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THE UNIVERSITY
OF ILLINOIS
LIBRARY
Otitis
OAK ST ilDSF
Europäisdie Bücher
In der gleichen Sammlung sind erschienen:
LEONID ANDREJEW, Das Joch des Krieges. 3.-5. Tausend A. S. ASSEO, Das Massengrab. HENRI BARBUSSE, Das Feuer. 13.-33. Tausend BRIEFE EINES SOLDATEN. 1.-5. Tausend. LEONHARD FRANK, Der Mensch ist gut. 6.-15. Tausend ALFRED H. FRIED, Mein Kriegstagebuch I. ANDREAS LATZKO, Menschen im Krieg. 23.-33. Tausend
im Druck K. M. OBERUTSCHEW, Morgenröte. ROMAIN ROLLAND, Beethoven. 6.-16. Tausend LEO TOLSTOI, Tagebuch 1895-1899. 3.-5. Tausend
In Vorbereitung befinden sich:
GEORGES DUHAMEL, Leben der Märtyrer.
DOUGLAS GOLDRING, Das Glück.
ROMAIN ROLLAND. Michelangelo.
PAUL SABATIER, Leben des Heiligen Franz von Assisi.
KARL ZIMMERMANN, Der Hauptmann Deutschle.
ANDREAS LATZKO
FRIEDENSGERICHT
Erstes bis vierzehntes Tausend
Max Rascher Verlag A.-G. in Züridi 1918
Nachdruck Yerbolen
übersetzungsrecht vorbehalten
Copyright by Max Rascher A.-G., Verlag, Zürich 1918
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Gesdirieben: Herbst 1917 bis Ende Juni 1918.
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I.
FELDGRAU
Latzko. „Fri«densgeridit*
Georg Gadsky saß, zum Ausgehen gerüstet, auf ieinem Bett, ließ die Beine baumeln, imd starrte mit verkniffenen Lippen ins Freie hinaus. Ein mattblauer Himmel wölbte sich über den schwarzen, schneesüch- tigen Feldern, — Spatzen lärmten in den kahlen Pap- peln vor der Kaserne, — der laue Wind, der durch die offenen Fenster ins Zimmer schlug, legte eine süße, lähmende Müdigkeit in alle Glieder, als stände der Frühling vor der Türe, und nicht das Fest der Tannenbäume und der verschneiten Dächer.
Eä ww der letzte Sonntag vor Weihnachten, der sogenannte „goldene'* Sonntag der Warenhäuser; das erste Christfest in der Kriegszeit. Noch warf das un«- geheure Ereignis landeinwärts keinen Schatten; keine Entbehrung und kein Zwang lastete auf den Daheim- gebliebenen, nur die unbesetzten Stühle um den Fa- milientisch ragten mit leiser Melancholie in die Ad- ventfreude hinein. Ein Fieber hatte ganz Deutschland erfaßt; ein Erkenntlichkeitsrausch! Alle Welt griff nach dem Weihnachtsfest, wie nach der ersten Ge- legenheit, den geplagten Lieben dort vorne ein gutes Wort zuzurufen; und wer als Zuschauer durch die Straßen ging, mußte meinen, es würden sämtliche Schätze der Stadt eilig verpackt, um hinausgeschickt zu werden zu den feldgrauen Kindern, die sich redlich eine reiche Bescherung verdient hatten von der Heimat.
Nur an der Kaserne rollte diese Welle von Gebe- freudigkeit und Militäranbetung gleichgültig vorbei. Die Soldaten sahen, vor dem kleinen Postamt nebenan, die Menge sich stauen, Pappschachteln in allen Größen heransickern und hochgetürmt davonschwanken, stan- den neidisch am Fenster, und räsonnierten. Die
Dümmsten selbst empfanden dumpf den Widerspruch, zwischen dem stürmischen Bedürfnis der Bevölkerung, die Vaterlandsverteidiger zu ehren, und der Behand- lung, die ihnen in der Kaserne zuteil ward. Oft, wenn der Feldwebel den einen oder andern ärger als ge- wöhnlich „angehaucht** hatte, flog nach der Uebung, im Zimmer, das bittere Scherzwort auf: „Nur gut, daß meine Alte nicht hört, wie man hier mit uns umgeht, sonst wär's aus mit dem Respekt!'* Man lachte dann wohl, übertrumpfte die Wirklichkeit mit der Konstruktion kurioser Möglichkeiten; aber hinter den Spässen lauerte mächtig der heimliche Groll gegen dieses Kriegsschicksal, das Familienväter von den schwer erkämpften Postamenten zerrte, sie gleichsam an Stelle ihrer eigenen Söhne setzte!
Auch Georg Gadsky fühlte sich wie zertreten, wie herausgerissen aus sich selbst, und zu einem schä- bigen, verprügelten Duckmäuser degradiert. Er hatte eben ausgerechnet, daß die eiserne Bettstatt, auf der er saß, nun schon seit genau neun Wochen sein Zu- hause war, und verglich schaudernd den Menschen, der jetzt auf seinen Namen hörte, mit dem andern, der voll fröhlicher Entschlossenheit und stolzer Opfer- bereitschaft in die Kaserne eingezogen war! Was hatten sie aus ihm gemacht? Statt über- legen auf die andern hinabzublicken, die immer noch im Alltag steckten, als wüßten sie nichts von dem großen Kampfe, der draußen tobte, sah er neidzer- fressen auf jeden Zivilisten, der Kasemenmauem nur von außen kannte; und haßte, haßte diese Mühle, die jeden Stolz, jedes Restchen von Willenskraft und Selbstbewußtsein aus der Seele mahlte.
Stöhnend stand er auf und lauschte hinaus in die feierliche Stille, die das ganze Haus erfüllte. Am vorhergehenden Abend waren die Urlauber in langen Reihen zum Bahnhof marschiert; nur die „Städti- schen**, die weder Feld noch Familie hatten, blieben
auch für die Feiertage an den Pflock gebunden, wie renitente Fohlen. Selbst diesen Bauern war er nei- disch 1 Hätte tauschen mögen mit welchem immer, nur um für einige Tage weiter weg zu sein, als die Stimme des Feldwebels reichte! ...
Mit trägen, schleppenden Schritten marschierte er durch das Zimmer, vergrämt und angewidert, die Hände unwillkürlich von sich weggespreizt, als scheute er sich, seinen eigenen Leib zu berühren. Der preu- ßische Maurerpolier, der das Bett rechts von ihm be- wohnte, hatte ihn angesteckt mit seiner ekelhaften Redensart. „Wischt sich die Schnauze an uns ab !'* — pflegte er zu sagen, wenn Herr Feldwebel Stuff das Füllhorn seiner Ungnade über das Bataillon ausgoß; und Gadsky war es, als hätte dieses Bild ein unerträg- liches Gefühl der innern Unsauberkeit, des Besudelt- seins in ihn gepflanzt. Er mußte immer an die schmut- zigen Handtücher denken, die jeder im Vorbeigehen benützen kennte. Wahrhaftig, auch seine Seele trug die Fingerspuren sämtlicher Vorgesetzten! ... In den ganzen dreiunddreißig Jahren seines bisherigen Lebens war seinem Ehrgefühl nicht so viel angetan worden, als hier in den kurzen neun Wochen. Und warum? . . . Weil er aus eigenem Antrieb die schwere Last auf sich genommen, sich freiwillig zum Kriegsdienst ge- meldet hatte. Darum? Darum mußte er sich jetzt beschimpfen, erniedrigen, beschämen, verächtlich be- handeln lassen, von gewöhnlichen, kurzsichtigen Krea- turen ? Welchen Wahnsinn hatte er dann begangen ! . . .
Ergrimmt setzte er sich auf das Bett zurück und wühlte weiter in seinen Wunden. Was hatte ihn eigent- lich zu dem verhängnisvollen Schritt getrieben? Von allen Seiten war ihm ja abgeraten worden; bis zum letzten Augenblick wollten mächtige Gönner ihn frei- kriegen von dem gegebenen Wort; und er blieb hart- näckig bei seinem Entschluß. Wie konnte er ahnen, daß es so kommen würde? . . . Die tolle, kochende
Empörung sprang wieder in ihm hoch, bei der Er- irmerung an seinen Eintritt in die Kaserne, als sofort, gleichsam zur Aufklärung, die herrische Stimme des Feldwebels über ihn herfiel, und Georg Gadsky, vor einigen Minuten noch der berühmte Pianist, den re- gierende Fürsten an ihre Tafel luden, vor hundert servil grinsenden Menschen wie geohrfeigt dastand. Statt der Achtung, die seinem Entschlüsse gebührte, traf ihn giftiger Hohn; als müßte er für die Größe seines Verzichtes, für sein Können, und die Stellung, die er sich im Leben erobert hatte, ganz besonders gedemütigt werden. Die Kollegen aber, die aus „Gefälligkeit" einige Klavierpiecen zum besten gaben, zu Gunsten irgend einer Kriegshilfe, ernteten heißen Dank in allen Zeiungen fürihrOpferl
Allen Vorschriften und Verboten zum Trotze, warf er sich der Länge nach auf das harte Lager hin und schloß die Augen.
War nicht Mathilde doch ein wenig mitschuldig?
Sie hatte sich, so sehr sie's auch nicht wahr
haben wollte, in den ersten Tagen ganz in das preu- ßische Offizierskind zurückverwandelt; war mit glän- zenden Au gen ans Fenster geeilt, so oft unten ein Trupp vorbeimarschierte, hatte stundenlang vor den Redak- tionen auf Telegramme gewartet! Alles ging ihr zu langsam, alle Leute waren ihr zu stumpf, zu gleich- gültig; der ganze Süden fiel ihr auf die Nerven, daß sie am liebsten sofort nach Berlin hinauf wäre, so fremd fühlte sie sich auf einmal in der sonst so ge- liebten Stadt. Aeußerlich blieb freilich alles beim alten; er brachte sie zum Theater, holte sie wieder ab, nach den Proben, und sie reichte im die Lippen zum Kuß. Aber es war wie eine einbalsamierte Leiden- schaft, wie eine Quittung für genossenes Glück. Die Künstlerin, die sich über alle Vorurteile hinweggesetzt, ihm zu Liebe mit der ganzen vornehmen Verwandt- schaft sich überworfen hatte, war hinter dem Freifrau-
lein von Moellnitz verschwunden! Was konnte der Virtuose Gadsky, was konnte sein Geklimper ihr noch bedeuten, da sie, angesteckt von der blinden Begeiste- rung jener Tage, den Krieg mit seinem Reimwort Sieg verwechselte, und nur Fahnen und Triumph- bögen sah, wo Gräber und blutige Leichenberge den V/eg markierten? . . .
Heute freilich wollte sie nichts mehr wissen von der unerhörten Schlächterei! Heute erklärte auch sie es für ein Verbrechen, wenn er seine Hände, seine „einzigen" Hände — wie sie sagte — , an ein Gewehr verschwendete, das wer immer für ihn abfeuern konnte. Heute gab es wieder eine Kunst, die ihre Rechte hatte, so gut wie der Krieg. Hätte er geduldig warten sollen, bis sie zu ihm zurückfand? Schamlos auf seinem Schein bestehen sollen, wie ein Gläubiger? . . . Was Wunder, daß er sich hatte anstecken lassen von ihrem Rausch ?
Mit einem plötzlichen Ruck schnellte er in die Höhe, glättete rasch sein Bett, und nahm die Wan- derung durch das Zimmer wieder auf. Nein ! . . . Pfui Teufel! War es schon so weit mit ihm ge- kommen, daß er sich hinter eine Schürze verkroch? Die Verantwortung für seine Taten auf seine Ge- liebte abwälzen wollte? . . . Weiß Gott, man erzielte merkwürdige Resultate in dieser Erziehungsanstalt, die ihren Zöglingen, vor allem, das Zittern und Bangen vor Knöpfen, Tressen und Sternen beibrachte, auf dem Wege zum Heldenmut!
Stolz richtete er sich auf, und schleuderte den nie- drigen Verdacht weit von sich. Er selbst trug die Schuld! Er ganz allein! Sein verrückter Ehrgeiz, sein Uebermut, seine Leidenschaft, immer mit dem höch- sten Einsatz zu spielen, hatte ihn in dieses Abenteuer hineingeritten. Wäre der Krieg ein Jahr früher, oder ein Jahr später gekommen, er hätte sich den Schritt wohl dreimal überlegt. Nur in diesem einen Jahr,
nur gerade jetzt hätte die Versuchung nicht nach ihm langen dürfen!
Er' war eben erst angekommen; lag im Hafen, wunschlos und träge, mit schlaffen Segeln, weich ge- bettet auf einem Sack voll herrlicher Erinnerungen, und hatte an die Zukunft keine Forderung mehr. Was konnte er sich noch erträumen? . . . Drei beispielslos erfolgreiche Winterreisen waren der Inhalt der drei letzten Jahre gewesen. Ein Triumphzug durch Ame- rika und eine Tournee durch Rußland hatten ihm in Rubelscheinen und Dollarnoten ein Vermögen aufge- halst, das zuweilen den Verdacht in ihm weckte: so viel Geld könne gar nicht redlich erworben sein ! . . . Ein Heim entstand, bis ins Kleinste die Erfüllung seiner Wünsche; — die Bücher, die er sich aus allen Ecken der Welt zusammengeklaubt hatte, wurden fest- lich eingekleidet, und umrahmten sein Leben . . . Nur ein einziger Wurm nagte noch an seiner Zufrieden- heit: die Mutter war kurz vorher gestorben, und er hatte niemanden, mit dem er sein Glück teilen konnte. — Da traf er in Paris, wo sie ihn wie einen unge- krönten König feierten, zufällig Mathilde; und ehe sie richtig zu Bewußtsein kamen, hatten sie sich schon mit tausend Widerhaken ineinander verfangen I Sie gab sich hin, — warf Ruf und Namen wie unnützen Plunder weg, durchbraust von der schweren, hart- näckigen Leidenschaft spät erwachter Frauen. Keinen andern Halt wollte sie haben, als seine Arme, und die Stimme, die ihr nicht entzogen werden konnte, von der zürnenden Familie. Er stand beschämt vor dieser Opferbereitschaft; stürzte sich auf seine Ver- bindungen, und ruhte nicht, bis er, strahlend in väter- licher Freude, ihre Ernennung ans Hoftheater in Hän- den hielt.
So fand sie der Frühling unter einem Dach, nur durch einige Anstandsstufen getrennt; und ihre Tage gingen dahin, wie ein Strom, der «ich sein Bett von
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Tag zu Tag tiefer gräbt, abtr auch von Tag zu Tag breiter und langsamer fließt. —
Alles, was der verhöhnte Stationsvorsteherssohn aus dem schmutzigen, süddeutschen Bergwerksdorf, als unerreichbare Märchenherrlichkeit herbeigesehnt und trotzig sich zum Ziele gesetzt hatte, lag als bezwun- gener Gipfel unter ihm!
Mit dreiundreißig Jahren saß er als Wiederkäuer da, verurteilt, den Rest seines Lebens mit dem Ein- kassieren weiterer Konzerteinnahmen zu verbringen!
Und da kam der Krieg!
Vor ihm lag plötzlich ein ganz neuer Weg ; die un- verhoffte Möglichkeit, noch einmal von vorne anzu- fangen; ' und das hatte ihn verführt! Nur das!
Den ganzen Georg Gadsky, mit allem was er schon erreicht hatte, so hinzuwerfen auf den grünen Tisch, hinein in den Ozean von feldgrauen Tropfen, der alles verschlang, was nicht kräftig, und mutig, und Manns genug war, sich empor zu arbeiten; wie hätte er der Versuchung widerstehen können, sich so von neuem zu bewähren, alles neu zu erringen? . . .
Die Wiederkehr zu Mathilde, als Held, als or- densbesäter Offizier, als ein ganzer Mann, der das Schicksal zweimal gemeistert hatte, diese Vorstellung war sein Verhängnis gewesen! . . . Wie ein dummer Junge, der berauscht von der Lektüre des Robinson Crusoe, sich aus dem Eltemhause wegstiehlt, so blind, so täppisch, war er ins Verderben gerannt! Saß nun in der Falle und stierte geknebelt in die Freiheit zu- rück, die er mutwillig von sich geworfen hatte!
Wutentbrannt blieb er in der Mitte des Zimmers stehen, und sah zu den beiden anderen hinüber. Die hatten doch wenigstens keinen Grund, sich mit Selbsfe- vorwürfen zu quälen; waren nur dem Befehl gefolgt, dem eisernen Zwang. Haßerfüllt beobachtete er Fröbel, der eben sein Rasierzeug verpackte, und ein Liedchen vor sich hinsummend, in den Waffenrock
schlüpfte. Hätte ihm doch eine gütige Fee nur diesen devoten, verängstigten kleinen Volksschullehrer gezeigt! Er wäre gerettet gewesen. Einem gewöhnlichen Sterb- lichen hätte er freilich ins Gesicht gelacht, so unwahr- scheinlich wäre ihm die Prophezeiung erschienen: d\ß so ein kümmerlicher, feiger Geselle ihm den Rang ablaufen werde beim Militär. Beim Militär! ... In einem Berufe, der, nach seiner verschrobenen Vor- stellung, vor allem Kühnheit, stolzes Selbstvertrauen, Trotz und Ausdauer erforderte, und Schleicher und Schmeichler nicht brauchen konnte.
Mit geballten Fäusten wandte er sich ab, ging näher an Weiler heran, der auf einem umgestülpten Holzkoffer vor dem zweiten Fenster saß, über die Korrekturbögen seines neuen Bandes gebeugt. War es nicht merkwürdig, daß just diese beiden Menschen, die er am ersten Tage, während sie noch vor dem Kasernentor auf Einlaß warteten, angesprochen hatte, sein einziger Verkehr geblieben waren? — — — Er erinnerte sich an den kalten, nebeligen Morgen, an die vielen fröstelnden, feindselig dreinschauenden Gestalten, und an seinen Schrecken, beim Anblick dieser Leute, die nun sein täglicher Umgang werden sollten. Stumpf, verbraucht, wie mit schweren Ge- wichten behängt, standen sie da, verwahrlost an Leib und Seele; und aus der Mitte des düstem Knäuels stieg ein Geruch, als wäre in der Nähe eine Keller- türe geöffnet worden. Die hämischen Blicke,
die seiner bessern Kleidung entgegenflogen, weckten ein Gefühl in ihm, als wäre er nackt; und seine Augen durchstöberten sehnsüchtig das Gedränge, auf der Suche nach einem Landsmann aus seiner Welt.
So fand er Weiler, ängstlich an einen Pfeiler ge- schmiegt, hielt ihn für einen simplen, gutmütigen Bank- Beamten, und hätte am liebsten laut aufgejauchzt, als er nach wenigen Worten den feinen, eigenwilligen Dichter in ihm erkannte, den er oft schon gegen un-
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verständige Urteile in Schutz genommen hatte. Sofort war ein Zauberkreis um sie geschlossen; sie standen wie auf einer Insel, im Schutze ihrer Gemeinsamkeiten; und ihre Isoliertheit lockte auch Fröbel heran, der mit seiner mädchenhaften Verzagtheit die Aufmerk- samkeit einiger Spaßvögel auf sich gelenkt hatte. Er w&Y ihnen treu geblieben, trotz des Schattens, den ihre Unbeliebtheit bei den Vorgesetzten auf seine makel- lose Conduite warf; und diese Anhänglichkeit zwang auch Gadsky zu Nachsicht gegen seine sonstigen Schwächen.
„Gehen Sie schon?" — rief er ihm erstaunt zu, als er ihn, mit Mantel, Mütze und Seitengewehr an- getan, auf die Türe zuschreiten sah.
„Freilich!" — gab Fröbel vergnügt zurück, — „Herr Feldwebel Stuff hat mir erlaubt auszugehen, ohne mich vorher gezeigt zu haben."
Gadsky senkte den Kopf, um das bittere Lächeln zu verbergen, das seinen Mund verzerrte. Bei Gott, das war der rechte Mann für diese Leute! Nicht ein- mal in Abwesenheit des Gestrengen wagte er das Wörtchen ,,Herr** zu unterschlagen; und sein bärtiges Gesicht erstrahlte über die gnädige Erlaubnis, als wäre er Zögling einer Volksschule, und nicht Lehrer und Familienvater. „Der angehende Unteroffizier! Wissen Sie*s schon?" — rief Gadsky höhnisch zu Weiler hin- über, und deutete nach der Türe, die sich eben hinter Fröbel geschlossen hatte. „Der Einzige, der würdig befunden wurde! Wahrscheinlich wird angenommen, daß ein Mann, der gewohnt war, den Rohrstock zu schwingen, auch uns Rekruten gegenüber den rich- tigen Ton treffen werde! Hätten Sie sich*s träumen lassen, daß gerade die Eigenschaften Fröbels den Krieger zieren?" . . .
Und nach einigen nervösen Schritten durch das Zimmer setzte er aufbrausend hinzu: „Es ist doch eine Schande, daß man einen Menschen, dem die
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Augen überlaufen bei dem bloßen Gedanken, ins Feld zu müssen, den ärgsten Feigling im ganzen Ba- taillon, befördert, bloß . . .'*
Weiler hatte sein Manuskript zusammengefaltet und sah erstaunt in das gallige Gesicht Gadskys. „Warum gebrauchen Sie dieses häßliche Wort?** — fiel er gelassen ein. — „Was heißt denn das ,feig*? Der arme Fröbel sieht, wenn er von Granaten oder Sturmangriffen sprechen hört, unfehlbar seine eigene Leiche, oder seinen gräßlich zugerichteten Leib vor sich liegen. Seine Phantasie arbeitet nur an abschrek- kenden Visionen, dagegen kann er nichts tun. Würde er sich unversehrt durch jeden Kugelregen schreiten, als dekorierten, bewunderten Helden heimkehren sehen, wäre er gleich nicht mehr feig ! Das ist alles Tempera- mentssache! Selbst der Artillerieoberst Buonaparte wurde blaß, als zum erstenmal die Granaten naher an ihn heranrückten; und gab dem alten Haudegengene- ral, der ihn spöttisch fragte, ob er denn Angst habe, die überlegene Antwort: „Wenn Sie nur halb so Angst hätten wie ich, Herr General, wären Sie längst davon- gelaufen !**
Gadsky schüttelte giftig den Kopf. „Die Parallele zwischen Napoleon und Fröbel scheint mir etwas ge- wagt zu sein** — erwiderte er gereizt. „Es kommt wohl auch darauf an, was man zu verHeren hat! Die Krone Frankreichs, oder Fröbels Zweizimmer- wohnung. Ich will mich durchaus nicht mit Na- poleon vergleichen, aber ein höheres Spiel als Fröbel spiele ich doch! Zehn Jahre lang haben sie mich daheim verprügelt und verspottet, um mir die Flausen zu vertreiben, die ich im Kopfe hatte; zehn Jahre lang habe ich mich nachher selber dressiert, wie ein unerbittlicher Tierbändiger, zurück, und wieder zurück an den Flügel; und dann erst war das Ziel erreicht, das ich mir erträumt hatte! Dann erst saß im Orient- expreß, der täglich vorbeiflitzte ^n der kleinen Station
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meines Vaters, eines Tages Georg Gadsky als Fahr- gast, und flitzte mit vorbei an aller Qual, an den Ge- büschen und Mauern, die ihn weinen und in die Erde beißen gesehen hatten I . . . Wiegen Sie doch mal ab, was ich verliere I Was es heißt, gesiegt zu haben; selbst so eine Art Expreßzug geworden zu sein, der vorbeisaust an respektvoll grußenden Menschen, über Geleise, die für ihn freigehalten werden'* . . .
„Glauben Sie, dem armen Fröbel wiege sei . . .'* — wollte Weiler erwidern, aber das Wort riß ab in seinem Munde, wie mit der Scheere entzwei- geschnitten. Gadsky folgte seinen Augen, warf sich herum, und erstarrte in Achtungstellung beim Anblick des Feldwebels, der eben geräuschvoll die Türe ein- stieß und eintrat. Sofort war das Zimmer mit einem atemlosen Schweigen erfüllt, als ginge von dem stäm- migen, breitschultrigen Mann eine Hochspannung aus, die jeden AugenbHck mit einer Entladung drohte. Die kleinen, mißtrauischen Augen stöberten flackernd in allen Ecken, glitten über Betten und Regale, auf der Suche nach irgend etwas Vorschriftsvndrigem. Dann schob sich Herr Feldwebel Stuff, leise schnau- fend, gajiz nahe an Gadsky heran und blieb vor ihm stehen. Er fühlte instinktiv den Haß, der ihm ent- gegenstrahlte, und sofort entflammte auch er in stummer Feindseligkeit. Bis zur Türe war er in der besten Laune gekommen, mit der festen Absicht, gnädig zu sein, auch den zwei schwarzen Schafen ausnahmsweise keine Schwierigkeiten zu machen. E^ stand ja das Christfest vor der Türe, der größte Teil der Rekruten war auf Urlaub, es gab wenig Arbeit im leeren Hause, und schon das stimmte ihn milde. Dann hatte er am Vormittag Glück gehabt im Kartenspiel, war für den Rest des Tages zu einem Namens fest geladen, kurz: es machte ihm durchaus keinen Spaß, den schlechten Kerl zu machen! Aber der bloße Anblick Gadskys, wie er so entschlossen den Kopf in die Höhe reckte,
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entfesselte von neuem seinen Grimm, und sein ganzer, kugelrunder Körper ballte sich zusammen, als wollte er den Widerstand, der stumm vor ihm aufragte, über- rennen.
Herr Feldwebel Stuff war nichts weniger als ein Soldatenschinder, hielt sich sogar für gutmütig und nachsichtig, soweit sich das mit seiner Würde, und der schweren Aufgabe: den jährlich heranflutenden Rekrutenhorden Disziplin beizubringen, eben vertrug. Er hatte das ausgesprochene Bedürfnis, für einen „väterHchen** Vorgesetzten zu gelten, und der aggres- sive Hochmut dieses verdammten Klavierspielers brachte ihn zur Raserei ! Er war gewöhnt, den Leuten strafweise das Ausgehen zu verbieten, nur um in der letzten Minute seine Gnade walten zu lassen, und glaubte Anrecht zu haben auf einen dankbaren Hunde- bHck. Daß ihm der Krieg lauter alte Knochen als Rekruten zutrieb, war ihm selbst zuwider; könnt« ihn aber nicht bewegen, sein System zu ändern. Das Selbstbewußtsein Gadskys, die unausgesprochene Wei- gerung, wie zum Lieben Gott zu „seinem Feldwebel** aufzublicken; diese ganze, aus Hochnäsigkeit und tückischem Diensteifer gemischte Renitenz war etwas, das besiegt werden mußte! Ein Rekrut, der es ab- lehnte, von seinem Feldwebel mit Herablassung und Nachsicht behandelt zu werden, und jeden familiären Scherz mit eisigem Ernst honorierte, war ein trotziger Hund, der so lange kuranzt werden mußte, bis er aus der Hand fraß. Woher nahm sich der Lump das Recht, den guten Papa Stuff, den alle seine Soldaten liebten, voller Haß und Galle, als wäre er ein Teufel, anzustarren ? . . .
„Ihnen werde ich*s schon noch zeigen!** — bHes er ihm, ohne jede Einleitung, aus nächster Nähe ins Gesicht; und seine Stime wurde dunkehot, als Gadsky tadellos aufgerichtet stehen blieb, ohne blaß zu wer- den, im Gegenteil: mit einer niederträchtigen, kalten
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Verachtung in den Augen. „Sie sollen's noch lernen, wer von uns beiden der Stärkere istT* — ergänzte der Feldwebel seine Drohung, und ging zu Weiler hin- über, nur um Zeit zu gewinnen. Einen Augenblick leuig fühlte er sich versucht, diesmal Elmst zu machen; diesem Eisenschädel die Feiertage zu verderben, aber tüchtig! Nur das instinktive Gefühl, daß es leichter sei, diesem Menschen die Knochen, als den Eigen- sinn zu brechen, ließ ihn den Plan wieder beiseite schieben. Er musterte Weiler nur gaaz flüchtig; — zupfte den Rock zurecht; — wollte die Stiefel künftig noch glänzender sehen ; — und wackelte unentschlossen zu Gadsky zurück.
Wieder wurde es so stille im Zimmer, daß jeder seine Adern hänunern hörte. Dann hatte sich Feld- webel Stuff für eine kleine Verwarnung entschieden, und ergriff, nach kurzer Ueberlegung, den mittleren Knopf auf Gadskys Brust. „Warum ist dieser Knopf nicht geputzt?'* — brüllte er.
Gadsky schwieg.
„Sind Sie taub?'* — brüllte Stuff so laut, daß die Fenster klirrten. — „Warum haben Sie Ihre Knöpfe nicht anständig geputzt?"
„Herr Feldwebel, ich melde gehorsamst, ich habe sie geputzt," — antwortete Gadsky mit eisiger Ruhe.
Der Feldwebel schäumte. Eine jahrzehntelange Uebung ermöghchte es ihm, einen Knopf, den er nicht blank finden wollte, wenn auch nicht schmutzig zu sehen, so doch als schmutzig zu empfinden. „Geputzt? . . . Das heißen Sie geputzt? , . . Wenn Sie sich nicht in einer Viertelstunde mit bHtzblanken Knöpfen bei mir melden, unten, vor der Wache, dann bleiben Sie in der Kaserne! Heute und an beiden Weihnachts- feiertagen. Verstanden?"
„Zu Befehl, Herr Feldwebel!" — schallte es ihm nach, während er donnernd die Türe ins Schloß warf und schwitzend vor Erregung die Treppen hinuntcr-
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ging, zu seiner Frau, die vor dem Tore auf ihn war- tete. Wild knurrend erklärte er ihr, daß sie einige Minuten bleiben müßten, und wandte ihr dann un- gnädig den Rücken.
Er war unzufrieden mit sich selbst. Warum hatte er sich wieder hinreißen lassen? . . . Was hatte das für Sinn? . . . Auf diese Weise wurde der Kerl immer noch bockbeiniger. Entweder man packte ihn tüchtig an, oder gar nicht. Einmal wippen lassen, bis er hinfiel, oder . . . Alle zu Gebote stehenden Mittel ließ er nachdenklich an sich vorbeiziehen, und Wcirf seiner Frau, so oft er an ihr vorbeiging, mör- derische Blicke zu. Die war schuld an der ganzen Schweinerei! Ihr Einfall war es gewesen, den neu eingerückten Klavierklimperer in die Wohnung zu be- ordern, damit er den Gästen, — zwei Wachtmeister mit ihren Frauen, — was vormusiziere. Als dann der Kerl die Frechheit hatte zu erklären, daß er auf einem verstinmiten Pianino, — es hatte sechshundert Mark gekostet! — überhaupt nicht spielen könne, und sogar vorgab, das Lied: „Püppchen, du bist mein Augen- stern**, das die Gäste zu hören wünschten, als be- rühmter Klavierkünstler nicht zu kennen, — da blieb nichts weiter übrig, als ihn abziehen zu lassen, bla- miert vor den zwei Kavalleristen, die es an spitzen Bemerkungen nicht fehlen ließen. Was konnte man gegen einen Menschen machen, der sich weigerte, seinem Feldwebel zu Gefallen zu sein, statt sich ge- ehrt zu fühlen von der Aufforderung? Zwingen zu der außerdienstlichen Leistung durfte er ihn nicht. Aber lernen mußte der Kerl, was es hieß, sich hoch- näsig gegen seinen unmittelbaren Vorgesetzten zu be- nehmen! ... Und seither gab es kein Halten. Von Tag zu Tag vmrde die Sache immer noch schlinmier! Der Narr trug seine Nase erst recht hoch, je tiefer man ihn niederduckte; wollte nicht klein beigeben, und mußte, mußte unbedingt lernen, sich zu beschei-
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den! Mit geballter Faust versicherte es sich Stuff, daß es sein mußte, mußte!
„Scho wieder der Gadsky?" — lispelte die Frau Feldwebel neugierig, voller Bedauern für ihren armen, geplagten Mann, der nicht einmal am Sonntag seine Ruhe haben konnte. Aber die Antwort, die ihr an den Kopf flog, ließ es ratsamer erscheinen, sich zu- rückzuziehen, und so wartete sie aus der Entfernung neugierig ab, ob ihre Hoffnung sich bestätigen würde.
Frau Stuff war, ehe sie ihr Gatte aus der Küche seines Regimentskommandanten zum Altar geführt hatte, viele Jahre lang Herrschaftsköchin gewesen, und die Rachsucht für erlittene Demütigungen loderte immer noch hell in ihrem Herzen. Nie versäumte sie die Gelegenheit, geschniegelte Einjährig-Freiwillige, die verwöhnten Söhnchen ihrer einstmaligen Tyrannen, tunlichst lange im Korridor oder vor der Türe ihrer Wohnung auf den Herrn Feldwebel warten zu lassen; und diesem eingebildeten Kerl gar, der sie vor ihren Gästen blamiert hatte, gönnte sie erst recht alles Üble. Ihre Freude war groß, als wirklich der verhaßte Böse- wicht erschien, und auf offener Straße, unter reger Anteilnahme der vorüberspazierenden Zivilisten, tüchtig abgekanzelt w^rde! Stolze Genugtuung strahlte von ihrem blutreichen Gesicht, als sie, eingehängt in ihren mächtigen Gemahl, verächtlich an dem stramm- stehenden Sünder vorbeirauschte.
Gadsky Hef so schnell davon, daß Weiler mit seinen kurzen Beinen Mühe hatte, ihm nachzukommen. „Nicht angerührt habe ich die Knöpfe!** — rief er, und seine Stimme zitterte immer noch von verhaltener Wut. — „Nicht angerührt! Und doch waren sie auf einmal blank. Aber der Kerl wird sich irren! Von solchen Schikanen lasse ich mich nicht klein kriegen!"
„Er meint es vielleicht gar nicht so schlecht,** — besänftigte ihn Weiler. „Sie hätten ihm damals, in Gottes Namen, was vorspielen sollen** . . .
Latzko, „Friedenagericht" 2 • /
„Was hätte ich?** — brauste Gadsky auf, — • „Hochgeehrt tun, wie? Warum denn? Sagen Sie doch, warum? Weil ich freiwillig zu ihm gekommen bin, damit er mir das Schießen, Granatenwerfen, und was sonst noch zum Kriegführen gehört, beibringt; darum ? Nein, mein Lieber, und wenn sie mich zu Tode quälen, ich bleibe wer ich war und binl Ein sua- ständiger Mensch, der doch immerhin was gelernt und was geleistet hat, darf nicht plötzlich gar nichts mehr gelten, nur weil er in diese Zwangsjacke geschlüpft istl" Und nach einer Pause setzte er grimmig hinzu: „Wenn er nicht so dumm wäre, müßte er mir dafür danken, daß ich die Würde seines Berufes gegen ihn
verteidige! — • Aber, ich weiß, was ich tue!
Ich werde mit Fähnrich von Krülow sprechen. Heute noch! Er soll mich nicht weiter kujonieren, dieser verdanmito Komißl**
Weiler gab keine Antwort, Er wußte ja, daß Gadsky viel zu stolz war, um sich wirklich zu be- schweren. Auch zu klug, um Herrn von Krülow in Verlegenheit zu bringen! Der erfahrene alte Feld- webel stand ja viel höher im Ansehen beim Haupt- mann, als der blutjunge Fähnrich, der viel zu rück- sichtsvoll mit seinen Untergebenen umging. Das fehlte gerade, daß er auch noch die Partei eines Rekruten gegen den Feldwebel ergriffe! — — — Bis sie hinkamen, dachte Gadsky gewiß nicht mehr daran, Klage zu führen! E.S schien Weiler merkwHirdig, daß Worte und Taten eines gewöhnlichen, einfältigen Menschen, wie Stuff, einen Mann vom Range Gadkys überhaupt näher berühren konnten. Ging er nicht inmier noch mit hochroten Backen und funkelnden Augen nebenher? . . . Man mußte sich eben ein- spinnen! Eine harte Kruste um sich legen; eine Iso- lierschicht aus Träumen und Gedanken; und das ganze militärische Treiben, diese Beschränktheiten und Brutalitäten, wie unbeteiligt an sich vorüberziehen
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lassen. Dann ärgerten sich di« anderen I Weiler mußt« lächeln, als er an den ohnmächtigen Zorn dachte, den seine Verträumtheit beinahe täglich entfesselte.
So eilten sie schweigsam, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, durch das geschäftige Treiben; fuhren ein weites Stück mit der überfüllten Tram- bahn, ohne ein einziges Wort zu wechseln; und fanden erst wieder zusammen, als sie schon die Treppen zu Mathildens Wohnung hinaufstiegen. Im zweiten Stock mußten sie an dem erblindeten Messingschild- chen vorbei, das Gadskys Namen trug. Er wandte sich ab, und sah doch durch die Wand; Hebkoste in Gedanken die Bücher auf den Regalen! Seine Schritte wurden schwer; wie von zärtlichen Armen zurückgehalten schleppte er sich bis zum nächsten Treppenabsatz, rief Weiler geärgert nach; „L-Aufen Sie doch nicht so I*'
Aber im Grunde fühlte er sich geschmeichelt; ein zufriedenes Lächeln erhellte sein Gesicht. Wer sich einmal bei ihr umgesehen hatte, wallfahrtete zurück, wae zu einer Schutzheiligen!
Der kleine Fähnrich saß gewiß auch schon oben.
„Warum kommen Sie denn nicht?" — frug ihn Weiler, über das Geländer gebeugt.
„Gleich. Gleich! Klingeln Sic nur,** rief er mit leisem Spott zurück.
Wie Kinder zum Christbaum eilten alle zu ihr! — sagte er sich stolz. Und wie zur Bescherung schrillte oben die Glocke.
Im Vorzimmer hing neben dem Mantel des Fähn- richs ein grobhaariger Ulster, und ein Filzhut mit abgegriffener Krempe. „Der verdammte Dorndorf hockt schon wieder da!*' — knurrte Gadsky. Weiler lächelte müde. „Dann gibt es Streit" — meinte er achselzuckend. Und während er sich auszog, fügte
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er gutmütig hinzu: „Er ist ja doch anhänglich! jeden Sonntag wird er von uns zerzaust, und kommt wieder, als wäre nichts geschehen."
Gadsky winkte wegwerfend. Er haßte diesen so- genannten „Onkel" von jeher, und seit Kriegsbeginn fiel es ihm direkt schwer, den lästigen Alten nicht auf dem kürzesten Wege hinauszubefördern. Er war ja irgendwie mit Mathilde verwandt, und tat sich viel auf die Liberalität zugute, mit welcher er über das offenkundige Verhältnis der beiden hinwegsah. In Wirklichkeit fesselten ihn aber die opulenten Mahl- zeiten, die Freiplätze in die Oper, und all die andern kleinen Bequemlichkeiten, die sich ein mittlerer Post- beamter auch als Witwer nicht recht leisten konnte, weit mehr, als die verwandtschaftlichen Bande. Neben- bei war er auch stolz auf diesen Verkehr, denn in den Augen seiner Stammtischgenossen war Mathilde von Moellnitz, trotz allem, das adeHge Fräulein, und auch der Titel Hofopemsängerin hatte dort ganz andern Klang, als im FamiHenkreise derer von Moellnitz. Vor den sitthchen Lebenswandel seiner Nichte hatte er, — zum großen Aerger Gadkys — , das Wort „Bräutigam" als spanische Wand aufgepflanzt, und trug, seit Mathilde als erste Altistin am Hoftheater engagiert war, einen breitkrämpigen Schlapphut und eine ausgefranste Lavalliere-Krawatte.
Im ersten Augenblick fühlte sich Gadsky ernstlich versucht, sofort umzukehren. Er verspürte nicht die geringste Lust, nach der unwürdigen Szene mit Stuff, nun auch noch über den „Onkel" sich aufzuregen. Der Alte war, seit den Augusttagen, sozusagen mili- tärisch übergeschnappt; prahlte unausgesetzt, als hätte er mit höchsteigener Faust die Tore Lüttichs ge- sprengt. Lohnte es, wegen dieses alten Esels noch einmal in Wut zu geraten?
Schon griff er nach Mütze und Mantel,
da ging die Türe, und Mathilde erschien, mit der
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Teekanne in der Hand. Eine jähe Erschlaffung lief durch Gadskys Glieder, als er sie schlank, schmal, hoch aufgerichtet, im Türrahmen erblickte, und von weitem schon jenen unbeschreibHchen Duft von Ge- pflegtheit, Luxus und Behagen roch. Ans Weggehen dachte er nicht mehr. Aber eine trotzige, beinahe bösartige Opposition, ein leiser, schmerzender Haß legte sich ihm auf die Brust, ward Herr über das zärtliche Verlangen, das ihn bis an ihre Türe geleitet hatte. Jeden Sonntag wiederholte sich dieses Spiel!
Die heiße Sehnsucht nach ihrer Nähe, die über
alle Plakereien in der Kaserne hinweghalf, und ihn sechs Tage lang dieser Minute entgegenblühen ließ, wie einer Erlösung, — fiel ab, im Augenblicke der Erfüllung, und wandelte sich in zorniges Wider- streben. Er sagte sich wohl, daß seine Enttäuschung noch viel ärger wäre, wenn sie eines Tages plump, schmierig, und verwahrlost erschiene, um besser zu seinen schwieligen Händen und seiner ganzen Er- scheinung zu passen. Er wußte genau, daß er den Anblick nicht ertragen würde, und es albern fände, wollte sie wie eine Köchin aussehen, nur weil er wie ihr „Schatz** aussah; — und doch wurde er bei jeder Begegnung von dem. mißtrauischen Gefühl überrannt: sie ließe sich sein Schicksal nicht allzunahe gehen ! . . . In kurzer Zeit war die feindliche Regung zwar immer überwunden; er richtete sich auf an dem Frieden, der aus ihr strahlte, sah Feldwebel, Hauptmann und Kaserne langsam versinken; aber am Montag kam es ihm dann verteufelt hart an, wieder zum Infanteristen Gadsky zu werden, und wenn die Woche um war, hatte sich auch die Feindschaft von neuem in ihm angesammelt.
Sie begrüßte Weiler zuerst, ließ ihn, an sich vor- bei, ins Zimmer treten, schmiegte sich dann zärtlich an Gadsky, und fuhr ihm mit der freien Hand durch die Haare.
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„Gib Acht! Du wirst dein feines Kleid an mir beschmutzen!" — rief er, zurücktretend, und sein Mund wurde hart und schmal, wie ein Messerrücken. Aber der erschrockene Blick, der ihn traf, war so von verstehendem Mitgefühl durchtränkt, daß er seinen Ausspruch sofort bereute, ihre schmale, duftende Hand an die Lippen hob, und jeden Finger einzeln mit Küssen bedeckte.
Wie ein wallender Mantel legte sich das Ver- langen um ihre Leiber, hüllte sie ein, daß sie mit geschlossenen Augen meilentief versanken! Darm trat er, noch um Atem ringend, zu den anderen, reichte dem Fähnrich die Hand, und drückte sich mit ge- runzelter Stirne an Domdorf vorbei. Die forcierte, mißtrauische Freundlichkeit des alten Kriechers reizte ihn sofort zu frostiger Abwehr. „Mich wundert's, daß Sie heute so fröhlich sind!" — rief er ihm zu. „Sie haben ja diese Woche kein einziges Mal gesiegt.**
„Kommt schon wieder. Lassen Sie mir nur Zeit!" — erwiderte Domdorf mit seinem süßHchen Grinsen und blitzte ihn hinterrücks gehässig an. „Wie ich eben mit Bedauern höre, haben Sie auch keine ver- gnügte Woche verlebt!" Er deutete mit dem Daumen zu Fähnrich von Krülow hinüber, dem Weiler hastig von der neuesten Schandtat Stuffs erzählte.
,Ach, lassen Sie doch das! Ich habe Sie nicht gebeten, mein Anwalt zu sein!" rief Gadsky barsch, und bemühte sich, Mathilde von der Gruppe weg zu ziehen. Er hatte es nicht geme, wenn sie von seinen Leiden erfuhr; schämte sich vor ihr, wie ein bestraftes Kind. „Geh, komm! Scher dich nicht um den Un- sinn!" — bat er sie herrisch. Aber sie hatte die ersten Worte schon erhascht, schüttelte ihn ab, und trat zu den anderen, das Köpfchen leicht vorgebeugt, mit vi- brierenden Nasenflügeln.
Da wurde er ernstlich böse, und schrie empört zu Weiler hinüber: „Beschweren Sie sich doch
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über Ihr eigenes Schicksal! Weiß Gott, es wird Ihnen nicht weniger zugesetzt als mir!** Zornig wandte er sich ab, als ginge ihn das ganze Gespräch nichts an, schlenderte zum Flügel hin- über, setzte sich, und begann ganz leise zu phantasieren. Im Stillen war er tief gerührt von dem Eifer Weilers! Der arme Kerl hatte mit seinen zerbrechlichen, kraftlosen Gliedern mehr als irgend ein anderer zu leiden; brach jeden Abend erschöpft zusammen und genoß als „Jammerlappen** und „Schlafmütze** die ganz besondere Aufmerksamkeit des Hauptmanns. Und doch trug er alles stumm, wie ein indischer Fakir; empörte sich aber sofort über jedes Unrecht, wenn es ihn nicht selbst betraf. Auch jetzt lief er wieder Sturm gegen das ganze System von Herrschsucht und Vergewaltigung, mit einer Leiden- schaft, die den Onkel so an die Wand drückte, daß seine kurzatmigen Entgegnungen wie Hilferufe klangen, als ruderte er stromaufwärts in dieser Rede- flut.
„Gerade Sie dürften das nicht sagen! Gerade Sie nicht!** — rief ihm Weiler entrüstet zu, • — „Disziplin ist etwas anderes! Warum zerren Sie denn immer so ein abgestempeltes Wort als Bundesgenossen herbei? Bleiben Sie doch bei der Stange, und geben Sie Ant- wort auf meine Frage, warum der Pianist Georg Gadsky, den niemand ungestraft einen Trottl oder Esel nennen durfte, der sich von niemandem als Ka- naille behandeln Heß, solange er Zivilkleider trug, jetzt auf einmal nicht einen Bruchteil seines früheren Ehrgefühls mehr haben darf? Ist das die besondere Achtung, die gerade Sie nie müde werden, für das feldgraue Ehrenkleid zu reklamieren, daß er sich von einem Menschen, der — wenn Sie ihm die Uniform ausziehen — bestenfalls Portier werden kann, schuh- riegeln lassen muß, bis zu seinem Abgang ins Feld? Denn dann bleibt Herr Feldwebel Stuff natürlich
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zurück, um auch fernerhin furchtlos gegen Rekruten zu kämpfen.**
Dorndorf schnitt ein hämisches Gesicht. Als Subalternbeamter, der sich sein Leben lang hatte bücken und beugen müssen, machte es ihm heimlich eine diebische Freude, diese Herrchen von den sogenannten „freien Berufen*', über den Zwang, der sie bedrückte, räsonnieren zu hören. „Ja, Verehrtester** — meinte er still vergnügt — , „es muß in diesen Zeiten jeder ein Opfer bringen! Der eine verliert seine gesicherte Existenz, der andere muß auf seine Freiheit verzichten, wie Herr Gadsky, dem dritten nimmt der Staat seine Söhne weg, wie mir. Glauben Sie, es fällt mir leicht, so dazusitzen, mit dem Bewußtsein, daß jeden Augen- blick ein Telegramm kommen kann, aus der Gegend um Ypem, oder aus Russisch-Polen? Wissen Sie auch, wie viel Geld und Mühe es kostet, ehe man zwei Buben so weit hat, daß sie einem endlich Freude machen? Und jetzt werden sie mir, so Gott will, zu Krüppeln geschossen, oder ich sehe sie überhaupt nicht wieder! Ich denke doch: ein Opfer ist das andere wert. Oder glauben Sie, ich ließe mich nicht lieber von Herrn Stuff kujonieren?**
Gadsky hatte mit gereiztem Kopf schütteln zuge- hört, und seiner Ungeduld mit einigen kräftigen Ak- korden Luft gemacht. Nun wunderte er sich, daß es hinter seinem Rücken so still blieb. Wenn das Temperament Weilers einmal geweckt war, dann ver- lor er seine Schüchternheit gründlich; und auf diese Antwort Domdorfs mußte unbedingt eine Erruption erfolgen. Erstaunt brach er sein Spiel ab und wandte sich um, als das Schweigen immer noch andauerte.
Er fand Weiler erschreckend bleich, wie zum Sprung geduckt, die Augen in das Gesicht Dorndcrfs geheftet. Man sah es ihm an, daß er schwer mit sich kämpfte, immer wieder einen Anlauf nahm, und als
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die Worte schon seine Lippen erreichten, doch davor zurückscheute, sie auszusprechen.
„Um Gottes Willen! Essen Sie mich nicht auf!** — scherzte der Onkel, mit einem unge^vissen Flackern in der Stimme.
Da machte Weiler endlich eine befreiende Ge- bärde, warf alle Bedenken mit einem entschlossenen Achselzucken ab und rief: „Ich kann nicht! Ich kann diese Lüge nicht mehr hören! Es muß endlich aus- gesprochen werden'* . . .
„Lüge?" — schrie Dorndorf erschrocken. — „Wo sehen Sie eine Lüge?** . . .
Weiler trat einen halben Schritt zurück ; seine Kniee zitterten vor Erregung. „Haben Sie nicht eben selbst gesagt, es dauere lange, ehe Söhne endlich Freude
machen? Und wann machen Sie Freude?
Wenn sie gut versorgt und glücklich sind ? Aber neben- her muß doch auch der Vaterstolz auf seine Rechnung kommen! Oder? Wollen Sie leugnen, daß es Eltern gibt, die auch ihre eigene Eitelkeit befriedigt sehen wollen? Denken Sie, wie viele ihre unbegabten Kinder zum Lernen peitschen, sie lieber zusammenbrechen lassen unter Ueberbürdung, ehe sie darauf verzichten, einen studierten Sohn zu haben, wie der Nachbar! Bedenken Sie, wie oft Kinder ins Elend gestürzt, in den Selbstmord gejagt werden, wenn sie ihr Glück in einer Ehe suchen wollen, die den Eltemstolz nicht befriedigt? Wie oft, — sagen Sie selbst! — werden Eltern Todfeinde ihres eigenen Blutes, nur weil der gewählte Beruf, oder sonst irgend etwas ihre Eitelkeit kränkt? . . . Sehen Sie mal: wir sind hier drei Söhne in diesem Zimmer, vom Zufall zusammengewürfelt! Lassen Sie sich von Herrn Gadsky erzählen, wie es sein Vater ihm bis zum letzten Atemzuge nicht ver- ziehen hat, daß er unter die Künstler gegangen ist; fragen Sie Herrn von Krülow, der Maler werden
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wollte, und nichts so verabscheute, als di« Gewalt in jeder Form, fragen Sie ihn, mit welchen Mitteln ei gezwungen wurde, Offizier zu werden! Und ich? Ich brauchte einen ganzen Nachmittag, um all die Schliche und versteckten Bosheiten aufzuzählen, die meine verwitwete Mutter, — die Mutter sogar! — gegen mich ausspielte, um mich dafür zu strafen, daß ich dem ehrbaren Beruf meines Vaters den Rücken kehrte. Das sind wir drei! . . . Sind wir Ausnahmen? Seltene Ausnahmen? Glauben Sie das? Ich sage Ihnen, das Gegenteil ist die Ausnahme! Die meisten erziehen ihre Kinder, wie man irgend ein anderes Unternehmen betreibt, opfern zwei Jahrzehnte lang Geld und Mühe, und präsentieren dann ihre Rechnung. Die meisten wollen stolz und selbstzufrieden sagen können: ,Mein Sohn hat heute das Doktorat gemacht*, oder ist ,Bureauchef, Regierungsrat, Direktor gewor- den; hat die Tochter des reichen Kaufmann So und So, gefreit!* So war*s im Frieden. Jetzt hat sich die Konjunktur geändert! Wer heute Freunden und Ver- wandten imponieren will; wer jetzt neiderfüllte Glück- wünsche, Respekt und Anerkennung erjagen möchte, muß anderes von seinen Söhnen zu berichten v^ssen! Nur wer die Feldpostbriefe seines Sohnes in der Tasche mit sich führt, ein: .Mein Sohn war bei Tannenberg, bei Ypern dabei!* auf den Stammtisch werfen kann, nur wer von dem Eisernen Kreuz, von der Verwun- dung, oder vom Heldentod seiner Nachkommen etwas zu sagen weiß, kann sich heute erhobenen Hauptes seiner Vaterschaft rühmen. Also: los! Hinaus mit den Burschen! Wenn sie immer schon Raufbolde waren, von jeher kampflustig, brutal, hartherzig ver- anlagt sind, tant mieux! Waren sie empfindsame, lärmscheue Träumer, mögen sie es jetzt schwerer haben. Wer kann ihnen helfen? Wer wird gerne schweigen, wenn die andern sich rühmen? Wer wird der Vater eines Drückebergers sein wollen in dieser eisernen
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Zeit? ... Ich weiß, das klingt Häßlich. Nehmen Sie's mir nicht übel, Herr Dorndorf! Ich kann nicht mehr schweigen. Ich ersticke, wenn die Alten, die zurück- bleiben in der Sicherheit, in ihren sauberen Betten, sich immerfort in die Brust werfen, und von ihrem Opfer deklamieren, genau wie sie früher, im Frieden, mit dem Gelde in der Tasche klimperten, das sie für die Erziehung ihrer Kinder geopfert hatten! Ich glaube, man darf nicht schweigen! Darf nicht länger den Vogel Strauß spielen. Man muß diese Lügen demolieren; es gibt keinen andern Weg zum Herzen der Menschen. Erst wenn diese Phrasen, die jeder ungeprüft wiederholt, niedergerissen sind, kann man das Gewissen aufscheuchen, das feige verkrochen hinter der Lügenmauer hockt!**
Erschöpft fiel er auf den Stuhl nieder, den ihm Mathilde längst schon zugeschoben hatte, und tupfte sich mit zitternden Händen die Schweißtropfen von der Stirn«.
„Phrasen? . . . Das heißen Sie Phrasen und Lü- gen?** . . . knurrte Domdorf mit dumpfer, verbissener Wut, und auch seine Hände zitterten. „Dann habe ich nichts weiter zu sagen. Sie müßten erst einmal sellist Vater gewesen sein** . . .
„Aber Onkel! Herr Weiler hat doch nicht dich gemeint!'* — versuchte Mathilde einzulenken. „Wir wissen ja, daß Du der beste Vater** . . .
„Gewiß nicht!'* — fiel Weiler eifrig ein; und seine guten Augen ängstlich auf den Aken geheftet, bat er mit weicher, herzlicher Stimme : „Sie werden das doch nicht auf sich beziehen? Sie glauben doch nicht, daß ich den Unsinn behaupten wollte, es gäbe überhaupt keine selbstlosen Eltern? NatürHch gibt es welche! Viele sogar! Aber die sind jetzt nicht wichtig. Die lassen sich ihre Kinder wohl entreißen, aber sie »opfern* nicht. Nur das Wort »opfern* kann ich nicht
n
mehr hören ! Gerade heute nicht 1 . . . Den ganzen Weg hierher mußte ich immerfort an den Artikel denken, den ich gestern abend in einer Zeitung ge- lesen habe. Da stand ausführhch erklärt, daß es keine gesichertere Kapitalsanlage gäbe, als Kriegsanleihe; wurde an Hand von Beispielen haarscharf bewiesen, daß demnach, ohne jedes Risiko, jedermann fünf Pro- zent Zinsen erhalten, und, — nebenbei ! — auch noch eine patriotische Tat begehen, seinem Vaterlande dienen könne. Als ich das gestern im Kaffeehaus gelesen hatte, dachte ich anfangs, es wäre ein Scherz. Dann bin ich die ganze Nacht, bis in den Morgen hinein, aufrecht im Bett gesessen, und habe darüber gegrübelt, warum sich die Menschen ihre Söhne wegnehmen lassen, ohne die Garantie, sie ungeschmälert wieder- zukriegen, ohne fünf Prozent, nur allein für die Ehre, eine patriotische Tat zu begehen; wenn sie doch für ihr Geld so viele Bedingungen stellen? Ich konnte es nicht begreifen, warum der Staat nicht auch die Tausend- und Hundertmarkscheine einberuft, da er doch Geld genau so dringend braucht, wie Soldaten. An der Opferbereitschaft seiner Bürger konnte er doch nicht zweifeln! Die gaben doch sogar ihr Fleisch
und Blut gerne, ohne zu feilschen, her.
Und sehen Sie, noch ehe ich die Erklärung gefunden hatte, wie auf Bestellung, kam heute früh ein Brief von meinem Onkel in Köln. Er ist kinderlos, hat ein Engros-Geschäft in Häuten und Fellen, und sehr viel Geld. Ich habe, wie es so geht mit reichen Ver- wandten, seit Jahren nichts von ihm gehört; nun schrieb er überraschend herzlich: er habe gehört, daß sie mich eingezogen hätten, und sende mir anbei eine An- weisung auf tausend Mark. Er fügte sogar groß- mütig hinzu, ich möge mir wegen dieser Schuld keine grauen Haare wachsen lassen, sein großes Lager sei zu solch glänzenden Preisen vom Staate übernommen worden, daß er mir gerne auch fernerhin zur Ver-
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fügung stehe. Da hatte ich nun dasselbe
Geheimnis zum zweitenmal! Warum sagt, zerbrach ich mir wieder den Kopf, der Staat nicht einfach: .Ich brauche Stiefel, damit eure Söhne marschieren können ! Also haben am 23ten alle Lederhändler von A bis E, am 24ten die von E bis N, und so fort, ihren gesamten Vorrat in die X. Y.-Kaserne einrückend zu machen.* Mein Onkel könnte doch nichts dagegen einwenden; er wäre ja, gegenüber den anderen, die ihre Kinder opfern, immer noch im Vorteil! Warum also zeigt der Staat sich, ganz gegen sein Prinzip, so überaus entgegenkommend? Sollte ... ich scheute vor der Frage zurück, sollte er den Opfermut seiner Bürger so niedrig einschätzen, daß er ihnen den Verzicht auf ihre Banknoten und Felle zugunsten des Vaterlandes nicht zuzumuten wagt, ohne daß es lohnte? Und nahm ihnen doch die Söhne ohne jeden Schadenersatz! . . . Ich wehrte mich gegen die Erklärung, die sich mir aufdrängte! Verzweifelt habe ich mich gewehrt! Da erzählte mir Mittags, während v^r unsere Eß- schalen ausspülten, mein Kamerad Fröbel, dessen Vater auf einem Bauern gütel sitzt irgendwo im Vor- gebirge, sein Alter habe jetzt sehr gute Aussichten, denn der Staat bezahle den Landwirten eine Prämie, wenn sie das anbauen, was das Vaterland am drin- gendsten benötigt. Ich habe das nicht ganz begriffen, auch als er mir den Zeitungsausschnitt gab, den ihm sein Vater eingeschickt hatte, wurde ich nicht ganz klug aus der Sache. Nur das Wort „Anreiz" habe ich mir gemerkt; denn es schien mir unfaßbar, daß dieselben Menschen, die den Inhalt ihres Lebens, den Trost ihres Alters, ihre Söhne mit Begeisterung dem Henker zutreiben, zutreiben, nicht nur hergeben ! — auf einen Teil ihres Bodenertrages nur Verzicht leisten, wenn der Verlust durch „Anreiz'* ausgeglichen
wird! Habe ich unrecht, dann zeigen Sie
mir, wo ich mir irre; und dann, dann will ich auch
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mit Begeisterung einen Opfermut preisen, an den ich nicht glauben kann, solange er vor der Brieftasche Halt macht, und vor der Elternliebe nicht!'*
Er war allmählich ganz ruhig geworden, sprach heiser, mit einem müden Ekel in der Stimme, als schämte er sich selbst der Anklage, die er aussprach. Als alles schwieg, irrten seine Augen verängstigt über die ernsten Gesichter, bis er endhch seufzend in sich zusammensank.
Niemand fand eine Antwort. Drückende Stille erfüllte das Zimmer, bis Gadsky endlich vielsagend die Achseln zuckte, und sich auf seinem Klavierstuhl wieder zum Flügel zurückdrehte. Er hatte Mathildes Gesicht beobachtet, den feinen, leidenden Zug, der ihre Mundwinkel immer tiefer hinuntergebogen hatte, während Weiler sprach; schüttelte das Gehörte trotzig von sich ab, und ließ seine Finger wie hingehaucht über die Tasten laufen, vor sich das schöne Mutter- gottesantlitz seiner Freundin.
Auch Domdorf blieb stumm, starrte auf den Tep- pich vor seinen Füßen, fest entschlossen, auf diese niedrige Verleumdung mit keiner Silbe zu reagieren. Ej war in seinen heiligsten Gefühlen, in seiner Vater- würde, der einzigen Würde, die er errungen hatte, beleidigt worden, und nahm sich im stillen das Ehren- wort ab, diese Räume erst wieder zu betreten, wenn Weiler und Gadsky schon ins Feld abgegangen waren.
Die klare, ruhige Stimme Fähnrich von Krülows löste das lange Schweigen. Alle horchten auf, selbst Gadsky sah sich verwundert nach ihm um, denn es geschah, so weit er sich zurückerinnern konnte, zum erstenmal, daß der Fähnrich aus eigenem Antrieb das Wort ergriff. Für gewöhnlich folgte er den Gesprächen mit hellen, begeisterten Augen; und vmrde verlegen, wenn man ihn mit einer Frage in die Debatte zog. Daß er so unaufgefordert zu sprechen anfing, war eine Ueberraschung ! Er lief offenbar über, wie ein Ge-
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faß. das keinen Tropfen mehr fassen kann, und immer noch neuen Zufluß erhält.
„Ich hoffe, Sie werden meine Worte nicht wieder auf sich beziehen, Herr Domdorf T* — begann er zögernd, und warf zwischendurch flüchtige Blicke auf Mathilde, als schöpfte er aus ihren Gesichtzügen den Mut, weiter zu sprechen. „Ueber die Anschauungen in bürgerlichen Kreisen weiß ich ja nicht Bescheid. In meiner Verwandtschaft aber, habe ich, als ich auf Urlaub war, nirgends länger als eine halbe Stunde auf die Frage warten müssen: „Weißt Du, wie viele aus unserer engeren FamiHe schon gefallen sind?'* Man zählte freilich auch die Kreuze zusammen; aber das kam immer eist in zweiter Reihe. Eä ist schon eine recht peinliche Sache für Einen, der in Uniform dabei sitzt, dieser Wettstreit unter Verwandten, die sich gegenseitig ihre Gefallenen an den Kopf werfen! Be- sonders meinem Vater gegenüber, der sich damals noch bescheiden in die Ecke drücken mußte, mit seinen gänzlich unverwundeten drei Söhnen, quälte mich ein Schuldbewußtsein'* . . .
„Pfui! . . . Nein! Schämen Sie sich!** ^— wehrte Mathilde ab.
Um den weichen Mund Krülows spielte ein leises, überlegen-bitteres Lächeln, das auch die anderen ansteckte. Gadsky lachte sogar laut auf, und jagte vergnügt ein kleines Capriccio über die Tasten.
Nur Domdorf blickte düster schweigend unter den Tisch. Aus dem Geschwätz der beiden anderen machte er sich nichts mehr. Aber einen Generalssohn und akti- ven Offiziersanwärter so sprechen zu hören, schmerzte ihn tief. Mathilde fing den gehässigen SeitenbHck auf, der unter den buschigen Brauen zu Krülow hinüber- flog, und wurde unruhig. Sie hielt den Alten einer anonymen Anzeige, aus Patriotismus, sehr wohl für fähig, und wollte verhindern, daß Krülow sich noch weiter« Blößen gebe. Rasch beugte sie sich über den
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Tisch zu ihm hinüber: .»Sagen Sie Herr von Krülow, gibt es denn gar keinen Schutz gegen die Bosheiten dieses gräßlichen Herrn Stuff? Es ist mir ein fürch- terlicher Gedanke, daß der arme Gadsky wehrlos jeder Laune dieses Wüterichs ausgeliefert bleiben soll!'*
Krülow wurde rot, wie immer, wenn er Mathildes Augen auf sich ruhen fühlte, und zuckte bedauernd die Achseln: „Hja, die DiszipHnT* sagte er mit leisem Spott.
„Das ist doch keine DiszipHn, das ist Sklaverei!" empörte sich Mathilde. „So ein schlechter Mensch kann ja jemanden zu Tode quälen, aus purer Bosheit!'*
„Er ist gar kein solcher Teufel!" — warf Gadsky über die Schulter zurück, ohne sein Spiel zu unter- brechen. „Weim er doch wenigstens ein richtiger Bösewicht wäre! Dann könnte man sich damit trösten, ein unerhörtes Pech gehabt zu haben. Aber er ist sogar gutmütig! Nicht einmal hassen kann man ihn für seine Dummheit!"
„Herr Gadsky hat recht" — versicherte Krülow in seiner leisen, vorsichtigen Art. „Gnädigstes Fräulein dürfen nicht vergessen: der Mcum ist seit zwanzig Jahren Feldwebel, und findet noch immer nichts dabei, wenn der Hauptmann ihm gelegentlich unrecht tut. Er ist gewöhnt zu allem zu schweigen, was ihm von oben angetan wird, und kennt sowas wie Ehrgefühl, im Verkehr mit Vorgesetzten, überhaupt nicht. Wenn Sie ihm sagen würden, unsere Art zu gehen, sei unserer unwürdig, man müsse, statt ewig nur einen Fuß vor den anderen zu setzen, eine neue Art der Vorwärts- bewegung erfinden, diese Proposition könnte
ihn nicht mehr überraschen, als der Vorschlag, einen Rekruten, der dreißig Jahre alt ist, vieles weiß und kann, und nur einige militärische Fertigkeiten hinzu- lernen muß, mit weniger Ueberlegenheit zu behan- deln, als zwanzigjährige Bauernburschen, die kaum schreiben und lesen können. Anerkennt er denn nicht
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auch widerspruchslos die Superiorität eines neunzehn- jährigen Leutnants? Der Vorgesetzte ist mehr, kann mehr, weiß mehr, und darf mehr als der Untergebene, das scheint Feldwebel Stuff so selbstverständlich, wie daß er atmet.'*
„Und Sie scheinen der Ansicht zu sein, daß er unrecht hat?" — fiel Domdorf gallig ein, unfähig sich länger zu beherrschen. — „Ich möchte gerne einmal eine Armee sehen, in welcher jeder Infanterist seine Persönlichkeit auslebt!**
Durch die milden, immer ein wenig erstaunten Augen des Fähnrichs huschte ein stahlharter Glanz. Dann heftete er den Blick in das verbissene Gesicht des Onkels, und erwiderte mit der kühlen, unerschütter- lichen Selbstbeherrschung, die man nur im preußischen Kadettenkorps erringt: „Im Gegenteil! Mir persön- lich ist die Denkungsweise Feldwebel Stuffs natürHch in Fleisch und Blut übergegangen. Das liegt an
der Erziehung, die ich genossen möchte ich
lieber nicht sagen, die ich erhalten habe.
Aber ich begreife, daß Herr Gadsky in der beneidens- werten Lage ist, anders zu empfinden.** — Er streifte die Manschette zurück, und hielt Mathilde seine rechte Hand entgegen. „Sehen gnädigstes Fräulein die drei weißen Flecken oberhalb des Knöchels? . . . Ich trage diese Narben seit meinem elften Jahre, dem Tage meines Eintritts in das Kadettenkorps. Auf Befehl meines Zimmerältesten, — er war auch noch nicht ganz vierzehn, — mußte ich damals meinen entblößten Arm unbeweglich vorstrecken, und lautlos, ohne zu zucken, standhalten, während er mir brennendes Siegellack auf die Haut tropfen ließ. Unglücklicher- weise wollte der eine Tropfen, der hier rechts, nicht verlöschen, und brannte bis zum Knochen durch!**
„Aber warum denn? . . . Das ist ja Mittelalter!** — rief Mathilde empört.
„Solche Aufnahmsprüfungen gehören zur Tages-
Latzko, „Friedensgericht*
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Ordnung. Mal wird, wie bei mir, Mutius Scävola ge- spielt, mal wird mit dem Lineal auf die Nägel geklopft, bis das Blut hervorquillt. Man gewöhnt es sich auf diese Weise ab, wehleidig oder mitleidig zu sein; vor allem aber begreift auch der Dümmste so- fort, was absolute Unterordnung heißt. Darum habe ich Ihnen diese kleine Episode nur erzählt. Wer so von seinem elften Jahre an gewöhnt war, mit Haut und Haaren der Willkür jedes älteren Kameraden aus- geliefert zu sein, und seinen Offizieren gar wie ein apportierender Pudel gehorchen lernte, kann der selbst- bewußten Empörung Gadskys nicht voll gerecht wer- den. Das werden gnädiges Fräulein gewiß begreifen."
Mathilde schlug die Hände vors Gesicht. „Gräß- lich!" — stöhnte sie. — „Und das wissen die Eltern, und "...
Weiler hatte bleich, mit verzerrtem Gesicht zu- gehört, schnellte leidenschaftlich erregt in die Höhe: „Glauben Sie nur ja nicht, Herr von Krülow, daß sich diese Erziehungsmethode auf das Kadettenkorps be- schränkte! Ueberall wurde das Mitleid verfolgt. Seit fünfzig Jahren gilt bei uns gefühlvoll sein als die größte Schande! Ueber jeden einzelnen, ob Mann ob Weib, halten sie ihre Siegellackstange, und brennen und räuchern, und halten Treibjagden auf jede wei- chere Regung! Was unsere Väter noch Gemüt naim- ten, heißt heute „schlapp" oder „sentimental". Nicht einmal vor Kunst und Literatur haben sie Halt ge- macht! Auch die sind militarisiert; auch die müssen mithelfen! Denken Sie nur zurück, wie man syste- matisch jede Zeile, die an die Herzen appellierte, als „ranzig" emfeixte! Schauen Sie zu, wie sogar den Spießbüiger, der vor fünfzig Jahren die Waise von Lowood beschluchzte, heute — angeblich — Strind- bergs fanatische Härte interessiert und begeistert! Es ist glücklich Ehrensache geworden, hartherzig zu sein, imd man schämt sich einer ehrlichen Träne, wie man
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sich vor Sedem seiner Selbstsucht schämte. Das ist das großartige Resultat! . . . Der preußische Rohrstock ist in die deutsche Erde eingepflanzt worden, und treibt seine Wurzeln in jede entfernteste Ecke. Man hat uns zu schlechten Menschen gemacht, damit wir gute Soldaten werden!**
Fähnrich von Krülow hatte mit gespannter Auf- merksamkeit zugehört, und sagte, verträumt vor sich hinstarrend: „Es ist ein merkwürdiges Gefühl für mich, solche Ketzereien laut aussprechen zu hören. Ich habe mal, als Kind, eine Geschichte gelesen von dem Sohn eines Gefängniswärters, der, als er zum ersten- mal in die Welt hinauskam, erstaunt konstatierte, daß es auch Menschen ohne Ketten an den Beinen gäbe. Daran muß ich jetzt oft denken, wenn ich Sonntags von hier weggehe!" Mit einem dankbaren Aufflam- men in den Augen wandte er sich an Weiler, und sagte langsam, sich gleichsam zurücktastend in die Vergangenheit: „Meine anne Mutter, erinnere ich mich, hat manchmal so ähnlich gesprochen ! . . . Sie stammte aus Oesterreich, und hat sich nie ganz bei uns eingewöhnt . . . Wenn sie mit mir spazieren fuhr, machte sie sich oft über unsere Kieferwälder lustig, die so kerzengerade ausgerichtet dastehen, wie Solda- ten zur Inspizierung. „Kein Grashalm** — sagte sie bitter, — darf hier so wachsen, wie es ihm und dem lieben Gott Spaß macht!** . . . Sie wollte auch oft Gutes tun . . . versuchte manchmal meinen Vater nach- sichtig zu stimmen, und bekam dann, — wie Sie sagen, — das verächtliche Wort „Sentimentalitäten** an den Kopf geworfen. Das fällt mir jetzt so ein.**
Er verstummte, und ein milder, wehmütiger Zug gab seinem Gesicht einen ganz fremden Ausdruck. Auch die anderen senkten schweigend die Augen, als hätte die zärtliche Sehnsucht, die seine Stimme durch- zitterte, in allen das Heimweh nach der Kindheit ge- weckt. Selbst von der Stime Dorndorfs verschwand für
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einige Minuten der finstere Groll. Mathilde erhob sich, füllte die Tassen nach, schob die Kuchenplatte näher vor den Onkel hin, und trug Gadsky seinen Tee zum Flügel hinüber.
Er sah sie neben sich stehen; fühlte die Stille, die das Zimmer erfüllte, in sich einziehen, und bHckte zärtlich zu ihr auf. Das Verlangen, das aus ihrem schlanken, geschmeidigen Körper zu ihm hinüber- strahlte, machte ihn erschauem. Auch Mathilde fühlte ein leises, molliges Frösteln, während sie, leicht auf seine Schulter gestützt, dem Huschen seiner Finger folgte. Dann beugte sie sich mit einem raschen Ent- schluß zu ihm nieder, und frug flüsternd: „Kannst Du morgen abend kommen?** Er zuckte die Achseln, ließ das Klavier erdröhnen, und gab laut die Antv/ort: „Wenn Herr Feldwebel Stuff nichts dagegen hat.**
„Ich warte von halb sieben bis sieben mit dem Auto, wie immer!** hauchte sie; berührte flüchtig sein Ohrläppchen, und ging zurück an den Tisch, mit dem leise wiegenden Gang beglückter Frauen.
Krülow war wieder aufgewacht; sah das seelige Leuchten in ihren Augen, und w^rde rot. Seit dem Tode seiner Mutter geschah es zum erstenmal, daß er sich zu einem weiblichen Wesen so rein und innig hin- gezogen fühlte. Seine herbe, verängstigte Natur blühte ihr entgegen, und er mußte lächeln, als er sie im stillen mit den dürren, frostigen Frauen seiner Ver- wandtschaft verglich.
Mathilde machte ein besorgtes Gesicht. „Ich habe so Angst Herr von Krülow" — sagte sie halblaut, — „daß sich Gadsky zu irgend einer Dummheit hinreißen läßt! Muß er sich denn alles von dem Feldwebel ge- fallen lassen? Kann m.an da gar nicht**. . . .
„Es gibt natürlich für alles eine Grenze** — stam- melte Krülow verlegen. „Sogar die Allmacht eines Vorgesetzten ist an gewisse Regeln gebunden. Wenn sich zum Beispiel ein Mißbrauch der Dienstgewalt
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einwandfrei nachweisen ließe? . . . Aber selbst dann? . . . Herrn Stuff drohte ärgstenfalls ein Zimmer- arrest von einigen Tagen; und das laßt sich bei Wein und Kartenspiel schmerzlos ertragen. Herr Gadsky hingegen würde, früher oder später** . . .
Der Onkel hatte, weit vorgebeugt, neugierig zu- gehört, und strahlte auf. „Herr Gadsky würde" — fiel er triumphierend ein, — „mit dem Kriegsgericht Bekanntschaft machen.**
„Wenn auch nicht gleich das** — wollte Krülow sagen, unterbrach sich aber, als er Weiler, der seit dem Gespräch über das brennende Siegellack immer noch erregt auf und ab ging, plötzlich stehen bleiben, und zu einer Entgegnung ansetzen sah.
„Das ist Ihre größte Weisheit! ,Kriegsgericht*** — kam es beinahe geifernd von Weilers Lippen. — „Auch unser Hauptmann ist selig, wenn er uns mit diesem schwarzen Mann drohen kann. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht,*' wandte er sich an Domdorf, — „was das eigentlich heißt: ,Kriegs- gericht'? Ahnen Sie denn gar nicht, daß die ganze ungeheure Einseitigkeit, die ganze gewalttätige Blind- heit Ihrer »großen Zeit* aus diesem Worte grinst? Ist es denn nicht das ärgste Unrecht, Menschen ab- zuurteilen, niederzuknallen, einzusperren, nur weil sie ein ganz bestimmtes, winziges Bündel von Eigen- schaften und Fähigkeiten nicht besitzen? Ich möchte doch sehen, wie es Feldwebel Stuff, oder unserem Hauptmann erginge, wenn es im Frieden einen Ge- richtshof gäbe, der von allen Menschen die gleichen geistigen Fähigkeiten fordern, und jeden füsilieren dürfte, der das Di fferenzial- Integralrechnen nicht er- lernen könnte I Warum sollen denn gerade
die Soldaten das Privileg haben, mit einem einzigen Beruf auszukommen, wenn alle andern Menschen vor das , Kriegsgericht' gezogen und abgeurteilt werden, nur weil sie nicht fähig sind, sich auch als Raufbolde
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zu bewähren? Kann es Unsinnigeres geben, als diesen Versuch, alle Menschen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen? Wäre es nicht dasselbe, den Schafen, Ochsen, Bienen und allen Haustieren Ordre zu geben, sich für die Dauer des Krieges Pranken wachsen zu lassen, imd wie Tiger auf den Feind loszugehen? Gibt es nicht auch imgezählte Haustiermenschen, die nütz- lich, brauchbar und fleissig sind, aber keine Krallen haben? Unser armer Kamerad Fröbel zum Beispiel ist sicher ein ausgezeichneter Volksschullehrer, eben weil er sanft und geduldig ist. Kaim er jetzt plötz- lich"
„Das wäre ja einfach!** — schmetterte der Onkel. „Ein Paradies für die Drückeberger. Jeder würde sich für einen Haustiermenschen erklären I Bei diesem System wären wir bald fertig. Zertreten und zu- grunde gerichtet r*
Weiler wurde auf einmal ganz ruhig: „Zugrunde gerichtet? . . . Dann bitte ich Sie nur um eines! Denken Sie sich diesen Krieg in irgend einen andern Zeitpunkt der Weltgeschichte, sagen wir, in das Ende des achtzehnten Jahrhunderts hinein! Und streichen Sie dann alle Erfindungen, Entdeckungen, Kompositionen und Dichtungen, alle Errungenschaften der medizinischen, philosophischen und der anderen Wissenschaften, kurzum die geistigen Leistungen aller Männer, die zu jenem Zeitpunkt zwischen Zwanzig und Vierzig standen! Dann werden Sie sich erst einen Begriff davon machen können, was ein solcher Kehraus wie der jetzige, für die Zukunft bedeutet! Sie werden wahrscheinlich entgegnen, es müßten nicht gerade die Begabtesten fallen? . . . Natürlich wählen sich die Granaten nicht die besten Köpfe aus, um sie zu zertrümmern; aber sie verschonen sie auch nicht. Und ich glaube kaum, daß die berühmtesten Denker, Künstler und Entdecker, die besten Bajonettkämpfer abgegeben hätten.**
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Der Onkel schüttelte unwillig den Kopf. „Mit einem Wort: Sie wären dafür, daß die einen sich draußen die Köpfe einschlagen lassen für die anderen, die unterdeß daheim im Lehnstuhl ihren schönen Ge- danken nachleben. Sie haben jedenfalls ein sehr entwickeltes Gerechtigkeitsgefühl, das muß man Ihnen lassen!"
„Ja, wie ist es denn jetzt?** — brauste Weiler auf. „Dürfte denn Herr Gadsky, wenn seine Finger im Drehen von Gewehrläufen geübt wären, statt im Klavierspielen, nicht auch daheimbleiben? Wird nicht jeder Ingenieur, und Chemiker, und Bergarbeiter, wer- den nicht Hunderttausende sorgfältig von der Gefahr behütet, weil sie Besseres für den Krieg leisten können, als nur ein Gewehr abschießen? Das ist ja gerade die ungeheure Kurzsichtigkeit, daß man alles aus- nimmt, was unmittelbar dem Kriege dient, und ganz vergißt, daß in der Gesamtkraft eines Volkes die Leistungen aller Teile enthalten sindl Oder glauben Sie wirklich, daß man die Kraft einer Nation steigern kann, indem man die Anzahl der Schießprügel ver- mehrt, auf Kosten der geistigen Werte? Ein schmal- brüstiger Schwächling, der einen neuen Sprengstoff zusammenbraut, ist ja heute mehr wert als Regimenter von Cyklopen ! Man siegt im Kartenzimmer, im Labo- ratorium, und in der Munitionsfabrik; und die eigent- lichen Kämpfer sterben zu neun Zehntel, ohne den Gegner gesehen zu haben, der sie trifft. Aber die Leute ziehen die Fahnen hoch und werfen sich in die Brust, als wäre der Erfolg immer noch Beweis größerer Tapferkeit, und nicht das Resultat einer seelenlosen Organisation!**
„Lassen Sie gut sein!** — fiel Domdorf düster ein. — „Wer mutig sein will, findet immer noch Gelegenheit. Und wenn wir Mörser konstiuieren, die uns keiner nachmachen kann, so spricht das auch
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nur für unsere größere Tüchtigkeit! Wir siegen, weil wir ihnen in allem überlegen sind"
„Meinen Sie?*' — unterbrach ihn Weiler. „Kämpft denn überhaupt unsere eigene Leistungsfähigkeit gegen die Leistungsfähigkeit der andern? Haben wir unsere Waffen selbst geschmiedet? . . . Nehmen Sie doch Hindenburg alles aus der Hand, was der Geist seiner Feinde erschaffen hat, er wird nicht telephonieren und nicht telegraphieren können, und keinen Kanonenschuß abgeben, wenn er die Bahn seiner Geschosse nicht mehr nach dem System, das ihm der Engländer Newton geHefert hat, berechnen darf!**
„Das sind Scherze!'* — protestierte Dorndorf ent- rüstet. — „Das beweist nur, daß wir ihre eigenen Erfindungen besser ausnützen können als sie selbst. Eben weil wir geschickter, fleißiger und tapferer sind, als sie!"
„Die Tapferkeit wollen wir doch lieber aus dem Spiele lassen!" — höhnte Weiler. — „Da alles Be- streben dahin geht, den Feind aus einer Entfernung unter Feuer zu nehmen, aus welcher er noch gar nicht zurückschießen kann, und das Umzingeln und In- denrückfallen und was sonst heute den Sieg entscheidet, einzig von der Frage abhängt, welche Seite den Haupttreffer gezogen hat und den besseren Feldherm besitzt, bleibt für den persönlichen Mut verdammt wenig Spielraum. Kraft und Mut gehören eigentlich gar nicht mehr zum Krieg! Die Kraft ist lendenlahm, \vie der stärkste Lastträger der Welt, der heute mit dem Riesenkran des Hamburger Hafens konkurrieren wollte; ein Säugling, der auf die Taste drückt, hebt das Zehntausendfache. Das war alles schön und gut, solange die stärkeren Arme, die län- geren Lanzen, und die härteren Köpfe entschieden haben. Heute siegen im Kriege genau die gleichen Eigenschaften, die auch den friedlichen Wettstreit ent- scheiden! Wer die größere Anzahl von Druckknöpfen
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fabriziert, kann auch mehr Granaten herstellen! Man brauchte das Schädelspalten eigentlich gar nicht einzuschalten! Die tüchtigere Industrie würde die schwächere ausstechen, der schlauere Handel den einfältigeren. Nur weil man sich von der Tra- dition nicht trennen kann, und aus Berufsgründen auch nicht trennen will, wird das Maß der Tüchtig- keit immer noch an der Leichenzahl abgelesen. Die nackte Konkurrenz ohne alles Blutvergießen käme den Leuten wahrscheinlich zu grausam vor, in ihrer schmucklosen Nüchternheit.*'
Gadsky lachte laut auf. Mathilde hatte sich er- hoben, und drohte Weiler, während sie an ihm vorbei zur Türe ging, mit dem Finger: „Jetzt ist's glückHch wieder sechs Uhr geworden, ich muß ins Theater, und der ganze Nachmittag ist vergangen, ohne daß man vergnügt beisammen gesessen wäre. Aber passen Sie auf! Das nächste Mal kommt eine Rotkreuzbüchse auf den Tisch, und wehe dem, der v^eder zu streiten anfängt.**
Zerknirscht haschte Weiler nach ihrer Hand und führte sie an die Lippen.
Dorndorf folgte seiner Nichte mit den Augen und wartete, bis sich die Türe hinter ihr geschlossen hatte. Dann wandte er sich mit herausfordernder Miene an Weiler: „Ich bin Ihren tiefsinnigen Ausführungen leider nicht gewachsen!** — begann er mit höhnischer Unterwürfigkeit. „Nur ein einfaches Gleichnis bitte ich anbringen zu dürfen, wenn es auch natürlich nicht so geistreich sein kann, als Ihr Vorschlag, aus Schafen und Bienen — Tiger zu machen. Sie haben doch mit diesem Bild, — soweit habe ich Ihrem Gedankengang noch halbwegs folgen können, — beweisen wollen, daß es nicht richtig ist, friedliebende Leute von ihren bürger- lichen Berufen wegzuholen, um sie in den Krieg zu schicken. Nun bitte ich Sie, mir zu sagen, ob ein Mensch, der von einer Ueberschwemmung überrascht
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wird und- mit den Fluten ringt, nicht vor allem einmal trachten muß, wieder festen Boden unter die Füße zu kriegen? Ich glaube, er wird sich verteufelt wenig aus seinen sonstigen Talenten machen, — alle Kräfte zusammenraffen, und in seine Arme und Beine diri- gieren ! Selbst Herr Caruso wird nicht Arien schmettern und ersaufen, sondern seinen Kehlkopf — Kehl- kopf sein lassen, und sich über Wasser halten, solange er kann. Oder sind Sie anderer Ansicht, dann" . . .
Ungeduldig fiel ihm Weiler in die Rede: „Natür- lich bin ich ganz Ihrer Meinung, da Sie doch ganz meiner Meinung sind. Sie sagen ja selbst, daß der Memn, trotz aller Not, nur seine Arme und Beine be- nützen werde. Mit seinem Kehlkopf wird er gar nicht erst versuchen, Schwimmtempos zu machen. Sind seine Arme und Beine nicht kräftig genug, dann muß er eben ersaufen. Mehr habe ich auch nicht ver- langt! Der Staat tut aber das Gegenteil. Er sagt: zum Singen, und Grübeln, und Dichten, und Malen, und hundert anderen Dingen ist jetzt nicht die Zeit, also hat sich jetzt mein Kehlkopf mit allen anderen Friedensorganen in Arme und Beine zu verwandeln. Und wenn der Kehlkopf keine guten Tempos machen kann, stellt er ihn vor ein Kriegsgericht und schießt ihn tot."
„Das sind Spitzfindigkeiten! Natürlich kann man einen Vergleich immer so verdrehen, daß . . . daß er" . . . keuchte Dorndorf.
Mathilde kam in Hut und Mantel aus ihrem Zimmer zurück, und trat trennend zwischen die beiden. „Wird denn schon wieder gestritten?" — rief sie entrüstet; schob den Onkel beiseite, und sagte zu Weiler: „Sie Wüterich!" ...
Dorndorf schnappte nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er stellte sich auf die Fußspitzen und rief über die Schultern Mathildes hinweg: „Mir wird gewiß niemand den Vorwurf machen, daß ich
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Kunst und Literatur unterschätze! Aber alles zu seiner Zeit. Daß man mit dem Kehlkopf nicht schwimmen kann, ist freilich leicht zu beweisen." — Und zu Gadsky gewendet, schaltete er giftig ein: „Man muß schon sehr anspruchslos sein, um solche billige Scherze unterhaltsam zu finden!'*
Mathilde legte ihm die Hand auf die Schulter: „Onkel! Wir müssen jetzt gehen.'* Aber er entwand sich und rief pathetisch: „Wenn wir erst den Feind im Lande hätten, wenn alles zerhackt, zerstört, zer- treten, alle Klaviere als Brennholz verheizt wären, wie es anno Siebzig unsere Soldaten drüben in Frank- reich getan haben, dann köimte Herr Gadsky seine Kunst doch nicht produzieren. Ich glaube, es hätten auch verdammt wenig Leute Lust, sich an seiner Musik zu ergötzen! Wenn die Existenz der Nation auf dem Spiele steht, dann ist auch die schönste Musik nur unnütze Spielerei! Man muß doch zwischen Hauptsache und Nebensache so weit unterscheiden**. . .
„Existenz?" — unterbrach ihn Weiler. — „Kann man siebzig Millionen Menschen wegblasen, oder" . . .
Gadsky hatte schon den Flügel geschlossen, stand an der Seite Krülows, und hörte belustigt der Debatte zu. Jetzt wurde er auf einmal ernst, schob Weiler energisch bei Seite und wandte sich ruhig, aber schnei- dend scharf gegen den Onkel: „Hören Sie mal, mein Lieber! Lassen Sie gefälligst Ihre Hand von meiner Kunst! Spielerei, sagen Sie? Da ließe sich erst noch darüber streiten, ob nicht diese Schießerei, die Milliar- den in die Luft gehen läßt, ganze Länder verwüstet und Völker an den Bettelstab bringt, die größere Spielerei ist? Das Spiel von einigen Tausend entwicklungs- unfähigen Köpfen, die lieber die ganze Welt in Stücke schlagen, ehe sie sich selbst der Mühe des Umlernens
unterziehen. Spielerei? Mit meiner Spielerei
mache ich Ihnen grobe, ungeschlachte Gesellen zu sanften Kindern, die wae Schloßhunde heulen! Mit
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meiner Spielerei kann man Schlechtigkeit in Güte, ge- ballte Fäuste in offene Arme verwandeln I Mit dem heiligen Ernst, der Ihnen so imponiert, mit der Kunst Ihres vielgesegneten Hindenburg, wandelt man ge- sunde, kräftige Männer in faulendes Aas, und macht aus braven, gutmütigen Menschen grausame Bestien. Lassen Sie mir meine Kunst zufrieden! Nach dieser Spielerei v/erden Sie sich noch zurücksehnen, wenn der großartige Ernst so ein, zwei J ährchen regiert
haben wird. Warten Sie nur! Wollen wir
gehen?**
Er wandte dem Onkel hochmütig den Rücken, und seine Stime hellte sich sofort wieder auf, als er den Blicken Mathildes begegnete. Sie wickelte ihn ganz ein in ihre Zustimmung, huschte an den anderen vorbei zu ihm hinüber, und sagte mit dem graziösen Kopfnicken, das er so sehr an ihr liebte: „Ich muß gehen, auch wenn die Herren noch weiter streiten wollen. Wir beginnen um sieben, und es ist gleich halb!**
Fähnrich von Krülow hatte schon den Säbel um- geschnallt und den Mantel angezogen, und erwartete die beiden im Vorzimmer. Sein stilles, nachdenk- liches Gesicht war wie Übergossen mit strahlender Zufriedenheit. Er ging neben Mathilde imd Gadsky voraus, und sagte auf der Treppe mit einem tiefen Aufatmen: „Es ist zu schön, wie Sie beide Dorndorf exekutieren! Alles, was ich fünfzehn Jahre lang habe hinunterwürgen müssen** ... Er verstummte, da der Onkel eben mit Weiler aus der Wohnung trat; und sie gingen stillschweigend hinunter. Vor dem Tor zog Mathilde verstohlen zwei Theaterkarten aus ihrem Täschchen, und wandte sich an Krülow mit der Frage : „Geht es denn gar nicht, daß der Urlaub bis elf verlängert wird? Wenn Sie ein Wort bei Seiner Majestät dem Herrn Feldwebel einlegen'* . . .
„Unsinn!** — wetterte Gadsky, — „es ist doch
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schon beschlossen, daß die beiden Herren gehen. Sei doch nicht kindisch I'*
„Leider überschätzen Gnädiges Fräulein meine Macht!" — stammelte Krülow.
„Viel Vergnügen!" — rief Gadsky energisch, und reichte Mathilde die Hand.
Mathilde versuchte ihn zurückzuhalten. „Ich bin gerade heute so gut bei Stimme !'* — bettelte sie. „Der zweite Akt ist um halb zehn" . . .
Aber Gadsky hatte sich schon losgerissen, winkte „Gute Nacht" und ging, Weiler mit sich ziehend, hastig davon. Mathilde folgte ihm mit den Augen, bis er hinter der nächsten Ecke verschwand; dann zuckte sie seufzend die Achseln: „Im Grunde ist er wohl froh um die Ausrede!" — sagte sie matt lächelnd zu Krülow, der schuldbewußt zu ihr aufolickte.
Willenlos ließ sich Weiler durch die Straßen schleifen, hielt den Kopf gesenkt und gab auf die Bemerkungen Gadskys nur zerstreut Antwort. Immer wenn seine Erregung sich gelegt hatte, kam nachträglich die Reue über ihn. So unbarmherzig und scharf er in der Debatte werden konnte, solange der Glaube aus ihm sprach, den er verteidigte, — sobald ihm der Gegner nicht mehr gegenüber stand, wurde er v^eder weich, und plagte sich mit Gewissensbissen. „Ich hätte nicht so offen gegen die Eltemeitelkeit sprechen dürfen!" — sagte er nach einer Weile kleinlaut, und schielte ängstHch zu Gadsky hinüber. „Der Domdorf reizt mich so mit seinen nachgeplapperten Gemein- plätzen, daß ich jede Herrschaft über mich verHere." Und mit aufflammender Leidenschaf tHchkeit fügte er überzeugt hinzu: „Aber es ist wahr! Ich schwöre Ihnen, es ist wahr! Sie haben ja gehört: Herr von Krülow hat es auch bestätigt. Ich hätte es nur dem alten Herrn nicht ins Gesicht" . . .
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Gadsky war durchaus nicht in der Stimmung, milde zu sein. Der Abschied hatte seinen Haß gegen Stuff von neuem aufgewühlt, und auch das Gefühl, wieder sechs Tage der Qual vor sich zu haben, be- gann schon an ihm zu nagen. Es war dumm, hirn- verbrannt war es, jeden Sonntag zurückzukriechen in diese kultivierten, molligen Räume, wie ein Verbrecher, der so lange den Tatort umstreift, bis man ihn er- wischt. Giftig fuhr er hoch, und ließ seinen Unmut auf Weiler niederprasseln: „Reden Sie doch keinen solchen Stiefel!" — herrschte er ihn an. „Nicht ins Gesicht sagen? Diesem Kerl zuliebe wollen Sie sich ein Schloß vor den Mund legen? Zu wenig haben Sie ihm gesagt! Beobachten Sie ihn einmal, wie er strahlt und den Mund voll nimmt ! ... Er ginge gerne mit, wenn er nur jung wäre? . . . Das ist leicht ge- sagt! Alle gingen sie gerne mit, wenn man sie hört! . . . Aber man sollte ihnen einmal die Wahrheit ins Ge- sicht sagen, diesen wackeligen Universitätsprofessoren, und Geheimräten und Leitartikelschmierem, der ganzen senilen Gesellschaft! Wie Kinder beim Baden, prit- scheln sie in unserem Blut! Das ist ja so schön bequem; erst das Luftkissen aufblasen, sich dann weich hin- setzen und den Kinderchen das Sterben aufgeben, wie wenn es nur ein Kapitel aus dem Cicero wäre. Haben Sie sich schon einmal so einen alten Datterich ange- sehen, wenn er recht junge, kräftige Burschen an sich vorbeiziehen sieht? . . . Nur daß sie es uns nicht zu- rufen: ,Etsch! Wir sind schon sechzig Jahre alt, haben Kalk in den Adern und das Zipperlein im Ge- bein, und werden euch doch überleben! Etsch! — Etsch!* . . . Boshaft wie Affen aus dem Käfig grinsen sie uns nach, die Hallunken, kreischen ihre patriotischen Phrasen, und werfen die Arme in die Luft, genau wie ein alter Bauer, der husch — husch, das Ge- flügel über den Hof hetzt! . . . Nicht ins Gesicht? . . . Viel zu wenig haben Sie ihm gesagt, nicht zu viel!"
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Weiler sch^vieg ; eingeschüchtert von Gadskys wut- entstelltem Gesicht. Jeden Sonntag wiederholte sich auf dem Heimweg diese Szene. Erst wenn die Ka- serne schon ihre Fänge nach ihm streckte, und die Bitterkeit über ihn kam, griff Gadsky auf die Debatte zurück, die er oben, bei Fräulein von Moellnitz, un- beteiligt, gleichsam in der Loge sitzend, an sich vor- beistürmen ließ. Und Weiler, der wie ein abgelau- fenes Uhrwerk in sich zusammensank, mußte seinen ganzen, verspäteten Zorn stumm über sich ergehen lassen.
„Sie sind ein spassiger Mensch!** — höhnte Gadsky nach kurzer Pause. — „Wenn Ihnen mal in der Hitze des Gefechtes ein offenes Wort ent- schlüpft, dann zerfressen Sie sich hinterher vor Angst! Sie glauben wohl, Herr Dorndorf sei genau so zart- fühlend wie Sie? Können sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, daß auch Menschen mit robusterem Gemütsleben existieren. Wie der umgekehrte Feld- webel Stuff kommen Sic mir vor, bei Gott! Der ordi- näre Kerl glaubt, es sei jedem Menschen so leicht, sich zu ducken, wie ihm; und Sie wieder dichten in jedes Menschentier Ihre eigene Feinfühligkeit hinein! Daher auch Ihre krankhafte Vorliebe für den Pöbel. Sie sollten diese Herrschaften aus der Nähe kennen, wie ich; dann würde Ihnen schon die Lust vergehen, sie immer in Schutz zu nehmen!**
„Die haben es gar nicht nötig, daß man sie in Schutz nimmt! ** — erwiderte Weiler verstockt. — „Wenn ich unter so ungünstigen Verhältnissen auf- gewachsen wäre, wie diese , Herrschaften*, wenn ich immer nur Härte, und Not, und Mißgunst um mich gesehen, und von allen Schönheiten des Lebens nur über ein hohes Gitter hinweg was erspäht hätte, dann wäre ich auch um kein Haar besser.**
Gadsky stieß ein kurzes, höhnisches Lachen aus, und gab keine Antwort. Weiler war, nach seiner
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Ansicht, in das Proletariat ,, vernarrt", während er selbst, von seiner Kindheit her, einen glühenden Haß gegen die Arbeiter in sich trug. In dem kleinen Fabriks- dorf war er, als bessergekleideter Beamtensohn, un- zählige Male überfallen, in seinem Sonntagsstaat in Pfützen geworfen und verprügelt worden; und die schmeichelhafte Aufnahme, die ihm gleich nach seinen ersten Erfolgen in den höheren Kreisen bereitet wurde, hatte seine Abneigung noch vertieft. Ueber diese Frage konnte er sich mit Weiler nicht verständigen, das wußte er; zuckte nur überlegen die Achseln, und eilte weiter, bis ihm selbst der Atem ausging, und er in der Mitte der Straße plötzlich stehen blieb. „Wo- hin laufen wir eigentlich?** — frug er übellaunig.
„Ich denke . . . wir wollen . . . irgendwo zu Abend essen," — stammelte Weiler erstaunt. Gadsky sah sich um, und deutete auf ein großes Bierhaus, das seine Lichtkegel patzig über die breite Straße warf. „Da gehören wir hinein!*' — rief er böse — „das richtige Lokal für gemeine Soldaten, diese Fraß- fabrik!** Die ängstHchen Blicke Weilers, der vor Menschenansammlungen und geräuschvollem Treiben eine unüberwindliche Scheu hatte, entlockten ihm ein boshaftes Lachen. Er schob den Widerstrebenden vor sich her, und klopfte ihm ermunternd auf die Schulter: „Nur hinein! Da können Sie sich an Ihren geliebten Mitmenschen ergötzen. Passen Sie auf, ^vie die uns feiern werden! Wir lassen uns ja massakrieren, damit dieses Pack noch selbstbewußter sein Bier schlürfen kann.**
Die Tische waren voll besetzt, um den großen Leuchter schwebten Ballen von Zigarrenrauch und Küchendämpfen; ein Geschnatter, wie das Surren und Brausen eines ungeheuren Räderwerkes schlug ihnen entgegen. Weiler kehrte in der Mitte um, und lief wieder dem Ausgang zu, froh, nirgends Platz zu finden. Da packte ihn Gadsky fest am Arm, zog ihn
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mit sich an einen Tisch von lärmenden Philistern, die mit großem Hailoh zusammenrückten. Alles Sträuben half nichts, Gadsky verbeugte sich mit übertriebener Höflichkeit, erklärte — auch im Namen seines Kame- raden — die freundliche Einladung dankend anzu- nehmen, und blitzte Weiler höhnisch an, als ihn zwei angeheiterte Riesen zu sich auf die Bank niederzogen. Es machte ihm höllischen Spaß, die verzweifelte Wehrlosigkeit seines Freundes zu beobachten ; er wollte die Gelegenheit benützen, um ihn gründlich von seiner Sympathie für den Plebs zu heilen, und hetzte die zu- dringliche Gesellschaft, mit allerhand erfundenen Geschichten, dem armen Weiler zielbewußt auf den Hals.
„Ich selbst war noch nicht im Felde** — wehrte er bescheiden ab, — „aber hier mein Freund, so blaß und schwächlich er aussieht, hat schon seine neun Engländer hinüberbefördert. *s Eiserne wird auch nicht mehr lange ausbleiben.**
„So is recht!** — brüllte der Dicke neben Weiler, und hielt dem Errötenden seine mächtige Tatze unter die Nase. — „Nur die Engländer nicht schonen! Nur dieser Gaunerbande keinen Pardon nicht geben!**
Mit tiefernster Anteilnahme wandte sich Gadsky ihm zu, und erkundigte sich respektvoll: „Sie kennen Sie wohl genau, die Herren Engländer? Darf ich fragen, ob Sie vielleicht drüben gelebt haben?**
Der Dicke riß den Mund auf wie ein Hecht. „Wieso?** — stammelte er mißtrauisch; fand aber sofort seine Sicherheit wieder, und schüttelte pro- testierend die Faust: „Ich? Drüben gelebt? Ja, warum nicht gar! Mit der Sippschaft hab* ich nie nichts zu tun haben wollen.**
„Aha, ich verstehe,** — erwiderte Gadsky mit unerschütterlichem Ernst, — „Sie haben*s so zu sagen schon aus der Entfernung satt bekommen. Sehr be- greiflich, haha!**
Latzko, »Friedensgeridit'* 4 4^
Weiler litt Folterqualen. Er beugte sich über sei- nen Teller, mit glühenden Wangen, und erstickte fast an jedem Bissen, den er mühsam hinunterwürgte. Die Grausamkeit, mit welcher Gadsky seine Narrens- possen trieb, empörte ihn noch mehr, als die Rücksichts- losigkeit gegen seine eigene Person. Wie konnte man die Glaubensseligkeit dieser gutmütigen Dummköpfe so schamlos mißbrauchen? . . .
„Wann gehts denn wieder hinaus?** — wandte sich ein Bebrillter, der wie ein Amtsschreiber aussah, an Weiler, und nötigte ihm, trotz verzweifelter Ab- wehr, eine Zigarre auf. Er wollte die Wahrheit sagen, aber schon kam ihm Gadsky zuvor: „In drei Tagen,** — warf er großartig über den Tisch hin- über. „Nach Belgien gehts.**
Sofort schoben sich die roten, fettig glänzenden Köpfe ganz nahe zusammen, und eine Flut von Fragen und Ratschlägen ging über die beiden nieder. Jeder hatte ganz besonders verläßliche Nachrichten über die Schauertaten der Franktireure! Der Dicke beschwor Weiler, ja keinem Belgier über den Weg zu trauen, auch den Frauen nicht, denen schon gar nicht; der Bebrillte wollte wissen, ob er auch schon sein fest- stehendes Messer im Stiefelschaft habe, und erzählte von der Popularität dieses verläßlichen Instrumentes, fröhlich prustend, und mit einer strahlenden Ausführ- lichkeit, wie kein Metzger das Abstechen eines Ferkels unter Nichtfachleuten schildern dürfte.
Weiler hielt es nicht länger aus! Er warf ein Geldstück auf den Tisch, schlüpfte in seinen Mantel, und entzog sich weiteren Ratschlägen und Glück- wünschen durch rasche Flucht. Gadsky tat sein Mög- lichstes, um den verstimmenden Abgang gut zu machen. Er ließ sich endlos die Hände schütteln, alle Taschen mit schlechten Zigarren vollstopfen, stimmte gröhlend in das Gelächter ein, das jede blutrünstige Aufmunterung begleitete, und wiederholte noch von
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der Türe aus begeistert den Abschiedsruf: „Gott strafe England!'*
Auf der Straße verzog er sein Gesicht angewidert zu einer Fratze und rief Weiler höhnisch zu: „So! Jetzt haben Sie mal einen kleinen Ausschnitt aus der Gesell- schaft kennen gelernt, die Ihnen so sehr ans Herz ge- waclisen ist. Wollen Sie jetzt" . . .
Weiler ließ ihn nicht ausreden. Er stampfte auf, wie ein trotziges Kind, hatte die Augen voll Tränen, imd stotterte außer sich vor Zorn und Entrüstung: „Sie reden ja wie ein Fürstenkind, das außerhalb der Welt aufgewachsen ist! Was haben denn diese trägen Philister mit den Arbeitern gemein, die sie immer an- greifen? . . . Aber das ist jetzt gleichviel! Und wenn die Leute auch noch so verstockt und einfältig wären,
Sie dürfen sich schämen! Jawohl! . . . Diese
armen Teufel schwätzen doch nur nach, was ihnen ihr Leibblatt auftischt. Jeder Satz, den sie sprachen, roch ordentlich nach frischer Druckerschwärze! Lassen Sie Ihren Zorn, wenn Sie so mutig sind, an den Hallunken aus, die sie irreführen und mit Schmeicheleien benebeln, bis sie sich nicht mehr kennen vor Hochmut! Glauben Sie, diese armen Schlucker da drinn wären nicht auch lieber als gefeierte Künstler durch die Welt gegondelt, und hätten sich ihr Urteil selbst gebildet? Das ist billig, sich erhaben zu fühlen" . . .
Er brach plötzlich ab, und trat den Heimweg an, mit abgewandtem Gesicht, die Lippen trotzig ver- schlossen.
Gadsky starrte ihn verdutzt an. „Dann gebe ichs auf!" — erklärte er kleinlaut. — „Sie sind unver- besserlich! Arme Teufel? . . . Arme Teufel
nennen Sie diese Leute? Die werden noch am selben Tische sitzen, wenn wir beide schon längst irgendwo in fremder Erde faulen, und werden den Mund immer noch voll nehmen, und sich erhaben fühlen über alle
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anderen Völker, auf Kosten der Siege, die sie feiern halfen!'*
Weiler gab keine Antwort. Lief, so schnell er konnte, voraus, durch enge Nebengassen, auf dem kürzesten Wege dem Bahnhofplatz zu. Er konnte sich nicht erholen I Konnte sich nicht losreissen von der Erinnerung an dieses Wirtshaus gespräch. Welche Ausdrücke waren da gebraucht worden ! . . . Das unge- heure Leiden, das viele Blut, dieses Morden und Ster- ben, das alles . . . konnten Menschen lustig lachend, mit Worten wie „Hosen straff ziehen" . . . „Verklopfen" . . . „Verdreschen" entweihen? Wußten sie denn nicht, daß Knaben, von der Schwelle des Lebens ge- rissen, wie Spielzeug entzweigebrochen und wegge- schleudert wurden, Familienväter, den Kopf
auf die nackte Erde hinlegen und sterben mußten, bis in den letzten Atemzug hinein von der Sorge um ihre Brut gefoltert? . . . Wußten sie nicht, daß Millionen Augen brachen, ohne gesehen zu haben, was ihnen
versprochen und vorbestimmt gewesen war,
Millionen, in hilfloser Trauer zuschauen mußten, wie ihre reichsten, schönsten Lebensjahre in wenigen Minu- ten aus den offenen Adern strömten? . . . V/ie konnten Menschen das alles vergessen, — — — von dem bitteren Sterben ganzer Länder in brutalen Scherz- worten sich unterhalten, als gälte es nur eine Balgerei? . . .
Er war ja nie so richtig kriegsbegeistert gewesen, hatte sich nur mühselig eine Erklärung zurechtgezim- mert; so etwa, als stände er vor seinen Regalen, und verteidigte mit Fäusten und Zähnen die Bücher, die Eindringlinge zerfetzen und besudeln wollten. Jetzt aber brach auch dieser schmale Steg unrettbar zu- sammen! Er sah noch das gierige Leuchten in den Augen der ganzen Tischgesellschaft, als Einer, voller Neid und Haß, den Besitz der Engländer zusammen- addierte; hörte noch das Schmatzen nach der Beute.
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die ein Sieg über solchen Reichtum versprach! . . . Wie die Unterhaltung in einer Verbrecherkneipe, vor einer lohnenden Unternehmung, hatte das ganze Ge- spräch geklungen, und alles in ihm bäumte sich auf gegen den Gedanken, hingeopfert zu werden für solchen Gewann, im Dienste einer Gesinnung, die seiner Seele fremder und verhaßter war, als der Feind, den er töten sollte.
Er lief, — sehnte sich nach seinem Strolisack, nach dem finstem Zimmer, wollte entfliehen hinter den siebenfachen Wall, den er aus seinen Gedanken und Träumen um sich aufrichten konnte. Wie meuchlings überfallen zuckte er zusammen, als ihn Gadsky plötz- lich am Aermel packte und zum Stehen zwang. „Sie wollen doch nicht schon nach Hause? . . . Unsinn! Es ist erst acht Uhr, und wdr haben Zeit bis halb zehn. Dienstmädchen und Soldaten schenken nichts her von ilirem Ausgang. Kommen Sie, gehen wir ins Kino! Das bringt auf andre Gedanken.'*
Vergebens berief er sich auf seinen Abscheu vor Lichtspielen, auf seine Müdigkeit, — Gadsky gab ihn nicht frei. Die Szene im V/irtshaus wurmte ihn längst, und er wollte verhindern, daß Weiler in dieser verzweifelten Stimmung den Tag beschließe. In der Kaserne, — das wußte er, — fraß solche Bitterkeit unrettbar weiter. Auf den vier Eisenfüßen der Bett- statt lag man wie in einer Gefängniszelle, eingesargt mit seinen Schmerzen, abgesondert von jeder mensch- lichen Anteilnahme. Er ließ nichts unversucht, bis endlich Weiler, gerührt von der Reue, die aus Gadskys Augen sprach, sich hinüberziehen ließ zu dem Eingang, der zwischen grellen Plakaten, und überwölbt vom Lichtdach der Bogenlampen, wie ein aufgerissener Rachen die Straße verschluckte.
Anfangs fühlten sich beide wohl in der Finsternis. Nach dem eisigen Wind schmiegte sich die Schwüle des überfüllten Raumes angenehm an die Glieder;
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erst als sie sich erwärmt hatten, legte der üble Dunst der sattgegessenen, sonntäglichen Menge einen engen Reifen um ihre Stime. Gadsky studierte mitleidig das schmale, ewig abwesende Gesicht Weilers, das in dem fahlen, schwach zurückströmenden Licht der hellen Leinwand, wie eine Totenmaske aussah. Wo hctte dieser Mensch bis zu seinem dreißigsten Jahre denn ge- lebt, daß er wie aus allen Himmeln fiel, wenn man ihm den gesegneten Durchschnitt zeigte? Hatte er sich sein Volk wirklich als eine kompakte Masse von Dich- tern und Denkern gedacht? Dann gehörte er, wie eine seltene Blume, in seine Bücher hineingelegt, um zwischen bedruckten Blättern, geschützt vor der Außenwelt, allein weiter zu leben! Mit Bajonett und Kolben in den Kampf geschleudert, mußte er untergehen, wie ein Stein, den man ins Wasser wirft.
Wahrhaftig, diese matten, gütigen Hände
konnte kein Zwang zu Raubtierpranken umformen!
Weiler fühlte die Sympathie, die zu ihm über- strömte, und bereute auch schon längst seine Heftig- keit von vorhin. So suchten beide eine Gelegenheit zum Einlenken, und fanden sich in der Entrüstung über die Minderwertigkeit des Gebotenen. Gadsky fluchte auf die schamlose Verbalhomung von Mozart und Chopin, die auf niederträchtigen Instrumenten, in falschem Takt, gräßlich verstümmelt und verhudelt wurden; und Weiler warf sich hin und her auf seinem Sitz, wie gekniffen von der geschmacklosen Sentimen- talität und faustdicken Verlogenheit der Zigeuner- geschichte, die vom Sonntagspublikum mit atemloser Andacht verschlungen wurde. Als dann, zum Schluß, die Kriegsbilder aufmarschierten, und der Einschlag einer Zweiundvierzigergranate mit nicht endenwollen- dem Beifall begrüßt v^rde, sprang Gadsky wütend auf, und zog Weiler aus dem Theater.
„Sehen Sie,** — rief er draußen, — „das sind unsere Henker! Diese Leute, die sich gerührt schneu-
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zen, wenn das geraubte Grafenkind sein Abend- gebetchen spricht, eine Granate aber, die Dutzende von unschuldigen Opfern in Fetzen reißt, mit Jubel, wie einen gesegneten Einfall feiern. Beides innerhalb einer Vorstellung, innerhalb derselben Viertelstunde! Und wenn sie wüßten, daß hundert blassen Grafen- kindern der Leib geöffnet wird, mitten während des Abendgebetchens, sie würden doch jauchzen, wenn es „Ihre" Granate wäre. Haben sie nicht so getan, als wäre jeder einzelne unter ihnen der Erfinder des
Zweiundvierzigers in eigener Person? Ich
will Sie nicht wieder aufregen, aber sagen Sie selbst, ob es eine noch so große Schandtat, ob es irgend eine Ungeheuerlichkeit geben kann, die nicht genau so mit Beifall begrüßt würde, wenn sie nebenher auch das Gesicht einer „Leistung** hätte, auf die man stolz sein kann! Fragen Sie sich doch einmal selbst.**. . .
„Nein! Das frage ich mich nicht!*' — unterbrach ihn Weiler entschlossen. „Ich frage mich lieber, ob diese gleiche Menge nicht gutherzig, und gerecht, und bescheiden geworden wäre, wenn in der Schule, von der Kanzel, in den Zeitungen, und im Kino, inmier das Gegenteil dessen gelehrt und mundgerecht ge- macht worden wäre, als bisher.**
Mit einem schweren Seufzer und einer entsagenden Handbewegung trat Gadsky den Weg zur Halte- stelle an. Unterwegs blieb er noch einmal stehen, und sagte mit einer ruhigen, müden Erbitterung: „Ich be- neide Sie um Ihren Glauben. Wir wollen auch lieber nicht weiter streiten! Nur erklären möchte ich, warum ich Ihnen beim besten Willen nicht folgen kann. Ich kann mich nicht fragen, wie die Leute geworden wären, wenn man sie anders gefüttert hätte. Ich sehe nur, wie sie heute sind! Ich weiß nur, wie ich mich habe plagen und peitschen und an das Klavier hin- binden müssen, um etwas Rechtes zu werden. Ich weiß auch, daß ein gewisser Artur Weiler sich jahr-
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zehntelang in grausamer Selbstbeobachtung zer- fleischen und erziehen mußte, ehe er den Dichter Artur Weiler aus sich machen konnte; und sehe, daß er jetzt hingeopfert wird, nur damit die faule Menge ihr Bedürfnis nach Selbstberäucherung befriedigen
kann! Verstehen Sie denn nicht, daß ich
mit der bloßen Faust gegen diese Maschine losgehen, und den Riesenmörser zertrümmern möchte, der uns alle zu Leichen stampft, damit die Zuschauer „Wir haben gesiegt'* rufen dürfen? . . . Diese armseHgen Herdentiere, die nicht reich, nicht klug, nicht schön und nicht gelehrt sind, keine Lust haben, sich selbst zu plagen und zu formen, und dennoch, alle Freuden des gesättigten Ehrgefühls genießen wollen, die sind das Unglück der Welt! Sie retten sich hinein in eine Kollektiveitelkeit, die wohlklingend Patriotismus ge- ncinnt wird, und nichts als persönliche Faulheit ist. Für diesen Fetisch geben sie dann alles hin; kennen keine Müdigkeit und keinen Zweifel; marschieren lieber in Reih und Glied dreimal um die ganze Erde, und stecken die ganze Welt in Brand, ehe sie sich dazu entschließen, allein in ihre eigenen Keller hinunter zu steigen, um mit einem Lichtstummel nach dem Rechten zu sehen!'* ....
Verzweifelt setzte er sich wieder in Bewegung; die Zigarette zitterte in seiner Hand ; er atmete schnell, als wäre er gelaufen. Als sie die Haltestelle erreichten, streckte er Weiler plötzlich die Hand entgegen, und sagte warm: „Ab und zu muß ich mir Luft machen; jetzt haben Sie wieder Ruhe für einige Zeit!"
Gerührt schlug Weiler ein, und für einen Augen- blick wurde es ganz still und ruhig in beiden, als wäre jeder dem andern mit der Hand glättend über die Seele gefahren; — dann warfen sie sich jeder in eine andere Ecke der hinteren Plattform, wie aus einander- getrieben von dem Verlangen nach Schweigen.
Im Wagen saß ein stämmiger Herr, auf dem
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Kopfe einen breitkrämplgen Kalabreser, der schlecht zu seinem üppigen Stadtpelz paßte; und sah, über den Rand seiner Zeitung, immer häufiger zu Gadsky hinaus. Endlich erhob er sich, — kam näher, — krüff die Augen zusammen und fiel mit angestrengter Freudigkeit über Gadsky her. „Nein? . . . Also wirklich? Herr Gadsky? . . . Auch bei den Feldgrauen? ... Ist ja famos? Grüß Sie Gott, lieber Herr Gadsky!"
Es war der Dirigent des Stadtorchesters, ein Schwätzer und mittelmäßiger Musiker, den Gadsky in besseren Zeiten kaum eines flüchtigen Händedruckes gewürdigt hatte. Jetzt aber tauchte er wie das Wahr- zeichen einer versunkenen Welt vor ihm auf, brachte den Duft von Orchesterproben und dichtbesetzten Konzertsälen mit sich, und die stolze Erinnerung an einen Georg Gadsky, der wie ein Zauberer nur die Hände hob, und das Brausen der Menge in atemloses Schweigen wandelte.
Der Kapellmeister war in seinem Element! Er war glücklich, jemanden gefunden zu haben, der seit Monaten keinen Musikerklatsch gehört hatte, und krähte von Zeit zu Zeit mit gespieltem Erstaunen: „Wirklich, das wissen Sie nicht, Herr Gadsky? . . . Ja, leben Sie denn in Afrika, Herr Gadsky?** . . .
Gadsky ließ die Redeflut über sich ergehen; nur das Wörtchen „Herr** traf ihn jedesmal wie ein Schlag, und weckte seinen Trotz. Er lehnte sich auf gegen das mollige Gefühl, das diese Selbstverständ- lichkeit in ihm aufkeimen ließ; wollte nicht als un- verdiente Ehrung genießen, was tausende Male un- gehört an ihm vorbeigehallt war! „Sagen Sie mir nicht Herr Gadsky!" — sagte er gereizt, mit einer hochmütigen Bitterkeit, — „ich will mich sonst immer nach dem , Herrn* umsehen, den Sie meinen. Ich bin kein Herr mehr. Seit ich nicht nur die Tasten dresche, sondern nebenbei auch noch ein wenig fürs Vaterland
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sterben gehen soll, habe ich aufgehört, ein ehrenwerter Mitmensch zu sein, den man in höflichen Formen an- redet ! Das ist so ! ... Warum schauen Sie mich so verwundert an? Ein Infanterist ist kein Herr, son- dern ein Schulbub. Sagen Sie mir nur recht herab- lassend ,Gadsky' ! Sonst komme ich mir wie ein Hoch- stapler vor.**
Der Kapellmeister grinste verlegen. Er wühlte mit seinen kleinen, schelmischen Augen in den finsteren Gesichtszügen Gadskys, und wurde nicht recht klug aus dieser merkwürdigen Rede. War das Scherz? . . . Wollte der getröstet werden? . . . Nach kurzem Schwanken entschloß er sich, die Sache spaßhaft zu nehmen, lachte dröhnend auf, wie über einen glän- zenden Einfall, und begann sofort mit einer neuen Skandal geschi chte .
„Achtung!" — flüsterte Weiler von rückwärts, und zupfte Gadsky am Mantel. Als er sich verwun- dert umsah, ging Feldwebel Stuff soeben ein ihm vor- bei, nahm mit seiner aufgedonnerten Frau Gemahlin im Wagen Platz, Gadsky riß die Schultern zurück, reckte den Kopf in die Höhe, und schlug krachend die Hacken zusanmien. Der kalte Schweiß trat ihm auf die Stime, als der „Gruß** beendet v/ar, und er sich dazu entschließen mußte, dem Kapellmeister wieder das Gesicht zuzuwenden. Konnte man dieses Auftauen der unnatürlich gestreckten Glieder, dieses stupide Glotzen und selbstverständliche Zurückkehren in den Normalzustand, ohne ein heimliches Lächeln beobachten, wenn man den Menschen, der so in De- mut erstarrte, als den gehätschelten, hochnäsigen Georg Gadsky gekannt hatte? . . . Verlegen sah er an dem Dirigenten vorbei, beugte sich ganz nahe an ihn heran und flüsterte gallig: „Sehen Sie, das ist ein ,Herr'! Unser unbeschränkter Gebieter: Herr Feldwebel
Stuff r*
Ein kurzes, zerstreutes Kopfnicken war die ein- 58
zige Antwort. Dann nahm der lästige Schwätzer die begonnene Geschichte dort wieder auf, wo er sie unter- brochen hatte: „Na, Sie können sich die Wut des Intendanten denken. Er läßt sich den Mann sofort kommen** . . .
Hatte er denn nicht verstanden ? . . . Meinte er, der Feldwebel sei nur auf der Straße vorbeigegangen? . . . „Da drin, im Wagen sitzt er! Neben der dicken Frau mit den knallroten Rosen auf dem Hut.**
Wieder nur das gleiche kurze Nicken, aus Höflich- keit, ohne auch nur einen flüchtigen Blick in den Wagen zu werfen; beinahe schon gereizt über die wiederholte Unterbrechung. „Unser Tenor ist nicht faul, und sagt der Exzellenz, — so wie ich" jetzt mit Ihnen spreche, — kerzengerade ins Gesicht" . . .
Gadsky hörte kein Wort. Vor seinen Augen hüpften farbige Kugeln; sein Blut trommelte gegen die Schläfen. Als wäre eine Brücke unter ihm ein- gebrochen, sauste er hinunter in eine rauschende, be- täubende Finsternis. Er sah nur das kurze, gleich- gültige Nicken, — sah es immer wieder, — und ver- suchte umsonst sich zu beruhigen. Es war ja durch- aus nicht verwunderlich, daß der Dirigent des Stadt- orchesters kein Interesse für Herrn Feldwebel Stuff, für irgend einen Feldwebel hatte! . . . Warum sollte er auf die Gesichtszüge eines ihm gänzlich gleich- gültigen Menschen neugierig sein? . . . Auch Georg Gadsky hätte vor wenigen Monaten den Kopf nicht gewendet
Aber alle Vernunft versagte! . . . Der Anblick dieses feisten, unbekümmerten Menschen raubte ihm den Atem. . . . Wie eine Gottheit sah er ihn thronen, erhaben über die beschämende Angst, die ihn selbst von Tag zu Tag tiefer duckte, unberührt von all den Niedrigkeiten, die in ihm wie Würmer nagten ! . . .
„Unrecht! Unrecht!" — hätte er am liebsten laut gerufen. Seine Finger umklammerten die Messing-
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Stange, die vor ihm stand; seine Zähne knirschten, so schwer kämpfte er gegen die Versuchung, das Wort „Umecht" dem Kapellmeister ins Gesicht zu schleu- dern. Wie betrunken reichte er ihm die Hand, als Weiler zum Aussteigen mahnte. „Umecht I** stieg es noch einmal in ihm auf, als der V/agen mit dem Glücklichen davon fuhr. Dann lief er fliehend in das finstere Gäßchen hinein, das zur Kaserne führte.
„Der Feldwebel geht hinter uns!" — flüsterte ihm V/eiler ins Ohr. — „Gehen Sie stramm, sonst läßt er uns morgen nachexerzieren."
Gadsky stöhnte auf, und warf einen haßdurch- tränkten Blick auf Weiler, der steif wie ein Ladstock marschierte. Ej wollte unbefangen bleiben, den Kerl
da rückwärts g2ir nicht zur Kenntnis nehmen,
da fiel ihm sein Rendezvous mit Mathilde ein, und sogleich merkte er, daß auch seine Sohlen fester auf das Pflaster klatschten, das Schlenkern der Arme zu einer Arbeit wurde. Wie Hampelmänner zappelten erwachsene Menschen, — verfingen sich mit allen Gliedern in den Blicken, die ihren Rücken trafen; und konnten nicht frei atmen, und ihre Pulse nicht im Zaume halten, alles nur, weil sie diesen bornierten, gemeinen Schreihals in der Nähe wußten!
Und der Kapellmeister?
Er war nicht älter, nicht schwächer und nicht weniger gesund, und würdigte denselben Feldwebel Stuff nicht einmal eines flüchtigen Blickes! Ging ge- rade oder krumm, wie es ihm beliebte, nach Hause in sein eigenes Heim, legte sich auf sein eigenes Bett, als sein eigener Herr, und schmiedete Pläne für den kommenden Tag, ohne daß der düstere Nachsatz: „Wenn der Feldwebel" alle Gedanken und Ent- schlüsse in Scham und Bangen erstickte! — — —
Der allmächtige Tyrann, der über Georg Gadsky schrankenlos verfügte, wie über das Federmesser, das er in der Tasche trug, — der eklige Polyp, dessen
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Fänge Tage und Stunden des Einen umklammerten, — dem Andern war er nichts; unwichtiger als die tausend kleinen Begebenheiten, die ein Straßengespräch unterbrechen ; weniger interessant als eine Lichtreklame, ein gestürztes Pferd, oder eine auffallende Damen- toilette I
Nicht einmal den Kopf hatte der Kapellmeister gewendet, trotz wiederholter Aufforderung, so sicher fühlte er sich hinter dem winzigen V/örtchen: ent- hoben 1
„Unrecht! Bitteres Unrecht!'*
Atemlos stürmte er die Treppen hinauf, brach zu- sammen, als er endlich sein Bett erreichte; blieb sitzen in Mantel und Mütze, wie erstarrt.
Weiler entkleidete sich lautlos, — wollte sich schon legen, — wurde unruhig, als er den Freund so er- blickte. „Ziehen Sie sich aus, Gadsky,** — flüsterte er, — „Stuff macht vielleicht noch die Runde.'*
Aber Gadsky rührte sich nicht.
Was hatte er nur> . . . Glitten nicht seine Schul- tern seltsam in die Höhe? Weiler schien es, als liefe ein leises Beben über den breiten Rücken. Er rief ihn
noch einmal an, ging langsam näher,
beugte sich vor, und fuhr erschrocken zurück,
als er das verzerrte, tränenfeuchte Gesicht erblickte.
„Um Gottes Willen! Was ist Ihnen denn?**
Geistesabwesend starrte Gadsky lange zu ihm auf, dann schüttelte er traurig den Kopf und sagte, mit einem zerbrochenen Schluchzen in der Stimme, an- dächtig, als spräche er ein unfaßbares Geheimnis aus:
„Elr hat sich nicht einmal umgedreht!** . . .
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IL
MEUTERER
Nun stand der leere Wagen mit der steil auf- ragenden Deichsel, wie ein Tierskelett mit schwarzen Rippen, mitten auf dem großen Platz, und war immer noch umringt von den Soldaten. Der Märzwind fegte eisig durch das Dorf, trieb den Staub in dicken Wolken über die hartgefrorene Strafie, benagte die Finger- spitzen noch in der Tiefe der Taschen, -^ und doch lösten sich die Gruppen nicht, wie zusammengehalten von einer heimlichen Erwartung.
Georg Gadsky half dem Sanitätssoldaten, dem die Schweißperlen in den Nacken rieselten, die Pa- piere ordnen, die abgeliefert werden mußten, und be- obachtete, über den Rand der Mappe hinweg, ver- stohlen seine Kameraden. Ilir zögerndes Verharren, der gehässige Trotz, mit welchem sie sich gegenseitig belauerten, als erwartete jeder von dem andern das erlösende Wort, den Aufschrei, den er selbst müh- sam in sich niederwürgte, dieses verlegene
Stehenbleiben auf dem zugigen Marktplatz, während ringsum die Schornsteine rauchten, und durch angelau- fene Fenster schon LampenHcht lockte, rührte ihn mehr, als das Stöhnen der Verwundeten vorher.
Er wußte ja, wanmi die armen Teufel nicht in die warmen Quartiere zurückwollten! Siebenund- dreißig zerfetzte, wimmernde Menschenreste waren vor ihren Augen ausgeladen worden aus dem Leiter- wagen, in welchem früher französische Bauern den Unrat auf ihre Felder fuhren. In den flackernden Augen wetterleuchtete noch das Grauen; die bange Frage: „Ist es wirklich unwiderrufHch? . . . Muß ich meinen armen Leib dorthin tragen, wo er so zertram- pelt, in zuckende Teile gerissen werden kann?** . . .
Latzko, „FriedensgoricKt"
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Für einen Augenblick fühlte sich Gadsky wie schwindlig geworden, wie eingehüllt in eine farbige Wolke, die ihn aufhob, daß er keinen Boden mehr unter den Füßen fühlte, und aus einem fernen Sausen stieg wunderbar laut seine eigene Stimme, schallte ihm grell über den windigen Platz entgegen. „Ka- meraden 1" — hörte er sich rufen; erschrak so sehr, daß er die Zähne tief in die Unterlippe grub und sich mißtrauisch im Kreise umsah. Fragend bohrte er die Augen der Reihe nach in jedes Gesicht, — zuckte hochmütig die Achseln, als die Runde gemacht war.
Nein, Gott Lob, er hatte nicht gerufen! Wozu auch? . . . Sollte er mit Worten Leute zu wecken suchen, die ein Leiterwagen, gehäuft voll mit Qual, nicht aus ihrem Gleichmut riß? Er erinnerte sich plötzlich an den Diener des König Midas, der seine Stimme in die Erde hatte verscharren wollen. Wahr- haftig, auch das schien ihm klüger als von dem Kreise, der ihn da umschloß, ein Echo zu erhoffen. Er kannte sie ja! ... Nicht zwei würden auch nur ein zustimmendes Nicken riskieren. Nicht zwei 1 . . . Gzmz genau wußte er von jedem einzelnen, v/ie er sich stellen würde; musterte mit einem Blick die Besseren aus, die sich wenigstens ducken, sich mitleidig ab- wenden würden, gedemütigt von seinem nutzlosen Opfer. Dann spießte er haßerfüllt die vielen auf, die bereit wären, mit Hand an ihn zu legen, aus Dummheit, aus Streberei, oder aus Rache und Neid. Denn so sehr sie auch an ihrem Leben hingen, so groß auch die Angst war, die aus ihren Augen schrie, aus ihrer Mitte durfte der Befreier nicht kommen! Das allein machte ja ihr Schicksal erträglich, daß sie alle gleich elend, gleich erbärmlich waren. Wehe dem, der sich über sie emporschwingen wollte! Sie würden über ihn herfallen wie über den Enthüller ihrer Schmach, und er müßte noch tiefer hinunter, müßte zertreten werden zur Sühne.
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Mit einem höhnischen Lächebi schlug er die Augen zu Boden, unfähig, den Anblick der glotzenden Fratzen länger zu ertragen. Waren sie nickt vri« ein groteskes Relief auf dem Sockel eines Feldherrendenk- mals? Hunderttausend Arme und Beine, von einem einzigen Hirn bewegt. Was sonst noch Menschliches an den Gliedmaßen hing, war Schlacke, — Folge ungenügender Ausbildung ! . . .
Gadsky biß die Zähne zusammen, an der Kehle gepackt von - würgendem Widerwillen, als er sich plötzlich wieder an den Jubel erinnerte, mit welchem diese selbe, seelenlose Herde vor einigen Tagen den Feldmarschall empfangen hatte, der im Auto an den schweißtriefenden, schmutzüberzogenen Reihen vorbei- fuhr. Damals hatte er diese erloschenen Augen leuchten, die Gesichter glühen gesehen, als ahnten sie*s, daß alles, was ihnen geraubt worden, aus den zu leeren Hülsen degradierten Körpern entflohen war, gehäuft weiter lebte in diesem Götzen!
Mußte man sie nicht hassen, diese mordbereite Horde, die den eigenen Henker umjauchzte, sich willig niedermähen ließ, wenn nur die kunstvoll ge- führte Sense drüben, wo der „Feind** um sein Leben bangte, dichtere Garben türmte? Oh, er haßte sie, haßte sie alle . . . fuhr zornig auf bei dem Gedanken, daß er, — vor wenigen Minuten erst, — bereit ge- wesen war, sich hinzuwerfen in einer Ansprache ! . . . Sich opfern? . . . Für diese da? Für dies© kalten, harten, stumpfen Gesellen? . . .
Er strich sich mit der Linken über die Stime, konfus gemacht von der Deutlichkeit, mit welcher die ganze Szene duich seine Vorstellung geflitzt v/cur. Inamer häufiger geschah es ihm in der letzten Zeit, daß er Gedachtes und Erlebtes derart nicht aus- einanderhalten konnte. So intensiv waren seine Grübe- leien gev/orden, so stumpf hatte ihn das öde Einerlei der jüngsten Monate gegen die Wirklichkeit gemacht,
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daß seine Gedanken ihren Schatten auf alle Ejeignisse warfen. Die Tage hatten kein Gesicht mehr, die ewig gleichmäßige Last hatte sie zu einer grauen Masse gestampft, und der tausendmal durchhoffte Traum von Kriegsende und Befreiung, ragte wie leib- haftiges Geschehen in die Gegenwart hinein.
Ein Blick, der von irgendwoher beharrlich an ihm zerrte, nicht locker ließ, bis er der Anziehung folgte, riß ihn zurück in den glotzenden Kreis; und in sein Erwachen starrte das leichenblasse, verstörte Gesicht Unteroffizier Fröbels, mit schreckhaft geweiteten Au* gen, und einer tiefen, neuentstandenen Kummerfalte um den Mund. Wie der Funken einer Entladung durchzuckte es Gadsky, als ihre Augen sich trafen. Blitzschnell wandte er sich wieder ab, ballte die Faust zu einer zornig abwehrenden Gebärde. Der Jammer- lappen sollte seine Angst nur selber tragen lernen! Jeder hatte hier sein reichlich Teil aufgeladen . . .
„Nein! Wenn Sie mir die Blätter wegfliegen lassen, dann danke ich für Ihre Assistenz!** — pol- terte der Sanitäter, und riß mit zitternden Fingern die Mappe an sich. Als er, immer noch aufgeregt blätternd, in der Bude des Spitalskommandanten ver- schwand, fiel mit einem Schlage die Erstar» ig von den Soldaten. Ein Räuspern und Spucken ging ios, — die Pfeifen wurden wieder angesteckt, — dann brök- kelte die erste Gruppe ab, und, v^e von einem Alp- druck befreit, folgte, in raschem Aufeinander, ein Paar dem andern.
Gadsky sah sie gehen, nach allen Richtungen a-if die Haustüren zueilen, den Kopf gesenkt, den Rücken gekrümmt. Und gleich packte ihn wieder das Mitleid ! Sein Zorn verstum.mte beim Anblick dieser demütis gebeugten Schultern. Bei Gott, sie waren geschL.^ci. hart gestraft für ihre Ergebenheit. Auch der Dünunste, der Tierähnlichste noch, trug gräßliche Bilder mit sicf in die warme Stube; sah sich selbst als b!. tüber-
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strömten Fahrgast wiederkehren, — : saß mit seinem eigenen Leichnam zu Tisch. Nicht einer würgte heute abend einen Bissen hinunter, ohne Abschied zu nehmen von seinem Pulsschlag!
Mit hochgestülptem Mantelkragen, allein auf dem weiten Platz, starrte er fröstelnd auf den verlassenen Leiterwagen und die verrenkte Deichsel, die, wie ein leerer Galgen, immer höher hineinragte in die Dunkel- heit. Die Vorstellung, daß hinter all den blinzelnden Fensterscheiben Armesünder bei der Henkersmahlzeit saßen, überkam ihn. Er sah sie in Gedanken bei- sammen sitzen, heimlich feilschend mit dem Unglück, dem jeder tückisch die Glieder seines Nebenmannes
zuschob, als Judaslohn. Und dabei wurde
es ihm auf einmal klar, daß auch seine Entrüstung über das angstentstellte Gesicht Fröbels, im Grunde nichts als Feigheit, ein Protest seiner Sorge um sich selbst gewesen war! Darum galt ja das Feigesein hier draußen als so verpönt, weil jeder sich im stillen bewußt war, die verräterische Hoffnung in sich zu tragen: ihn selbst, gerade ihn, werde sein Schutzengel bewahren, und wenn das ganze Bataillon zugrunde ginge. Wer seine Angst nicht verbarg, wie Fröbel, — schrie eigentlich diese Hoffnung schamlos den andern ins Gesicht. Ich möchte nicht sterben, hieß ja hier: geh, sterbe du für mich! . . .
Nim tat ihm Fröbel leid; er wollte ihn aufsuchen;
da legte sich von rückwärts eine Hand auf
seine Schulter, und als er herumfuhr, stand Weiler vor ihm, sah ihn mit seinen veilchenblauen Kinder- augen ernsthaft an.
„Haben Sie Fröbel gesehen?" — frug er mit leisem Zittern in der Stimme, und deutete über den Platz. „Der arme Mensch! ... Glauben Sie nicht auch, daß er sich krank melden könnte? Er sieht ja zum Erbarmen aus!**
Gadsky schwieg. Er kam sich wie ein Riese vor
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neben diesem durchsichtigen, mädchenhaft schlanken Schwächling, der in den plumpen, kotigen Marsch- stiefeln wie verkleidet aussah. „Na, wissen Sie,** — rief er endlich mit forcierter Entrüstung, — „das grenzt schon an Koketterie, wenn Sie den FrÖbel be- dauern wollen I Was Sie aushalten, wird der unge- schlachte Kerl auch noch ertragen können mit seinen Unteroffizierstressen. Mehr als ein Leben hat keiner zu . . .
Weiler ließ ihn nicht ausreden. Sein blasses, leuchtend gütiges Gesicht verlor auf einmal allen Glanz, wurde ganz matt vor Traurigkeit, wie aus-^ gelöscht. „Nein!** — bat er flehentHch, — „Sie dürfen nicht auch so reden! Sie v^ssen ja, daß es nicht auf Muskeln ankommt. Stellen Sie sich mal vor, Sie hätten jahraus jahrein Proletenkindem das Alpha- bet eingebläut, und Ihre ganze Freude, der ganze Inhalt Ihres Lebens wäre Fröbels Zweizimmerwoh- nung gewesen ; Ihr Traum : auch noch eine Bettvorlage und ein Lexikon zu ersparen, zu den andern Herrlich- keiten ! . . . Kriechen Sie doch mal für fünf Minuten in den armen Teufel hinein, dann werden Sie nicht so hart über ihn urteilen. Weiß Gott, ich muß immer an eine Schnecke denken, der man das Haus, das sie aus ihren Lebenssäften ausgeschieden hat, gewaltsam vom Leibe reißt! Vergangene Woche, als wir da vorne, im neuen Graben, unter Feuer lagen, und einer nach dem Datum frug, gab ihm Fröbel blitz- schnell Bescheid, und fügte melancholisch hinzu: „Heute hat mein Frauchen die letzte Rate für die Nähmaschine einbezahlt, die können sie ihr wenig- stens nicht mehr wegnehmen.*' Und dabei klapperte er mit den Zähnen wie einer, der im kalten Wasser sitzt, und der Angstschweiß stand in dicken Tropfen auf seiner Stime. Ich hätte weinen können vor Rüh- rung über dieses zerschmettert« Glück auf Raten- zahlung. Geschrien hätte ich am liebsten. Um mich
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geschlagen! Daß man Menschen so zu Maschinen erzieht, so ihr armes Leben ausrechnen läßt, genau, auf den Groschen; und sie dann aus ihrer Addition herausreißt, wenn sie sich gerade zu Frau, Kind und
zwei Zimmern rundet. ■■ Warum verstellen Sie
sich? Er dauert Sie ja auch."
Gadsky zuckte verärgert die Achseln und v/andte sich ab. Eine unmännliche, da, wo er stand, durch- aus deplazierte Zärtlichkeit strömte in ihm hoch, trieb das Blut anschwellend gegen die Schläfen. Er mußte die Hände hinter den Rücken werfen, so übermächtig zog es ihn zu Weiler hin. Wie ein geliebtes Mädchen hätte er ihn umarmen mögen! Denn das war ein Sieg über den großen, gemeinsamen Feind, der imumstürz- iiche Beweis, daß alle Gewalt nicht Herr werden konnte über einen ganzen Menschen! War das nicht herrlich, daß dieses kleine, bleichsüchtige Männchen an der Schwelle des Todesmarsches, erschöpft, zer- mürbt, verquält und verwahrlost wie er war, dennoch so über sich selbst hinwegvoltigieren konnte? Mit all ihrer Gleichmacherei, mit all ihrem Haß gegen jeden, der nicht untertauchen, sich nicht zermahlen lassen wollte, hatten sie diesen armen, gemarterten Sklaven doch um kein Jota anders machen können! Behängt mit Bajonett und Gewehr, blieb er innerlich gut und weich, stand da als Sieger über die ganze ungeheure Maschine!
Weiler wartete immer noch auf Antwort, und hielt das Schweigen Gadskys für eine Ablehnung seiner Verteidigungsrede. „Sie tun dem armen Fröbel un- recht** — sagte er leise — , „er hat es schwerer als Sie und ich. Glauben Sie, wir wären tapferer als er, wenn wir nicht gewohnt wären, uns auf die Um- gebung einzustellen? Unsereiner trägt eben immer einen Spiegel vor sich, und verkneift jeden Schmerz, weil er die Grimasse fürchtet, die er den Zuschauem zeigen würde.**
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„Neinl" — rief Gadsky, und nahm Weiler unter den Arm, — „schwer hat es im Gegenteil gerade, wer den Spiegel vor sich trägt. Aber lassen wir das! Gehen wir essen. Das ist das einzige, woran man denken sollte, wie die anderen."
Er wollte ihn mit sich ziehen, als hinter ihrem Rücken die Türe der Baracke klirrend zufiel und jemand sie anrief.
Es war der Sanitäter. Er kam mit großen Schritten heran und frug von weitem schon: „Können Sie mir sagen, ob es wo in der Nähe einen Tee, oder Grog, oder sonst was Heißes gibt? Ich habe seit dreißig Stunden nichts Warmes im Magen.*'
Weiler erspähte den Gefreitenknopf und erstarrte vorschriftsmäßig. Gadsky beobachtete den Fremden, sah, daß er neugierig die Augen zukniff, Weiler von oben bis unten einer strengen Musterung unterzog, und dann plötzlich, ganz zivilistisch, die Hand vor- streckte.
„Lassen Sie, wir sind ja unter uns, denke ich,** — sagte er leichthin, drückte Weiler die Hand, und wandte sich dann wieder an Gadsky: „Gibt es nicht so was wie ein Wirtshaus hier?**
Gadskys Gesicht hatte sich aufgehellt. Er war wie ausgewechselt. Der Sanitäter fing an ihm zu ge- fallen! Beim Ausladen der Verwundeten hatte der Anblick der ekelhaft verwahrlosten Verbände, das Grauen vor der hastenden Unruhe der Sterbenden, seine Aufmerksamkeit zu sehr gefesselt. Nun erst be- merkte er, daß der ganze Mann merkwürdig zusammen- gewürfelt aussah. Trotz der affenartig langen Extre- mitäten, der gewichtig herabhängenden Tatzen, der wulstigen Lippen, und der aufgequollenen Nase im grauen, grobgcmeißelten Gesicht, hatte er doch etwas Zärtlich-Melancholisches in seinem Wesen. Und die Art, wie er Weiler begrüßte, sich von der trostlos schlotternden Uniform nicht irreleiten ließ, die Herr
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Feldwebel Stuff als letzte Bosheit, der verhaßten „Schlafmütze" angehängt hatte, nahm ihn vollends gefangen. Er lud ihn ein, die feierliche Abschieds- mahlzeit mit ihnen zu teilen, protzte scherzhaft mit den kulinarischen Genüssen, die er zu vergeben hatte, und schob den nur sanft sich Sträubenden gewaltsam vor sich her.
„Sie sollen sogar eines von unseren frischgelegten Trinkeiem kriegen!'* erklärte er lachend, — „ehrlich erworben, nicht etwa requiriert, Wenn*s nicht anders geht, trete ich Ihnen mein eigenes ab, mit Vergnügen! Das ist mehr als ein Trinkei wert, dieses Gefühl, daß man, über alle Hindemisse hinweg, doch wieder zu- sammenfindet. Und wenn sie uns auch wie Busch- männer kostümieren, irgendwo muß das Freimaurer- zeichen kleben bleiben! Wenn zwei Spenglergesellen in den gleichen Stiefeln und Mänteln hier gestanden wären, hätten Sie sich ganz anders vorgestellt. Daß man sich in der Schwimmschule erkennt, will nichts bedeuten. Aber hier, in dieser Einheitsmaskerade, mit zerschundenen Händen, verlaust und verkommen. — Man fühlt sich fast wie geborgen,**
Der Sanitäter winkte ab und zuckte lachend die Achseln. „Sie werden mir Ihre Gunst und das Trinkei wieder entziehen. Ihr Freund und Sie haben vorhin, beim Ausladen der Schwerverwundeten, einen Fahr- kanonier mit Unterleibsschuß vom Karren gehoben, und dabei fiel das Wort: ,moribund*. Daher mein Scharfblick.** Und nach ganz kurzem Schweigen, während sie schon auf Gadskys Quartier zusteuerten, fügte er plötzlich trocken, und mit einem feindlichen Aufleuchten in den Augen noch hinzu: „Für sonst sind mir aber, offen gestanden, Spenglergesellen lieber! Die Herren Reserveoffiziere, und die es noch werden wollen, — — — Na, wenn ich erzählen wollte!** . . .
Er setzte sich wieder in Bewegung, und sein Gang
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hatte auf einmal etwas torkelnd Unsicheres, als wäre er betäubt von seinem Zorn. Hinter seinem Rücken wechselten die beiden anderen erstaunte Blicke; dcinn ging Gadsky voraus, stemmte sich mit der Schulter gegen das schwere Tor und dachte, während er den Gefreiten, an sich vorbei, in den finsteren Vorhof ein- ließ, unwillkürlich an die ausgehungerten, zerzausten Bauemköter, die herrenlos in der Gegend umherirrten. Sie kamen heran, vom Hunger getrieben, den Schweif zwischen die Beine geklemmt, staubig, zottig, voller Mißtrauen, und doch demütig; fletschten gehässig die Zähne, und flehten mit den Augen gierig um einen Bissen. Er hatte etwas von diesen marodierenden Hunden, der Sanitäter! In den Augen ein ängstliches Suchen, um den Mund einen gehässig-grimmigen Zug. Und auch wie er sich eben mißtrauisch durch die Ein- fahrt tastete, erinnerte an das scheue Heranschleichen dieser verprügelten Tiere.
Ueber den Hof, in dessen Mitte ein mächtiger Granattrichter gähnte, führte Weiler den Gefreiten an der Hand. Gadsky blieb zurück, klopfte an eine Türe, und man hörte ihn bald flüsternd mit einem weiblichen Wesen streiten, das sich mit kurzen, spit- zigen Ausrufen gegen sein Ansinnen wehrte. „Je n'ai, rien, rien, rien!*', gellte es immer v/ieder; bis Weiler, nach langem Suchen, endlich das Schlüsselloch fand, und den Gast in einen langen, muffigen Raum bug- sierte, der sich beim Aufflammen der Taschenlateme als ein Schulzimmer präsentierte.
An der hinteren Wand standen, übereinander- getürmt bis zur Decke, die Bänke; auf der anderen Seite waren zwei Betten aufgeschlagen, zwischen den beiden, auf dem Bretterboden, ein zerwühlter Stroh- haufen, mit einem gerollten Mantel als Kopfkissen, und einer Steppdecke, die einmal himmelblau gewesen sein mußte. Auf dem Katheder, vor den Fenstern, stand das Lehrerpult, durch ein kunstvoll aufmon-
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tiertes Bügelbrett zu einem großen, horizontalen Tisch umgewandelt; bedeckt mit Büchern, Putzmaterial, Konservenbüchsen, und halb geleerten Flaschen. Als Sitzgelegenheiten zwei regelrechte Stühle, und eine Schulbank ohne Lehne.
Der kleine eiserne Ofen war rotglühend, erfüllte den Saal mit einer geisterhaften Unruhe, so daß dem Sanitäter der Raum überraschend leer, wie plötzlich entvölkert vorkam, als die Petroleumlampe angesteckt war, und mit ihrem Licht die zuckenden Schatten verjagte. Er sah sich um, — lächelte über die Karte Frankreichs, die flankiert von den Gewehren, Sturm- helmen und Seitenwaffen der jetzigen Bewohner, imter seltsamem Schutze hing, — ließ sich erschöpft auf das Katheder fallen, und stierte versunken auf seine kotigen Stiefelspitzen, während Weiler in der Ecke mit Eßschalen imd Gläsern hantierte.
„Sie haben*s ja fein hier!" — sagte er nach langer Pause, als die Stimmen Gadskys und der Hausfrau draußen auf dem Hofe lauter wurden, und ihn aus seinem Dösen weckten. „Ihr Freund scheint sich sehr gut mit der Quartiersfrau zu verstehen! Das ist hier selten. Die Leute haben zu viel vom Kriege gesehen, in den ersten Wochen, und haben ein gutes Ge- dächtnis."
Weiler kam aus seiner Ecke in den Lichtkreis der Lampe herüber, ehe er Antwort gab. „Die arme Frau hat ihren Maim drüben, und beklagt sich immer, daß sie unsere Gewehre, da an der Wand, nie sehen karm, ohne daran zu denken, daß vielleicht gerade aus einem dieser Läufe die Kugel fliegt, die sie zur Witwe macht. Ist das nicht abscheulich, dieser Zustand? Zittert um ihren Mann, und muß zuschauen, wie wir uns mit Munition behängen. Und wir lassen uns noch von ihr mästen. Kein Haustier köimte man bis zu diesem Grade bändigen!"
Der Sanitäter war aufgesprungen und fiel ihm ins
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Wort. „Ja, seit wann sind Sie denn draußen, daß Sie noch über Einzelschicksale nachdenken? Das ist das Erste, was man sich abgewöhnen muß. Eine französische Frau? Das gibt es überhaupt nicht! So wenig es drüben einen bestimmten Franzosen, oder bei uns einen Karl Schulze oder Ernst Müller gibt. Es gibt nur Verwundete, und Tote, und Feinde, und Kameraden; alles in Mehrzahl. Und dann auch Be- wohner der besetzten Gebiete, unter welchen Ihre Lehrers frau sich zu verkriechen hat. Sie haben ja vorhin meinen Karren auspacken gesehen? Morgen komme ich mit einer ähnlichen Fuhre und übermorgen wieder; und das geht so seit sieben Monaten. Nur die Landschaft hat sich geändert. Einmal war*s in Polen, einmal in Flandern, heute ist's bei Verdun und übermorgen vielleicht schon in den Karpathen. Denken Sie sich mal aus, was aus mir geworden wäre, wenn ich nicht alles nur in der Mehrzahl gesehen und gefühlt hätte! Wenn ich heute noch wüßte, wen ich vorgestern aufgeklaubt, und morgen noch um den kleinen Jäger trauern wollte, den ich heute mit abgerissenen Beinen mitgebracht habe. Für mich gibt*s nur Ziffern. Heute waren*s siebenunddreißig mit sechs Schweren, sonst weiß ich nichts. Sie müssen's ebenso machen! Nur Zahlen sehen! Sich selbst als Einser, die andern als Nullen. Das ist der einzig mögliche Standpunkt."
Weiler schwieg. Sah ernsthaft zu, wie der andere mit großen Schritten auf und ab ging, beobachtete die heftige Unruhe in dem zuckenden, unheimlich zer- knüllten Gesicht, und ließ das Kinn lang- sam auf die Brust sinken. Er fühlte, daß hinter dieser lauten, forciert rauhbeinigen Art eine Verzweiflung lauerte, die sich kaum noch unterdrücken ließ; wandte sich ab, und wollte eben in seine Ecke zurück, als der Sanitäter plötzlich vneder auffuhr aus seinen Ge- danken:
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„Sie haben es noch nicht heraus, worauf es an- kommt, wie ich sehe. Man darf sich nicht erdrücken lassen! Nicht einmal die Luftsäule, die auf meinen Schultern liegt, können Sie mir abnehmen, ohne zer- quetscht zu werden. Und da ist diese ungeheure Last, die der ganzen Menschheit die Kniee knickt, und ich habe Sie in der kurzen Stunde, seit wir uns kennen, schon hinter die Baracke schleichen gesehen, um dem kleinen Jäger, der so verzweifelt seine abgerissenen Beine reklamierte, eine Träne nachzuweinen; und jetzt schieben Sie sich wieder als Charyatide unter die Aengste dieser Frau Lehrerin, die zuschauen muS, wie Sie sich zur Hetzjagd auf ihren Ehemann rüsten I . . , Ich will Ihnen sagen, wie i c h die ganze Sache hier ansehe: denken Sie mal zurück, an einen heißen Sommertag im Frieden, irgendwo auf dem Lande, wenn m.an sich der Fliegen nicht mehr erwehren konnte. Da v/iirde so eine raffinierte Glasglocke auf den Tisch gestellt, welche die Fliegen von unten einließ und sie dann nicht mehr freigab, bis sie erschöpft zurückfielen auf den Boden, der mit Wasser gefüllt war. Die armen Viecher rasten herum wie toll, schwammen auf dem Rücken, — zappelten mit den dünnen Bein- chen und unser Einer saß am Tisch, ver- tieft in die Zeitung oder in ein Gespräch, ohne hin- zuhörer. auf das verzweifelte Singen. Man merkte es gar nicnt, daß unmittelbar nebenan ein grausamer Todeskampf sich abspielte ! Setzen Sie statt der Fliegen — Menschen, und Sie haben den Krieg. Es ist nicht schwer! Die Menschen fallen ja hier wie die Fliegen. L^a^sen Sie sie strampeln und jammern und schauen Sie nie fit hin. Wir sitzen alle mitten dnn in der großen Meiochen falle! Wer nicht ganz der einzigen Aufgabe lebt, sich selbst wieder freizukriegen mit ganzen Gliedern, der stirbt den Fliegentod, glauben Sie mir."
Weiler zuckte zusammen, ^vie aus dem Traum ge- weckt durch den Vergleich, packte den Sanitäter
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leidenschaftlich am Arm und rief heiser vor Erre- gung, mit stockendem Atem: „Das ist es ja, was ich nicht begreifen kannl Stellen Sie sich vor, wie es in den Leuten aussieht, die verantwortlich sind für diese Schlächterei, und wirklich so gemütlich hinter der Front sitzen, als wären wir hier vorne nur schädliches Ungeziefer! Können Sie das erklären, daß es Men- schen gibt, die so einen Angriff, der Zehntausenden das Leben kostet, ruhig ausrechnen, den Befehl zur Ausführung geben und sich dann vergnügt zum Essen hinsetzen, in Erwartung der ersten Siegesnach- richten? . . . Hören Siel Wir sind vor einigen Wo- chen, gleich nach dem Auswaggonieren, an dem Stabs- quartier unseres Armeekommandanten vorbeimarschiert, so um die Mittagszeit. Zwischen den Torpfeilern sah man in den Park hinein, und auf der Schloß- terrasse saßen die Herren beim schwarzen Kaifee. Das summte, wie in einem Bienenkorb. Tassen und Löffel glitzerten in der Sonne, der Zigarettenrauch schwebte wie eine kleine Dampfwolke über der ver- gnügten Gesellschaft. Wir haben sie lachen gehört bis auf die Landstraße hinaus ! . . . Und zwischen- durch kamen Motorfahrer an, mit einer Art Toten- maske vor dem Gesicht, in den Augen noch die Angst. Einer wandte sich an uns, ehe er mit seiner Meldung ins Schloß stürmte, imd rief halb höhnisch, halb mit- leidig: ,Ihr könnt*s Euch freuen! Da vorne ist die Hölle los !* ... Da vorne die Hölle ! Und auf der Terrasse mußte eben eine Anekdote eingeschlagen haben, denn eine Lachsalve verschlang, was uns der Motorfahrer sonst noch hatte zurufen wollen. Dieses
Bild! ich trage es seither in mir. So oft
wir draußen im Feuer liegen, so oft ich so einen annen Teufel sehe, wie dieser kleine Jäger . . . immer ist. als Hintergrund die sonnige Terrasse da, die vergnügte Gesellschaft. Ich darf nicht dran denken, sonst . . . Man müßte ja verrückt werden . . .*'
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Er sprach sehr schnell, schöpfte nur Atem, wenn er nicht mehr weiter konnte, und die großen, feucht- schimmemden Augen funkelten vor gehässiger Ver- zweiflung. Als der Gefreite, statt jeder Antwort, nur ein spöttisch-böses Lächeln aufsetzte und die Achseln zuckte, fuhr er noch einmal auf und schrie, ganz außer sich vor Empörung : „Wer weiß denn, was eine Fliege leidet? Wer weiß, was die an ihrem Leben verliert? Aber wie Menschen sterben, das wissen diese Herren auch! Vom General bis hinunter zum letzten Tele- phonisten ist jeder schon in einem Sterbezimmer ge- standen, wissen alle, wie zwei Augen sich ansaugen an das Leben, wie sich die kalten Finger noch an
das Bettuch klammem I In der Stadt streuen
sie Stroh auf die Straße, die Trambahn klingelt nicht; Keiner geht vorbei, ohne daß ein Schatten in seine Augen fiele, wenn Einer stirbt! Und hier lachen
diese . . . v^e soll ich sie nennen? während
täglich Tausende** . . .
„Das ist es eben!" — fiel der Sanitäter ein — . „Ein Sterbender ist jedem heilig. Aber tausend Ster- bende, zehntausend Tote, — da liegt die Betonung auf der Zahl. Man fühlt nur: das ist viel . . . Still, man kommt!'* unterbrach er sich, streckte blitz- schnell den Arm vor und horchte gespannt nach der Türe.
Weiler schv/ieg zitternd, bewegte noch die Lippen, unfähig, den angeschwollenen Grimm so plötzlich nie- derzuhalten. Der Anblick des Sanitäters, wie er so emporgereckt, mit verlängertem Halse dastand, brachte ihm die ganze Sinnlosigkeit seines Aufbegehrens de- mütigend zu Bewußtsein. War das nicht genau wie das Verstummen in der Gesindestube, wenn die Schritte der gelästerten Herrschaft nahten? . . . Voller Scham ließ er das Kinn auf die Brust zurücksinken und sagte kleinlaut: „Es ist nur Gadsky mit dem Essen.** Daoin schlich er zum Ofen zurück, holte Eßschalen und
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Gläser, und setzte sich an den Tisch, teilnahmslos, gebeugt von dem Gefühl der eigenen Niedrigkeit.
Gadsky kam als Sieger, mit einer dampfenden Schüssel, in welcher die versprochenen Trinkeier schwammen, froh gestinmit durch den erfolgreichen Beutezug. Er hatte im Gefecht mit der Quartiers frau, über seine Sorgen als Gastgeber, alles andere vergessen, und es dauerte eine Weile, ehe er aus dem düsteren Brüten Weilers, und den harten, kurzgefaßten Ant- worten des Gefreiten endlich erriet, daß die beiden sich in eine ganz entgegengesetzte Stimmung hinein- geredet hatten, während seiner Abwesenheit.
„Frau Veriot ist ein Engel!" — rief er fast über- mütig, und stellte neben die Schüssel zwei verstaubte Flaschen hin, die er, unter die Achseln geklemmt, mit- gebracht hatte. „Sie hat die zwei letzten Flaschen Rotwein aus ihrem Keller hergegeben! Ich habe ihr allerdings weismachen müssen, unser Gast sei auch wieder Volksschullehrer.*' Und während er für sich die zerbrochene Schulbank näher an den Tisch heran- zog und für den Gefreiten einen Stuhl zurechtrückte, fügte er lachend hinzu: „Sie müssen nämlich v^assen, wie sind hier alle Volksschullehrer!"
„Eine merkwürdige Art des Hochstapeins," — erwiderte zerstreut der Sanitäter, ohne recht gehört zu haben, wovon die Rede war.
„Hoho!" — protestierte Gadsky lustig — „unser Zimmerkommandant, Herr Unteroffizier Fröbel, ist wirklich Volksschullehrer im Zivil Verhältnis. Ohne ihn hätten wir dieses herrliche Appartement nie ergattert. Meine ganze Parlierkunst hat mir nichts genützt, bis ich nicht schlau mit der Photographie der Familie Fröbel herausrückte. An die Bösartigkeit der Schullehrer glaubt nämlich Madame Veriot nicht! Sie weiß es aus Erfahrung, daß die lieber den Rohr- stock handhaben als den Schießprügel. Und wenn es ihr ab und zu doch einfällt, daß wir eigentlich Feinde
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wären, dann sage ich ihr nur: ,11 en tue aussi des notres, Monsieur votre mari, allez!' das zerstreut so- fort alle Bedenken.**
Er war ernster geworden während der letzten Sätze, spähte mit raschen Blicken bald zu Weiler, bald zum Gast hinüber, — und als seinen Worten wieder nur Schweigen folgte, verschwand auch von seinem Ge- sicht die mühsam aufgeschminkte Heiterkeit. „Was ist denn in Sie gefahren?** — v/andte er sich verärgert an Weiler — , „jetzt fehlt nur noch der Fröbel mit seiner Jaramermiene, dann ist der Leichenschmaus komplett. Sie waren doch sonst nicht so unvernünftig.** Weiler hob langsam den Kopf. „Wo ist Fröbel?" „Ach, der Mensch ist zu dumm!" — erwiderte Gadsky, — „steht wieder draußen auf dem Platze und staunt wehmütig die Verwundeten an, die eva- kuiert werden. Und v/enn das vollgepfropfte Auto losfahren wird, Richtung das Hinterland, dann wer- den ihm wieder die Sehnsuchtstränen über die Backen kollern, zur allgemeinen Belustigung. Er wird's so lange treiben, bis es einer dem Hauptmann steckt; und dann kann er sich freuen! . . . Ich möchte nicht bei der Patrouille sein, die er zu füliren kriegt!'*
Weiler hatte ungeduldig zugehört. „Finden Sie das wirklich so unbegreiflich, daß der arme Kerl sich nicht von dem Auto trennen kaim?" — rief er übel- launig. — „Gibt es denn eine ärgere Versuchung, als so ein Fahrzeug, das in der Richtung nach rückwärte verschwindet? Wie ein Strick hängt die Landstraße Tag und Nacht vor seinen Augen. Wie aus dem Fenster seiner Wohnung hierher geworfen! Und Frau und Kind hängen am unsichtbaren Ende und zerren aus Leibeskräften, um ihren einzigen Karl Fröbel herauszuziehen aus der Gefahr. Immer sieht er das schöne weiße Band, brauchte nur drauf zu treten, und losmarschieren ! . . . Körmen Sie es ihm verübeln, daß
Latzko, „hriedensgeridit"
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er sich noch einmal umschaut, wie ein Kalb, ^as man zur Schlachtbank führt?"
„Ich finde den Vergleich nicht gerade ehrenvoll** — erwiderte Gadsky frostig. — „Wozu hat er seine Vernunft, wenn nicht, um sich ins Unabänderliche zu schicken? Können Sie mir sagen" . . *
Weiler war aufgeregt durch das Zimmer gegangen, blieb jetzt vor Gadsky stehen, und nahm ihm das Wort aus dem Munde: „Können Sie mir sagen, weis das mit Vernunft gemein hat, was wir hier zu tun haben? Zünden Sie Fröbel das Haus über dem Kopfe an und Sie können sicher sein, daß er, ohne sich einen Augenblick zu besinnen, sein Töchterchen aus dem Feuer retten wird. Ich möchte wetten, daß er sogar für eine Bettvorlage oder eine Tischdecke, an die er seine Ersparnisse hingehängt hat, sein Leben riskieren würde. Aber hier? ... Er weiß doch ganz genau, daß der arme Monsieur Veriot, dessen Schulzimmer er bewohnt, so wenig was seiner Frau antun wollte, wie er der seinen. Gerade die Vernunft hindert ihn, sich abzufinden! Wie oft haben Sie selbst schon zu- gegeben, daß wir es tausendmal schwerer haben, als die Glaubensseligen, die in der ehrlichen Ueber- zeugung sterben gehen, es gäbe keine andere Wahl, als den Feind zu töten, oder sich ausrauben zu lassen! Und aus Begeisterung? . . . Wer fünfunddreißig Jahre lang wie ein Regenwurm gelebt hat, kann doch nicht plötzlich wie ein Adler fliegen. Ich finde, Sie haben am allerwenigsten recht, ihm seine Nüchternheit vor- zuwerfen! Sie haben alles getan, um ihm die Flügel zu stutzen. Haben ihm Ihre Gespräche und Erfah- rungen mit französischen und englischen Freunden aufgetischt; die Märchen, die in den Zeitungen stehen, v^e Gänseblümchen zerpflückt. Und jetzt, nachdem Sie ihm alles, was er in seiner Einfalt für bare Münze** . . .
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„Na, hören Sie mal! Das möchte ich mir doch ausbittenl" — rief Gadsky empört. — „Ich habe gar nichts gegen Fröbel. Wenn Sie aber mir die Ver- antwortung aufhalsen wollea" . . .
Er stand aufrecht und wollte eben seine Faust auf die Tischplatte niedersausen lassen, als der Sanitäter mit einem raschen Griff feinen Arm auffing. »,Ej- lauben Sie mir eine Frage,** — fiel er ein, — „gehen Sie heut abend zum erstenmal nach Vorne?**
Gadsky hatte den Mund noch offen, sah erstaimt auf die derbe Hand, die seinen Arm hielt, und wollte aufbrausen, durchzuckt von dem Mißtrauen, es lauere irgend ein verborgener Spott hinter der unerwarteten Frage. Aber das ruhige Standhalten der müden, weh- leidigen Augen zerstreute allmählich seinen Verdacht. „Nein und ja** — gab er zögernd zur Antwort, und wandte Weiler hochmütig den Rücken zu, — „wir sind schon fünfmal nach vorne geführt worden, seit wir hier im Quartier liegen; aber immer ohne eingesetzt zu werden. Das Sperrfeuer hat uns jedesmal tüchtig an- geknabbert; — einmal lag es genau auf dem zweiten Graben, in dem wir warten mußten, und das Bataillon, das, vor uns, den Angriff aus eigenen Kräften ab- wehrte, hatte geringere Verluste als wir in der Bereit- schaftsstellung. Ein andermal blieb der erwartete An- griff überhaupt aus; letzte Woche wußte nachträglich niemand, warum man uns eigentlich hinauskomman- diert hatte. Kurzum : unsere Verluste waren den Teufel was wert, denn wir kamen nie in den Kampf, und hatten daher keinen Anspruch auf Auszeichnungen. Sie müssen nämlich wissen, daß unser Hauptmann das Kreuz noch nicht hat.** Und nach kurzer Pause setzte er bitter lächelnd hinzu: „Na, aber diesmal werden wir es ihm sicher holen, denn wir gehen heute in den ersten Graben als Ablösung. Ich sollte wohl sagen : Gott sei Dank! Oder: Endlich! Der Herr Hauptmann er- wartet ja von seinen Soldaten, daß sie auf die Ge-
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legenheit brennen, endlich ihr Bajonett auszuprobieren! Sogar sein Adjutant, in Zivil Beamter der Deutschen Bank, tut, als könnte er sich nicht mehr lange beherr- schen. Er hält es offenbar auch für totschick, wie ein Vielfraß zu scbjnatzen, wenn von Mord und Totschlag die Rede ist.*'
Er schv^aeg nachdenklich, sah verstohlen zu Weiler hinüber, der immer noch aufgeregt an der Landkarte Frcoikreichs vorbeipendelte. Dann wandte er sich ganz unvermittelt wieder an den Gast und fiel in den gereiz- ten, bissigen Ton von vorhin zurück. „Finden Sie nicht auch, daß man schon ein ganz ungev/ölinlich gutes Gedächtnis haben muß, um von hier aus noch mit Leidenschaft am Leben zu hängen? Ich finde, man macht uns den Abschied verteufelt leicht. Wer noch ein Fünkchen Ehre im Leibe hat, ist so gründHch prä- pariert, wie ein Krebskranker, der sich seit Jahren nach Erlösung von seinen Schmerzen sehnt. Ich denke natür- lich nicht an Fröbel! Für kleine Leute wie er, ist das Leben selbst Zweck und Ziel. Aber für Menschen, die es zu nützen gewohnt waren, die sich auch im Frieden mit jedem Atemzug an irgendetwas ver- schwenden mußten, für geistige Menschen, denke ich, müßte auch die Frage: wofür sie sterben, wichtig sein. Es ist einfach albern, so zu tun, als wäre der Krieg der einzige Moloch, der mit Menschenfleisch gefüttert wird! AAs ich am ersten Mobilmachungstage, Hals über Kopf, aus Italien zurückkam, erzählte mir ein ge- schwätziger Schaffner, während wir im Tunnel unter den Alpen durchfuhren, daß bei den Durchbohrungs- arbeiten im aufbrechenden Grund v/asser zwanzig Ar- beiter ersoffen seien. Die hätten ihr Leben genau so gerne fertig gelebt, wie Herr Fröbel! Was liegt denn daran, ob man um ein paar lumpige Lebensjahre früher oder später unter die Erde kommt? Ich will meinet- wegen für einen Tunnel ersaufen, der zwei Völker näher rückt, und der Natur den Menschen als ihren
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Meister zeigt! Eis muß doch, zum Domiervvetter, ein Untersckied sein zwischen Menschen, die nur für Ge- haltserhöhungen leben, und den Wenigen, die nicht nur aus Magen und Brieftasche bestehen. Jeder denkende Mensch muß sich hinwerfen können für eine Idee! Aber wo ist eine? . . . Das ist das Ungeheuerliche, daß wir wie Söldner ins Feuer gejagt werden, um anderen Menschen ihren Besitz und ihre Freiheit zu rauben ! Ich habe mich frei^villig gemeldet" . . .
„Ich auch!'* — nickte wehmütig der Sanitäter, und seine grauen Hundeaugen hafteten ernst auf dem leidenschaftlich verzerrten Gesicht Gadskys. Der stockte für einen Augenblick, wie aus dem Konzept ge- raten, dann stürzte er sich kopfüber zurück in die Bitterkeit, die seit Wochen, mit jeder nachdenklichen Stunde höher in ihm gestiegen war, und nun losbrach, als hätte die Angst, mit dieser unausgesprochenen Wut ins Grab zu fallen, alle Dämme gesprengt.
„Ist das nicht das Aergste, so wie ein auf den Mann dressierter Hund losgelassen zu werden?" — schrie er; fuhr sich in die Haare, und behielt sie eine Weile zwischen den gekrümmten Fingern, als hätte er den Feind gepackt, dem er so grimmig zu Leibe ging. „Was bedeuten denn ungelebte Lebensjahre gegenüber dieser fressenden Scham, die jeden Ge- danken an die Freiheit, und selbst die Hoffnung auf ein Weiterleben im Frieden verleidet. Oder können Sie sichs vorstellen, daß Sie wieder Courage haben werden, vor sich selbst hinzutreten? Glauben Sie, daß es möglich sein wird, den Schmutz, den dieses feige Sichabfinden mit jeder Willkür, jeder Niedrigkeit, in uns aufgehäuft hat, jemals wieder auszumisten? Wer- den Sie sich im Spiegel sehen können, ohne das Ge- sicht zu verachten, das unbeweglich blieb, während Kreaturen, die Ihnen nicht das Wasser reichten, ordinäre Gesellen olme höheren Glauben, ohne Fem- bHck,ohne Bildung, ohne Sinn für Menschenwürde, den
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ganzen Unrat ihrer Herrschsucht, di« ganze Gemein- heit ihrer triumphierenden Feldwebelherrlichkeit, auf Kosten Ihres Selbstbewußtseins über Sie ausleeren durften? . . . Finden Sie auch, daß man adlerhoch fliegen muß, um dieses Herab geschraubtwerden zur dressierten Bestie, die aus Angst vor der Peitsche des Bändiger« ins Feuer geht, schwerer zu tragen, als die eigentliche Lebensgefahr? Ich will nichts gegen die Methode sagen! Die ist gewiß unfehlbar. Nur wer den Feldwebel hinter sich mehr fürchtet, als den Feind, wird losschlagen, ohne zu fragen, worum es geht; auch wenn die Verteidigung der eigenen Exi- stenz sich allmählich zu einem Angriff auf die Exi- stenz anderer Völker wandelt! Darum mußten wir Kriegsfrei%villigen mit ganz besonderer Sorgfalt gebändigt und so lange getreten werden, bis wir wie verprügelte Kinder zitterten. Es ist wahrscheinlich törichte Ueberspanntheit, ein letzter Rest voa Hoch- mut in mir, daß ich dieses Aufeinanderhetzen von Menschen, deren Selbsterhaltungstrieb raffiniert aus- gebeutet wird, weil das billiger kommt, als wenn man ihre Gewinnsucht einspannt, und die Beute mit ihnen teilen muß, unwürdig finde. E^ kommt vielleicht wirklich nicht darauf an, wofür man sein Leben ein- setzt, wenn man es nur nicht verliert. Ich muß trach- ten, mich zu dieser Anschauung emporzuschwingen! Die Angst vor dem Revolver des Vorgesetzten hilft in die Gefahr hinein, und die Angst, erschlagen zu werden, hilft wieder hinaus. Man tötet, weil man am Leben bleiben will. Eine sehr einfache Formel. Wem das als Kampfziel nicht genügt, der sollte die Kamera- den verschonen mit seinen Verschrobenheiten, und** . . . Länger konnte Weiler nicht schweigen. „Warum sagen Sie das?** — brüllte er auf, schnellte wie ein verwundetes Tier zu^ Gadsky hinüber, und hielt ihm sein flammendes Gesicht wie eine Drohung entgegen. „Warum sagen Sie das?** — wiederholte er beischend.
mit einer Stimme, di« von verhaltenen Tränen zitterte. „Wissen Sie nicht ... Sie wissen doch" . . .
Der Sanitäter hatte den Auftritt kommen sehen, stelhe sich jetzt blitzschnell vor Gadsky hin, so daß er ihn ganz Verdeckte, wandte sich zurück an Weiler und bat ihn ganz unbefangen, die Unterbrechung zu ent- schuldigen. „Ich möchte Ihnen nur erklären, warum ich Sie vorhin mit der Frage überrumpelte, ob Sie beide zum erstenmal in die Stellung gehen. So oft ich auf einen Sprung in die Etappe oder ins Quartier zurück- komme, jedesmal beinahe erlebe ich einen solchen Streit ! Und immer sind es die besten Kameraden, die sich aus einer unterirdischen Gereiztheit, aus einer feindseligen Stimmung heraus, die ihnen selbst gar nicht richtig zum Bewußtsein kommt, derart in die Haare geraten. Unter der Mannschaft kommt es ge- wöhnlich zu Tätlichkeiten, ohne daß die Beteiligten, nachträglich zur Rede gestellt, sagen könnten, warum. Es wirkt, ich versichere Sie, fast wie eine General- probe I Als müßten alle den Haß erst einüben, ehe sie gegen den Feind ziehen. In Wirklichkeit gilt aber der Unwillen der Gesamtheit, allen Kameraden, der ganzen Umgebung I Denken Sie einmal darüber nach, was Sie wohl täten, wenn plötzlich alle Menschen ringsum versinken würden, und niemand da wäre, um ihre Angst zu belächeln; um Sie zu verachten oder zu verhöhnen, wenn Sie, kurz entschlossen, der Gefahr den Rücken kehrten! Es ist v/eiß Gott kein Kinder- spiel ! Man ist, — Sie haben ganz Recht, — um kein Haar besser dran, als so ein Schiffbrüchiger, nach dem schon die Haifische schnappen. Das rettende Tau vor Augen, soll man dem Leben den Rücken kehren, und den Haifischen entgegenschwimmen, nur weil man das Urteil, den Spott der gestrengen Zuschauer fürch- tet! Was ist begreiflicher** ...
„Das Bild ist gewiß sehr anschaulich** — fiel Gadsky hochmütig ein, und lächelte spöttisch, — „aber
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es trifft nur die Leute im Hinterland. Dort sind die Zuschauer, die auf sicheren Planken, weit weg von der Gefahr** ...
„Und darum sieht man sie nicht** — setzte der Ge- freite rasch hinzu, „Die Kameraden aber» sind da! Geben das Beispiel und üben die Kontrolle. Das ist die Quelle der Gereiztheit, glauben Sie mir! Jeder nimmt es dem anderen übel, daß der auch sein Scherf- lein beiträgt zu dem Druck, der in die Schlächterei hineinzwingt. Was wollen Sie? Es ist ja nichts an- deres, als ein ungeheures, moralisches Kesseltreiben! Am enragiertesten benehmen sich natürlich die Treiber, die gar nicht angeschossen werden können, das gebe ich gerne zu. Ich selbst habe einen achtundsechzig- 3 ährigen Onkel daheim, der schenkt seinen Freunden für jeden aufgejagten Drückeberger ein Zigarrentasche mit dem Bildnis Hindenburgs. Aber diese Leute tun uns nicht weh! Man wäre sie bald los, ohne die an- deren, die nebenan schwimmen und untergelien.**
Gadsky schv/ieg und starrte in die Lampe, Vor ihm lag wieder der große, kahle Platz, mit der Deich- sel, die sich drohend, wie ein Rufzeichen, in den Him- mel bohrte. Er sah die verängstigten Gesichter der Soldaten, mit der heimlichen, lauernden Erwartung in den Augen; und eine sonderbare Beklemmung über- kam ihn, als er so seine eigenen Gedanken von einer fremden Stimme wiederholen hörte. Auch Weiler blieb stumm, Uef auf und ab, den Kopf auf die Brust gesen-kt, beschämt von dem überlegenen Gleichmut, mit welchem der Fremde ein Gefühl bloßlegte, das er seit langem heimlich in sich bekämpfte. Am liebsten wäre er gleich zu Gadsky hinüber und hätte ihm die Hand gereicht ; aber seine Scheu vor Gefühlsäußerungen trieb ihm das Blut ins Gesicht, schon als er den Anlauf nahm.
Der Sanitäter hielt sinnend den Kopf schief, zog aus dem vergossenen Rotwein, mit einem abgebrannten Streichholz, kleine Kanäle über die ganze Tischplatte.
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Eine Weile blieb es still. Nur die Schritte Weilers fielen polternd in das verlegene Schweigen. Da warf der Gefreite plötzlich den Kopf zurück, und reckte sich, wie emporgerissen von seinen eigenen Worten. „Sehen Sie," — wandte er sich an Gadsky, — „Sie haben mich vorhin, unter der Toreinfahrt, als ich über die sogenannt .Gebildeten* ein paar böse Worte sagte, beinahe wie ein gefährliches Tier gemustert. Und jetzt stellt sich heraus, daß Sie im Grunde genau so schlecht auf die Herrschaften zu sprechen sind, wie ich."
Er lachte ein gebrochenes, heiseres Lachen, und nickte triumphierend, als Gadsky erstaunt fragend zu ihm aufsah. „Doch, doch! Oder wollen Sie etv/a behaupten, daß es auch bei kleinen Leuten Sitte ist, so zu tun, als fühlte man sich nirgends wohler wie an der Front? So oft ich noch Verwundete mit künstlichem Augenleuchten die Hoffnung aussprechen hörte, recht bald wieder zurück zu sein, waren es immer MitgHeder der »gebildeten* Klasse, von der glei- chen Sorte, wie Ihr Bataillonsadjutant. Bauern und Proletarier haben gar nicht die nötige Elastizität, um sich bewußt auf einen bestimmten Ton einzustellen! Die gehen stumpf ergeben wohin man sie führt, tun was ihnen befohlen \vird, schlagen zu, und legen sich zum Sterben hin, wenn es sein muß, in der ehrHchen Ueber- zeugung, es werde wohl so nötig sein, wenn man es ihnen so angeschafft hat. Ich beiße mir jedesmal die Lippen blutig, so oft ich einen aus dieser großen Herde aufklaube! Alles trifft diese armen Opfertiere zuerst und am härtesten, genau wie die Heizer in einem Ozeandampfer. Von den Schönheiten der Fahrt sehen sie nicht«, aber sie ersaufen als erste, wenn es ein Un- glück gibt; ohne das Verdeck erreicht zu haben, ohne je genau zu erfahren, warum sie eigentlich zugrunde gehen! Sie schwitzen am Feuer, wissen nicht, wohin gesteuert wird, führen blindlings jedes Kommando aus,
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--r- und gönnen den Glücklichen oben die frische
Luft, den freien Blick, das leichtere Leben; alles nur, um der Verantwortung ledig zu sein. Gibt es ärgeren Verrat, als dieses Vertrauen zu mißbrauchen? . . . Und denken Sie £in das Gesindel, das sich auf dem Prome- nadedeck herumgetrieben hat all die Jahre, unmittel- bar unter den Mächtigen auf der Brücke, ohne auch nur den Kurs zu kontrollieren ! . . . Jetzt aber füllen sie die Rettungsboote, drücken sich, wo sie können, und der einfache Maim dort unten zahlt wieder die Zeche, füllt Lazarette und Massengräber'* . . .
„Das ist ungerecht!** — fiel Gadsky gereizt ein. — „Die Leute sind die absolute Ueberzahl. Nehmen Sie's im Verhältnis** ...
„Oh nein!** — rief leidenschaftlich der Sanitäter, schüttelte energisch den Kopf, daß ihm die unge- pflegten Haare in langen Strähnen in die Stirne fielen. „Das ist ungerecht, was Sie tun! Auf den Prozentsatz kommt es nicht an! Hunderttausend Tote sind mehr als tausend, und wenn sie auch der gleiche Prozent- satz wären. Aber auch das ist nicht wahr! Das Ka- nonenfutter stellen nicht wir. Es ist ganz genau wie auf See. Im Zwischendeck ersaufen sie wie die Ratten; — für die feinen Leute höher oben gibt es allerhand Schwimmwesten und Rettungsringe. Wer sich's richten kann, flüchtet aus der Infanterie, läßt sein Geld und seine Verbindungen spielen . . .**
„Nicht bei uns!'* — unterbrach ihn Gadsky von neuem, und seine Stirne färbte sich dunkel. „In an- dern Ländern mag das so Sitte sein . . .*'
„Haha" — lachte höhnisch der Sanitäter, wurde immer lauter, immer aggressiver. — „Es soll auch bei uns Fälle geben! Seltener? Schön. Aber können Sie mir auch sagen warum? Mir scheint doch, als hätten Sie sich über den Zusammenhang der Dinge nicht allzu viel den Kopf zerbrochen. Wie reimt sich denn das zusammen, daß Sie zuerst entrüstet tun über die
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bei uns obligate Heuchelei; es ekelhaft finden, sich zu verstellen, als wäre die Menschenjagd hier draußen
der famoseste Zeitvertreib; und dann wieder
sich in die Brust werfen und damit prahlen, daß bei uns weniger Menschen die Courage haben, keine Lust zum Sterben zu zeigen?**
Nun riß auch Gadsky die Geduld. „Ja, wenn Sie das, was ich sagte, als ein Loblied auf die Drücke- berger aufgefaßt haben** — schrie er wütend — , „dafür kann ich nichts. Ich dachte, ich hätte deutlich genug ausgesprochen, was mir zuvdder ist. Gerade dieses stumpfe, gleichgültige Pack, dzis mit Lamms- geduld alles trägt, was ihm aufgeladen wird, ist mein Feind ! Ich habe gegen das Herab gedrücktwerden auf das Durchschnittsmaß, gegen die Erziehung zum Feig- ling protestiert, gegen das Unrecht, das man uns an- tut, eben weil es leichter ist, ims hinunter zu drücken, als diese fürchterliche Mehrzahl empor zu ziehen! Wie können Sie daraus die Folgerung ziehen, ich wäre gegen die Wenigen, die wirklich begeisterungs fähig sind? Gegen die Starken, die sich freudig opfern . . ."
Wie aus der Pistole geschossen sauste Weiler aus seiner Ecke auf den Tisch zu und fiel über Gadsky her. „Freudig opfern!'* — wiederholte er. — „Wollen Sie jetzt die Heuchelei verteidigen? Sie drehen sich ja vAt eine Windfahne! Ihre Mutter hat Sie gewiß geliebt, hat Sie auch gepflegt, wenn Sie es nötig hatten ! Aber es ist ihr sicher nie eingefallen, darüber zu jubeln, daß Sie krank sind, und ihr Gelegenheit zu Selbstaufopferung geben. Ist der Krieg denn was andere« als eine blutige Krankheit?**
„Von Jubel war nicht die Rede,** — entgegnete Gadsky trocken, und er wandte sich mit einer weg- werfenden Handbewegung verärgert ab, als ihm der Sanitäter wieder blitzschnell das Wort abschnitt:
„Doch. Gewiß! Bei uns oben in Norddeutschland schon. Mich hat die Mobilmachung im Salzkammer-
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gut überrascht, und so habe ich die Stimmung in drei Ländern studieren können. Es gab natürlich überall heisergesungene junge Burschen; aber ich weiß noch genau, wie überrascht ich war, als irgendwo zwischen Bebra und Halle an der Saale, die ersten leuchtenden Gesichter auftauchten. Mißverstehen Sie mich nicht! Auch im Süden war jedermann bereit, seine Pflicht zu tun; aber hinter der harten Entschlossenheit lauerte das Entsetzen. Je höher hinauf auf der sozialen Leiter, desto größer war die Trauer, die schmerzvolle Ent- täuschung, daß sowas überhaupt noch möglich war. Wer dort unten sich hätte einfallen lassen, das bevor- stehende Menschenmorden mit lautem Jauchzen zu begrüßen, wäre, glaube ich, nicht mit ganzen Rippen davon gekommen. In Berlin war*s gerade umgekehrt! Im Osten sah ich noch ein paar verhärmte Arbeiter- frauen, da und dort einen tränenreichen Abschied; Unter den Linden aber herrschte Festtags freude. Damen in kostbaren Toiletten, weißhaarige Geheimräte, jubel- ten drauflos, als wäre es seit Jahrzehnten der Gipfel der allgemeinen Sehnsucht gewesen, endlich wieder ein- mal auf Menschen zu schießen, geschliffenen Stahl in Menschenleiber stoßen zu dürfen. Mitgehen allein genügte dort nicht! Auch mit der freiwilligen Mel- dung war noch nicht alles getan. Wer als vollwertiger Patriot anerkannt werden wollte, mußte den Krieg als hocherfreuliche Angelegenheit begrüßen.**
„Den Krieg wohl nicht,** — protestierte Gadsky hartnäckig. — „Das ist eine Verdrehung! Ich weiß, daß es nicht an Uebertreibungen m-angelte. Ich leugne auch nicht, daß es Leute gab und gibt, die es für den guten Ton halten, im Krieg entsprechend blutrünstig zu tun und mit Roheit zu prahlen. Ich bin der letzte, der dieses versnobbte Gesindel verteidigen wird, das im Frieden in Teosophie, in Symbolismus, in Deka- denz oder in Tischklopfen gemacht hat. je nachdem was gerade Mode war; und jetzt auch dieses unge-
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heure Weltgeschehen wie einen schicken Shlips um- bindet. Aber ich leugne ganz entschieden, daß diese
Art gerade bei uns besonders verbreitet wäre !
Die ehrliche Begeisterung der Augusttage hatte damit jedenfalls nichts gemein. Wer ein Opfer bringt, muß es freudig bringen! Sonst" ...
„Fein! Mein Junge hat den Typhus! Jetzt kann ich ihn pflegen bis zur Selbstverleugnung, Hurra !*' — schrie Weiler funkelnd vor Erregung.
Der Sanitäter quittierte den Zwischenruf mit einem Lächeln, schob Weiler sanft beiseite, und trat ganz nahe an Gadsky heran. „Sie widersprechen jetzt nur, weil Sie in die Verteidigimg gedrängt sind," — sagte er beinahe herzlich, mit einer bestechenden Gelassen- heit, die nach der überhitzten Debatte wie ein frischer Luftzug wirkte, — „und weil man sich derlei Dinge, auch wenn man im stillen genau der gleichen Meinung ist, nicht gerne von anderen sagen läßt. Ich kenne dieses Gefühl! Auch mir passiert es oft, daß ich v/ider Willen etwas verteidige, nur weil die Aggression mich reizt. Aber Sie haben sich verrannt. Es hat doch keinen Sinn, die Wirkung zu bestreiten, nachdem man die Ursache schon anerkannt hat. Und das haben Sie getan ! Warum sollte es denn gerade bei uns Mode sein, so zu tun, als fühlte man sich ohne Leichen- geruch und Lebensgefahr gar nicht recht zu Hause, wenn nicht speziell bei uns ein Publikum da wäre, das diese Rolle mit Beifall überschüttet? Es war ja im Frieden auch nicht anders! V/er in Treptow oder im Zoo auf ein Sonntagsliebchen jagte, kam immer schon am sichersten ans Ziel, wenn er den Offizier in Zivil kopierte! Selbst Dichter, Filmhelden und Bankdirektoren klemmten das Einglas ins Auge und ahmten, im Schweiße ihres Angesichtes, die ruppig- näselnde Arroganz der Herren Offiziere nach, wenn sie balzten! Im Wiener Prater ^^alrden die Burg- schauspieler und die beliebtesten Dichter nachgeahmt,
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— in Frankreich die Schönredner der Parlamente, — in Italien knödelte jeder Eckensteher di« Tosca-Arie Carusos, oder die Stretta aus dem Troubadoiu", wenn er sein Mädchen betören wollte. Nur bei uns war der Offizier der gangbarste Typus! Und so wie es im Frieden keine andere Eleganz gab, nichts als ,totschik' galt, was nicht irgendwie den Offiziersstand gestreift hatte; wie ein Lokal nur fashionabel war, wenn es von Offizieren besucht wurde, jeder Metzger- meister wenigstens seinen Reserveoffizier an der Hoch- zeitstafel seiner Tochter haben wollte; lauter Dinge, die Sie in keinem anderen Lande fanden ! . . . So galt es bei Kriegsausbruch ebenfalls als totschik, die Denkungsart der Offiziere sich anzueignen. Wer was auf sich hielt, wollte nicht zurückstehen, und den Krieg mit genau derselben Freude begrüßen, wie die Krieger von Beruf. Daß den Offizier die Vorschuß- lorbeeren, die er sich fünfzig Jahre lang unverdient hatte reichen lassen, die Verehrung, die von altersher seinem gefährdeten Berufe, seiner ständigen Bereit- schaft in den Tod zu gehen . . . Warum schütteln Sie denn so verzweifelt den Kopf?**
Wie eine Rakete zischte Weiler los: „Wer ist denn heute weniger gefährdet? Muß denn der arme Fröbel, den niemand geehrt, um den sich niemand gerissen hat im Frieden, jetzt nicht auch bereit sein, seine Haut zu Markte zu tragen? Selbst die verspotteten Kohns und Finkelsteins, die überall scheel angesehen und weg- geeckelt wurden, werden jetzt würdig befunden für eine Gemeinschaft zu sterben, in welcher sie, solange die Sache gefahrlos Wcir, den Offiziersrock nicht ver- schandeln durften! Das ist ja das Unerhörte, daß den Offizieren immer noch eine Extrastellung eingeräumt wird, genau wie früher, als der Bürger noch gemütlich daheimblieb und seinen Geschäften nachging, und gerne den Hut zog vor den Tapferen, die ihn mit
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ihrem Leibe beschützten! Uns haben sie die Wehr- pflicht aufgehalst, -^ aber von ihren Vorrechten
wollen sie nichts hergeben. — Wie können
Sie da noch von einem gefährdeten Beruf sprechen? Wenn es ernst wird, hat jeder Kommis und jeder Kanalräumer genau so schwer zu tragen" . . .
Der Sanitäter nickte zustimmend, und legte seine schwere Hand besänftigend auf Weilers Schulter. „Genau so? Nein. Viel schwerer! Der Offizier trägt nicht achtzig Pfund auf dem Rücken, muß sich nicht von Burschen, die seine Söhne sein könnten, schuh- riegeln lassen, und wenn er das gesetzte Alter erreicht hat, ist er zumindest schon Major, und sitzt hinter Sandsäcken im Bataillonsunterstand. Ich werde doch nicht leugnen, daß es der Offizier viel leichter hat! Schon so ein lumpiger Gefreitenknopf, schon ein ein- ziger Untergebener, dessen Arme und Beine man statt seiner eigenen benützen kann, nimmt die Hälfte der ärgsten Lasten ab. Wer*s nicht glaubt, soll einmal versuchen, was es heißt, nur fünf Minuten länger auf den Füßen sein, nur einen ganz kurzen Botengang zu machen, wenn der Auftraggeber schon die Stiefel in die Ecke schleudert, das Gesicht schon ins kalte Wasser taucht ! . . . Wenn Sie mich nicht unter- brochen hätten, wären Sie bald dahinter gekommen, daß es mir nicht einfällt, den Ofnziersstand in Schutz nehmen zu wollen. Kein vernünftiger Mensch kann leugnen, daß die groteske Verehrung, die sie bei uns noch immer genießen, einer gedankenlos geduldeten Tradition entspringt, die sich längst überlebt hat. Ich habe sie auch nur erwähnt, um den Unterschied zu betonen! Die mußten, als sich endlich die Gelegen- heit bot, Vorrechte, die sie jahrzehntelang unver- dient" ...
Gadsky, der, seit Weiler an den Tisch getreten war, mit großen Schritten durchs Zinmier
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ging, blieb jetzt plötzlich stehen, lachte laut auf, und rief aus der Dunkelheit höhnisch herüber: „Nein, verzeihen Sie, diese Illusion muß ich Ihnen leider rauben! Wir haben einen lieben, kleinen Fähnrich beim Bataillon, so einen weißen Raben, der eigentlich hätte Maler werden wollen, aber, als Generalssohn, keinen anderen Beruf wählen durfte. Lassen Sie sich mal von dem seine Erlebnisse im Kadettenkorps er- zählen! .Vorrechte verdienen?' ... ,Ueberlebte Tra- dition?* ... Warum nicht gar. Das ist ja Ketzerei! Die halten selbst den Mann im gleichen Rock, wenn er im Frieden auch sonst noch was leistet, mit seiner Arbeit den Staat und seine Offiziere ernähren hilft, trotzdem er jetzt, genau wie sie, an der Spitze seines Zuges in den Tod marschiert, für etwas Minder- wertiges! Der soll sich*s zur Ehre anrechnen, dank der allgemeinen Wehrpflicht, in so nobler Gesellschaft sterben zu dürfen!'*
„Ja, sehen Sie!" — triumphierte der Sanitäter, — „und sie rechnen es sich auch wirklich zur Ehre an, und das ist das Entscheidende! Das sind die Leute, die ich im Auge hatte; dieselben, die, wenn ein Zu- hörer in der Nähe ist, die Wunde verfluchen, die sie der Schlacht entführt, dieselben, die im August den Krieg wie eine fesche Sache begrüßten. Das sind die Verräter, die jeden Widerspruch unmöglich machten! Und darum hasse ich sie. Fünfzig Jahre lang haben die anderen für uns geschwitzt, unten im Kesselraum, haben uns auf ihren breiten Schultern getragen, und darauf gebaut, daß wir Studierten, die wir gelernt haben, mit Kompaß, Bussole und Sextanten umzu- gehen, auch unsere Pflicht tun werden. Und das Aergste ist, daß wir auch gewußt haben, wie schlecht das Steuer steht! Jeder fühlte im stillen, daß sich Ungeheures vorbereitet. Daß ein ganzes, braves Volk schön langsam, zielbewußt, zu willenlosem Werkzeug, zu einem Riesenkran ummontiert wurde, um eines
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Tages eingesetzt zu werden im Dienste einer Gesin- nung, die wie eine stehengebliebene Raubritterburg in unsere Zeit hineinragt. Wäre es nicht an uns ge- wesen, warnend vorauszusagen, daß ein Schiff früher oder später in den Orkan geraten muß, wenn das Steuer einer Sippe anvertraut bleibt, die darauf dres- siert ist, die Gefahr zu suchen? . . . Aber nicht einer hat sich hervorgewagt I Das ganze .geistige Deutsch- land* hat schlotternd seinen Diener gemacht vor dem Belagerungszustand. Das war der zweite Verrat! Selbst die berufsmäßigen Widersacher, die sich redlich ernährt hatten mit Protesten und Spottgedichten, wollten plötzlich nichts mehr gesehen haben von einem Militarismus. Dieselben Leute, die einen Freudentanz aufführten Anno Köpenik, und einen Wutkankan Anno Zabem, erklärten jeden für einen schamlosen Verleumder, der was von Unterdrückung oder Vor- herrschaft faselte!**
Er war immer leidenschaftlicher geworden, gab sich ganz seinem Zorn hin, und spähte mit flackernden Augen in die Dunkelheit hinein, wo Gadsky rastlos auf und abeilte. Als es still blieb dort drüben, breitete er entsagend die Arme aus, stieß die Luft pfeifend durch die Zähne, und ergänzte bissig: „Ich begreife sehr wohl, wenn man sich, als besserer Mensch, auf- lehnt gegen die allgemeine Feigheit. Diese ganze sogenannte ,Große Zeit* wird — da haben Sie recht — mit Feigheit betrieben. Weil jeder im geheimen nur darauf aus ist, sich selbst lebendig herauszukriegen aus der Schweinerei, darum können sie mit uns machen, was sie wollen. Solange die Mortalität der Meuterer um etliche neimzig Prozent höher bleibt, als die der Helden, werden sie natürlich immer einen Ueberschuß an Helden haben. Wer das aber heraus hat, wie Sie, der müßte auch die Courage haben, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen! Am feigsten ist doch wohl, wer bewußt gute Miene macht, genau weiß, was er tun
Latzko, „Friedensgeridit" 7 ^ *
und sagen müßte, und schweigt, und das Gegen- teil tut! Am feigsten sind, mit Verlaub, die Kom- promißler, die hurtig gegen die Strömung schwammen, soleinge das Bächlein bescheiden plätscherte, und so- fort mit Pathos Kehrt gemacht haben, als die Schleusen aufflogen und die Sache gefährlich wurde. Das sind die Feiglinge, nicht der einfache Mann, der immer alles gläubig hinnahm, wie Hagelschlag** . . .
Nun hielten die Schritte plötzlich an, und aus der Dunkelheit stieg schneidend scharf die Stimme Gadskys: „Oh ja, da haben Sie recht!'* — rief er mit giftigem Hohn. „Ich habe erst vorhin wieder, während Sie Ihre Verwundeten auspackten, so meine kleinen Beobachtungen gemacht. Da schnitten sie alle trübsinnige Gesichter, Ihre geliebten Spenglcrgesellen, oder sagen wir. Zwischendeckler, da Sie den Ver- gleich für so treffend halten. Jeder einzelne hätte am liebsten Reißaus genommen, fühlte die scheußlichen Wunden schon am eigenen Leibe klaffen. Und was meinen Sie wohl, wäre geschehen, wenn ein Mutiger sich mit Engelszungen daran gewagt hätte, ihnen alles zu enthüllen, was wir feige verschweigen? Die braven Burschen hätten sich auf ihn geworfen, hätten ihm die Hände gebunden, auf Kommando, . . . hätten vielleicht auch noch einige Fußtritte beigesteuert aus
Pflichtgefühl. Sie werfen mir vor, ich hätte
nicht genug über den Zusammenhang der Dinge nach- gedacht? Merken Sie denn nicht, daß Sie die Dinge auf den Kopf stellen? Den Schlächter für das Opfer- lamm halten? . . . Merken Sie nicht, daß diese leb- lose Masse, die alles gläubig hinnimmt, wie Hagel- schlag, das Bleigewicht ist, das an uns hängt? Diese Schweigsamen, mit ihrer dreimal verfluchten Geduld, die sind der Strom, der alles mitreißt, wenn oben die Schleusen geöffnet werden! Wir müssen schweigen, müssen uns fügen, weil diese ungeheure Heerde kein Halten kennt, wenn die Leithanmiel vor ihr her-
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rasen. Wer am ersten August sich selbst hätte treu bleiben wollen, wäre unter die Füße dieser** ...
Schwer, wie eine beladene Zille, stieß der Sani- täter sich vom Tisch ab, und sprang aus dem Licht- kreise der Lampe in den Schatten hinüber. „Warum,** — schrie er unbeherrscht, warf seinen großen, schweren Leib Gadsky entgegen, und seine Worte sprangen wie wild kläffende Hunde an dem Schweigenden hoch. „Warum sind Sie ein totes Gewicht? Warum und seit wann? Sind sie*s jetzt erst geworden? Haben Sie plötzlich eingelenkt, klein beigegeben, gegen Ihren guten Glauben sich jetzt erst gefügt, aus Feigheit, wie wir? Seit fünfzig Jahren wird unser Volk auf Muskeln gefüttert, wie die Straßburger Gänse auf Leber I Seit fünfzig Jahren steht es hilflos zwischen Feldwebel und Pfarrer geklemmt, und der Lehrer, der nur aufgestellt ist, um seine Schüler den beiden in die Arme zu treiben, kommt auf den Schindanger, wenn er diese Entwicklung zum Schießgewehr auf
zwei Füßen nicht als edelste Pflicht verherrlicht.
Haben wir je was versucht, um den Leuten zu Hilfe zu kommen? Wer hat sich um die paar Schwärmer geschert, die ihren Arm in diese Maschine steckten und zu Bettlern wurden an ihrem Mut? — — — Nichts haben wir getan, als Witze gerissen, den Schnabel gewetzt, wenn wir unter uns waren. Bos- hafte Karrikaturen, die nie den Weg bis zum Volke fanden, waren unsere schärfste Waffentat. Und auf der andern Seite funktionierte eine musterhafte Orga- nisation, die nichts vergaß, kein Opfer und keine Mühe scheute, jeden kleinsten Handlanger fürstlich entlohnte, oder wenigstens auf ein Postament hinaufschob. Und jetzt . . . jetzt sollen die dort unten . . . jetzt** . . .
Seine Stimme versagte für einen Augenblick. Er mußte die Empörung hinunterwürgen, holte einige Male tief Atem, ehe er weitersprach. „Wir waren die Feiglinge, nur wirl Was uns jetzt auch aufgeladen
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wird, es geschieht uns recht! Ich freue mich über jeden einzelnen, der jetzt aufstöhnt unter dem Joch, das er nicht zerschlagen half, solange es nur die anderen drückte. Wer sich nicht um das Volk ge- kümmert hat, wer dort unten nichts zu tun haben wollte, sein Licht für zu kostbar hielt, um es dem Gesindel leuchten zu lassen, diese Literaten und Künstler, die spöttisch die Stichworte belächelten, mit welchen der Plebs gefüttert wurde, und weit abseits selbstzufrieden ihre Spiele trieben, . . . tausendmal recht geschieht es ihnen, wenn die Hilflosigkeit ihrer Opfer sie jetzt mitreißt.**
Gadsky hatte sich auf sein Bett niedergelassen, saß vornüber gebeugt, den Kopf zwischen die Schul- tern gezogen, wie geduckt vor dem Wellenschlag dieser Beredsamkeit. Als der Sanitäter erschöpft auf den Stuhl zurücksank, und mit einer verachtungsvollen Ge- bärde sich selbst das Wort abschnitt, erhob er sich langsam und kam vor. „Die Strafe ist ja nicht aus- geblieben,** — sagte er melancholisch, steckte sich, über die Lampe gebeugt, eine Zigarette an, und sprach dann weiter, ganz ruhig, mit einem müden Lächeln, kleinlaut — als wollte er sich entschuldigen; „Sie könnten eigentlich zufrieden sein. Wer sich aus Hoch- mut oder Gleichgültigkeit abseits hielt, hat jetzt dafür schwerer zu tragen an der Gemeinschaft. Die Leute riechen nicht besser im Krieg. Ob sie aber wirklich so ganz unschuldig sind an allem, möchte ich doch bezweifeln. Ist es Ihnen noch nie aufgefallen, wie undankbar es ist, in Deutschland den Märtyrer zu machen? In anderen Ländern ist das Publikum im großen ganzen immer kritisch gestimmt gegen die Obrigkeit. Wer den Mu!: hat, sich aufzulehnen, kann mit Sicherheit auf die Sympathie der Menge rechnen. Bei uns ist das umgekehrt! Wer vor der Behörde nicht recht bekommt, hat auch beim Publi- kum unrecht. In Deutschland sind Märtyrer wie
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Steine, die in einen Brunnen fallen. Ein kurzer gluck- sender Laut, ein einziger Ring, der sofort gegen die Brunnenwand stößt und zerschellt, — — — dann ist das Wasser wieder ruhig und der Stein spurlos verschwunden. Andere Völker reagieren wie ein See- spiegel. Die Ringe werden immer größer, dehnen sich über die ganze Wasserfläche aus, und die Bewegung dauert noch, wenn der Stein schon längst versunken ist. Finden Sie es nicht begreiflich, daß niemand rechte Lust hat zu solchem fruchtlosen Martyrium? Wenn wir wirklich feige waren, so v^rde doch auch herzlich wenig getan, um uns Mut zu machen.**
Der Gefreite war zu müde, um den Handschuh noch einmal aufzunehmen. Er zuckte mürrisch die Achseln und winkte ab. „So leicht wie offene Türen einrennen war es gewiß nicht,** — murmelte er kaum hörbar vor sich hin. Einen Augenblick später sprang er erschrocken auf: „Um Gottes willen! Acht Uhr vorbei. Ich muß ja gehen!" Und während er rasch Pfeife, Tabaksbeutel und Feuerzeug versorgte und hinübereilte, wo über den aufgetürmten Bänken sein Mantel ausgebreitet lag, sagte er kleinlaut, mit einer Reue, die halb scherzhaft, halb bitter ernst klang: „Sehr dankbar habe ich mich ja nicht gezeigt für Ihre Gastfreundschaft, das muß ich selbst sagen. Erst Ihren Proviant vertilgt, und Ihnen dann die Ohren volltrompetet mit überflüssigen Weisheiten, die besser jeder für sich behielte. Tragen Sie mir*s nicht nach, es ist ja mein eigener Schaden! Nun sind die zwei Raststunden vorbei, und ich habe mich heiser ge- schrien und müde gezappelt, statt mich auszuruhen. So ist der Mensch! Aus Ekel vor dem allgemeinen Halsabschneiden benützt er die kurzen Zwischen- pausen, um sich rückwärts mit seinen Freunden herum- zuschlagen.'* Er machte Kehrt, um Weiler,
der ihm in den Mantel geholfen hatte, zu danken. Als er das zerstörte Gesicht erblickte, die hilflose
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Traurigkeit, die aus den großen, ängstlich fragenden Augen strahlte, wurde er still; machte sich eine Weile mit seinem Handschuh zu schaffen. Dann legte er seine klobigen Hände auf Weilers schmale Kinder- schultem und sah ihm reumütig in die Augen. „Ich hoffe, Sie nehmen sich das Geschwätz nicht zu Herzen! Das ist ja alles dummes Zeug. Treppen- weisheit, die heute keinen Hund mehr vom Ofen lockt. Die Hauptsache bleibt, daß wir die Sache glücklich übertauchen! Es wird viel zu tun geben, für jeden, nachher.**
Gadsky hörte gerührt zu. Eis war ein merkwür- diges Bild, dieser Riese mit den unwahrscheinlich plumpen Gliedern, wie er sich so über den kleinen Weiler beugte, als wollte er ihn erdrücken. Wer hätte in diesem Mastodon die HerzHchkeit vermutet, die jetzt eben aus ihm sprach? Seine rauhe, brutale Stimme klang auf einmal ganz weich, wie in Milde getaucht, und man fühlte genau, daß er sich selbst haßte in diesem Augenblick, für jede kleinste Spur, die seine Worte in die wehrlose Seele Weilers ge- pflügt hatten.
Als er sich endlich losriß und seine Tatze Gadsky entgegenstreckte, da war er es, der getröstet werden mußte; sah ganz beschämt und niedergeschlagen aus. „Ich glaube fast, Sie machen sich im Ernst Gewissens- bisse?** — lachte ihm Gadsky entgegen, und schlug weit ausholend in die dargereichte Hand. — „Ja, glauben Sie denn, daß wir ohne Ihre gütige Mithilfe gar nicht streiten könnten? . . . Dann darf ich Sie beruhigen: wir streiten immer! Gott sei Dank! Es wäre ja nicht zum Aushalten, wenn man sich nicht auf diese Art ein wenig Luft schaffen könnte. In Ihrer Abwesenheit hätten wir in anderer Rollen- verteilung gerauft, aber über dieselben Fragen. Die sind jetzt überall. Ohne Ihnen nahe treten zu wollen, Sie haben sie weder erfunden, noch mitgebracht. Im
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Gegenteil! Sie waren uns ein verläßlicher Zuhörer. Und das ist hier draußen der größte Dienst, den man sich gegenseitig leisten kann.'*
In dem Gesicht des Sanitäters ging eine merk- würdige Veränderung vor. Er erstarrte. Wie aus Stein gehauen, stand der ganze Koloß unbeweglich, nur die Augen verrieten, daß irgend etwas in ihm vorging. Als er endlich aufzutauen begann, hatte es zuerst den Anschein, als schrumpfte er zusammen, dann warf er, wie ein Klageweib, seine endlosen Arme über den Kopf, blieb so stehen, grotesk, und doch erschütternd zugleich in der unbeholfenen Schwer- fälligkeit dieser Stellung; und begann zu sprechen, ganz leise, beinahe flüsternd, als verriete er ein Ge- heinmis.
„Ueberalll Ja — ja. Ueberall sitzen tuschelnd Menschen beisammen und sprechen, wie wir heute abend gesprochen haben. In jedem Grabenstück, in jedem Lazarettgarten, verkrochen in der dunklen Ecke eines Kasemenkorridors, überall kauern sie! Stecken die Köpfe zusammen und flüstern von den fürchter- lichen Folgen des Sieges, den sie mit Leib und Leben
erringen helfen! Wenn ich mich draußen
bei Nacht in meinen Mantel rolle und das Ohr auf die Erde lege, dann höre ich ihre Stimmen, von allen Seiten. Höre sie räsonieren, sich auflehnen, meutern,
mit dem Mundwerk, wie wir heute abend,
und wenn der Morgen konmit, ziehen sie wieder flott an mir vorbei, das Gewehr in der Hand, uner- schrocken. Nicht einer weicht zurück vor dem Tod; nicht einer wagt ein offenes Wort! Wie Tiger kämp- fen sie auf Kommando; — wie feige Hunde ducken sie sich vor ihrem Gewissen! Ist das nicht geheimnis- voll? Ist das nicht unausdenkbar? . . . Wie viele liegen schon stumm in den Massengräbern; wie viele kennen nur wir drei allein 1 . . . Ganze Divisionen, — hören Sie: ganze Divisionen könnte man aus der Front
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herausziehen, Regimenter aus lauter Men- schen, die, genau wie Sie und ich, nichts mehr fürchten, als den Sieg einer Gesinnimg, die sie zu Sklaven machen wird, wenn sie triumphiert! Ganze Kerle, die sich nicht unterkriegen ließen im Frieden, sich aufbäumten gegen jeden Druck, geben jetzt Blut und Knochen her für den Zwinger, der um sie erbaut werden soll; flechten sich die Finger wund an dem Maulkorb, der für sie bestimmt ist! So ein Kampf war noch nie da! Noch nie, sage ich Ihnen ! . . . Es sind Menschen schon gestorben für ihren Glauben, für ihre Freiheit, oder aus gemeiner Beutegier. Aber ohne Anteil am Gewinn, gegen den eigenen Glauben, gegen die eigene Freiheit, so wie wir? . . . Noch nie!'*
Er stand immer noch mit erhobenen Armen da, und seine Augen wanderten hin und her zwischen den beiden, die blaß, mit halb geöffnetem Mund, wie gedrosselt von seinem Geflüster, zu ihm aufsahen. Als keiner die Kraft fand, ihm beizustimmen, ließ er endlich die Hände klatschend auf die Schenkeln zurückfallen, und aus dem mächtigen Brustkasten brach immer lauter, aufsteigend bis zu tierisch be- sinnungsloser Wildheit, seine unbezähmbare Wut.
„Wir werden siegen!'* — schrie er höhnisch, — „ganz gewiss ! . . . Man kann eine Maschine nicht mit der bloßen Hand aufhalten. Sie rattert weiter, seelenlos, läßt das Blut über die Räder rinnen, zer- malmt gleichgültig ein Volk, zwei Völker, die Besten, die Mutigsten, bis der Maschinist, der sie laufen läßt, auf den Hebel drückt. Dann kommt erst der Sieg der durchtriebenen Meute, die unser armes Volk wie einen Klepper reitet ! . . . Dann wird die Macht, die wir uns jetzt groß mästen, nach rückwärts rollen, un- barmherzig! Was immer sie in Feindesland geleistet hat, wird nichts — wird Milde sein, sage ich
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Ihnen, im Vergleich zu der Wut, mit welcher sie daheim jeden Widerstand niederstampfen wird! . . . Nur darum möchte ich das Ende erleben, um diesen Anblick noch genießen zu dürfen, um sie zu sehen, die Helden von heute, mit der Faust, der sie heute die Welt erkämpfen, an der eigenen Gurgel! Nur einen Tag lang möchte ich sie noch sehen können, vor ihren eigenen Siegeswagen gespannt, — — — geduckt unter den gefräßigen Hochmut, der sich berufen und berechtigt glaubt, obenauf zu schv/immen, wie Oel, — und, wenn er „siegt'*, aufblühen wird zu einer Herrschsucht, wie keine Zeit und kein Volk sie noch gekannt!"
Er keuchte; seine mächtigen Kinnbacken zerkauten wollüstig jedes Wort, das er aussprach; das steingraue Gesicht flammte auf, und die Stirne war mit Schweiß- perlen bedeckt, als wäre der ganze, große Leib weiß- glühend geworden im Feuer der Rachsucht, die in seinen Augen loderte.
Gadsky und Weiler hielten den Kopf gesenkt, wagten nicht aufzublicken. Der ganze weite Raum war wie erfüllt von dem glühenden Atem dieses un- geheuren Hasses, von einer stickigen Gewitterschwüle, die sich auch ihnen würgend auf die Brust legte. Erschreckend sahen sie ihn vor sich stehen, suchten vergebens nach einlenkenden Worten, und atmeten erleichtert auf, als er sich endlich mit einem kurzen Wink, der beinahe wie eine Drohung wirkte, zum Gehen entschloß. Aber in der offenen Türe drehte es ihn noch einmal herum. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer grinsenden Fratze, und mit einem häßlichen, gehässigen Spott schrie er den beiden, salutierend die Worte zu: „Also: Heil und Sieg! Unter Aufreeht- erhaltung unserer Prinzipien natürlich!**
Wie ein schwerer Stein fiel sein Hohn ins Zimmer, den Schweigenden vor die Füße; dann sahen sie ihn
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kopfüber hineintauchen in die Finsternis, die wie ein schwarzer Vorhang vor der offenen Türe hing.
Als er nach langem Suchen Kutscher und Pferde gefunden hatte, und draussen, auf dem großen Platz beim Einspannen mithalf, versammelte sich, nur wenige Schritte weit von der Baracke, das Bataillon.
Die Nachzügler eilten an ihm vorbei, keuchend unter der Last des schweren Gepäcks, das ihren Sil- houetten abenteuerliche Formen gab. Das knirrschte, klapperte und klirrte vorüber, immer seltener, immer hastiger, und wurde, wie ein verlorener Tropfen, auf- gesogen von der langen, schwarzen Schlange, die scharrend und murmelnd die leise Helligkeit der Bretterwand überschattete, und, weiter rückwärts, in die uferlose Dunkelheit hineinfloß.
Gerade als der Kutscher sich schon anschickte auf den Bock zu klettern, schnarrte drüben ein Kommando- wort, — und der schwarze Fluß erstarrte zu einer Mauer. Nun lag drückende Stille über dem Platz, ein krampfhaftes Schweigen, in das die lauten Worte einer unsichtbaren kleinen Gruppe, irgendwo in der Mitte des Platzes, wie eine Herausforderung hinein- klangen.
Ein Lämpchen flammte auf, v^e vor einem Hei- ligenbild; von einem Arm gehalten, der freischwebend in den Lichtkreis hineinragte; und die schnarrende Stimme warf Namen auf Namen, wie Knallerbsen, gegen die regungslos starrende schwarze Wand.
Der Sanitäter stand schon auf dem Wagen, hinter dem Kutscher, umklammerte wie ein Schraubstock den Arm, der die Peitsche hielt. „Halt!" — knurrte er; reckte sich hoch, und hielt sein Ohr in den Wind, voll gespannter Erwartung.
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Drüben begann ein unheimliches Spiel. Um zu verhüten, daß einer sich für mehrere zur Stelle melde, war Befehl gegeben, die Taschenlampe aufflammen zu lassen vor dem Gesicht, wenn man an der Reihe war. Und nun tanzten die Flämmchen wie Irrlichter über den Platz, bald da, bald dort; hoben für eine Sekunde einen Kopf, vom Rumpf getrennt, gespenster- haft aus der Finsternis, um ihn sofort wieder zurück- fallen zu lassen, wie wenn man mit einem Schwamm über eine schwarze Tafel fährt.
Der Kutscher stöhnte leise, so umbarmherzig krall- ten sich die Finger des Gefreiten in seinen Arm ein. Da fiel der Name: Unteroffizier Fröbel, — und der Griff löste sich. Aber so rasch der Sanitäter auch seinen Blick nach dem Lichtschein warf, er war längst erloschen, als er ihn erreichte. Und das „Hier!", das über den Platz gellte, klang fest und sicher, wie die anderen Stimmen. Auch mit Gadsky hatte er kein Glück! Und dann folgte eine endlose Reihe gleich- gültiger Namen, daß der Kutscher sich schon neugierig umwandte, mit einer ungeduldigen Frage auf den Lippen. In dieser Sekunde flammte endlich Weilers Gesicht auf, zum Greifen nahe, von dicken Schatten durchzogen, halb verschlungen vom Sturmhelm, und seine Meldung scholl herüber, fremd und hart, mit der üblichen forciert-militärischen Sicherheit.
Ein Faustschlag zwischen die Rippen des Kut- schers ; — und der Wagen raste los.
Der Sanitäter warf sich zurück, fiel hin auf das feuchte Stroh, das immer noch sauer nach geronnenem Blute roch, und stemmte seine mächtigen Fäuste mit einem wilden Fluche in den ausgestemten Himmel hinein, der glitzernd, wie die Glaswand einer un- geheuren Fliegenfalle, auf ihn niedersank.
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III.
NACHHUT
Der kleine Schneidermeister vom ersten Zug, der „Gesangskomiker**, wie er im Bataillon wegen seiner orientalisch gebogenen Nase und seiner Säbelbeine genannt wurde, hatte als erster Verdacht geschöpft. Gegen Mittag mit einem Verwundeten abkommandiert, kam er erst bei Nacht zurück, weil der Hilfsplatz spurlos verschwunden war, und er seinen vollkom- men erschöpften Kameraden, nach langem Umher- irren, einem vorbeifahrenden Munitionswagen hatte an- vertrauen müssen. Mehr war nicht aus ihm herauszu- kriegen, solange ein Kreis von Neugierigen ihn um- stellte; als er aber, einige Minuten später, Georg Gadsky im Laufgraben begegnete, da blickte er rasch um sich, und fiel, wild gestikulierend, mit einer wahren Flut von Alarmnachrichten über ihn her.
Wo war der Hilfsplatz hingeraten? . . . Warum
hatte man ihn zurückgezogen? Warum waren alle
Straßen mit zurückmarschierenden Kolonnen besät, während auf der rechten Seite nur alle heiligen Zeiten einmal ein Motorradler vorbei flitzte? . . . Und vor allem: warum war der Schloßpark da hinten auf ein- mal verlassen, wie ein Kirchhof Um Mittemacht, statt wie sonst, von Offizieren und Ordonnanzen zu wim- meln? Warum? He, warum? Wenn nicht, weil die dünne Vorpostenkette, die noch vorne in den Gräben lag, schon den Raben zugedacht war zum Fraß? „Nachhut, sage ich Ihnen. Alles Nachhut! Der Schmarm, der für die Gläubiger auf Lager bleibt bei einer falschen Pleite! Fort mit Schaden! ... Sie werden schon sehen, daß ich recht habe! Morgen um die Zeit sind wir alle erledigt. Nur solange der Ne- bel liegen bleibt, haben wir noch Galgenfrist. Wenn
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der Vorhang hochgeht, ist Schluß der Vorstellung. Passen Sie auf!**
Der magere, hohlwangige Semite, mit dem pfiffig- verschlagenen Gesicht und den ängstlich blinzelnden Augen, hatte das alles wie eine gut memorierte Lektion heruntergeleiert, und in seinem Eifer Gadsky immer tiefer in die Grabenecke hineingedrängt. Seine ma- geren Arme waren dabei fuchtelnd durch die Luft gefahren, wie die Flügel einer Fledermaus; daß es von weitem so aussehen mußte, als ginge er seinem Zuhörer an die Gurgel. Das überlegen-ungläubige Lächeln Gadskys steigerte noch seine Verzweiflung, ließ ihn immer weitere schlagende Beweise finden, bis er endHch, mit einem giftigen „Na, Sie werden schon sehen!** sein Opfer frei gab.
Gadsky hatte die ganze Schauergeschichte anfangs mit einem Achselzucken abgetan. Er konnte den spassigen kleinen Kerl ganz gut leiden, und fand es nur begreiflich, daß so ein verschüchterter Hasenfuß, der sein Leben lang auf der Elle geritten war, den Kopf verlor in der Atmosphäre von Gefahr und Tod, die ihn umgab. Erst später, als trotz der hereinbrechen- den Dunkelheit die Essenträger ausblieben, und Befehl gegeben wurde, die eiserne Ration anzubrechen, ka- men die Propheizungen des Schneiders ihm wieder in den Sinn. Das überlegene Lächeln wollte nicht mehr so gut gelingen, und wurde ganz matt, einem erzwun- genen Zähne fletschen ähnlich, als der „Gesangs- komiker** wie mit Unheil Übergossen, vorbeischlich, und „Na, was hab* ich Ihnen gesagt?*' mauschelte.
Er versuchte, das Unbehagen im Unterstand los- zuwerden, wo einem Namenstag zu Ehren, selbst die verrufensten Knicker mit ihren Liebesgabenpaketen herausrückten, — aber das laute Treiben, die lustigen Sticheleien wurden ihm unerträglich, und er flüchtete vor den schweren Seufzern und dem wehmütigen Kopf- nicken des Schneiders, der, mit seinem Unheilgesicht.
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wie ein leibhaftiges Menetekel an der Wand lehnte, bald wieder in den Graben zurück. Allein in einer Ecke, bot er seine ganze Willenskraft auf, um der lächerlichen Nervosität Herr zu werden. Dieser schlot- ternde Feigling sollte ihm nicht mit seinem dummen Geschwätz die Laune verderben können!
Aber nun war der Kinematograph entfesselt, jagte, von den rasend pochenden Adern getrieben, unaufhalt- sam, die tollsten Bilder vorbei. Alle Phasen eines
verzweifelten Kampfes, Gefeoigennahme,
Turkos, die mit weißen Augen auf Ver- wundeten knieten, die kältestarren Finger in heißen
Blutströmen erwärmten, alle Schauermärchen,
die er im Vorbeigehen aufgefangen und hochnäsig belächelt hatte, verdichteten sich zu greifbarer Deut- lichkeit, und die Vernunft kam nicht auf
gegen die aufgepeitschten Sinne.
Das Unglück wollte, daß er auch noch Posten stehen mußte, gerade um Mittemacht; und dort, im weit vorgetriebenen Graben, zwischen Freund und Feind, wie auf einem Tauende, in die undurchdring- liche Finsternis hineinhängend, erlag er vollends seiner fiebernden Phantasie. Der Regen fiel nurmehr ganz leise, sickerte mit monotonem Geflüster durch die auf- geworfene Erde, tropfte auf seinen Helm, mit einer Gleichmäßigkeit, die wie an den Saiten einer Gitarre an «einen Nerven zupfte. Es war ein ununterbrochenes Konzert von zweifelhaften Lauten, die immer wieder zu gespanntem Aufhorchen zwangen, bis endlich jedes Glucksen, jedes Rascheln und Pochen, die Schatten- risse einer heranschleichenden Gefahr in nächster Nähe auftauchen ließ. Der Nebel tat noch sein übriges, warf über jeden verdächtigen Schatten rasch seinen Schleier, um sich eine Sekunde später mit flatternden Tüchern an die Pflöcke des Drahtverhaues hinzu- hängen, als riefe er mit Signalen den Feind herbei. Umsonst versuchte Gadsky sich loszureißen von dem
Latzko. „FriedeMKcridit" 8 M 3
unheimlichen Treiben! Die losen Streifen sanken, zu schweren Klumpen geballt, auf die Erde nieder, wälzten sich bis vor das Guckloch hin, schlichen kni- sternd heran, daß für Augenblicke sein Blut erstarrte, der eigene Atem, wie von oben kommend, zu ihm in den Graben drang, und er, die zuckenden Finger um das Gewehr gekrallt, ganz deutlich das Blinken eines fremden Auges durch die schmale Oeffnung blitzen sah !
Das leuchtende Zifferblatt seiner Armbanduhr zeigte halb Eins, die Hälfte erst dieser fürchterlichen Wacht, als der Nebel, von einem Windstoß gepackt, in die Höhe schnellte, so weit, daß plötzlich das ganze Vorfeld vsrie eine leere Bühne vor ihm lag. Das Auf- tauchen der bekannten Pfosten und Hügel wirkte be- ruhigend; das rasende Pochen in den Schläfen ver- ebbte, er sah sich um, wie einer, der nach langer Wan- derung ins heimatliche Tal hinabblickt. In stunden- langer Einsamkeit, von der Gefahr, die hinter jeder folgenden Sekunde lauerte, an die Panzerplatte ge- preßt, hatte er sich jede größere Erdscholle, jedes Drahtende fest ins Gedächtnis eingeprägt, dieses ganze Fleckchen Erde im Laufe der Zeit auswendig gelernt, wie früher, im Frieden, ein Musikstück für den Kon- zertsaal. Wenn er die Augen schloß, sah er jedes kleinste Detail, jeden weiß gewaschenen Stein, jeden Uniformfetzen; hatte sich an die trostlos öde Mond- landschaft wie an lieb gewordenes Gerät, wie an den Blick aus dem Fenster seines Arbeitszimmers in den Nachbargarten gewöhnt. Er sagte sich, daß er un- glücklich wäre, wenn man ihn an diese andere Stelle des Grabensystems hinüberkommandieren würde; und lächelte melancholisch über eine Genügsamkeit, die sich an Leichenreste und Granattrichter mit einer Art Heimatgefühl attachierte.
Mit geglätteter Stime ließ er seine Augen über die bekannten Punkte streifen und blieb hängen an
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der kleinen, schwarzen Insel, die wie eine Pfütze zwi- schen den hohen Pflöcken des Drahtverhaues lag. „Der Franzose*' war*s, ein Pechvogel, den damals, bei Einnahme der Stellung, eine letzte, nachgeschickte Kugel aus dem Rudel der Fliehenden geholt, und in das Gewirr der eigenen Drähte hineingeschleudert hatte. Wie ein Seiltänzer war „Der Franzos" lange Zeit vor ihnen geschwebt, hufeisenförmig zurück- gebogen, leicht wippend, wenn ein naher Einschlag die Drähte erzittern machte. Ein Volltreffer in den Verhau hatte ihn endlich aus seiner luftigen Lage zwischen Himmel und Erde befreit, und nun lag er längst friedlich hingestreckt, „empfahl sich aus seinen Kleidern,'* „verflüchtigte sich" — wie die Soldaten cynisch sagten — ; und auch seine Existenz als „Ske- lettgigerl** ging mit den letzten Resten seiner Kleidung schon zur Neige. Bei Nacht sah er nurmehr wie ein kleiner Erdhaufen aus; bei Tag schien er, von weitem, halbiert zu sein, als läge der größere Teil seines Kör- pers, in der Erde schwimmend, unter der Oberfläche. Wer ihn jetzt zum erstenmal erblickte, mußte meinen, er läge in einer Mulde; — und doch war die Erde unter ihm eben, wie eine Tischplatte. Höchstens eine Ablösung noch, und der beliebte Orientierungspunkt war aus dem Vorfeld verschwunden, das stereotype rechts oder links „Vom Franzosen** in Befehlen und Meldungen, mußte mit etwas Neuem ersetzt werden. So lange war also der arme Weiler schon weg? . . . Gadsky maß mit zugekniffenen Augen die winzige Erhöhung ab, zu welcher die Leiche zusammen- geschmolzen war, und rechnete die Wochen nach, die er seit Weilers Abgang im vordersten Graben verlebt hatte. Das war das Merkwürdige, daß in der Gegen- wart jede Stunde zur Ewigkeit sich dehnte, und in der Erinnerung die Erlebnisse doch in dichtem Aufein- ander sich folgten, als v/ären die endlosen Zwischen- zeiten des Wartens und untätigen Dahindösens ver-
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dunstet; entwichen wie die Flut, die auch nur einige herangeschwemmte Trümmer am Ufer zurückläßt. Nichts, rein gar nichts hatte sich mehr ereignet seit dem Sturm auf die französische Stellung, seit dem grau- sigen Gemetzel, das der arme Weiler, vom Haupt- mann getrieben, torkelnd, mit irren Augen mitgemacht hatte, — um wenige Stunden später, von der ersten Wacht, unbeherrscht, als Tobsüchtiger zurückzu- stürzen, von Entsetzen geschüttelt, als wäre „Der Franzos** ihm auf den Fersen.
Ganz genau erinnerte sich Gadsky an jedes Wort, sah das verstörte, erschreckend entstellte Gesicht Wei- lers zum Greifen deutlich, wie er, auf die Bahre ge- schnallt, rückwärts im Laufgraben gelegen war, bis zum Einbruch der Dunkelheit. Auch letzt, nach Wochen noch, fiel es ihm schwer, ohne Frösteln an die schauerliche Verwandlung dieses zärtlich-melan- cholischen, lieben Menschen, in die wilde, schäumende Bestie zu denken, deren tierisches Wutgeheul noch nachklang, als die Sanitäter sich schon längst mit ihm entfernt hatten. Freilich, es war ihm arg viel aufge- laden worden! Er war zusammengebrochen wie ein überlastetes Gerüst, und was sie wegtrugen, waren nur die Trümmer seines Wesens; ein entseelter Leib, in welchem nur das Blut noch immer Dienst tat! Schon die Vorbereitungen zum Angriff überstiegen weit seine Kräfte! Dann noch die grausame Hetz- jagd, der Nahkampf, und endlich, ehe die Nerven sich hatten beruhigen können, das Postenstehen, nur wenige Schritte weit von dem Leichnam, der verkrümmt in den Drähten hing, wie ein gefangenes Insekt, und — wer weiß — vielleicht wirklich noch gezuckt hatte . . .
„Mut ist Mangel an Phantasie, sonst nichts!** — hatte Weiler einmal behauptet. Und für ihn war, mit seiner fieberhaft arbeitenden Vorstellungskraft, seiner beinahe krankhaften Sensibilität, die alles, was anderen
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Menschen vor seinen Augen zustieß, auf ihn selbst hinüberleitete, ein solcher Anblick gewiß ungleich schwerer zu ertragen, als für irgend einen stumpfen Gesellen, der immer nur so viel sah, als sich gerade in seinen Augen spiegelte I . . . Ueberhaupt war eigent- lich so manches, was sie früher belächelt hatten, gar nicht so unrichtig gewesen! Wie komisch hatte zum Beispiel Weilers Behauptung geklungen; es reiche die Phantasie eines Menschen nie über seinen Tod hinaus, und die Gelassenheit, mit welcher man gewöhnlich von seinem „nicht mehr da sein" spräche, sei immer nur Heuchelei, weil jeder im Hinterkopf heimlich die Ueberzeugung mit sich trage; er, er selbst werde über- haupt gar nicht sterben, müsse das aber aus Taktgefühl vor den anderen verheimlichen. So einfältig das auch klang, und so sehr sie sich damals über den Ausspruch mokiert hatten, heute mußte er sich gestehen, daß in den Augenblicken höchster Gefahr, vor dem großen Angriff zum Beispiel, auch in ihm ein ähnliches Ge- fühl hochgestiegen war! Auch er kennte sich einen Sonnenaufgang über einen toten Georg Gadsky, der wie „Der Franzos'* da vorne, nur ein zerfallenes Häuf- chen mehr war, nicht vorstellen.
Wenn aber morgen früh? — Wenn der Gesangs- komiker richtig gesehen?
Giftig reckte er sich in die Höhe, und sah nach der Uhr. Wollte denn diese Stunde nie zu Ende gehen? Der Schweiß stand ihm auf der Stirne; er schob den Sturmhelm ins Genick zurück, und hielt das Gesicht dem Winde entgegen, der eben stärker anschwoll, und wie mit zornigen Fingern den Nebel zerfetzte. Der Regen floß vom Helmrand in seinen Kragen, den nackten Rücken entlang; er merkte es nicht. Sein Blick war wieder am „Franzosen" hängen geblieben, der neckisch Versteck mit ihm spielte, den Nebel wie eine Decke über die Ohren zog und wieder vorlugte. Der hatte es wenigstens schon überstanden!
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. . . Ob er noch jung war, als ihn die Kugel holte? . . . Wahrscheinlich. Es waren lauter junge Burschen ge- wesen, schlank, mit verwegenen kleinen Schnurrbärt-
chen. Er erinnerte sich an einen, Aber nein!
Daran wollte er nicht denken. Es weit ja doch nur gemeiner Mord, sie mochten sagen, was sie wollten. Und er lockerte unwillkürhch den Griff um das Ge- wehr, als ekelten seine Finger sich untereinander vor der gegenseitigen Berührung!
Den Einen da vorne hatte, Gott Lob, jemand an- derer auf dem Gewissen. Der Feldwebel vom zweiten Zug rühmte sich, ihn herausgefischt zu haben. Und nun lag er da, auf dieser kranken Erde, die der Krieg mit riesigen Pockernicirben besät und zerfetzt und er- mordet hatte, genau wie die Menschen. Und während er sich hier „verflüchtigte**, her ein weißes, duftiges, gepflegtes Frauchen, vielleicht immer noch jeden Mor- gen aufgeregt dem Briefträger entgegen, und hielt den Platz für ihn frei in dem breiten französischen Doppel- bett? . . .
Gadsky schloß für eine Sekunde die Augen und blähte die Nüstern, als wären die Schwaden, die aus den Trichtern stiegen, wie Rauch, geschwängert mit dem Duft zärtlicher Erinnerungen; als wäre eine Wolke von süßem Parfüm aufgeflogen aus dem breiten Mahagonibett, das ihm von irgendwoher, wie einem alten Bekarmten zuwinkte.
War das nicht zum Verrücktwerden? Auf der Höhe seiner Lebenskraft hier das Ende abzuwarten, sich niedermachen zu lassen, wie ein tolles Tier, in der Mitte kaum des Weges? War er nicht bis zum Rande noch mit Hoffnungen gefüllt, eine unver- brauchte, vollkräftige Maschine? Und sollte freivt411ig auf dreißig herrliche Jahre verzichten, auf Frauen, Erfolge, Musik, auf ein ganzes, reiches Virtuosen- leben?
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Warum? . . .
Ganz plötzlich war Weiler wieder vor ihm auf- getaucht, der vielbedauerte Weiler, dem das ganze Bataillon mit feuchten Blicken nachgestarrt hatte 1 Nun lag er in einem weißen Bett, hinter einer Glcisscheibe, die ihn vor Wind imd Regen schützte; imd morgen, — morgen wird er die Sonne über die Dächer steigen,
und wird sie abends wieder versinken sehen
Narr oder nicht, — er lebt! Und wird weiter leben. Wiegenden Frauenhüften mit den Augen folgen, ein leises, warmes Summen im Blut. Im heißen, pochen- den Blut ! . . . Und an seiner Seite promeniert der Verwundete, den der „Gesangskomiker'* am Vor- mittag, vor wenigen Stunden erst, nach rückwärts ge- führt hatte ! Arm in Arm gehen die beiden durch einen blühenden Lazarettgarten, schauen durch eine Flieder- hecke auf die Straße hinaus, wo die Trambahnen vor- beidonnem, hellgekleidete Frauen zärtlich hinüber- blicken zu den „Helden'*. Der Mcum, der heute morgen erst weiß und zähneknirschend
Der Maim, der hier, mit ihm mit den
anderen
Und darum? . . .
Darum also? Weil ein blödes Stück Eisen dreißig Schritte zu weit nach rechts gefallen war, und die Rückfahrkarte ins Leben einem andern ins Fleisch ge- rissen hatte? ... Nein! Das kormte nicht sein! Das war ja . . . Der Teufel sollte den verdammten Ge- spensterseher holen! Georg Gadsky, der Liebling des Schicksals, benahm sich genau wie der schäbige kleine Schulmeister Fröbel. Hatte er sich nicht freiwillig ge- meldet? Und greinte nun wie der erstbeste Philister, der zwischen Leben und Atmen keinen Unterschied weiß? Der arme Fröbel konnte einem leid tun! Wer immer so, das Unheil vor Augen, um sein Leben zittern müßte, ohne das geringste Vertrauen in seinen Stern?
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Furchtbarer Gedanke ! Wem aber, wie Georg Gadsky, der Erfolg immer treu geblieben war, der versündigte sich; forderte die Götter heraus mit seinem Un- dank I . . .
Er ballte die Fäuste, entschlossen, die kleine Viertelstunde, die ihn noch von der Ablösung trennte, freundlicheren Gedanken zu widmen, sich nicht noch einmal überrumpeln zu lassen. Wenn nur der Nebel nicht gewesen wäre! Ejr lag vor den Augen und auf der Brust, rollte schwere, steingraue Kugeln über das Trichterfeld, und verdeckte alles, was den Blick fes- seln, die Gedanken hätte ablenken können. Es war schwer, derart isoliert, nicht in überflüssige Grübeleien zu verfallen; sich nicht mit Trübsinn voUzusaugen, wie ein Schwamm. Da war selbst eine tüchtige Be- schießung noch leichter zu tragen; hielt wenigstens alle Sinne wach, und die Muskeln gespannt! Wenn die Dinger so heranpfiffen, und nach jeder Explosion das Leben neu in einem erblühte, als hätte man es schon
verloren gehabt, und eben wieder gefunden,
in diesen komprimierten Existenzkampf verstrickt, blieb für Reflexionen keine Muße. Da vorne schwebten die kurzen Tage im Ruhequartier verlockend in un- erreichbarer Ferne, und selbst eine Stunde im Unter- stand schien, an den pfeifenden Atemzügen der Gra- naten gemessen, eine Ewigkeit in sicherer Obhut zu sein. Und diese Spannung wiederholte sich von Mi- nute zu Minute, erfüllte Zehntausende mit lodernder Lebensgier, flammte verzehrend auf, so oft ein Ge- schoß drohend sich neigte, und schweelte qualmend weiter hinter der Front, wo von Tag zu Tag ein Wunder herbeigesehnt v^rde, ein überraschender Frie- densschluß, vor Ablauf der Rastzeit!
Gadsky wurde es heiß ums Herz, wenn er an diesen Orkan von fiebernden Pulsschlägen dachte, an dieses ungeheure Hoffen, das Millionen in Atem hielt.
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Als wäre die große Lebensuhr sichtbar vor sie hingehängt, waren alle vereint in gemeinsamer Erwar- tung, hingen die Vordersten am Sekundenzeiger, der im Takt der Geschoßeinschläge hänmierte, während die Nachfolger hinter ihnen die Stunden zählten, und noch weiter rückwärts das Meer der Vielen wogte, die jeder Tag näher an die Gefahr heranschob. Aus jedem Winkel sickerte eine winzige Ader; Millionen Herzen trieben das Blut in diesen mächtigen Hoff- nungsstrom, daß er anschwoll zu ungeahnter, niege- sehener Wucht und Breite, und brandend sich dorthin wälzte, wo die Mächtigen saßen, die Herren waren über so viel bangendes Leben!
Und die blieben ruhig? . . . Sahen sie den Strom nicht steigen, immer höher, zu ihren Füßen, zu ihrem Herzen hin? Wie war das möglich?
Er lauschte. Der Wind weinte in den Drähten ; — wie Witwenschleier wallten die Nebelfetzen; — und aus der Sintflut bang flehender Gesichter tauchte das sorgenzerwühlte Antlitz seiner Schwester. Die hütete ihren einzigen, siebzehnjährigen Sohn, hatte den ge- liebten Bruder gerne hergegeben, beinahe geschoben, um ihr Küken loszukaufen. Und vne viele bangten, wie sie! ... Wie viel Mütter, die bei Ausbruch des Krieges noch das Schicksal gesegnet hatten, haschten heute schon jeden Morgen mit wütender Hoffnung nach dem Zeitungsblatt, und fluchten der Kraft, die in den jungen Gliedern sprießte. Immer lauter schrie die Stimme in ihnen nach dem Frieden, — immer ver- zweifelter krallte sich ihr Herz an diese einzige Ret- tung, — bis endlich die Stunde da war, und ein Kind von ihnen ging, um wiederzukehren, in den Augen noch den Stolz seiner Jahre, an der Seite aber ein In- strument, das Kinder zu Herren machte über Tod und Leben. Und während der Sohn von Tag zu Tag härter, böser, fremder wurde, das Morden lernte, das Schießen und Stechen nach anderer Mütter Söhne, die
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weit weg, irgendwo, zu seinen Henkern wuchsen; —
drückte die Mutter die gesegnet-langen Wochen
der Ausbildung mit toller Liebe an ihr Herz, um- klammerte die teuren Stunden mit den Fingern, und schrie, schrie, schrie nach dem Frieden! Wie konnte man sie nicht hören? . . . Wie konnte man gleich- gültig bleiben, während von überall her, wo Knaben heranwuchsen, aus allen Lazaretten, wo Wunden er- schreckend rasch vernarbten, aus den Kasernen, wo bärtige Männer wie Kinder in den Betten aufknieten, und aus allen Ecken und Winkeln dieser gefolterten
Welt, der gleiche Ruf aufstieg, Wie konnte,
wie konnte man taub bleiben? . . .
Gadsky erinnerte sich an das ewige Fragen und Räsonnieren Fröbels in der Kaserne; an seinen stör- rischen Glauben, der Krieg müße unbedingt früher
aufhören, als das Bataillon an die Reihe kam;
imd eine wahnsinnige, dumpfe Wut quoll in ihm hoch, bei dem Gedanken: daß immer noch auf den gleichen Kasemenbetten totmüde Menschen dieselbe Hoffnung wach hielt, das fürchterliche Rad sich unentwegt weiter drehte, — wie lange noch? . . . Wie lange sollten Millionen mit jedem neuen Tag eine Spanne näher herangeschoben werden an den Abgrund, und in Scharen hinabsinken, nur weil die Lenker dieses uner- bittlichen Mechanismus* den Frieden in der ge- schlossenen Hand gefangen hielten, und die Hand nicht öffneten, nicht öffneten I . . .
Er biß die Zähne hart aufeinander, kaum fähig den Haß, der in ihm kochte, lautlos niederzuwürgen. Das dunkle Gefühl, schon einmal etwas erlebt zu haben, das irgendwie eine entfernte Aehnlichkeit mit dieser Situation gehabt hatte, marterte ihn. Er durch- wühlte seine Erinnerungen, bis plötzHch, im grellen Licht einer fremden Sonne, das gesuchte Bild vor ihm stand, deutlich bis ins Kleinste, als wäre ein Schubfach
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aufgesprungen, in welchem alles, was er damals ge- sehen und empfunden hatte, schön beisammen gelegen war. Auf seiner großen Tournee durch die Ver- einigten Staaten wann? Vor
vier? Nein! Vor drei Jahren konnte es
erst gewesen sein; und winkte doch, wie aus einem anderen Jahrtausend, aus der seligen Zeit der Teppiche und Badewannen, zu dem armen Höhlenbewohner zurück, der schmutzig und vertiert, ein Geringer unter den Geringsten, nicht einmal verwandt mehr war mit dem berühmten, verzogenen Virtuosen: Georg Gadsky, mit dem Glückskind, dem einmal was geträumt hatte von funkelnden Konzeitsälen und emporgereckten Händen, die nach ihm griffen, wie Kinder nach Sternen.
Damals, auf jenem anderen Planeten, hatte er das erlebt, an einem strahlend schönen Frühlingsnachmittag, in Chicago. Aus dem Palast, wie ein Heiligtum in das Dunkel exotischer Bäume gebettet, hatte ihn der fette kleine Yankee, mit den ordinären Nudel fingern und dem triefenden Doppelkinn, der blutige Herr, für den täglich dreizehnhundert Hammeln ihr Leben lassen mufsten, und der doch sanfte, schwärmerisch feuchte Kinderaugen bekam, wenn er von einer Beethoven- sonate sprach, hinübergefahren in sein Königreich. Zum Greifen deutlich lag der ganze, unübersehbare Betrieb vor Gadsky, mit dem blumengeschmückten Arbeiter- viertel, den breit hingerekelten Lagerhäusern, der weiten Prärie, die schier unendlich innerhalb der Umfriedung sich dehnte, bis zum Horizont mit den weißen Flecken der Opfer besät, die vergnügt blockend umhersprEingen, ohne sich um die blanken Hügel zu scheren, die aus gefüllten Konservenbüchsen getürmt, ihr Schicksal ver- kündeten. Ihm war's, als atmete er noch den sauren Geruch des geronnenen Blutes, und — wie damals — packte ihn würgender Ekel an der Kehle, als er das „Heiligtum" der ganzen Anlage vor sich sah, wo
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Männer, über und über mit Blut bespritzt, mit der Exaktheit von Maschinen bHtzende Messer in die herangetriebenen Tiere tauchten, unmittelbar am Rande eines Abgrundes, in welchem rasch gleitende Riemen die noch zuckenden Leiber auffingen, und hinüber- beförderten in einen anderen Raum, wo sie schon aus- geweidet und weiter verarbeitet wurden. Da, in dieser weiten, von widerlichen Dünsten durchzogenen Halle, hatte er zum erstenmal das grinsende Gesicht des Schicksals gesehen I . . .
Mit einem langgedehnten, dumpfen Sirenenruf war es angegangen. Dann verstummte das Sausen der Räder plötzlich, der reißende Lauf der Riemen verlangsamte sich und hielt an, die Henker legten das Messer bei- seite, schlüpften aus den blutigen Schürzen; — und die bereitstehende Schar der Opfer wurde zurück- getrieben in den Stall, — zurück ins Leben! Auch heute noch, mitten im Kriege stehend, selbst schon zum Mörder geworden, vor sich den spitzen Stahl, der, von seinen Händen geführt, das Leben ausgelöscht hatte in dem verwegen aussehenden kleinen Franzosen, auch jetzt fühlte er noch, genau wie damals, eine triumphierende Freude, eine seltsame Art von Soli- darität mit den geretteten Tieren, die der Tod noch einmal hatte freigeben müssen. Und schaudernd dachte er an das letzte Opfer zurück, das verkrümmt und blutig auf dem Treibriemen lag, der wie ein jäh zu- gefrorener Bach im Abgrund ruhte.
Hammeln waren das gewesen 1 Dumme, blökende, gefräßige Tiere! . . . Und er hatte Mitleid gehabt mit dem Tier sogar, das sein einziges Leben hergeben mußte, nur weil der Dampf eine Sekunde zu spät in die Sirene geströmt war!
Gab es denn niemanden, der mit den Menschen Mitleid hatte? Kein Signal, das diesem Schlachten ein Ende setzte?
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Eingehüllt in den Nebel, der immer dichter auf ihn niedersank, gab Georg Gadsky sich ganz dem ohnmächtigen Grimme hin, den diese Erinnerung durch seine Adern jagte. Er wußte noch genau, welcher Abscheu ihn übermannt hatte, als sein Maecen ihm die Rolle des Leithammels erläuterte, der seine ahnungslosen Brüder Tag für Tag ins Schlachthaus hinüberführt! Er sah es noch vor sich, das große, fett- gemästete Tier, wie es bockbeinig stehen blieb und mit Stangen zurückgejagt werden mußte, weil es gewohnt war, den Rückweg zum Stall allein, ohne Gesellschaft anzutreten, um stolz tänzelnd zurückzukehren, an der Spitze neuer Opfer. Er hörte noch das schallende, gönnerhaft-überlegene Gelächter des Konservenkönigs über seine „Künstlerempfindsamkeit** ; und seine Finger schlössen sich enger um das Gewehr, in Wiederholung des Griffs nach dem Browning, den er damals, — nur halb zum Scherz, — auf die widerliche Bestie gerichtet hatte, die gehütet und fast verehrt, hochnäsig, als wäre sie sich ihrer Wichtigkeit bewußt, ein glanz- volles Leben führte auf Kosten ganzer Hammel- generationen, die sie unters Messer lieferte.
Wie sehr hatte er doch recht gehabt, der musi- kalische Hammelmörder, mit seinem Hohngelächter! . . . Was lag an den dummen Tieren, die dort ihr Blut vergossen? Aß man nicht wohlgefällig das Fleisch von ihren Rippen, wenn sie irgendwo abseits ge- schlachtet waren? . . . Wie nichtssagend war doch dieser ganze Vorgang! Wie lächerlich schien ihm jetzt sein Schauder!
Hier war ja genau der gleiche Betrieb im Gange, noch umsichtiger geleitet, über Königreiche, über ein ganzes Erdteil gespannt, und das Blut, das von den Rädern troff, war — Menschenblut! Auch hier war alles bedacht, auch hier wurde illustren Gästen die vorzügliche Organisation mit Stolz expliziert, auch hier klaffte keine Masche in dem ungeheuren Netz,
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von den stählernen Armen, die mit unerbittlichem Griff die Kinder den Eltern entrissen, — über die Lager- häuser, in welche sie gestoßen wurden, um gewaschen, geschoren, richtig präpariert, auf weiten Wiesen schlachtreif gemacht zu werden, — bis in die vor- dersten Gräben, bis in den Tod hinein, gab es kein Stocken, keine Unsicherheit; — ratterte unbeirrbar ein Fabrikbetrieb, der — keinen Feierabend kannte! Un- erschöpflich strömte auch hier das Material aus den Depots, während Millionen Augen und Ohren, in schweißtriefender Todesangst, auf die Sirene lauerten; Millionen, im Untergehen noch, mit verkrampfter Seele an der einzigen Hoffnung hingen: der Betrieb werde stehen bleiben, ehe auch sie der Abgrund auf- nahm!
Und es gab Menschen, Menschen gab es, Menschen aus Fleisch und Blut, mit Augen, um zu sehen und Ohren, um zu hören, die konnten den Dampf in die Sirene strömen lassen, daß die Mordmaschine stehen blieb, — und taten es nicht? Menschen gab es, die fühlten den Blick dieser ungeheuren Menge auf sich ruhen, sahen die Reihen marschieren, blaß und still, auf das Messer zu, und hielten den Hebel in der Hand, und Heßen die Maschine weiter laufen! ... Menschen, — immer wieder mußte er sich das versagen — Menschen konnten Millionen das Leben wieder- geben, konnten den Verlorenen, deren Knie schon am Abgrund zitterten, das Todesgrauen aus den Augen, das Bangen aus dem Herzen nehmen, und konnten sie gerettet zurückfluten lassen zu den Ihren? Men- schen gab es, die konnten dieses Wunder \virken, und wollten nicht? Gaben den Dampf nicht frei für das Signal? . . . Hielten ruhig und sachlich nach irgend einem fernen Ziele Ausschau, und sagten: ehe das nicht erreicht sei, müßten die dort vorne weiter ver- recken? War das wirkHch so? Menschen saßen am Steuer dieser Walze, und ließen sie rollen, über Blut
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und Knochen, und aßen, tranken, schliefen, — ja, wahrhaftig! sie schliefen sogar, während der Betrieb weiter raste, und Hunderttausende, vergebens hoffend bis zum letzten Augenblick, den Hals hinhalten mußten dem blitzenden Messer I
Wie war das möglich? . . .
Ein schmerzhaftes Gefühl des absoluten Verlassen- seins war über ihn gekommen; er sah sich stehen im Nebel, verloren gegeben von sich selbst und der Welt, von allen die ihn kannten, versinkend in einen uferlosen Sumpf, aus dem es keine Rettung gab ! Er stopfte sich die Faust zwischen die Zähne, so unbeherrschbar mäch- tig war sein Verlangen geworden, laut, laut, so laut er nur konnte, hinauszuschreien, daß er leben wollte, leben ! leben !
War er denn gar nichts mehr? Nicht mehr als der erst beste Schneidergeselle? . . . Wie hatten sie ihm früher die Hände gepreßt, wie hatten sie sich an ihn herandrängt, sich gewetzt an seinen Ruhm, mit verdrehten Augen von unvergeßlichen Genüssen ge- faselt! Wo waren sie jetzt, die nicht vergessen konn- ten? Rückwärts in der Etappe, oder noch weiter hinten, in ihren gewohnten vier Wänden saßen sie, und hüteten sich wohl, auch nur ein Wörtchen zu sagen! Wer sich hübsch still verhielt, durfte ja bleiben wo er war; — wer den Mund auftat, wurde eingezogen, durfte nicht länger mit an der Tafel sitzen, kam zu den anderen, die mit ihrem Blute die Zeche bezahlten. Wer sollte freiwillig solchen Tausch riskieren? Sich den Strick um den Hals raisonnieren, noch dazu uimützer- weise! Denen die vorne lagen, war ja doch nicht zu helfen.
Unaussprechlicher Ekel schüttelte ihn, als er so em das feige Gesindel dachte, das fröhlich den gewohnten Geschäften nachging, zufrieden, das eigene teure Ich aus der Sintflut gerettet zu haben. Er sah sie vor sich, die Herren Kommerzienräte, die sich ihre Abendgesell-
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Schäften durch sein Spiel hatten verschönen lassen, und dann begeistert seine Hände zerquetschten, als sie hör- ten, er habe sich freiwillig gemeldet. Die sprachen selbstgefällig von „durchhalten", kommandierten wei- ter ihr Personal, und fanden es selbstverständlich, daß andere zurücksanken in die Sklaverei ihrer Schuljahre! Wie selbstverständlich nahmen sie das Ungeheure hin, daß ihr Leben weiter ging wie sonst, während anderen zuerst die Seele aus dem Leibe getreten wurde, und dann der Tod auch den Körper noch grausig miß- handelte, ehe er ihm den Rest gab! Wer sich unter- stehen würde, sie aus ihrer Gleichgültigkeit aufrütteln zu v/ollen, wer sich beschweren, ihnen die Greuel schil- dern wollte, die er draußen hatte erleben und tragen
müssen, Haha! Sie würden sich
die Belästigung verbitten, mit einem Achselzucken sich abwenden, sich die Ohren zuhalten, um nicht aus ihrem Gleichgewicht gebracht zu werden. Es hatte eben jeder „sein Teil*' zu tragen. Die „braven Feldgrauen*' hat- ten schön brav zu sterben, ohne überflüßiges Worte- machen sich für die anderen niedermetzeln zu lassen.
Man koimte ja schließlich nichts dafür!
Einmal nur hätte er diesen Leuten, die den Krieg in ihr Programm aufgenommen hatten, wie irgendeine andere Abwechslung, und den Vielen, die sogar Nutzen aus ihm zogen, von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen mögen; ein einzigesmal nur, ihnen den Abscheu
ins Gesicht werfen wollen, den sie verdienten !
So schwer es immer war, was er schon hatte ertragen müssen, und was ihm auch noch bevorstand, er hätte nicht an ihrer Stelle sein mögen! Hätte nicht tauschen mögen mit seinen Kollegen, auch jetzt nicht! Und wenn er noch einmal wählen dürfte, das fühlte er, lieber würde er doch wieder hier zugrunde gehen, als rückwärts für Regimentswitwen und Waisen jeden Abend sich und seine Kunst feil zu bieten, feige, hinter einen Wall von Lügen geduckt!
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Er durfte dem Kriege doch wenigstens ins Gesicht schauen, durfte ihn verachten und hassen aus der tief- sten Tiefe seiner Seele! Mußte nicht heucheln, und emsig das Gegenteil dessen deklamieren, was er wirk- lich dachte, wie Jene, die sich dazu hergaben, einen Mörder heilig zu preisen, nur weil er gnädig an ihrer hochgeschätzten Gurgel vorbeiging! Er diente dem Kriege, — Gott Lob! — nur indem er sich ihm hin- gab, nicht indem er sich ihm entzog. Ging doch wenig- stens daran zugnmde, daß er sich anfangs hatte blen- den lassen; und niemand konnte ihm vorwerfen, daß er aus sicherer Entfernung dieses Morden für ehren- voll erkläre, und sich selbst frei kaufe, mit seiner Zu- stinmiung! ...
Stolz reckte er den Kopf in die Höhe;
und fuhr erschrocken zusammen, mit einem leisen Auf- schrei, als von rückwärts jemand seine Schulter berührte.
Es war die heißersehnte Ablösung, die er beinahe schon vergessen hatte. Ohne seinem Nachfolger auch nur ins Gesicht zu schauen, trat er wortlos zurück, und folgte langsam, tief in seine Gedanken versunken, dem diensttuenden Gefreiten. Der Wind blies hinter ihnen her, klebte ihm das durchweichte Hemd wie eine kalte Kompresse an den Rücken, daß seine Zähne klap- pernd zusammenschlugen. Aergerlich schob er den Helm, der das Wasser wie eine Traufe in den Kragen geleitet hatte, in die Stime zurück, und murmelte, halb für sich, halb zu seinem Begleiter gewendet, eine Ver- wünschung gegen das Wetter.
Im Nu bHeb der Gefreite stehen, als hätten die Worte Gadskys, wie eine zusclmappende Falle, seine Beine gepackt. „Lassen Sie das Wetter man zufrie- den!" — rief er heiser, und das V/eisse seiner Augen blitzte unheimlich durch die Dunkelheit. — „Wenn der Nebel hochgeht, denn nimmt er uns alle mit ins Himmelreich!"
Latzko, „Friedensgericht"
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Gadsky fühlte seinen Atem stocken. Was hatte das zu bedeuten? . . . Waren, während er Posten stand, weitere Nachrichten durchgesickert? Ge- naueres? . . . Oder krächzte aus diesem Raben auch wieder die Stimme des „Gesangskomikers"? . . . Eben wollte er mit einer Frage sich Gewißheit verschaffen, da wich der Gefreite plötzlich beiseite, drückte sich an die Graben wand, und hinter ihm tauchte die hohe, schlanke Silhouette Fähnrich von Krülows auf. Wie im Traum, als trennte ihn von den beiden eine dicke Mauer, durch welche ihre Stimmen nur gedämpft bis zu ihm drangen, hörte er den Fähnrich einige knappe Worte sagen, dann die stramme Antwort des Gefreiten, und das Quietschen des verregneten Lehmbodens unter den schweren Stiefeln. Erst als die Schritte schon hinter einer Krümmung verhallt waren, die tastende Hand des Fähnrichs fieberheiß um seine Finger sich schloß, erwachte er, und schöpfte tief Atem. Ohne daß ein Wort gefallen wäre, aus dem Schweigen, das wie eine Schlucht zwischen ihnen lag, fühlte er eisig die Gewißheit in sich überfließen, als hauchte ihm die Gefahr selbst, aus nächster Nähe, ihren lähmenden Atem ins Gesicht. Er sperrte den Mund auf zu einer Frage, versuchte die Finsternis zu durchbohren, um aus den Gesichtszügen Krülows die Bestätigung seiner Ahnung zu lesen, — und blieb stumm. Nur das Po- chen seiner Adern hämmerte überlaut in die be- drückende Stille hinein, und das Zurücksinken der Hand, die eben kurz die Seine gedrückt hatte, traf ihn wie ein Schlag vor die Brust, als wäre ein rettender Ast, nachdem er greifen wollte, in die Höhe geschnellt und verschwunden.
Auch Fähnrich von Krülow schwieg. Regungslos standen sie sich eine Weile gegenüber, lauschten in- einander hinein, und starrten auf die verschwimmende Schwärze der Graben wand.
„Verloren!** — fühlte Gadsky; und alles in ihm,
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jede kleinste Faser seines Seins, lehnte sich auf gegen die hämische Hoffnungslosigkeit dieses Wortes. „Ver- loren?** . . . Gab es das überhaupt? Waren nicht Menschen oft schon Tage lang an einem winzigen Brett im Ozean gehangen, kilometertief verschüttet unter der Erde gelegen? . . . Noch einmal versuchte er*s, sich aufzulehnen, warf sich der Verzweiflung entgegen,
kampfbereit; da legte sich die nervöse Hand
des Fähnrichs schüchtern um seinen Arm, und aus der Stimme, die flüsternd auf ihn eindrang, klang eine so müde, erlöschende Traurigkeit, daß sofort wieder alle Kraft von ihm fiel.
„Ich wollte Sie blos bitten, Ihren Einfluß auf Frö- bel zu benützen** — hörte er Krülow sagen, und machte unwillkürlich eine abwehrende Gebärde, tief verletzt von dieser Aufforderung, die, an seiner Not vorbei, einem Anderen die Hand reichte. Mit welchem Recht wurde ihm mehr als irgend einem andern zugemutet? Warum sollte er, gerade er, sich jetzt um einen Frem- den sorgen? * . . Eine brennende, tiefkrallende Em- pörung keimte in ihm auf! Er wollte es endlich ein- mal aussprechen, daß er sich durchaus nicht berufen fühlte, mit einer besonderen Eleganz, nonchalanter als irgend ein Anderer sein Leben aus der Hand zu legen ! Schamlos wollte er, gerade diesem gütigen Knaben, der sonst sein Herz angelweit für jeden erst-besten offen hielt, die Wahrheit ins Gesicht sagen. Ihm den Abgrund zeigen, der diese jämmerlichen Kuliexi- stenzen ringsum, von dem Märchenreichtum seines Le- bens trennte.
Allein Fähnrich Krülow ließ ihn nicht zu Worte kommen. Er konnte das höhnische Lächeln, den bö- sen, gekränkten Zug in Gadsky Gesicht nicht erspähen, und hielt die abweisende Handbewegung, das energi- sche Kopfschütteln nur für einen harmlosen Versuch, jeden Einfluß auf Fröbel aus Bescheidenheit zu leug-
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nen. „Doch, doch! Er hört auf Sie mehr als auf den Hauptmann!" — flüsterte er eifrig; beugte sich ganz nahe heran, und sprach weiter, eindringlich, bei- nahe flehend, die Hand schon zum Abschied vorge- streckt, bereit sofort abzubrechen, wenn jemand in die Nähe kam. „Der Hauptmann ist nämlich auch schon mißtrauisch geworden. Ich nehme mir alle Mühe, sei- nen Verdacht zu zerstreuen; aber er sagt, so oft wir auf Fröbel zu sprechen kommen: ,Den Kerl hätte ich nicht zum Unteroffizier befördern sollen, er scheint mir doch eine verdammte Memme zu sein.' . . . Fröbel muß sich mehr zusammennehmen! Eben hat uns der Hauptmann erklärt, daß jetzt alles darauf ankäme, die Disziplin aufrecht zu erhalten. Er will bei der ersten Gelegenheit, die ihm einer bietet, ein Exempel sta- tuieren, um den Leuten die Lust zum Feigesein zu nehmen, - — wie er sagt. Erzählen Sie das dem Fröbel, sobald Sie ihn sehen! Er ist ja ein seelenguter Mensch, und man kann aus einem Schaf keinen Königstiger machen, auch mit der allgemeinen Wehrpflicht nicht, — wie der arme Weiler immer gesagt hat. Aber er soll doch wenigstens solange der Hauptmann in seiner Nähe ist, etwas mutiger tun! Er hat ja immer noch Zeit, den Kopf hängen zu lassen, wenn wirklich schon alles schief geht. Vorläufig steht*s noch gar nicht so schlimm. Es kann der Nebel den ganzen Tag über liegen bleiben, oder der Feind riecht den Braten
erst, wenn der Rückzug schon beendet ist
es dauert gar nicht mehr so lange, bis drei Uhr nach- mittags. Zwölf Stunden! Dann räumen wir den Graben, und ich verschaffe ihm acht Tage Urlaub für die ausgestandene Angst, wenn er sich brav hält, sagen
Sie ihm das ! Ja, richtig,
Und erzählen Sie ihm auch, daß ich einen Bruder drüben habe, auf Korsika, seit November schon, der ist bei einer ganz gleichen Sache in Gesangenschaft geraten. Seine ganze Schwadron ist aufgerieben
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worden, aber ihm ist gleich am Anfang eine Kugel durch die Lunge, und er hat die ganze Geschichte einfach überschlafen. Als er zu sich kam, stand schon ein französischer Stabsarzt an seinem Bett. Im Ernst ! . . . Mein Bruder hat es wörtlich so nach Hause berichtet. Ich möchte nicht hier mit Ihnen ge- sehen werden Also, der Fröbel soll sich
an dieser Geschichte aufrichten! Es täte mir leid um ihn! Sie werden ja sehen, wie er im Unterstand sitzt. Das reinste abschreckende Beispiel! Wenn ihn der Hauptmann so erwischt, dann ist er verloren. Schärfen Sie ihm das ein, er schwört ja nicht höher als" . . .
In fliegender Eile, beiriahe ohne Atem zu schöpfen, hatte er das alles hergesagt, und zwischendurch nach rechts und links Ausschau gehalten, voller Angst belauscht zu werden. Gerade als er fertig ge- sprochen hatte, tauchte, aus dem Verbindungsgraben kommend, eine Patrouille in der Nähe auf, und ver- jagte ihn. Er rief noch schnell, mit forciert dienstHcher Stimme: „Alles verstanden, nicht wahr?** Grüßte schroff, und verschwand.
Gadsky starrte ihm betäubt nach. Er hatte dem zweiten Teile der Rede nur mehr mit halbem Ohr zu- gehört, denn die Sätze: „Um drei Uhr den Graben
räumen**. „Wenn der Feind den Rückzug
nicht merkt** waren wie mit Widerhacken
in seinem Gehirn hängen geblieben, kamen zurück, immer wieder, immer wieder, als liefe ein verdorbenes Grammophon unentwegt in der gleichen Furche.
Also doch! UnwiderrufHch?
Nicht mehr Verdacht nur, nicht Schützen grab en- geschwätz? Aus dem Offiziersunterstand,
von einem, der genau unterrichtet, vielleicht
mit eigenen Augen den Befehl gelesen hatte
„Morgen um drei Uhr nachmittag.** Das
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sollte wohl heißen, der Feind müsse bis zum Abend aufgehalten werden? Um jeden Preis! Wahrscheinlich stand „Bis zum letzten Mann**. So lautete ja die Formel.
„Bis zum letzten Mann.** Das sprach sich ganz leicht; gruselte angenehm über den Rücken. Man war ja jetzt auf derlei kriegerische Sätze geaicht. „Bis zum letzten Mann,'* oder „Bis zum letzten Atem von Mann und Roß**. Wie mit dem Kleingeld in der Tasche, konnte man mit solchen Sätzen klimpern; Männlichkeit und Heroismus klimpern! Ihm selbst war, das mußte er sich gestehen, ein andächtiger Schauder, ein eigentümlicher Kitzel aus Neugier und Prahlsucht durch alle Glieder geprickelt, am Anfang, als diese ganze Zeit, gleichsam mit einem einzigen Schritt, aus den Geschichtsbüchern und Jambendramen in die Wirklichkeit, in den Alltag herübergetreten war, das Hoftheaterpathos plötzlich den gewöhnlichen Gesprächston ersetzt hatte. ... Er mußte, zum weiß Gott wievielten Male heute Nacht, wieder sin Weiler denken. Der schien doch recht zu behalten, mit allen seinen Prophezeiungen! Nun der Tod nicht mehr als ferne Möglichkeit drohte, das „Nicht mehr sein'* aus einem kokett hingeworfenen Satz, aus einer Atrappe, die in ihrem Innern Eiserne Kreuze, Helden Verehrung, stolz-fröhliche Heimkehr in weit geöffnete Frauenarme barg, zur unerbittlichen, unaufhaltsam heranrückenden Gewißheit sich gewandelt hatte, unter dem Druck dieser absoluten Hoffnungslosigkeit zeigte sich erst, wie niedrig man in Wahrheit den Tod in seine Rech- nung gestellt hatte! Am Ende der fünf Tage im vordersten Graben, hinter dem grausamsten Trommel- feuer, stand doch immer noch die Möglichkeit des Gerettetwerdens, und man konnte den Blick in diese Helle richten, alle Schrecken übersehen, die noch den Ausgang verlegten. Die Kämpfe aber, die morgen bevorstanden, waren Abschluß! Ein glücklich über-
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dauerter Angriff bedeutete nur eine kurze Pause, eine Verlängerung der Qual; und dahinter lag nichts mehr, gar nichts, höchstens ein paar frostige Sätze, wie „Ach, der Gadsky? Wa» Sie sagen? Das tut mir aber leid!**
Wie mit Blei gefüllt, hingen seine Arme hinab, seine Kniee waren wie ausgehöhlt; eine Müdigkeit, als läge ihm ein zehnstündiger Marsch in den Gliedern, rang ihm das Gewehr aus den Händen, drückte ihn, dort, wo er gerade stand, auf eine leere Munitionskiste nieder. Hinter ihm raste der Wind, schwoll allmählich zum Sturm an, fuhr von Zeit zu Zeit, mit einem steilen Stoß, in den Graben hinunter, und schlug ihm das nasse Hemd immer wieder eisig an den glühenden Körper. Ein bitteres Lächeln umspielte seinen Mund bei dem Gedanken, daß er eine Erkältung, ja selbst eine Lungenentzündung nicht mehr zu fürchten brauchte. E,s war ganz gleichgültig, in welchem Ge- sundheitszustand ihn der morgige Tag vorfand; Krankheitskeime, die sich heute noch in ihm nieder- ließen, hatten mit einer kurzen Lebensdauer zu rechnen.
So hatte doch alles auch eine gute Seite! — ironi- sierte er mit sich selbst, und kämpfte ingrimmig gegen das Weich werden, gegen die aufkeimende Rührung an, die Krülows beinahe übermenschliche Selbstlosig- keit in ihm nachklingen ließ. Noch nicht ganz zweinzig Jahre zählte dieses Kind, war in einem Kreise aufge- wachsen, der auf Volksschullehrer und ähnliche Hungerleider aus Turmhöhe herabblickte; — und hatte doch in der gleichen Stimde, die den Tod als überraschenden Abschluß vor den Anfang seines Lebens hinstellte, um das Schicksal des fünfzehn Jahre
älteren Fröbel sich gesorgt! Warum mußte
ein solches mit strahlender Güte bis zum Umkippen beladenes Schiff untergehen, ehe es die seltene Fracht hatte löschen, in tausend Häfen hätte Glück und
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Wärme landen können, während andere, die nur sich selbst was bedeuteten, ein gnädiger Zufall der Ge- fahr aus den Armen nahm? Mußte man nicht glauben, es wache irgend ein geheimnisvoller böser Wille über das Schicksal der Menschen, wenn man so zusah, wie es immer wieder die Besten herausholte, gleich Rosi- nen aus dem Kuchen, und die Kalten und Engherzigen, die Beschränkten und Boshaften mit tückischer Sorg- falt verschonte? . . . Zwei Brüder hatte der kleine Fähnrich von Krülow, der, wie eine Unschuld vom Lande den Bräutigam, das Leben anhimmelte. Beide gingen selbstherrHch, von Adelsstolz gebläht, ohne zu sehen, wohin sie traten, gleich Tieren, die man auf ein Blumenbeet losläßt, durch die Welt, die der andere sich voller Liebe und Mitleiden ersehnte. Der Aelteste, der Majoratsherr, saß seit Monaten schon, mit einer wohlgelungenen Prothese in Berlin, im Generalstabs- gebäude; und nun war also auch der Zweite endgültig gut aufgehoben, drüben in Korsika ! Hätten nicht diese beiden verdorrten Kerle, die kein Seufzer oder Hilfe- ruf erreichte, den Blutzoll zahlen können für den Jüngsten, in dessen Händen jeder Taler des großen Vermögens ein Samenkorn geworden wäre für
Menschenglück?
Den Kopf zwischen den Händen, vornüber ge- beugt, starrte Gadsky immer noch dorthin, wo die Fußspuren des Fähnrichs sich langsam mit Wasser füllten, und war krampfhaft bemüht, seine Gedanken immer wieder auf ihn zurückzulenken. Denn hinter der Bewunderung für die väterlich-reife Güte dieses Knaben, lauerte sprungbereit die Scham über seine eigenen Gefühle! Die zweihundert Menschen hinter ihm, seit Monaten seine Begleiter, von jeder Minute, wie mit einem neuen Kettenglied, enger und enger an ihm geschmiedet, — gingen die nicht dem selben Verderben entgegen? Und doch hatte er mit keinem Gedanken ihre Not gestreift; mußte sich gestehen,
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daß seine Empörung gegen den Gleichmut der Un- gefährdeten, ganz frei von jedem Mitgefühl gewesen war. Nicht einmal an seine Freunde, nicht einmal an Fröbel, oder an Fähnrich von Krülow, den er doch liebte, der viel jünger als er, noch keinen Blick ge- worfen hatte in den großen Tan2:saal, an den er schon wie an den Schauplatz seiner Triumphe zurückdachte,
nicht einmal diesen Einen hatte er in seine
Arche aufgenommen!
Das nasse Hemd quälte ihn unausgesetzt; schmiegte sich bei jeder kleinsten Bewegung von neuem an seinen Rücken hin. Schlotternd am ganzen Leibe biß er hartnäckig die Zähne zusammen, fest entschlossen, nicht von seinem Platze zu weichen. Er wollte es auskosten, dieses demütigende, erbitternde Gefühl, so als begossener Pudel, schmutzig, klebrig, mit einer Fischhaut am Leibe da zu sitzen! Dachte beschämt, gehässig fast an die Zeit zurück, da er mit trockenen Lackschuhen durch das Leben spaziert war, nie, nie, nie, auch nur für den Bruchteil einer Sekunde daran gedacht hatte, daß den armen Teufeln, die nur durch eine Glasscheibe von ihm getrennt, mit eingezogenem Kopfe auf dem Bock oben kauerten, das Wasser in den Rücken floß, der Wind die Kleider aufreizend an den Körper klebte. Durfte, wer sich so gedankenlos auf Kosten anderer gütlich getan hatte, empört gegen die Grausamkeit aufbegehren, die ihn hier draußen gefangen hielt? . . .
Wie durch einen Schleiervorhang, wie in den Nebel hineingehängt, schaukelte verschwommen ein Bild ihm vor den Augen, eine Erinnerung, die er nicht sehen wollte, und in einer Aufwallung von Trotz und Stolz doch selbst herbeizwang. Unerbittlich, wie ein scheuendes Pferd, mit Sporn und Peitsche gleichsam, drängte er sein Gedächtnis an das Erlebnis heran; fühlte seinen Atem stocken, einen kalten Griff sein
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Herz zusammenpressen, als er ausgerechnet hatte, daß auf den Tag, auf die Stunde beinahe, ein rundes Jahr, ein einziges Jahr nur seit jener Nacht verflossen war! Seit seinem letzten Pariser Konzert! . . . Wer hätte gedacht, daß es das allerletzte bleiben würde? . . . Wie heute, wütete auch damals der Frühlings- sturm, stemmte sich gegen die wackelige Droschke. Mathilde saß seelig an seiner Seite, und ihre Augen blitzten bewundernd zu ihm empor. Er hatte sich selbst übertroffen an jenem Abend, war mit Brachial- gewalt immer wieder zum Flügel zurückgeschleppt worden, kostete das Echo seines Erfolges, im heißen Druck ihrer Finger, im Glühen ihrer Wcingen noch einmal aus! Für sie, nur für sie hatte er ja gespielt! — — — Aus der verborgenen Ecke des Saales, in welcher sie saß, waren Kraft und Zärtlichkeit in seine Finger geströmt.
Und daim? Wie auf einer Bühne, wie
leibhaftig vor ihn hingestellt, erlebte er die ganze Szene, sah den weißhaarigen Kutscher prustend, zerzaust, mit blauroter Nase, im flackernden Licht der Wagen- lateme stehen, wackelnd im Sturm, der wie besessen über die freie Landstraße fegte. Natürlich hatte er keine Lust gehabt, sich mit dem Alten aufs Parla- mentieren einzulassen! Ej wollte nach Neuilly, in das reizende Häuschen, wo Stühle und Gardinen, wo alles so schön mit Mathildes Parfüm durchtränkt war. Dort WEUlete der Tee, dort wollte er sie in die Arme nehmen, in ihren Küssen seinen Triumph genießen! Was Wunder, daß er laut und herrisch den lamen- tierenden alten Schwätzer anschnauzte, Pferd, Wagen und Kutscher zum Teufel wünschte, und vollends die Geduld verlor, als durch die offene Türe der Regen in den Wagen klatschte, und Mathildes duftige, nil- grüne Crepe de Chine-Robe wie ein nasser Lappen über den schönen schlanken Beinen lag!
„Mais M'sieur! Par c' temps!** — hatte der alte
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Kutscher beteuert. Und die Antwort war ein em- pörtes „En avantl** gewesen.
Und „En avanti" das sagten auch die Mächtigen, die diesen Rückzug leiteten, fiebernd auf den Erfolg, der ihnen Orden, Ruhm, leuchtende Augen und stür- misch umschlingende Arme verhieß. „En avant!" echote die hungrige Meute, die keuchend dem Gelde nachraste, das blutig aus hunderttausend Wunden rollte, um sich in nilgrüne Crepe de Chine-Roben, süß duftende, kokette Liebesnester zu wandeln. Das- selbe herrische Gefühl, das auch ihn jedesmal wie einen Bogen gespannt hatte, so oft er früher das Po- dium betrat und die ersten Akkorde anschlug, — dieser eigene Wille, der doch — stärker als sein Träger — Leib und Seele wie ein Werkzeug packte, und erst wieder freigab, wenn die hundertköpfige Bestie unten im Saal schon besiegt die Hände regte, dieser selbe Rausch jagte jetzt seinen gierigen Atem durch die kahlen, mit Landkarten behängten Zimmer, versengte jedes Gefühl in den Herzen der Männer, die auch nur nach ihrem Neuilly wollten, den Erfolg auskosten, den „Sieg", mochte Pferd und Kutscher und Wagen, mochte Georg Gadsky und noch hun- derttausend andere dsirob der Teufel holen!
Für einen Augenblick sank Gadsky ganz in sich zusammen; eine unheimliche, beengende Leere klaffte um ihn, er fühlte sich wie entlarvt, v/ie in die Ecke gedrückt von seinen Gedanken, und konnte doch nicht freikommen aus dem Netz, in das er sich selbst ver- strickt hatte. Denn so war es eben! Da half kein Ausweichen: das ungeheure Unrecht, das ihn vorhin, im vordem Graben, beinahe bersten machte vor Em- pörung und Bitterkeit, schrumpfte, wenn man es so als Unbeteiligter vor sich hinstellte, zu einem einfachen Platzwechsel zusammen! Georg Gadsky war aus dem Kreise der Glücklichen, die sich tragen ließen, hinab- gerutscht zu denen, die zu tragen hatten. Im Frieden
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selbst dem Generalstab zugeteilt, saß er jetzt durchnäßt und elend auf dem Bocl; der großen Droschke, in welcher andere bequem von Erfolg zu Erfolg kut- schierten! . . .
Er sah wohl, daß ihm von ferne ein Hintertürchen winkte, ein rettendes Mauseloch, in das er sich ver- kriechen konnte; wies aber die Versuchung stolz von sich. Nein! Der Stationsvorsteherssohn, der aus dem ärmlichen kleinen Bahnhofsgebäude in die Welt hin- ausgefahren war, sie in Luxuskabinen und Expreß- zügen durchjagt hatte, unersättlich in seinem Ver- langen nach Erfolg, Glanz, Liebe, durfte nicht feige hinter die Ausrede sich flüchten: er sei nicht über Leichen, nicht um den Preis von Menschenleben in die Höhe. Was waren denn die armen Schlucker, die für seine Erfolge mit blutigen Enttäuschungen gezahlt, eine jämmerliche Existenz als Klavierlehrer hatten fristen müssen, und mit hungrigen Augen, wie überfahren dagesessen waren im überfüllten Saal, der immer wieder gähnend leer blieb, wenn sie selbst ihre erhungerten Groschen für einen „unwiderruflich letzten" Versuch hinopferten? Gab es einen General, der verächtlicher, mitleidsloser von den Soldaten spre- chen konnte, die Blut und Leben hergaben für die Orden an seiner Brust, als er von diesen „Klavier- hengsten" und „Nichtskönnern", von der ganzen Sipp- schaft der „blutigen Dilettanten" gesprochen hatte?
Nein! Dieser Kampf mit Bajonetten und
Granaten war nicht viel grausamer als jener andere, der nur die Seelen zertrat, und dann fortraste, ohne zu fragen, wie die UeberwTjndenen weiter mit ihrem Leben fertig wurden ; . . . und er selbst hätte, vor die Wahl gestellt, als verkanntes Talent, verbittert, bemitleidet, sich durchs Leben zu betteln, oder als Besiegter dieses blutigen Kampfes, befreit von aller Qual, dort oben im Trümmerfeld zu liegen, keinen Augenblick geschwankt, was er wählen sollte! . . .
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Mit einem plötzlichen Ruck riß er das Gewehr wieder an sich, und sprang auf. Eine neue Kraft, eine \vilde, trotzige Entschlossenheit hatte ihn erfaßt, und mit großen, festen Schritten machte er sich auf den Weg nach dem Unterstand. Er war zu müde, konnte hier im windigen Graben, den Tod vor Augen, den verfilzten Knäuel dieses ungeheuren Geschehens nicht entwirren; nicht v/eiter über tiefere Zusammen- hänge nachgrübeln. Aber er fühlte genau, daß auch er seinen Anteil hatte an der allgemeinen Schuld! Daß der Orkan, der ihn aus seinem Erdreich gerissen, und hierher geschleudert hatte, mit den Wurzeln in der Luft, nicht urplötzlich aufgesprungen, sondern allmählich aufgewachsen war aus der rücksichtslosen Lebensgier, die auch ihn früher beherrschte. Die Wut, die diese Völker einander an die Gurgel trieb, sie durch Blut und Jammer waten ließ, war nur der- selbe millionenstimmig instrumentierte Schrei nach Reichtum, Macht, leichterem Leben auf Kosten an- derer; — war die gleiche blinde Selbstsucht, die auch sein Herrendasein beseelt, auch ihn zu rücksichtslosem Wettlauf aufgepeitscht, an die Fersen des Erfolges geheftet hatte!
Er eilte zurück, um noch ausschlafen zu können, ehe der Morgen kam. Denn ausgeruht und kräftig wollte er in den Kampf! Nun er erkannt hatte, daß nicht eine unverdiente Katastrophe über ihn herein- gebrochen war, daß er nicht schuldloses Opfer, son- dern nur Kämpfer war in einem Streite, den er auch
mitgeholfen hatte heraufzubeschwören, nun
v/ar er entschlossen, sich zu verteidigen, bis zum letzten Atemzuge! Mochten die sich vorsehen, die ihm sein Leben rauben wollten ! . . . Wer einmal schon so gut seinen Mann gestellt hatte in diesem Ringen, brauchte nicht den Mut zu verlieren, weil es jetzt mit andern Waffen, sinnfälliger, mit Schlag und Stoß ausgetragen wurde. Er wollte sich wehren!
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Weiß Gott, ja, das wollte erl ... Welche Herrlich- keit, welch unausdenkbares Glück stand ihm bevor, wenn es gelang, das Verlorene noch einmal zurück- zugewinnen, noch einmal zurückzukehren in das Leben, das er jetzt tausendfach zu schätzen wüßte, nach dieser bitteren Prüfungszeit 1 . . . Daim, — — —
aber nur dann! konnte er noch gutmachen,
was er in seiner gefräßigen Gier früher verbrochen hatte. Daim konnte er sich noch ändern, — ein Gütiger, — ein Spender werden, — Einer, der nicht hinwegschreitet über die Schwachen, sondern sein Glück verteilt, und aus der Freude, die er verschenkt,
sich seine Freude baut, wie der kleine Krülow.
Aber auch dazu brauchte er vor allem sein Leben! Mußte es sich erhalten. Nur weim die Leiche Georg Gadskys, wie „Der Franzos** dort vorne, sich einem Dunghaufen gleich, langsam mit der Erde vermischte, nur dann war das Resultat seines Lebens endgültig gezogen.
Er wollte kämpfen! . . .
Als er in den Unterstand eintrat, fuhr ein Schlag durch seinen ganzen Körper. Mit einem mächtigen Griff riß der trostlose AnbHck die mühsam errungene Sicherheit ihm wieder aus der Seele; stürzte ihn zurück
in mutlose Verzweifung. Welcher Wechsel!
Vergnügte Gesichter über klirrenden Gläsern hatte er hier zurückgelassen, — und fand nun verfallene, geknickte Gestalten, stiere Augen; den ganzen Raum wie ausgefüllt mit Grauen. Als läge jedem Einzelnen die knöcherne Hand schon eisig im Genick, so hockten sie alle umher; und in den kalten Rauch, der dick über ihren Köpfen hing, mischte sich beizend der Angstschweiß, den das unerbittliche Heranrücken der Todesstunde aus ihren Poren preßte.
Schaudernd lehnte Gadsky am Eingang, als je- mand kräftig seinen Arm packte und ihn mit sich zog, „Bitte, bitte, — — — kominen Sie hinaus!** —
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fauchte ihm Fröbels Stimme ins Ohr. Er wollte sich rasch noch seines Gewehrs entledigen, aber die schlot- ternden Finger umkrallten noch fester sein Gelenk, und die Stimme flehte noch leidenschaftlicher: „Mit- nehmen! Bitte mitnehmen!**
Unwillig, die Stirne in zornige Falten gelegt, ließ Gadsky sich in den Graben hinauszerren; folgte dem atemlos Vorauseilenden weit zurück, bis hinter die dritte Kreuzung, zur Nische, die früher, mit Sand- säcken überbaut, eine Art erster Hilfsplatz gewesen war. „Wo zum Teufel schleppen Sie mich denn hin?** — rief er entrüstet, und zuckte verärgert die Achseln, als Fröbel ängstlich den Finger auf die Lippen legte.
In der Nische blieben sie endlich stehen; und ehe es Gadsky hätte hindern können, lag Fröbel schon auf den Knien, reckte die Hände gefaltet zu ihm
empor. „Retten Sie mich ich flehe Sie an,
retten Sie mich! Denken Sie an meine Frau, an mein unversorgtes Kind! Um Himmels Willen, retten Sie mich !**
Gadsky fühlte einen bitteren Geschmack im Mund, einen körperlichen Widerwillen, der aus den Ein- geweiden zum Gaumen aufstieg, und ihn beinahe zu Tätlichkeiten hinriß. „Stehen Sie doch auf!** —
knirschte er, — „wie können Sie knieen?**
Und als der schwarze Kleks zu seinen Füßen immer noch tiefer in sich zusammensank, und schluchzend seine Hüften umarmte, wiederholte er zornig auf- stampfend noch einmal: „So stehen Sie doch auf! Wie kann man nur?** . . .
Fröbel blieb liegen. „Helfen Sie mir** — win- selte er. — „Ich habe alles versucht, alles!** . . . „Ich kann es nicht!** Er ließ Gadsky fahren, vergrub sein Gesicht in den Händen, weinte leise vor sich hin, bis er, jäh wieder emporgerissen von seiner Angst, sich von neuem an Gadskys Kleider klammerte und
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laut aufschrie: „Helfen Sie bitte, helfen
Sie mir!**
Angeekelt schob ihn Gadsky von sich weg und herrschte ihn an: „Herrgott, so stehen Sie doch auf! Wie kann ich Ihnen denn helfen? Ich stecke ja in derselben ..."
Blitzschnell sprang Fröbel auf die Füße, kam so nahe, daß seine Lippen das Ohr Gadskys berührten. „Doch, doch, Sie können mir helfen! Sie können mich retten, wenn Sie nur wollen'* — keuchte er. — „Eis ist noch nicht zwei Uhr früh; wenn ich jetzt gleich zurückkann, bin ich noch rechtzeitig . . . Helfen Sie mir . . .
Verständnislos starrte ihm Gadsky ins Gesicht; trat ungeduldig einen halben Schritt zurück, da der andere sich jetzt an sein Gewehr hingehängt hatte, und es ihm beinahe aus der Hand riß. „Was wollen Sie denn? Geben Sie doch acht! Es ist geladen** — warnte er gereizt.
Fröbel klapperte mit den Zähnen, als hätte er den Schüttelfrost. „Sie, ... Sie haben mir gestern gemeldet'* — stammelte er, — „daß . . . daß es nicht tadellos funktioniert. Sie brauchen bloß zu drücken! . . . Ich . . . ich werde schon . . . zufällig beim Nach- sehen** . . .
Mit einem wilden Stoß schleuderte ihn Gadsky von sich. „Sind Sie verrückt? Wollen Sie uns beide an den Galgen bringen?*'
Gewalttätig fiel Fröbel über ihn her: „Nein, nein! Es kann Sie kein Verdacht treffen, ich habe es so ausgedacht -. . . Helfen Sie mir nur** . . .
Gadsky riß die Geduld. Mit einem Faustschlag befreite er sich aus der lästigen Umarmung und ver- steckte sein Gewehr hinter dem Rücken. Als er dann Fröbel, zusammengekauert, an der Grabenwand lehnen sah, schluchzend wie ein Kind, stieg doch, trotz aller Abneigung, ein wenig Mitleid in ihm auf, und er
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versttchte, die Botschaft Fähnrich von Krülows mög- lichst ermutigend auszuschmücken. Wie eine spa- nische Wand schob er die Errettung des altern Krülow vor alle Gefahren, schilderte die Heimkekr aus der Gefangenschaft in den verlockendsten Farben, und schämte sich fast ein wenig, am Schluß der rühr- seligen Geschichte.
Aber Fröbel hörte ihm gar nicht mehr zu. Was Gadsky, gleich zu Beginn, über das Mißtrauen des Hauptmanns berichtet hatte, stieß seine Pläne über den Haufen. Er brach langsam ganz zusammen, kauerte auf dem Boden, den Kopf zwischen den Knieen; seine spitzen Schultern erbebten von verhal- tenem Weinen. Dann raffte er sich wieder auf, brei- tete seufzend die Arme aus und sagte mit einer ton- losen, wie aus großer Feme zuröckklingenden Stimme: „Ich karm nicht! . . . Glauben Sie mir, ich habe alles versucht. Ich kann Sie einfach nicht verstehen! . . . Ich weiß ja, daß mir nichts Aergeres droht als Ihnen und allen anderen; aber ich verstehe Sie nicht. Mir kommt es immer wieder so vor. als spielten Sie hier alle Komödie! . . . Gegenseitig, einer vor dem an- dern! . . . Ich frage mich inuner wieder: ja, glauben denn die, daß im letzten Augenblick, ehe sie wirklich sterben müssen, das Spiel auf einmal aufhören wird? Oder rechnen sie auf eine Anerkennung nachher, nach dem Tode? Es ist mir unbegreifhch, daß man für ein Lob, von dem man so wenig was weiß wie dieser Stein, auf den ich jetzt trete, willig sein Leben hingeben kann!" — Ej nahm seinen Kopf zwischen die Hände, preßte die Schläfen zusammen und rief so laut, daß Gadsky sich erschrocken umsah: „Tau- sendmal habe ich mir*s schon vorgesagt, daß ich mich besser zusammennehmen sollte, daß alles sich schon über mich lustig macht, daß man mir die Tressen nehmen wird, wenn ich's so weiter treibe! Umsonst. Tausendmal habe ich mir's fest vorgenommen, mutiger
Latzko, »Friedensgerichc" 10 I ^-?
zu sein, bei der nächsten Gefakr; genau so mutig wie die andern, die auch nicht gleich getroffen wer- den, weil sie sich weniger bücken, oder aufrecht blei- ben. Aber dann frage ich mich immer wieder: ist denn dein Leben weniger wert, als ein freundliches Wort des Herrn Hauptmann? Ist es besser, mit den Tressen unter der Erde zu faulen, als beschimpft und ver- spottet, aber lebendig zu sein? . . . Weiß denn irgend einer, wie man von ihm spricht, wenn er einmal tot ist? ... Ich kann darüber nicht hinwegkommen, beim besten Willen nicht."
Wie aus unergründUcher Tiefe stieg dieses Ge- ständnis, klang erschütternd gequält und aufrichtig; und erfüllte Gadsky doch mit frostiger Abneigung. Gerade weil es den schweren Kampf, den er mit sich selbst ausgefochten hatte, wie im Zerrspiegel zeigte, die Gedanken, die er nicht in sich laut werden Heß, schamlos aussprach, stieß ihn dieses Gewimmer so ab. Er sah die krampfig ausgestreckten Finger, die nach ihm langten wie nach einer rettenden Planke, — und wandte sich fröstelnd ab, angewidert von dieser Eigen- liebe, die ganz vergaß, daß der andere über demselben Abgrund schwebte, und sich auch nur mit äußerster Kraftanstrengung aufrecht erhielt.
Fröbel fühlte den Abscheu, der ihm entgegen- strömte, nickte traurig, und sann eine Weile stumm vor sich hin. Dann beugte er sich doch wieder ganz nahe an Gadsky heran, und begeinn mit gesenkter Stimme, flüsternd, als verriete er ein Geheimnis. „Da, gleich hinter dem eingesunkenen Beobachtungsst2üid, liegt Dangier! Man hat ihn noch nicht begraben. Zweimal bin ich seit heute Mittag zu ihm zurück- gekommen und habe ihn mir angesehen. Vor zehn Stunden hat er noch gelebt! Könnte jetzt noch leben! . . . Nur weil er das Kreuz haben wollte, ehe er auf Urlaub ging, hat er sich gemeldet; imd hat sich stolz umgesehen, mit leuchtenden Augen, als ihn der Herr
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Hauptmann als ein Muster hinstellte. Schauen Sie jetzt einmal in seine Augen hinein! ... Er liegt neben den Brettern, die dort aufgeschichtet sind, und ist selbst nur ein Brett. Sie können ihn zersägen oder ver- brennen, er weiß es nicht! Was nützt es ihm jetzt, daß er ein Mustersoldat gewesen ist, heute früh? . . . Oh, wenn Sie wüßten, wie ich mich gequält habe!
Umsonst, ich kann es nicht. Während ich
bei ihm gewesen bin, ist für eine Minute die Sonne aus den Wolken gebrochen und hat ihm gerade in die Augen geleuchtet, in diese weißen, schrecklichen Augen, die einen immer anschaun, wohin man auch geht. Wie ein Irrsinniger habe ich ihn an- geschrien, habe ihn gefragt, ob er es jetzt noch einmal täte? Ob er nicht doch lieber die Sonne wieder sehen, noch einmal zu Frau und Kind heimgehen möchte, ohne Kreuz, unbelobt, verachtet, bespieen sogar, aber aufrecht auf seinen Beinen, die jetzt auf die Erde schlagen, wie ein Stück Holz, wenn man sie aufhebt und losläßt. Glauben Sie mir, ich hätte alles auf der Welt drum gegeben, wenn ich ihn hätte fragen kön- nen! . . . Mit einer Hacke hätte ich am liebsten sei- nen Kopf aufgemacht, um zu erfahren, ob man es nachher noch weiß, daß man als Held und ehrenvoll gestorben ist?" . . .
Schwer keuchend holte er Atem, durchschüttelt von einem Schluchzen, das er nicht länger meistern konnte; streckte die Arme beschwörend nach Gadsky aus. „Ich weiß, Sie verachten mich jetzt, weil ich feig bin; weil ich Sie bitte, mich zu retten, ohne darnach zu fragen, v/as aus Ihnen und den anderen Kameraden wird. Aber ich kann nichts dagegen tun! ... Es muß etwas in Ihnen sein, was in mir nicht ist ! Sie alle müssen etwas glauben, was ich nicht glauben kann ! Sonst wäre es nicht möglich, daß sie so mit ihrem Leben spielen; — daß sie sich deis Sterben so wie eine Lektion aufgeben lassen, um nachher, wenn die Aufgabe ge-
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löst ist, eine gute Note zu kriegen. Ich kcinn das nicht 1 . . . Ich kann's nicht, lieber Herr Gadsky, ich" . . .
Seine Stimme erstickte in iränen. Gadsky stand finster neben ihm und zuckte geringschätzend die Achseln. Dem Manne war doch nicht zu helfen; und er hatte nicht die geringste Lust, sich die schwer er- rimgene Selbstbeherrschung derart sinnlos untergraben zu lassen! Zu allem Ueberfluß schrie der Unglück- liche auch noch so laut, daß jeder, der im Laufgraben vorbeiging, bequem zuhorchen, und das ganze Ge- spräch dem Hauptmeiim rapportieren konnte. Es war da an der Ecke, einigemal schon, so ein merkwürdiger Schatten hin- und hergependelt, der ihm nicht recht
gefallen wollte! Kurz entschlossen lüpfte er
sein Gewehr und wandte sich zum Gehen.
Im Nu lag Fröbel wieder auf den Knieen, um klammerte seine Beine, und schrie: „Nein! Nein! Ver- lassen Sie mich nicht! Lieber, guter Herr Gadsky, ich kann es nicht selbst! . . . Niemand wird's er- fahren . . . helfen Sie um Himmels" . . .
Wild stieß ihn Gadsky zurück und zischte er- schrocken: „Geben Sie acht! Jemand belauscht uns!"
Fröbel verstummte imd sah sich um; apathisch, ohne aufzustehen. Da löste sich der Schatten, den Gadsky von Anfang an mißtrauisch beobachtet hatte, von den Sandsäcken los, — und die schlanke, hoch- aufgeschossene Gestalt Fähnrich von Krülows bog um die Ecke. Gadsky atmete erleichtert auf. Beugte sich rasch zu Fröbel nieder, um ihm aufzuhelfen.
„Wie können Sie Ihrem Kameraden so etwas zu- muten?" — rief der Fähnrich mit gedämpfter Stimme. „Wenn ich Sie anzeige, werden Ihnen erst die Ires- sen vom Rock gerissen, und dann werden Sie kurzer Hand erschossen, und Ihre Familie bleibt unversorgt zurück! . . . Nur Ihrer armen Frau zu Liebe will ich schweigen. Aber denken Sie auch daran, daß Sie
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Weib und Kind in Not und Schande stürzen mit Ihrer Feigheit!" Er schwieg; trocknete den Schweiß, den ihm die Pein, so sprechen zu müssen, auf die Stirne trieb. Dann streckte er, nach kurzem Besinnen, abweisend den Arm aus und kommandierte streng: „Abtreten!"
Torkelnd schlich Fröbel davon; das leise Glucksen in seiner Kehle klang zurück, bis er hinter der Ecke \'erschwand. Die beiden anderen blieben stehen, und die qualvolle Szene lag noch eine Weile wie eine Scheidewand zwischen ihnen. Gadsky wußte, wie schwer es dem Fähnrich v^oirde, älteren Leuten gegen- über derart die Charge auszuspielen; einen Familien- vater wie einen Schuljungen abzukanzeln! Er sah ihn verlegen dastehen, als horchte er immer noch dem Schluchzen Fröbels nach, und hätte ihm gerne über das Schweigen hinweggeholfen. Aber er m.ußte war- ten, bis der Fähnrich den Vorgesetzten wieder abge- legt hatte, — und so standen sie sich lange stumm gegenüber, bis Krülow endlich seine Scheu überwand. „Sie sind an mir vorbeigestürmt**, — begann er zö- gernd, — „ohne mich zu bemerken. Ich wollte nicht
horchen, aber die Art, wie Fröbel vor
Ihnen herlief, war mir verdächtig! Und ich hatte Angst, es könnte jemand anderer sie belauschen,** Er atmete auf, als er den Verdacht, der ihn bedrückte, so von sich abgewälzt hatte und setzte, erleichtert, in dem gewohnten freundschaftlichen Ton die Frage hinzu: ..Wollen Sie nicht ein wenig zu mir hineinkommen? Ich bin allein. Die Herren sind in den Nachbar- abschnitt hinüber zu einer Besprechung.** Und mit einem Blick auf seine Uhr ergänzte er: „Vor einer Stunde können sie nicht zurück sein!'*
Schweigsam gingen sie durch den ausgestorbenen Laufgraben zum Offiziersunterstand. Dort stellte Gadsky sein Gewehr vor dem Eingang an die Wand; dann traten sie ein. Es war, weiß Gott, nichts in dem
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ganzen Raum, und hing auch nichts an den Wanden, was irgendwie geeignet gewesen wäre, seinen Neid zu wecken. Der Offiziersunterstand war weder wohn- licher eingerichtet, noch großzügiger angelegt, als die Höhlen der Mannschaft. Und doch überkam Gadsky, so oft er eintrat, ein bedrückendes, gehässiges Gefühl!
Die Bauern fielen ihm ein, die daheim, den
Hut verlegen zwischen den Fingern drehend, das Amtszimmer seines Vaters betreten hatten. Es lag be- stimmt nicht an irgend einer Aeußerlichkeit, an dem grünen Sturzglas, das der kleinen Petroleumlampe auf- gestülpt war, oder sonst einer Erinnerung. Er konnte es dem Räume nur nicht verzeihen, daß Georg Gadsky zuweilen stramm an seiner Schwelle stand, wie ein Lakai I
Der Fähnrich lud ihn mit einer Handbewegung an den Tisch, der in der Mitte des Raumes über vier ein- gerammten Pflöcken lag, bot ihm eine Zigarette an — und dann starrten sie wieder schweigsam in die Lampe, geknebelt von der Erwartung, die auf ihnen lastete. Denn Gadsky erriet, daß ihn Krülow nicht aus bloßer Laune hereingeholt hatte! Er sah das schmale, zarte Gesicht unruhig werden im Lichtschein der Lampe,
sah die Mundwinkel herabsinken, und fühlte,
daß hinter der hohen, glatten Stime die Gedanken sich jagten; ein Entschluß heranreifte, der nur schwer den Weg zu den Lippen fand.
Krülow litt unter den beobachtenden Blicken, schlug die Augen auf und sagte traurig: „Der arme Fröbel tut mir doch leid! Er hat so furchtbar schwer Abschied genommen von seiner Frau. Ich erinnere mich, wie er immer noch ,Auf Wiedersehen!* ge- rufen hat, als der Zug schon längst aus der Halle war."
Gadsky zuckte ablehnend die Schultern und schwieg weiter. „Das war es nicht!" — fühlte er. Krülow wollte anscheinend Zeit gewinnen; versuchte ein anderes Ge- spräch anzufangen, um sich selbst abzulenken. Aber
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seine großen, erstaunten Augen streiften scHon immer häufiger herüber; bis endlich sein Arm sich langsam» wie eine Schlange, über den Tisch vorschob, und er
stockend begann: „Ich ich wollte Ihnen
auch noch danken"
Verwundert sah Gadsky auf, fühlte den klaren, leuchtend warmen Blick sich einhacken in sein Gesicht, und nahm, — ein heißes Schlucken in der Kehle, — die dargebotene Hand.
„Sie können das nicht so verstehen, und
ich kann es Ihnen nicht recht erklären, wie
viel mir die Freundschaft mit Ihnen beiden gewesen ist. Dem armen Weiler werde ich's wohl nicht mehr sagen; und so wollte ich Ihnen wenigstens danken!" Er senkte die Augen, — zögerte wieder, — und begann von neuem, mJt rasch wachsender Sicherheit, wie ein Schiff, das sich aus den Tauen lösen und frei lavieren muß, und dann erst ausholt zu voller Fahrt. „Ich habe Ihnen ja oft erzählt, wie schwer ich es im Kadettenkorps gehabt habe. Stellen Sie sich vor, Sie hätten Ihre ganze Kindheit und Ihre ganze Jugend hin- durch keinen einzigen Menschen, keinen Kameraden, keinen Lehrer, keinen Verwandten gehabt, der Ihre Vorliebe für Musik geteilt, oder auch nur begriffen hätte! Stellen Sie sich vor, alle Menschen, ausnahmslos, hätten alles, was Sie abstieß — schön gefunden; alles, was sie begeisterte — als schlapp oder minderwertig, verhöhnt! . . . Hätten Sie nicht glauben müssen, der Defekt liege in Ihnen? . . . Ich hatte ja noch keine Er- fahrungen ; alles war nur Vermutung ; und da ich nicht die ganze Welt für verwachsen halten konnte, mußte ich mich selbst für verwachsen halten!" Er schöpfte Atem, seine Wangen glühten, man fühlte, wie er jedes Wort, gleichsam aus der Tiefe eines verborgenen Schrankes hervorholte, den er, in schwerer Selbstüber- windung, vorerst erbrechen mußte. „Mein Unglück, — ich habe Ihnen das schon mal erzählt, — war mein
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Fleiß; mein maßloser Hunger nach geistiger Nah- rung. Alles, was in den Schulbüchern stand, — andere waren mir nicht zugänglich — alles was meine Lehrer nur so nebenher verlauten ließen, fiel in mich hinein v/ie in einen Brunnen. Und immer wieder stieß ich auf Widersprüche, die ich mir nicht erklären konnte! Willig ließ ich mich vom Herrn Pastor zur Verachtung 3er Jesuiten und ihres verwerflichen Mottos: der Zweck heilige die Mittel, überreden; — gleichzeitig wurde aber meine schüchterne Frap:e: ob denn die Anwendung von Verrat und List, das Niedermetzeln in den Hinterhalt gelockter Feinde im Krieg, nicht vom gleichen Prinzip diktiert wären, als Aeußerung einer verwerflichen Gesinnung streng geahndet. Ich war stolz auf den eisernen Widerstand, den meine Vorfahren jedem Versuch, ihrer Freiheit und ihres Deutschtims beraubt zu werden, entgegengestemmt hatten; — und vmrde verprügelt von meinem Vater, als ich während der Som.merferien auf unserem Gut, das an der Sprachengrenze liegt, das genau gleiche Bestreben der Polen in Schutz zu nehmen versuchte. Ich konnte mich nicht abfinden mit der Erklärung, daß der erfochtene Sieg alles rechtfertige, das Stärker- sein eines Volkes, seine höhere Sittlichkeit, sein besseres Recht beweise; denn nie wurde ein Sieg unserer Gegner in der Geschichte mit den gleichen Maßen ge- messen. Aus dem gültigen Gottesurteil wurde dann rohe Uaterdrückung, Gewalt, und Raub! Ich ging umher, horchte bei meinen Brüdern, bei den Kame- raden; und fand keinen, den die gleichen Zweifel plagten. Ich war kein vSchwächling ; aber es gab viele, die stärker, und vor allem brutaler und rücksichtsloser waren als ich. Ich konnte mich bei aller Bescheiden- heit, nicht für wertloser halten als diese rohen Hän- delsucher, die nur an Balgereien und grausamen Scherzen ihre Freude hatten; es lag mir nicht, an den jüngeren und schwächeren Jahrgängen für das Un-
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recht mich schadlos zu halten, das mir von oben zu- gefügt wurde. So ging ich überall leer aus! Es war mir unmöglich, die Unterdrückung, die mich am ei- genen Leibe so hart traf, für geheiHgt zu halten, wenn sie von einer Gesamtheit der andern zugefügt wurde, und ich mußte mich verkriechen, tief beschämt, mein Vaterland als Einziger nicht so unbedingt lieben zu können, als die Pflicht es mir vorschrieb/*
Br hatte sich erhoben, ging um den Tisch herum zu Gadsky hinüber und hielt ihm beide Hände ent- gegen. „Können Sie sich vorstellen, was es für mich bedeutet hat, als Sie und Ihr Freund mir auf einmal eine Welt enthüllten, in welcher ich mich nicht mehr zu schämen brauchte? ... Es war wirklich wie in den Kindermärchen, wenn dem Verzauberten plötzlich der Puckel vom Rücken genommen wird, und er sich endlich aufrichten darf! Alles, was ich nur schüch- tern und zweifelnd mir selbst einzugestehen wagte, sprachen Sie beide offen, und wie selbstverständHch aus. Zum erstenmal in meinem Leben habe ich mich nicht wie einen Gezeichneten gefühlt! Zum ersten- mal habe ich einen Kreis gehabt, in dem ich mJch wohlfühlen, eine** ... Er unterbrach sich, — wurde verlegen, — seine Augen sprangen ab, verkrochen sich in den äußersten Winkel des Unterstandes, und mit einem herzlichen, aber überstürzten „Ich danke Ihnen!** — Heß er auch die Hände, die er fest um- klammert gehalten hatte, fallen.
Gadsky begriff. Auch vor ihm war das mollige Empfangszimmerchen Mathildes aufgetaucht, mit den zierlichen Louis XVI.-Stühlen, die ganz mager und hektisch woirden, und zusammenzubrechen drohten, in der ungewohnten Umrahmung der plumpen, kotigen Militärstiefel. Er hörte das helle. Hebe Lachen, das Mathilde im.mer im richtigen Moment erklingen ließ, wenn die Debatte zu hitzig wurde, und man nahe
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daran war, sicH zu zerzanken. Die bitter-süßen Sonn- tagnachmittage, die wie ein langsames Absterben ge- wesen waren, wie Leuchtfeuer einer schöneren Welt, die schon im Rücken versank; der ganze melancho- lische Zauber dieser letzten kultivierten Gespräche, über sauberen Teetassen, stieg noch einmal in ihm auf und krallte sein Herz zusammen. Wie Steine waren diese Abschiedsstunden aus dem Morast von Er- niedrigungen hervorgeragt, und nur wie auf den Fußspitzen war man über sie gewandelt, von sechs Tagen zu sechs Tagen für eine Atemspanne empor- gehoben über den Sumpf, in den man doch von Woche
zu Woche tiefer und unrettbarer versank ! Er
sah Krülow mit ab gewandtem Gesicht sich gegen- überstehen, und wußte, daß sie beide jetzt weit weg waren von diesem Erdloch; — und er schloß die Augen, als könnten seine Lider das Bild einfangen,
das noch ein letztesmal vorbeizog.
Als er wieder aufblickte, und die schlanke, f ein- gliedrige Gestalt Krülows, von dem rassigen, kleinen Kopf bis zu den schmalen, aristokratischen Füßen wohl- gefällig musterte, — trat ihm quälend der Gedanke ins Bewußtsein, daß dieser schwärmerische, zart- sinnige Knabe, wie geschaffen um geliebt zu werden, nun hier untergehen mußte, ohne die Freude einer Frau gewesen zu sein! Ohne seinen Reichtum auch nur angetastet zu haben! Ohne eine andere Erinne- rung, als diese flüchtigen Sonntage im Banne einer Frau, die beim Abschied einem andern die Lip- pen bot! . . . Namenlose Erbitterung überkam ihn, und der merkwürdige Einfall schoß in ihm auf, daß Krülow der einzige Mann gewesen wäre, dem er
Mathilde gegönnt hätte nacK seinem Tode.
Dann warf er diese Vermächtnisstimmung mit einem kräftigen FlucK von sich ab und rief mit geballten Fäusten: „Ach was! Wir nehmen hier Abschied, als wäre es schon verbrieft und versiegelt, daß uns
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heute früh der Teufel holt. So weit sind wir Gott Lob noch nicht! Wir wollen uns wehren!**
Krülow gab keine Antwort. Er schüttelte nur mit einem müden Lächeln den Kopf und winkte ab.
Was soll das heißen?** — fuhr Gadsky auf. — „Wollen Sie sich etwa nicht wehren?**
Verlegen blickte Krülow an ihm vorbei und er- widerte ausweichend: „Lassen wir das! Es hat ja doch keinen Zweck! Sie sollten jetzt auch gehen** . . .
Aber so ließ sich Gadsky nicht abfertigen. Miß- trauisch durchwühlte er das bleiche, resignierte Ge- sicht Krülows und erinnerte ihn an die glückliche Er- rettung seines eigenen Bruders.
„Ja, möglich ist freilich alles** — meinte Krülow, den Blick immer noch in eine Ecke des Unterstandes geheftet. Dann versuchte er Gadsky unbemerkt dem Ausgang zuzudrängen und sagte melancholisch: „Es ist ja am Ende so gleich! Irgend einmal müssen wir alle sterben. Ein paar Jahre früher oder später, das** . . .
„Nein! So werden Sie mich nicht los!** — er- klärte Gadsky entschlossen. „Diese Stimmung muß ich Ihnen ausreden! Sie haben auch gar nicht recht. Ganz und gar nicht! Die Natur bricht nichts über*s Knie. Wie ein fleißiger Bildhauer modelliert der Tod die Köpfe seiner Opfer! In Wochen — , oft monatelanger Arbeit wird das Kinn vorgetrieben, werden die Backenknochen herausgeschoben, die Au- gen tiefer gebettet, und erst wenn der Schädel schon das Gesicht verschluckt, wenn alles richtig präpariert, wenn alle Fäden gelockert und dünn wie Spinn- gewebe geworden sind, wird der letzte Riß ge- tan. Es ist durchaus nicht gleich, ob man
Ihnen, gegen den Willen Ihres zwanzigjährigen Kör- pers, brutal einen Zahn aus dem Gebiß heraus- stemmt, oder ob einem Greis die Zähne von selbst aus dem kraftlosen Kiefer fallen. Wir müssen
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uns wehren! Ich habe auch so gesprochen,
solange der Tod noch weit weg, irgendwo, im Nebel hing, wie eine Vogelscheuche, an die niemand richtig glaubt. Aber heute Nacht habe ich mir alles gründlich überlegt. Habe nachgedacht und weiß jetzt,, daß wir vorläufig nur die eine Pflicht haben, uns zu verteidigen. Alles andere kommt nachher!"
„Auch ich habe nachgedacht** — sagte Krülow sehr ruhig, mit einer fast hochmütigen Abv/ehr in der Stimme; und sein Gesicht sah auf einmal ganz grau und verbraucht aus. Um den sanften, weich gezeich- neten Mund lag ein böser, entschlossener Zug.
„Hören Sie, Herr von Krülow!** — rief Gadsky zornig, und trat vor ihn hin, „ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich von hier nicht eher weggehe** . . .
Krülow ließ ihn nicht ausreden. Lächelnd legte er ihm die Hand auf die Schulter und erwiderte be- sänftigend: „Was wollen Sie denn von mir? Ich gebe ja gerne zu, daß Sie recht haben. So war mein Ausspruch auch nicht gemeint! Gewiß ist es ein großer Unterschied, ob jemand mit zwanzig Jahren stirbt oder mit siebzig. Ich wollte auch nur sagen, daß alle Menschen, — ob früh oder spät, gehört jetzt nicht hierher, — einmal sterben müssen, weil man den ersten Atemzug nicht machen kann, ohne sich zu einem letzten zu verpflichten; weil wir alle, ohne Aus- nahme, zum Tode verurteilt sind, von dem Augen- blicke an, da wir uns das Leben schenken ließen.** Er schwieg eine Sekunde, wie um tief Atem zu holen, und setzte dann, mit erhobener, leidenschaftlich er- regter Stimme hinzu: „Aber töten müssen wir nicht alle! Millionen sterben, ohne ihre Hände mit dem Blute andrer Menschen besudelt zu haben! Und das muß, meine ich, jeder mit sich selbst ausmachen, ob** . . .
„Ob er sein Leben hingeben darf, um es anderen, die ihm nicht das Wasser reichen, die für Welt und
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Menschheit ein weit geringerer Verlust wären, zu er- halten?" — schrie Gadsky unbeherrscht und warf sich in die Mitte des Raumes zurück. „Eis ist gar nicht gleichgültig, welche Art Menschen übrig blei- ben werden, wenn einmal diese Schweinerei zu Ende ist! — — — Ich selbst habe eigenthch schon ge- leistet, was ich zu leisten vermag, und kann mich, bestenfalls, wiederholen. Und werde mich doch wehren bis zimi letzten Atemzug! Sie müssen mir
versprechen, das Gleiche zu tun! Wohin
kämen wir denn, wenn alle denkenden Menschen, weil sie die sinnlose Niedrigkeit dieses Mordens erkannt haben, sich vornehm niedermetzeln ließen, und nur die Stupiden und Brutalen übrig blieben, um die Zu- kunft zu bevölkern? . . . Wir sind ja unter uns . . . ich darf Sie also fragen: glauben Sie, daß sich unser Hauptmann zum Beispiel nicht wehren wird? . . . Und wollen Sie, daß alle Menschen seines Schla- ges" . . .
„Er darf sich auch wehren!" — unterbrach ihn Krülow, und kam auch noch einmal in die Mitte, neben den Tisch zurück. — „Er glaubt ja, daß es eine gute Tat ist, mögHchst viele feindliche Soldaten totzuschlagen. Ist fest überzeugt" . . .
„Ach, lassen Sie gut sein" — rief Gadsky ge- hässig — „vor allem wird er um sein Leben kämpfen, wenn es so weit sein wird! Das Sterben ist eine eigene Sache" . . .
Krülow schüttelte ablehnend den Kopf. Der greisenhafte Zug war nun aus seinem Gesicht ver- schwunden ; und an Stelle der Schüchternheit, die so gut zu seinem Wesen paßte, trat die traumwandlerische, verblüffende Sicherheit, die gerade schweigsam- nachdenkliche Menschen zuweilen überkommt, wenn sie endHch den tausendmal durchsiebten Schatz ver- schwenderisch über die Lippen streuen. „Nein!" —
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rief er, — „Sie können sich in diese Art nicht hinein fühlen. Für Sie war der Tod immer nur eine ferne Drohung, an die man nicht denkt; ein Gläubiger, von dem man sich nicht gerne mahnen läßt! Uns ist das Sterben „Für König und Vaterland" auf Schritt und Tritt, auf jeder Ecke, auf jedem Treppenabsatz un- serer Kindheit schon entgegengetreten! Es gibt kein Musikstück, das Sie so sorgfältig eingeübt hätten, als Hauptmann von der Otte den Tod, den er heute früh sterben wird. Sein Studium, seine Arbeit, sein ganzes Berufs- und Privatleben gipfelte in diesem Sterben, wie eine Kirche in dem Kreuz auf ihrer Turm- spitze! Alles, was er je getan und gedacht hat, mün- det irgendwie in diese Opferbereitschaft; und er er- wartet den Augenblick nicht viel anders, als Sie, seiner Zeit, Ihr erstes Auftreten im Konzertsaal.'*
Er schwieg erschöpft; v^e abgelaufen; sank zu- rück in seine Gedanken und fuhr wieder auf, ein scharfes, bitteres Lächeln um den Mund. „Der arme Fröbel hat eben doch nicht ganz unrecht! Rs ist wohl auch etwas Theater dabei, wenn auch unbe- vmßt. Leute, wie unser Hauptmann, sterben nie allein ! Und wenn der Feind sie in einer unterirdischen Zelle verhungern ließe, wohin kein menschliches Auge dringt, das Gefühl: ,Für König und Vaterland' zu sterben, sicherte ihrem Martyrium dennoch eine un- sichtbare Zuschauermenge! Alle Feldherm, von Hsomibal über Napoleon und Moltke bis zu Hinden- burg, und alle Helden der Regimentsgeschichte, alle Lehrer und Kameraden aus dem Kadettenkorps, eine vollbesetzte Gallerie wird dem Hauptmann von der Otte Beifall winken, wenn er es den Franzosen wieder einmal zeigt, wie ein preußischer Offizier zu sterben
versteht. — Das ist es ja: er glaubt! Er
darf und muß sich wehren, denn er glaubt, daß die- selbe Tat, die den einzelnen entehrt, ruhmvoll und ehrenwert ist, wenn sie seinem Landesherrn neue
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Macht und neuen Reichtum einträgt! Er glaubt, daß die ganze Welt bewundernd zu seinem Vaterlande emporblicken wird, wenn es gelingt, die fremde Erde mit den Leichen ihrer Söhne zuzudecken; und hält es ehrlich für seine Pfhcht, nach Kräften dazu beizu- tragen, daß dem Gegner keine andere Wahl bleibe, als sich wehrlos totschlagen oder knechten zu lassen! Warum soll er sich nicht verteidigen? Warum soll er nicht töten, oder sich töten lassen, da doch dieser Glaube so sehr der Kern, das Mark, das Rückgrat seines ganzen Lebens gewesen ist, daß er leichter in Bausch und Bogen auf sein Leben, als auf diese Ehre verzichten könnte? . . . Nur darauf kommt es an! . . . Was uns denselben Entschluß so furchtbar er- schwert, ist nur: daß wir für den Glauben des Haupt- mann von der Otte sterben sollen, und nicht dafür. Weis wir selbst für schön und wichtig halten. Eä gibt also keine andere Rettung, als das Ziel zu ändern! Das Sterben bleibt. Aber ich versuche meinen eigenen Glauben in den Vordergrund zu schieben; dann ist das Opfer nicht mehr schwer!"
Aufgeregt, von einer quälenden Unsicherheit ge- foltert, lief Gadsky kreuz und quer durch den Unter- stand; blieb nur ab und zu vor Krülow stehen, und sah forschend in das flammende, fanatisch ent- schlossene Gesicht. Die Musik dieser hellen, weich strömenden Stimme wickelte ihn ein; ließ seine Nei- gung zu beinahe väterlicher Besorgnis anschwellen. Er durchwühlte sein Gehirn, wollte etwas finden, eine Hoffnung, eine Aufgabe, irgend etwas, das ge- eignet gewesen wäre, den Lebenswillen Krülows zu
stärken, neu aufflammen zu lassen; und
erinnerte sich plötzlich, daß Mathilde immer schon behauptet hatte, der kleine Fähnrich trage eine un- sichtbare Domenkrone, eine Verzücktheit in seinem Wesen, und gerade dieser verbissene Savonwolazug in dem sonst so weichen, verträumten Gesicht mache
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seinen Charme aus. Frauen hatten für derlei ver- borgene Leidenschaften einen feinen Spürsinn !
Daher wohl auch die beinahe überirdische Verehrung
Krülows für Mathilde? — Er fühltö sich
verstanden, erraten vielmehr, und Blitzartig
überfiel Gadsky der Gedanke: Mathildes Namen ins Treffen zu führen! Und schon stürmte er mit großen Schritten an den Tisch zurück, ganz nahe an den Fähnrich heran, und rief; „Ich wollte, Fräulein von Moellnitz wäre hier, um mir zu helfen! Die würde Ihnen den Kopf schon zurecht setzen!"
Wie mit Blut Übergossen wandte Krülow sich ab, ins Gesicht getroffen von dem Namen, der seit Stunden schon unausgesprochen zwischen ihnen ge- schwebt war, und nun, gleich einem Faustschlag, auf ihn niedersauste. Er schwankte, — riß sich los, — und ging schweigend, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, durch den Raum. Gadsky sah ihm be- schämt nach, suchte nach Worten, um seinen Ueber- fall zu entschuldigen. Aber schneller als er, hatte der Fähnrich sich gefaßt, kam zurück, und erwiderte ruhig, mit einer kühlen, freundlichen Ueberlegenheit : „Fräulein von Moellnitz würde mich gut begreifen, davon bin ich überzeugt. Sie hat mir selbst gestanden, daß sie sich angewidert fühlt von den Männern, die prahlend aus dem Felde zurückkommen, und mit den Morden, die sie auf dem Gewissen haben, wie Ver- brecher in Kreise ihrer Spießgesellen sich brüsten!**
Er dachte kurz nach; dann legte er die
Hand wieder auf Gadskys Schulter und sagte gleich- sam abschließend: „Glauben Sie mir, auch ich habe diese Dinge gründHch überdacht! Und nicht heute Nacht erst. Seit ich die ersten Verwundeten und Toten aus der Nähe gesehen habe, weiß ich bestimmt, — ganz bestimmt, daß es nichts, nichts — nichts — nichts auf der Welt geben kann, was dieses Morden zu rechtfertigen, oder gar zu heiligen vermag! Was ich
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früher nur vermutet, als schmachvolle Schwäche in mir bekämpft habe, ist jetzt — und das danke ich in erster Reihe Ihnen, und auch Fräulein von Moell- nitz, — unerschütterliche Gewißheit geworden. Ich glaube nicht, daß es unter irgend welchen Um- ständen ehrenvoll sein kann, unschuldige Menschen niederzustechen und mit Kugeln zu durchlöchern I Ich glaube nicht, daß irgend jemand wirklich das Recht hat, diese Tat von mir zu verlangen 1 . . . Was man von mir nur fordern kann, ist, daß ich lieber mein Leben hergebe als meinen Glauben. Und das werde ich tun! Ich werde nicht töten! Ich werde weder stechen, noch schießen; denn daß andere, irregeführte Menschen bereit sind, mir das Leben zu rauben, kann für mich kein Grund sein, das Gleiche zu tun. Ich werde dafür sterben, was ich für meine Pflicht halte; dafür, was mir gut und ehrenvoll scheint, —
genau wie der Herr Hauptmann ! Bitte
versuchen Sie nicht, mich zu überreden! Es wäre
nutzlos. Sie müssen jetzt auch gehen! Es
gibt sonst eine peinliche Szene, wenn man Sie hier
überrascht. Wir sehen uns ja noch! Und
vielleicht kommt es gar nicht so weit? Vielleicht ziehen wir ab, bevor die Franzosen angreifen. Gehen Sie jetzt, bitte!** Und scherzhaft, aber mit einem ganz leisen Unterton von Ernst, setzte er drohend hinzu: „Sonst kehre ich den Vorgesetzten heraus und lasse sie abführen!**
Widerstrebend nur ließ sich Gadsky dem Aus- gang zudrängen. Als er vor der finsteren Oeffnung, die ins Freie führte, noch einmal den ganzen, grimmig nüchternen Raum überblickte und sich so Hand in Hand mit Krülow dastehen sah, durchzuckte ihn über- raschend der Ausspruch Fröbels: „Als spielte hier alles Komödie!** . . . War es nicht wie eine geschickte Theaterdekoration? . . . Wie der effektvolle Aktschluß eines Heldendramas? . . . Zwei Männer in finsterer
Latzko, „Friedensgericht" 11 «Ol
Nacht, — draußen lauert der Tod, — das Bild einer geliebten Frau schwebt über beiden, — und sie reichen sich die Hände, stumm, — gefaßt, — mit
Tränen, die das Auge nicht erreichen.
Nein! Dieser hier spielte wahrHch nicht Komödie I Nahm sein junges Leben in die Hand und warf es hin; — gläubig, — ohne an den Effekt zu denken, der ihn nur herabsetzen und beschmutzen konnte.
Und doch! Irgend wie, — das
fühlte Gadsky in dieser Sekunde quälend deutlich, — irgend wie spielte doch alles, was je über Todes- bereitschaft und herben Mannesmut, zwischen cachierten Burgverließen, mit falschem Pathos dekla- miert worden war, in diesen Abschied hinein! So ehr- lich ihre stumme Entschlossenheit auch war, so unab- hängig sie sich auch von der Menge und ihrem Urteil fühlten, — tief in ihnen schlummerte doch immer noch die umeife Bewunderung ihrer Knabenjahre für Hel- den, die ihr Leben wie Spielmünze hinwarfen, — glühte noch das Fieber durchlesener Nächte, — die ganze vergiftende Wirkung einer blut- und tränen- reichen UeberHefenmg ! Die MögHchkeit
einer entgegengesetzten Romantik, die aus Bausteinen, wie Fröbels unzerstörbare Lebensgier und Krülows fanatische Andacht vor fremdem Leben, eine ganz andere Welt errichten könnte, durchflammte ihn, wie
eine ferne Ahnung. Dann sank er wieder
zurück in die trostlose Gegenwart, und ließ sich von den kühlen, leise vibrierenden Händen Krülows hin- ausschieben in die Dunkelheit.
Draußen blieb er noch eine Weile stehen; heiße Tränen in der Kehle; versucht, doch wieder zurück- zugehen und nicht nachzugeben, ehe es ihm nicht gelang, Krülow ein Versprechen abzuringen. Mit einem schweren Seufzer ergriff er endlich sein Ge- wehr, nahm sich das feierliche Gelübde ab, keinen vSchritt von der Seite des Fähnrichs zu weichen, sein
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Leben restlos für ihn einzusetzen, dann riß
er sich los und ging.
Unmittelbar vor dem eigenen Unterstand bog er kurz entschlossen ab. Er wollte die wenigen Stunden bis zum Morgen allein mit sich selbst verbringen; nicht Fröbel über sich zu Gerichte sitzen Icissen, mit seinem vorwurfsvollen Tränenblick. Er krempelte den Mantelkragen hoch, und machte sich auf die Suche nach einer verborgenen Ecke. Vielleicht gelang es doch, einen Teil der Wartezeit zu verschlafen? . . . Schon färbte sich die Dunkelheit über dem Graben blau-schwarz; der Wind hatte sich gelegt; nur hoch oben, unter dem unsichtbaren Gewölbe, ging ein Rauschen wie durch geblähte Segel.
Einige Schritte weit von der leeren Munitionskiste, auf die er wieder zusteuerte, sah er einen Soldaten, den Kopf gegen die Grabenv/and gelehnt, — und erkannte, bei näherem Hinschauen, den Gesangs- komiker. „Nun, was hab' ich gesagt?" klang es ihm traurig entgegen; und er mußte lächeln, trotz aller Sympathie, über den gemütlichen Sing-Sang dieser Sprache, die an übermütige Nächte in Spezialitäten- theatern, an vielbelachte Anekdoten erinnerte, und so seltsam fremd und widersprachsvoll aufstieg, in der heroischen Umgebung von Sandsäcken und Graben- mörsem.
Verlegen suchte Gadsky nach irgend einem trost- reichen Satz, den er dem Kleinen hätte schenken können; und erzählte ihm endlich von der Gefangen- nahme des älteren Krülow, mit einer schüchternen Nutzanwendung, die nicht gerade überzeugend klang. Der Schneider schwieg eine Weile, wiegte nur nach- denklich den Kopf, ängstlich besorgt nicht heraus- zutreten aus dem Schatten, der sein Gesicht vor prü- fenden Blicken beschützte. Dann zog er mit einem Mal die Achseln bis über die Ohren, ließ beide Arme hochfliegen und erwiderte bitter: „Der Herr von
n. 163
Krülow? ... Ja, so ein Kavalier, der mit*n Schnuller im Mund schon hoch zu Roß gesessen ist! Wenn ich denselben Schuß in meine schmale Schneiderlunge kriege, bin ich tot, bevor die Franzosen unseren Graben erreichen. Uebrigens ! ... Warum wollen Sie mir Hoffnung machen? Helfen Sie mir lieber die Hoffnung aufzugeben! Seit zehn Stunden tu' ich schon nichts, als mir einreden, daß ich verloren bin ! . . . Und kann*s noch immer nicht glauben.**
Gadsky senkte den Kopf und starrte auf seine Stiefel. Es war zu traurig, diesen schlagfertigen Spaßmacher so ganz anders reden zu hören, als man es von ihm gewohjit war! Er hatte, weiß Gott, recht!
Wozu ihm Hoffnung machen? Und doch
konnte sich Gadsky nicht entschließen, den armen Teufel einfach stehen zu lassen, allein mit seinem erschwitzten Gleichmut, der ihm so schlecht, beinahe spassig, wie der Sturmhelm zu Gesichte stand. So legte er, zum Abschied, die Hand auf die Schulter des Schneiders und sagte mit einer Wärme im Herzen, die er willig in seine Stimme überströmen Heß: „Bleiben Sie nicht hier draußen! Man trägt es viel leichter unter Menschen, wenn man sich ein wenig zu- sammennehmen** . . .
Noch ehe er den Satz beendet hatte, entzog sich die Schulter seiner Hand, und eine ganz fremde, ge- hässige Stimme ließ ihn erschrocken zurückprallen: „Ich danke! Das darf sich der Herr Unteroffizier Fröbel erlauben, ich nicht! Darüber hab* ich gerade nach- gedacht, als Sie gekommen sind, wie schön Sie es alle haben! Wenn Sie mutig sind, dann kämpfen Sie wie einer von den vielen braven Deutschen. Weim Sie aber weiß, wie ein Bettuch, im Unterstand herum- sitzen, mit verweinten Augen, dann sind Sie der feige Karl Fröbel, und weiter nichts! Ich muß mich hier verkriechen, damit nicht für jeden Seufzer, den ich mir zuschulden kommen lasse, meine drei jüdischen
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Kameraden im Bataillon mitbezahlen müssen. Und wem nütz* ich was, wenn ich mich zusammennehme? ... Ich habe mich gerade gefragt, wem es zugute kommen wird, wenn ich hier so großartig sterben werde, als wäre ich mein Leben lang ein Löwen- bändiger oder Drachentöter, und nicht ein kleiner jüdischer Schneider gewesen? . . . Niemandem, sage ich Ihnen! Kein Mensch wird was davon haben! Kein Mensch auf der ganzen Welt! Wenn meine armen Buben einmal groß sein werden, wird man sie doch wieder feige Juden heißen, ganz gleich, ob ihr Papa ein Tiger war oder ein Hase."
Erschüttert lauschte Gadsky diesem bitteren Grimm, der ihm ^vie eine giftige Flamme ins Gesicht spritzte. War das wirklich der „Gesangskomiker'*, der so sprach? Konnte man so monatelang neben einem Menschen dahinleben, ohne den Haß zu ahnen, der ihn zerfraß. „Ihre zwei Buben werden eben nicht mehr so heißen!" — sagte er energisch, mit be- wußt forcierter Entschiedenheit. „Sie haben doch"
Ein höhnisches Lachen schnitt ihm das Wort ab. „So? ... Meinen Sie? ... Dann werde ich Ihnen was erzählen. Gestern war die Reihe an mir, den Unterstand der Herren Offiziere auszumisten; und da habe ich mir ein paar alte Nunmiem von der Zeitung mitgenonmien, die sich unser Herr Haupt- mann schicken läßt. Wollen Sie den Artikel lesen? Sie können ihn haben! . . . Da steht, schwarz auf weiß, daß v/ir Juden die Geier dieses Krieges sind, daß wir nur Papiersohlen verkaufen, und Wucher- geschäfte machen, und die feinen Restaurants über- schwemmen. Von uns vieren hier im Bataillon weiß der Mann nichts! Natürlich, er sitzt ja auch in den feinen Restaurants, sonst wüßte er nicht so genau, wer sich dort satt frißt. Aber können Sie mir sagen, warum er sich nicht einmal die letzte Seite von so einem ver-
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dämmten Judenblatt etwas genauer anschaut, und die Siegfried Cohns und Moritz Rosenthals zusammen- zählt, die sich dort, geehrt mit dem eisernen Kreuz neben ihrem Namen, als Helden empfehlen? . . . Lassen 's mich zufrieden! . . . Meine Buben haben genau so krumme Beine und so krumme Nasen ^vie ich. Und wer sie trifft, wird immer nur an die fetten Gauner denken, die er irgendwo Hummern fressen und Brillanten tragen gesehen hat; und niemand, nie- mand sag' ich Ihjien, wird was von den vielen tausend krummen Nasen wissen wollen, in die hier draußen
die Würmer kriechen! Sie brauchen sich
nicht zu entschuldigen. Sie können ja nichts dafür!'*
Stumm streckte Gadsky dem Kleinen seine Hand entgegen, tief gerührt von dem gutmütigen Schlußsatz, der allen Vorwürfen die Spitze abbrechen sollte. Er fühlte die Dankbarkeit, die schüchtern hinter diesem Freispruch hervorschielte, und die Herzlichkeit, mit welcher der Schneider seine Hand umklammerte, be- schämte ilm. Hatte er sich nicht auch fleißig an den billigen Witzeleien beteiligt, früher, im Hinter- land, wenn die dicke Frau Schneidermeisterin im Sonntagsstaat, flankiert von den abstehenden Ohren der beiden SprößHnge, ihren Mann vor der Kaserne
abholte? Wie viel Selbstüberwindung,
wie viel fressende, mühsam unterdrückte Empörung mußte das devote Männchen, hinter der gutmütigen Maske verborgen, in sich umhergetragen haben! Und weil in letzter Stunde, in die Einsamkeit, in die er sich trotzig zurückzog, wie ein angeschossenes Tier, einige gnädige Worte fielen, — weil dem auf- blitzenden Zorn, ehe er für immer verstummte. Einer herablassend sein Ohr Heh, das Almosen einiger Minuten schenkte, fühlte er sich schon reichlich ent- schädigt, preßte die Hand des Feindes so heiß, als hätte sie ihn nie geschlagen!
Es war schwer, eine Entgegnung zu finden auf
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diesen Angriff. Das war nicht flüchtige Laune! Diese Vorwürfe waren tausendmal durchdacht; in Stunden der Erniedrigung gründhch ausgetragen. „Sie sehen zu schwarz!'* — entfuhr es Gadsky, nach langem Schwanken; und der Schrecken über die frostige Banalität seines Ausspruches wich der Scham, als der Schneider, entgegenkommend, auf den konven- tionellen Ton einging, mit gequältem Lachen den Scherz zurückgab: „Ich heiße ja Schwarz, wie Sie wissen."
Wieder kam, wie kurz vorher im Offiziersunter- stand, das Gefühl über Gadsky, auf einer Bühne zu stehen. Die Frage: „Warum spielen wir uns jetzt noch gegenseitig Komödie vor?** fiel ihn an. Er ließ die Hand des Schneiders fahren, und wandte sich zum Gehen, durchfröstelt von der Erkenntnis, daß nur seine Gegenv/art diesem braven Hasenfuß die Kraft gab, sich Scherzworte von den Lippen zu reißen! Warum ihn noch länger zwingen, sich zu verstellen ?
„Viel Glück!'* — warf er hastig über die Schulter zurück.
Der Kleine lachte ihm nach: „Glück? . . . Was heißt noch Glück? Wünschen Sie mir einen guten Kopfschuß!*'
Gadsky trug die bitteren Worte mit sich fort, und zog unbewußt die Schultern hoch, angesteckt von der übertriebenen Gelenkigkeit des andern. Mit großen Schritten eilte er zu der leeren Kiste zurück, sank nieder, wie gerädert, als wäre ihm all die Not, die er auf seinem Rundgang gestreift hatte, irgend wie in Gewichten angehängt worden; — als hätte ihm Fähnrich von Krülow seinen entschlossenen Todes- willen, Fröbel seine rasende Angst, der kleine Jude seinen Sklavenhaß, in Stein gehauen, auf die Schultern geladen. Und das alles war nur ein verschwindend kleiner Ausschnitt! Weniger als das: ein Tropfen
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nur. Ein zitternder Tropfen, der morgen früh ver- schwunden sein wird, — aufgesogen vom ersten Sonnenstrahl!
Fähnrich von Krülow, der Gesangskomiker, Karl Fröbel, er selbst, und das gsmze Bataillon, imd die benachbarten Bataillone noch dazu, — — — das alles, alles zusammen war noch nicht der Erwähnung wert! Wenn es gelang, den Feind so lange festzu- halten, bis das Armeekorps die neuen Stellungen be- zogen hatte, — dann flog morgen abend trium- phierend der Satz in die Welt hinaus: „Mit ganz geringen Verlusten gelang es uns** . . , oder „Unge- stört vom Feind**.
Ganz geringe Verluste, — das waren sie, alle zu- sammen! Das Bangen dieser letzten Nacht, ihr aller Zittern und Hoffen, dieser ungeheure Ballen aus gestautem Lebenswillen, — — — ganz geringer Verlust! Kupfergeld, das man hinstreut, ohne es zu zählen.
Ein leises Grau sickerte schon in das Dunkel, hob, aus dem schwarzen Fluß zu seinen Füßen, ver- schwommen die Randlinien der Bretter, die durch den Graben liefen. Schaufeln und Spaten und andere Geräte, auf den Boden hingestreut, die Gewehre, die an den Wänden lehnten, waren noch nicht genau zu erkennen; lösten sich nur langsam frei, als bekämen sie eben erst ihre Formen. Gadsky suchte sie zu er- raten. Und während sein Blick in die zerfließenden Konturen die Gestalt eines Spatens oder Gewehres goß, stieg, mit hartnäckiger Ausdauer, immer wieder das Wort; „Toter Gegenstand** auf seine Lippen. „Toter Gegenstand** . . . „Toter Gegenstand** . . . murmelte er skandierend vor sich hin; bis der Aus- druck gleichsam Gestalt bekam, von der aufsteigenden Dänmierung in feste Formen gegossen wurde, und ihm an die Rippen sprang, wie ein grimmiger Jagdhund. „Toter Gegenstand!** ... Es ließ nicht mehr locker!
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Zerrte und stieß ihn hinein in sinnlos wilde Sehnsucht nach solcher Unverletzbarkeit.
Nichts, nichts konnte ihnen was anhaben! Und wenn die Granate auch den Stiel zerbrach, das Blech verbog, zu einem wunderlichen Blumenkelch zu- sanmienroUte, tote Gegenstände konnten nicht sterben! — Der fürchterliche Schritt in das Nichtsmehr- fühlen hinüber, das Abgerissenwerden vom Leben, das unfaßbeure Geheinmis, das aus jeder Leiche schrie, diese Glücklich-Totgeborenen wußten nichts von diesen Aengsten! — — — — Wahrhaftig, der arme Fröbel hatte recht: es wai nicht leicht, sich gleich zu denken mit dem Spaten, der da eben lang- sam aus der Grabenwand trat. Und es war doch so! Ein Ueberlebender, der seinen Fuß auf jenen zer- brochenen Schaft, und gleich daneben, auf die ent- seelte Brust Georg Gadskys
Wild sprang er auf, erbost gegen sich selbst, sah über die Brüstung ins Feld hinaus. Noch fiel der Blick ins Leere; nur die Pfosten in nächster Nähe, die Erdhügel unmittelbar vor dem Grabenrand, ragten in die silbergrau durchwirkte Finsternis.
Da drüben, — dachte er, — hinter dem Vorhang, der jetzt noch, beide Teile schützend, niederhing, saßen die anderen! Saßen Menschen, den Kopf zwischen den Händen, bangend vor dem Morgen, wie er. Vielleicht saßen Bekeointe, Freunde so- gar; — — — vielleicht kauerte der Sohn einer Freundin, der Mann, der Bruder einer Frau, die ihn mit fiebernden Lippen geküßt hatte, unter ihnen? Und vielleicht v^rd gerade einer, der ihn bewundert, vor einem Jahre noch verzückt seine Hände gedrückt hatte, heute mit Kolben oder Bajonett ihn niedermachen wie ein tolles, schädliches Tier. Warum? . . .
War das nicht Wahnsinn? . . . Tobsüchtige Ver- blendung? . . .
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Unbemerkt glitten seine Gedanken zu dem ersten Nahkampf zurück, dem einzigen, den er schon über- standen hatte. Immer mehr wurde die tastende Er- wartung von den aufsteigenden Bildern der Ver- gangenheit verdrängt, bis er, zitternd vor Erregung, alle Schauer jenes Gefechts, in die Zukunft hinüber- gedacht, neu erlebte. Viel Einzelheiten waren ihm ja nicht im Gedächtnis geblieben, denn es hatte sich von dem Augenblick an, da er schutzlos den Ansturm über das freie Feld antrat, eine merkwürdige Sicher- heit seiner bemächtigt, als wäre die Leitung seiner Arme und Beine irgendwie auf einen Außenstehenden übergegangen. Ihm selbst sauste das Blut betäubend in den Ohren, ein roter Vorhang sank vor seine Augen, daß er nichts sah und hörte, und sich willenlos, blind vertrauend, von dem Fremden führen ließ, der Herr über ihn geworden war. Er lief, wie an einem Seil gezogen, hob den Arm zur Abwehr, als hätte ihn ein anderer emporgerissen, und schlug zu, mit einer Wut, die in ihm, und doch nicht in seinem Hirn kochte ! . . . War es der Trieb, sich zu erhalten, der Wille zum Leben gewesen, von der Gefahr zu seinem Gebieter eingesetzt? ... Er wußte es nicht I Das Ganze ghmmte nur wie eine rätselhafte Erinnerung, an die man nicht gerne rührt, in ihm fort. Allein an das Erwachen, an den Schrecken beim Anblick seiner blutbefleckten Hände, entsann er sich noch genau.
Ob sie nun wiederkehren würde, die geheimnis- volle Sicherheit, im Augenblicke der höchsten Gefahr? ...
Er blickte um sich, — und konnte jetzt schon das ganze, schnurgerade Grabenstück übersehen; jeden Rucksack, jedes Gewehr deutlich unterscheiden.
Der Tag war nicht mehr weit — — —
Fröstelnd stieß er sich ab von der Grabenwand, die ihn gestützt hatte, und trat den Rückweg an zum
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Unterstand. Hier draußen war an Schlaf doch nicht zu denken! Die frische, kräftige Morgenluft hielt alle Sinne wach; er wollte doch lieber hinunter, wo das Brüten der anderen, der stickige Dunst ihres Bangens, wie schwerer Nebel sich auf Auge und Hirn legten.
Auf halbem Wege überraschte ihn der bekannte Laut, das grelle, wimmernde Pfeifen, das in der Ferne blitzschnell aufstieg, und sich dann langsam, lang gedehnt herüberneigte. Schwere Granaten! ... Er blieb stehen, das harte, gespannte Aufmerken im Gesicht, das auch nach tausendfacher Erfahrung noch, immer wieder Leib und Seele verkrampfte . . . Nur eine Spanne zu kurz lagen die Schüsse; wirbelten die Pflöcke des Verhaues schwindelnd hoch in die Luft, streuten einen Hagel von Erde und Steinen auf seinen Weg. Ringsum tauchten aus allen Winkeln flüchtende Soldaten auf, den Schlaf noch im Auge, die Decke hinter sich herschleifend; wie aufgescheuchtes Wild, auf dem V/ege nach dem Unterschlupf. Gadsky ließ sich mitreißen, — flog, vom Luftdruck der nächsten Lage gefaßt, gegen die Wand, — hörte hinter sich, aus dem Krachen und Bersten, einen Schrei auffliegen, — und Hef weiter, ohne sich umzusehen.
Vor dem Eingang stand der Oberleutnant, affek- tiert gelassen, in ein Gespräch mit dem Feldwebel ver- tieft. Gadsky erspähte von weitem schon das höh- nische, herausfordernde Lächeln, das den Laufenden entgegenflog, und fiel sofort in Schritt. Ganz langsam passierte er die beiden, warf trotzig den Kopf zurück, als beißend scharf die Worte an sein Ohr schlugen: „Daß Ihr Euch nur nicht verspätet !*'
Wie hatte Fröbel doch gesagt? . . . „Ist denn mein Leben weniger wert als die Anerkennung des Herrn Hauptmann?'* . . .
Wer das vor einem Jahr Georg Gadsky geweis- sagt hätte! Daß er, — er! sich krampfhaft verstellen, drei Schritte weit vom Tod sich noch Zwang antun
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»verde, einem nichtssagenden kleinen Bankbeamten, einer silbernen Achselklappe zuliebe?
Mit verkniffenen Lippen, ergrimmt gegen sich selbst und auch gegen den Andern, der hier Menschen, wie abgerichtete Hunde, durch feurige Reifen springen ließ, kroch er hinunter, zog sich zurück in seine Ecke, und fiel auf den Rucksack nieder, unwillig, ver- schwitzt und müde. Ja: müde! Müde war er dieses jämmerlichen Spiels, dieser ganzen sinnlosen Komödie, die so unsagbsir klein und schmählich gewesen wäre, ohne das viele Blut ! . . . Er blickte auf, bedrängt von den heißen, keuchenden Leibern, die sich von allen Seiten an ihn wetzten; fühlte sich wie begraben in einen Wald von ungeschlachten, schmutzigen Stiefeln.
Gedrängt voll war der Unterstand, kein Arm konnte sich rühren, ohne daß rechts und links zornige Worte aufflogen. Ein großer, zusammengeballter Haufen von zerstörten Gesichtern, ein Schock todes- banger Menschen, wie aneinander gebunden von der gemeinsamen Angst. „Mit ganz geringen Verlusten*'
murmelte Gadsky hämisch vor sich hin.
„Mit ganz geringen"
Dann nahm er das Bild noch einmal in sich auf; — nickte; — und schloß die Augen, unfähig, den trostlosen, aufreizenden Anblick länger zu ertragen. Für eine Sekunde flammte noch groß und mächtig der Verdacht in ihm auf, daß es am Ende doch nur ein böser Traum sein könnte! Eis schrie ja förmlich alles nach einem Ejwachen. Nach einem Versinken dieser Verhaue und Sturmhelme, dieser ganzen, nutzlosen Qual ! . . . Fast fühlte er sich versucht zu lächeln, die
Arme auszubreiten nach diesem Erwachen,
neigte ergeben den Kopf, und schlief ein.
Oben hänmierten die Granaten, jeden Augenblick konnte der Ausgang verschüttet werden; — nach jeder lauten Explosion wurden die Gesichter ringsum fahler; — durchzuckte alle die Vision des Zer-
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quetschtwerdens, des Ersaufens in einer Sintflut aus
Erde. Gadsky schlief. Niedergedrückt von
dem würgenden Atem der übervölkerten Höhle, ver- sank er, wie mit Steinen behängt, in ein Schlangen- gewirr von wild vorbei] agenden Traumbildern. Er sah seinen eigenen Leichnam, auf ein graues Häufchen reduziert wie „Der Franzos**, im Gelände liegen. Ganz genau erkannte er sich, hörte die anderen im Graben über seinen Tod sich unterhalten, und konsta- tierte erfreut, daß also doch nicht alles Be\vußtsein hinschwand mit dem Leben. Nur daß er sich an das Sterben selbst gar nicht mehr erinnern konnte, schmerzte ihn. Er quälte sich ab ; wollte wissen, ob das Erlöschen schmerzhaft gewesen war oder am Ende weniger furchtbsir, als man es sich immer vorgestellt hatte, — und hätte sich schlagen mögen für seine Vergeßlich- keit! Was nun? . . . Sterben konnte er kein zweites- mal. Sollte diese Ungewissheit weiter auf ihm lasten? . . . Der Schweiß brach ihm aus allen Poren, so an- gestrengt durchforschte er sein Gedächtnis, — bis
plötzlich, dicht umringt von seinen Pariser
Freunden, er lebendig, als Gefangener aufrecht stand. Alle waren da, die ihn drüben verehrten, in ganz merkwürdige Uniformen gesteckt, auch die Frauen, und schüttelten seine Hände, und waren nichts weniger als feindselig. Er atmete auf, als der Marquis von Puys, sein alter Gönner, in ordenbesäter Generals- uniform das Gedränge auseinander jagte, um ihn im Auto zu entführen. Er wußte ganz bestimmt, daß der alte Herr lange vor Kriegsausbruch schon gestorben war; hatte ja, auf Wunsch der Familie, ausnahms- weise den Orgelpart übernommen, beim feierlichen Requiem in der Madeleine!... Und der Gedanke kam ihm, den General auszufragen, nach seinen Er- fahrungen mit dem Tod. Aber das Auto fuhr so rasend schnell, daß ihm der Luftdruck den Atem raubte, alle Versuche, ein Wort über die Lippen zu
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bringen, scheiterten. Er hörte das Donnern des Mo- tors, klammerte sich am Wagenschlage fest und
flog, aufschluchzend vor Seligkeit, in
Mathildes Arme 1 . . . Er zog sie mit sich, über die Freitreppe hinauf, durch funkelnde Säle, die hinter ihm sofort in Dunkelheit versanken, vor den Flügel hin.
Er schrie, einen tollen, jubelnden Schrei, als
seine Finger — endlich! wieder die Tasten berührten,
und brüllte verzweifelt auf beim AnbHck
seiner Beine, die amputiert waren, bis hoch über die Kniee! Die winzigen Stümpfe reichten nicht bis zum Pedal, er mochte sie strecken und dehnen, soviel er wollte. Außer sich hämmerte er mit den Fäusten in das vermaledeite Instrument hinein und brüllte vor Schmerz und Wut, bis er erwachte.
Erstaunt, unsicher, sah er sich um, weiter verfolgt von seinem eigenen Wutgeheul, das jetzt aus nächster Nähe, von fremden Lippen kommend, auf ihn ein- drang. — — — Der Oberleutnant lag blutüber- strömt, gräßlich zugerichtet, nur zwei Schritte weit von ihm, auf dem Boden, warf und krümmte sich, suchte mit übermenschlicher Kraft seine Arme frei- zukriegen, um hineinzugreifen mit den Fingern in seinen klaffenden Leib. Gadsky erkannte allmählich auch den Hauptmann, der sich besorgt über den Ster- benden beugte, — und sprang auf. Was war hier ge- schehen? . . . Hatte nicht auch der Hauptmann blutige Schrammen auf der Stirne; eine dicke Kruste aus
Lehm da da mußte ein Treffer in
den Offiziersunterstand
Und Krülow? . . . Wie ein kalte Klinge durch- schlug der Schrecken seinen ganzen Körper! Wo war Krülow? ... In wilder Eile durchjagten seine Augen den Raum, und alles begann um ihn zu kreisen, als nirgends der liebe, schmale Kopf über die Reihen ragte ... Er drängte sich vor, — suchte beim Ein- gang, — hinter dem Gedränge auf der Erde, — um-
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sonst! Torkelnd lehnte er an der Wand, kaum fähig, das Schluchzen, das ihm in die Kehle stieg, nieder- zuhalten. Schwer nur entschloß er sich, den Feld- webel, der mit dabei gewesen sein mußte, denn er sah wie im Lehm gebadet aus, um Auskunft anzugehen. Der Gestrenge musterte ihn abweisend, ließ sich aber doch zu einigen Andeutungen herbei. Der Herr Fähnrich hatte, — so sagte er, — ein „Mordsschwein'* gehabt, war eine Stunde vor Beginn der Beschießung, mit einer „Mission" betraut, aus dem Unterstande abgegangen. Ueber den näheren Charakter dieser „Mission" konnte Gadsky nichts erfahren. Nur daß es sich um ein gemeinsames Unternehmen mit dem Nachbarbataillon handeln mußte, konnte er erraten, denn auch der Name eines jungen Leutnants vom nebenanliegenden Regiment war einmal in der hin- geworfenen Bemerkung aufgetaucht.
Erleichtert zog sich Gadsky zurück, angstvoll be- müht, die Gedanken nicht zur Kenntnis zu nehmen, die in ihm aufwirbelten. Er wollte — wollte — wollte nicht neidisch sein! Drängte sich mit geballten
Fäusten von seinen eigenen Gedanken weg
und hörte doch immer wieder das Wort „Gerettet!'* wie eine Fanfare schmettern.
Neid? . . . War er neidisch? . . . Nein! Pfui Teufel! Diesem lieben, guten, warmherzigen Jungen
gönnte er das Leben, auch wenn Jawohl!
Er gönnte Krülow
Wie aus dem Fenster eines jagenden Schnellzuges, sah er den blühenden Lazarettgarten wieder an sich vorbeiflitzen, ahnte, hinter der Fliederhecke, den
Fähnrich neben den beiden anderen, und
riß sich los, empört über die Niedrigkeit seiner Miß- gunst! Krampfhaft suchte er eine Ablenkung, und erblickte, in der Mitte des Raumes, den kleinen, ein- gesunkenen Hügel, regungslos, mit dem Offiziers- mantel überdeckt. Geheinmisvoll war diese Ruhe!
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Unter hundert Schlafenden wollte er auf den ersten Blick den einzigen Mantel herausfinden, der einen Toten deckte; so grausam war das Schweigen, das in
diesen Falten kauerte! „Daß Ihr nur nicht
zu spät kommt!** — hatte der Tote vor kurzem noch gespöttelt, als wäre Sterben ein Kinderspiel; und lag nun da, als erster am Ziel. Ihn kümmerten die Grana- ten nicht mehr, die sich oben brüllend in die Erde wühlten, so tief, daß der ganze Unterstand zuweilen wie ein Schiffsleib wankte. Führte die „Mission** durch dieses höllische Feuer, dann mußte der arme Krülow wirklich ein „Mordsschwein** haben!'*
Vielleicht, wer konnte wissen,
lag er schon, „gerettet**, wie dieser hier, irgendwo in einem Trichter? War auch erlöst.
Mordsschwein? — — — Was hieß jetzt noch Glück? Ein guter Kopfschuß.
Wo war er eigentlich hingeraten, der Gesangs- komiker? Gadsky sah sich neugierig um, und sein Blick blieb hängen an einer merkwürdigen Szene: der diensttuende Gefreite stand in der nahen Ecke, beugte sich nieder, und sprach sehr eifrig auf irgendjemand Unsichtbaren ein. Er gestikulierte, fuhr sich über die Stime, versuchte den Unsichtbaren mit Gewalt in die Höhe zu zerren, und sah sich, zwischen durch, immer wieder ängstlich nach dem Hauptmaim um, der auf der anderen Seite mit dem Hornisten verhandelte.
Neugierig näherte sich Gadsky, und erkannte den „Kapuziner**, den geheimnisvollen Mann, der kurz vor dem Ausmarsch erst zum Bataillon gestoßen war, und für gewöhnlich niemanden eines Wortes würdigte. Auch jetzt kauerte er verschlossen auf der Erde, lei- chenblaß, Gebetbuch und Rosenkranz zwischen den fleischigen Fingern, schüttelte nur von Zeit zu Zeit hartnäckig den Kopf. Gadsky lief eine Gänsehaut
über den Rücken. Der Kapuziner wollte,
— — — wollte offenbar nicht hinauf! Sollte auf
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Posten, — und — weigerte sichl Wenn nur
der Hauptmeoin ! Im Grunde hatte er freilich
recht. Solange die Geschütze so eifrig hänunerten, kroch auch der Feind nicht aus seinen Gräben. Aber
wenn der Hauptmann I Aengstlich folgte
nun auch Gadsky dem BHck des Gefreiten, — und atmete auf. Noch war der Gewaltige vertieft in sein Gespräch I
„Ich gehe nicht!" erklärte der Kapuziner erschrek- kend laut; und sofort warfen die Nahestehenden den Kopf herum, üef eine Getrbe von neugierig-erstaunten Blicken in der Ecke zusanmien.
Die Stime des Gefreiten glänzte feucht. Er warf die Arme verzweifelt in die Luft und erklärte, auch schon zornig die Stimme erhebend: „Gut denn, gut denn ! ... Ick bin nich schuld. Ick nich T*
Gadsky winkte erschrocken hinüber. Der Mann mußte doch Vernunft annehmen ! . . . Aber er rührte sich nicht. Preßte den Rosenkranz an die Brust, als wollte er ihn zerquetschen, und schüttelte trotzig den behaarten Patriarchenkopf.
Erzählten sie nicht im Bataillon, der Mann sei wirklich Kapuzinerpater gewesen, und habe die Kutte ausgezogen um heiraten zu können, kurz vor Kriegs- ausbruch? — Gadsky erinnerte sich auf
einmal, daß auf dem Wege von der Kaserne zum Bahnhof eine verhärmte, blaßblonde Frau neben dem Bäitigen marschiert war! Hatte sie nicht ein Kind erwartet? Sein Herz krallte sich zu- sammen bei dem Gedanken, d&s Gerede könnte am
Ende wahr sein! Der stiernackige Riese
sah ganz aus vyde Einer, der sein Leben über den Haufen wirft für ein Weib. Wollte er es ietzt end- gültig von sich schleudern, da der Krieg das schwer erkämpfte Glück so schnell zertrümmert hatte?
Wie Lanzen schleuderte Gadsky seine Blicke in das kreideweiße Gesicht. Ej wäre gerne hinüber,
Latzko, „Friedensgeridit'' 12 '/'
wagtÄ aber nicht, sich zu rühren, da er gerade auf halbem Wege zwischen dem Hauptmann und den beiden stand. Warum hatte er gerade mit diesem Menschen, gerade mit diesem einen, nie ein Wort ge- wechselt? — frug er sich.
„Ich gehe nicht!" — Wie ein Schuß fielen die fürchterlichen Worte zum zweitenmal in das rasch anschwellende Schweigen, so laut, daß der Gefreite alle Hoffnung fallen ließ und sich entschlossen um- wandte. „Nein — Nein — Nein!" flehte Gadsky lautlos, wie früher, als Kind, wenn er die Lektion nicht gut präpariert hatte, und der Lehrer näher und näher an seinen Namen heranblätterte im Klassen- buch. Das Murmeln des Hauptmanns hob sich immer lauter aus dem atemlosen Schweigen, das jetzt schon den gsinzen Unterstand erfüllte. Die Bewegungen des Gefreiten schnitten, scharf wie ein Rasiermesser, in die überspannten Nerven ein.
„Nein!" — wimmerte es in Gadsky; — ■
aber da zischte der gefürchtete Satz schon hinter ihm auf, und hielt die Herzen an, wie tickende Uhren an der Wand.
„V/as gibt*s denn dort?**
Oh, wie er sie haßte, diese harte, häßliche Stimme ! Sie traf ihn in den Leib, daß er, von einer Uebelkeit gepackt, sich das Taschentuch in den Mund stopfte. Der Bärtige erhob sich Icuigsam. Das Schweigen wurde zu einer Schlinge, zog sich immer enger zu, daß alle Augen ringsum schon aus ihren Höhlen quollen. Mcui sah den Gefreiten näher an den Haupt- mann herantreten, schwitzend, stammelnd, mit kurzen, unglücklichen Handbewegungen. Dann öffnete der Kapuziner endÜch die Lippen und warf die Worte: „Ich gehe nicht!", wie spitze Steine dem Hauptmann ins Gesicht.
Der prallte zurück, schob, wie eine bissige Dogge, das Unterkiefer vor und bellte los. Aber der Bärtige
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hüllte sich In seine Ruhe. Erst als der Hauptmann, schon die Hand an der Revolvertasche, mit geifernder Stimme seine Frage wiederholte, lief ein leises, kaum merkliches Zittern durch seinen mächtigen Körper, und seine bleichen Lippen w^älzten das einzige Wort: „Nein!" wie einen Felsblock durch das Dickicht seines Bartes, vor die Füße der tobenden Bulldogge hin.
Noch enger wurde die Schlinge um alle Kehlen! Keine Muskel zuckte; unbeweglich starrten hundert verkrampfte Gestalten, hielten trotzig Stand, als die Augen des Hauptmanns gleich giftigen Kötern durch die Reihen galoppierten, mißtrauisch jedes einzelne Gesicht beschnupperten. Das Schweigen richtete sich auf, eine sprungbereite Bestie, zielte mit hundert Tatzen nach den Schultern des Bändigers, der mit raschem Entschluß den Revolver zog und anlegte.
„Nein!" . . . schrie es in Gadsky. Er schloß die
A^ugen und hielt sich die Ohren zu, aber
der Schuß fiel nicht. Der Hauptmann ließ die Waffe wieder sinken und kreischte: „Nicht einmal Deine Leiche, Du Hund, soll unter braven Soldaten liegen!" Und noch höher kletternd mit der Stimme, daß sie schon umkippte, warf er den Ruf hinterher: „Unter- offizier Fröbel und fünf Mann!"
Gadsky schnellte in die Höhe. Das . . . das war . . . nicht mögHch! Fröbel? Karl Fröbel, der Bettler, der schluchzend seine Kniee umfaßt . . . der . . . der sollte . . . diesen? . . . Nein! . . . Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als hinten beim Eingang die Ge- stalt Fröbels aus einer Ecke tauchte und wie ein Flämmchen, das im Winde flackert, näher wankte. Wollte, wollte er wirklich? . . .
Die suchenden Augen jagten weiter; sprangen jeden an; aber die fünf Mann traten nicht vor. Wie gestocktes Blut starrten düster die Gruppen; stummer, tödlicher Haß schlug seinen Atem in das forschend vorge- streckte Gesicht des Hauptmanns. Da knurrte er einen
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unverständlichen Fluch und schnitt, mit einer Hand- bewegung, fünf Mann aus dem Knäuel, der ihm am nächsten stand.
Und da, — in diesem Augenblick höchster Span- nung, während Gadsky sein flammendes Gesicht näher und näher an Fröbel heranschob, schv/er mit dem Ent- schlüsse ringend, ihn zu stellen; — in diese würgende Erregung hinein, fiel jäh das Wunder I
Der Bärtige sang.
Mit einer wundervollen, weich strömenden Stimme, mit einem warmen, hellen Bariton, der goldklar v^e Waldhonig aus seinem Munde quoll, — aufstieg, - — die Decke sprengte, — Sonnenschein und frische Bergluft in die stinkende Höhle ergoß. Er sang ein Ave Maria, und das Gebet breitete weit die Flügel, drang flehend, in Tränen getaucht, und doch leuchtend hell und gläubig aus seiner Kehle, mit süßem Schmelz, wie aus einem kostbaren alten Cello, dessen Brust die Jahrhunderte gebräunt.
Gadsky warf es an die Wand, riss seine Arme auseinander, wie zum Empfang einer wiedergefundenen Geliebten. „Musik!" — ... „Musik!" — jauchzte es in ihm. Sein Gesicht erstrahlte in seeligem Stolz, als wäre er Vater, Sohn und Bruder dieser Stimme, und seine Augen irrten herausfordernd, — prahlend, von Mann zu Mann, als wollte er jeden einzelnen in die Kniee zwingen vor diesem Wunder, vor seiner Kunst, : seiner seiner Kunst !
„Et benedicta tu" — jubelte der Sänger, und schritt über die Stufen, die er selbst in die Höhe türmte, in den Strahlenglanz seiner Stinmie hinein, — zog alles mit sich, — nahm die Schwere aus den schlaffen, klobigen Gliedern, daß die zerknüllten, welken Ge- stalten ringsum, aufblühend die Erde schwinden fühlten unter ihren Füßen, und sich hinhängten an die Stimme, sich schwebend tragen ließen, hinaus aus
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dem Erdloch, aus Tabaksqualm und Todesangst em- por, in diese weiche Flut.
„Musik!" triumphierte Gadsky; warf
den Blick mitten in das Gesicht der Bulldogge hinein, und heiße Dankbarkeit füllte seine Augen, als selbst dieses harte, böse Gesicht sich langsam zu neigen be- gann, und der Befehl „Vorwärts! Vorwärts!**, — mit geballter Faust gegen den Ausgang hingeschleudcrt, — wie ein Hilferuf, und nicht wie Drohung klang!
Ein Meister zog mit breitem Bogen über die Seele des herrlichen Instrumentes, daß es aufschluchzte zur Gottes Mutter: „Ora pro nobis, nobis peccatoribus**
und jedem, jedem! die Luft in der
Lunge sich staute, als hätte der Sänger den Atem aus der Brust seiner Zuhörer gesogen, um ihn zurück- strömen zu lassen, vergoldet, in endlosen Wohllaut getaucht I
„Musik!**...
Beglückt schloß Gadsky die Augen. In ihm brauste die Begleitung auf, seine Finger spielten auf unsichtbaren Tasten das herrliche, dunkle Gewebe aus düsterem Orgelklang, ließen die starr-ernsten Töne aufragen wie einen Wald edler Tannen, aus deren blutenden Lenden das helle, klare Harz dieser seeligen Menschenstimme troff.
„Musik!**. . .
Er löste sich von der Wand, — ging hinter dem Gesänge her, wie ein Verzückter in der Prozession, — und hatte längst, — längst vergessen, wohin die Stimme stieg! Er wußte nichts mehr von Tod, nichts vom Hauptmann, nichts von den Gewehren, die den Sänger umrahmten . . . hör^e nur „Musik!** und glühte jedem Ton mit Leib und Seele entgegen. „Ob er das A auch nehmen wird?** bangte er, und straffte die Muskeln, als könnte er helfen, mit seinen Kräften der Stimme beispringen, wenn sie die Höhe nicht erklomm.
Und er nahm auch das AI . . . Von oben her,
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aus dem dunklen Schlauch, der zum Ausgang führte, wälzte es sich herab, düster drohend zuerst, dann verklärt anschwellend, wie wenn die Flut die Schiffe lockert, und jedes Sandkörnchen zu neuem Leben sich regt.
Gadsky gab sich hin; und zuckte zu- sammen, als die Stimme plötzlich schwächer wurde, zu ihrem eigenen Echo herabsank, wie weggesaugt vom offenen Graben, in den sie entströmte. Er wollte folgen! — — Da riß sie ganz ab, mit vierfachem Peitschenknallen, dem noch ein Knall nachhinkte. Ein häßliches, kreischendes Organ schrie: „Feige Bande! Wollt Ihr uns den Ausgang verlegen!** — — — und etwas Dunkles stürzte an Gadsky vorbei, dorthin, wo das Wunder verstummt war.
Es dauerte eine Weile, ehe er begriff. Er wollte es anfangs nicht glauben, daß eine solche Herrlichkeit wirkHch zerstört, wie eine Glasscheibe einfach zer- schlagen w^erden konnte ! Dann schrie er auf, fassungs- los; stürmte nach, mit geballten Fäusten, und wollte sie niederschlagen, erwürgen, erwürgen! die Mörder, die es gewagt, ein heiliges Instrument zu zertrümmern, das Gott- Vater selbst zwischen die Kniee genommen hatte, um darauf zu spielen!
Vier kräftige Arme warfen ihn zurück, und ein \vildes Geflüster ging über ihn nieder, bis er schluch- zend, ohne zu wissen, was sie von ihm wollten, in seine Ecke wankte, und erschöpft von der ungeheuren Er- regung, niedersank.
Ein Schrei, ein gröhlender, flatternder Ruf wälzte sich durch den Schlauch, der eben noch herrlichsten Wohllaut gespendet hatte, in die Höhle; weckte ein wildes, hundertstimmiges Echo, das auch Gadsky auf die Füße riß. Willenlos lies er sich emportragen; ge- preßt, gestoßen, getreten, hinaufschieben zum Ein- gang; und atmete auf, als die starke, kalte Luft in seine Lunge drang. Er wachte auf. Einen Augen-
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blick lang nur blieb er stehen, überwältigt von der trostlosen Verwüstung ringsum; erblickte auch den Sänger, den Bart in Blut getaucht, den gesegneten
Mund noch offen, dann fiel die kläffende
Stimme des Hauptmanns ihn an, und auch der Fremde stand wieder in ihm auf, und schleuderte ihn an die Brüstung, der Gefahr entgegen.
Süßblau, wie das Meer an der Cote d*Azur, sah er die Welle heranlaufen, die Granatlöcher und Erd- hügel überschwemmen, mit atemraubender Ge- schwindigkeit. Sein Blut hämmerte wie rasend, er griff sich unwillkürlich an die Kehle, um den Kragen zu lockern, schloß, von einer seltsamen Rührung über- mannt, die Augen, als aus dem heranstürmenden Stim- mengewirr sich ehern und hinreißend die Rhythmen der Marseillaise hoben. Wie oft hatte er sie gespielt! In verschlungenen Variationen mit berauschender Tech- nik über die Tasten gejagt! Und nun fiel sie ihn an, wie ein toller Hund, mit hundert scharfen Zähnen aus geschliffenem Stahl im Rachen! ■. . .
Er wollte sich wehren!
Von diesem Entschluß angefeuert, riß er das Ge- wehr an die Schulter, legte an und schoß. Gelassen zielte er immer in die vorderste Spitze der blauen Welle hinein, so sicher, als wären alle Kräfte seines Körpers in die Fingerspitzen geströmt. Immer näher leckte die Flut! Terrainfalten, die eben noch weit vor ihr gelegen waren, schimmerten im nächsten Augenblick schon blau; und Gadsky feuerte, holte mit einer mechanischen Exaktheit das neue Magazin aus der Patronentasche, nur von dem einzigen Ge- danken beseelt, daß es um sein Leben ging.
„Formez vos Bataillons!** klang es deutlich aus dem Gedröhn; und die zielbewußte Härte, das uner- bittliche Vorwärtsdrängen dieses Gesanges, weckte Gadskys Trotz. „Nun erst recht nicht!**, schrie es in ihm. Die da von ihrem Lied getragen heranmarschierten,
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so flott, als ginge es zum Tanz, als wäre es froKe, gesegnete Arbeit, dem Georg Gadsky die Kehle durch- zuschneiden, nein! die sollten ihn nicht
haben! Nicht solange er sich wehren, solange er noch einen Finger rühren konnte. „Singt nur! Ich will euch die Laune schon verderben!** zischte er wie im Rausch. Schmerzend fest umklammerten seine Fin- ger das Gewehr, und er schoß und lud, schoß und lud, mit aufeinander gebissenen Zähnen; suchte mit gierig vorquellenden Augen ein Dünnerwerden der anrennenden Reihen zu erspähen. Aber die ver- dammte Welle wollte nicht versickern! Wälzte sich über das Feld, verschlang die braunen Furchen, die sie noch vom Graben trennten, immer rascher, ohne zu verebben, trotz der vielen hellblauen Tümpel, die sie dichtgestreut hinter sich zurückließ.
„Qu*un sang impur** brüllten sie schon ganz nahe, und Gadskys Wut flammte noch heller auf, stemmte sich von innen gegen die Wände seines Leibes, so stark, daß er sie nicht mehr in sich zurückhalten konnte, und durch das Ventil seiner Lippen entweichen ließ. „Wollen sehen!** — knirrschte er. — „Sang impur? Sang impur? Wollen sehen! Es soll sich mischen, mein schmutziges Blut! Mischen! Mischen!** Und ohne zu wissen, was er sprach, wiederholte er nach jedem Schuß: „Mischen! . . . Mischen!** . . .
Jetzt ließen sie sich nicht mehr wehrlos nieder- knallen, waren schon nah5 genug, um den Hagel ihrer Handgranaten auf den Graben niederprasseln zu lassen. Die ersten fielen noch ins Vorfeld; Gadsky sah sie bersten, die Erde aufreißen. Steine und Erdknollen hoch in die Luft schleudern, und sein ganzer Körper erbebte, wie gepackt und durchgebeutelt von maß- loser Erbitterung. So sollte sein Leib, sein warmer, fühlender Leib aufgerissen, sein Inneres in die Luft geworfen, weggeschleudert, sein Blut, sein Leben zer- streut, verspritzt werden!
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„Oh die Hallunken I . . . Mischen . . . Mischen!" Wie stampfende Riesen arbeiteten sie sich durch die Verhaue, stürzten die Pfähle, traten den Draht nieder, kamen naher — , näher! Den meisten war das Singen schon vergangen, nur hier und dort krähte noch Einer, aber seine Stimme versank in dem Röcheln, Knirschen und Wimmern der Getroffenen, die wie riesige Spinnen zwischen den Drähten ziappelten, un- barmherzig überrannt, wie Würmer zertreten von den
Nachstürmenden. Aber sie kamen, kamen
näher! In das Knallen der Handgranaten mischte sich, aus dem eigenen Graben aufsteigend, immer dichter das Jammern und Stöhnen der Kameraden.
Ein wilder Fluch entfuhr Gadsky, als seine zit- ternd tastende Hand kein Magazin mehr in den Patronentaschen fand. Jemand mußte ihm aushelfen! Er wandte sich um, und erstarrte beim Anblick der Lücken, die auf beiden Seiten neben ihm gähnten. So viele schon? . . . Der ganze Gnmd des Grabens war ausgefüllt mit einem Gekröse von kriechenden Men- schen, blutigen Gliedern, die aus dem wirren Haufen griffen; da und dort saß einer aufrecht, bestaunte mit unsagbarer Trauer im Gesicht seine Wunde. So!
$0 durften Menschen gemartert, zermalmt,
auf die Erde hingestreut werden, wie Unrat, den man nur angewidert durchwatet? — — — Die Worte Fähnrich von Krülows klangen Gadsky aus diesem Schacht voll Tod und Jammer entgegen, dröhnend laut, wie durch ein Sprachrohr unmittelbar in die
Ohren hineingerufen, und aus der Tiefe
seiner Brust brach, als Echo, ein lallendes, gurgelndes Schluchzen, eine unbeherrschbare, aufbrüllende Empö- rung, die er vor sich hinheulte, unter Tränen, wie ein Kind, das die Striemen des Rohrstocks kneifen.
„Hallunken!" — schrie er in den betäubenden Lärm. — „Hallunken!** — und fühlte sich empor- gehoben wie ein Ballon, von namenlosem Haß. Allen,
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allen, die cfiesen blutigen Teppich vor seine Füße hingebreitet, ihn wirken geholfen hatten, — irgendwo, weit weg, zufrieden ihres Werkes sich freuten, und
dieses Metzgen noch rühmenswert nannten,
allen, allen, hätte er es ins Gesicht speien mögen, das Wort „Halunken!**, hätte ihnen das Trommelfell sprengen mögen, hätte sie hier haben wollen, um sie hineinzudrücken in diesen Sumpf aus blutigem, miß- hsindeltem Menschenfleisch!
„Hallunken!** — gröhlte er heiser, bewußtlos ge- macht von der Erbitterung, die aus dem Gewinsel, das den Graben füllte, in ihn überfloß. Aber der Fremde, der wieder kühl wie ein Feldherr seine Ver- teidigung leitete, zerrte ihn hinüber zu den Hand- granaten, die, nur zwei Schritte weit von ihm, aufge- schichtet an der Brüstung lagen. Sein Gewehr mit der Linken hinter sich herschleifend, sprang er hin, ver- nahm nur wie aus der Feme die Meldung seiner Soh- len, daß sie weich über lebendige Glieder schritten. Er hatte Eile! Hörte oben das verdanmite Lied in großen Sprüngen nahen, die Zähne fletschen nach seinem Leib. Mit den Armen preßte er die errafften Granaten an seine Brust und wollte zurück.
Mitten im Ausschreiten blieb er stehen, spannte alle Muskeln an, um sich loszureißen, und kam nicht frei! Starrte wie versteinert, als hätten seine Blicke Anker geworfen, und ihn mit dicken Trossen hinge- bunden an die verstümmelte Leiche, die vor seinen Füßen lag. Das war Fröbel! War früher einmal der Unteroffizier Karl Fröbel gewesen, hatte sich in ein ekles Gemisch aus Blut und Schmutz und Erde ver- wandelt. Nur die rechte Gesichtshälfte war erhalten geblieben, und rief ihn an, klagend, schmerzverzerrt, wie ein Vorwurf, hämisch mit Blut bestrichen und vor ihn hingelegt. *— •^— — Was konnte er denn dafür? Ihm selbst stand ja dasselbe Schicksal bevor! Er mußte seinen flehenden, sich sträubenden Leib noch
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hineintragen m dieses Morden I War es nicht an ihm, den andern zu hassen, der sich schon in Sicherheit gebracht hatte? ^—
Brennender Neid saugte ihm für eine Sekunde alles Mark aus den Knochen, daß er, schlaff und willen- los, ganz in den Anblick der Leiche versank; sich hineinfraß in das Geheimnis dieser Regungslosigkeit, die nichts mehr zu fürchten brauchte. War es also doch möglich? . . . Karl Fröbel hatte aufgehört, lag wie ein Brett . . .
Mit einem mächtigen Riß befreite ihn der Fremde aus den Krallen des Toten, schrie ihm ins Ohr, daß es jetzt um Georg Gadsky ging, der erschlagen werden sollte, erschlagen! Mitleidslos niedergestampft von den reißenden Tieren, deren Gebrüll sich schon aus nächster Nähe über ihn ergoß.
Wild stürzte er los, den anderen nach, die über Leitern und Stufen, und sich gegenseitig auf die Schultern hebend, hinausstürmten aus dem. Graben, um nicht in dem engen Raum überrannt, wehrlos niedergemacht zu werden, wie Ratten in ihrem Loch. Keuchend unter der Last, die er sich aufgeladen hatte, folgte ihnen Gadsky, erklomm, ohne seine Hände ge- brauchen zu können, nur mühsam den Grabenrand, und war, — als er oben ankam, — so erfüllt von dem Gefühl, sich verspätet zu haben, daß er, ohne sich um- zusehen, vorausstürmte, der heranbrausenden Brandung entgegen.
Er stürzte sich hinein hi die Flut, — fühlte sich gepackt, — beiseite geschleudert, — sah sie über sich hinwegrollen und blieb allein zurück, torkelnd, be- täubt vom harten Stoß, der ihn getroffen hatte. Was war geschehen? . . . Erstaunt stand er da, begriff erst allmählich, daß er sich zu weit vorgewagt hatte, die V/elle, angezogen von den Waffen und Armen, die ihr entgegenstarrten, an ihm vorbei gerollt war, und nun hinter seinem Rücken brüllend nieder-
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ging. Ueber seine linke Schulter rieselte glühender Schweiß; schwer nui* entschloß er sich, sie zu besehen, fand den Aermel aufgeschlitzt und blutig, von einem Hieb oder Stoß, den. ihm einer im Vorbeijagen versetzt haben mußte. Aber er konnte den Arm bewegen! Ließ das Gewehr vor seine Füße fallen und machte Kehrt, die erste Granate wurfbereit in der Rechten. So blieb er stehen, mit aufgerissenem Mund, — und sein fahles, schweißüberströmtes Gesicht verzerrte sich zu einer leidenden Fratze, beim Anblick der ent- fesselten Tollwut, die hinter ihm raste.
Die Welle war zerstäubt, in einzelne Knäuel zer- brochen, die, wirr verflochten, sich vor- und zurück- wälzten, aufeinander trafen, zu einer einzigen, noch größeren Kugel zusammenschmolzen, und sich wieder in kleine Teile lösten. Der Gesang war endgültig ver- stummt; in lautloser Erbitterung hämmerten sie auf- einander los, und nur das krachende Aufschlagen der Kolben, das Bersten der Knochen, das Schreien, Weh- klagen und Fluchen der Verwundeten mischte sich In das allgemeine Keuchen und Schnauben. Gadsky schwang seine Granate immer noch unentschlossen über dem Kopf, besorgt, die eigenen Kameraden zu treffen, wenn er wahllos eine dieser eng verschlungenen Grup- pen aufsKom nahm! Ueberall rekelten sich, bunt vermischt, blaue und graue Arme, wie die Glieder eines scheckigen Polypen; nirgends winkte ein reiner hellblauer Klecks, den er ohne Bedenken hätte treffen können.
Da klang, mitten in sein Zaudern hinein, von rechts her ein Schrei, steil aufsteigend, wie eine Rakete, ge- drosselt von namenloser Angst! Eine bekannte Stimmte schrie: „Nein! . . . Nein! . . . Nein!", — und er erblickte den Gesangskomiker, auf die Knie geschleu- dert von einem ellenlangen Franzosen, der ihn von rückwärts am Kragen gepackt hatte, und sich sofort einer anderen Gruppe zuwandte, als er ihn fallen sah.
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Das Gewehr, das der Schneider hatte sinken lassen, hielt ein Schwarzbärtiger mit dem Fuße nieder, und schwang sein eigenes, mit dem Kolben nach unten, hoch über sich.
„Nei** — — wollte der Schneider noch
einmal rufen, und auch Gadsky öffnete unwillkürHch den Mund zu dem gleichen Schrei, wollte zu Hilfe stürzen, und stand regungslos, gefesselt von dem An- blick des niedersausenden Kolbens. Ein tierisches Wutgeheul brach aus ihm los, als der Schlag nieder- ging, mit fürchterlichem Krachen, mitten hinein in das emporgewandte Gesicht ! Eine Sekunde leing nur stand
er still, dann sauste seine Granate los, und
eine seelige Entspannung befreite ihm die verkrampften Glieder, als er den Bärtigen berstend vornüber sinken sah. Aber in der kurzen Sekunde wau: der An- blick des zertrümmerten Menschengesichtes meilentief in ihn hineingefallen! Dieses Gesicht, — heiß zurück- ersehnt, — in Gedanken mit Küssen bedeckt, ein ein- ziges, tief gähnendes Loch war es geworden! Ein Loch, das alles einschlang: die Augen, die eben noch so flehend aufgeblickt hatten, die weit vorspringende Nase, die so viel Spott hatte tragen müssen, alles, — alles war ein großes, blutumstarrtes Loch geworden, nur von den Zähnen und den schütteren, schwarzen Haaren umrahmt!
Mit überwältigender, übermenschlicher Gewalt brach von neuem die Wut in Gadsky los, die schluch- zende, geifernde, rasende Wut, gegen eine Welt, die Solches zuließ, ruhig in den Betten lag, den gewohnten Geschäften nachging, während hier Solches, — Sol- ches geschah, in Menschengesichter hinein die Kolben
sausten ! In seinen Armen und Augen hockte
der Fremde, der kaltblütige Beobachter, der nur die eine Sorge um Georg Gadskys Leben kannte; — aus der Tiefe seines Seins aber sprudelte der Haß, der Herz und Hirn durchlodernde Haß gegen jene, die
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solches Tun mit tönenden Worten verschminkten, Kindern, deren Väter hier bei lebendigem Leibe aus- geweidet wurden, dieses Schlachten als leuchtendes, nachahmenswertes Beispiel priesen !
Seine Granaten flogen in raschem Aufeinander mitten hinein in die sich lichtenden Gruppen. ELr sah sie niedergehen, und während erbitterte Lebensgier ihm schon die nächste in die Hand drückte, und seine Muskeln bis zum Bersten spannte, strömten über sein Gesicht die Tränen, und sein Mund stieß in harter, schluchzender Empörung, • — ■ gehackt, im Rhythmus der abschnellenden Granaten, — einzelne Wort«, die Pfeiler seines Hasses, in die Welt hinaus ;
„Menschen! ' — Väter! Blutiges
Loch! — • — • " Hallunken! — - - — Hallunken!'*
Die Granaten gingen zur Neige; er schwang schon die Vorletzte über seinem Kopfe, da zog sein Vertei- diger den Tränenvorhang von seinen Augen, und zeigte ihm die wutverzerrten Gesichter, die sich, aus dem Knäuel lösend, plötzlich ihm zuwandten, auf der Suche nach der Quelle der neuen Gefahr. Blitzschnell beugte er sich nieder, ergriff sein Gewehr beim Lauf, und rannte seinen Mördern entgegen. Zitternd an allen Gliedern, blind und taub, von einem Flackern und Flimmern und Dröhnen umbraust, schlug er zu, und schlug und schlug, ohne zu wissen, ob er getroffen hatte, ohne zu sehen, wohin der Kolben fiel; schlug und schlug, und sah nur sein eigenes Leben, aus seinem Leib hervorgetreten, sich gegenüberstehen, umringt von erbar- mungslosen Mordgesellen, die es packen und erwürgen wollten, — sein Leben! — hineinschlagen wollten in das emporgewandte Gesicht seines Lebens, bis es ein- brach, verschlungen von einer blutigen Schlucht!
Frei, frei, frei mußte er es kriegen aus
diesen Krallen! Zurück zu ihm mußte sein Leben und er schlug und stieß und trat und hära-
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merte, -— -^ bis plötzlick eine Stille über ihn
hereinbrach, und er da stand, mit wankenden Knieen, allein mit dem Keuchen semer Brust und dem Brausen seiner Adern.
„Gerettet?" . . . durchflammte ihn jauchzend die Frage. „Gerettet?'* ... Er wagte nicht, sich umzu- schauen, wollte nichts wissen von dem schweren, warmen Gewicht, das über seinen Füßen lag, an seine
Beine sich rieb. „Gerettet?** — frug er sich
immer wieder, zweifelnd und doch hoffnungsvoll; und griff um sich, eine Stütze suchend, unfähig, sich länger aufrecht zu halten in dem Strudel, der sich mit wahn- sinniger Eile um ihn drehte.
Da schlug aus der Entfernung ein bekannter Ton an sein Ohr! . . . Ein heranflutender Jubel! Riß ihn hoch, und versteifte seine Kniee,
„Allons enfants de la Patrie** , . . donnerte es wieder heran, aus hundert freien, kräftigen Kehlen; und als er sich emporreckte, sah er über das weite Trümmerfeld von neuem die lichtblaue Welle jagen! Für einen Augenblick nur überkam ihn trostlose Trauer, sanken seine Arme mutlos herab. Dann durchfiammtc ihn der Entschluß, sich zu ergeben, — und sein Ge- sicht strahlte auf. Er hatte seine Pflicht getan! Hände, Arme, Schultern, sein ganzer Leib war blutüberströmt. Haut und Kleider hingen in Fetzen nieder! Und auch die Munition war erschöpft. Er durfte sich ergeben!
Und der Hauptmaim? . . .
Sein Haß gegen diesen harten, verbohrten Gesellen kochte mächtig auf bei dem Gedanken, daß der auch jetzt noch fähig wäre, ihn über den Haufen zu schießen! Wo war er denn? Lebte er überhaupt noch? . . .
Blind flogen seine Blicke, über die bunt wimmelnde Fläche der Toten und Verwundeten hinweg, zum rechten Flügel hinüber, wo noch die letzte Gruppe kämpfte. Unmittelbar am Grabenrand rollte sie zer-
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bröckelnd hin und her; ab und zu fiel ein kleiner Teil ringend in den Graben hinunter, kämpfte unten un- sichtbar weiter, und das Gebrüll der Ueberwältigten klang noch schauerlicher aus der Versenkung herauf.
Gadsky schwankte. Sollte er sich noch einmal hineinstürzen? . . . Noch einmal sein Leben aufs Spiel setzen? ...
Nein! Die da singend, imverbraucht anstürmten, waren dem kleinen Rest, der sich erschöpft, mit Zähnen und Fäusten noch wehrte, zehnfach überlegen! Auch der Hauptmann konnte nicht verlangen
Der Knäuel der Kämpfenden rollte näher heran. Allmählich begann er sich zu lichten. Die Reihen wurden schütter, der Kern kam zum Vorschein, und — Zorn, Mitleid und Ekel stiegen Gadsky aus dem Magen in die Kehle, beim Anblick der vier Männer, die, halb schon zerrissen, sich tollwütig gegen eine übermächtige Meute wehrten. In ihrer Mitte kämpfte der Hauptmann, ein Eber von den Hunden überwäl- tigt, kein gemzes Fleckchen der Uniform mehr am Leibe, die Kopfhaut von einem Hiebe losgetrennt, daß sie ihm über die Stirne hing, und sein rechtes Auge ver- deckte; nur das Linke starrte blutunterlaufen, gläsern hervorquellend, aus dem vertierten Gesicht. Von allen Seiten schlugen sie auf ihn ein! Er wehrte sich, mit dem Stumpf eines zerbrochenen Gewehres, schnaubend, knirschend, mit gefletschten Zähnen, blutigen Schaum vor dem Munde.
In diesem Augenblick mußte ihn der rasch an- schwellende Gesang der neuen Welle erst erreicht haben, denn er stieß einen Schrei aus, reckte den Kopf noch einmal hoch, und begann zu singen, — nein, nicht zu singen, nur zu krächzen, mit einer hohen, zerbrechen- den Fistelstimme heiser zu krähen: „Deutschland, Deutschland über alles, Ueber alles" —
Wie von unsichtbaren Armen emporgehoben und mächtig durch die Luft geschleudert, stürzte Gadsky
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auf die Gruppe zu. So erschütternd war das Miß- verhältnis zwischen der einzigen, jämmerlich sich blä- henden Stimme und dem mächtigen Chor der Feinde, daß sein Erbarmen mit der Ohnmacht dieser kläglichen Anstrengung alle Bedenken überflutete. Er lief,
watend in dem qualligen Widerstand der
Leichen, bis auf halbem Wege seine Füße
Wurzel schlugen, und die gellende Warnung: „Ach- tung, Herr Hauptm" . . . auf seinen Lippen erstarb.
E.S war zu spät!
Aus dem Graben war der lange Franzose, der auch den Schneider meuchlings niedergerissen hatte, unbe- merkt herauf gekrochen, und rannte sein Bajonett, mit mächtigem Stoß, dem Hauptmaim in den Rücken. Gadsky sah die Spitze vorne aus der Brust dringen, unmittelbar unter dem Hals, sah. den Haupt- mann sich in die Höhe werfen. Arme und Beine weit von sich gestreckt, daß er eine Sekunde lang wie ein
großes X in der Luft schwebte, dann wandte er
sich blitzschnell wieder der süßblauen Welle zu, Heß sein Gewehr fallen und klaubte schon die Worte zu- sammen, die er dem Ansturm entgegenwerfen wollte. Breitspurig stand er da, den Kopf weit vorgeprallt, suchte unter den Gesichtern, die, wie vorgespritzte Tropfen, dem Wellenrücken vorauseilten, mit hart- näckigem Hoffen nach Bekannten.
Da fiel, von iimen auflodernd, jäh die sichere Ahnung, die erschreckende Gewißheit einer nahen Gefahr über ihn her! Die Gruppe, die eben den Hauptmann überwältigt hatte, — — — der lange Franzose, war ja noch hinter ihm! Mit rasender Eile warf er sich herum, sah unmittelbar vor seinen Augen etwas sehr Hohes, Blaues aufragen, — sah die schmale, blanke Schlange reißend schnell auf seine Brust zu*
stürzen, — — warf den Oberkörper zurück
und packte den Kopf der Bestie mit beiden Händen.
Sie biß! Er fiihlte einen heißen, schneidenden
Latzko, „Friedensgericht"
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Schmerz in den Handflächen, und öffnete sie weit,
durchflammt von dem Gedanken: „Händel
Nie mehr, — — — nie mehr spielen können!** Breitete die Arme aus und wollte sehen, ob das Unheil schon geschehen war.
Zwei rote Flecke sah er nur, durch einen Schleie!
leuchten, dann noch ein betäubendes Krachen
und Knirschen, als würden ihm alle Zähne im Munde
zu Brei zermalmt; ein Donnern hinter der
Stime, in der Gehirnschale drinn, dann legte
er den Kopf müde auf die rechte Schulter,
und sank zurück in die finstere Nacht.
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IV. DER VERRÄTER
13'
In schmalen Streifen fiel von oben das Sonnen- licht ein, grell und heiß, floß über die goldenen Kan- delaber vor dem Altar, scheuchte die Heiligen frech aus ihrem Dunkel, daß sie wie geschminkte Schau- spieler aussahen, hilflos und eingeschüchtert, als schäm- ten sie sich ihrer billigen Buntheit. Was die Betten an der Wand, und die Strohlager in der Mitte, unter den Säulen, nicht hatten erreichen können, einer einzigen Granate war es gelungen, der alten Kirche die Weihe zu rauben. Nackt, wie ein ausgeräumtes Magazin, gähnte der weite Raum, als wäre alles, was fromme Christenmenschen jahrhundertelang hineingetragen, in banger Hoffnung vor die Altäre hingelegt, sich flüs- ternd vom Gewissen geladen hatten, entwichen durch die Fensterhöhlen, die gleich aufgerissenen Wunden in der Mauer klafften. Denn die schönen Glasgemälde, die so gewissenhaft darüber Wache gehalten, daß die längstverklungenen Choräle, hoch unter dem finsteren Gewölbe, und die vielen harten Priesterworte, von der Kanzel auf die verdullten Steinfliesen geschleudert, den Weg nicht hinaus finden in die gottlose Welt, — lagen jetzt auf dem kleinen Friedhof, zu einem klirren- den Haufen gekehrte
Zwei schläfrige französische Sanitätssoldaten durchstöberten mit ihren Stöcken die Scherben, ent- zifferten dann und wann den Teil einer Inschrift, legten die Bruchstücke der Heiligenbilder zu grotesken Figuren zusammen, rissen Zoten und lachten. Mit der Zeit bekamen sie aber das Spiel satt, denn die Sonne brannte auf den freistehenden Friedhof nieder, und jagte sie in den Schatten der Kirchhofmauer zurück.
Da lagen sie nun wieder auf ihren Mänteln, den
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Rucksack unter dem Nacken, in der gleichen Positur und genau auf der gleichen Stelle wie gestern und vor- gestern schon, — hörten die Bienen summen, — gähn- ten, — räckelten sich, und nahmen das Räsonieren dort wieder auf, wo sie es vor einer halben Stunde unter- brochen hatten.
„Ob das nicht verrückt ist?" — knurrte der Größere, ein robuster, breitschultriger Vallone mit struppigem, blondem Vollbart. — „Dort vorne jagt man sie wie die Hasen, fetzt sie auseinander, daß sie ihre Glieder vertauschen werden am jüngsten Tag; — und hier rückwärts müssen wir Wache halten, damit die Herren Boches in der Kirche ungestört sterben können. Mir kann's recht sein! Geschehen kann uns hier nichts. Die verirrte Granate gestern abend war ihr letzter Gruß; jetzt sind sie vielleicht schon am Rhein."
Der Kleine zuckte verächtlich die Schultern und warf seinem Kameraden einen mißtrauischen Blick ins Gesicht. „Hast Du Angst vor ihren Granaten? Ich sag* Dir, dcis ärgste Trommelfeuer wäre mir lieber als diese verdammte Kirche! . . . Stumm, wie die Fische, liegen sie drinn, glotzen uns an und sterben. Ist das Soldateneirbeit, so zu warten, bis es wdeder was zum verscharren gibt? Pfui Teufel! Wie zwei Raben, die auf Aas lauem, sitzen wir da."
Der Blonde lachte sein lautes, rohes Lacken: „Bei Gott, der Vergleich ist gut. Wie die Weißlinge, wenn man ihnen die Angel aus den Kinnbacken reißt und sie blutig im Boot zappeln läßt, nicht anders, wahr- haftig. Hegen sie drin. Was sollen sie auch sagen? Die Schwester kann so wenig deutsch wie v^r zwei. Wie viele sind*s eigentlich noch?"
Dem Kleinen ging das laute, vergnügte Geschwätz auf die Nerven. Er schnitt ein gequältes Gesicht und erwiderte unwilHg: „Einundzwanzig haben sie uns vor- gestern dagelassen, sechs haben wir seither eingeschau-
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feit, das wirst Du wohl noch wissen? Taglich zwei. Wenn*s so weiter geht, können wir noch eine volle Woche lang die Totengräber machen/*
Er spie aus und schwieg. Sein Blick ging über die nahen Dorfruinen hinweg in die Ferne, wo hinter ent- laubten, zerschossenen Bäumen, die Landstraße wie ein dampfender Strich den Horizont abschloß. Dort rollten Tag und Nacht die Fuhrwerke, Wagen an Wagen, unversiegbar; ab und zu verriet eine aufwir- belnde Wolke, die dunkel, wie ein Granateinschlag, aus dem grauen Staubschleier hochsprang, ein vorbei- flitzendes Auto. Der Soldat seufzte sehnsüchtig, ließ die geballte Faust erbittert auf seinen Rucksack nieder- sausen und wiederholte zähneknirschend: „Wie die Raben. Bei Gott!'*
Allein die erwartete Zustimmung blieb aus. Sein Kamerad lag schon mit weit geöffnetem Munde da, und schlief. Nachdenklich betrachtete der Kleine das starre, ausdruckslose Gesicht, den aufgesperrten Ra- chen, erinnerte sich der vielen Leichen, die sie wäh- rend der letzten Tage aufgelesen hatten, und war nahe daran, den Schlafenden mit einem derben Rippenstoß aufzuwecken. Doch er bezwang sich, — überflog noch einmal das ganze trostlose Bild, von der Staubwand im Hintergrund, über die verrußten Mauerreste, zurück zu dem aufgewühlten Friedhof mit dem glitzernden Scherbenhaufen: alles grau, menschenleer, von Rauch und Dunst überwölbt, in tödliches Schweigen gebettet. Nicht einmal das Rattern der Automobile unterbrach die Stille, so weit abseits lag die Kirche von der Chaussee. „Wie auf einer verlassenen Insel mitten im Ozean!'* — dachte der Soldat; warf sich ergrimmt neben seinen Leidensgefährten hin, und bald schnarch- ten beide um die Wette.
Schwester Marie saß auf der obersten Stufe, vor dem offenen Portal, die Ellbogen auf die hochgezo- genen Kniee gestützt, das Kinn in den Händen, und
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ihr vergrämtes Gesicht hellte sich auf für eine Se- kunde, als das gewohnte Duett der beiden, nach kurzer Unterbrechung, wieder an ihr Ohr schlug. Es war zu drollig, dieses unbegrenzte Schla {vermögen zu jeder Tages- und Nachtzeit! Sie selbst hatte seit dreimal vierundzwanzig Stunden kein Auge geschlossen, konnte sich kaum noch aufrecht halten auf den glühenden Sohlen ; starrte, unter rotgeschwollenen Lidern, wie be- täubt auf den blendend hellen Platz vor der Kirche hinaus.
Sie wußte sich einfach keinen Rat mehr! Ein dutzendmal wenigstens hatte sie die Soldaten schon auf die Straße vorgeschickt mit dem Auftrag: den Kutschern, Radfahrern und Meldereitern, die vorbei- kamen, dringende Botschaft mitzugeben. Ob die Leute die Sanitätsanstalt nicht fanden in dem großen Durch- einander, oder ihr Versprechen einfach in den Wind schlugen im Quartier? ... Es hatte jedenfalls keinen Sinn, die beiden wieder aus dem Schlaf zu rütteln, und den Versuch noch ein dreizehntes Mal zu wieder- holen. Sie würden sich wohl auch weigern, — denn der Kleine hatte sich schon dazu aufgerafft, ein Ge- neralstabsauto anzuhalten, und wäre, — wie er er- zählte, — aufs Haar über den Haufen geschossen worden von dem empörten Major, der es nicht fassen konnte, daß mitten im siegreichen Vormarsch, da er mit glänzenden Nachrichten zu seinem Kommando zurückraste, jemand die Unverfrorenheit hatte, ihn mit langen Geschichten über mangelnde Medikamente auf- zuhalten, als wäre er ein Apotheker. Nein, von diesen Eiligen durfte sie keine Hilfe erhoffen! Die kamen von vorne, wo die Leichen haufenweise umherlagen, fuhren an aschgrauen Menschengruppen vorbei, an Verwundeten, die sich mit zerschossenem Bein, müh- selig humpelnd über die Landstraße schleppten, und jedem Fuhrwerk mit großen, flehenden Augen nach- blickten. Und sollten, rückwärts angekommen, von all
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dem Grauen, das sie gestreift, just die leuigweilige Erzählung von der kleinen Kirche mit ihren notleiden- den Kranken im Gedächtnis behalten?
Was aber blieb ihr sonst für Hoffnung? Sie konnte doch nicht auf gut Glück weiter warten? Die Verbände mußten unbedingt erneuert werden, waren schon steif von Blut, scheuerten die vernarbenden Wun- den auf, und die knappen Vorräte, von den fliehenden Deutschen in der Sakristei zurückgelassen, waren längst verbraucht, nur der Telephonapparat stcind noch immer da, wae eine Herausforderung. Der abgerissene Draht schaukelte höhnisch vor dem Fenster.
Die Augen der Pflegerin füllten sich mit Tränen. Sollte sie geduldig zusehen, wie einer nach dem andern den Brand bekam und zugrunde ging? ... Ihr ganzer Körper zitterte vor Empörung über die Gewissenlosig- keit der Leute, die sie hierher gesetzt und dann einfach vergessen hatten! Drei Tage lang war sie freudig aufgefahren, so oft ein Auto über die Landstraße rollte ; hatte sich mit den Augen an die fliegende Staub- wolke hingehängt, als könnte ihr Blick den Wagen von der Chaussee ziehen und auf den Seitenweg lenken, der zur Kirche führte. Jetzt ärgerte sie sich über ihre Leichtgläubigkeit, konnte sich den Vorwurf nicht er- sparen, mitschuldig zu sein an dem Unglück. War sie nicht Zeuge der Kopflosigkeit gewesen, die ausbrach, als plötzlich die Ambulanzwagen vorfuhren und Je- mand mit dem Befehl durch alle Säle stürmte: „Ein- packen . . . Wir gehen vor. Die Deutschen laufen. Sieg ... Sieg ...T* Das ganze Lazarett rannte wie verrückt durcheinander; und sie selbst . . . war sie nicht auch — trotz ihrer 60 Jahre — , wie berauscht gewesen von dem Worte „Sieg"? Und hatte nun doch drei Tage verstreichen lassen, ohne sich zu rühren ! . . .
Seit einem vollen Jahr, seit dem Tage des ersten Vorpostengefechtes, war sie als Operationsschwester im Feld«; hatt« es oft genug mitgemacht, wie es nach
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solchen Kampftagen in den Lazaretten zuging, wenn in endloser Reihe die Wagen kamen und alle Korri- dore sich mit blutigen Bahren füllten. Schwitzend, wie in einem Maschinenhaus, arbeiteten die Aerzte, und es mußte einer schon höherer Offizier oder sonstwie Protektionskind sein, um noch am gleichen Tage, an dem er eingeliefert wurde, operiert oder verbunden zu werden. Nicht der Feind nur, die eigenen Leute, arme, stöhnende Poilus', die um die Qual des Frischver- bunden Werdens wie um eine Gnade flehten, wurden angeschnauzt, gehässig zurückgestoßen, weil sie ihre blutenden Stümpfe dem geplagten Doktor unter die Nase hielten, und der, nach zwölf stündiger, rastloser Arbeit in Blutgeruch, Hundstagshitze und Chloroform- dämpfen, nur für sich selbst, für die eigene Erschöp- fung noch Mitleid übrig hatte. War es nicht selbst- verständlich, hätte sie es nicht voraussehen müssen, daß der Stabsarzt, allen Versprechungen zum Trotz, in den Aufregungen des siegreichen Vormarsches, die Kirche mit den zwanzig deutschen Verwundeten ver- gessen werde?
Sie allein traf die Schuld! Ihr Verbrechen war es, wenn zwanzig junge, kräftige Männer, um die zu Hause Frauen und Mütter bangten, elend verderben mußten ! . . .
Die Fäuste geballt, den Kopf vomüberhängend, von einem lautlosen Schluchzen geschüttelt, sank Schwester Marie immer mehr in sich zusammen. Mit der Uebung, die sie, als Ordensschwester, im selbst- quälerischen Ausschmücken ihrer Sünden erworben hatte, erpreßte sie sich, wie ein Beichtvater, das Ge- ständnis, da^ sie, wenn französische Verwundete in der Kirche gelegen wären, wahrscheinlich, . . . nein, sicher . . . gcinz sicher sogar, früher schon um Hilfe geschickt, das Leben ihrer Landsleute nicht so leichtfertig aufs Spiel gesetzt hätte. Als Schwester Jesu hatte sie ihre leidenden Men-
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schenbrüder in Freund und Feind geteilt, genau wie der Stabsarzt, der die befreiten französischen Verwundeten in Automobilen zurückführen ließ, während die Deutschen, wenn sie nur irgend marsch- fähig waren, den zwölf Kilometer langen Weg bis zum nächsten Lazarett zu Fuß antreten mußten. Wie hatte sie noch Vertrauen haben, geduldig warten können, nachdem sie diesen trostlosen Zug vorbei- treiben gesehen? Ihr war*s, als fühlte sie immer noch den Blick im Gesicht, den ihr der blasse, hagere Deutsche zugeworfen hatte, als hart das Kommando- wort ertönte, und er, den unförmig angeschwollenen Fuß um einen Knüppel geschlungen, humpelnd seinen Leidensweg antrat, die ganze hilflose Angst der ge- plagten Kreatur in den Augen. Und jetzt? . . . letzt war dieser eine, den sie nicht hatte herausbetteln können, gerettet, — operiert, sauber verbunden, rück- wärts im Lazarett; und die anderen, die sie „geborgen", lagen vom Wundfieber gepeinigt, mit vereiterten Wunden in der Kirche drin, dem sicheren Tod aus- geliefert !
Sollte wirklich sie die Schuld? . . . ihre Seele der- einst büßen? . . .
Nein!
Die Hände auf die Kniee gestützt, stemmte sie sich mühsam in die Höhe, ging, taumelnd vor Müdigkeit, die Mauer entlang zu den Soldaten hinüber. Mit verzweifelter Beredtsamkeit erklärte sie den beiden die Gefahr, in der die Kranken schwebten, — bat, — drohte, — gestand zum Schluß, ihre Leibwäsche schon
in Streifen geschnitten zu haben, und ihr
verdorrtes, von tausend Runzeln durchwühltes Ge- sicht, das die Soldaten den „Rangierbahnhof'* nannten, färbte sich dunkel in mädchenhafter Scham, vor diesen Männeraugen, die nun unmittelbar unter dem Ornat ihren nackten Körper wußten.
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Der Vallone blieb unerbittlich. Der Kleine erklärte sich bereit, noch einmal auf die Chaussee vorzugehen, aber die Zumutung, selbst Hilfe zu holen, wies auch er mit Entrüstung zurück. Wie fette Spinnen, — er- zählte er, — lauerten die Feldgensdarmen auf allen Wegen; und der Soldat war verloren, den sie, ohne schriftlichen Befehl seines Vorgesetzten, unterwegs zur Etappenzone ein fingen.
Dem Großen riß die Geduld, als auch die Schil- derung solcher Gefahren die Pflegerin nicht ver- stummen machte. Mit wüsten Flüchen fiel er über die „famose Patriotin'* her, die bereit war, wackere Poi- lus* in den sicheren Tod zu schicken für eine Hand- voll Boches, die ohnehin schon mit beiden Füßen im Grabe standen. Wütend zog er seinen Kameraden mit sich fort; erklärte: keinen Finger mehr zu rühren für diese Frauensperson und ihre Teufelskirche!
Kreideweiß schleppte sich die Schwester auf ihren Platz zurück, starrte durch das offene Portal fröstelnd in die Kirche hinein, als lauerte drin wirklich der Teufel, grinsend in Erwartung der fünfzehn Seelen. Nichts konnte sie mehr tun, nur die Hände in den Schoß legen und warten, bis es wieder einem die Augen zuzudrücken galt! . . . Mit zitternden Knieen lehnte sie an einer Säule, fand den Mut nicht zu einem Gang von Bett zu Bett. Am Vormittag hatten schon einige aufbegehrt, mit flackernden Augen, drohend, einen Arzt gefordert; andere zerbrachen sich die Zunge, um ihre Wünsche in's Französische zu über- setzen; — und das Aufblitzen der Hoffnung in ihren fahlen Gesichtern, so oft ein Wort gelang, war schwerer zu tragen, als das Gezänk der Ungeduldigen. Auch jetzt flog ab und zu ein lauter Zuruf, ein kurzes Gespräch durch die hallende Kirche, klang schauerlich laut zur Schwester hinaus, die hinter jedem Wort einen Fluch v/itterte, der ihr galt. Sollte sie «ich entschul- digen? . . . Die Wahrheit sagen? , . . Aber , . , das
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hieße ja den Unglücklichen all« Hoffnung nehmen, den Tod vor sie hinstellen . . .
Mit einem Mal fühlte sie sich wieder stark, hob den Kopf, warf einen dankbaren Blick nach oben. Nun sah sie eine Aufgabe! War bereit den Haß auf sich zu nehmen, der ihr au$ allen Betten entgegen- sprang, damit diesen armen Verurteilten wenigstens der Glaube erhalten bleibe; ärztliche Hilfe werde noch kommen, und alles gutmachen, was die Indolenz der Pflegerin an ihnen verdorben hatte.
Leise huschte sie auf ihren Filzsohlen in die Kirche, lief, ohne nach rechts oder Hnks zu schauen, ängstlich bis zur Mitte, zu dem Bett hin, das allein zwischen den Strohsäcken der Mannschaftsabteilung vor der Kanzel stand; und fühlte sich wie geborgen, als sie es erreichte, so groß war ihre Sympathie für den jungen Offizier, der, mit einem schweren Schuß im Unterleib, seit zehn Tagen schon mit dem Tode rang. Er war irgendwie anders, als seine Kameraden. Sie konnte ihn pflegen, ohne von dem häßlichen Gefühl beschlichen zu werden, einen Feind berührt zu haben, — Einen, der das Leben weiß Gott wie vieler braver Franzosen auf dem Gewissen hatte. Auch bei den anderen war sie redlich bemüht, nicht daran zu denken ; hatte, gleich am ersten Tag, alle fremden Uniform- stücke in die entfernteste Ecke der Kirche tragen lassen, um nichts mehr zu sehen, als leidende Menschen, Und es ging doch nicht! Aus dem Geschwätz der beiden Soldaten vor der Kirche, war es ihr, vor kurzem erst, ganz plötzlich klar geworden, was sich immer wieder wie eine Wand zwischen sie und diese Verwundeten schob, ihr Mitleid erkalten machte. Der Satz: „Stumm, wie die Fische, liegen sie drin**, hatte sie wie ein Stein- wurf getroffen. Das war es ! ... Die vielen Fran- zosen, die sie gepflegt und verbunden, — leiden und sterben gesehen hatte, sie stöhnten, wimmerten, be- klagten sich, waren wie schwache, hilflose Kinder, die
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man trösfen unH bedauern konnte, olme Saran zu denken, daß sie, blaß vor Wut, fühlende Menschen mit ihren Mordwaffen durchbohrt hatten. Die Frem- den aber, die hier in der Kirche lagen, waren nicht wie kranke Kinder; trugen ihre Qualen ohne Klage, mit verkniffenen Lippen; bHeben Soldaten bis zum letzten Atemzug, als hätten sie unter den blutigen Verbänden, auf dem nackten, geschundenen Leib immer noch die Uniform an. Ein trotziger Stolz strahlte aus ihren Augen, schien jedes Bedauern hoch- mütig abzulehnen, und ließ die bange Frage nicht ver- stummen: wie hart, wie unerbittlich, wie grimmig streng sie gegen andere, und gar gegen den Feind wohl sein konnten, wenn sie gegen den eigenen Leib nicht weich wurden, sich selbst so ungerührt leiden ließen!
Nur der Kleine mit dem Knaben gesiebt, in dem alleinstehenden Bett, hatte andere Augen; erinnerte an die eigenen Verwundeten, trotzdem er weniger fran- zösisch sprach, als seine Kameraden, und sein Name:
Fähnrich Egas von Krülow in schöner Rondschrift über dem Bette angebracht, ganz unaussprechlich fremd klang. Nicht einmal seinen Rang konnte Schwester Marie entziffern, wie bei den anderen Offizieren, die sie als Lieutenant oder Major wenigstens zu titulieren wußte. Aber er ließ sich doch ein wenig bemitleiden, sah ihr dankbar in die Augen, wenn sie ihm ein paar tröstende Worte sagte, stöhnte laut vor Schmerz, ab und zu.
Von warmem Mitgefühl getrieben, beugte sich die Pflegerin über sein Bett, fuhr ihm mit der Hand zärtlich über die glühende Stime.
Er dämmerte schon hinüber, in einem heißen Rausch, aus dem, gleich Blasen, die Ejinnerungen stiegen, als müßte der Lebens faden noch einmal zurückgewickelt werden, ehe er für immer abriß. Seine Finger haschten nach vorbei gleitenden Figuren, die Lippen bewegte ein gleichmäßiges Murmeln, Zorn und
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Freude jagten in rascKem Wechsel ütler 3as vergilbte Gesicht, das alt und runzelig geworden war, als hätte er die fünfzig Jahre, auf die seine Jugend ein Anrecht hatte, rasch noch abgelebt. Nur der Körper blieb unbeweglich ; lag zwerghaft klein, wie weggeschmolzeu in der Fieberglut, unter der Decke.
Eben huschte ein zärtliches Lächeln über seine Lippen, ein Gruß an die kühle Hand, die so liebevoll seine Stime berührte. Nun stimmte alles ganz genau I So war es auch damals, als die Flammen zum ersten Mal sein Bett bedrohten; sein kleines, weißlackiertes Bett mit dem hohen Gitter. Seit Stimden zerbrach er sich den Kopf über die Frage, woher die schmalen Feuerzungen kamen, die bald wie alte Bekannte wärmten, bald zornig aufflackernd näher und näher schlugen, sengend unter die Augenlider leckten, wie flüssige Lava in sein armes Gehirn tropften, das auch schon zu brennen anfing. Was hatte er da für wüste Dinge geträumt? ... Ej lag ja, Gott Lob, zu Hause, in seinem lieben Zimmerchen, und nicht in einer großen, kahlen Kirche, in die er sich hatte flüchten müssen, weil ein Teufel hinter ihm herlief, ein schwar- zer, buschiger Teufel, dem er auch, ganz sicher, schon mal begegnet war! Geoiz bestimmt erinnerte er sich, die scharfe, dreizackige Gabel, die ihm das Ungeheuer immer wieder tief in den Unterleib getaucht hatte, irgendwann selbst in der Hand gehabt zu haben; nur war sie seither auch stark gewachsen, wie er.
Nein! Den Teufel hatte er nicht geträumt. Der hatte wirklich die Fenster eingeschlagen, in seiner Wut über die geglückte Flucht seines Opfers. Oder? . . . War das immer noch der neue Nikolo, der auf dem Regal zwischen den Spielsachen stand, mit einer langen Zunge aus rotem Tuch, und ebensolchen Flammen auf seiner schwarzen Kutte? Dann mußte jetzt gleich auch Vater kommen, mit der Weidenrute, die so brennende Striemen zog, mußte Mutter bei Seite
schieben, ihn aus dem Bett reißen, und schlagen, — schlagen!
Ein lauter, angstvoller Schrei gellte durch die Kirche, daß alle Kranken hochfuhren und erschrocken hinüberstarrten zu Fähnrich von Krülov/, der sich wie von Sinnen in seinem Bette wand. Er wollte sich nicht
mehr prügeln lassen, war ja jetzt erwachsen, —
— wehrte sich aus Leibeskräften gegen das unerhöhrte Unrecht, noch einmal gestraft zu werden für ein Ver- gehen, das er längst schon gebüßt hatte. Unvergeßlich war CS ihm ja in jener Nacht eingebläut worden, daß ein Junge sich nicht fürchten dürfe! Daß, wer aus- ersehen war des Kaisers Rock zu tragen, als sieben- jähriger Knirps schon die Zähne zusammenbeißen und lieber vergehen müßte vor Angst, ehe er feige die Mutter rief! Oh, er hatte es gelernt seither, was es hieß, alles in sich hineinzuwürgen, aus Angst vor Prügel und Spott! So gründlich gelernt, daß ihm sein Schuldbewußtsein: nun doch laut aufgeschrieen, sich wieder nicht beherrscht zu haben, auch jetzt noch den Angstschweiß auf die Stime trieb.
Hatte man ihn gehört? . . . Verstohlen schlug er die Augen auf, und preßte sie, aufstöhnend, rasch wieder zusammen, ins Gehirn getroffen von der leuch- tenden Glut, die durch das Fenster tropfte, als wäre die Sonne flüssig geworden. So war er also doch in der Kirche! Die Scheiben waren wirklich zertrünmiert, auch die zackige Gabel rührte sich wieder in seinen Eingeweiden; nur die Mutter stand nicht mehr neben ihm, wehrte die schmalen, roten Feuerzungen nicht mehr ab mit ihrem Schatten. Ihren Besuch allein hatte er geträumt! Die Flucht in die Kirche, die Qualen, alles war Wirklichkeit. Nur die kühle, gute Hand suchte er umsonst.
So war sie also doch gestorben? . . . Man hatte ihn nicht angelogen! Sie war tot; und es gab nie- manden mehr, dem er sein Herz ausschütten, keinen
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Menschen mehr, zu dem er zärtlich sein durfte? E^ fühlte, wie ihm das Schluchzen in die Kehle stieg, bohrte die Zähne tief in die UnterHppe ein, spannte alle Muskeln an, in tödUcher Angst. Denn er sah den Konunandanten der Kadettenschule lauernd hinter seinem Schreibtisch sitzen, das Telegramm in der Hand, und w^ßte, was auf dem Spiele stand! Gelang es ihm jetzt wieder nicht, strajnm wie seine Brüder dazustehen, entschlüpfte ihm nur eine einzige Träne,
dann bekamen alle Offiziere die Instruktion,
ihm mehr Selbstbeherrschung beizubringen, daim wurde er wieder der Prügelknabe der ganzen Anstalt.
Nein! Er wollte nicht wieder der „Weichling" gensomt, gequält, verhöhnt, verachtet werden! Ehe er diese HöllenjeJue noch einmal ertrug, wollte er lieber gleich seiner Mutter folgen! Bei ihr brauchte er sich nicht zu verstellen, sie empörte sich mit ihm gegen die Roheit seiner Kameraden; verachtete ihn nicht ein- mal, wenn er sich bitterlich weinend in ihre Arme warf, am Ende der Sommerferien, und sie jammernd bat, ihn nicht zurückzuschicken in die Anstalt ! Warum war sie denn jetzt nicht bei ihm> Warum nahm sie ihn jetzt nicht in Schutz, da er sie so nötig brauchte? ... Er tastete suchend über seine Stime ; hätte sie gerne gerufen, laut gerufen, wie früher, als er noch keine größere Seligkeit kannte als krank zu sein, und von ihr gepflegt zu werden. Eine unbändige Sehnsucht war in ihm, gestreichelt, getröstet, bedauert zu werden; und er ahnte nicht, daß die unbeherrschten Lippen jeden Gedanken, der durch sein siedendes Gehirn zuckte, laut in die hallende Kirche warfen.
Schwester Marie kniete betend vor dem Altar und fuhr erschrocken auf, als aus dem eintönigen Lallen des Sterbenden jäh ein lauter Schrei hochsprang, ein Hilferuf, der verebbend, in vorw^arfsvoU klagendes Wimmern überging. Aengstlich beugte sie sich zu
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ihm nieder, (drückte leise seine Hand, und flüsterte: „Vous souffrez? . . . Patience! Qa. ira mieux."
Egas von Krülow verstand die Worte nicht. Nur die kühle Hand fühlte er, und der Ton, der heiß er- sehnte Ton, den er seit dem Tode seiner Mutter nicht mehr gehört, hob ihn wie eine Welle. Das war Musik 1 Das Ineinanderklingen von tausend lang ent- behrten Worten 1 Eine weiche, milde Wärme,
die seine starren Glieder auftauen ließ, den Krampf löste, als öffneten sich alle Poren seines Leibes, um die Melodie einzulassen, die er selbst nie hatte singen dürfen. Mit einem verklärten Lächeln, leuchtend vor Seligkeit, streckte er die Arme hoch, zog die geliebte Stimme zu sich nieder, — klagte ihr seine Qualen, bat um Schutz für sein junges Leben, weinerlich, wie ein geängstigtes Kind.
Die Pflegerin war Zurückgewichen, blutrot im Gesicht, und ihre Adern hämmerten so laut, als wären alle verrosteten Fächer ihres sechzigjährigen Herzens plötzlich aufgesprungen vor diesen Männerarmen, die so verlangend nach ihr griffen! Scheu sah sie sich um,
— verschämt, schrie leicht auf beim Anblick des
fremden Gesichtes, das in nächster Nähe, wie aus Stein gehauen vor ihr aufragte.
Eis war der Offizier im Nachbarbett, an der Mauer, der sich mit äußerster Anstrengung aufgerichtet hatte, und ergrimmt, mit großen, zornig blitzenden Augen zu dem Fähnrich hinüberhorchte. Unheim- lich sah er aus, mit seinen weißen Lippen, und dem struppigen Schnurrbart, der, blond und hübsch vor rosigen Wangen, in dem gespenstisch blassen, schmerz- verzerrten Gesicht v^e gelbes Stroh sich sträubte. Em- pört beugte er sich weit vor aus seinem Bett, und rief: „Mensch, beißen Sie doch die Zähne zusammen! Wollen Sie uns alle blamieren mit Ihrem verfluchten Jammern?"
Starr vor Staunen lauschte di« Pflegerin der halten,
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knatternden Stimme, — sah die Köpfe der Kranken von den Kissen sich lösen, ein Kreuzfeuer von grim- migen Blicken zu dem alleinstehenden Bett hinüber- fliegen; erriet aus dem Tonfall der Worte, die von allen Seiten zustinmiend einfielen, daß irgend eine geheimnisvolle Ursache die ganze Kirche gegen den Sterbenden aufgebracht hatte. Ratlos irrte ihr Blick über die zornigen Gesichter.
Auch Egas von Krülow hatte sich empor geworfen, saß aufrecht, wutentstellt, mit keuchender Brust. Seine Rechte griff, weit vorgestreckt, ins Leere, ballte sich zur Faust; seine Lippen biemten, wie eine leer- laufende Maschine, ohnmächtig die Worte zu formen, die in rasender Hast, wie eine Springflut ins Freie verlangten. Er sah das gelbe Gesicht nicht, das ihm entgegenstarrte; seine fieberblinden Augen reichten nicht bis zum nächsten Bett. Nur Konturen sah er, und füllte sie aus mit dem Gespenst, das sein un- bändiger Haß ihm zeigte. Nicht e i n Mensch hatte ihm diese Worte zugerufen! Das war der Drachen, der Minotauros, der seine ganze Kindheit, seine ganze Jugend aufgefressen, der Feind, der ihm nie eine Zärt- lichkeit, nie ein mildes Wort gegönnt! Das war, in eine Ecke zusammengeballt, die ganze Rotte, die ihn gepeinigt, verspottet, verfolgt, — ibjn alles, wonach er sich sehnte, aus dem Leben gejätet hatte! »
Nun konnte er ihn endlich fassen, nun hatte er ihn da ! ... Seine Brust dehnte sich, sein Mund stetnd weit offen, sein ganzer, schmählich geduckter Stolz bäumte sich auf, spannte alle Sehnen zum Sprung auf den Bösen, der sich ihm jetzt ein letztes Mal noch stellte. Aber auch diese einzige Genugtuung sollte ihm versagt bleiben ! Nur bis zu den Lippen stieg die Flut, — dann versagten die Kräfte, . . . und statt der vielen, zentnerschweren Worte, die er wie glühende Felsblöcke hatte hervorschleudern wollen, brach nur ein dicker, dunkler Blutstrahl aus seinem Mund. Noch
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einmal sah er sich nach Hilfe um, mit großen, «- schrockenen Augen, dann sank er langsam zu- rück, in die Arme der Pflegerin, gewichtlos, wio ein gestürzter Vogel.
Ein kaltes, ablehnendes Schweigen erfüllt« die Kirche, als die beiden Soldaten, kurz vor Sonnen- untergang, die Leiche holten. Ohne Bahre, nur mit dem blutigen Mantel bedeckt, trugen sie ihn vorbei an seinen Kameraden, die uimahbar, regungslos zur Decke starrten; legten ihn draußen auf die nackte Erde nieder, hart neben dem glitzernden Scherben- haufen.
„Nimm*s Maß !** — brummte der Große, mit einem zynischen Achselzucken. Der Andere gehorchte stumm; zog mit dem Spaten zwei lange Striche, an Kopf und Fußende der Leiche vorbei. Da tupfte ihn der Vallone auf die Schulter:
„Schau Dir mal die Händchen an 1 Wie von einer Prinzessin. Das glaub* ich, daß der nicht gern gestorben ist. Hätt' noch was haben können von seinem Leben !'*
Aergeriich schüttelte ihn der Kleine ab. „Unsinn i Sterben mag keiner. Ob reich oder arm.** Und eilig, als wäre es ihm bang vor weiteren Bemerkungen, machte er sich an das Graben, zückte den Spaten, und rannte ihn grimmig in die Erde, als gälte der Stich seinem ärgsten Feind.
Der Große stand immer noch nachdenklich, in den Anblick der Leiche versunken. „Wenn ihn seine Mutter so sehen könnte!** — rief er, mit einem häß- lichen Grinsen. „Die sitzt jetzt sicher in einem noblen Peluchefauteuil, auf Sprungfedern, und strickt einen feinen seidenen Schal, damit sich das Söhnchen den Hals nicht erkältet.**
Wie ein Köter kläffte ihn der Kleine an, deutete
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mit dem Kopf wütend nach dem zweiten Spaten hin: „Laß das Geschwätz! . . . Mach*'*.
Brummig ließ sich der Andere herbei, krempelte umständlich die Aermel hoch, prüfte naserümpfend sein Werkzeug, warf noch einen Blick nach der sin- kenden Soime, dcinn erst ging er mit einem schweren Seufzer an die Arbeit.
Dmxh den Staubschleier der Chaussee flammten, wie in Rauch gehüllt, die letzten Strahlen. Nur das schwere Atmen der beiden Totengräber unterbrach die Stille, und das Knirschen der Spaten in der harten, kieseligen Erde.
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V. KRIEGSGEFANGEN
Schmerzend hell strahlte der See herauf; in den schmalen Raum, zwischen Fels und Wasser geklemmt, glitzerte Luzern, von seinem eigenen Dunst umzittert, wie hineingestreut in das buschige Hügelland. Als hätte ein vmeirtiges Kind, von einem der nahen Gipfel, sein Spielzeug jähzornig in den See geschleudert, lagen zerstreut die Häuser umher. Ueberallhin wsiren welche gekollert. Aus dem Grün der Wälder blitzten sie hervor, lagen in den buntgesprenkelten Wiesen, fielen über einander her, haufenweise, als wären sie gestolpert über den weißen Spalt, den die Landstraße in die Felder schnitt; einzelne standen mit einem Fuß schon im See, im letzten Augenblick glücklich aufgehalten von einem weißen Gitter, oder einer Baumgruppe. Auch die Dampfschiffe, kleiner als die Paradestücke der Schaufenster in der Weihnachtsv/oche, die schoko- ladebraune alte Holzbrücke, vollends aber der bauchige Pulverturm, schienen einer Spielschachtel ent- sprungen zu sein, daß man sich ordentlich versucht fühlte nachzusehen, ob nicht alles aus Marzipan ge- baut war, und an Stelle des Schießpulvers Konfekt in der Atrappe lagerte, bis hoch unter das geschickt imitiert« Ziegeldach?
Georg Gadsky saß auf der Bastion, die den Spitals- garten abschloß, ließ seine Beine über den Abgnmd baumeln, — und war ganz versunken in den Anblick der flimmerenden, sonnendurchglühten Landschaft. Eine tiefe, nagende Traurigkeit drückte ihn nieder, und das Bewußtsein, nicht zeigen zu dürfen, wie schwer ihm der Abschied fiel, peitschte seinen Trübsinn zu wildem Kummer auf. Mit einem hastigen Griff zerrte er das Papier aus der Tasche, das ihm soeben ausgehändigt
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worden war. Er drehte es zwischen den Fingern, las buchstabierend, wie ein Kind, seinen eigenen Namen, die Reiseroute, alle Instruktionen, Befehle und Ver- bote, — und sprang mit einem halblauten Fluch von der Mauer.
Nun war es also entschieden! Morgen um diese Zeit stand er schon auf deutschem Boden, war wieder Untergebener des mächtigen Herrn Xaver Stuff, ein rechtloser Kuli, allen Knöpfen, Borten und Sternen, die auf dem deutschen Himmel leuchteten, bis in den Tod, und noch über ihn hinaus, Untertan!
Mathilde? ... Er versuchte an sie zu denken; schloß die Augen, um ihr Bild besser zu sehen, wollte an ihre Freude denken, an ihre Küsse, — aber der Versuch mißlang klägHch. In die Kaserne mündete der Weg, der vor ihm lag, kerzengerade in die Arme Stuffs; erst wenn der ihn gnädig entließ, durfte er für vierzehn ganze Tage hinaus in sein wiedergefundenes Leben !
Ein Dampfer tutete unten, und lenkte seinen Blick auf den See. War das nicht zum toll werden, daß man von hier wegging, aus diesem strahlenden, gesegneten Frieden, zurück in das vergrämte, verbissene Land, das zusammenbrach unter der Last seines erwachten Gewissens? Konnte man so als Sehender zurück- kehren, und schweigen? Immer noch schweigen! Geduldig zuschauen, wie ein armes, betörtes Volk seine Tränen zerbiß unter der auf geschminkten Teufels- maske, und weiter schlachtete und sich schlachten ließ, nur weil es zu treu und zu verprügelt war, den wenigen an die Gurgel zu gehen, die es in den Sumpf hinein- geführt hatten! . . .
Mit tief gesenktem Kopf strebte Gadsky dem Ausgange zu, gebückt, als drückte ihn jetzt schon die Last zu Boden, die drüben seiner harrte. Ej hörte wohl, daß hinter ihm jemand seinen Namen rief, stellte sich aber taub, und beschleunigte seine Schritte,
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um ja nicht eingeholt zu werden. So groß war seine Angst, irgend ein lästiger Schwätzer könnte sich ihm anschließen, und seine Pläne durchkreuzen, daß er die erste Strecke des Weges laufend zurücklegte, und erst in Schritt fiel, als er schon den Wald erreicht hatte. Man munkelte ja schon im Spital von seinen geheim- nisvollen Spaziergängen; und der Gedanke, am letzten Tage doch noch entlarvt zu werden, hatte wenig Ver- lockendes. Er war ja so schon reichlich verdächtig, mit dem Feinde zu sympathisieren! Besonders im Kreise der Unteroffiziere hatte er treue Freunde, die es ihm noch immer nicht verzeihen konnten, daß er es als Gemeiner schöner gehabt hatte im Gefangenen- lager, als seine Vorgesetzten. Man warf ihm vor, daß er wie ein französischer Offizier gelebt habe, knüpfte allerhand Betrachtungen an diese Tatsache, und wäre wohl seelig gewesen über die Entdeckung, er gehe heimlich mit einem französischen Internierten im Walde spazieren, und führe endlose Gespräche I . . .
Besorgt setzte sich Gadsky, hoch oben am Wald- rand, auf einen Stein nieder. Von dieser Stelle über- sah er den ganzen Weg, bis zum Eisenbahndamm hin- unter, und hatte sich angewöhnt, hier auszuruhen, bis er ganz sicher war, daß ihm niemand nachspionierte. Fast mußte er selbst lächeln über diese Vorsichtsmaß- regeln, die ihn an alte Zeiten erinnerten, an Liebeleien, die man ja so furchtbar ernst genommen hatte in besseren Tagen. Wer ihn beobachtet, sich täglich so davonschleichen gesehen hätte, wäre gewiß jede Wette eingegangen, daß eine Frau im Spiele sei. Aber was war ein Ehebruch, im Vergleiche zu dem Verbrechen, das er beging! . . . Geheime Zusammenkünfte mit dem Feind! Es wurde ihm doch bange vor all den Scherereien, diö sein Geheimnis gebären konnte I
Er war schon aufgestanden, warf einen Blick auf seine Uhr, und setzte »ich wieder zurück, ent-
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schlössen, noch eine Viertelstunde zu W2Uten. Schon warf Feldwebel Stuff seinen Schatten voraus! Der Gedanke, ihm morgen gegenüber zu stehen, steigerte die gewohnte Vorsicht zur Feigheit. Welcher Triumph wäre es auch für den widerlichen Menschen, wenn dieser Gadsky, der ihm immer schon mißfallen hatte, als entlarvter Vaterlandsverräter wiederkäme!
Mit einem raschen Griff riß Gadsky den letzten Brief Mathildes aus der Tasche, als wollte er das leidige Gespenst mit diesem Talisman beschwören. Sie schrieb sehr zuversichtlich; hatte ihrem Intendanten schon ein bindendes Versprechen abgerungen, und hoffte seine Enthebung sicher durchsetzen zu können,
wenn er erst wieder zu Hause war. Aber wer
konnte wissen, ob es ihr auch wirklich gelang? Er hatte nicht viel Vertrauen zu der Sache, wollte sich auch die schwere Enttäuschung sparen, und dachte ergrinmit an all das Unglück zurück, das Mathildes Eifer schon über ihn gebracht hatte. Wäre sie nicht unermüdlich zu allen Behörden gelaufen, zweimal in die Schweiz gereist, um bei den Aerztekonmiissionen für ihn zu werben, er müßte morgen nicht nach Deutschland zurück, wäre nicht in Gefahr, seine durchlöcherte Lunge noch einmal hinaustragen zu müssen. Das war vorläufig das einzige Resultat ihrer Bestrebungen! Gelang es nicht, die Enthebung zu erbetteln, dann war es ihre Liebe, die ihn noch einmal hineinhetzte in die oft durchlittene Todesangst, die selbst von der grausamen Natur an dcis Ende des Le- bens gestellt war, um den Abschied zu erleichtern. Ohne Mathilde säße er wohl immer noch in seiner Bretterbude, mollig geborgen in der Gesellschaft seines schönen Flügels, bei dem guten, schlampigen Terri- torialmajor Dutrecy, der wie ein Vater für ihn gesorgt hatte!
Wie leibhaftig stand plötzlich das ganze Baraken- lager vor den Augen Gadskys, imd eine Rührung,
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die fast schon eine Art Heimweh war, übermannte ihn. Von der mörderischen Langeweile, von den vielen klei- nen Unannehmlichkeiten wußte er nichts mehr ! Nur die gemütlichen Abende bei Musik und Tee, ragten aus der verschwommenen Erinnerung an eine sanft dahin- plätschemde Zeit. Er sah sich am Flügel sitzen, sah den drolligen alten Kauz begeistert durch das Zimmer rasen, den Takt schlagend mit seinen endlosen Armen; und er lachte laut auf, als ihm einfiel, wi« der Alte einmal die Weinkaraffe und vier Gläser vom
Tisch gefegt hatte, beim Dirigieren.
Mathilde freilich konnte es nicht ahnen, wie gut er untergebracht war; sie mußt« sein« allge- mein gehaltenen Beteuerungen für leere Beschwichti- gungen halten, da er Genaueres nicht schreiben durfte, mit Rücksicht auf die Zensur. Er wollte nicht unge- recht sein, und brauchte nur an die ersten Monate zurückzudenken, um schaudernd anzuerkennen, daß eine Frau allen Grund hatte, besorgt zu sein, wenn sie ihren Liebsten in französischer Gefangenschaft wußte! Mit Henkershänden hatte der gehässige Stabsarzt in seinen Verbänden gewühlt, — Pfleger und Pflege- rinnen waren redlich bemüht gewesen, es ihrem Kom- mandanten gleich zu tun in patriotischem Eifer, bis endlich sein kräftiger Organismus doch Sieger blieb, der verhaßte Boche, wider alle Erv\^artung, kein Blut mehr spie, und entlassen werden konnte. Wie eine Leiche, die vom Seziertisch noch einmal ins Leben zurückkehrt, war er auf seinen ausgehöhlten Beinen torkelnd zum Bahnhof hinausmarschiert. Ein kalter Schauer lief ihm jetzt noch über den Rücken, wenn er an diesen Transport aus dem Spital in das Ge- fangenenlager zurückdachte! Zitternd vor Kälte in dem von der Augusthitze durchglühten Waggon, von Bajonetten umdrängt, sah er sich neben dem vertierten marechal des logis kauern, der bei jeder zweiten, dritten Station d«n ganzen Trupp aus dem Abteil klettern
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ließ, als müßten sie umsteigen, nur um die wakelnden Gespenster mit Kolbenstoßen zurückjagen zu können. Der Mann war verhetzt, las unterwegs knirschend imd fluchend die Scheußlichkeiten vor, die laut „Matin" die Boches an gefangenen Franzosen verübten ; Gadsky hatte während der ganzen Reise nur bedauert, daß er nicht mehr genug Kräfte besaß, um sich in das Ba- jonett hineinzustürzen, das der fanatische Kerl seinen Opfern auf Schritt und Tritt unter die Nase hielt. Aber hassen konnte er das böse Tier, trotz alledem, auch jetzt noch nicht. Hassenswert waren nur die verdammten Federhelden, die fem vom Schuß ihre Phantasie schweifen ließen, ohne nach den armen Teufeln zu fragen, die mit gebrochenen Knochen für das so verdiente Zeilenhonorar bezahlen mußten! — Unten in Luzem schlug eine Turmuhr halb vier; scheuchte Gadsky aus seinen Gedanken. Hastig brach er auf, suchte noch einmal den Feldweg ab, und be- gann beruhigt den Aufstieg. Der Abschied, der ihm dort oben, hinter der kleinen Lichtung, die wie ein zerbrochenes Fenster in den Wald blinzelte, bevor- stand, trieb seine Gedanken Schritt für Schritt zurück, ließ die elf Monate, die er in der Schweiz verlebt hatte, an ihm vorbeisegeln, bis er waeder bei seinem guten Dutrecy angelangt war. Wie hatte sein Herz geschlagen, bis in die Halsader hinauf, als er, schon am zweiten läge nach seiner Ankunft im Lager, vor den allmächtigen Konmiandanten befohlen wurde! Die Angst, irgend einen unüberlegten Ausspruch ge- wagt zu haben, auf seinem Schmerzenslager, im Fieber vielleicht, knickte ihm die blutarmen Glieder wie ge- wärmtes Wachs, während er im Vorzimmer auf Ein- laß wartete. Ob er ein Verwandter des berühmten Pianisten sei, hatte der Herr Major nur wissen wollen, erkannte aber auch in dem eintretenden Totengerippe sofort den heiß verehrten Meister, und hätte ihn gewiß umarmt, wären die zwei Schreiber nicht im Zimmer
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gewesen. Das Programm sämtlicher Gadskykonzerte WTißte der alte Herr noch auswendig, erinnerte sich mit leuchtenden Augen an diese oder jene Feinheit; frug ihn, — im Jahre 1915! — ganz ernsthaft, warum er einen bestimmten Takt 1910 eher schlep- pend, drei Jahre später aber beinahe stürmisch gespielt hatte! ...
Melancholisch lächelnd blieb Gadsky auf der Höhe noch einmal stehen, sah auf den See zurück, und mähte mit seinem Spazierstock das Zittergras nieder, das beinahe mannshoch am Waldrsinde wucherte. Ein Vater hätte nicht liebevoller für ihn sorgen können, als dieser alte Kindskopf. ELr nahm ihn als Dol- metscher in die Kanzlei, ließ das Zinuner für ihn aus- räumen und ein Bett aufschlagen, so daß ein Gemeiner, der nicht einmal das Eiserne trug, als Einziger ganz allein schlafen durfte, und von der ärgsten Qual der Gefangenschaft: der ewigen Nähe fremder Menschen verschont bHeb. Nach knapp vierzehn Tagen stand auch schon ein prächtiger Erardflügel in der winzigen Bretterbude, angeblich für die Sonntagandachten be- stimmt, und der Wuschelkopf der Frau Major tauchte alle Finger lang in der Kanzlei auf, bis ein Teil der Teppiche und Bilder aus der eigenen Wohnung hin- übergewandert war zu dem armen Gefangenen. Weiß Gott, es war keine leichte Aufgabe gewesen, der Stime des guten Dutrecy die Homer ferne zu halten!
Das Lächeln um die Lippen Gadskys wich einem harten, bitteren Zug; seine Hände ballten sich zu Fäusten. Wie dumm, wie kindisch, wie unglaublich kurzsichtig hatte er sich doch benommen! Wie ab- hängig von dem dummen Schlagwort „Freiheit**, das man den Menschen nur einhämmerte, um sie besser
knechten zu können ! Durfte er es Mathilde
verübeln, daß sie nichts unversucht gelassen hatte, da er selbst, trotz aller Sorgfalt und Rücksicht, wie ein Kind in die Luft gesprungen war vor Freude, als ihm der
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artoe Alte, mit feuchtschimmernclen Augen, dit bevor- stehende „Befreiung" ankündigte? Wit schämtt er
sich jetzt, wenn er an diese Szene zurückdachte!
Man mußte — wahrhaftig! — kein besonders tiefer Denker sein, um zu erkennen, daß die Bretterpahsade ringsum, die Gefangenen vor dem Kriege beschützt«, und nicht umgekehrt. Was hätte man dem Schicksal nicht angeboten und wdUig hingegeben, für solch einen eingezäumten Winkel fem ab von aller Gefahr, als man noch vorne im Graben lag, das Trommelfeuer sein stählernes Zeltdach inmier tiefer senkte, und der Tod mit mächtigen Hauern wahllos in die Erde biß! Und wenige Wochen nach der glücklichen Errettung wurden schon tollkühne Pläne geschmiedet, Schächte gegraben, Verkleidungen ausprobiert, nur um nicht mehr hinter dem Wellenbrecher sitzen zu müssen, der die gefürchtete Flut nicht einließ, aber mit einigen Bajonettspitzen zur Freiheitsbeschränkung umge- schminkt war! So blind konnten Worte
machen, die man gedankenlos über sich herrschen Ueß, daß die ärgste Knechtschaft, kaum daß man ihr ent- ronnen, zur „Freiheit** wurde, nur weil si« jenseits einer Bretterwand lag! ...
Gadsky knurrte einen kurzen Fluch, riß sich los von dem strahlenden Landschaftsbild zu seinen Füßen, und tauchte wieder hinein in den dunklen Wald, der jenseits der Lichtung sanft ansteigend weiterführt«.
So unerwartet hart war die Enttäuschung gewesen, so unbegreiflich groß schien ihm das Unrecht, das er hatte erleiden müssen, daß er nicht zurückdenken konnte an die ersten Monate seiner Intemierung, ohne mit lauten Drohungen dem Zorn Luft zu machen, der ihn durchtobte. Von dem Verdacht, unerlaubten Verkehr mit dem Feinde gepflegt zu haben, hatte er sich ja unschwer rein waschen können. Aber der Makel, Gnaden angenommen, bei Wein und Kuchen bis in die Nacht hinein geplaudert und musiziert zu
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haben, blieb haften, ak ein „bedauerlicher Mangel ao Stolz"; und es war wohl kein bloßer Zufall, daß er gerade unter die Herrschaft des Unteroffiziers gesteckt wurde, der ihn angeschwärzt hatte 1 . . .
Der gehässige, boshafte Kerl, den selbst der gut- mütige Dutrecy zweimal hatte bestrafen müssen, ließ sich die erwünschte Gelegenheit nicht entgehen, ihn fühlen zu lassen, daß er hier nicht mehr galt, als jeder andere Soldat. So oft es nur irgend anging, bestimmte er „den Prinzen" zum Korridorkehren und Abtritt- reinigen, und frug hämisch, ob er vielleicht Heimweh hätte nach seinem frcinzösischen Major. Aber das alles wäre noch zu ertragen gewesen. Dank der guten Vor- schule bei Stuff. Hätte er sich nur am Abend in sein Bretterstübchen zurückziehen, die Türe hinter sich ins Schloß werfen können! Aber das unausgesetzte Bei- sammensein mit rohen, ungebildeten Menschen, die er- zwimgene Intimität, die plumpen Scherze, die »ich an seine persönlichsten Angelegenheiten heranwagten, diese ständige Berührung scheuerte ihn wund, und wurde vollends unerträglich, als Mathilde ankam I
Da sie nicht verheiratet waren, mußte er in dem gräßlichen Schlafsaal bleiben, und vor jedem Aus- bleiben den Herrn Feldwebel um Erlaubnis bitten, wie ein Schuljunge, oder ein verliebtes Dienstmädchen, Der Gedanke an das konfident-lüsterne Blinzeln des ordinären Kerls verleidete ihm alle Freude, so daß er sich lieber mit den wenigen Tagesstunden begnügte, die zum Spazierengehen freigegeben waren. Aber der kleine Höhenkurort war so überschwemmt mit feld- grauen Uniformen, daß sie keinen Schritt tim konnten, ohne sich beobachtet, und in aller Leute Mund zw V^ssen! Wie in einer richtigen kleinen Garnison wurde geschnüffelt, und geschwatzt, und kritisiert; selbst wenn er am Abend allein in sein Gefängnis zurück- raste, blinzelten die Vorübergehenden sich noch ver»- traulich zu: dies sei der Soldat der berühmten San«
L»tak*. ,Frieden»goric*it" » 22j
gerin; und im Schlafsaal beschnüffelten die wider- lichen Kerle seine Kleidung nach dem Parfüm der „noblichten** Freundin, daß er die Kissen zerbiß vor Wut und Scham.
Nur in dem gemütlichen, mollig durchheizten kleinen Appartement, das Mathilde in dem feudalen Schloßhotel bewohnte, konnten sie heimlich, und wirk- lich ungestört beisammen sein. Dort erwartete ihn das tausendmal erträumte Glück, dort durfte er sich ihr in die Arme legen, seine geplagte, beschmutzte Seele ihrer zitternden Zärtlichkeit entgegenhalten! Und gerade diese Gelegenheit fürchtete er am meisten, suchte ihr auszuweichen, mit brutaler Offenheit selbst, wenn es nicht anders ging.
Zweimal nur hatte er sich während der drei Wochen, die Mathilde in seiner Nähe blieb, in das Hotel gewagt. Unten, in der Halle wurde es ihm schon dunkel vor den Augen 1 Da wimmelte es von deutschen Kurgästen, — Rodelko^tüme in allen Farben leuchteten, — Kriegsgewinnler und Enthobene „erholten" sich von ihren Entbehrungen, promenierten frei und unbehelligt mit ihren Damen, mußten nicht um neun Uhr schon davonlaufen, zitternd vor dem Herrn Feldwebel! Scheu wie ein Dieb, hatte er sich an der vornehmen Gesellschaft vorbei gedrückt, — und losgedonnert, kaum daß er bei Mathilde im Zimmer stand. War das zum Ertragen, daß Men- schen, die nichts geleistet und nichts gelitten hatten, keine Fesseln trugen, in vornehmen Hotels residierten, während er gefangen saß, nicht Herr über seine Zeit, und nicht Herr über seinen durchbohrten, zer-
schundenen Körper! Was unterschied ihn
denn von den Hallunken dort unten? Er war nicht weniger gebildet, gewiß nicht weniger vsdirdig, einige Wochen lang, an der Seite seiner Freundin, in einem anständigen Zimmer sich auszuruhen von allem, das er gesehen und erduldet hatte. Aber gerade weil er ge-
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dient und sein Blut vergossen hatte, gerade weil er keine Nacht einschlafen konnte, ohne in die er- schrockenen Augen der Menschen zu sehen, die er, — er! Georg Gadsky, mit eigenen Händen er- schlagen hatte, gerade weil er Soldat war und so Schweres hinter ihm lag, gerade darum mußte er in einer Art Schwimmschule leben, wo jeder den Nabel seines Bettnachbarn wie seinen eigenen kannte, unter Menschen mit anderen Interessen, anderen Gewohn- heiten, Einderen Manieren und Bedürfnissen!
Mit allem konnte er sich abfinden! Mit Hunger, und Durst, und Schmutz, und Gefahr; nur Unrecht konnte er nicht ertragen, und der Gedanke an die überfüllte Halle, an die Tango tanzenden Drückeberger, jagte ihn aus den Armen Mathildes. So oft die Turmuhr draußen schlug so oft er sich bei einem ängstlichen Blick nach der Uhr erwischte, immer fiel es ihm ein, daß die anderen sich ungestört an die hübsche Schau- spielerin heranpirschen durften am Abend, wenn er längst schon in seinen Stall gesperrt war, hinunterge- drückt in eine soziale Schichte, mit der ihn nichts ver- band, als die Not, die jene im Hotel nicht kannten. Alles steigerte seine Empörung! Selbst der inbrünstige Kuß, den Mathilde erschauernd auf seine Narben drückte, traf ilm wie ein Peitschenschlag, und ent- fesselte neue Wutausbrüche gegen die „Ordnung**, die ihm, für seinen verheilten Bajonettstich, nicht einmal die Freuden und Freiheiten gönnen wollte, die jedem erstbesten Schieber offenstanden ! . . ,
Er wußte, daß er sich grausam benommen hatte gegen Mathilde! Heute noch lief ihm ein Frösteln über den Rücken bei der Erinnerung an die harten, häßlichen Szenen, die sich Tag für Tag wiederholt hatten, bis sie endlich, erschöpft und gebrochen, nach Deutschland zurückfuhr. Aber so leid sie ihm auch tat, so sehr er es sich auch immer vdeder vornahm, ihr Abbitte zu tun, — sie mit tausend kleinen Zärt-
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lichkeiten zu entschädigen, wenn er sie wiedersah, das Gefühl der Reue kam nicht in ihm auf! Ihre Anwesen- heit hatte das Gefühl der Knechtschaft so ins Uner- trägHche gesteigert, ihn so hellsehend für alle Unfrei- heiten und EriJedrigungen gemacht, daß er sich jede Nacht wie ein Rasender auf seinem elenden Lager
wälzte! Hätte ihn nicht der v/ohlwollende
schweizerische Vorgesetzte aus dieser Zwangsjacke befreit, unter dem Vonvand, daß seine Lunge schon verheilt sei, die schlecht zusammengenähten Muskeln seiner linken Hand hingegen eine Behandlung im Luzemer Institut benötigten, — er hätte sich umge- bracht dort oben! Am Fensterkreuz erhängt, ganz gewiß !
So versunken war Gadsky in seine Gedanken, daß er, oline sich umzusehen, weiter marschierte, bis seine Beine von selbst stehen blieben am Rande der kleinen Wiese, die seit Wochen ihr Treffpunkt war. Als er endlich aufblickte, sah er seinen Freund ängstlich hinter einem Baumstamm stehen, mid wunderliche Zeichen machen, denn er hatte so laut mit sich selbst gesprochen, daß Merlier kaum glauben konnte, er sei wirklich ganz allein gekommen. Sie lachten über das Mißverständnis, drückten sich herzlich die Hände, — daim warf der Franzose seine warmen, tiefliegenden Augen fragend zu Gadsky auf, und sagte zögernd: „Also wirklich, Abschied?"
Gadsky nickte stunmi. Auch ihm wurde es schwer ums Herz, als er in das blasse, treuherzige Gesicht blickte, das seine Freude und sein Trost gewesen war, und nun versinken sollte, ohne jede Aussicht auf ein Wiedersehen! Schweigend setzten sie sich auf ihre gewohnten Baumstümpfe, starrten hinunter auf See und Stadt, bis MerUer seine Hand langsam auf Gadskys Schulter legte, und ihn seufzend ansah: „Zum fünfzigsten Mal sind ^vir heute hier oben!" — sagte er mit seinem drolligen, gehauchten Deutsch.
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Gadsky lächelte trüb. War es nicht wie ein Spiel mit vertauschten Rollen, daß just der Franzose der Pedcint war, der alles notierte und in Evidenz hielt? Sicher hatte er auch alle Gespräche in sein Tagebuch eingetragen. Abend für Abend, wenn er nach Hause kam. Und was hatten sie nicht alles gesprochen! . . . Ein unheimliches Gefühl der Leere entstand in Gad«ky, als er sich diese Zusammenkünfte wegdenken wollte aus seinem künftigen Leben, und nirgends einen Ersatz fand. Der arme Weiler steckte ja noch immer im Irren- haus; Fähnrich von Krülow wurde vermißt; die etwas taugten unter seinen Freunden, lebten alle nickt mehr, oder saßen in Gefangenschaft. Unentbehrlich war ihm
der kleine Franzose geworden! Wenn er so
neben ihm saß, und das Grün-Grau seiner eigenen Uniform schmutzig werden sah vor dem Hintergnmd des bleu-horizon, als lägen selbst ihre Kleider im Streit, erfaßte ihn immer wieder ein Staunen über die ge- heimnisvolle Sicherheit, mit welcher das Schicksal sie zusammengeführt hatte, trotz der strengen Verbote und Strafen, und der ungeheuren Schwierigkeit, einen Ver- kehr geheim zu halten, der jedem Vorbeigehenden in die Augen stechen mußte. Eine einzige Begegnung mit wem immer hätte ja genügt, um es sofort zum Stadtgespräch zu machen, daß man die feindlichen Farben im Walde nebeneinander sehen konnte, ohne daß Blut dabei floß!
Ihm selbst war es bei seiner Ankunft in Luzem beinahe übel geworden, als er im Gev^mmel auf dem Bahnsteig plötzlich die süßliche Farbe auftauchen sah, die in seinem Gedächtnis unzertrennlich mit der Marseillaise, mit Kreischen und Stöhnen, und tausend gräßlichen Eindrücken verbunden war. Er fühlte an- fangs die kalte Klinge zwischen den Rippen, so oft ihm ein Franzose begegnete; bis das unvergeßliche Erlebnis mit Merlier ihn von dieser Beklemmung be- freit hatte.
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Am ersten Sonntag war es, den er in Luzern ver- lebte, einem herrlichen, duftschweren Frühlingstag. Unter dem jungen Laubdach der Promenade wim- melten, befreit von der Last der schweren Winter- kleidung, leichtfüßig die Menschen; die Uniformen leuchteten hervor, wie der Crocus aus den Wiesen. Die Musikkapelle ließ, in besorgter Neutralität, einer Ouvertüre von Boildieu den Einzugsmarsch aus dem Tannhäuser folgen, das Publikum klatschte neutral mit gleich großer Begeisterung; deutsche, französische, englische und schweizerische Soldaten schlenderten vorbei; alles war so laut und sorglos, so ausgeschlafen und lebensfroh, daß man sich auf einen anderen Pla- neten versetzt glaubte. Nach den mürrischen, steil aufragenden Bergen, die den verhaßten Ort wie Ge- fängnismauem umstellt hatten, nach dem trostlosen Grau in Grau, dem ganzen engherzigen Betrieb, war dieser Spaziergang am Seeufer, unter dem strahlend- blauen, weiten Gewölbe, ein seliges Erwachen aus bösen Träumen. Die Berge blinzelten, in die Flucht geschlagen von so viel Lustigkeit, nur aus der Feme herüber; man konnte frei atmen, fühlte das Wort „Frieden" durch die Adern kreisen, und vergaß für Augenblicke sogar, daß man eine Uniform trug. —
Gewichtlos, mit verjüngten Gelenken war auch er tiefatmend auf- und abgegangen, wie ein König, der
das Glück seiner Untertanen genießt, hatte sich
eben lächelnd vorbeidrücken wollen an einer Gruppe schnatternder Mädchen, da tauchte, von der an- deren Seite kommend, unerwartet ein kleiner fran- zösischer Infanterist vor ihm auf. Er wollte aus- weichen, — stieß rechts gegen den Knäuel aus weißen Waschkleidern, wurde weiter geschoben von der Menge, und streifte — so schmal er sich auch gemacht hatte — den Franzosen unsanft mit dem Ellenbogen. Automatisch, ohne daß er gewußt hätte was er tat, war seine Hand zum Mützenschirm geschnellt, mur-
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melten seine Lippen die übliche Höflichkeitsformel; und im gleichen Augenblick sah er auch den himmel- blauen Aermel sich aufwärts bewegen, und hörte einige Vokale der französischen Entschuldigung. —
Einen Schritt ging er noch betäubt weiter, —
dann drehte er sich blitzschnell um, und sah erschrok- ken, daß auch der Franzose sich zurückgewandt hatte! Ihre Augen trafen sich, ein Funken sprang vom Men- schen zum Menschen, beleuchtete grell die Sinnlosig- keit der blutigen Komödie, deren Statisten beide ge- wesen waren. Als hätten sie sich die Hände gedrückt vor allen Leuten, fuhren sie schuldbewußt auseinander, und eilten davon. Aber die Freundschaft war ge- schlossen! Jeden Tag wechselten sie einen raschen Blick; und als sie sich am Fronleichnamstag, hier oben im Wald, unverhofft trafen, da schien die herzHche Begrüßung beiden eine Selbstverständlichkeit. Sie waren ja alte Bekannte, hatten die gleichen Bücher gelesen, die gleichen Bilder bewundert, die gleichen Komponisten geliebt, lange ehe sie etwas von einander wußten; konnten ihre Gespräche dort beginnen, wo sie die Unterhaltung mit ihren eigenen internierten Ka- meraden abbrechen mußten. Wie Europäer in einem fernen Weltteil, auf den Verkehr mit den Eingebomen angewiesen, ganze Tage im Sattel verbringen, nur um wieder einmal mit Menschen sprechen zu können, die wenigstens unter dem selben Sternenhimmel geboren sind, so hatten auch die beiden, so oft sie es nur irgend ermöglichen koimten, in diesem verborgenen Winkel sich getroffen, und die Taue, die sie aneinander banden, schnitten tief ein, beim Abschied. Kammer für Kammer durchwanderten sie noch einmal das Ge- bäude ihrer Freundschaft; lauschten, in sich hinein, dem
Echo, das jeder im anderen geweckt hatte.
Die Sonne neigte sich dem Pilatus zu ; wie Gold- staub flimmerte die Luft, bestreute die fernen Gipfel mit einem müden, schweren Glanz, lastete drückend auf
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de« Seespfegel, daß er regungsloi, wie ein» mattt Glasscheibe sich dehnte. Linker Hand ragte der Rigi, fleich einem Sprungbrett für die flinken Lämmer- Wolken, die ihn umkränzten, rosig leuchtend in den fahlen Himmel und fiel gleitend, in weichen Falten, wie ein Mantel aus edlem Stoff, in die pastellblaue Flut. Dit Hand Merliers zuckte auf, nervös geballt; sein Arm beschrieb einen Halbkreis, als wollte er das leuchtende Bild Ton sich wegtreiben. „Und es ist Krieg! . . . Glauben Sie das? . . . Immer noch Krieg!" rief ex verzweifelt.
Gadsky nickte ernst: „Dieser Gedanke hat mich viel gequält, oben, in dem verdammten Gebirgsnest! Ich hatte auch dort so ein verborgenes Plätzchen, eine Vorspringende Felsplatte, die nicht ganz leicht zu er- steigen war. So oft bei Sonnenuntergang, unten im Tal, das Dorf sich langsam dem Abendnebel in die Arme legte, jedesmal mußte ich daran denken, daß jenseits der Gebirgskette immer noch die Schüsse krachten, die Menschen sich zerfleischten, statt schön friedlich in ihre Häuser zu gehen, und die Lampen anzuzünden. Aber dort waren solche Gedanken noch viel schwerer zu ertragen, als hier! Der ganze große Ort zu meinen Füßen war ja in wenigen Jahren auf- geschossen, war in fieberhafter Eile hineingezwängt worden in den engen Schacht, weil einige Aerzt« des Glaubens waren, die Luft, die geschützt zwischen den Felswänden ruhte, habe besondere Heilkraft! Einzig und allein die Hoffnung, kranke Menschen, deren Leben im Tiefland nur mehr nach Tagen und Wochen zählte, noch eins, zwei Jahre lang erhalten zu können, hatte die Geleise gelegt, hatte Tunnels gesprengt, Milliarden Ziegel herbeigeschafft, und vier Stock- werke hoch übereinander geschichtet!
Und jenseits der Berge krochen endlose Karawanen, rasselten Krähne, arbeiteten Millionen Arme, wurde die Kraft ganzer Nationen vergeudet, nur um dai
Mt
Leben gesunder Menschen abzukürzen auf einige Stunden blutiger Qual! — — Anfsmigs hat ipich die«er Gedanke zur Raserei gebracht, daß ich hätte hinunterstürmen mögen ins Tal, um wie ein Herold durch den Ort zu laufen. Aber mit der Zeit hab^ ich mich beruhigt. Wenn ich in der Dämme- rung den Ort erreichte, wurde gerade der Tages- bericht ausgehängt, und der große Platz wimmelte gewöhnlich von Menschen. Hatte der Feind eine blu- tige Schlappe erlitten, dann herrschte heller Jubel, von ferne schon wurde mir die frohe Botschaft entgegen- gei-ufen. Und das waren nicht Heimkrieger, die nichts von den Schrecken des Kampfes wußten ! . . . Da war nicht Einer, dem nicht gnädiger Zufall das Leben erhalten hatte; nicht Einer, der bei Nacht nicht zuweilen aufschrie, wenn die Erinnerung seine Träume vergiftete. Und doch habe ich sie, — nicht einmal nur! — aus den Gefangenenzahlen die mutmaßlichen Verluste des Feindes an Toten und Verwundeten berechnen hören, eifrig und vergnügt, wie ein Kaufmann seinen Nutzen nach Ladenschluß. — — — Man soll die Menschen nicht bedauern, glauben Sie mir! Es gibt kein Tier, das so böse sein kann. Die grausam.sten Bestien morden nur, wenn sie Hunger haben, und auch dann nur äußerst selten ihresgleichen. Die schrankenlose Schadenfreude, die das ganze Kriegsgeschehen wie ein großes Schwungrad treibt, die Lust: anderen das anzu- tun, was man für sich selbst am meisten fürchtet, kennt nur der Mensch ! Seit er sich geben kann, wie er ist, seit er nicht mehr Güte und Rücksicht heucheln muß, v/eil der Krieg ihn von diesen Pflichten entbindet, seither kann man erst ganz ermessen, welche ungeheure Kraft in seinen bösen Instinkten liegt! Wenn im Jahre 1914 ein Gelehrter gekommen wäre, mit irgend einem un- fehlbaren Mittel gegen alle Krankheitskeime, gegen Krtbs und T^hus und Tuberkulose, und sich für
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fähig erklärt hätte, alles Elend aus der Welt zu schaffen, die Erde in einen Garten zu verwandeln, aber zur Herstellung seines Mittels, für einen einzigen Monat nur, die gleichen Opfer von allen Menschen gefordert hätte, die sie jetzt seit Jahren, ohne zu brummen, tragen, die Welt wäre die Hölle geblieben, die sie war. Nicht acht Tage lang hätten sie den Nationen solche Entbehrungen auferlegen dürfen, für einen edlen Zweck! Sie sind jung, Heber Freund, und haben noch das Bedürfnis, an die Menschheit zu glauben. In zehn Jahren werden Sie auch so klar sehen wie ich, und werden es sich abgewöhnen, mit Ideen auf Seelen zu angeln. Die Menschen lassen sich nur bewegen, v/enn man ihrem Magen, oder ihrer Eitelkeit was zu offerieren hat, oder was wegnimmt. Wer das nicht rechtzeitig einsehen lernt, rennt sich unfehlbar den Schädel ein!'*
Merlier schüttelte ganz langsam den Kopf, hing mit den Augen an den Bergen, und begann zögernd, als wäre seine Antwort in den Himmel geschrieben, und er müßte sie mühsam ablesen: „Nein! Das werde ich in zehn Jahren ganz gewiß nicht glauben. Und Sie werden es auch widerrufen haben, lange ehe zehn Jahre vorbei sind. Merken Sie denn nicht, wie wunder- bar es vorwärts geht, wie die Menschen von Jahr- hundert zu Jahrhundert besser geworden sind? Warum hat denn bei Kriegsausbruch jeder Staat behauptet, der Ueberfallene zu sein? Warum hat niemand mehr, wie vor zweihundert Jahren, aufrichtig verkündet: wir wollen jetzt die Nachbaren totschlagen, denn sie haben schöne Kohlenbergwerke, und Erzgruben, und Hafen- städte, die wir gut brauchen können? Warum haben alle Regierungen mit solchem Eifer ihren Soldaten ein- geredet, daß sie nur den eigenen Herd verteidigen, statt ihnen zu sagen, wenn ihr siegt, werdet ihr mehr Geld verdienen, mehr essen, schönere Kleider tragen, auf Kosten der anderen, die ihr aber vorher aus ihren
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Häusern vertreiben müßt? Warum hat niemand ge- wagt, den Leuten für materiellen Nutzen allein, selche Gefahren und Entbehrungen zuzumuten? . . . Sie können heute keine Raubkriege mehr führen! Nicht ohne den schlechten Zweck hinter einem Phrasenvor- hang zu verstecken I Ist das nicht herrhch? Ist das nicht der Beweis, daß nur der Vorhang herabgerissen werden muß, um die Welt zu retten? Wenn es genügt, den Menschen einen guten Zweck vorzutäuschen, um sie zum Ausharren im Trommelfeuer, zum kämpfen, und sterben, und töten zu bewegen, wie können Sie glauben, daß diese Selbstverleugnung auf eimnal nicht mehr da wäre, wenn man den vorgetäuschten guten Zweck durch ein wirklich erstrebenswertes Ziel er- setzen würde?"
Gadsky lächelte überlegen und schwieg. Er hörte Merlier zu gerne reden! Das gehauchte Deutsch, mit den scharf rollenden Konsonnanten, klang noch spas- siger durch den leisen Beiklang von Dialekt. Bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr war Merlier in Berlin auf der Schulbank gesessen, in dem großen Privat- institut, das seinen Vater als französischen Sprach- lehrer beschäftigte; und es war kein alltägliches Ver- gnügen, einen französischen Infanteristen ab und zu ein überzeugtes „Nee" oder „I wo'* sagen zu hören! Er war auch so schön jung, sprach immer mit einer flammenden Begeisterung, und Gadsky wollte ihm seinen Glauben nicht rauben; Heß sich nur sehr gegen seinen Willen zu Widerspruch hinreißen. Auch jetzt konnte er sich nicht ganz enthalten, und sagte nach längerer Pause achselzuckend; „Vielleicht sind Ihre Landsleute begeisterungsfähiger? Sie haben ja auch für die Menschenrechte geblutet. Ich habe allerdings den Verdacht, daß auch damals der Hunger eine
größere Rolle spielte, als alle Ideale, aber über
ein fremdes Volk soll man nicht urteilen.**
Zornig fiel ihn Merlier an: „Es gibt kein fremdes
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Volk ! Es gibt nur Menschen I Nur die Sprachen sinJ verschieden, und dieses Hindernis wird bösartig aus- gebeutet. Sie sehen ja: -wir zwei sind uns verwandter, als wir unsern eigenen Lands leuten sindl Und auch Ihre Bauemburschen würden sich viel besser mit einem fremzösischen Bauern unterhalten, als mit Ihnen. Die könnten untereinander von der Ernte reden, vom Düngen, und Heuen, und Schweinezuchten, so wie wir zwei über Musik und Literatur streiten. Sie gehören zusammen, so wie wir zusanmi engehören, unil werden sich finden, sobald ehrliche Dolmetscher die Vermittlung übernehmen. Merken Sie denn nicht, wie auch diese erkünstelten Unterschiede, die heute noch das Kriegführen ermöglichen, immer mehr zusammen- schmelzen? Früher haben die Nachbarstädte sich be- kriegt, bis Landstraßen sie zu Grafschaften einten; dann hat der Dampf unsere famosen Großmächte ge- schaffen; der nächste Krieg, wenn noch einer kommt, wird schon zwischen Erdteilen, zwischen Asien und der ganzen westlichen Erdhälftc wüten, und zuletzt wird die Weltkugel die Einheit werden, imd an Stelle
des Patriotismus %vird die Menschenliebe treten.
Sie lächeln? . . . Hat sie Christus nicht vor zwei- tausend Jahren schon verkündet? Mußten nicht alle Staaten mit Hochdruck arbeiten, Monumente gießen, Orden verteilen, die Kinder schon einfangen, patrio- tische Lieder singen lassen, Gedichte einbläuen, den Militärdienst einführen, die Gefängnisse füllen, und weiß Gott was noch, um diese Entwicklung zu hemmen? Das geht nicht mehr lange! Auf einmal vnrd der große Wendepunkt da sein. Wir erleben es alle noch."
Gadsky seufzte. Er dachte an seine Debatten mit Weiler und Fähnrich v. Krülow, und sah gerührt in das flammende Gesicht Merliers. Sie waren doch alle gleich, diese Träumer und Schwärmer! Erbauten sich in Gtdank«n «in« W^t nach ihrtm Sinn, und vtr-
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wechseltea flann Ö!e Sehnsucht mJl 3er WirkHchkeit „Sie vergessen Eines, mein lieber Merlier: daß näm- lich, trotz der langen Kriegsdauer, doch nur ein ge- ringer Bruchteil der Menschheit die volle Wucht des Unglücks am eigenen Leibe spürt! Sie glauben, der Krieg sei für alle, die ihn als Zeitgenossen miterleben,- ein gräßliches Blutbad, ein Rückfall in tierische Wild- heit, ein Verbrechen, das sich nicht mehr wiederholen darf. Sie vergessen, daß hinter den Männern, die in den Tod gehen, die Munitionsarbeiter zurückbleiben, die jeden Abend leben gehen! Sie vergessen die Kauf- leute, Fabrikanten, Landwirte und Offiziere, das ganze Heer, das an jedem Knopf, den wir am Leibe tragen, Geld verdient. Die zwanzig Millionen Kämpfer sind nur die Ware, die verkauft wird; sie tragen ihre Haut zu Markt, und die Verkäufer, die zurückbleiben, suchen das seltene Geschäft nach Mögliclikeit aus- zubeuten. Daß die armen Teufel, auf deren Schultern die ganze Last des Krieges liegt, guter Boden wären für die Saat, die Sie ausstreuen wollen, gebe ich gerne zu. Aber die werden, im vollen Sinne des Wortes, Saatboden sein, wenn es an der Zeit sein wird, die letzten Folgerungen aus dieser Katastrophe zu ziehen. Und die anderen? Wer aus diesem Morden lebendig nach Hause kommt, wird seine gehabten Schmerzen in sein Kopfkissen stopfen, und nicht die geringste Lust haben, von vorne anzufangen. Oline Schwert- streich aber wird das Böse nicht besiegt, dafür sorgen schon die Nutznießer, die reich, und mächtig, und berühmt aus dem großen Geschäft hei-vorgehen, und ihren Krieg, und alles, was ihn erhält und nährt, viel leidenschaftlicher verteidigen v/erden, als irgend jemand sein Vaterland oder seine , Ideen* verteidigen kann." — Er zog eine Zeitung aus seiner Tasche, und warf sie mit dem Ausdruck des Ekels vor Mer- liers Füße ins Gras : „Lesen Sie mal einige Tage lang unsere Zeitungen! Man muß ja blind sein, um nicht
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zu merken, wie zielbewußt immer mehr Haß auf
Deutschland konzentriert wird! Seit der schöne
Traam vom raschen Sieg zerronnen ist, wissen diese Leute ganz genau, daß ihr Handwerk mit jedem Tage unpopulärer wird. Sie hören uns raisonnieren, so hoch cie auch über uns thronen, — sehen mit Abscheu das Altweibergeschwätz von Abrüstung und Völker- familie zu einer ernsten Sehnsucht, zu einer mächtigen Welle anschwellen, die alle Herrlichkeit verschlingen könnte. Nur darum wird, wo wir auch hinkommen, alles drangsaliert, geknebelt, und ausgeplündert, als Rückversicherung! Und nur in zweiter Reihe aus Raubgier, Sie können*s mir glauben! Wenn wirklich wie Sie träumen, die Menge nach dieser Prüfungszeit genug hätte von der Gewalt, und von den Rechts- begriffen, die sich mit eingeschlagenen Schädeln legi- timieren,— wenn sich wirklich auch bei uns eine Mehr- heit fände für eine Ordnung, die jedem das Seine ließe, um das Eigene behalten zu können, es wäre schon dafür gesorgt, daß den Braven die Lust vergehe, in die Pantoffeln zu schlüpfen, und sich aufs Sopha hinzustrecken! Man würde sie dann einfach ans Fenster führen, und ihnen sagen: ,Da seht ihr die Wölfe, wie sie rachedürstig vor euren Türen lauem! Sobald ihr eure Waffen ablegt und es euch bequem macht, werden sie über euch herfallen und euch zer- fleischen. Habt ihr noch Lust, einzuschlafen?*
Das ist alles raffiniert ausgeklügelt, mein Lieber; mit Ideen und Gefühlchen werden Sie einem solchen Me- chanismus nicht Herr! Während wir hier philoso- phieren, treiben die andern ganze Völker in Sklaverei, und säen, und züchten den Haß rings um ihr Land, und begießen ihn fleißig mit Blut, damit er jeder Heilsbotschaft gewachsen bleibt. Da greift ein Rad ins andere, auf beiden Seiten stehen hinter den Fronten die Händler, die an der seltenen Ware: Menschen- fleisch, gleichmäßig interessiert sind, und spielen sich
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gegenseitig die Mittel in die Hand zur Erhaltung der Konjunktur! Diese Maschine ist seit Menschen- gedenken im Gange** ...
„Und hat sich ausgeleiert T* — rief triumphierend Merlier. „Sie funktioniert nicht mehr recht, der Stoff, den sie webt, wird schon durchlässig, wer immer ihn vors Licht hält, sieht die Wahrheit durch! Vor zwei Jahren, bedenken Sie: vor zwei Jahren schon, sagte mir ein einfacher Pferdehirt aus den Ardennen, dem ich täglich die Zeitung vorlesen mußte im Unterstand, der ganze Krieg konmie ihm, wenn er so das Gewäsch der Zeitungsschmierer hört, so vor, als würden sich zwei Menschen jämmerlich verprügeln, einemder die Zähne einschlagen, die Haare ausreißen, und dazu in einem fort rufen: ,Ich werde dir schon zeigen, daß ich der feinere, der gebildetere, der bessere Mensch bin von uns beiden! Da hast du auch diesen Faust- schlag noch. Glaubts du*s jetzt noch immer nicht, daß ich sanfter, christlicher und selbstloser bin, als du?* ... Ein Pferdehirt war das! Ein Mensch, der nicht schreiben und lesen konnte! . . . Die Menschen sind gar nicht so dumm! Die Ueberraschung wird kommen! Viel eher, als alle glauben!"
Gadsky zuckte unwillig dfe Schultern. Er konnte nicht schweigen; die alte Abneigung war zu mächtig in ihm gewachsen, seit er Monate lang Bett an Bett mit diesen vielgepriesenen „einfachen Leuten*' gelebt, und sich vnmdgescheuert hatte an ihrer hart- näckigen Verbohrtheit. „Das ist allerdings viel von einem Pferdehirten,** — erwiderte er trocken. „Aber bei uns können alle Leute lesen, und lesen inuner nur, daß alles so recht ist, wie es ist, und daß nur Verräter etwas besser haben möchten. Ihr Pferdehirt ^var eben gewöhnt, nachzudenken, hat, — wenn er auf den Pferdemarkt ging, — im Wirtshaus auf seine Regierung geschimpft, oder wenigstens zugehört, wie andere sie beschimpften. Das alles gibt es bei uns
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ntchtl Ich sage Ihnen ja immer, 5ie haben als Khid ein paar Jahre in Berlin verlebt, und da gibt es so Manches zu sehen, was einem Knaben imponieren kcmn. Aber von der Elntseeltheit unseres Volkes wissen Sie nichts. Sie haben keine Ahmmg, wie präzis bei uns alles ausgerechnet war! Man hat den Leuten gegeben, was Tasche und Magen begehrten. Sie hatten Wohnungen, deren Luftraum von der Behörde aus- gemessen wurde, sie hatten Versicherungskassen, und Invalidenrenten, und Spitäler, und Aerzte, die ihnen gratis die Zähne plombierten, sie bekamen Chinawein, gegen Blutarmut, und zu alledem noch Löhne, die hoch genug waren, um auch am Sonntag keine Un- zufriedenheit aufkommen zu lassen. Stück für Stück hat man ihnen das Denken abgewöhnt mit solchem Köder 1 Unfreiheit? ... Lächerlich! Wer hatte denn mehr zu essen, wer wurde besser versorgt von seiner Regierung, als der Deutsche? So vi^rde sein Leib gemästet, und seine Seele im Fett erstickt. Vielleicht erinnern Sie sich noch an das deutsche Märchen von der Knusperhexe, die den gefangenen Kindern Leb- kuchen und Hühnerbraten zu essen gab, und von Zeit zu Zeit ihr Fleisch prüfte, ob es schon reif zum Schlachten war. Genau so wurde bei uns nichts versäumt, um einen kräftigen Nachwuchs zu züchten, wurde die Schulbildung gewissenhaft überwacht, um aus jedem Bauemburschen einen tüchtigen Unteroffizier zu ge- %vinnen; und als alle Proben günstig ausfielen, dit Armee gesund, das Volk so gründlich präpariert war, daß die Regierung ein weißes Blatt Papier öffentlich aushängen, und es nach Beheben für eine ausländisch! Kriegserklänmg oder eine Mondlandschaft erklären konnte, ohne befürchten zu müssen, daß ein Untertan sich findet, der es für ein unbeschriebenes Blatt zu halten wagt, — da war der feierliche Augenblick gekommen, und das Schlachtfest konnte beginnen! Nehmen Sie von mir den guten Rat, lieber Freund,
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lassen Sie sich nicht von den Leuten beschwatzen, die Ihnen was von einem bevorstehenden »deutschen Erwachen', von einem ,Gären unter der Decke* oder ähnlichem Humbug erzählen! Und wenn der Krieg noch fünf Jahre dauert, bei uns bleibt alles beim Alten. Die Leute wissen nur, daß es ihnen ,gut gegangen* ist, daß sie genug zu essen, und billige Badeanstalten, und Gratismedizin gehabt haben. Und da der ganze herrliche Wohlstand, das verlorene Paradies, nachdem sie weinen, für ein Geschenk des Jahres siebzig gilt, bleiben Krieg und Sieg die Götter, die Macht und Reichtum spenden, und Freiheit, Seele, Menschheit und Weltfrieden, tückische Erfindungen, die unsere Feinde nur aushecken, um den deutschen Michel wieder in Träumerei und Armut zurückzustürzen."
Merlier war aufgesprungen, und lief mit großen Schritten vor Gadsky auf und ab. „Nun und bei uns?" — rief er bitter. „Bei uns leben die armen Leute wie bei Ihnen kein Hund! Haben schmutzige Spitäler, und keine Badeanstalten, und nichts zum fressen, und werden als Entgelt mit politischen Rechten abgespeist, weil das billiger kommt. Wir haben, — was viel ärger ist! — unseren Alltag, unsere Wohnräume plün- dern lassen, für ein Festgewand, das als Freiheits- symbol unbenutzt im Schaufenster hängt, und immer dichter mit Gold überstickt wird, je mehr es, — von Jahr zu Jahr, — die Motten zerfressen! Mit diesen vergoldeten Lumpen wird den Passanten, jenseits der Grenze, ein Glanz vorgetäuscht, von dem wir drinn im Laden nichts wissen. Das ist imser Hermelin! Ein Betrug wie der andere" . . ,
„Nein!" — fiel Gadsky gelassen ein, — „es ist nicht dasselbe. Ihre Leute sind hungrig, merken es von Zeit zu Zeit inmier wieder, daß sie die Gefoppten sind, und werfen den ganzen Krempel imi. Die im- seren sind satt, imd darum ist nichts mit ihnen an- zufangen."
Latzko, „Friedensffericht" 16 ^^ i
Merlier blieb stehen und nickte läcKelnd : „So, sind wir glücklich wieder dabei, mit vertauschten Rollen unsere Länder zu verteidigen! Wie einfach wäre doch alles, wenn die Menschen nur ein wenig vernünftiger sein wollten I Sie haben ja im Deutschen so ein hübsches Sprichwort von der eigenen Türe, die jeder selbst sauber kehren sollte. Der Krieg könnte sofort zu Ende sein, wenn beide Seiten diese einfache Weisheit beherzigen wollten, v^e wir zwei es tun. — Ich schimpfe auf Frcinkreich, weil ich seine Fehler kenne, — und Sie ärgern sich über Deutschland, weil ts Sie ja nichts angeht, was bei uns schlecht gemacht wird. Ist es zum glauben, daß selbst vernünftige Menschen, statt die Krankheit zu kurieren, die sie Silber quält, sich damit trösten, daß der Nachbar noch ärgere Schmerzen hat? . . . Wenn ich meinen Kame- raden von den Sünden unserer Nationalisten erzähle, dann schreien sie sofort einstimmig: „Et les boches?'* Früher wäre es keinem Taschendieb eingefallen, sich damit zu entschuldigen, daß es auch Raubmörder und Einbrecher gibt. Heute sind alle Nationen so be- scheiden geworden, daß es ihnen genügt, weniger böse als der Feind zu sein." Er schwieg einen Augenblick, Warf dann die Arme in die Luft, und sagte überzeugt: „Und sie müssen gut werden! Alle!"
Gadsky hatte sich langsam erhoben, war an den Rand der kleinen Wiese vorgetreten, imd betrachtete schwermütig das strahlende Bild zu seinen Füßen. Der inbrünstige Ausruf Merliers entlockte ihm ein müdes, nachsichtiges Lächeln. „Vielleicht werden sie wirklich gut, und gerecht, und sogar selbstlos werden, und ihren Nächsten lieben, wie sich selbst, auch wenn er andersfarbig gekleidet ist, und eine andere Sprache
spricht. Vielleicht? Sie zügeln ja ihren
Neid gegenüber dem Konkurrenten, der um die nächste Ecke wohnt, schlagen den Vetter nicht mehr tot, wenn fein Getreide höher steht, oder seine Kuh öfters kalbt,
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warum sollten sie einen Wohlstand nicht ertragen lernen, den sie gar nicht zu Gesicht bekommen? Eis kommt nur darauf an, ob man es ihnen von oben so vorschreiben wird? Wenn erst die Monarchen sich wieder küssen, werden auch die Untertanen sich wieder in den Armen liegen. Aber von unten, wie Sie sich das träumen, wird uns die Erlösung nicht beschert werden, das gebe ich Ihnen schriftHch! Wenn ich nur wüßte, woher Ihr Schwärmer euer Vertrauen zu der Menge, zu den ,Armen und Unterdrückten* be- zieht? Nie haben sie sich von euresgleichen befreien lassen; — immer haben sie treu zu ihren Blutsaugern gehalten, und mit Interesse den Hinrichtungen ihrer Erlöser beigewohnt. Jede Freiheit, bis heute, ist ihnen fix und fertig, und solid verpackt wie ein Weihnachts- geschenk, von oben gereicht und auf gezwimgen worden I Die Leibeigenschaft wurde nicht aufgehoben, weil die Bauern mit Sensen und Heugabeln drohten, sondern weil das Herrengewissen es nicht länger ertrug, Men- schen vne Tiere zu behandeln. Die Juden sind nicht eher aus dem Ghetto gekrochen, als das Rechtsgefühl der Starken und Freien die Mauern niederriß ; selbst die Freiheit der Negersklaven haben die herrschenden Europäer mit ihrem Blute erkämpfen müssen, und für Ihre berühmte Revolution hat der Graf von Mirabeau mehr getan, als zehntausend Sansculotten. Und so wird es auch diesmal konmien, wenn es überhaupt kommen wird. Erst wenn den Reichen kein Braten mehr schmeckt, der nach dem Schweiße hungernder Heloten riecht, erst wenn Könige und Feldherren vor dem Blut zurückscheuen, das ihren Lorbeer besudelt, erst dann kann all das Wahrheit werden, wo- von Sie und die Menschheitsbeglücker Ihres Schlages träumen. Warum wollen Sie Ihre Kraft aussichtslos
verschwenden? Wenden Sie sich an den
Kopf, wenn Sie gehört werden wollen, und nicht an die Füße!**
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Merlier hatte seinen Spaziergang wieder aufge- nommen, eilte zurück, pflanzte sich mit siegreicher Miene vor Gadsky auf, und rief triumphierend: „Sie sprechen von oben und unten, wie von unverrückbaren Himmelsgegenden ! . . . Was ist denn .oben* ? Doch nur, was man erreichen will! Oben ist der Gipfel, dem alle Welt zustrebt; verlegen Sie das Ziel ins Tal, und unten wird oben werden! Das war das große Unglück bisher, daß gerade die Schwachen und Armen am leidenschaftlichsten für Kraft und Reichtum schwärmten, und statt Gut und Böse, auch unten und oben fühlten. Das ist es, was wir vor allem ändern müssen, und darum wenden wir uns an die »FüßeM Die tragen den Kopf, der eigentlich nur Magen und Geldbeutel ist, in die Höhe. . . Sie sind ja so gefügig! Die falschen Propheten hatten bisher zu leichte Arbeit: es genügte, die armen, verhungerten Leute vor das Fenster eines vornehmen Restaurants zu führen, um ihnen zu zeigen, wie die Reichen, hinter der Spiegel- scheibe, bei Sekt und Gänsebraten praßten. Wozu sich plagen, viel Worte machen, das wirkliche Uebel aufdecken und um die Seelen ringen, wenn doch zwei Sätze genügten, um sich die Gefolgschaft aller Hun- gernden zu sichern! Man sagte einfach: der ißt sich an eurer Arbeit satt, während ihr hier draußen hungert. Wenn ihr mir folgt, werdet künftig ihr da drin beim Gänsebraten sitzen, und diese Faulenzer werden hier draußen schlottern. So konnte sich jeder zum Führer aufschwingen, und besorgte, bewußt oder unbewußt, die Geschäfte der Reichen, die angeblich seine Feinde waren! Denn so ist der Glanz entstanden, der heute noch vom Gelde ausgeht, und alle Gewissensbedenken überschreit. Mußten sich die Leute hinter der Scheibe nicht mächtig bestärkt fühlen in ihrem Glauben, etwas Herrliches erreicht zu haben, wenn sie immer nur den Neid sahen, der jedem Bissen das Geleite bis zu ihren Lippen gab? Wie sollte Scham in ihnen laut werden,
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da auch die Geknechteten keine höhere Sehnsucht kannten, als an ihrer Stelle zu sitzend Man schwätzt immer, die bürgerlichen Anstandsbegriffe müßten auch auf den Verkehr zwischen Völkern und Staaten über- tragen werden, damit es künftig keine Kriege mehr geben könne. Was hat deim bisher im gewöhnlichen Leben Anderes gegolten, als das Siegreichsein? Wer, von aller Welt geachtet ein schönes Leben leben wollte, mußte seine Arbeiter, seine Klienten, seine Kunden, mußte irgendwen geknechtet, mußte die Entbehrungen anderer zu Geld gemacht, mit seinen geschlagenen Gegnern einen Friedensvertrag geschlossen haben, der nur seinen Interessen diente, und mit Brachialgewalt aufrecht erhalten wurde. Alles genau wie der Staat! Ueberall, — im Großen wie im Kleinen, — hatte bisher der Starke alle Rechte, der Schwache alle Pflichten; — überall blühte Stolz, statt Schuldbe- wußtsein, — Neid, statt Verachtung! Gelingt es, nur das zu wenden, gelingt es, den Einzelnen dazu zu bringen, daß er sich seiner Selbstsucht schämt, aucK wenn sie ihm Erfolge einträgt, dann müssen die Staa- ten mit, und die Welt ist gerettet. Und es muß
uns gelingen! Es muß! . . .Sie lächeln umsonst! Merken Sie denn nicht, wie wenig dazu gehört, dieses Karten- haus, das nur schonungsloseste Gewalt noch zusammen- halten kann, umzustürzen? Sie selbst sagten vorhin, m.an müsse die Menschen bei dem Magen oder bei ihrer Eitelkeit packen, wenn man sie bewegen will. Und mit der Eitelkeit werden wir es auch schaffen! Das Schimpfwort Drückeberger genügt heute, um Ha- senfüße, die, wenn sie allein sind, vor einem kleinen Köter davonlaufen, zu heldenmütigem Ausharren zu z^vingen. Glauben Sie wirklich, deiß irgend ein an- deres Schimpfwort weniger wirkimgsvoll wäre, wenn es die gleiche entehrende Kraft hätte? Kann es schwerer sein, den Menschen Großmut und Mitgefühl abzuringen, als Todesverachtimg? . . . Schicken Sie
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doch unsere Duellhelden und Ihre buntbemützten, zerkratzten Studenten nach England hinüber, wo Ehrenhändel ernstlich verpönt sind! Sie werden sich auf irgend ein anderes Fach werfen, das drüben An- klang findet, aber das Anrempeln werden sie totsicher sein lassen. Die Eitelkeit ist eine mächtige Lokomo- tive, die ewig unter Dampf steht, und mit der gleichen Leichtigkeit nützliche Arbeit verrichten, oder in den Bahnhof hineinfahren, Mauern demolieren, Menschen- leben vernichten kann. Es konmit nur auf die Weichen- stellung an! Machen Sie nur, daß jeder verachtet werde, der andere darben läßt, um sich selbst mästen zu können, — lassen Sie jeden, ob Mensch oder Staat, verpönt und gemieden sein, wenn er einen Schwachem niederwirft, statt ihm aufzuhelfen, — sofort wird der Reichtum Glanz und Anziehimgskraft einbüßen, und
die Völker werden sich ihrer Siege schämen!
Diese Weichenstellung wollen wir jetzt besorgen, — im Handumdrehen. Und Sie werden auch mithelfen! Jeder muß in seinem eigenen Lande mithelfen. Eis wird viel leichter gehen, als die meisten glauben!**
Gerührt sah Gadsky in die leuchtenden Augen, legte die Hand auf Merliers Schulter, und sagte, sanft abwehrend: „Ich vAW gerne einer Ihrer Apostel wer- den; aber teilen kann ich Ihren Glauben nicht! Alles wäre eher geeignet, die Menschheit auf ein neues Ge- leise zu schieben, als dieser Krieg, der die allgemeine Selbstsucht zu niegeahnter Blüte brachte. Wie soll** . . .
„Darum eben!** — fiel Merlier "jubelnd ein, und breitete die Arme aus, als wollte er die ganze Welt an seine Brust drücken. „Weil diese drei Jahre jedes Volk und jeden Menschen begreifen gelehrt, daß man nicht andere unterjochen kann, ohne auch sich selbst aller Freiheit zu berauben! Weil am Ende dieser Leidenszeit niemand mehr glauben wird, daß man Menschen berauben könne, ohne gestiefelt und ge- spornt, mit dem Gewehre neben sich im Bette zu
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liegen! Dreimal in fünfzig Jahren Raben
Ihre Landsleute einen rsischcn Sieg erfochten, und man konnte ihnen weis machen, es genüge stark zu sein imd gute Waffen zu haben, um so von Zeit zu Zeit einen Schlag zu führen, und dann ungestört im vermehrten Wohlstand zu plätschern. Aber nun haben sie sich selbst, und die ganze Welt davon überzeugt, daß das Spiel die Kerze nicht lohne. Deis ist der tiefere Sinn der ungeheuren Metzelei, glauben Sie mir 1 Seit hundert Jahren zieht es die Menschheit zu dieser Erkenntnis hin. Am Anfang waren die Deutschen uns allen vor- aus; hingen schon 2in ihrer Seele, als wir noch einzig die Gewalt verehrten, und uns blähten vor Stolz, so oft wir einem schwächeren Volke das Rückgrat ge- brochen hatten. Aber dann waren wir endlich satt, und die Wahrheit begann uns zu dämmern, die jeder Ochse, der wiederkäuend auf der Wiese liegt, schon begriffen hat! Und gerade in dieser kritischen Stunde, gerade als bei uns schon die Führer das Wort ergriffen, die nicht zum Magen sprachen, gerade als es uns endgültig klcir geworden war, daß alle Schlachten mit dem Blut der Schwachen geschla- gen wurden, der Sieg aber nur die Macht der Starken mehrte, — — — gerade als wir schon die Hand ausstrecken wollten, um das einzige Bündnis zu schließen, das geschlossen werden darf, und muß: deis Bündnis der Schwachen gegen die Starken, — da erwachte bei Ihnen drüben mit unerhörter Kraft der lange unterdrückte Sinn für greifbare Güter, und Sie wollten dort anfangen, wo vm eben aufhören wollten! . . . Und daher der große, leidenschaftliche Haß, der auf Ihrem Volke lastet, und es so kopfscheu macht. Es ist nicht anders, als wollten Sie einen feudalen Baron, der wundervolle Güter besitzt, die seine Ahnen als Raubritter erworben haben, heute überfallen, mit der Begründung, Sie hätten gar keine Veranlassung ein armer Schlucker zu bleiben, nur weil Ihre Väter es
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seinerzeit versäumten, die Landstraße zu belauem! Das klingt gar nicht so ungerecht, wenn man nur sein eigenes Interesse im Auge hat; wenn man aber be- denkt, welche Wohltat für die gesamte Menschheit die Ueberwindung des Faustrechtes war, wird man dieses ungeheure Uebel nicht noch einmal einführen wollen,
nur um sich selbst ein Gut zu ergattern.
Darum ist bei uns die Erbitterung so riesengroß, weil jeder fühlt, daß wir schon bereit gewesen wären, unsere Blutsauger zum Teufel zu jagen, und diese letzte Prüfung nur über uns ergehen lassen müssen, weil die Deutschen noch von den ihren gegängelt wurden!
' Es geht wie immer, wenn Menschen Böses tun:
jeder haßt das Schlechte, das er tut, und sucht es im
anderen zu treffen. Aber sehen Sie, das
glaube ich bestimmt: so viel Blut kann nicht ver- schwendet sein! Inmier haben wir unsere Ideen nach Deutschland in Kost gegeben, wie wir unsere Kinder zu den Bauern aufs Land tun, und erst wieder zurück- nehmen, wenn sie schon stark und lebensfähig ge- worden sind. Wie eine treue Henne hat Deutschland unsere Einfälle gründlich ausgebrütet, ob es sich um einen neuen Motor, oder um ein philosophisches System handelte. Und so wird es auch jetzt kommen! . . . Wir haben uns, vor lauter Freude über unsere Befreiung von den Pächtern und Adeligen, restlos den Skor- pionen des Kapitals ausgeliefert; — haben die Menschenrechte zu einer Parodie werden, und uns be- schwatzen lassen, bis von all den schönen Resultaten der ungeheuren Anstrengung nur die Wehrpflicht, die jeder gerne auf sich genommen hatte, um seine Rechte selbst zu verteidigen, uns zum Schlüsse geblieben ist! Ihre Landsleute aber haben, solid und gründlich, wie sie sind, mit den Pflichten angefangen und werden jetzt mit den Rechten aufhören, — denken Sie an mich ! Die leeren Hände müssen sich finden; denn es gibt eine
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Sprache, die wird auf der ganzen Welt ge- sprochen, der hungernde indische Kuli versteht sie so gut, wie die Männer, die sich seit drei Jahren, nur vom Tode nicht verlassen, gegenüber liegen: es ist die Sprache des Schmerzes, die Sprache der Seele, die sich aufbäumt gegen das Unrecht, das sie erleiden muß. Man hat die Menschen hinter Grenzen gesperrt, ein- farbig angestrichen und aufeinander gehetzt; in ein grausam-schlaues Netz von angeblichen Pflichten, und Strafen, und Ehren geschnürt, nur damit sie sich nicht in dieser angeborenen Sprache verständigen können. Aber das geht jetzt nicht länger! . . . Darum hat das Leid 80 unsagbar schwer werden müssen, damit alle Trossen wie Bindfaden reißen! Die Welt liegt in den Wehen und wird die Menschenrechte neu gebären, — in hundert Jahren gründlich ausgetragen, für ewige
Zeiten geprägt, Sie können sich heiligst darauf
verlassen !**
Seine Stimme wurde unsicher, er verstummte, und hielt Gadsky seine rechte Hand entgegen, mit ab- gewandtem Gesicht, übermannt von seinem eigenen Glauben.
Gadsky schlug ein, behielt die heiße, zitternde Hand in der Seinen, und sagte ergriffen, mit einem wehmütigen Seufzer: „Wir wollen's hoffen!"
Hinter ihrem Rücken lugte die Sonne noch ein letztesmal über den Pilatus, legte einen mächtigen Goldbarren über die ganze Bergkette, und ließ alle Farben aufflammen, als wäre auch die Natur ange- steckt von der Hoffnung, die aus den Augen Merliers strahlte.
Gadsky fiel ein Bild ein, ein schlechter Oeldruck, den er irgendwo in einem Wirtshauskorridor gesehen hatte. Es hieß: „Der Schwur auf dem Grütli" und zeigte auch solch eine Bergwiese, von Mond- oder Sonnenschein überflutet, in der Mitte drei drollig gezeichnete alte Männer, mit wallenden Barten, die
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Hände zum Schwiir erhoben. War nicht der
Frieden, der diesen Abend erfüllte, war nicht dieses ganze Märchenland, das umflossen von Haß und Wut, beinahe einzig in der Welt Menschenleben noch heilig
hielt, geboren aus jenem Schwur?
Er sah auf zu Merlier, -sah seinen eigenen
grauen Aermel hineinmünden in die hchtblaue Fort- setzung, — und wiederholte aus tiefster Seele: „Wir wollen*s hoffen!**
Ein grauer, häßlicher Tag hing vor den verregne- ten Fensterscheiben, als der Zug aus dem Luzemer Bahnhof fuhr. In dem vollgepfropften Wagen roch es nach feuchten Kleidern, welken Blumen, die Morgenschwere lag noch bleiern in den Gliedern, und das krampfhaft lustige, überlaute Treiben, das den Waggon durchschwirrte, steigerte Gadskys mutlosen Trübsinn zu einer agressiven Gereiztheit, die er nur mühsam unterdrücken konnte. Wie Schläge klatschten ihm die plumpen Scherzworte und donnernden Lach- salven ins Gesicht! Warum taten denn diese
verdammten Schreihälse so vergnügt, als ginge ein lang gehegter Traum endlich in Erfüllung; als hätten sie es alle nicht mehr erw£ui:en können, enggepfercht wie Schlachtvieh, heimgeschoben zu werden ins traute Vater- land, in die Kaserne, — auf den Elxerzierplatz, — in den Schützengraben? Elr hatte sie ja voller Bangen auf die Entscheidung warten gesehen ; erinnerte sich ge- nau, daß nur zwei alte Knöpfe, die sich nach ihren Familien sehnten, freiwillig vorgetreten waren, als das Gespenst des Ausgetauschtwerdens zum erstenmal das ganze Spital in Aufregung gestürzt hatte. Woher nahmen sie jetzt den Mut, so fröhlich zu tun, als hätte nie einer dem anderen sein Herz ausgeschüttet? War CS am Ende nicht nur Verstellung? . . . Konnte der
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yierzehntägige Urlaub, konnte die kurze Galgenfrist, die ihnen gewährt wurde, sie wirklich hinwegtäuschen über alles, was hinter dieser dünnen Wand aus farbi- gem Papier ihrer harrte?
Gadsky lauschte dem rhythmischen Poltern der Räder, starrte in die triefende Lsmdschaft hinaus, suchte umsonst die Gespräche und Zurufe zu überhören, die an den Uebermut heimreisender Schulkinder erinner- ten. Seine Freunde hätte er hier haben mögen! . . . Den armen Weiler, den geheimnisvollen Sanitäter, der wie ein Gespenst aufgetaucht war, und diese stumpfe, mörderisch geduldige Sippe leidenschaftlich gegen jeden Vorwurf verteidigt hatte I Was erhofften
sich diese Kindsköpfe eigentlich? Was stärkte
immer wieder ihren unerschütterlichen Glauben in das
„Volk"? Hatte nicht auchMerlier, erst gestern
nachmittag wieder, so überzeugt von dem „Erwachen" dieser Schlafmützen gesprochen, als wäre ihm jedes V/ort von Weiler in den Mund gelegt worden ? Waren sie denn alle blind ? Genügte nicht ein flüchtiger Blick in dieses Abteil, um für immer von solchen Träu- mereien geheilt zu werden?
„Erwachen?" — — „Eine neue Eitelkeit?"
Welche Kraft sollte denn fähig sein, die
„Weichen umzustellen", wenn die Erlebnisse dieses Krieges so spurlos erblassen konnten, verdrängt von der Aussicht auf zwei Wochen Urlaub!
Er ließ seine Augen durch den Wagen streifen, und sein Zorn wandelte sich in bitteren Neid, als ihm aus allen Gesichtern ein sorgloser, ehrlicher Frohsinn entgegenblitzte, der nicht nur gespielt sein konnte. Alle brachten sie dieselben Erinnerungen mit nach Hause, alle hatten sie es hunderte Male beteuert, daß es keine Macht gäbe auf der Welt, die sie noch einmal zurück- jagen könnte in das verfluchte Schlachten! Auf gebrüllt hätte jeder, der jetzt hier im Wagen saß, wie unter einem Peitschenhieb, wenn draußen im Felde, oder in
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der^ Gefangenschaft, ein Seher die Heimkehr so ge- schildert, ihm geweissagt hätte, daß vierzehn Tage genügen würden, um ihn wieder gefügig zu machen! Nicht Einen gab es im ganzen Zug, der nicht hundert- mal die Fäuste geballt, finstere Racheschwüre ge- murmelt, heimlich düstere Gespräche geführt hatte, selbst auf den bequemen Gastbetten der Schweiz noch, so oft der schamlose Betrug in Zeitungen und Bü- chern die eingeschlafene Empörung neu entfesselte, gegen das Gesindel, das die Daheimgebliebenen be- schv/a^zte» und die Qualen der Geopferten mit Pathos überschne, wie Trommelwirbel bei der Hinrichtung die Angst des Verurteilten. Keiner kam zurück in die Heimat, in das Leben, ohne wortbrüchig zu werden an sich selbst und an allen Kameraden ! Keiner dachte mehr an sein heiliges Versprechen, die Wahrheit offen herauszusagen, wenn er noch einmal nach Hause kam.
„Wenn ich noch einmal nach Hause komme!" . . . Oh, wie gerne wäre er aufgesprungen und hätte diesen millionenmal geseufzten Satz der treulosen Ge- sellschaft ins Gesicht geschmettert! Wie gerne hätte er jeden einzelnen an der Schulter gepackt und durch- gebeutelt! Seine Nägel bohrten sich tief ins
eigene Fleisch, so hart litt er unter dem Geschnatter ringsum.
Er schloß die Augen, und ließ noch einmal alles an sich vorbeiziehen, was er in den endlosen zwei Jahren durchlitten hatte. Er sah Weiler, schäumend an die Bahre geschnallt, sah den aufgerissenen Leib Fröbels, das grausam zertrümmerte Gesicht des Gesangskomikers, hörte den Hauptmann ^vie ein ge- foltertes Tier kreischen, die eigene, abgeschälte Haut
vor dem Gesicht! Er besah sich seine Hände,
tastete über den roten Wulst auf seiner Brust, dachte an den kleinen Franzosen mit dem schütteren Schnurrbärtchen, den ersten Menschen, den er er-
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sdiiagen hatte, und fühlte Erbarmen mit sich
selbst, bei der Erinnenmg an seine wehrlose Ohnmacht im Lazarett und auf dem Transport, als ein rohes Tier wie mit einem gefangenen Käfer mit ihm spielen durfte!
Und das alles hatte nun keine Bedeutung mehr? Das alles mußte erblassen vor der goldenen Borte auf dem Kragen des Herrn Xaver Stuff ? . . .
Wie griechisches Feuer fraß dieser Gedanke in ihm; jede Faser seines Leibes bäumte sich auf gegen das ungeheure Unrecht! Er sah sich schon in der Kaserne, — sah sich stranmistehen, — herablassend begrüßt von dem gnädigen Herrn Feldwebel, der ihn vor seiner Türe warten lassen, der ihn gleich zum Ein- stand bef legein, herausfordern, oder einsperren lassen konnte, als hätte sich nichts geändert, als wäre gar nichts geschehen während der zwei Jahre! Die namen- lose Erbitterung, die Mathildes Besuch zum erstenmal entfesselt hatte, brach von neuem los, schnürte ihm die Kehle zu, und ließ den Vorsatz in ihm mächtig werden, sich nicht zu fügen, sich nicht mit vierzehn Tagen abfertigen zu lassen, wie die anderen!
Nacht für Nacht war Herr Feldwebel Stuff be- haglich neben seiner umfangreichen Gemahlin im warmen Bett gelegen und sollte jetzt seine Herrschaft wieder aufnehmen? — — Nein! — — — Weim keiner die Treue hielt seinen eigenen Qualen, — er wollte nicht schweigen 1 Wollte alles offen heraussagen, wie er es sich geschworen hatte, mit dem Tode als Zeugen neben sich! Eis war gut, daß er zuallererst in die Kaserne mußte, um „Herrn** Stuff seine Auf- wartung zu machen; — so war er sicher, nicht weich zu werden. Kein Flehen Mathildes, kein Augenrollen Stuffs sollte ihn abhalten. Den Drückebergern und Enthobenen gegenüber sollten sie Nachsicht walten
lassen! — Er wollte keine Gnade! Ej wollte
sein Recht!
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Wie einen Geilerhut wollte er seine durchbohrte Lunge, seine ergrauten Schläfen, aufpflanzen vor den Augen Stuf fs, — vor aller Welt ! Hinausschreien wollte er es, daß, wer zerschunden und jämmerlich zusammen- geflickt nach Hause kam, sich nicht zu ducken brauchte, sondern herabschauen, Achtung fordern durfte von jedem, der sich ferne von der Gefahr ge- pflegt und gemästet hatte, auch wenn Borten und Sterne, auch wenn Brillanten seine Uniform schmückten !
Zurückweisen wollte er seine Enthebung! Ver- zichten auf jede Ausnahmsbehandlung! Nur, was
jedem gebührte, wollte er für sich fordern, und
verkünden, daß niemand ein zweitesmal ins Feuer ge- worfen, niemand noch einmal den Todesschweiß schwitzen durfte, solange das Land von Männern winmielte, die ihr Leben noch nicht aufs Spiel gesetzt hatten, und die tiefe Neu-be einer Mordtat noch nicht auf der Seele trugen!
Diesen Kampf wollte er auskämpfen, komme was
da wolle, warf trotzig den Kopf zurück, wie
gehoben von seinem Entschluß ; und sah sich
erschrocken um, als erwachte er aus einem tiefen Traum. Elr stand schon auf Deck des Bodensee- dampfers, das schweizerische Ufer glitt langsam zu- rück, und auf der Stange, über dem schäumenden Kielwasser, flatterte die Reichs feihne.
„Stolz weht die Fahne schwarz-weiß-rot!" brüll- ten begeisterte Marinesoldaten aus nächster Nähe in seine Ohren.
Er flüchtete nach vorne, wo das Gedränge erträg- licher schien, und suchte sich zu erinnern, wie er her- gekommen war. Nur ganz dunkel, als wäre es vor Jahren geschehen, huschten Bilder durch sein Gedächt- nis: ein Stoßen und Schieben, Männer, die seine Pa- piere sehen wollten, spritzende Pfützen, in die man, — torkelnd unter dem schweren Gepäck, — hinein-
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bugsiert wurde, Gelächter, dann das Donnern
beschlagener Sohlen über die Planken einer Brücke,
kaum konnte er glauben, daß er das alles
eben erst durchlebt hatte.
Der Bodensee!
Ein feiner Regen rieselte ihm ins GesicW, die Nase des Schiffes bohrte sich in die schmutziggraue Wand, die, wie ein vertikaler Seespiegel, über dem Wasser aufragte. Deutschland lag noch unsichtbar hinter dem Nebelvorhang.
Seine letzte Fahrt über das gleiche Wasser fiel ihm eini Dort, wo jetzt die Rucksäcke sich türmten, waren seine großen, hellgelben Handtaschen gelegen; und als das Ufer in Sicht kam, fing die nette kleine Wienerin, die \vieder nach St. Moritz zurückmußte, bitterlich zu
weinen an. Lieber Gott! Wie war das Leben
einmal leicht gewesen!
Er trat Ein die Reeling, um von der Schweiz Ab- schied zu nehmen. Aber das Ufer war schon ver- sunken; wie in feuchte Tücher gewickelt, hing der Dampfer im Nebel. Nur das Rad schlug unermüdlich
seine Schaufeln ins Wasser, die Fahne am Heck
stand steif im Wind, Deutschland kam näher!
Gadsky wollte sich setzen, aber das Gedränge flutete vom Hinterschiff, wo es nichts mehr zu sehen gab, zu ihm vor; bald konnte man die Ellenbogen nicht mehr bewegen. Jeder wollte als erster die Heimat aus dem Nebel tauchen sehen; Wetten wurden ge- schlossen, Flaschen entkorkt; man schob, und stieß und preßte sich vor; für einen Augenblick nahm das buntt Jcihrmarkstreiben selbst Gadsky gefangen. Rings um ihn wurde Wiedersehen gefeiert, Menschen, die sich seit ihrer Gefangennahme, und länger oft, nicht gesehen hatten, begrüßten sich unter lautem Jubel. Da entdeckte ein Huhne aus der Schutztruppe, den keck zurückgebogenen Hut auf dem Kopfe, in einem ver- wuzelttn kleinen Landstummiann seinen Vater; dort
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winkte vom Oberdeck ein Offizier gnädig in das Ge- wimmel hinunter, und rief seine wiedergefundenen Küken beim Namen. Die helle Freude strahlte von allen Gesichtern, als ginge es vnrklich in die Frei- heiti —
Gadsky wollte zurück aufs Heck, spähte vergebens
nach einem Spalt in der Menschenmauer. Dal
War das nicht? Blitzschnell wandte er sich ab,
hörte aber schon seinen Namen rufen, und konnte nicht davon. Es war der Feldwebel, der ihn angeschwärzt, und nachher mit kleinen Bosheiten verfolgt hatte, bis die Versetzung nach Luzem ihm das Handwerk legte. Grinsend trat er vor Gadsky hin und höhnte mit seiner häßlichen, brüchigen Stimme: „Nun? . . . Warum denn so traurig? Gingen Sie vielleicht lieber ins Ge- fangenenlager zurück, zu ihrem dicken Major, als in die Heimat?"
Gadsky gab keine Antwort. Er stand stramm, und ärgerte sich über dieses mechanische Funktionieren seiner Muskeln, die sich schon von selbst verstrafften, beim Anblick einer Feldwebeldistinktion. Wie sollte er sie erst vor Stuff, der sie so schön abgerichtet hatte
„Ja, ja! So*n großer Herr, wie bei Ihren ge- liebten Franzmännern, werden Sie bei uns wohl nicht sein," — höhnte der Feldwebel weiter, und sein hartes, knochiges Gesicht strahlte vor Schadenfreude. „Wo sind Sie eigentlich in Garnison?**
Gadsky nannte die Stadt, hielt den kleinen, giftigen Augen trotzig stand. Sie hatten beide das gleiche Reiseziel, das wußte er vom Gefangenenlager her, wo alle Briefe durch seine Hände gegangen waren; und der Gedanke durchflammte ihn, der gehässige, rachsüchtige Mensch könnte ihn bei Stuff verklagen.
Er zitterte vor weiteren Fragen; atmete auf, als der bissige Kerl endHch genug hatte, und mit einem herablassenden Winken zu seiner Gruppe zurückging.
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Von heute auf morgen konnte seine Enthebung nicht durchgesetzt werden, auch nicht, wenn Mathilde sich die Füße wundlief. Ein dummer Zufall» der die zwei würdigen Kameraden zusammenbrachte, — — und Stuff hatte den schönsten Vorwand um
Fürchten ? . , . Nein ! Er hatte keine Ursache sich zu ducken ! Hätte sich selbst an der Gurgel packen mögen für diese niederträchtige Angst! Was ging ihn denn das Geschwätz zweier Feldwebel an? Er kam aus der Gefangenschaft! . . , Narbenbedeckt! . . . Das wollte er nicht wieder vergessen!
Mit geballten Fäusten nahm er sich einen Anlauf, entschlossen, das Gewimmel zu durchbrechen. Aber der Weg führte an der Unteroffiziersgruppe neben dem Lichtschacht vorbei; er mußte den widerlichen Men- schen mit dem Aermel streifen. Und richtig kam, gerade als er sich schmal gemacht hatte, und die Ge- fahr schon für überwunden hielt, ein kleiner Trupp aus der entgegengesetzten Richtung, drückte ihn beiseite, mitten in den lustigen Kreis hinein.
„Ich verlange mich in ein französisches Lager** — hörte er seinen Gegner eben sagen, — „die Kerle können sich freuen, die ich unter meine Aufsicht kriege! Anderthalb Jahre lang haben sie mich drüben gequält. Jetzt will ich ihnen den roten Saft aus- quetschen** . . .
Weiter hörte Gadsky nicht. Eis war ihm dunkel vor den Augen geworden; zu tiefst aus dem Magen stieß ihm der Ekel in die Kehle! Rücksichtslos schob er alles beiseite, was ihm im Wege stand, hörte nicht auf die Schimpfworte, die ihm nachflogen, kämpfte sich durch, und war ganz erschöpft und mit Schweiß Übergossen, als er endlich das Hinterschiff erreichte. Da war es ruhiger. Nur weit zerstreut standen kleinere Gruppen; ergraute Landsturmmänner, Invalide auf Krücken, und ganz rückwärts, unter der flatternden
Latzko, «Friedensgeridit**
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Fahne, in Reisedecken gehüllt, ein Gerippe auf einem Rollwagen.
Gadsky stand über die Reeüng gebeugt und starrte in die weiße, perlende Straße, die der Dampfer
hinter sich zurückließ. Er dachte an Merlier!
Das waren nun die Menschen, die er zur Güle er- wecken wollte. Das waren die Träger der Zukunft! Weil sie es am eigenen Leibe ausgekostet hatten, wie hart es war, wehrlos ausgeliefert zu sein, darum wollten sie es auch den Anderen schwer machen! Nicht ein- mal das eigene Leid konnte sie mitleidig stimmen! Nicht einmal die Erinnerung hatte Macht über ihre Herzen, — wie sollten Worte sie gewinnen? Wie sollte fremdes Erdulden sie zur Tat begeistern, das Beispiel eines Mutigen sie emporreißen, Begriffe, die niemand vor sie hinstellen konnte, ihre Führer werden?
„Recht?" „Menschenwürde?'*
Gadsky lachte höhnisch und sah sich mißtrauisch nach den Leuten um, die, unmittelbar hinter seinem Rücken, eine laute Unterhaltung führten. Ein breitschultriger Marinesoldat stand bei der Gruppe, blies wahre Pest- wolken aus seiner Pfeife, und sprach herablassend mit der Besatzung des Bodenseedampfers. Andächtig sahen die Süß Wassermatrosen zu dem richtigen Seemann auf, wiegten lauschend die Köpfe, und warfen ab und zu eine Frage nach ihm aus, wie Angler den Köder.
Gadsky folgte zerstreut dem Gespräch, ohne richtig zu hören, wovon geredet wurde; nur die Worte „Kriegsgefangen'* . . . „Kriegsgefangenschaft*' blieben ihm in den Ohren hängen, klangen nach, merkwürdig fremd, als hätte er sie noch nie so deutlich ausge- sprochen gehört.
„Kriegsgefangen?** . . . Wie eine seltene Münze
drehte er das Wort hin und her! Hieß das:
vom Krieg gefangen? Dann v/ar er jetzt auf dem besten Wege, es zu werden!
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Das Schiff fuhr ja kerzengerade in den Krieg hinein! Versteckt hinter dem Nebel lauerte weit ge- öffnet der Rachen, und schnappte zu, sobald er an Land ging!
„Kriegsgefangen?'* Ein einziger Satz aus
dern Gespräche, das er gestern nachmittag mit Merlicr geführt hatte, würde dort drüben, wohin sie jetzt steuerten, vollauf genügen, um ihn an den Galgen zu bringen! Denn dort drüben herrschte der Krieg. Und sobald man erst wieder drin saß im Krieg, durfte man keine eigene Ansicht mehr haben. Wen der Krieg sich einfing, den machte er stumm und blind. Der mußte ersticken, — — und schweigen! Schweigen in der Kaserne, schweigen in der Trambahn, schweigen überall, wo fremde Ohren lauerten!
Krämervolk — — Gott strafe England — — Schamlos überfallen —
„Kriegsgefangen!'*
Mit irren Augen blickte er um sich, sah, daß alles zurückstürmte, die Rucksäcke aufnahm, und wieder nach vorne lief. Mechemisch holte auch er sein Ge- päck, schlüpfte in die Tragriemen, und fühlte seine Kniee einknicken, so schwach war er geworden.
Kriegs gefangen? — — — Das Wort ließ ihn nicht los! War es nicht verrückt, sich noch einmal einfangen zu lassen?
Von der Nase des Schiffes her schlug Gcsemg an seine Ohren; Hurrahrufen, lautes Geschrei und Jauchzen. Deutschland? — — — Er beugte sich weit vor, um zu sehen, — und sein Kopf sank vorn- über, schwer, wie eine Steinkugel. Mit Hacken aus scharfem Stahl hatte sich das Wort „Kriegs gefangen" in sein Gehirn eingehängt, — — wurde immer schv/erer, je lauter das Geschrei vorne anschwoll!
Ihm war's, als sähe er auf einem Landungsstege der blitzschnell näher kam, die blutrote Fratze Stuffs, zu hähmischem Grinsen verzogen. Triumphierend er-
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wartete er seinen Kriegsgefangenen, mit Schweren Ketten in den Händen! Nur einige Minuten noch,
und die Ketten wurden angelegt Wohin
konnte man noch entfHehen?
Er sah sich, wie ein Kind das Pferderl spielt, in die Ketten eingespannt, von Stuff mit einer Spielzeug- peitsche getrieben I Und ringsum stand das Volk und lachte. — Ein kurzes, heiseres Stöhnen entrang sich seiner Brust; er wollte sich die Kleider aufreißen, um seine Narben herzuzeigen, und ließ die Arme sinken.
Das war ja alles Unsinn! ^- Mathilde hatte
seine Enthebung vielleicht schon durchgesetzt
Nein ! ... Er mußte sich retten ! Ein Schrei würgte ihn, ein Hilfeschrei, Nichts wußte er mehr, als daß er um keinen Preis an Land gehen wollte! Um keinen Preis in die Kriegsgefangenschaft! Um keinen Preis dorthin, wo Stuff stand, mit den Ketten! — >
Da erdröhnte Musik! Das Nebelhorn tutete zur Ankunft ! , , , Und er sah das Gefängnis sich auftun,
großmächtig aus den Wolken tauchen!
War das Deutschland? Ein großer Käfig
kam schwebend näher! Der Nebel hing tief herab, verdeckte den hohen Hügehücken, fraß den Bäumen die Kronen ab, daß nur die Stämme aufragten, dicht schraffiert, genau wie Gitterstäbe.
Eine Minute noch, und Stuff wwf die Türe ins Schloß und zog den Schlüssel ab^
Nein! — • — ^ —
Sie sollten ihn nicht noch einmal haben! — —
Seelig durchströmte der Entschluß seine Adern,
noch weiter beugte er sich vor — da fiel ihm
plötzlich Mathilde ein, und er wollte zurück!
Aber der schwere Rucksack war schon vorgeglitten, hing ihm über den Kopf, und drückte ihn mit eiserner Faust dem Wasser zu. „Mathilde" wollte er rufen. — Seine Hände rasten tfmher, luchten einen Hall, -^
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und fanden dai Leben nicht mehr. Mit einem gellen- den „Nein!** sauste er hinein in den blitzenden Schaum.
rjMann über BordI'* — brüllte der Marinesoldat aus voller Kehle, — „Mann über Bord!'*
Niemand hörte ihn. Alles hatte sich vomö an der Nase versammelt und winkte mit Mützen und Tüchern.
„Verdammt! Mann über Bord!** — Ratlos
suchte er nach einem Tau oder Rettungsring, fand nichts, und stürmte zur Treppe. Gerade als er das Oberdeck erreichte, tauchte — weit rückwärts im Kiel- wasser — • für einen kurzen Augenblick der Kopf noch einmal aus dem Wasser, und gleich hinter- her, groß wie ein Seehund, der angequollene Rucksack.
„Meinn über Bord!** — rief der Marinesoldat ver- zweifelt zur Kommandobrücke hinauf. Aber der Ka- pitän konnte ihn nicht verstehen, denn der Ruf ging kraftlos unter in dem vielhundertstimmigen Gesang, den sie vorne anstimmten:
„In der Heimat, in der Heimat, Da gibt's ein Wiedersehn!**
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VI. DIE RACHE
Um sieben Uhr früh hatten sie oben in der Festung Viktoria geschossen. Das Rollen war durch alle Keller gelaufen, hatte an allen Fenstern gerüttelt, in der ganzen Stadt krochen die Fahnenstangen aus den Dachluken, wehten Farben der Morgensonne entgegen.
Siegl . . .
Noch wußten viele nicht, was eigentlich erobert war, aber die Freude strahlte schon von allen Ge- sichtern; jeder Einzelne fühlte sich gehoben, wichtiger geworden, und forderte sein Anteil. Kaufleute und Bürokraten, fest versponnen in die eigene Interessen- sphäre, quollen plötzlich über von Gemeinsinn; spie- gelten sich stolz im neuerbrachten Tüchtigkeitsbeweis. Selbst die Menschenknäuel, die auf den Plattformen der Trambahnwagen in die Arbeit fuhren, sahen ir- gendwie feierlicher aus, wie übergössen von diesem Wir-Gefühl. Alles schien lauter, beweglicher, lustiger zu sein, als pulste das Echo der Kanonenschläge im Straßenleben weiter.
Nur in das mürrische, alte Gebäude des städtischen Realgymnasiums, das jetzt als Zweighaus für die Landesirrenanstalt requiriert war, fand die allgemeine Fröhlichkeit keinen Einlaß. Man hörte Türenschlagen, rohes Schimpfen, ab und zu die gellenden Schreie eines Kranken. Vor der Portiersloge stand, schwer schnaufend und verschwitzt, der Herr Oberwärter, einen Zuber kalten Wassers in der Hand, eine Zwangsjacke mit leblos baumelnden Aermeln über die Schulter geworfen. Er sah mit seinem gedunsenen, krebsroten Gesicht, dem eingesunkenen Nasenbein, einer Bulldogge täuschend ähnlich; imd auch die Art,
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wie er die Worte ruckweise hervorstieß, klang ein wenig wie heiseres Hundegebell.
„Die verdammte Schießerei hat uns das ganze Haus rebellisch gemacht,** knurrte er. „Irgend einer hat die Dummheit aufgebracht, daß sie den Frieden einschießen, und jetzt kaim*s ihnen der Teufel aus- reden.**
Der Portier nickte behäbig. „Sie werden ihnen schon Herr werden!** — sagte er mit respektvollem Lächeln und einem scheuen Seitenblick auf die mäch- tigen Muskelpolster. „Solang Sie die Aufsicht haben, ist mir nicht bang. Mit einem von den jungen Dok- toren möcht ich's lieber nicht probieren.**
Der Oberwärter fletschte geschmeichelt die Zähne, wollte eben was erwidern, — da ging das Haustor, und ein schwarz verschleiertes, schmächtiges Mädchen eilte mit kurzem Nicken an den beiden vorbei.
Der Pedell machte devot seinen Diener. Die Bull- dogge brummte einen unverständlichen Gruß, sah der Dame geringschätzend nach und rief sie an, als sie schon den Halbstock erreicht hatte: „Sie haben Zeit, Fräulein Horst! Die Herren Aerzte sind alle in die Kirche, zur Messe.**
Der Pedell zog die Augenbrauen hoch, und korri- gierte: „Zum Tedeum**.
A.ber der Oberwärter ließ sich nicht stören. „Gehn*s übrigens lieber nicht in die Zimmer rein, Fräulein, bevor ich raufkomm! Das Schießen in der Früh hat uns einen netten Tanz bescheert.'* Und nach einer kurzen Pause fügte er mit sichtbarem Vergnügen noch den Satz hinzu : „Mit Ihrem Liebling, dem Herrn Weiler, wird*s, scheint mir, heut auch nicht glatt ab- gehen.**
Das Fräulein wurde rot unter dem dichten Schleier und lief wortlos weiter. Blitzschnell schlüpfte sie in den weißen Schurz, eilte auf den dritten Stock, ohne auch nur einen Augenblick an die Warnung des Ober-
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Wärters zu denken. Angst kannte sie längst keine mehr! Als Tochter des Rektors hatte sie bei der Uebergabe der Anstalt mitgeholfen, und war dann einfach da- geblieben, auf Einladung des Stabsarztes, der sie gut brauchen konnte, denn zur Irrenabteilung drängten sich die Damen nicht. So schaltete sie, seit bald zwei Jahren schon, als einziges weibliches Wesen in der Anstalt, und hätte sich ihr Leben gar nicht mehr vor- stellen können ohne diese Beschäftigung. Zufällig war zwei Tage, ehe die Kranken einzogen, die Nach- richt von dem Tode ihres Bräutigams aus dem Felde eingetroffen, und der Weg ins Spital hatte ihr den Weg zum Friedhof ersetzt. Wie andere das Grab schmücken gehen, dem Andenken des Gefallenen zu Ehren, hatte sie zu Beginn ihren Dienst versehen. Nun war sie sich bewußt, so manchem geholfen, gar oft mit einigen freundlichen Worten Ordnung geschaffen zu haben, wo die Wärter gleich roh zur Zwangsjacke hatten greifen wollen. Darum eilte sie auch jetzt auf Zimmer 1 1 , zu dem armen, blonden Jungen, den der boshafte Kerl ihren „Liebling" genannt hatte, um ihn zu beruhigen, ehe er dem Rohling einen Vorwand lieferte zu energischem Eingreifen.
Ueber den Spott regte sie sich weiter nicht auf. Sic machte ja durchaus kein Hehl daraus, daß sie den blassen, melancholischen Kranken, der mit seinen langen, blonden Strähnen wie ein Christusbild aussah, ganz besonders in ihr Herz geschlossen hatte. Schon vom ersten Tage an, lange ehe sie Näheres über ihn erfahren, fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Er hatte, — wie so viele — im Nahkampfe den Verstand ver- loren, aß nichts, schlief nicht, saß immer geistesabwe- send auf seinem Bett und sprach ganz leise vor sich hin, mit großen, halb eingetrockneten Kindertränen im Ge- sicht. Als dann später Freunde, die nach ihm fragten, von seinem großen Talent erzählten, um das es jammer- schade wäre, und ihr zwei Bände Gedichte mit-
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brachten, die er vor dem Kriege veröffentUcht hatte, -—-da zog der hilflose, leidende Dichter all- mählich in ihre Träume ein, und die Sorge um ihn vermischte sich mit der Trauer um den verlorenen Bräutigam zu einer milden, hoffnungslosen ZärtHch- keit, die ihre Tage erfüllte, ihr welkendes Altjungfer- gesicht mit einem Schimmer von Mütterlichkeit über- goß.
Gleich am Morgen, als sie das Schießen aus dem Schlafe geweckt hatte, war ihr die Sorge durch den Kopf gefahren: der Keinonendonner könnte vergessene Schrecken in ihrem Kranken wieder aufwühlen! Vom Zuruf des Oberwärters in ihrer Unruhe bestärkt, lief sie jetzt mit steigender Angst über den Korridor, und blieb, vor dem großen Mittelzimmer, aufhorchend, stehen. War das nicht seine Stimme) . . . Da mußten mehr Kranke versammelt sein, als in einem Zimmer
beisammen sein durften ! Lautes Gemurmel, ' —
das Scharren von vielen Füßen Zurufe — - —
und zwischen durch Ja, das war
er! Schon daß er so laut sprach, bedeutete nichts Gutes.
Mit zitternden Fingern klinkte sie ein, und blieb erstarrt in der Türe stehen. Aus allen Stockwerken waren sie gekommen, hatten aus drei, vier Zimmern die Tische zusammengetragen und aneinander ge- schoben, wie zu einer Sitzung. Die gefährlichsten Kranken, die man sonst keine Sekunde aus den Augen ließ, alle saßen da! Gleich als erster: der Blödsinnige, mit den tückisch leuchtenden Augen in dem niederen, aufgedunsenen Bauemgesicht ; neben ihm der fette, schwammige Pionier, nach seinem Zivilberuf „der Rechtsanwalt** genaimt, als Präsident, vor sich das große Tintenfaß des Spitalskommandanten, und einen Bogen weißes Papier. So vertieft waren alle in die Debatte, daß niemand Notiz von ihrem Eintreten nahm; nur der Blödsinnige, gegenüber der Türe, lallte einigemale „Schwestei Mally!** und lachte.
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Kamen die Aerzfe aus der Kirche zurück, ehe es gelang, diese Versammlung aufzulösen, dann gab es ein tüchtiges Donnerwetter, denn der Stabsarzt ver- stand keinen Spaß. Die Pflegerin wollte eben vor- treten, um die Kranken mit einigen energischen Worten in ihre Zimmer zu treiben, — da sprsmg am untersten Ende des langen Tisches ihr Schützling auf, und fiel mit einem wilden, heiseren Aufschrei dem Rechts- anwalt, der irgend etwas verlesen hatte, ins Wort. Sein Gesicht war wie verwandelt; um die Backen- knochen, die 80 stark aus den fleischlosen Wangen stachen, glühte es rot; das Zittern, das seinen Körper schüttelte, übertrug sich auf den schmutzigen hellen Kittel, der aufgeregt um ihn flatterte.
Schwester Mally fühlte etwas wie den Griff einer kalten Hand; die Adern im Hals schlugen so hart, daß ihr der Atem stockte. Was wollte er? . . . Warum schrie er so, der Stillste unter allen, voll ängstlicher Demut sonst, wie ein Licht im Verlöschen. Als wäre ein reißendes Tier, das er sorgsam in sich verborgen gehalten hatte, plötzlich frei geworden, stieg jetzt aus der engen Brust, statt der gewohnten, lallenden Klage, ein dumpfer, voller, gurgelnder Schrei, ein Brüllen fast, so mächtig, daß der Schrecken hochsprang: das kläg- liche Gerippe werde bersten, gesprengt von der Wut, die hervorbrach.
„Ich will mehrl" — kreischte er, und seine Stimme kletterte jäh in den höchsten Diskant hinauf. — „Laß mich schreiben. Du ! , . . Gebt mir dcis Protokoll I . . . Oh, ich will schreiben ! , . . Oh, ich will** . . .
Die Pflegerin lauschte mit weit aufgerissenem Mund, hörte dieses triumphierende „Oh ich will*' in sich nachklingen, voll und warm, wie ein Jubellied, das hochstieg, imd durch die Decke drang, und immer noch höher flog, gleich einem Vogel, dem man nach- blickt, bis die Augen tränen.
„Oh, laßt mich schreiben 1" — wiederholte er,
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und war so schön, mit seinem weißen, durchsichtigen* Gesicht, mit den langen, zitternden Fingern, die Kum- mer und Ajigst bis zu den Knochen abgenagt. Er griff, über die Köpfe der Sitzenden hinweg, nach der Feder, die der fette Rechtsanwalt in der Hand hielt: „Laßt mich meinen Hauptmann anklagen, meinen
Hauptmann! Ich weiß eine Strafe für ihn,
ich habe eine Strafe ausgedacht laßt mich
schreiben!" . . .
Schwester Mally durchrieselte es warm und kalt. Wie eine Tenorarie klangen seine Worte ; seine Stimme schlug gegen die Wand, — zerschellte, — stäubte ins Zimmer zurück, daß ihre Teilchen, mJt dem Atem, würgend in die Kehle drangen. Sie mußte ihn be- rühren! . . . Ihre Finger zuckten in zärtlichem Ver- langen, bis sie seinen Aermel festhielt, das Rasen seiner Adern fühlte, ihn fortzog und bebend auf ihn ein- sprach: „Regen Sie sich nicht so auf, Herr Weiler!"
Grob riß er sich los, stieß sie von sich, mit hoch- schnellenden Ellenbogen, und schrie sie an: „Nicht aufregen? . . . Jetzt? . . . Wissen Sie denn nicht, was geschehen ist? Frieden hören Sie, Frieden!" . . .
Die Pflegerin wandte sich ab. Nein! Lieber die Zunge abbeißen, lieber selbst zum Narren werden, nur, um Gotteswillen, nicht widersprechen! Ihm nicht den Glauben nehmen! Er sang es so schön, das Wort „Frieden", warf es empor, schimmernd hell, wie einen goldenen Ball, und preßte jauchzend die Hand, die er eben noch wütend abgeschüttelt hatte. „Frieden, Schwester Mally, Frieden! Wissen Sie. was das be- deutet? Freiheit, Rache, unsere Zeit!"
Sie trank seine Worte mit vorgepralltem Kinn, — sog sie ein, mit gespitzten Lippen, gläubig, wie heiligen Ernst, als wäre die Wirklichkeit dort draußen, der gräßliche Krieg, der immer noch weiter ging, das Hirn- gespinst, das sie nichts anging. Sein Gesicht sah sie jetzt nicht mehr; er hatte sich von ihr abgewendet,
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stand über den Tisch gebeugt; seine Stimme flackerte, tauchte unter in verbissenen Tränen, keuchte Haß, schlug einen leuchtenden Bogen, wenn er, sich auf- bäumend, sein Recht forderte, und riß sie ganz hinein in dieses Marionettenspiel. Von riickwärts erriet sie jedes Zucken seiner Lippen, jeden Augenaufschlag, gestikulierte mit, so verklärt und selbstvergessen, daß ein Taubstummer aus ihrem Mienenspiel jedes Wort hätte erraten können, das der Blonde ins Zimmer schrie.
„Ihr müßt mir den Hauptmann lassen** — flehte er, — „sein Urteil ist fertig. Tag und Nacht habe ich daran gearbeitet, Tag und Nacht. Ich muß ihn haben! . . . Schreib auf, Doktor: Hauptmann von der Otte . . . Hast du's? Von der Otte. Hast du's auf- geschrieben?"
Der Schweiß trat ihm auf die Stime, sein ganzer Leib erbebte, als er den verhaßten Namen aussprach. Mit dem Kopf begleitete er jeden Federzug, auf und ab, bis es geschrieben stand, daß der Hauptmann von der Otte zu erscheinen hatte vor dem Friedensgericht. Mit einer satten, grausamen Befriedigung las er es noch einmal laut vom Blatt und nickte bestätigend: „Von der Otte. Er soll nur kommen! Auch der Feldwebel
hat mich gequält, ich lasse ihn laufen. Nur
ihn muß ich haben! Den Hauptmann muß ich haben! Die anderen?** . . .
Mit königlicher Herablassung zuckte er die Schul- tern, und lächelte, wie man dem dienernden Haushund einen Brocken zuv/irft. Dann verschränkte er die Arme, und rief gellend: „Herr Hauptmann von der Otte soll kommen! Er hat mir mit dem Kriegsgericht gedroht, immer gedroht, weil ich schwächer war, weil ich anders war . . . Jetzt soll er . . . jetzt will ich ihn quälen! Jetzt ist Frieden, jetzt geben wir das Maß! Weil Krieg war, habe ich graben müssen wie ein Bauer, schleppen wie ein Lastträger, nicht eine Pa- trone weniger als die großen, derben Klacheln. Der
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Zwerg und der Riese, alles gleich? Well Krieg war? Gut, gut. Jetzt ist Frieden, jetzt wird der Spieß umgedreht! Er soll nur kommen." '
Für einen Augenblick setzte er aus, ließ triumphie- rend seine Blicke kreisen j genoß die Erwartung in aller Augen. Sein Gesicht leuchtete der Pflegerin entgegen, die zu ihm aufsah, bereit, jedes Wort mit den Lippen nachzuformen; daim holte er tief Atem, warf den Kopf zurück und den BUck zur Decke, und sang sein Rachelied, mit einem breiten Kehlton, der Schwester Mally wie mit Sammethandschuhen über den Rücken fuhr,
„Seit drei Jahren warte ich, Oder sind's schon fünf? Ich weiß nicht. Seit sie mich hier gefangen halten, bereite ich mich vor, habe nichts vergessen, nichts, er wird*s schon merken! Ich habe ihn gebeten, auf den Knieen! Geschworen habe ich, daß ich mich lieber töten lasse, daß ich nie eine Mücke umbringen, nie eine Rauferei mitmachen konnte in der Schule, weil jeder Schlag, zu dem ich ausholte, auf der eigenen Backe brannte 1 . . , Auch der Fähnrich hat für mich gebeten, daß man mich als Schreiber zurückläßt. Der ist auch gefallen — glaub ich! Ich bin ihm ins Gesicht getreten, beim Sturm. Alles um- sonst. .Schlapper Kerl' — war die Antwort, — ,Schlapper Kerl'! Mein Nebenmann, der dicke Kauf- mann aus Leipzig, der jede Nacht im Schlaf von seinen Kindern sprach, lag da, hatte den Leib offen, daß ihm die Sonne auf die Eingeweide schien; und ich war der »Schlappe Kerl', weil ich ihn ansah, über sein graues Gesicht gebeugt nicht weiter konnte, bis er mich aufgehetzt hat, mit seinem Revolver. Vor ihm habe ich laufen müssen, laufen 1 , . . mit meinen elenden Beinen, die unter dem Schreibtisch gelegen waren, bis zum Krieg. ,Vorwärts, Herr Dichter!* Immer nur , Vorwärts!' mit dem Revolver im Rücken, und seinem Spott: ,Was sind Sie? Ein Dichter sind
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Sie? Ein schlapper Kerl sind Sie. Vorwärts I* Und ich bin gelaufen, über die Toten hinüber, halb erstickt, bewußtlos. Mein Herz hat mir die Rippen durch- hämmert, ist mir aus der Brust gesprungen, ist vor mir hergehüpft, und der Herr Hauptmann schrie immer noch ,Schlapper Kerl, schlapper Kerl*. Hier ist mein Freund, hier ist der Zeuge, Herr Hauptmann, kennen Sie ihn noch? Ich habe ihn kauern gesehen im Gra- ben, von weitem schon; nur die Augen über den Rand, schneeweiß, Todesangst im Blick. ,Tu mir nichts* — baten seine Augen — ,ich möchte leben!* Oh, ich wollte ihn nicht töten, aber Sie haben mich gejagt, bis ich hineingestolpert bin in den Graben, über den Draht gefallen bin, das Gewehr nach vorne,
und der kleine, blasse Mann vor mir hat
,Mon Dieul* gerufen, und hat mich angesehen, so
groß, so groß I Was konnte ich denn dafür,
daß ich gestolpert war? Ich habe nicht gestochen, mein Wort darauf! Nur über die Böschung gefallen bin ich, weil mir das Herz aus der Brust gesprungen ist, und ich nicht mehr atmen konnte. War es meine Schuld, daß er vor mir stehen blieb? . . . Seit drei Jahren läßt er mich nicht allein, sitzt bei mir, und sagt Mon Dieu! Ich habe ja geweint, als ich mein Bajonett in seiner Brust gesehen habe! Warum ver- folgt er mich? Sie sind ja schuld. Sie haben mich getrieben, haben mich noch weiter treiben wollen. Noch weiter ! . . . Ich habe einen Menschen getötet, einen Menschen aufgespießt, und Sie haben mich noch immer einen schlappen Kerl geheißen, weil ich mein Bajonett nicht herausziehen konnte, nicht konnte! Sie sehen ja: er hat es noch immer in der Brust, ich kann es nicht herausnehmen. Ich kann es nicht!"
Seine Stimme versagte, ging unter in Schluchzen, seine schmalen Schultern zuckten wie im Krampf; beide Hände lagen mit gespreizten Fingern vor dem Gesicht. Schwester Mally schluchzte mit. In großen
Latxko, „Fri«den»g«ncht" 18
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Blasen stieg iKr das Weinen tn die Kehle. Si6 wollte zu ihm hin, ihn beruhigen, ihn wegführen in sein Zimmer. Aber schon reckte er sich wieder hoch, verschluckte die Tränen und jauchzte auf:
„Wollen sehen, Herr Hauptmaim, wer jetzt der schlappe Kerl ist? Wollen sehen. Habe ich nicW den Krieg gekonnt, morden gekonnt) Wollen sehen, wie Sie den Frieden können! Hier, an diesen Tisch werden Sie gesetzt, mit Bleistift und Papier. In einer Stunde ist Attacke 1 .Vorwärts*, Herr Hauptmann, »Vorwärts!* Jetzt ist kein Krieg mehr, jetzt müssen Sie alles können, alles, was ich kann, alles. Ehe die Stunde um ist, ein Gedicht fertig haben, hier an diesem
Tisch, mit dem Revolver im Rücken. Das
ist doch nicht schwer? Nicht schwerer, als einen
Menschen umbringen? Nur immer vorwärts,
Herr Hauptmann! Da gibts keinen Pardon, keine Nachsicht, keine Elxtrawurst! Genau wie ich müssen Sie*s können, genau wie ich! Das haben wir so be- schlossen, mit meinem Franzosen. Hier sitzt er, und hat noch immer mein Bajonett in der Brust. Sie haben uns leoige warten lassen! Vorwärts jetzt, vor- wärts, Herr Hauptmann, wenn die Stunde um ist,
schieß ich! Ja ... aber! ... Sie zittern
ja? . . . Sie schwitzen ja? ... Sie haben Angst? . * . Angst! . . . Was sind Sie? Ein Hauptmaim sind Sie? Ein schlapper Kerl sind Sie! Schlapper Kerl, schlap- per Kerl!" ...
Ein Kreischen war*s, so gellend scharf, so von jubelndem Haß getragen, daß alle aufsprangen, mit- gerissen von seiner Wut, und gröhlend einfiel n in seinen Ruf: „Schlapper Kerl! Schlapper Kerl!** Der Fette lachte, hielt sich den Leib, bog sich vornüber, trommelte mit den Fäusten auf der Tischplatte. Der Bauer, mit den tückisch leuchtenden Augen, schwang ein abgebrochenes Stuhlbein, hielt e« jedem vor di« Stirne, und machte „Bumm**.
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Weiler stand erschöpft, taumelnd in der Mittd des Zimmers, starrte ratlos in den Höllenlärm, den seine Rede entfesselt hatte. Er sah sich um, Hilfe suchend, ging langsam zur Pflegerin hin, die versteinert in ihrer Ecke stand. „Finden Sie das grausam?'* — frug er sie untertänig, — „ich töte ihn ja nicht. Ich kann nicht töten I Mein Franzose soll ihm die Kugel durch den Kopf jagen; dann ist er gerächt, und kann
sich schlafen legen. Nicht wahr, Schwester,
dann wird er sich schlafen legen? Nicht mehr auf meinem Bett sitzen und Mon Dieu sagen. Der Haupt- mann hat ihn ja umgebracht, nicht ich!**
Durch Tränen hindurch sah Schwester Mally m die ängstlich fragenden Augen und nickte eifrig. So gerne hätte sie ihm zugestimmt, fest imd sicher ver- sprochen, daß er sich schlafen legen werde, der Fran- zose. Aber ihre Kehle war v^e zugeschnürt, nur seinen Aermel berühren konnte sie wieder, für einen Augen- blick, durchglüht von dem Verlangen, ihn zu bergen. Dann entschlüpfte er, — sie sah ihn umbrandet von den wutentstellten Gesichtern, und über das nüchterne Bewußtsein hinweg, daß dies alles ja Wahnsinn sei, pochte doch fiebernd ihre Zustimmung, als er nun mit einer gebieterischen Handbewegung Ruhe befahl, mit heller Stimme das Gejohle durchschnitt:
„Das Friedensgericht beschließt! Stimmen wir ab, meine Herren ! Stimmen wir ab !'*
Es war umsonst. Sie hörten ihn nicht. Alle tanzten umher, trommelten auf den Möbeln, fielen einander um den Hals, und jauchzten, unermüdlich, den letzten Fetzen seiner Rede: i,Schlapper Kerl, schlapper Kerll'* * * ^
Da flog auf einmal die Türe auf, und der Lärm verstummte. Jeder einzelne erstarrte auf seinem Platze, wie im Märchen; zog die Schultern ein, schlug demütig die Augen nieder. Nur der Bauer zückte,
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blöd grinsend, sein Stuhlbein gegen den Eingang, und machte „Bumm**.
In der Türe stand der Stabsarzt, in voller Parade, wie er vom Tedeum kam, und schnarrte empört: „Ihr seid wohl des Teufels? Habe ich euch nicht streng untersagt, in einem Zimmer zusammen zu kommen? Wer hat da so geschrieen? Heraus mit der Sprache! Oder ich lasse euch kalt packen, bis ihr blau werdet!*'
Seine unruhigen, stechenden Augen sprangen, fun- kelnd vor Zorn, von einem Gesicht zum andern. Hinter ihm stauten sich Aerzte und Wärter, zuvorderst die Bulldogge, den Wasserkübel in der Hand, die Zwangsjacke über die Schulter geworfen. Im Zimmer blieb es totenstill. Wie verprügelte Hunde duckten sich die Kranken, sahen unter gesenkten Lidern ver- stohlen zu Weiler hinüber.
Der stand aufrecht, ein hochmütiges Lächeln um den Mund, das strahlende Gesicht der Schwester zu- gewandt.
Dem Stabsarzt traten die Adern aus der Stime. „Wird*s endlich?** — schrie er, — „wie lange soll ich denn noch warten? . . . Vorhin habt ihr brüllen können, daß man*s bis auf die Straße hinunter gehört hat. Und steht jetzt da, als könntet ihr nicht bis drei zählen! . . . Bande!**
Mit einem Satz sprang Weiler vor: „Bande gibt*s nicht mehr!" — herrschte er. — „Wir lassen uns nicht mehr beschimpfen. Wissen Sie denn nicht, daß endlich Frieden ist?**
En junger Arzt zuckte die Achseln und lächelte; aber Weiler sah es nicht. Sein Kopf lag im Nacken, blaß, geisterhaft; seine Stimme, anfangs heiser und unsicher, kletterte wieder rasch in die Höhe, und das Wort „Frieden** flog steil zur Decke, schmetternd, wie ein Trompetenstoß. „Frieden, Herr Stabsarzt, Frieden! Sie stehen vor Ihren Richtern!** . * .
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Lautlos wandte sich der Kommandant zum Gehen, warf dem Oberwärter nur einen kurzen Blick zu und deutete mit einer Kopfbewegung auf Weiler, der, funkelnd vor Erregung, erwartungsvoll die Versamm- lung musterte. Ein gellender Schrei stieg überraschend auf: Schwester Mally strebte mit verzerrtem Gesicht dem Ausgang zu, stieß die Aerzte beiseite, die ihr im Wege standen.
„Waren Sie hier?** — frug erstaunt der Stabsarzt. — Warum haben Se nicht auf die Alarmglocke ge- drückt?*' Und als er das Grauen sah in ihren Augen, setzte er drohend hinzu: „Haben die Kerle Ihnen was antun wollen?**
Die Pflegerin gab keine Antwort. Sie starrte auf den nackten, fleischigen Arm, der sich langsam vor- schob, mit griffigen Fingern nach dem durchsichtigen Christusgesicht haschte, das unnahbar in der Mitte des Zinuners strahlte. Noch einmal schrie sie auf, riß sich los, und stürzte hinaus.
Zwei Stunden später trat sie mit dem zerkleinerten Elssen, bleich und ruhig in die Kammer, am Ende des Korridors. Ihr Schützling saß im kalten Wasser, unter einer Flache, die, über die Wanne gespannt, ihn nieder hielt. Durch eine kreisrunde Oeffnung, eng zusammen gezogen um den Hals, ragte sein Kopf, weiß, blutlos, mit blauen Lippen, wie dais Haupt des Täufers auf der Schüssel.
Er starrte durch die Wand, die matten Haare wirr in der Stime, die fleischlosen Wangen bebend vor Kälte, und sprach leise vor sich hin: „Noch kein Frieden?" . . . „Kein Frieden?'* . . . Erst als ihm die Schwester den ersten Bissen zwischen die Zähne schob,
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bemerkte er ihre Anwesenheit, und der aufblitzende Zorn wandelte sich in ein mildes Lächeln, als er sie erkannte.
Heiße Tränen in der Kehle strich sie ihm die langen Strähnen aus dem Gesicht. Weiler nickte. Dann flammten seine Augen wieder auf unter den drohend gerunzelten Brauen, — sein BUck bohrte sich durch die Mauer, blieb weit, irgendwo haften, und die violetten Lippen murmelten trotzig:
„Warten!" . . .
„Nur warten!'* . . .
Ende.
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Inhalt:
Seite
1. Feldgrau , 3
2. Meuterer 65
3. Nadihut 111
4. Der Verräter 197
5. Kriegsgefangen 217
6. Die Rache 265
Von ANDREAS LATZKO ist bisher erschienen:
HANS IM GLÜCK. Lustspiel in 3 Akten. (Vergriffen.) DER ROMAN DES HERRN CORDE. (Vergriffen.) APOSTEL. Komödie in 3 Akten. DER WILDE MANN. Roman. (Siebentes Tausend.) MENSCHEN IM KRIEG. Novellen. (Dreißigstes Tausend.)
HOMMES DANS LA GUERRE. Traduit par H. Major.
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UNIVERSITY OF ILLINOIS-URBANA
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