsteilung an der Vola möchte ich die Ausbildung des Musculus palma- ris brevis in Zusammenhang bringen, für dessen eigentliche Bedeutung bisher, so viel ich weiß, keine Erklärung verursacht wurde. Es ist keine Erwerbung der Menschen, sondern ein allen Primaten gemeinsamer Be- sitz. der nur als ein muskulöser Rest der Palmarisschicht aufgefaßt werden kann, deren anderer Teil die Palmaraponeurose hervorgehen ließ. Ich bin eeneiet, ihm auch eine ähnliche Funktion zuzuschreiben, wie den Palmar- und Plantaraponeurosen, nämlich die tiefer liegenden Teile, Blutgefäße und Nerven vor Druck zu schützen. Den anderen Ballen, deren Hautbestandteil subeutane Fettpolster sind, kommt eine ähnliche Bedeutung zu. In meiner Arbeit über die Tastballen habe ich zuerst (1889) nachgewiesen. daß auf der Höhe dieser Ballen sich bei niederen Säugetieren die Anfänge des Hautleistensystems entfalten als Beginn eines Tastapparates, der von da aus allmählich die ganze Vola und Planta okkupiert. Auch hier zeigten sich die Befunde bei Kletterbeuteltieren und bei Halbaffen als stammgeschichtlich besonders wichtig. Eine reiche Literatur (Schlaginhaufen, Wilder) hat seitdem meine Befunde bestätigt. Die Gemeinsamkeit dieses Hautleistensystems am Menschenfuß und dem der Anthropoiden weist auf die gemeinsame Ausgangsform hin. Be- züglich des Skelettbaues hat Th. Huxley besonders scharf den gemeinsamen Urtypus für Mensch und Menschenaffe dargelegt und betont, daß trotz aller Handähnlichkeit die Hintergliedmaße der Anthropoiden doch die Bezeich- nung als Fuß behalten müsse. Er zeigte die prinzipielle Übereinstimmung nicht nur im Skelett, sondern auch in der Muskulatur. Besonderes Ge- wicht legt er mit Recht auf den Peronaeus longus, der an der Basis des ersten Metatarsalknochens angreifend physiologisch einen Opponens des Hallux darstellt, während ein dem Opponens des Daumens an der Hand ent- sprechender Muskel den Fuß der Menschen und der Menschenaffen fehlt. Vor allem betont /Zuxley die nahe Zusammengehörigkeit von Menschen und Menschenaffen auf Grund der Beschaffenheit des Fußes: „Hardlv any part of the bodilv frame, then, could be found bether caleulated to illustrate the truth that the structural differenzes between. Man and the highest Ape are of less value than those between the highest and the lower Apess than the hand or the foot.“ Er kann ihm an Wichtigkeit nur das Gehirn in dieser Hinsicht zur Seite stellen. Andrerseits wünscht er nicht dahin mil)verstanden zu werden, als ob er die offenbaren Unterschiede in der Fußbildung zwischen Menschen und Menschenaffen unterschätze „They are important enough in their way the structure of the foot beine in striet eorrelation with that of the rest Die Entsehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 229 of the organism in each case.“ Man könnte nun wohl erwarten, daß Huxley auf das Wesen dieser Unterschiede eingehen würde. aber das ist nicht der Fall. Es kam ihm (wie bei der Hand siehe I. Teil) in erster Linie darauf an, das Gemeinsame von Mensch und Menschenaffe zu betonen. Wir finden bei ihm keinen Versuch, das Problem des aufrechten Ganges zu lösen. Er beschränkt sich darauf, zu zeigen, dal) innerhalb der Anthro- poiden Verschiedenheiten bestehen, die er zum Teil bereits als Reduktions- erscheinungen deutet. Das geht allerdings mehr aus dem Zusammenhang hervor, indem er von niederen Affen sagt, daß dort die große Zehe bei Hapaliden noch unbedeutender sei als beim Orang. Huxley hat die Frage nach der Urform des Anthropoidenfußes gar nicht gestellt, daher konnte er auch nicht die einzelnen Zustände ver- gleichend verwerten. Bei einer solchen Betrach- tung ergibt sich nun ohne weiteres, daß der Gorilla dem mit dem Menschen gemeinsamen Urzustand bei weitem am nächsten kommt. Der Schimpanse zeigt bereits eine deutliche Reduktion des Hallux, der auffällig stark ab- duziert ist. Die anderen Zehen sind zierlicher gestaltet als beim Gorilla, aber von ähnliehen Proportionen. Beim Orang hingegen ist eine sehr be- trächtliche Verlängerung der zweiten bis vier- ten Zehe eingetreten, und der Hallux ist stummelartig geworden. Wie oben schon er- wähnt, ist der Nagel des Hallux geschwunden; auch zeigt die Muskulatur deutliche Reduk- tionsmerkmale. Ähnlich verhält sich der Gibbon. Die nie- Fuß des Gorilla, von der Plantar- deren Affen kommen für die stammesgeschicht- fläche gesehen. Große Menschen- . a . 4 ähnlichkeit. Hall hg: b- liche Betrachtung des Fußes nicht in Frage, "Ten da keiner derselben mit Prosimiern und Kletter- (Aus W. Leche, „Der Mensch‘. Verlag G. Fischer, Jena.) beutlern in der Beibehaltung eines starken Hallux verglichen werden kann. Untersuchungen über die Weichteile der Fußes, wie sie z. B. Loth über die Plantaraponeurose angestellt hat, bestätigen vollkommen, dab keine Möglichkeit gegeben ist, von niederen Primaten eine aufsteigende Linie zum Menschen zu verfolgen, sondern daß dorthin viel direktere An- schlüsse von den Prosimiern aus bestehen. Auch bezüglich der Anthro- poiden ergibt sich als Resultat, daß je weniger reduziert die Formen sind, sie sich relativ menschenähnlicher verhalten, so z. B. Schimpanse, be- züglich der Existenz des Plantaris, der bei den anderen Menschenaffen viel häufiger ganz geschwunden ist. Das Abirren sämtlicher Anthropoiden von der zum Menschenzustande führenden Entwicklungsbahn ergibt sich bezüglich des Fußes bereits durch IF Hermann Klaatsch ıne der ganzen hinteren Extremität in ihrem Längenverhältnis Verkürzung der Beine und die enorme Verlän- starke Entfer- der Glied- n. Die relative ler Arme kennzeichnen eine Spezialisierung. on dem mit dem Menschen Urzustande nproportionen, der, wie ich mehrfach ausgeführt habe, in einer an- rnd gleichen Länge der vorderen und hinteren Gliedmal)en zu suchen Welche Faktoren es waren, die eine solche Abweichung vom Urzustande eine eemeinsamen | edineten, kann nur im Zusammen- Frage der spezi- g. 7 KFubßeestaltuneg ıane mit der fisch-menschlichen veprüft werden. Zunächst handelt es konstatieren, dab sıch darum. zu der Menschenfuß nicht von dem eines Orang oder Schimpanse ab- eines (vo Skelett der freien hinteren Extremität rilla nks) nes Schimpansen (in der Mitte) ınd eines Örang (rechts Im Fußskelett zeigt € ler Gorilla die relativ menschenähnlichsten Zu . Klinke) und 086 stände. Die Rückbildung des Hallux und die i Pl , sekundäre Verlängerung der anderen Strahlen .n j Länge deı ist beim Orang weit über den Zustand beim Schim SAN Dr la pansen hinausgegangen MI Nach Objekten im Nat.-Kabinett Stuttgart I K tsch phot veleitet werden mul sondern von einer Urform, der unter den Menschen- reines Vor- affen der Gorilla noch relativ am nächsten kommt, denn ein fahrenstadium stellt er naturgemäß auch nicht dar. Versuchen wir diesen Ahnenzustand des Menschenfußes auf Grund aller bisherigen Erwägungen festzustellen, so gelanzeen wir zu foleendem Resultat: Dieser Urfußb di \lenschen unterschied sich von der Norm des dadureh. etziren dab di zweite bis vierte Zehe relativ viel länger waren Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 231 und daß die erste kürzer aber kräftig ausgebildet, einem Daumen ähnlich, von den anderen in spitzem Winkel abstand, freier Abduktion und Oppo- sition fähig. Eine relativ starke Ausprägung des Hallux dürfen wir wohl dem Urzustande zuschreiben, der ja, wie wir gesehen haben, den Menschen direkt an die Wurzel der Säugetiere — ja aller Landwirbeltiere — an- schließt, die sämtlich von Kletterformen abstammen. Von diesem Urfuß bis zum heutigen Zustande ist der Weg nicht allzu weit und es fehlt uns nicht an vermittelnden Zuständen, die uns zeigen, welche Etappen auf diesem Wege zu verzeichnen sind. Es fragt Fig. 76. Fig. 77. Fußiskelett des fossilen Marsupialiers Di- protodon australis. « Talus, ce Calcaneus, Fußskelettdes rezenten Marsu- pialiers Phalangista. « Talus, ce Calcaneus, n Navieulare, eb Cuboid, ct c?c3 Cuneifor- mia, /Hallax, weitabstehend, in Oppositionsstellung, II, III zweite und dritte Zehe ver- kleinert, IV, V vierte und fünfte Zehe. (Aus W. Leche „Der Mensch“. Verlag G. Fischer, Jena.) n Naviculare, eb Cuboid, ci! c2 ce Cuneifor- mia, / Metatarsalknochen des Hallux, weit von dem Skelett der übrigen Zehen (IIT—V) abstehend und in der rudimen- tären Beschaffenheit die einstige Ausbil- dung des Grifffußes dokumentierend, wie bei Phalangista. Mit der riesigen Zu- nahme der Körperdimensionen des fos- silen Diprotodon hat sich der Tarsus unförmlich vergrößert. (Aus W.Leche, „Der Mensch“. Verlag G. Fischer, Jena.) sich nur, in welcher Reihenfolge die an sich leicht übersehbaren Verände- rungen eingetreten sind, nämlich die relative Verkürzung der vier Zehen, die relative Verlängerung und sicher anzunehmende sekundäre Vergrößerung des Hallux, sowie der Verlust seiner Beweglichkeit, wobei wir wohl unter- scheiden müssen zwischen der Möglichkeit der Opposition und der Mög- lichkeit der Abduktion. Die erstere wurde aufgehoben durch die Fixation der Sehne des Peronaeus longus in der Planta, die zweite durch Verände- rungen der Gelenkfläche zwischen Metatarsale primum und cuneiforme primum, sowie durch die stärkere ligamentöse Verbindung zwischen den Capitula der ersten und zweiten Metatarsalknochen. 232 Hermann Klaatsch. | - rie Trennung zwischen diesen Vorgängen wird freilich nicht ent ı sein. Immerhin ist deutlich, daß die in manchen Fällen noch rei e Beweelichkeit des Hallux bei Menschen stets die Ab- und Ad- trifft, während eine freiere Beweglichkeit des Peronaeus longus alten Oppositionsfunktion bisher beim Menschen nicht festge- worden ist. Die erste Zehe ist \ hr beim Menschen allgemein in Oppositionsstellung selbst fixiert, eine tsache, die sich leicht aus der Be- trachtung des Metatarsale primum er- ojbt. Dieses kehrt seine eigentlich plan- tare Kante der zweiten Zehe zu, ein Befund, den man sich am besten da- durch vergegenwärtigen kann, daß man an der Hand die Daumen an die zweite Zehe anlegt und schwache Ab- nnd Adduktionsbewegungen ausführt. Bei Füß: ni australischen Eingeborenen mit at: N . Earham: Zukteni 7 a Puh Fußskelett vom Europäer, oben in der plantaren, istischem Zustand d auffallend kurzen Hallux > r Verg +} und relativ bedeutender Länge der anderen Zehen. unten in der dorsalen Ansic ht. Zur Vergleichung mit Fig. 74. Klaatsc phot r R (Aus „Weltall und Menschheit“, II.) einer Fixierung des Daumens würde sich auch sofort die Vorstellung eines (sewölbes für die Hohlfläche ergeben, die am Fuß sich als etwas Primi- tives zeiet gegenüber der sicher auf Entartunge und Erschlaffung der Bandapparate beruhenden Plattfußbildungen. Eine Persistenz der primitiven Proportionen der Zehen wird den Fuß sofort handähnlich erscheinen lassen. Solche Fälle, in denen der Hallux Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 2353 beträchtlich an Länge hinter den fingerähnlichen Zehen zurückbleibt, sind in neuerer Zeit mehrfach bei verschiedenen Menschenrassen beschrieben und abgebildet worden; so von mir bei Australiern, von Prof. Baelz bei Japanern und neuerdings von Prof. Neuhaus bei einem Ein- Fig. 80. geborenen von Neuguinea. Das Schönheitsideal der Griechen verlangte ja auch eine größere Länge der zweiten als der ersten Zehe. Ein deutliches Einschnei- den der Haut zwischen erster und zweiter Zehe aber wie z. B. beim Schimpanse ist bisher beim Menschen nicht beobachtet worden und be- steht auch nicht beim Em- bryo. Beim Gorilla ist dieser Einschnitt der Schwimmhaut weniger ausgeprägt als beim Schimpanse. Es fragt sich, ob in der menschlichen Vor- Fußskeiette links eines Japaners, in der Mitte eines Europäers, rechts eines Australiers. Klaatsch phot. Fig.81 Fig. 81. Füße eines europäischen Neugeborenen. Der Hallux ist relativ kurz. Klaatsch phot. Fuß eines menschlichen Embryos fahrenreihe eine starke äußere Abglie- des fünften Monate, die Opposi- > S tionsstellung des Hallux zeigend. derung des Hallux überhaupt anzu- DT O2 Kiaatsoh phot. nehmen ist (siehe oben). Dal) eine ziemlich große Beweglichkeit des Hallux auch trotz der metatarsalen Bandverbindung bestehen bleiben resp. durch Übung wieder hergestellt werden kann, ist eine bekannte Tatsache. Es braucht nur auf die Fußkünstler, wie Unthan, hingewiesen zu werden, die in Ermanglung «der Hände die Füße entsprechend zu gebrauchen erlernten. Rudolf Fick 234 Hermann Klaatsch. berichtet von dem armlosen Maler Charles Felu, den er in Antwerpen eine vorzügliche Kopie eines Rubensschen Bildes mit dem Fuße anfertigen sah.. Die zum Teil enorme Beweglichkeit der Füße im ganzen und die freie Aktion des Hallux ist bei den Naturvölkern durch sehr zahlreiche Beob- achtungen festgestellt. AR. Andree hat eine Reihe von Beispielen hierfür angeführt. Mir persönlich sind die Leistungen der Eingeborenen Australiens bekannt, von denen schon die älteren Berichte erzählen, daß sie z.B. die Speere mit den Zehen schleppen, wenn sie unbewaffnet erscheinen wollen. Wenn diese Wilden das Reiten erlernen, so erfassen sie die Steigbügel zwischen erster und zweiter Zehe. Bei Malaien, Japanern, Chinesen wer- den von Huxley, Baelz, Adachi u.a. Zeugnisse für sogenannte Greif-, besser Kneiffähigkeit des Hallux beigebracht. Der Begriff des höheren europäischen Kulturvolkes deckt sich leider mit der Fußmißhandlung durch Fig. 83. Ful) des armlos geborenen Artisten Unthan in drei verschiedenen Stellungen, die die große Beweg- lichkeit des Hallux zeigen. (Nach dem Gipsabguß) im Musde du jardin des plantes in Paris.) Schuhwerk. Trotzdem hat bisher die freie Beweglichkeit des Fußes beim neugeborenen Europäer keine Einbuße erlitten. Die Besonderheiten des ersten Interstitiums am Fuß bleibt durch Eigentümlichkeiten des Verlaufes von Nerven und Gefäßen dauernd mar- kiert. In diesem Sinne ist zu nennen die Hautversorgung des Raumes zwischen Hallux und zweiter Zehe durch den Nervus peronaeus profundus, während die Umgebung dem N. per. superficialis angehört, ferner der Durehtritt der Gefäßverbindung zwischen den dorsalen und plantaren Ar- terien zwischen erstem und zweitem Metatarsale. Verwerten wir die mitgeteilten Tatsachen zur Beantwortung der Frage nach den Umgestaltungen des Urfußes des Menschen zum jetzigen Zustand, so zeigt sich, dal) nicht so sehr die Verschiedenheit der Zehen- proportionen, nicht auch die Verminderung der Beweglichkeit des Hallux überhaupt einer Erklärung bedarf, sondern der Umstand, daß der Hallux in Oppositionsstellung fixiert wurde und eine besonders mächtige Ausbildung in seinen Phalangen sowie in dem medialen Fußballen im Gebiet der Meta- a nn LUD LU UN ln m Lu a a u Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 235 tarsophalangealgelenke erfuhr. Welcher Faktor beherrscht diese Umwandlung ? Sie ist zweifellos für die Fähigkeit der aufrechten Haltung sehr wichtig, aber ist sie durch dieselbe entstanden? Daß die Ausbildung des „Stand- fußes“ eine Folge der Erwerbung des aufrechten Ganges sei, war früher die allgemein herrschende aber niemals näher begründete Ansicht. Auch R. Fick vertritt dieselbe in seinem Handbuch und wendet sich energisch gegen „einige moderne Anthropologen“, wie er sich auszudrücken beliebt, die durch eine abweichende Annahme „die Sache einfach Sue auf den Kopf zu stellen“ scheinen. Daß R. Fick jedoch die Fragestellung gar nicht prä- zis gefaßt hat, geht aus fol- gendem Satze hervor: „Vom mechanischen Standpunkt aus ist es daher ganz entschieden plausibler, daß der aufrechte oder halbaufrechte Gang das Primäre war und die Bildung des Standfußes das Sekun- ddäre, als umgekehrt.“ Indem Fick hierbei den aufrechten und halbaufrechten Gang in einem Atem nennt, als gleich- bedeutend hinstellt, bricht er dem ganzen Problem die Spitze ab, da es sich ja ge- rade um die Frage handelt, wie denn aus dem halbauf- rechten der aufrechte Gang geworden ist. Unter diesen Umständen kann es nicht Füße (oben) und Hände (unten) eines Prosimiers (Stenops tardigradus). Die starke Opposition des ersten Strahles ist an Wunder nehmen, wenn Fäck beiden Extremitäten ausgeprägt. Die Fußbildung erinnert an der: "von. nit ambgeskaljtem. en ar Theorie von dem Zusammen- hang der Erwerbung der aufrechten Haltung mit einem Klettermechanismus gar kein Verständnis entgegenbringt und sich nicht einmal die Mühe gibt, auf den betreffenden Gedankengang näher einzugehen. Hieran trägt einerseits der Mangel stammesgeschichtlicher Betrachtung des menschlichen Organismus überhaupt Schuld und andrerseits die Unklarheit über den Ausgangszu- stand des Menschen bei der Erwerbung des aufrechten Ganges. Als diesen niederen Zustand haben wir die halbaufrechte Kletterhaltung kennen ge- lernt, die auch Wiedersheim in der neunten Auflage seines „Bau des Men- schen“ (pag. 126) anerkennt. 236 Hermann Klaatsch. \ . wie Fick meint, die Bildung des Standfußes eine Folge des auf- recht r halbaufrechten Ganges, so müßten die Formen, bei denen wir Fig.s5 Skelett des I nodon. Beispiel für die halbaufrecbte Haltung der Saurier (Bı el, Mus6e d’histoire naturelle.) recht ausgesprochene Stufen der halbaufrechten Haltung antreffen, in ir- gend einer Weise die Menschenfußbildung in dem Punkte, der diesen be- Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 237 sonders charakterisiert, vorbereiten, aber das ist nirgends der Fall. Nir- gends finden wir eine besondere Verstärkung des innersten Strahles, sondern es sind die mittleren, dritter auch vierter Strahl, die eine beson- dere Ausbildung erlangt haben. So findet es sich bei den Känguruhs, die es unter den niederen Säugetieren zur relativ stärksten Aufrichtungsfähig- Fig. 86. Skelett des Mylodon als Beispiel für ein primitives fossiles Säugetier mit halbaufrechter Kletter- haltung und menschenähnlichen Gliedmaßenproportionen. Daneben rechts ein rezentes Faultier- skelett. (Nach Pictet.) keit des Rumpfes gebracht haben, wobei der Stützschwanz eine wichtige physiologische Rolle spielt. Eine ganz ähnliche Haltung begegnet uns in der fossilen Reptilien- welt bei den Dinosauriern, deren Aufrichtung des Rumpfes an die der Vögel erinnert, womit bekanntlich auch imorphologische Beziehungen im Bau des Beckens harmonieren. Hier ist allgemein der mittlere Strahl ver- längert. Die Iguanodonten zeigen in der Haltung eine deutliche Konvergenz- ähnlichkeit mit den Känguruhs. DETE Hermann Klaatsch. placentalen Säugetieren ist die aufrechte Haltung des Bär: s auffällie. Die erste Zehe hat hier ihre Besonderheit ver- | n Höhlenbär hat sie noch eine von den anderen Zehen mehr e Form und Haltung. Die geologisch älteren Carnivoren, wie die n nähern sich noch mehr den „primatoiden“ Vorfahrenzuständen. insame Wurzel macht die offenbare Menschenähnlichkeit verständlich. adrupede Zustand unter Rückbildung der Clavieula ist ja das Sekundäre! Skelett eines Prosimiers D Proportionen der Extremitäten sind denen der Menschen viel ähnlicher, als es bei den Anthro den der Fall ist. Tarsus sehr verlängert. Arm und Hand primitiv. Auch die Betrachtune der Primaten widerlegt die von Fick aufge- stellte Ansicht, denn mit Recht muß man fragen, warum denn nicht bei Affen sich allenthalben Anfänge der Bildung des Standfußes zeigen, wenn derselbe ein Produkt des halb aufrechten Ganges sein soll. Das ist ja gerade der Kernpunkt des ganzen Problems, diese auffällige Verschieden- heit zwischen den Menschen und ihren nächsten Verwandten; an diese Differenz muß doch logischerweise jeder Erklärungsversuch für die ver- schiedene Lokomotionsmethode zwischen Menschen und Menschenatten an- knüpfen. Um Klettermechanismen, um verschiedene Arten des „Baumbe- steirens” handelt e ch bei allen höheren Primaten es ist daher eine einfache lorische Konsequenz. auch für den Menschen von derselben Basis auszugehen. Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 939 Ist es doch ganz unzweifelhaft, daß auch der Mensch ein Baumbe- wohner war, bevor er auf ebener Erde aufrecht ging. Bei den Anthropoiden sehen wir die Anpassung an verschiedene Arten des Baumkletterns, die aber das gemeinsam haben, daß es sich um die Fortbewegung von Zweig zu Zweig und Baum zu Baum im dichten Urwald der Tropen handelt. Im einzelnen bestehen Verschiedenheiten, die zum Teil als solche des Temperaments erscheinen. Die östlichen Formen bieten geradezu Gegensätze dar in dem Phlegma des Orangs und der un- geheuren Lebendigkeit des Gibbons. Die Fähigkeit der letzteren, sich mit großer Geschwindigkeit durch die Wipfel der Urwaldbäume zu bewegen, kommt in ihren extrem verlän- gerten Armen zum Ausdruck, Fig. 88. deren verkümmerte Greifhand uns schon im I. Teil beschäftigt hat. Auch der ähnlichen Umge- staltung der Arme des langsam und bedächtigkletternden Orangs haben wir dort schon Erwähnung getan. Die afrikanischen Formen bieten einen ähnlichen Unter- schied in dem gewandten und lebendigen Schimpanse und dem mehr schwerfälligen und ernsten Gorilla, der relativ am meisten Bodengänger ist. An der sekundären Natur der Armverlängerung der An- thropoiden dürfte heute wohl niemand mehr zweifeln. Das be- sagt einerseits, daß der Mensch in seiner Vorfahrenreihe kein Halbaffe als Beispiel eines primitiven Säugetiers mit halbaufrechter Kletterhaltung und menschenähnlicher solches Anthropoidenstadium ren aBEn pen. durchlaufen hat, andrerseits, daß (Aus „Weltall und Menschheit“, IT.) die Menschenaffenvorfahren viel menschenähnlicher waren als die heutigen Vertreter — in den Propor- tionen ihrer Gliedmaßen, also nicht nur der Arme, sondern auch der hin- teren Extremitäten. Hieraus ergibt sich, daß die Lokomotionsweise der vier Anthropoiden von demselben Ausgangsstadium, wie es für den Menschen anzunehmen ist, sich entwickelt hat. Damit stehen die Verschiedenheiten in Einklang, die sich_bei den Anthropoiden selbst finden und die verschiedenen Versuche und Anfänge der Erwerbung eines aufrechten Ganges darstellen. Die Arm- verlängerung spielt dabei eine sehr verschiedene Rolle. Bei Orang und ‚Schimpanse werden die langen Arme gleichsam wie Stöcke verwendet, die 240 Hermann Klaatsch. -_ den halb aufrechten Rumpf stützen. Aber die Füße werden dabei ver- schieden gehalten. Der Schimpanse biegt die Zehen und stützt sich auf deren Aubenfläche, der Orang setzt den lateralen Fußrand auf, supiniert also den Fuß vollständig; die Sohle im ganzen setzt der Gorilla auf, der wie in der Fußgestaltung so auch in der Fähigkeit, ohne Hilfe der Arm- stiitzen sich emporzurichten, dem Menschen sehr nahekommt. Nach der neuerdings ermittelten sehr nahen Verwandtschaftsbe- ziehungen der Gorillas zu einer der fossilen Menschenrassen der Eiszeit. dem Neandertaltypus, kann diese physiologische Annäherung nicht wunderbar erscheinen. Nehmen wir hinzu, daß auch der Gorilla an Men- schenähnlichkeit seiner Proportionen bereits eine Einbuße erlitten hat, so wird es durchaus wahrscheinlich, daß die Vorfahren des Gorilla, die „Prä- Skelett des miozänen Mesopithecus penteliei (nach Pictet) als Beispiel eines primitiven niederen Affen mit annähernd gleichlangen vorderen und hinteren Extremitäten. vorilloiden“, der Erreichung des vollaufrechten Ganges bereits sehr nahe gewesen sind. Die scheinbar sehr abweichende Position des Orang dürfte sich aus einer, wie ich es bezüglich der Hand gezeigt habe, relativ späten und im veologischen Sinne gesprochen neueren Umgestaltung erklären, die seinen Fuß zu einem der Hand ähnlichen Klammerapparat herabsinken ließ. In der sehr anziehenden Schilderung, die Th. Huxley von den Lebensgewohnheiten des Orang gegeben hat, ist auch dieser Eigentümlichkeiten des Fubes ge- - dacht (pag. 37): „Ihe Orang cannot put its feet flat on the ground, but is supported upon their outer ledees, the heel resting more on the ground, while the eurved toes partly rest upon the ground“ ...... ferner pag. 56: „An Orange elimbs so slewly and cautiously as, in this act. to resemble a man more than an ape, taking great care of his feet, so that injury of them Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 241 seems to affeet him far more than it does other apes.“ Hierbei wird man an die bereits erwähnte völlige Rückbildung des Nagels des Hallux denken müssen, die ein so deutliches Degenerationsmerkmal darstellt. „On the ground the Orang always goes laboriously and shakily, on all fours. At starting he will run faster than a man, though he may soon be over- taken. The very long arms which, when he runs are but little bent, raise the body of the Orang remarkably, so that he assumes much the FL = ER £ Australierkind des ersten Lebensjahres, in seiner Körper- haltung den jugendlichen Anthropoiden ähnlich. Klaatsch phot. posture of a very old man bent down by age, and making his way along by the help of a stick. In walking the body is usually direeted straight forward, unlike the other apes, which run more or less obliquely; except the Gibbons, who in these, Skelett eines neugeborenen Menschen (Europäer), die as in so many other respects depart remarkably primitiven Proportionen des 2 3 Ser Extremitätenskeletts zei- from their fellows. gend. Vordere und hintere Extremität annähernd In dieser Schilderung ist der großen Men- ann DER schenähnlichkeit des Orang, selbst im Gang trotz Aus „Weltall d Mensch- . . RE r an der Entartung seiner hinteren Extremität Rech- nung getragen. Die tiefgreifende Umgestaltung der Organisation der ganzen hinteren Extremität wird wohl am schärfsten gekennzeichnet durch die totale Rück- bildung des Ligamentum teres im Hüftgelenk, eines fundamentalen Cha- rakters der Säugetiere. Die Tatsache dieser Reduktion, die in der Literatur mehrfach behauptet wurde, habe ich durch eigene Beobachtung bestätigt. In dem soeben zitierten Satze weist Huxley auf die exceptionelle Stellung der Gibbons hin. Obwohl diese Affen von manchen Autoren gar E. Abderhalden, Fortschritte. VII. 16 349 Hermann Klaatsch nicht : rkliche Menschenaffen anerkannt werden, haben sie doch neben dem G la und in mancher Hinsicht noch denselben übertreffend die beste Fähigkeit aufrechter Haltung überhanpt. Aber es ist hier wieder eine \ethode befolgt: Die langen Arme werden bekanntlich nicht wie range auf die Erde gestützt, sondern wie Balancierstangen zur Er- ung des Gleichgewichtes benützt und flügelartig geknickt beim Laufen oetragen. Es zeigt sich hierbei sehr deutlich, daß der Begriff des aui- Skelette von Gorillas: rechts ein jugendliches, links ein er- wachsenes weibliches, in der Mitte ein altes männliches Exemplar. Die individuellen Unterschiede zeigen die allmäh liche Entfernung von den menschenähnlichen Proportionen. (Nach einer Photographie von Hagenbeck.) rechten Ganges noch heute viel zu sehr schematisch als etwas Einheitliches aufgefaßit Skelett nes Hylobates, die extreme wird. Verlängerung der vorderen Glied- a . 5 . maßen zeigend Was wir bei den Gibbons sehen, ist (Aus „Weltall und Menschheit“, II.) nicht eine dem langsamen würdigen auf- rechten Gang des Naturmenschen vergleich- bare Bewegungsweise, sondern ein Laufen ; es erwächst hieraus die — nach meinem Erachten bisher nicht genügend gewürdigte Feststellung, dab „aut- rechter Gang“ mit sehr verschiedenartigen physiologischen Bedingungen kom- biniert sein kann. Während beim Menschen hauptsächlich die Schaffung einer Gleichgewichtslage von Rumpf und Kopf die Ausprägung einer Vertikalachse von der Gehirnkapsel zur Lendenwirbelsäule als wichtig erscheint, fallen solche mechanische Anforderungen an den Bau der Wirbelsäulen usw. gänz- lich fort, wenn es sich um ein nur kurze Zeit dauerndes schnelles Fort- beweren handelt, wie bei den Gibbons, deren Laufen man treffend mit lem der Seiltänzer verglichen hat. Beiden ist gemeinsam, dab der Fuß Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 243 nicht als Belastungsapparat funktioniert, sondern lediglich als Abstoßungs- mittel bei schneller Ortsveränderung. Der menschliche jugendliche Organismus macht in gewisser Weise ein Hylobatesstadium durch, insofern beim „Laufenlernen“ unverkennbar eine schnelle Fortbewegung zunächst bevorzugt wird, weil noch jener mechanische Ausgleich der Belastungsanpassung der Wirbelsäule, des 3eckens, des Femurs, des Unterschenkels und des Fußes fehlt, die zu- sammengenommen erst die Fähigkeit der länger aushaltenden aufrechten Haltung beim Stehen garantieren. Schnelles aufrechtes Laufen ist eine der Vorstufen aufrechten Ganges. Wir nehmen damit eine Betrachtung auf, die meines Wissens bisher noch keineswegs genügend angestellt wurde. Der aufrechte Gang des Menschen ist eine so komplizierte Leistung verschiedenartigster Muskeln, daß man das Rätsel dieses Mechanismus nicht vom Fuß allein aus lösen kann. Wie ich in meinen früheren Publikationen wiederholt betont habe, ist es ja nicht die Eigenart des Fußes allein, die den Menschen von seinen nächsten Verwandten unterscheidet, sondern mindestens ebenso in die Augen fallend ist die ganz einzig dastehende gymnastische Befähigung, die der Mensch in seinem ganzen Körper offenbart. Neben dem Gehirn ist dies vielleicht das allerbedeutungsvollste Unterscheidungsmerkmal des Menschen vom Tier — denn keines, auch kein Affe kann in der Vielseitigkeit der Stellungen, in denen der Mensch der Schwerkraft Hohn zu sprechen ver- mag, mit den Menschen konkurrieren. Es ist gewiß kein Zufall, daß auch hierin die Gibbons unter allen Affen relativ noch dem Menschen am nächsten kommen, und wenn sie ihn auch durch die vogelähnliche Schnelligkeit ihres Dahinfliehens durch die Baumwipfel in einem Punkte weit übertreffen mögen, so sind sie eben doch in allem, was die Statik betrifft, wo Ruhe und Last mitsprechen, stark unterlegen. Es fehlt ihnen, wie allen Menschenaffen die starke Ausbildung jener Muskelgruppen, die nicht nur funktionell, sondern auch formell für unsere Vorstellungen gar nicht vom Begriff des vollendeten Menschen- körpers trennen lassen. Es sind die Schulter- und Gesäßmuskulatur, die die typisch menschliche Rundung bedingen. Ein Versuch, die Verschieden- heit dieser Muskulatur zwischen Menschen und den anderen Primaten zu erklären, ist vor meiner Theorie über den Klettermechanismus des Men- schen überhaupt nicht gemacht worden. Deshalb muß jeder Angriff, wenn er überhaupt einer Beachtung wert befunden werden soll, sich gegen diese Hauptargumente wenden, die ich von Anfang an für die Annahme ins Feld geführt habe, daß der Mensch einen die Fähigkeit voller Aufrichtung vorbereitenden Zustand durchgemacht haben muß. Diesen fand ich in der Art des Kletterns auf Bäume, die noch heute in allen niederen Zuständen der Menschheit eine so große Rolle spielt, wobei der Fuß nicht als Greiforgan, sondern als Abrollungs- mittel benutzt wird. 16* 244 Hermann Klaatsch. Das Wesentliche bei dieser Art des Baumbesteigens ist, daß der Fuß als eine Kinheit _benutzt wird, indem entweder der innere Rand in eine natürliche oder-künstliche Kerbe der Rinde eingesetzt oder die ganze Fig. 94. Erwachsener männlicher Gorilla beim Klettern im Urwald. Zu beachten die Proportionen der Ex- tremitäten, der rückgebildete Daumen, der abstehende Hallux. (Nach einem Gemälde von W, Kuhnert.) Plantarfläche in extremer Supinationsstellung an die Oberfläche eines Baum- stammes angelegt wird. Im Unterschied von Klettern der Affen und der primitiven KRletter- säugetiere ist der negative Punkt wichtiger als der positive. Daß der Ful) u Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 245 nicht zum Greifen dienen und daß) daher der Hallux nicht in seiner ur- sprünglichen Funktion bleiben kann, darauf kommt es an. Hierzu gesellt sich die neue Leistung des Hallux, der als Teil des inneren Fußrandes funktioniert, hierbei eine sekundäre Verstärkung erfahrend. Die Erklärung soleher Umgestaltung aus der Bewegung auf ebener Erde ist gänzlich un- möglich. Wir haben ja schon gezeigt, daß nirgends bei halb aufrechtem Gange der innere Fußrand eine Verstärkung erfährt. Hier muß daher ein besonderer Faktor angegriffen haben und dafür bleibt nur derselbe Kletter- mechanismus übrig, der, ganz abgesehen vom Fuß, sich aus dem Studium der menschlichen Muskulatur als Postulat ergibt. So lange noch die Idee von dem „Freiwerden“ der Arme bestand, konnte der naive Erklärungsversuch für die starke Schultermuskulatur durch das Werfen von Steinen oder dergleichen eine, wenn auch lo- | eisch höchst anfechtbare Schein- existenz fristen. Wie ganz anders stellt sich aber dieser Erschei- nungskomplex dar, wenn man den Fixpunkt nicht an der Schulter, sondern an der Hand sucht und der Überlegung Raum eibt, daß ein dem Klimmzug ähnlicher Klettervorgang die Verstärkung des Deltoides, des Pectoralis u. a. bedingt habe. Damit eröffnet sich sofort ein einheitliches Bild, das auch die Umgestaltung der Gesäßmusku- Fig. 95. Junger Schimpanse. Die Gliedmaßen haben noch die latur leicht verständlich macht. primitiven Proportionen, sind annähernd gleich lang 2 Du 5 und viel menschenähnlicher als bei den erwachsenen Die höchst mangelhafte Ausbil- Anthropoiden. dung der Gesäßmuskeln bei den (Nach einer Photographie von Prof. L. Heck.) Affen bildet einen der auffäl- liesten Unterschiede vom menschlichen Zustand. Der Versuch, den Körper aufzurichten oder der Wunsch, aufrecht zu gehen, wird die starke Ausbil- dung dieser Muskelgruppen nicht verständlich machen. Wenn aber durch einen Klettermechanismus, wie den geschilderten, die Glutaealmuskeln und im Zusammenhang damit auch die Antagonisten, besonders der Ileopsoas verstärkt werden, so wird diese Veränderung der Fähigkeit zur aufrechten Haltung auf dem Erdboden sehr wesentlich zugute kommen. Da bei allen Anthropoiden ein deutlicher Connex zwischen der Art ihres Baumkletterns und ihrer Bewegungsweise auf der Erde besteht, so wird man auch für die Menschenvorfahren etwas ähnliches nicht bestreiten 246 Hermann Klaatsch. können. Dei einer Lebensweise teils auf Bäumen, teils am Boden wird naturgemäß Rlettern und „Gehen“ einander beeinflussen. Da wir ferner allgemein bei allen Säugetieren, allen Primaten Anpassungen an bestimmte \utgaben der Gliedmaßen antreffen, die durch die Macht der Vererbung n langen Zeiträumen unter stets wiederholtem mechanischem Einfluß ‚ixiert“ worden sind, so dürfen wir auch für die Vorgeschichte der Men- schen und der Menschenaffen ein Gleiches annehmen. Es liegt mir fern, hier auf die Streitfragen der Vererbungsprinzipien, speziell die vererbbare Fig. 96. Erwachsener männlicher Orang-Utan, die Gangweise dieses Anthropoiden zeigend, mit Aufstützen des Arms und Aufsetzen der äußeren Fußlränder. (Nach einer Zeichnung von Leutemann (1894), aus einer Publikation von R. Fick.) Wirkung der individuellen Übungen und Leistungen einzugehen; es genügt hier, auf jenen funktionellen Reiz hinzuweisen, der zweifellos vermittelst der Keimzellen die Gestaltung der Organismen beherrscht — ohne den niemals der Flügel des Vogels, die Grabpfote des Maulwurfs, das Bein der Huftiere in ihrer speziellen Gestaltung sich hätten ausprägen können. Nicht mehr und nicht weniger nehmen wir auch für den Menschen in Anspruch. Nach diesen Überlerungen ist es gewiß keine allzu kühne Vermutung, dab unter dem langen Einfluß jener Kletterweise mit Einsetzen des Fußes Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 247 in natürliche oder künstliche Kerben oder Anlegen der Füße an die Rinde dickerer Stämme anfangs als spontane Variation Formen auftraten, die nicht mehr die abduzierte Großzehe besaßen, bei denen der Hallux den anderen Zehen mehr anlag, ohne dadurch bewegungslos geworden zu sein. Daß solche Individuen zum aufrechten Gang sich besonders gut eigneten, ist klar und so neige ich der Annahme zu, daß wie manche andere an- Kletterweise des Gibbon mit Greiffuß und ver- längerten Armen. (Aus W. Leche, „Der Mensch“. Verlag von G.Fischer, Jena.) Junger Schimpanse. Die Hand dient als Klammer beim Festhalten. Die Haltung fangs sporadisch auftretende günstige der unteren Extremitäten in typischer Su- Variationen auch der Standfuß des pination. H : E h (Aus W.Leche, „Der Mensch“. Verlag von Menschen sich immer weiter verbrei- G. Fischer, Jena.) tet hat. Wenn diese neuen Anschauungen nur langsam sich Bahn brechen und gerade bei manchen anatomischen Fachkollegen wie R. Fick noch Ab- lehnung erfahren, so liegt das einmal daran, dab die von Gegenbaur be- gründete morphogenetische Betrachtung des menschlichen Organismus noch keineswegs allgemeiner Besitz geworden ist; ferner ist die noch viel- fach zu ängstlich beobachtete Abgrenzung der den Menschen betreffenden Forschungsgebiete daran Schuld, die den meisten Anatomen Einblicke in DAR Hermann Klaatsch. wichtire Nachbardisziplinen verwehrt. Besteht doch sogar noch heute die Tendenz, Kapitel der vergleichenden Rassenkunde, die den Menschenkörper betreiten. als etwas von der Anatomie Verschiedenes hinzustellen, und unter dem unklaren und viel mißdeuteten Begriff der „Anthropologie“ mit der veralteten Kraniometrie in einen Topf zu werfen. Demgegenüber kann nicht scharf genug betont werden, daß die moderne Anatomie doch nicht mehr sich mit der Feststellung einer angeblichen Norm des Mitteleuropäers begnügen darf, sondern auf breiterer Basis vergleichender Erforschung aller Hominiden und Anthropoiden einer erfolg- und arbeitsreichen Zukunft entgegengeht. Daß die Variationen und die Geschichte des Menschen- fußes doch wohl ebenso viel Recht darauf haben, zur „Anatomie des Men- schen“ gerechnet zu werden, als das Fig. 99. Studium feinster Zellstrukturen, auf deren Erforschung Zoologie und Bo- tanik ebenfalls Anspruch erheben, kann doch wohl nicht geleugnet werden. Nun ist ja freilich nicht zu erwarten, dal) die moderne vergleichende Rich- tung der Anatomie überall sich schnell einbürgern wird, aber so viel darf man wohl schon jetzt verlangen, dab neue Ansichten wenigstens einer Prü- fung unterzogen werden. Ganz ent- schieden Front machen aber muß man gegen das Bestreben mancher ana- tomischer Kollegen, solche neue Ideen, bloß weil sie nicht in das altge- wohnte Geleise passen, mit einigen Menschenkind des ersten Lebensjahres in einer den Anthropoiden ähnlichen Kletter- unsachlichen Bemerkungen bei Seite haltung; die außerordentliche Kraft der ah: .: . R Hände und die typische Kletterhaltung der zu schieben, wie das R. Fick ver- Füße ist zu beachten. . . ei ee sucht, indem er im Anschluß an die (Aus W.Leche, „Der Mensch“. Verlag von R G. Fischer, Jena.) sehr kurz gehaltene Ablehnung meiner Theorie die Bemerkung macht : „Über- dies wird es im allgemeinen in jeder Landschaft, auch in Australien an der ‚Wiege der Menschheit‘ mehr dünne Bäume geben als besonders dicke.“ R. Fick spielt hierbei auf die nicht von mir, sondern von O. Schötensack aufge- stellte Ansicht an, daß Australien die Heimat der Menschen gewesen sei. Da ich nie für diese Ansicht eingetreten bin, brauche ich darauf nicht näher einzugehen. Bezüglich der „Dicke“ der Bäume habe ich lediglich darauf Gewicht gelegt, dal) es sich bei der Menschenart des Kletterns um Stämme handelt, bei denen die Greiffunktion des Hallux keine Rolle spielt. Ich habe in den betreffenden Publikationen stets darauf hingewiesen, dal) kein prinzipieller Unterschied zwischen einer mit natürlichen Einkerbungen ver- sehenen Palme oder einem dicken Stamm besteht, in den der Mensch künstliche Kerben gehauen hat, das gemeinsame und wichtige ist das Ein- Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 249 setzen der Großzehe und ihres Ballens in diese Kerben. Wenn Fick schreibt: „Bei jeder Art des Kletterns oder Baumbesteigens ist unbedingt ein schmiegsamer, in sich leicht beweglicher Greiffuß mit opponierbarer Groß- zehe mechanisch brauchbarer, als ein steiferer Standfuß“, und wenn er ferner bemerkt, daß es ihm geradezu gesucht erscheine, von der „nächst- liegenden eben selbstverständlichen Anschauung“ abzugehen, daß der Stand- fuß sich in Anpassung an das Gehen auf der Erde entwickelt habe, so ist zu bedauern, daß R. Fick nicht selbst Gelegenheit gehabt hat, durch eigene Anschauung, das Klettern primitiver Menschentypen kennen zu lernen. Er würde alsdann wohl bald anderer Meinung werden. Ich will hier nicht mich auf meine eigenen Beobachtungen an Australiern und In- donesiern versteifen, sondern als unparteiischen Zeugen den bekannten Afrikaforscher und scharfsichtigen Beobachter Professor Weule-Leipzig!) zu Worte kommen lassen, der in seinem trefflichen kleinen Buche: „Die Kultur der Kulturlosen“ pag. 57, über das Klettern der primitiven Men- schen sehr richtig bemerkt, daß es zunächst ganz allgemein einem „Hinauf- laufen am Stamme“ entspricht, „während aber bei dünnen Bäumen die Füße sich mit der zwischen Ballen und Ferse gelegenen Hohlkehle an den Stamm schmiegen, sich sozusagen an seiner rauhen Rinde festsaugen, kommt das bei umfangreicheren Stämmen nicht in Betracht; jetzt ist es viel- mehr der Ballen, auf den sich die ganze Last des Körpers stützt. Bei dünnen Bäumen umklammert der Kletterer den Stamm mit den Armen direkt; geht das nicht mehr, so nehmen diese Völker Kietterapparate zu Hilfe. Im einfachsten Fall ist das eine Liane, die man ... mit kühnem Schwung um den Baum herumschwingt, um die freien Enden mit beiden Händen zu erfassen. Im Prinzip ganz gleich, in der Form aber weit voll- kommener, als dieser ‚Kamin‘ der Australier, sind die Klettervorichtungen der Westafrikaner; in Kamerum gibt es außerordentlich sorgfältig ge- flochtene Apparate mit bequemen Handgriffen, mittelst deren der Neger an seinen Waldbäumen in die Höhe spaziert. Noch bequemer macht es sich der Loangoneger nördlich von der Kongomündung. Bei ihm läuft der Kletterstrick, meist ein zusammenhängender derber Bambusstreifen, nach- dem er um den Stamm geschlungen ist, in sich selbst zurück. Will nun der Kletterer seine Kokospalme erklimmen, so tritt er dicht an den Baum heran, wirft sich die Schlinge über Kopf und Schultern, hebt deren um den Baum liegenden Teil schräg nach oben und legt sich nun mit seinem Rücken fest in den anderen Schlingenteil hinein, seine Fußballen gleichzeitig an den Baumstamm pressend. In dieser Lage vermag er ohne jedwede körperliche Anstrengung nach oben zu marschieren: ledig- lich für das regelmäßige Aufwärtsschieben der Schlinge hat er Sorge zu tragen.“ 1) Weule schließt sieh nicht nur meiner Theorie vollständig an, sondern meint auch, daß die verblüffende Einfachheit derselben der Hauptgrund für die bisherige Ablehnung bei den Fachkollegen sei. 350 Hermann Klaatsch. Diese Mitteilungen Weules ergänzen in willkommener Weise die frü- heren Angaben, die sich teils auf die australische und indische Welt, teils aber auch auf die amerikanischen Indianer beziehen. In älteren Reise- werken aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, wie von Dumont NUrville, finden sich bereits treffliche Abbildungen dieses menschlichen Klettermechanismus; für die Australier hat Lumholtz die ersten Angaben semacht, die ich dann bestätigen konnte. Auf Ceylon beobachtete ich eine eigentümliche Kletterweise beim Ersteigen der Kokospalme: Die Singhalesen binden sich die Füße über den Malleolen zusammen und hüpfen so an den Stämmen auf und ab. Das Erstaunlichste, was sich mir aus den eigenen Beobachtungen er- gab, ist die große Geschwindigkeit, mit der die primitiven Menschen auf- und abklettern. Wie Weule sagt, ist es in der Tat ein Laufen, darin liegt eine Anknüpfung an die Lokomotionsweise der primitivsten Anthropoiden, der Gibbons. Indem wir den menschlichen Klettermechanismus an einen noch primitiveren Zustand anknüpfen, gewinnen wir die Möglichkeit einer allmählichen Komplikation des Kletterns, zunächst ohne jegliche Hilfsmittel auf Bäumen, wie Kokospalmen, dann mit Hilfsmitteln, als welche wir schon die um den Stamm geworfenen Schlingen kennen gelernt haben. Eine andere, sehr weit verbreitete und wichtige Methode war das Einschlagen künstlicher Kerben in die Rinde der Bäume. Hierdurch wurden die Bäume geradezu hergerichtet zum schnellen Auf- und Absteigen. Schon den ersten Seefahrern, die an die Küsten der australischen Inseln kamen, fielen diese Kletterkerben auf und wurden auch richtig gedeutet, selbst da, wo man der Eingeborenen nicht ansichtig wurde. So berichtete Abel Tasman, als er zuerst die Gestade der später nach ihm benannten australischen Süd- insel sichtete , von diesen Kerben. Nach den Berichten der ersten Kolo- nisten auf dem Australkontinent müssen in den Gegenden, die von den Eingeborenen dichter bevölkert waren, die meisten Bäume klettermäßig hergerichtet gewesen sein. Noch heute sieht man sie in den Wäldern (Jueenslands in Gegenden, die jetzt fast verlassen sind. Als Instrumente für das Einschlagen der Kerben dienten offenbar große keilföürmige Stein- stücke, wie ich sie an früheren Lagerplätzen der Eingeborenen gefunden habe. Aus dieser Wahrnehmung ergibt sich aber noch eine wichtige Kon- sequenz für die Prähistorie der Menschen in Europa. Unter dem Inventar von Steinwerkzeugen, das uns vom fossilen Menschen Frankreichs bekannt wurde, finden sich zahlreiche Stücke, von denen es sehr wahrscheinlich ist, daß sie mit der Herstellung von Kerben etwas zu tun haben. Das gilt namentlich von den eigentümlichen großen mandelförmigen auf beiden Flächen behauenen Instrumenten, die zuerst bei dem Dorf Chelles un- weit von Paris mit den Zähnen und Knochen der altdiluvialen Dickhäuter, des Elephas antiquus und Rhinoceros Merckii aufgefunden und von @a- hbriel de Mortillet mit dem Namen des Chelleentypus belegt wurden Coup de poing Faustkeil oder Fäustel nennt man sie jetzt gewöhn- lich im Hinweis darauf, daß sie ohne Schaftung in der Faust gebraucht I re Ba 2 Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. >51 wurden. Über die Verwendung dieser in der älteren Diluvialzeit Frank- reichs sehr häufigen Stücke ist viel diskutiert worden. Es ist gewiß anzu- nehmen, daß sie nicht ausschließlich einem Zweck dienten, sie mögen zur Bearbeitung von Holz zur Herstellung von Keulen, vielleicht auch zur Zer- legung der Beute und Behandlung der Tierfelle für Kleidung gedient haben, nach ihrer ganzen Form aber passen sie so vortrefflich zu dem /weck, Kerben in die Bäume zu schlagen, dal) man wohl auch an diese Verwendung denken darf. In diesem Sinne ist wahrscheinlich auch die Tatsache zu deuten, daß schon während der älteren Diluvialzeit diese In- strumente seltener werden und aufhören, im Zusammenhang mit dem Herannahen einer Eiszeit, die je- dlenfalls auch in den nicht von den Fig. 100. Gletschern direkt berührten Ge- venden die Flora ungünstig be- einflußte. Wir sehen dann in der auf das Chelleen folgenden Mon- sterienperiode den Menschen Höh- lenbewohner werden, der Faust- keil ist für immer geschwunden in Europa. Aus anderen Gegenden aber, Afrika, Indien, sind ganz ähnliche Instrumente bekannt ge- worden, so dab es sehr wahrschein- lich wird, daß die Menschen unab- hängig von einander, immer wieder auf die Verwendung solcher keil- förmigen Stücke kamen zu gleichem Zweck bis in die Gegenwart, in der uns die australischen Wilden noch einen Rest altsteinzeitlicher x 1 a n "hr Australischer Eingeborener, mit um den Stamm Menschheit zul Augen führen. geworfener Liane an einem Baume emporsteigend. Wer diesen kulturellen Pro- (Klaatsch phot.) blemen menschlicher Urzeit ferner steht, mag wohl zu der Frage gedrängt werden, was denn die Menschen zu so häufigem Besuch von Bäumen veranlaßt hat. Hierfür genügt der Hinweis darauf, wie sehr der Mensch in seinen Anfangszuständen auf diesen seinen alten Aufenthaltsort angewiesen war — oder blieb. Man braucht ja nur an die Jagd auf kleine baumlebende Säugetiere sowie auf Vögel zu erinnern, die in dem Lebensunterhalt der heutigen Wilden noch eine große Rolle spielen. Ferner muß man an die hohe Bedeutung denken, die z. B. die Kokosnuß in allen tropischen Gegenden noch heute für den Menschen besitzt. Der Ge- nuß. dieser Frucht muß ein uraltes Erbteil der Menschheit sein. Auf Java in dem Affenpark des Herrn Geheimrat Neisser beobachtete ich mehrfach einen jungen Orang, der Kokosnüsse in einer sehr geschickten und zielbewubten Weise öffnete, indem er erst die faserige Hülle mit den Zähnen abriß und 959 Hermann Klaatsch. dann mit einem Stein, den er vom Boden aufnahm, äußerst geschickte Schläge auf den Pol der Nul) führte, an welchem sich die Narben befin- den. So gelang ihm die Eröffnung jedesmal. Ob dieses künstlich bei- ebracht oder Naturtrieb = Fertigkeit war, weiß ich nicht. Da aber die ganze Lebensweise der 0 Fig. 101. Anthropoiden auf —— : Fruchtnahrung hin- N } 3. . ep he weist, so dürfte auch | \ m für den Menschen eine L \ wenigstens teilweise | '® vegetarianische Le- bensweise in den äl- testen Zeiten eine wichtige Rolle gespielt haben — eine Ver- stärkung carnivorer Lebensweise trat je- denfalls beim Urmen- schen ein, als er zuerst auf den Gedanken kam, seine arg- und ahnungslosen Mitge- schöpfe zu morden, was ihm anfangs sehr leicht geworden sein mub, da die Tiere erst allmählich die mörderi- sche Natur der Men- schen erkannt und vor ihnen Furcht bekom- men haben werden. Auch als Wohn- stätte und Zufluchtsort hat der Baum sicher für den Menschen noch lange Zeit eine grobe Bedeutung besessen. Die Nesterbauten des Australischer Eingeborener beim Erklettern eines hohen Baumes. TE (Nach einer Abbildung von Lwumholtz und einem Gemälde von Orang und Schim- W, Kranz in „Weltall und Menschheit“, II.) panse, die Baumwoh- nungen heutiger niede- rer Völker in Ozeanien, die Sitte der Australier, ihre Toten auf nestähnliche Plattformen in Bäumen zu bestatten — alles dieses weist auf die große Rolle der Bäume als Aufenthaltsort hin. Es würde zu weit führen, der Frage nachzugehen, welche Stellung der Baum auch noch bis in jüngere Zeiten Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 255 in der Geisteswelt und Phantasie des Menschen eingenommen hat. Es genüge der Hinweis auf die heiligen Bäume und Haine des Altertums, an die Säulen, die nichts anderes als Nachahmungen von Bäumen darstellen, auf die Rolle der Bäume in der germanischen Mythologie. Fig.102. Fig. 103. Schultermuskulatur des Menschen (Euro päer) in der Kletterhaltung. Anspannung aller Portionen des Deltoides. (Aus „Weltall und Menschheit“, II.) Hat man sich einmal mit der Vor- stellung vertraut gemacht, daß nicht im tro- pischen Urwald, sondern in solchen mit einzeln stehenden, freien Ausblick gewähren- den Bäumen die Entfaltung der Menschheit sowie auch ihre Ausbreitung vor sich ging, so ergeben sich wichtige Konsequenzen für die menschliche geistige und körperliche Ausge- staltune aus dem Baumersteisen. Nicht nur Medianschnitt des Achsen- j mn Pa HE i or ern skeletts des Menschen, um die daß die Möglichkeit, freien Ausblick zu halten, Krümmungen der Wirbelsäule zu demonstrieren. Europäer. für die Erspähung von Beute und Gefahr für den Menschen wichtig wurde, seinen Horizont im wahren Sinne des Wortes erweiterte, son- dern auch die veränderte Körperhaltung dürfte für die Vergrößerung der Gehirnkapsel nicht gleichgültig gewesen sein. Die oben bereits angestellten Betrachtungen über die Bedeutung des menschlichen Klettermechanismus für die Verstärkung der Schulter-, Brust-, (Aus „Weltall und Menschheit“, IT.) 254 Hermann Klaatsch. Gesäl- und Deckenmuskulatur führt sofort zu weiteren Konsequenzen über die Umgestaltung der Wirbelsäule. Die in ihren Einzelheiten überaus manmieisltige gymnastische Schulung, die dem Menschenkörper durch das Klettern zuteil wurde, muß auch für die Fähigkeit der Rückwärtsbiegung der Wirbelsäule wichtig geworden sein. Die Abstoßbewegungen beim Empor- stommen führen zu Körperhaltungen, bei denen Bein, Wirbelsäule und kopf in annähernd eine Gerade kommen, also zu Haltungen, die auf ebener Erde der aufrechten Stellung entsprechen würden; die Verstärkung der kückenmuskulatur, des „Erector trunci“, der vereinigten Lendenteile des Semispinalis und Longissimus wird die Verlegung des Schwerpunktes nach hinten auch auf ebener Erde erleichtert haben. Damit aber ist die An- näherung an die Balanzierung des Kopfes gegeben, welche eine Vergröbße- rung des Volumens der Gehirnkapsel mechanisch gleichgültig erscheinen läßt. Bei allen Tieren, speziell Primaten und den Anthropoiden, namentlich bei Orang und Gorilla in hohem Maße, vollzieht sich eine relative Ver- kleinerung der Gehirnkapsel im individuellen Leben. Das starke Zurück- bleiben des Gehirns bei den großen Menschenaffen läßt Orang und Gorilla in ihren höheren Alter so sehr tierisch, man möchte fast sagen mikro- cephal erscheinen, im Unterschied von dem durch schöne Schädelwölbung sehr menschenähnlichen Jugendzustand. Der Mensch verharrt in gewissem Sinne im Jugendzustand, indem bei ihm die freilich auch hier eintretende relative Verkleinerung der Hirnkapsel sich viel weniger bemerkbar macht als bei seinen Verwandten. Das Nähere über diese mechanische Bedeutung des aufrechten Ganges für die Gehirnvergrößerung soll in einem späteren Teil dieser Studien besprochen werden. Hier kommt es zunächst hauptsächlich auf Veränderungen der Wirbelsäule an. Die Lordose der Lendenwirbelsäule ist der Ausdruck für die mechanische Veränderung der Rückwärtsverlagerung des Schwerpunktes. Ich habe gefunden, daß die scharfe Abknickung der Lendenwirbel- säule gegen das Kreuzbein, die als „Promontorium* für gewöhnlich beim „Europäer“ angetroffen wird, bei den Australiern fehlt und daß sich an dessen Stelle eine mehr allmählich sich vollziehende gleichmäßige Vor- wölbung der Lumbosacralreeion der Wirbelsäule findet. Ferner konnte ich zeigen, dab die Australier ein Minus an Volumen der Lendenwirbelsäule aufweisen, das ich im Sinne einer relativ geringeren Anpassung an Be- lastung deutete. Zahlreiche Tatsachen, die teils schon von früheren Beob- achtern an den Knochen der unteren Extremität gefunden, teils von mir festgestellt wurden, konnte ich unter einen gemeinsamen Erscheinungs- komplex zusammenfassen: Es bestehen deutliche Unterschiede innerhalb der Menschheit mit Rücksicht auf die Anpassung des Skeletts an die auf- rechte Körperhaltung. Der niedere Zustand, wie er mir wenigstens von den Eingeborenen Australiens am besten bekannt ist, zeigt noch eine Fülle von Merkmalen, die auf eine geringere Belastung und auf eine Neigung zur vormensch- lichen halb aufrechten Haltung hinweisen: die gracile Beschaffenheit des Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 255 Tarsus, die sagittale Krümmung der Tibia, besonders die „Retroversion“ des Tibiakopfes, die noch an den Zustand der Winkelknickung des Beines erinnert: damit kombiniert sich die gerade Gestaltung der Fibula als ursprüng- licher Zustand. Am Femur geht der Schaft in unvermittelter Weise in die Verbreiterung am Knie über, das Collum femoris ist steil emporgerichtet; das Becken ist steil und eng in beiden Geschlechtern; das Kreuzbein ist häufig auffällig schmal, entsprechend der geringen Dimensionen der Lenden- wirbel. Trotz aller dieser inferioren oder „Beugemerkmale“, wie ich sie zusammenfassend bezeichnen möchte, sind die Australier vollständig zum aufrechten Gang befähigt, sie haben sogar eine sehr stolze Haltung. Hieraus habe ich den Schluß gezogen, daß man sehr wohl unter- scheiden muß zwischen dem rein physiologischen Begriff des aufrechten Ganges und dem morphologischen Begriff der Umgestaltung des Skeletts der Wirbelsäule und der unteren Extremität in Anpassung an die (Gre- wohnheit aufrechter Körperhaltung. Durch diese kritische Sonderung wird die Möglichkeit der Erklärung der Erwerbung des aufrechten Ganges sehr wesentlich erleichtert. Der Zu- stand des Australiers knüpft rein anatomisch betrachtet an die niederen Zustände direkt an, ist in vieler Hinsicht primitiver als bei den Anthro- poiden, daher „präanthropoid“, wie ich es nenne. In seiner Abkapslung von der übrigen Welt ist er in dem Stadium des Klettermenschen primi- tivster Art erhalten geblieben. Mit Vorliebe sinkt sein Körper wieder in die alte Ruhelage zurück mit gekrümmtem Rücken, das Gesäß auf den Fersen aufruhend; die Knie an die Brust gezogen — eine Haltung, die an die intrauterine erinnert. Diese Hockerstellung ist allgemein auch den Toten gegeben worden; auch in der alten und der neueren Steinzeit Europas. Noch heute schnüren die Eingeborenen Australiens ihre Toten in dieser Haltung mit Pflanzen- faserstricken zusammen zu Hockermumien. Eine deutliche Parallele zu den Beugemerkmalen der erwachsenen primitiven Zustände der Menschheit liefert das Jugendstadium der höheren Rassen, speziell der Europäer. Auch hier können wir feststellen, daß zu- erst der aufrechte Gang erworben wird unter Fortbestand einer Anzahl niederer Merkmale am Skelett bis zur Pubertätszeit und daß erst allmäh- lich die Anpassung an die Folgen der aufrechten Haltung sich an den Teilen der unteren Extremität und der Wirbelsäule definitiv ausprägen. Das Europäerkind bietet eine stammesgeschichtliche Wiederholung des erwach- senen Australierzustandes dar. Es sei hier nur beiläufig darauf hingewiesen, daß ein ganz ähnlicher Zusammenhang sich auch an anderen Teilen und Organen zeigt, wie z. B. in der Gesichtsbildung bezüglich der australoiden Stumpfnase. Um von den Teilen der unteren Extremität ein Beispiel herauszu- greifen, so möge der Gestaltung der Tibia gedacht werden, die im Jugend- lichen Europäerzustand noch lange die Retroversion des Caput erkennen läßt. @. Retzius hat zuerst auf dieses Verhalten beim Neugeborenen der 256 Hermann Klaatsch. Europäer hingewiesen. Die völlige „Aufrichtung“ der Tibia findet meist erst zeren das zehnte Jahr hin statt. Damit verändert sich auch, wie ich gezeigt habe, die Fibula, die mit ihrem Caput der Aufrichtung der Tibia folgt, wodurch der ganze Knochen die nach vorn konkave Gestaltung be- kommt im Unterschied von der einfachen Geraden in den niederen Zuständen. Am Fuß tritt in Anpassung an die stärkere Belastung eine Ver- stärkung und Vergrößerung der Tarsusteile ein. Das Fußskelett der Australier ist auch im männlichen Geschlecht eracil. Die gleiche Erscheinung ist von den Vettern Sarasin an den Füßen der Veddahs festgestellt worden. Es fehlt hier gänzlich die massige, oft plumpe Ausbildung von Knochensubstanz wie beim Europäer. Kleinheit, Eleganz, Zartheit verbindet sich mit scharfer Ausprägung des Reliefs an Furchen, Fortsätzen und Gelenkflächen. Am Femur ist die Verbreiterung des distalen Drittels des Schaftes, die „trompetenförmige* Gestaltung ein Ausdruck für die stärkere Be- lastung. Am Becken stellt sich die Verbreiterung des Ganzen, Abflachung der Schaufeln ein; das Kreuzbein wird viel massiver und damit auch die Lendenwirbelsäule im Unterschied von dem Brustteil. Hierzu kommt die scharfe Ausprägung des Promontorium. Alle diese Erscheinungen sind vorläufig beim Europäer am genauesten bekannt. Aber auch die Afrikaneger, sind. deutlich darin von den Austra- liern unterschieden. Hingegen stimmen die Veddahs und andere primitive östliche Völker mit den Australiern überein. Auch unter den fossilen Men- schentypen Europas zeigen sich beträchtliche Unterschiede. Die gracile Aurignacrasse schließt sich in ihrem Skelettbau ganz an die Austra- lier an. Die Untersuchung dieser Verschiedenheiten bei den Menschenrassen stellt ein Arbeitsgebiet dar, das erst seit wenig mehr als zehn Jahren in systematischer Weise in Angriff genommen worden ist. Das Studium der fossilen Menschenknochen führte mich auf dasselbe und im Jahre 1902 versuchte ich zum erstenmal auf dem Anthropologenkongreß zu Dortmund die „Variationen am Skelett der jetzigen Menschheit in ihrer Bedeutung für die Probleme der Abstammung und Rassengliederung“ zu behandeln. Für die Wirbelsäule und die untere Extremität bildeten die hier kurz wiederholten Gesichtspunkte die Grundlagen meiner Studien auf einem Gebiete, auf den man bis dahin nicht imstande gewesen war, in das Chaos individueller Variationen Ordnung zu bringen. Als leitender Gedanke ergab sich aus meinen Untersuchungen die Erkenntnis, dal uns der Komplex der Beugemerkmale den Urzustand des Skeletts der unteren Extremität und der Wirbelsäule offenbart und dal) von dieser gemeinsamen Basis aus sich die Zustände der anderen Men- schentypen — (der modernen Europäer, der Negroiden und der Mongoloiden sich entwickelt haben, und zwar unabhängig voneinander. Durch eine solche Betrachtungsweise gewinnt der Begriff der Rassenmerkmale eine neue Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 257 Vertiefung im genetischen Sinne. Viele der Verschiedenheiten, die wir darin zwischen höheren und niederen Rassen antreffen, stellen sich als Fixierungen verschiedener Etappen von Entwicklungsgängen dar, die eine allmähliche Anpassung an die aufrechte Körperhaltung dokumentieren. Da uun aber verschiedene Entwicklungsgänge niemals zu ganz gleichen Re- sultaten führen, so besteht a priori schon die Möglichkeit, daß sich z. B. zwi- schen Negroiden und Mongoloiden Verschiedenheiten finden werden, die nun als Rassenmerkmale aufgefaßt werden dürfen. Für die heutige europäische Bevölkerung ist bezüglich dieser osteo- logischen Charaktere ein einheitliches Bild nicht zu erwarten. Die Mischung aus mindestens zwei ganz -verschiedenen Zweigen der Menschheit, die schon zur Eiszeit eintrat, läßt die große individuelle Variation begreiflich erscheinen. Von den beiden bisher festgestellten Urrassen unterscheidet sich die Neandertalrasse in ihrem Skelett der unteren Extremität durch Plumpheit und Derbheit der Knochen von der oben erwähnten australoiden Aurignacrasse. Über die Tarsusknochen der Neandertalmenschen des belgischen Spyfundes hat 1902 Prof. Leboueg-Genf auf dem Anatomenkongreb zu Halle Mitteilungen gemacht. Der plump-massive Bau des Talus, der kurz und breit ist, stimmt ganz mit dem Erscheinungskomplex überein, den ich für die Tibia der Neandertalrasse festgestellt habe. Meine neueren Untersuchungen haben sehr bemerkenswerte Annäherungen der Tibia an die Zustände beim Gorilla ergeben. Die individuellen Variationen dieser afrikanischen Anthropoiden bieten verschieden starke Anklänge an den Neandertalzustand. Die kurze plumpe Tibia dieser Menschenaffen und der Neandertalmenschen weisen auf ganz andere Belastungszustände hin, als sie bei den Australiern sich finden. Hieraus ergibt sich für den Gorilla die Wahrscheinlichkeit, daß seine Vorfahren der Anpassung an aufrechte Körperhaltung in mancher Hinsicht bereits unterworfen waren. (Ganz se- kundär sind dann durch die veränderte Lebensweise die vom Menschen ab- weichenden Proportionen der Gliedmaßen beim Gorilla entstanden. Sein Fuß aber zeigt sich auch bei dieser Betrachtung als der dem Menschen ähn- lichste von allen Primaten. Eine sehr dankbare Aufgabe zukünftiger Forschung wird die genaue systematische vergleichend-anatomische Untersuchung des Fußskeletts der Menschenrassen und Menschenaffen bilden. Mein Vorgehen auf diesem ganzen Gebiete hat noch keineswegs hinreichend Nachfolger gefunden. Erst mühsam bricht sich die Erkenntnis von der Bedeutung dieser Variationen für das Verständnis des Menschen Bahn. Es ist daher sehr zu begrüßen, daß in neuerer Zeit von praktisch medizinischer Seite das Interesse an der Stammesgeschichte des Menschen- skeletts sich regt. Ein treffliches Zeugnis hierfür ist eine aus der chirur- gischen Klinik des Geheimrat Bier zu Berlin hervorgegangene Publikation von Prof. Dr. R. Klapp: „Der Erwerb der aufrechten Körperhaltung und E. Abderhalden, Fortschritte. VII. 17 IHR Hermann Klaatsch. sei 2 für die Entstehung orthogenetischer Erkrankungen“ (M ned. Wochenschr., Nr. 11 und 12, 1910). diese Publikation mit der erößten Freude begrüßt und sie \nlab für mich geworden, hier die ganze Frage von meinem kt aus noch einmal ausführlich im Zusammenhang zu behandeln. ınnte nämlich, dab R. Klapp bei seinen Betrachtungen sich viel auf einen quadrupeden Vorfahrenzustand als Ausgangsstadium teitt. Er kennt zwar meine Arbeiten zum Teil und hat offenbar auch nige Anregung aus Ihnen geschöpft, aber das Wesentliche an meiner nzen Anschauung ist ihm doch nicht bekannt geworden. Gegenüber der Vergleichende Zusammenstellung der Tibiae von zwei Europäern links, zwei Australiern. einem Afrikaueger and einem.Negrito rechts, um die Verschiedenheiten der Aufrich tung des Tibiakopfes zu zeigen (Klaatsch phot. Aus „Weltall und Menschheit“, II.) wirklich bahnbrechenden Tendenz, die in dem Bestreben von R. Klapp her- vortritt, würde ich an sich auf die nicht genügende Kenntnis meiner An- sichten wenig (Gewicht legen, aber ich habe die Überzeugung, dal eine erneute Prüfung des Problems in meinem Sinne für den Gedankengang der Publikation Alapps neue Anregungen geben und manche der schein- baren Schwierigkeiten beseitigen wird, die Klapp hervorhebt. Das gilt in erster Linie von der Frage, wie es kommt, daß die nie- deren Menschenrassen keine der schädigenden Wirkungen zeieen, die bei den „höheren“ hervortreten. Klapp schreibt \nscheinend hat aber die aufrechte Körperhaltung enie geschadet. Jedenfalls wußte man bisher kaum etwas von Schädi- ‚ungen, die auf den Erwerb der aufrechten Körperhaltung zurückzuführen Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 259 wären. Dazu hören wir, daß tiefer stehende Menschenrassen sich weniger an den aufrechten Gang angepalit Fig. 105. haben als wir. Wenn der Erwerb der aufrechten Haltung unmittel- bar Schädigungen nach sich zöge, so mübten tieter ste- hende Stämme, wie z. B. die Ved- das, mehr unter solchen leiden als wir, da sie sich weniger angepalit haben, als wir. Und doch hören wir von allen Rei- senden, dal) diese niederen Rassen an keiner der in Betracht kommen- den Krankheiten leiden. Diese Ver- hältnisse machen das Objekt gerade recht interessant und bedeutungs- voll.“ Machen wir bei diesem Satz zunächst einmal Halt. In der Tat wäre es ganz un- begreiflich, wie diese Erwerbung der aufrechten Fer . . Ü Körperhaltung bei ? den niederen Ras- a Brustwirbelsäule eines Europäers links und eines australischen Ein- = es geborenen rechts; daneben die entsprechend annähernd gleichlangen sen ohne Scehädi- Femoren. 5b Lendenwirbel derselben Individuen. Die relativ geringen - F Dimensionen der Wirbel des primitiven Menschentypus in Vergleichung gungen hätte er- mit denen der Europäer. föüleen können (Klaatsch phot. Aus „Weltall und Menschheit“, II.) wenn sie so vor sich gegangen wäre, wie A. Klapp sie sich vorzustellen scheint. Er IKz 260 Hermann Klaatsch. basiert seine Betrachtungen wesentlich auf Wiedersheim, und zwar auf eine ältere Auflage von dessen „Bau des Menschen“, in denen auf meine Untersuchungen nur wenig Bezug genommen wird. So kommt es, daß er sogar beim Descensus der Hoden meinen Namen nicht zitiert. Für die vordere Extremität teilt er noch ganz die alte Auffassung von der sekun- düren Gestaltung „als allmählich freier und geschickter zu handhabenden Hebel“, „Das Schlüsselbein entwickelt sich weiterhin zu einem Strebepfeiler »wischen, Sternum und Schulterblatt und schiebt so die obere Extremität vom Rumpf ab, was eine Erleichterung der Beweglichkeit dieser Extre- mität bedeutet.“ Wir wissen heute, daß gerade in dieser Beschaffenheit der Clavicula der Mensch ebenso wie in seiner Hand uralte Zustände fortführt. Auch alle anderen Betrachtungen über die Formveränderungen des Thorax, die Modifikationen des Kreislaufs usw., würden in dem Gedanken- gange Klapps sich naturgemäßer und richtiger darstellen, wenn er dabei nicht von dem horizontalen Rumpf, sondern von der halbaufrechten Körper- haltung ausgehen würde. Wenn ich darauf Gewicht lege, so geschieht es hauptsächlich. weil sich aus der Änderung der Voraussetzung auch prak- tische Änderungen für die Konsequenzen ergeben. Unter der Bezeichnung „Orthogenetische Nachteile“ faßt Klapp alle die Schädigungen zusammen, die dem Menschen durch die Erwerbung der auf- rechten Körperhaltung zuteil geworden sind. Wenn auch der Mensch, wie Klapp ausführt, erst hierdurch „in den Stand gesetzt wurde, sich weiter körper- lich und kulturell zu entwickeln, so ist ihm die aufrechte Körperhaltung doch nicht ausschließlich nützlich gewesen, sondern sie hat ihm auch Nach- teile gebracht, die als zunächst latente Disposition aber schon den Keim zur Entwicklung mancher Folgekrankheit in sich tragen sollten.“ Da bei niederen Rassen dieses schädigende Moment fehlt, so schließt er: „Es muß) darnach ein auslösendes Moment hinzukommen, das die Unzweckmäßigkeit der aufrechten Haltung erst manifest macht. und das ist zweifellos gegeben in der Kultur und ihrem degenerierenden Einfluß auf die Stütz- und Bindegewebe.“ Sehr treffend ist der Ausdruck „Belastungsdeformitäten“ als Sammel- begriff für alle Schäden, die aus der „Insuffizienz“ der Stützapparate her- vorgehen. Folgt man meiner Deduktion, so fallen alle diese Erscheinungen zu- sammen mit den sekundären Anpassungen an die mechanischen Bedingungen der anfrechten Körperhaltung. Den von Bier stammenden theoretischen segriff der „Schwäche der Binde- und Stützsubstanzen* möchte ich als eine stammesgeschichtliche Erschlaffung oder Ermüdung der Teile auf- fassen, die den neuen Belastungsbedingeungen unterworfen wurden. Inwie- weit dafür der Kultur als solche die Schuld zugemessen werden soll, Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 961 möchte ich dahingestellt sein lassen. Hohe Kulturvölker, wie Japaner und Chinesen, leiden, wie mir scheint, weniger unter diesen Dingen als die Europäer. Es wäre jedenfalls eine sehr wichtige und dankbare Aufgabe, eine Zusammenstellung darüber zu machen, wie sich die Häufigkeit der von Klapp hauptsächlich betonten Erkrankungen bei den verschiedenen „höheren“ Menschenrassen stellt. Gewiß will ich nicht den schädigenden Einflul der Kultur, d.h. in diesem Falle des Verlassens der wilden Lebensweise leugnen. Wir sehen, daß die Australier sofort Zahncaries bekamen, wenn sie mit Europäern zusammenleben, sofort Tuberkulose, sobald sie Kleider anziehen. Aber andrerseits haben manche Kulturvölker eine mehr widerstandsfähige Kon- stitution als andere. Die Erkrankungen der Skelette von Affen, die in zoologischen Gärten gehalten werden, zeigen auch die Schädigungen unnatürlicher Le- bensweise. Eine weitere Verfolgung des von Klapp angeregten, sicher sehr fruchtbaren Gedankenganges wird zu einer noch schärferen Analyse da- rüber führen, für welche Schädigungen denn wirklich die vertikale Hal- tung in Betracht kommt. Ich wundere mich, daß er unter der Kategorie der orthogenetischen Erkrankungen nicht die Leisten- und Schenkelbrüche anführt, bezüglich ‚deren sich wenigstens mir zuerst und lange vor den Untersuchungen von Klapp die Annahme aufdrängte, daß sie als ganz spezifisch menschliche Krankheiten doch sehr wahrscheinlich mit der Erwerbung der völligen Aufrichtung zusammenhängen. Bei Australiern ist mir nichts über das Vorkommen solcher Leiden bekannt geworden. Es ist daher jedenfalls die sekundäre Wirkung der aufrechten Haltung in Verbindung mitder Erschlaffung der Stütz- und Bindegewebe, auf deren Rechnung die Hernien zu setzen sind. Bei den Leistenbrüchen liegt eine verhängnisvolle Kombination der uralten Säugetier-Erwerbung der männlichen Keimdrüsenverlagerung mit den Änderungen des intraabdominalen Druckes infolge der vollständigen Aufrichtung vor. Die eigentlich unnatürliche Haltung des Oberschenkels beim Stehen hat zu Spannungen in der Inguinalregion geführt, durch welche die präexistierenden Loei minoris resistentiae ihre verhängnisvolle Bedeutung gewinnen. In einer schon weit zurückliegenden Arbeit über den Arcus eru- ralis (Anatom. Anzeiger 1887) habe ich die Verschiedenheit der Regio in- guinalis und der Regio femoralis bei Affen und Menschen dargestellt. Hierbei konnte ich zeigen, daß die derben Fascien jener Gegenden sich erst beim Menschen finden: „Die Fascien dieser Gegend sind bei den Affen wenig entwickelt. Dies gilt besonders von den Spezialfascien der Muskeln des Beckens und des Öberschenkels.” Die Fascia lata fand ich bei Cynocephalus „von quer und längs zur Extremitätenachse verlaufenden Fasern gebildet, locker angeheftet an die Aponeurose des Obliquus exter- 262 Hermann Klaatsch. nus“. "st beim Menschen kommt es zu einer festeren Verlötung der stark oewordenen Fascia lata mit der Obliquus externus-Aponeurose, wo- durch die lateral vom Durchtritt der Gefäße und Nerven gelegene Partie niederzezogen wird. Medial ist es die Fascia ileopectinea, die mit der l’oeten-Insertion des Obliquus externus verschmilzt, dieselbe bei Streckung des Beins niederzieht. Der Teil der Externus-Aponeurose, der hierbei eine Unmbieeung erfährt, ist das Ligamentum Gimbernati. Erst mit dieser Um- sestaltung kommt es zur Ausprägung eines Annulus femoralis externus. Das hängt mit den Änderungen der Zirkulationsverhältnisse der unteren Extremität zusammen, die Klapp auch berührt, ohne jedoch den sehr naheliegenden Zusammenhang mit dem Problem der Schenkelbrüche zu be- merken. Nach meinen Untersuchungen ist die Vena saphena magna eine- typisch menschliche Bildung. Bei den Affen münden zwar unter der Ingui- nalfurche kleine Venen von verschiedenen Gegenden kommend in die Vena femoralis, aber die Ausprägung eines Hauptgefäßes, das sich über die ganze Extremität verfolgen läßt, ist nicht vorhanden. Die scheinbare Un- terbrechung der Fascia lata an der Fossa ovalis ist erst durch die Ver- stärkung der Fascia überhaupt entstanden und damit erst wurde die Möglichkeit der Bildung des sogenannten Schenkelkanals gegeben, dessen äußere und innere Öffnung genetisch ganz unabhängig von einander sind. Deutlicher als in diesem Falle kann wohl die orthogenetische Natur einer krankhaften Disposition gar nicht gedacht werden. Ein Gegen- stück zu der sekundären Ausbildung der Vena saphena magna bildet die Rückbildung der Arteria saphena, die, wie Popensky vermutete, mit der Aufrichtung des Körpers zusammenhängt. Sehr richtig betont Klapp- die Verlängerung der Blutsäule und die Vergrößerung des hydrostatischen Druckes, als deren Folgezustand die Varizen aufzufassen sind. Am Arm. fehlt die Ursache und damit das Leiden gänzlich. Interessant sind die Bemerkungen Klapps, dal» die Veränderungen der Körperhaltung sogar für die Zirkulationsänderungen im Bereich der unteren Hohlvene verantwortlich gemacht werden sollen, und daß mit der Ausprägung der Lordose, die Ja auch so typisch menschlich ist, Schäden gesetzt würden, die zum Auftreten der „orthotischen Albuminurie“ führen können. Für den Zentralapparat des (Grefäßsystems ist in der Klappschen Be- trachtung der Umstand störend, dal er von der horizontalen Lage aus- geht und eine Stellungsänderung der Körperachse von 90° annimmt. „Man kann den horizontalen Kreislauf beim Säugetier mit der Wasserleitung für das Parterre, den vertikalen Kreislauf des Menschen mit der Wasser- leitung für die 4. Etage vergleichen.“ Diese Differenz ist doch überschätzt. Man sollte vielmehr das in jedem Falle relativ günstige Verhältnis der halbaufrechten Haltung für die Zirkulation betonen im Unterschied von den beiden Extremen, deren eines die aufrechte, deren anderes die hori- zontale Stellung bedeutet. Dal die letztere typische quadrupede Situation auch ihre Nachteile haben mul), ist ja klar. Dieselben Mängel, die beim Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 263 Menschen der unteren Extremität anhaften, betreffen z. B. bei den Huf- tieren sicherlich beide Extremitätenpaare. Eine schärfere Sonderung dieser verschiedenen Situationsmöglich- keiten dürfte, wie ich vermute, auch praktisch sich als fruchtbar erweisen bezüglich der therapeutischen Konsequenzen, die Klapp aus seinen De- «duktionen ableitet. Das Kriechverfahren, das Klapp und andere nament- lich zur Behandlung der Skoliose und der Thoraxenge empfehlen. scheint mir etwas zu viel des Guten. Nach meinen Vorstellungen würden Kletter- bewegungen bei halbaufrechter Position dasselbe erreichen und wahrschein- lich noch günstigere Folgen haben. Ähnliche Verfahren werden ja auch schon von den Orthopäden benutzt. Senkrecht oder leicht schräg gestellte Stangen mit Querhölzern für die Griffe, vielleicht auch Nachahmungen der austra- lichen Kletterweise an künstlichen Kletterbäumen mit Kerben würde ich empfehlen. Mir scheint aber, daß wir ein sehr viel einfacheres Mittel be- sitzen, das nahezu alle gewünschten mechanischen Bedingungen für Thorax- mobilisierung besitzt und außerdem noch die Kulturschäden gründlich be- kämpft, das ist das Bergsteigen, und zwar nicht das auf wohlgeebneten Pfaden der Mittelgebirge, sondern das Klettern in den Alpen. Eine syste- matische Anwendung dieser Therapie gerade in den Entwicklungsjahren, etwa vom 10. Jahre an, dürfte prophylaktisch und direkt therapeutisch allen Zimmermethoden überlegen sein. An den Betrachtungen Harts, die Klapp zitiert, über die stammes- geschichtliche Veränderung der Thoraxform ist sehr viel Richtiges. Aber die „Vierfüßler“-Form des Thorax ist nichts den Quadrupeden Eigentüm- liches, sondern besteht als Urzustand bei den primitiven Klettersäuge- tieren und wird vom menschlichen Embryo wiederholt. Auch hier können wir zwei Wege der Entwicklung feststellen, einmal eine noch weitere Ver- schmälerung unter Rückbildung der Clavicula, zweitens eine Verbreiterung bei Abnahme des sagittalen Durchmessers und Verlagerung der Scapula nach hinten. Die Scapula befindet sich ursprünglich in einer annähernd sagittalen Haltung zur Seite des Thorax. Die Gelenkfläche für den Hu- merus ist annähernd nach vorn, respektive vertikal gerichtet. Mit der Ver- breiterung des Thorax rückt sie mehr auf dessen Hinterfläche in eine frontale Stellung. Das flügelförmige Abstehen der Scapula ist noch ein Rest der alten, tierischen Stellung. Mit diesen Veränderungen geht eine Größenzunahme der Fossa infraspinata einher, entsprechend einer Ver- stärkung der supinatorischen Muskulatur des Armes, die ich auch mit dem menschlichen Klettermechanismus in Zusammenhang bringe, die sich aber für die Benützung des Armes zum Werfen, z. B. von Wurfkeulen, Speeren etc, als sehr nützlich erweist. Damit gehen auch die Verände- rungen am Humerus vor sich. Das Caput humeri stand naturgemäß ur- sprünglich ziemlich genau nach hinten, da die dazugehörige Scapularge- lenkfläche nach vorn sah. Richtet sich letztere mehr seitlich, so wird der Humeruskopf ihr folgen und mehr medialwärts sich einstellen müssen. Dem entsprechend finden sich Unterschiede innerhalb der Menschheit, die, 2654 Hermann Klaatsch. schon seit längerer Zeit tatsächlich bekannt, als Variationen des „Torsions- winkels® des Humerus aufgefaßt werden. Dieser Winkel bezeichnet die Di- vergenz einer transversal durch das Cubitalgelenk gelegten Achse von einer durch das Caput humeris gelegten Geraden. Ursprünglich sich einem Rechten nähernd, verkleinert sich dieser Winkel bis um die Hälfte je nach der Einwärtsumstellung des Humeruskopfes entsprechend der Umstellung der Scapula in Abhängigkeit von der Thoraxverbreiterung. Auffällig ist, daß der Gorilla auch in diesen Punkten sich gar nicht primitiv verhält, sondern mitten in die Variationsbreite höherer Menschenrassen fällt; sein mächtiger breiter Thorax verrät ebenso wie sein Fig. 106. Fuß, dab hier bereits eine mensch- liche Entwicklungsbahn eingeschlagen war, die erst sekundär verlassen wurde. Die Australier zeigen noch die schmale Thoraxform recht auffällig. ohne daß schädliche Folgen bemerk- bar wären. Ihre große Ausdauer im Laufen, die Fähigkeit, Strapazen und Verletzungen viel besser zu überstehen als Europäer, sind deutliche Zeichen dafür, dab die Insuffizienz der Stütz- gewebe noch fehlt. Tuberkulose scheint vor der Ent- deckung Australiens durch die Euro- päer nicht dort bestanden zu haben. Die Eingeborenen unterliegen allen Kulturkrankheiten sowie sie mit Euro- päern zusammenleben. In neuerer Zeit ist auch das Interesse der Neuropathologen für die Zwei australische Eingeborene, die Proportionen eines menschlichen Primitivtypus zeigend. Arme und Beine relativ sehr lang, besonders die distalen Abschnitte in Vergleichung mit dem Rumpf. Beispiele für niedere Menschenrasse, in der die sekundären Einwirkungen der aufrechten Körperhaltung noch nicht zur Herrschaft gelangt sind. (Klaatsch phot.) stammesgeschichtlichen Forschungen erwacht. Seit mehreren Jahren hat mein hiesiger Kollege und Freund Ot- fried Foerster sich eingehend mit der Ätiologie der Ausfallkontraktionen bei Kindern beschäftigt und wurde hierbei auf stammesgeschichtliche Fragen geführt. Seine Publikationen bildeten die Anregung zu sehr interessanten Studien, die neuerdings Dr. K. Hasebroek vom Hamburger Medico-mechanischen Institut über schlechte Haltung und schlechten Gang der Kinder im Lichte der Abstammungslehre anstellte und zu praktischen Schlußfolgerungen verwertete. Hasebroek nimmt viel spezieller als Klapp auf meine Untersuchungen Bezug und schließt sich meinen Anschauungen über den „Klettergang“ als Vorläufer des „Aufrecht- sanges“ vollständig an. Was seinen Ausführungen ein noch größeres In- teresse als denen Alapps verleiht, ist die Berücksichtigung der Zentral- Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 265 apparate. Seine Hauptresultate sind: „Die besagten Anomalien der Haltung und des Ganges resp. die ursächlichen Muskelspannungen sind auf Vor- fahrencharaktere zurückzuführen, die mit der kletternden Lokomotion zu- sammenhängen. Es handelt sich hierbei um nichts anderes als um inner- halb physiologischer Breite sich abspielende Innervationsvorgänge, die auf dem Wege der Entwicklung zur ÄAufrechthaltung und zum Aufrechtgang liegen und wie sie der Ausdruck eines nachklingenden Widerstreites sind zwischen alteingesessenen und durch Anpassung an den Aufrechtgang nötig werdenden neuen Innervationsmechanismen.“ Hasebroek hat aus diesen Betrachtungen bereits mit gutem Erfolg therapeutische Konsequenzen gezogen, wobei es sich eben darum handelt, durch Massage und spezielle Übung mancher Muskelgruppen die fehler- haften Zustände, die zum Teil auffällige Ähnlichkeit mit der Lokomotion der Anthropoiden aufweisen, zu bekämpfen. So stellt z. B. die Neigung zu starker Innenrotation des Unterschen- kels eine deutliche Annäherung an die Menschenaffenzustände dar. Die nahe Berührung von Theorie und Praxis konnte sich nicht besser dartun lassen, als auf dem noch für die Zukunft ein reiches Arbeitsfeld dar- stellenden Gebiete der Stammesgeschichte und Mechanik des Menschen- fußes. Literatur. P. Albrecht, Über diejenigen chirurgischen Krankheiten, welche die Menschen sich da- durch erworben haben, daß sie in die aufrechte Stellung übergegangen sind. Verh. d. Ges. f. Chir., 1887. E. Baelz, Die körperlichen Eigenschaften der Japaner. Mitt. d. Deutschen Ges. f. Natur- u. Völkerkunde Ostasiens. Tokio, Berlin, Bd. IV, H.XXXII, 1885. Bessel Hagen, Pathologie des Klumpfußes. Heidelberg 1889. Burmeister, Geologische Bilder zur Geschichte der Erde und ihrer Bewohner. Der mensch- liche Fuß als Charakter der Menschheit. 1835. W. L. H. Duckworth, Bericht über einen Fötus von Gorilla Savagei. Arch. f. Anthropologie, XXVII. Bd., 1900. 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