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Friedrich Perthes Leben

ſchriftlichen nud mündlichen Mittheiluugen

aufgezeichnet von

Clemens Iheodor Perthes,

ordentlichem Profeffor der Kechte an der Univerfität in Bonn.

Eriter Band. Bierte Auflage.

Gotha. Verlag von Friedrich Andreas Perthes. 1857.

riebrich Perthes Heben

nach defien

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ichriftlichen und. mündlihen Mittheilungen

aufgezeichnet von

Clemens Theodor Berthes,

ordentlichem Profeffor der Rechte an der Univerfität in Bonn.

Erſter Band. Vierte Auflage.

Gotha. Verlag von Friedrich Andreas Berthes. 1857.

Borrede

Den erſten Theil des Lebens meines lieben Vater, melchen ich jebt der Deffentlichkeit übergebe, hatte ich bereits feit einem halben Jahre drudiertig liegen, ohne vor Beendigung des ganzen Lebensabriſſes an die Bekanntmachung gehen zu wollen. Nun aber glaube ih, daß für die Gegenwart, in welcher wir leben, und für die Zufunft, wel- her wir entgegengehen, manchen das Bild des frommen, muthigen und fräftigen Mannes eine Quelle der Freude und der Stärkung fein fönnte, und laffe druden, was drudfertig ift.

Mir ftanden bei meiner Arbeit neben manden dankbar benupten Druckſchriften viele mündliche Mittheilungen, einige fhriftliche Auf- zeichnungen und ein überaus reichhaltiger Briefwechfel meined Vaters zu Gebote. Bon diefem felbft finden fih in ununterbrochener Reihen folge Briefe feit feinem fünfzehnten Jahre vor. Da meine Abficht nicht ift, den Briefwechſel, fondern den Lebendgang eines bedeuten- den Mannes befannt zu machen, fo dienten mir die Briefe nur al? ein Mittel, um die innere und äußere Entwidelung zu veranfchauli- hen. Wörtlihe und vollftändige Mittheilung der Briefe war daher nicht gefordert und war, wenn nicht die Aufzeihnung unverhältnis- mäßig anfchwellen follte, unmöglich. Oft mußten Briefe abgekürzt, oft der Inhalt verfchiedener gleichartiger Briefe zufammengezogen,

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oft derſelbe Brief an mehreren Orten benutzt werden. Abſchriften ſind daher die Briefſtellen zwar oft, aber nicht immer, und ich hoffe, daß die Aufzeichnung auch dem, der mich nicht perfönlich kennt, die Ueberzeugung geben wird, daß die freie Behandlung meiner wichtig- ften Quellen nie dazu gedient hat, das wirkliche Bild zu verwiſchen und ein erträumted an deifen Stelle zu fegen.

Möge Gott unferem Volke in den Zeiten, ‚denen wir entgegen» fehen, viele Männer ſchenken, wie Kriedrich Perthed war! Deutfch- land wird fie nöthig haben !

Bonn, den 18. März 1848.

Clemens Theodor Perthes.

Juhalt.

Erſtes Buch. Dad Ingendleben. 1772 1805.

Die Kindheit. 1772 1798985..3 Der Eintritt ins Jünglingsalter. 1789 1793.17 Die erſten Ein drücke des Aufenthalte in Hamburg. 1793 1794. . . 30 Reue Freunde und deren Einfluß. 175. - 2 2: 0 2 1 1 1 2 92 Die Gründung der Handlung. 176. - 2 2 2 0 een nee. 0 Die erſte Belanntfchaft mit Holftein und dem Münfterlande. 1796. » . . 59 Die Verheirathung und die erfien Jahre der Ehe, 1797— 1800, . . . 73 Die weitere Beftaltung des Gefchäfts und der Familie. 1800-1805. . . 86 Die Befeſtigung des inneren Lebens, 1800— 1805... » 2 2 200. 8

Zweites Bud.

Die Zeit der Napoleonifhen Herrfhaft in Dentichland. 1805 1814. |

@eite Die Eindrüde der Jahre 1805 und 1806. - - 0 0 2 een... 1

Die Auffafjung der Lage Deutfchlands in den Jahren 1807 und 1808. . . 140 Die Bemühungen um die Erhaltung deutſcher Gefinnung in den Jahren 1809 und 18100...1839 Berthes’ Haltung als franzöflfcher Unterihan. 1811 und 1812. . . . . 174 Der Verſuch Hamburgs, ſich zu befreien. Januar bis 18. März 1813. . 189

VIII Seite Die nene Bedrohung und die Wiederbeſetzung Hamburgs durch Davouſt. Bom 18, März bis 30. Mai 1813. 20 Die Zeit des Waffenſtillſtandes. Juni bis Mitte Auguf 1813. . . . . U Die hatfeatifchen Verhältnifie während bes Krieges an ber Nieberelbe. Mitte Auguſt bis Anfang November Ed. 2 2 2 0 ee ten 9 Perihes’ Bemühungen für die Hanfeftänte. November 1813 bis Januar 1811... 7: Die Zeit vor der Rüdfehr nach Hamburg und die Ausfichten für die Zufunft, Januar bis Mai 18144.22270

Erſſtes Buch

Das Jugendlichen.

1772 1805.

Perthei’ ben. 5. 3. Aufl.

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Die Kindheit. 1772 1789,

Das Zahı 1772 war ein ſchweres Jahr für Deutſchland. Große Theuerung und Hungerdnoth herrfchten in den meijten Gegenden und bösartige Faulfieber machten die Runde. In diefem Jahre, dem gro⸗ Bem Hungerjahre, wie man es nannte, wurde Friedrich Chriſtoph Per⸗ thes am 21. April zu Rudolftadt geboren. Die Boreltern feined Ba- tere, des Schwarzburg⸗Rudolſtädtiſchen Steuerfecretärd Chriſtoph Friedrich Perthes, hatten, wie es ſcheint, Jahrhunderte hindurch als Geiſtliche und Ärzte in Erfurt gelebt, bis um das Jahr 1740 der ehr⸗ bare und kunſtliebende Doctor der Arzneigelahrtheit Johann Juſtus Perthes, ein gottesfürchtiger, getreuer und verſchwiegener Mann, von Erfurt nach Rudolſtadt als fürſtlicher Leibarzt gerufen ward. Das vorjũngſte unter feinen fieben Kindern war der genannte Chriſtoph Kriedrich, welcher jeit 1741 dad Gymnafium zu Rudolftadt befuchte und 1755 wohlunterrichtet und vorbereitet, wie die Schulacten mel- den, die Univerjität Jena bezog, um die Rechtswiſſenſchaft zu ftudieren. Rah Rudolftadt zurüdgelehrt rüdte ex im fürftlichen ‘Dienfte bie zum Amte eined Secretärd an der Rentlammer vor und verwaltete die Batrimonialgerichte auf mehreren abelihen Gütern. Nur fieben und dreißig Jahre war er alt, ald feine Frau, Margaretha geborene Heu⸗ bel, am Sterbelager ihres Mannes ſtand.

Seinem Sohne, Friedrich Chriſtoph, zeigten ſich keine Wege, auf denen er ſorglos zum Jünglingsalter hätte gelangen können. Ver⸗ mögen hatte der Bater nicht gehabt und die ein und zwanzig Gülden,

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welche die Witwe als jährliche Penfion erhielt, gewährten nur geringe Hilfe. In befreundeten Familien, die. der Pflege und des Beiftandes bedürftig waren, fand die Mutter zunächſt Unterhalt und Obdach; den Knaben nahm die alte Grogmutter, eine gleichfalls mittelloſe Frau, ind Haus. Sie flarb und des nun fiebenjährigen Kindes er- barmte fih ein Bruder feiner Mutter, Friedrih Heubel. Mehr ald ein halbes Jahrhundert mar feit diefen Tagen vergangen, und noch fanden die Kinder und die Enfel jenes hilflofen Knaben den edlen Mann, der fich einft des Verlaſſenen angenommen hatte, auf dem al» ten Schloffe Schwarzburg, wo fein Fürft ihm als Stallmeifter und Oberauffeher einen Ruhefig gewährte. Den Dann von unerfhütter- licher Rechtlichkeit und ftreng gerechtem Sinn hielt die Kantiſche Ric) tung .ein langes Leben hindurch unter ihrem Einfluffe. Seine Inter- efien, einerfeit® gebunden an die engen Verhältniſſe des Kleinen Für⸗ ſtenthums, wendeten ſich anderfeit® in ſchrankenloſe Weite. Alles, was die Zeit bewegte, hatte auch ihn ergriffen. Er liebte die Grie- chen und die Römer und las fie noch in fpäten Jahren. Zum Stu- dium der Anatomie war er als leidenfchaftlicher Bewunderer der Schönheit des Pferded geführt. Wie alle feine Zeitgenofien hatte er 1789 die großen politifchen Bervegungen freudig begrüßt und war ihnen, da er ihre weitere Entwidelung nur als eine Entartung be- trachtete, auch fpäter nicht feind geworben. Aber für feinen Fürften hätte er jeden Augenbfid Gut und Blut geopfert; für ihn fcheute er feine Mühe und keine Beſchwerde. Jede Freundlichkeit feined Herm erfreute ihn; gegen jeden Angriff nahm er ihn in Schuß; fein ganzes Weſen war von der hingebenden Treue eined Minifterialen des Mit- telalters durchzogen.

Dieſer fpäter alte Mann war 1779 jung. Bor kurzem von der Univerfität zurüdgelehrt, war er mittello8 wie alle feine Geſchwiſter. Eine Anftellung im fürftlihen Dienſt wurde ihm zwar zu Theil, aber fein Gehalt. Damals noch unverheitathet hielt er in Rudolftadt mit einer gleihfall® unverheiratheten Schmwefter, Caroline Heubel, Haus. Diefe war nicht ſchön, aber von großer Kraft des Charaktere. An- deren zu helfen war fie ſtets bereit, aber ſich von anderen helfen zu laſſen war ihr noch im höchften Alter unerträglih. Unabhängigkeit,

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auch wenn ſie mit größter Dürftigkeit verbunden war, begehrte ſie nicht ohne Leidenſchaft, aber wenn ſich andere nicht von ihr regieren laſſen wollten, war ſie mismuthig und ergrimmt; man konnte zwei⸗ feln, ob fie herrſchen wollte, um helfen zu können, oder helfen wollte, um herrſchen zu können. Bon dieſem Gejchwifterpaar wurde der | fiebenjährige Knabe nicht nur aufgenommen, fondern auch mit zärt- liher, wahrhaft elterlicher Xiebe groß gezogen. Die Sugendeindrüde, die er durch fie empfing, geleiteten ihm durch das Leben. Ihnen ver- dankte er bei einem fehr leicht erregbaren Temperament die Scheu vor allem unfittlihen, ihnen den ftrengen Sinn für die Rechte anderer, obſchon ihm die Neigung zum durchgreifenden Handeln angeboten war.

Den erften Unterricht erhielt der Knabe vom Oheim felbft; dann mehreremale abwechfelnd von.den Haußlehrern verfchiedener adelicher Familien zugleih mit deren Zöglingen; endlih, nachdem er einige Zeit Theil an den Lehrftunden der fürftlichen Pagen genommen hatte, kam er im 12. Jahre auf das Rudolftädter Gymnafium, aber zu we- nig vorbereitet, um den Lehrern folgen zn können. Bei nur'geringem Sprachtalent und einem ſchwachen Zahlengedächtnis hatte der Knabe, dem überdies eine fehr lebhafte Phantafie das ftetige Lernen erfchwerte, - aus dem wechfelnden Unterricht wenig oder nichts davon getragen. Meder für die deutfche oder eine andere Sprache, noch für Gefchichte und Geographie, noch für Nechtichreiben und Rechnen mar irgend eine Grundlage gelegt; aber ein unerfättliher Trieb zum Lefen fuchte Be- friedigung und fand fie durch die Gunft des fürftlichen Bibliothekars. Viele Bände der großen Weltgeſchichte in Quart und die ein und zwanzig Theile der Reifen zu Waſſer und zu Lande gaben dem Knaben von feinem zehnten bis zu feinem vierzehnten Jahre Beichäftigung. Bor allem waren e8 die Entdedungen der Pertugiefen im fünfzehnten und fechzehnten Jahrhundert, die ihn ergriffen, Prinz Heinrich der Seefahrer und Albugquerque wurden feine Helden. Dann fiel ihm die Bertuch ſche Weberfegung des Don Quirote in die Hände, verdrängte ſchnell Campe's Robinfon und erfüllte feine Phantafie. Eine Maſſe Wiſſens lag in dem Anaben bunt durcheinander, nothdürftig nur in eine Art von Ordnung durch Schröckh's Weltgefchichte gebracht, welche er ald Eigenthum befaß. Daß bei dem Mangel geiftig firenger Arbeit

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die Thätigfeit der Phantafie nicht in leered Träumen ausartete und den Sinn für die Wirklichkeit erſtickte, hatte der Knabe weſentlich ei- nem nahen Berwandten feiner Mutter, Johann David Heubel, zu verdanken, welder damals ald Oberftlieutenant und Randbaumeifter auf Schloß Schwarzburg wohnte. Kerngefund an Leib und Geift, und begabt mit einem feltenen ſcharfen Blid für die Verhältniffe des Le- bens und der Natur fchärfte.er die gleichen in dem Knaben liegenden Anlagen. Er ließ ihn Monate hindurch bei ſich in Schwarzburg woh⸗ nen und muthete ihm große Anftrengungen zu, wenn er mit ihm Berg und Ihal durchwanderte, die Forſten befuchte oder auf den Bogelhüt- ten ſich aufhielt. Nie ift in Perthes die Erinnerung an diefen Aufent- halt und an diefe Wanderungen erlofhen. Die dunflen Tannen, die das Gebirgsgeſchiebe ded wunderbar ſchönen Ortes bededen, das Rau⸗ ſchen der Schwarza, die unten tief im Thale den Berg umſchlingt, auf welchem das Schloß gebaut ift, drüdten fich unvertilgbar in das Ge- daͤchtnis des Knaben ein.

Als Perthes confirmiert und vierzehn Jahre alt geworden ar, mußte ein Beruf für ihn gewählt werden. Ihn ftudieren zu laſſen war unmöglih; was man in Rudolftadt Kaufmann nannte, wollte er nicht werden. Der jüngfte Bruber feine? Baterd, Juſtus Perthes, war Verlagsbuchhändler in Gotha und ihm ging ed ziemlich gut; na- türlih) wurde nun für den Knaben an den Buchhändler gedacht. Was da8 eigentlich war und was dazu gehörte, wußte er zwar nicht, denn in Rudolftadt war feine Buchhandlung; aber daß es da Bücher geben müſſe, die man lefen könne, ſchien Doch gewiß, und died war für ihn enticheidend.

Im Jahre 1786 nahm der Buchdrudereibefiger Schirach den vier- zehnjährigen Knaben mit fi zur Meffe nach Leipzig, um bort einen Lehrheren für ihn zu fuchen. Zuerſt ftellte er ihn Herrn Rupredht au? Göttingen vor, einem fhon bejahrten Diann, der ihn. freundlich an- redete und ſich amo von ihm conjugieren ließ, dann aber, als das nicht ging, ihn nicht nehmen wollte. Nun wurde er zu Herrn Siegert aus Liegnig gebrecht; aber der lange, hagere Mann und fein feuer- farbemer bis zur Ferſe hinabreichender Oberrod fepte den Knaben fo fehr in Furcht, daß er fein Wort hervorzubringen vermochte: er fei zu

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blöde zum Buchhandel, hieß ed. Endlich zeigte fih Adam Friedrich Böhme, weldher in Leipzig felbft eine Handlung hatte und die Rudol- ſtaͤdter Bibliothet mit Büchern verjorgte, geneigt ihn zu nehmen: aber der Junge muß noch ein Jahr wieder nad) Haus; jept ift er für die Arbeit-noch zu Mein und ſchwach. |

Als das Jahr verflofien war, wurde zwifchen dem Obeim und dem künftigen Lehrherrn ein feierlicher Vertrag gefchloffen, der folgen- dermaßen lautet:

Im Namen Gottes!

Zu willen fei hiermit denen es von Nöthen, daß gwiſchen Herm Heubel an einem und Herrn Adam Friedrich Böhme, Bürger und Buchhändler in Leipzig, an andern Theil nachftehender Contract ver- abredet und geſchloſſen worden.

Es hat genannter Herr Heubel feinen Neffen Chriſtoph Friedrich Perthes, welcher Luſt hat die Buchhandlung zu erlernen, Eingangs er⸗ waͤhntem Herrn Böhme zu einem Lehrburſchen übergeben und zwar dergeftalt, daß Herr Böhme diefem jungen Menfchen die Buchhandlung ohne Entrichtung einigen Lehrgeldes in ſechs Jahren, welche Zeit von Mihaelid 1787 angefangen und Michaelid 1793 ihre Endfchaft errei- hen foll, zu lehren verfprochen und ihn nicht allein in folcher Hand⸗ lung möglichft unterrichten, fondern auch zu aller Gottesfurcht und wohlanftändigen Tugenden anhalten und vermahnen, nicht weniger mit Eſſen und Trinken gewöhnlicher Maßen verjehen, auch ihm nad ausgeftandenen Lehrjahren erforderlichen Falles einen Xehrbrief erthei- len und, daferno er fein Glück weiter fuchen will, mit Recommanda⸗ tion an die Hand gehen und überhaupt fi, wie einem chriftlichen Lehrherrn geziemt, verhalten ‚will.

Dagegen verfpricht Herr Heubel feinem Neffen ein Federbette nebft darzu nöthigen Ueberzügen mitzugeben und folhes nad) Verlauf von ſechs Jahren Herrn Böhme als Eigenthbum zurüdzulafien. Da- ferno aber Herr Böhme nad Gotteöwillen vor Beendigung der ſechs Jahre verfterben follte, bedingt fich mehrgedachter Herr Heubel aus⸗ drüdlich aus, feinen Neffen nad) Beichaffenbeit der Umflände einem andern Lehrherrn zu übergeben, um die rückſtändigen Lehrjahre vol⸗

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(ende erlernen zu laſſen, auch das mitgegebene Federbett wiederum zurückzufordern ihm freiſtehen ſoll.

Ferner will erwähnter Herr Heubel feinen Neffen die ganze Lehr- zeit. mit nothdürftiger Wäſche und Kleidern verſehen, darneben ernft- lich ermahnen, daß er in dieſen ſeinen Lehrjahren ſeines Lehrherrn Beſtes eifrig beobachten, jeder Zeit treu, fromm, fleißig, gehorſam und unverdroſſen ſich bezeigen, des Sonntags fleißig in die Kirche und außerdem weder bei Tage noch bei Nacht ohne Erlaubnis aus dem Hauſe gehen, alle böſe Geſellſchaft meiden und alles andere, was einem frommen und getreuen Lehrburſchen geziemt, gehorſamſt ver⸗ richten ſolle. Im Folle auch Herrn Böhme wider Verhoffen, und welches Gott in Gnaden verhüten wolle, durch erwähnten Chriſtoph Friedrich Perthed wegen erwiefener Untreue in der Handlung und in feinen Berrichtungen, fo ihm als Lehrburfchen obliegen, einiger erweis⸗ licher Schaden verurſacht werden follte, fo verfpricht mehrgedachter Herr Heubel ald Selbftfhuldner dafür zu haften und Herrn Böhme diesfalls fchadlos zu halten. |

Wie nun beiderfeitd Gontrahenten mit vorftehenden Bunften in allem einig und zufrieden, alfo haben fie fic) allen diefem Lehrcontracte zuwider laufenden Ausflüchten, fie haben Namen wie fie wollen, wohl⸗ bedaͤchtig reciprocierlich begeben. Geſchehen. Leipziger Michaelis⸗Meſſe 1787. Friedrich Ernſt Heinrich Heubel. Adam Friedrich Böhme.

Am Sonntag den 9. September 1787 trat der fünfzehnjährige Knabe allein auf unbededtem Poftwagen die Reife in die Fremde und ind Leben an. Abends in Saalfeld bin ich fehr traurig gewefen, ſchrieb er feinem Oheim, aber ich habe auch da viele gute Leute ge- ſehen. Im Regen und fharfer Kälte fuhr er über Neuftadt, Gera, Zeit und langte am Diendtag den 11. September Nachmittags 3 Uhr im Haufe feined Lehrherrn an. Mein Himmel, Junge, rief ihm diefer entgegen, du biſt ja noch eben-fo Hein wie voriged Jahr, nun wir twollen.ed miteinander verfuchen. Die Frau feines Lehrherm und die - Kinder, ſechs Töchter und ein Kleiner Sohn, nahmen ihn, fo wie ein

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Lehrling, der ſchon vier Jahre im Haufe war, freundlich auf. Hier in Leipzig gefällt e8 mir ganz wohl, fchrieb Perthes unmittelbar nady feiner Ankunft, und ic) hoffe, e8 wird auch gut gehen, zumal da mein Kamerad ein recht guter Menſch iſt. Auch die. Mamſels fcheinen au- ßerordentlich gütig;, die Friederike, Die zweite Tochter meines Lehrherrn, ift zu mir gekommen auf unfere Stube, um mir, wie fie fagte, die Grillen zu vertreiben. Hierdurch, fo meldete fein Lehrherr, habe ih die Ehre zu berichten, daß der junge Perthes gefund und glüdlich bei mir eingetroffen ift. Ich hoffe, wir werden wohl miteinander einig werden. - Sein bei fi) habendes Geld, welches nach hiefigem Cours 1 Thlr. 20 Gr. beträgt, habe ich mir einhändigen laffen, denn man weiß nicht, in welche Gefellfchaft er etwa gerathen fönnte. Nun habe

ih auch noch eine Bitte an Sie: wenn Sie mich wieder mit Briefen beehren, fo fein Sie fo gut und lafjen die Ueberſchrift „Bohlgeboren“ fort; denn diefe fommt mir durchaus nicht zu.

Am Morgen nach der Ankunft waren die erften Worte: Friedrich, du mußt dir Die Haare vorne zu einer Bürfte, hinten zu einem Zopfe wachſen laſſen und dir ein Paar hölzerne Loden anfchaffen. Deinen runden Matrofenhut legft du fort, für dich ſchickt fich ein Dreiediger. Allgemeine Sitte war lebterer nicht mehr, aber Böhme wollte an feinen’ Rehrlingen die neuen Moden nicht dulden. Ohne meine Erlaubnis, hieß es weiter, gehft Du weder Morgen? noch Abends aus dem Haufe. Jeden Sonntag begleiteft du mich in die Kirche. Bermöhnt wurden die beiden Lehrlinge nicht. In der Nikolaiſtraße war die Wohnung ihred Lehrherrn; dort hatten fie vier Treppen hoch eine Kammer inne, die mit zwei Betten, zwei Stühlen, einem Tiſche und zivei Koffern fo ausgefüllt war, daß man nur drei Schritte in derfelben machen konnte. Ein einziges kleines Fenfter oben an der Dede ging auf Dächer hin- aus; ein Meines Windöfchen ftand in der Ede, zu deflen Heizung an jedem Abend des Winters drei Stückchen Holz gegeben wurden. Mor- gens ſechs Uhr erhielt jeder der Knaben eine Taſſe Thee und jeden Sonntag im voraus für die fommende Woche fieben Stüde Zuder und fieben Dreier zu Brot. Was mir am ſchwerſten ankommt, fehrieb Perthes feinem" Schwarzburger Oheim, tft, daß ich früh nur eine Dreierfemmel habe; davon werde ich fnapp fatt. Nachmittag? von

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von ein? bis acht befommen wir feinen Biffen. Da heißt ed hungern, doch ich denke, es folk fih geben. Mittags und Abend? aßen fie mit der Familie, reichlich und gut, aber fchredlich war für fie, befon- ders wenn fetter Braten in Kürbisbrei aufgetragen ward, das Geſetz, nach welchem ſchlechterdings alle gegeflen werden muß, was auf den Teller gegeben wurde. Das „Er“, mit welchem fie von den Kindern und felbft von den Dienſtmädchen und Markthelfern angeredet wur den, kränkte Perthes tief, aber freudig fehrieb er: Mit wird auch nicht das mindefte zugemuthet, was meiner Ehre nachtheilig fein könnte. Andere Lehrburfchen müſſen z. B. dem Herrn die Schnallen pußen, den Tiſch deden, den Kaffee ind Gewölbe bringen; von allem dem bin ich befreit.

Der Lehrherr war zwar fein Mann von Geift und Kenntniffen, aber verftändig, durchaus redlich und ftreng fittli und nicht ohne Achtung vor Wilfenfhaft und allem Höheren.

Unausgeſetzt arbeitete er jeden Tag von fieben Uhr Morgen? bis acht Uhr Abends, eine Mittagdftunde abgerechnet; Sonntags nad) der Kirche las er die Jenaer Literaturzeitung Wort für Wort und machte dann einen Spaziergang um die Stadt. Nie fpielte er, nie betrat er ein Wirthshaus, nie gab er Gefellfhaft und auch in feinem Haufe trank er nur Waſſer. Einigemale im Sommer ging er mit feiner Familie nach Eutritzſch und tranf eine Flaſche Gofe; einmal im Jahre fuhr er nach dem vier Stunden von Leipzig entfernten Störmthal und nahm dahin außer Frau und Kindern auch Die Lehrlinge mit. Er war audnehmend gutmüthig, aber ebenfo jähzornig und brach, einmal gereizt, in einen Strom roher Worte aus. Schwer hatte Per- thes in den erften zwei Jahren feiner Gefchäftdunerfahrenheit von die jem Zorne zu leiden. Was mir am übelften befommt, fehrieb er, iſt, daß mein Herr Principal außerordentlich hitzig if. Macht man nicht alles recht, fo ift der Henker los. Das bin ich denn freilich nicht ge- wohnt und es geht mir auch außerordentlich ſchwer ein; Doch ich werde es ja wohl gewohnt werden. Bar Böhme's Zorn verraudt, jo brachte er gutmüthig dem Knaben Obſt zur Entihädigung oder’ theilte mit ihm feine zwei Taſſen Nachmittagstaffee nebft den dazu gehörigen zwei Stückchen Zuder. Der mäßige, ftreng ordentliche

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Mann hatte an einem Hauskreuz ſchwer zu tragen, indem feine Frau in Folge ihrer Neigung zu ftarfen Getränken das Hausweſen, jo weit 8 dem Regimente der Frauen unterworfen ift, in Unordnung gera- then lieg. Vielfach brachte fie die armen Lehrlinge in peinliche Lagen. Manchmal bin ich in einem Gedränge, fchrieb Perthes, wo ich mich nicht rauswinden kann; denn Madame läpt ſich gerne Sachen heim⸗ lich zuiragen, die durch die Gurgel laufen. Der Herr möchte nun gerne alles wiflen, was paffiert, und gerne entdedte ich als ein recht« Ihaffener Menſch alles -diefem von Grund des Herzend gewiß guten aber ſchwachen Mann, wenn ich mir dadurch nicht meinen Untergang bereitete. Denn ſchuͤtzen kann er mich in vielen Fällen nicht und er kann ed auch nicht ändern; denn von früh fieben Uhr bis Abends acht Uhr fommt er nicht nad) Haufe, wo denn die Kinder freien Lauf haben, weil die Mutter fie nicht in Zucht halten ann.

Die Arbeit für den Buchladen, der außerhalb des Haufes in einem Gewölbe‘ auf dem alten Neumarkt war, füllte die ganze Zeit des Lehr⸗ lings aus. Unfer Stübchen, ſchrieb er, genieße ich nicht fehr. Denn um fieben Uhr gehen wir ind Gewölbe, um 12% Uhr nah Haufe zum Eifen, um 1 Uhr wieder ind Gewölbe und erft um acht Uhr wieder ind Haus; alddann wird gegeffen und nun können wir erft etwas für und anfangen. Abends dürfen wir auf feinen Fall ausgehen und Sonntags früh müffen wir in die Kirche, aber aus Sonderbarteit in feine andere als in die Peteröfirche, und Sonntag? Nachmittag läßt er und nach foharfem Gramen ein paar Stunden heraus. Die Deichäftigung war während der erften anderthalb Jahre eine nur mes chaniſche. Da die Bücher, welche von einem Leipziger Buchhändler verlegt waren, nicht vorräthig auf dem Lager Böhme's gehalten wur- den, fo mußten fie, fo oft ein ſolches gefordert ward, aud den ver fhiedenen Handlungen geholt werden. Diefed Gefchäft fiel dem jüng- ſten Lehrlinge zu und es machte ihm anfangs genug-zu fhaffen. Bei unferm Handel, ſchrieb er, find fo viel Kleinigkeiten, daß ein Anfänger nicht im Stande ift, alle zu begreifen, und die Herren Principale find gewohnt, alles, 3. B. die Titel der Bücher, nur halb zu nennen. Einer, der ſchon ein Jahr dabei geweſen ift, verfteht dad freilich, aber ein Anfänger bringt immer das Falſche, und frage ich, fo ift die Ant

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wort: verftehft du fein Deutſch? Die Arbeit, welche ihm als jüngftem Lehrling zu Theil "geworden war, brachte es mit fi, daß

Perthes während des erſten Winterd fortdauernd auf der Straße und in den Gewölben anderer Buchhändler war. Seine Lebhaftigfeit,

verbunden mit einem befcheidenen Betragen, erwarb ihm die Gunft aller Leipziger Principale; er war der einzige Lehrling, der, während die verlangten Bücher gefucht wurden, in die Gomptoire eintreten durfte, um fi zu wärmen; man bemitleidete ded Knaben harten Stand. bei feinem Lehrherrn. Kam er bei einbrechender Dunkelheit durchfroren und mit nafjen Füßen zurüd in. dad. Gewölbe, fo mußte er noch Stunden lang auf den fteinernen Fliefen ftehen, um zu colla- tionieren. Böhme, nie krank gewefen und überaus abgehärtet, heizte die Buchhandlung nicht, fondern wärmte ſich durch heftiged Stampfen und Reiben. Hart gegen fi), war er es auch gegen andere. Im er: ſten Winter feines Leipziger. Aufenthaltes erfror Perthes bie Füße. Böhme fah den Jammer, aber er’ blieb ungerübrt, bis Ber Knabe nicht mehr geben konnte; dann ſchickte er zu dem erften Wundarzt. Eckhold kam und erklärte ſogleich, vier und zwanzig Stunden fpäter hätte der Fuß abgenommen werden müſſen. Neun lange Wochen brachte nun der Knabe auf ſeinem Dachkämmerchen im Bette zu, aber verlaſſen war er nicht; denn mit treuer Pflege nahm ſich ſeiner die zweite Tochter ſeines Lehrherrn an, Friederike, ein liebliches Kind von zwölf Jahren. Sorgſam ſaß fie den Tag über mit dem Strickzeug in der Hand an dem Bette des Kranken, erzählte, tröflete und holte berbei.

Auf dem Boden ag unter andern alten Büchern auch eine e lieber. feßung von Muratori's Geſchichte Italiens; mehrere der-diden Quar⸗ tanten lad das arme Mädchen mit immer gleicher Freundlichkeit in der halbdunklen Kammer vor. Ein inniges Verhältnis zwiſchen bei- ‚den Kindern. entſtand aus dieſer Pflege und dauerte fort, auch als er der Pflege nicht mehr bedurfte. | |

Auch abgejehen von den Leiden diefer Monate fühlte fih der in ungebundener Freiheit in Berg und Wald unter der treuften Pflege fireng fittlicher Verwandten aufgewachfene Knabe oftmals ſchwer ge- drüdt in der großen Stadt und ihrer flachen, waldlofen Umgebung,

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in den Widermärtigkeiten der Familie ſeines Lehrheren und durch das in eine unverbrüchlide Tagesordnung. eingezwängte Gefchäftsleben, - welches feine freie innere und äußere Bewegung erlaubte. Sehnfüd- tig wenbeten feine Gedanken ſich zurück zu den Jahren der früheren Kindheit und vor allem zu den Heinen Begebenheiten ded Aufenthalts bei dem Oheim in Schwarzburg, wo er in freier Quft umbergeftreift war. In allen Briefen aus diefer und auch in denen einer. viel ſpä—⸗ teren Zeit drüden fi Erinnerungen an die glüdlihen Stunden aus, die er-fo nie wieder genießen könne. Was macht Bogelherd und Fi- fcherei, fchrieb er, was Mag und der alte Bolgel? Lebt der alte Juſt noch, oder ift er geftorben? Wie geht es den Hunden und allem, was lebt und webt? Empfehlen Sie mid) allen und ganz Schwarz» burg. Mir geht es, fchrieb er ein anderegmal, ganz gut, did auf eine gewiſſe Art von Trauer. Dies ift gar befonders: wenn ich allein bin, fo überdenfe ich mein voriged glüdliches Leben, und das ift nun alled vorbei: Bald ftelle ich mir diefen oder jenen Felfen vor, bald Vogelherd und Dittersdorfer Weg und dag Pläpchen, wo der Spitz lag und Magen anbellte. Jeder Strauch ift mir. erinnerlih. Oft, ‚wenn ich Nacht? aufmache oder früh Morgend Nebel fehe, fo denke ih: Itzt fagt der Oheim zu Mapen: heute wirds was geben auf dem Vogelherd. Dann fehe ich Sie mit der Laterne durch den Wald wan⸗ dern und höre Sie fagen, wenn Sie etwas gefangen haben: wäre doch der rip Dabei! Ah, wie viele ſüße Erinnerungen von Schwarzburg find in meinem Herzen, heißt ed ein anderedmal. Hier auf einem benachbarten Dorfe, Namen? Gohlis, ift ein Kuhhirte, der fein Horn eben fo kunftreich bläft wie weiland- der Schwarzburger Trompeter. Dies kann ich auf meiner Stube in meinem Bette hören und Sie können nicht glauben, wie curiod mir dann wird und was für eine befondere Art von Trauer dann fommt.

Herr indeflen ward die Sehnfucht nach feinem lieben Schwarz. burg nicht über den Knaben und hinderte ihn auch nicht, ſich mit Luft und Freude den Eindrüden. hinzugeben, die neue Bücher oder allerlei Greigniffe in dem bunten: Treiben Leipzigd auf ihn madten. Bald waren e3 ein paar fehnurrige Scenen aus dem Siegfried von Linden- berg, oder die fhöne Komödie Friedrih mit der gebiffenen Wange,

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oder eine Stelle aus Villaume's Logik, über welche er Bericht erftat- tete; bald hatte ihn Herr Blanchard, der mit einem Luftballon in die Höhe flieg, bald ein Aufzug der Leipziger Studenten ergößt: ſechs Poſtillone voraus, dann Bereiter Herzberg, dann achtzig Studenten zu Pferde und fechzehn Wagen, das war ein recht Getrappel. Heute wurde auch, meldete er ein anderedmal, ein Hauptmann mit zwei Kanonen begraben. Es war ehr herrlich, aber leider habe ich ed nicht gefehen; denn er wohnte in der VBorftadt und da konnte ich nicht hingehen, ob ed mir gleich in der Seele weh that. Bor allem war es die Meſſe, welche den Knaben, als er fie dad erftemal in Leipzig erlebte, in große Bewegung feste. Zwar brachte fie jehr mühjfelige Arbeitötage mit; aber ich fühle fie nicht, fehrieb er, wenn ich an bie Biertelftündchen denke, in welchen ich meinen Oheim, der am Montag aus Gotha ankam, fehen fann. Der hat mich während der ganzen Zeit feines Hierfeind fo lieb gehabt, dag ich manchmal denken konnte, ih hätte auch einen Bater, und alles fonnte ich ihm vertrauen. Einen Sonntag Rachmittag, aͤn welchem ich eben nicht viel zu thun hatte, nahm er mih mit nah Rafchwig, einem benachbarten Orte, mo an demfelbigen Tage bed heiligen römiſchen Reiches Buchhändler zur fammen famen; wie viel Ehre habe ich da mit genoffen, an die ein anderer der Burfchen nicht denken darf. Mein Onkel ftellte mich allen vor und ih wurde fehr geachtet. Auch fonft hat e3 fo viel Anlaß zum Bergnügtfein gegeben, daß ich Ihnen davon fehreiben muß. Sch habe etwas gejehen, was gewiß auch Sie gerne würden gefehen haben, nemlich eine ganze Menge fremder Thiere: erftlich einen Seehund, der ſaß in einem großen Kübel mit Waffer, er mar fo groß wie ein Meine? Kalb, ganz ſchwarz, hatte einen Hundskopf, und die Border: füge mit fünf Fingern wie ein Menſch, und was fehr wunderbar war, er verftand feine Führer. Wend' dich um, riefen fie; da zeigte er ſei⸗ nen Bauch, an welchem die Hinterfüße ganz unter den Schwanz, der wie ein Fiſchſchwanz ausſah, gemachfen waren. Alsdann gab mir mein Obeim ſechs Grofchen, ich follte in die Komödie gehen. Weil aber keine Zeit dazu da war, ging ih in eine Thierbude, und weil, wenn ich was beſehe, ich es recht befehen muß, fo gab ich meine ſechs Groſchen hin und ging auf den erften Plag. Hier präfentierte ſich mir

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fo viel, daß ich ganz betäubt wurde: erftlich ein Vogel Strauß, der ganz fhwarz war, alddann ein afritanifcher Löwe von achtzehn Mo⸗ naten, ein fehr ehrmürdiges Thier; er fah Zahn- Wolfen, oder wie der lahme Kerl fonft heißt, aͤhnlich; ein Pantherthier, das ich angegriffen habe, und ein Tiger, der ift, glaube ich, das prächtigfte Gefhöpf auf Gottes Erdboden. Noch viele wunderliche Dinge waren auf der Meife, weiches fi) aber Doch nur mündlich befchreiben läßt; aber bald hätte ih eine der merfwürdigften Begebenheiten meine? Lebens vergeilen. Ich babe nemlih mit F. Nicolai gefprochen. Er ift ganz fo, wie ich mir ihn vorgeftellt habe: von Geftalt lang und dick, aber dabei ein außerordentliher Schwadroneur. Ich glaubte, er würde gegen die Buchhändler ftolz fein, aber er war im Stande, fich eine halbe Stunde vor eine Thüre hinzuftellen und mit dem Buchhändler zu ſchwatzen. In den eriten anderthalb Jahren feines Leipziger Aufenthalts hatte Perthes freilich durch eigentfiches Arbeiten wenig an Kenntniſſen und an Geihäftsausbildung erworben, aber manche Erfahrungen hatte er gemacht und an fittlicher Kraft durch den nachhaltigen Ein- flug gewonnen, welchen fein Mitlehrling, Rabenhorft, auf ihn aus übte. Die innere Schen vor allem unreinen und gemeinen, die Obeim md Tante in ihm von den früheften Kinderjahren an gewedt und ge- pflegt hatten, war eine große Dlitgabe für fein ganzes Leben gemefen, und dankbar erfannte ed ſchon damals Perthed an. Liebfter Oheim, fhrieb er, wenn ich mic) jegt und fünftig gut halte, fo habe ich es Ihnen und Jhrer und der Tante Erziehung zu danken. Mir felbft ganz gewiß nicht, denn wäre ich in ſchlimme Hände gerathen, fo hätte mich mein Leichtſinn eben ſo leicht laſterhaft machen können. Eine ſittliche Stüge indeſſen konnte der bewegliche, lebhafte Knabe noch nicht entbehren, als er in Die Leipziger Verhältniſſe eintrat, und er fand fie an Rabenhorft, einem an Leben und Willen, an Gejchäftsbildung und Charakter jehr ausgezeichneten Süngling von etwa achtzehn Jahren. Ich danke Gott, fchrieb Perthes feinem Oheim, daß ich hierher ge- fommen bin, und da8 bloß meines Kameraden wegen, der mir dur feine Aufführung ein gutes Beifpiel ift, wenn der nicht wäre, fo hätte mir unfehlbar die Welt zeitleben® zur Hölle werden müffen. Sie glaubten, daß ich hier bald gute Gefellfchaft finden würde, aber es ift

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nicht möglich, ohne Geld hier in gute Gefellfehaft einzubringen; denn diejenigen, welche hier von einigem Stande und Bermögen find, ha- ben einen großen Ton und die Kaufmannzföhne find von einem un« überwindlihen Stolz und fönnen allein von ihrem Tafchengelde eine Partie Billard & 4 Groſchen fpielen und-eine Flaſche Wein trinken. Die Buchhändlerburfhe aber find, zwei ausgenommen, liederlihe Jungens, welche Sonntag, ald den einzigen Ruhetag, auf die Wirths⸗ bäufer laufen und dort die Liederlichkeit auf das Höchfte bringen. Geſetzt nun, ich wäre unter fo einen gefommen, fo hätte ich bei allen den guten Grundfägen, die ih von Ihnen habe, nicht widerftehen fönnen. Man muß hier entweder mit fo leben, oder hat ‚täglich die ärgften Berfolgungen audzuftehen, aber nun hat mid) Rabenhorft geſchützt. Auch in andern Beziehungen war der ältere Kamerad dem unerfahrenen Knaben von großer Bedeutung: er lehrte ihn Bor- fiht in den: verworrenen Berhältniffen des Haufes ihres Lehrherrn, er machte ihn aufmerkffam auf Handlungsfenntniffe, die er fich ohne fremde Beihilfe erwerben könne, und forderte immer von neuem, daß

er ſich anftrenge, um bisher Verfäumtes zu erlernen. Bor allem aber . gab er ihm, freilich ohne es zu wollen, Übung im Umgang mit an- dern. Sie werden denken, lieber Oheim, fchrieb Perthed, der muß fi) recht gut mit feinem Kameraden vertragen, weil er ihn fo lobt. Aber glauben Sie das nicht; denn Rabenhorft hat alle die Tugenden nicht, die zu einem guten Umgang gehören: er hat einen großen Stolz und die äußerte Halsftarrigkeit in Behauptung feiner Meinun⸗ gen, ein aufbraufendes Wefen, und ift fo empfindlich und mistrauifeh, daß ich ihn wohl zehnmal während einer Stunde in Hige bringe, ohne daß ich jelft weiß womit. Wie oft muß. ich da meine Meinung, von ber ich ganz gewiß weiß, daß fie richtig fei, aufgeben, und. wenn ich es thue und nun glaube, ich hätte alles vecht gut gemacht, fo. ruft er wieder: „Wie fönnen Sie zu allem ja fagen; Sie glauben wohl, ih lafje mich dadurch betrügen, ich werde mir das aber verbitten.” Ich weiß wohl, lieber Oheim, Sie werden denken, das ift Dem Jungen ſehr nüglih, und Sie haben Recht. Denn ich war, weil ich ganz allein erzogen bin, der unleidlichfte Menſch in Geſellſchaft junger Leute, aber.nun habe ich gelernt, wie man mit andern umgehen muß,

17 und jedermann wundert fi, daß ich jo gut mit Rabenhorft aus: tomme. 63 ift freilich wahr, er hat eine unglückliche Temperaments⸗ befchaffenheit, aber mich hat er lieb, und da ift alles gut. Im Sommer 1789 verlieg Rabenhorft Leipzig, um in eine Ber: liner Buchhandlung einzutreten, und von feinem Fortgang an ftand Perthes noch in einem andern Sinne ald bisher auf eigenen Füßen.

Der Eintritt ins Yünglingsalter. 1789 1793.

Bis zum Ausgange de3 vorigen Jahrhundert? war der deutfche Buchhandel auf den Rordoften Deutihlands befchräntt. Im Süd⸗ weiten fand fich von Wien bid Regensburg, einige Verleger katholifch- axetifcher Werke ausgenommen, feine, von Regensburg bis Tirol nur in Augsburg eine Buchhandlung. Nürnberg war e8, welche? den ge- tingen Bedarf diefed großen Landſtriches allein befriedigte. In Tü« bingen und Heidelberg waren zwar blühende Gefchäfte, aber der ganze Rordweiten, in welchen Münfter als letzter Titerarifcher Borpoften vor- geihoben war, wurde von Frankfurt aus fpärlich verforgt. Dagegen hatte der Buchhandel im ganzen nordöftlichen Deutfchland ſchon feit geraumer Zeit einen lebhaften Aufſchwung genommen, abet er be ſchraͤnkte fi noch, ald das vorlepte Jahrzehend des Jahrhunderts zu Ende ging, auf den Berlag und den Bertrieb willenfchaftlicher Werke. Die neu erfcheinenden Bücher wurden nicht an die verfehiedenen Buch- bandlungen Deutſchlands verſchickt, fondern Die Verleger derfelben famen, wenn ihr Geſchäft irgend Bedeutung hatte, Oftern und Mi- chaelis in Leipzig zuſammen und ein jeder brachte die Titel feiner nei verlegten Bücher mit. Einer befuchte nun den andern, man zeigte ſich gegenfeitig die Titel vor und nad manchem Hin⸗ und Herreden über - Preis und Werth der Bücher wurde feſtgeſetzt, wie viel Eremplare ein jeder von. den Verlagswerken ded andern nehmen wolle. Da das ein-

mal Genommene fpäter, auch wenn: e8 unverfauft blieb, nicht wieder Perthesꝰ Sehen, I. 4. Aufl. 2

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zurüdgegeben werben konnte, fo mar große Borficht bei der Annahme von Werfen anderer Sitte, und fehr oft mußten deöhalb den durch Deutfchland zerftreuten Buchhandlungen die von ihren Kunden gefor- derten Werke fehlen. Um fie zu erhalten, hätten fich dieſelben an den jedesmaligen Verleger werden koͤnnen, aber ein großer Aufwand von Zeit und Geld würde daraus erwachten fein. Dem Uebelſtande wurde abgeholfen, indem zuerft in Frankfurt am Main, dann vorwiegend in Reipzig unternehmende Maͤnner große Lager aller bedeutenden Bücher errichteten, aus denen jede deutjche Buchhandlung die Werke, deren . fie bedurfte, auf einmal: verfchreiben Tomte.

Ein ſolches Commiffiondgefhäft im damaligen Sinne ded Wor- te8 beſaß auch Böhme. Er hatte in drei großen Räumen ein fehr bedeutendes Lager alter Eoftbarer Werke und aller neu erfchienenen guten Bücher, das heißt folher, welche im Jahre ihres Erſcheinend zwei⸗ oder dreimal von ihm abgefept waren. Privatkunden hatte er nur zwei: die fürftliche Bibliothek in Rudolſtadt und den Hiſtoriker Anton, aber die erften Buchhandlungen Deutfchlands waren feine Gonmittenten. Wöchentlich Tiefen non Diefen und von manchen Leip⸗ jiger Handlungen Derfchreibungen ein, welche meiftend fünf, ſechs Sei- ten fühlten. Die verlangten Bücher mußten aufgefucht, in der Inven⸗ tur abgefchrieben und in da® Abgangsbuch, nad welchem der Lehr herr für die Wiederausfüllung der im Lager entftandenen Lücken forgte, eingetragen werden. Dieje Arbeit fiel nad) Rabenhorft’3 Ausfcheiden Perthes zu und er gab ſich ihr mit Freude und Interefie hin. Richt ohne Verwunderung bemerlte er bald, daß es möglich fei, ſich durch die Berfchreibungen, welche aus diefen und jenen Gegenden in Leip- jig einliefen, ein Bild zu verfchaffen von den wifienfchaftlichen Be⸗ dürfniſſen Deutfehlands überhaupt und von deren eigenthümlicher Geftaltung und verfchiedenem Umfange je nach den nerfehtedenen Ge⸗ genden Deutſchlands. Wad und Ichendig, wie er war, z0g ihn. eine ſolche Kenntnis ſchon ihrer felbft wegen an, und früh erfannte er Die Wichtigkeit derfelben für jeden Buchhändler, der fich nicht mit einem handwerlsmaͤßigen Betriebe feine? Berufes begnügen wollte. Zugleich verſchafften ihm Die vielen wiflenfchaftlichen Werke, die bei diefer Be⸗ ſchaͤftigung durch feine Hände gingen, eine große Bekanntſchaft mit

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den Namen ber irgend bedeutenden Schriftfteller des vorigen Jahr⸗ bundert3 und menigften® eine äußere Ueberfitht über bie Literatur, . welche den Wunſch erweckte, irgend welche Einfidht in das innere eWe⸗ ſen des nur äußerlih Gekannten zu erhalten.

Böhme hatte neben feinem Commiffiondgefhäft zugleich einen nicht unbebeutenden Verlag. So oft ihm wilfenfchaftliche Werke an« geboten wurden, zog er einen hochbejahrten Antiquarius zu Rathe der im Winter wie im Sommer umter freiem Himmel einige alte Bü⸗ her an der Ede von der Grimmaer- und ber Ritterftraße aufgeſtellt hatte. Der Mann übte durch feine audgebreiteten Kenntniffe und feine geiftige Schärfe große Gewalt über Böhme aus, und da er Per- thes Tieb hatte, wußte er in kluger Weife abzubelfen, wenn diefer ihm bei übergroßer Härte der Behandlung feine Noth Flagte.

Im erften Jahre ſchon nad Rabenhorſt's Abgang hatte ſich Per⸗ thes tüchtig eingearbeitet und das Vertrauen feines Lehrherrn in dem Grade gewonnen, dag ihm diefer während einer mehrmwöchentlichen Abweſenheit das Gefchäft amveriraute. Die Verwaltung desfelben lief fo vortrefflih ab, daß dem Lehrling ala Anerkenntnis feiner Ber- dienfte ein Paar feidene Strämpfe verehrt wurden Dennoch fühlte ſich Perthes dur die Vildungsmittel wenig befriedigt, welche ihm die Geſchäftsthätigkeit darbot. Mein Principal lehrt mich wohl, wie ih einmal ald Diener forttommen kann, aber dazu gehört wirklich fehr wenig; eigentliche Handlungskenntniſſe aber lerne ih ven ibm gewiß nicht, denn er treibt feine Handlung ganz handwerksmaͤßig; wie es ihm einfällt, thut er alled ohne Grund. ragt man etwas, fo ſpricht er: wir wollen es fo machen, aber einen Grund hat er gewiß nicht, warum fo und nicht anders; denu fommt der Fall noch einnral, fo macht er es wieder auf andere Art. Die Manufceripte, die er er⸗ hält, muß der alte Antiquarind durchſehen, mögen fie die drei Broi⸗ ſtudien oder Mathematit, Pädagogik, Philologie, Thierarzneikunde oder ſchoͤne Wiſſenſchaften behandeln. Spricht nun biefer allmächtige Mann: es iſt gut, fo wird es, und wenn es von’ @eifer junior wäre, genommen; fpricht.er: es iſt fhlecht, fo wird es vertuorfen. Ein ge fheider Mann ift diefer Antiquarius, das muß man fagen, aber des⸗ wegen ift ex doch nicht in allen Wiſſenſchaften bewandert

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Die Befriedigung, welche er unmittelbar in ſeinem Berufe nicht fand, ſuchte Perthed durch eigene Thaͤtigkeit ſich zu erarbeiten. Seit dem Jahre 1790, in welchem er achtzehn Jahre alt ward, erwachte in ihm der Trieb nach wiſſenſchaftlicher Beſchäftigung mit großer Leb⸗ baftigfeit, aber überall wurde der Mangel an Zeit und Geld ihm bemmend. Zwar war er durch dad Eintreten eine8 neuen jüngern Lehrling? von dem ermüdenden und aufteibenden Umherlaufen auf den Straßen befreit und konnte namentlich auch im Winter fich fcho- nen; aber die einzigen Stunden, bie ihm zur eigenen Beichäftigung blieben, waren Morgen? ‚vor fieben und Abend3 nad) neun Uhr. Sehr wünfchte er in denfelben Sprachunterricht zu nehmen, aber bei der großen Dürftigkeit, in welcher er fich befand, fehlte hierzu jede Mög- lichkeit. Die ein und zwanzig Gülden Witwengehalt, welche feine Mutter ihm mit eigner Aufopferung überlaffen hatte, reichten noth- dürftig für dad Schubzeug aus; fein Oheim gab ihm feine abgelegten Kleider, fonnte aber außerdem nur in den dringendften Fällen belfen. Die Wäfche wurde alle vierzehn Tage von einem Fuhrmann nah Ru- dolftadt mitgenommen, wo die Tante Reinigung und Ausbeſſerung beforgte. Jede Weihnachten fchenkte ihm fein Lehrherr zwei Specied- thaler; das war das Tafchengeld für dad fommende Jahr, Als au- Berordentliher Gluͤcksfall trat zumeilen -ein Geſchenk des Obeimd in Gotha Hinzu. Wenn Sie mich jebt fehen follten, meine gute Tante, fehrieb er im Sommer 1789, fo würden Sie mid) nicht kennen; denn ih bin fehr gewachfen und gebe durch die Güte meines Oheims fehr gut: einen grünen flammichten Rod, hohe Taille, die Knöpfe hinten zufammen nach englifchem Schnitt, ein Paar Beinkleider von neu eng- lifhem Ranking, eine weiße Wefte. Was wollen Sie mehr? Aber zu Michaelis werde ih wohl einen Uebertod haben müflen; da wer⸗ den die alten Thaler fpringen, Heifafafa. Ich habe noch die zwei, aber die will ich dann nicht mehr ſehen.

Eine ſolche Lage machte es unmöglich, einem Sprachlehrer feinen Unterricht zu vergäten, und fo oft Perthes es auch verfuchte, Abends nach neun Uhr für fich allein Die franzöfifche oder englifche Gramma⸗ tik zur Hand zu nehmen, ſo wollte es dennoch nicht gelingen; regel⸗ mäßig ſchlief er ein. Seiner Reigung und feinen Anlagen nach würde

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ihn dagegen die Beihäftigung mit Gefchichte und Erdkunde gefeffelt haben. Aber die herrfchende Richtung des Jahrzehends verlangte von jedem jungen Mann, der geiftig einige® Anfehen genießen wollte, vor allen, daß er ein Philofoph, wie man es nannte, fei, und Perthes vermochte nicht fich der gebieterifchen Anforderung zu entziehen. Es war die durch Kant's Auftreten hervorgerufene Richtung, in welcher damals das Heil gefucht ward. Kieſewetter's Logik follte gründlich in diefelbe einführen und ganze Hefte Papier erfüllte Perthes mit Tabellen, durch melde er fih die Terminologie und die Formeln ge- läufig machen wollte. Zu einem Philofophen wurde Perthes freilich

durch dieſes mühfelige Arbeiten nicht, aber Derftand und Urtpeil gewannen an Schärfe.

Knigge's Schrift über den Umgang mit Menfchen burfte damals niemand unbelannt fein. Perthes las fie und las fie mit großem Intereffe; aber eine Stimme in feinem Innern rief ihm ohne Unter- laß zu, daß in diefem Buche die Wurzel alle® Böfen zu einer Art Lehr⸗ buch verarbeitet worden fei. Er fuchte nach anderer Nahrung für feine geiftigen Bebürfniffe, aber da ihm Rath und Leitung eines Er- fahrenen gänzlich fehlten, mußte die Wahl immer wieder durch zu- fällige oder in der Zeit liegende Einflüffe beſtimmt werden. Jahre lang befchäftigten ihn Reinhard’? Syftem der Moral und Döderlein’s Dogmatik; lebendiger aber ald durch alle diefe Werke wurde er von Garve's Ueberſetzung und Erläuterung der Schrift ded Cicero über die Pflichten ergriffen. Hier glaubt? er wahre Befriedigung finden zu fönnen. |

Die Eindrüde feiner früheften Kindheit, in welcher Obeim und Tante ihn immer von neuem aufgefordert hatten, an feiner fittlichen Berbefferung zu arbeiten, die Macht der durch Kantiſche Einflüfle bes fimmten Zeitrichtung und die Arbeiten, mit denen er fih außerhalb ſeines Berufes befchäftigte, fpiegelten fich wieder in der Art und Weife, mit mweldyer der heranmachfende lebhafte Süngling die größeren und fleineren Lebensverhaͤltnifſe auffahte, die ihn in Spannung feßten. Den Stimmungen, die fein Inneres bewegten, gab er in den Briefen an Obeim und Tante einen rüdhaltlofen Ausdrud. Ihm erſchien das irdifche Leben als eine große Anftalt, welche der gütige Schöpfer

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errichtet habe, um die einzelnen Menfchen und die ganze Menfchheit zu immer größerer Bolllommenheit zu führen. In diefem Berftande glaube ih an gar Fein Uebel, ſchrieb er, weil jedes und. beffert und jedes, wenn es vorbei ift, und die Freude in höherem Grade ſchmecken läßt. Umfonft wird niemand gequält wer könnte ſolche ſchreckliche Begriffe von der Gottheit haben? Aber fo lange jemand noch Fehler und Untugenden an fi hat, kann er nicht verlangen, ganz glüdlich zu fein, ja er wird fie mit ind zukünftige eben hinüber nehmen und das Gefühl, daß er befler fein könnte, als er wirklich iſt, wird feine Strafe fein. Un fich felbit wie an jeden andern ftellte er die For⸗ derung, der Vollkommenheit fi immer näher zu bringen und eine hohe Stufe in derfelben zu erreichen. Oftmals glaubte er, mit inniger Weberzeugung und wahrer Aufrichtigfeit jagen zu können, daß er in dem Streben, volllommen zu werben, vorwärts gelommen fei. Durch Leſung praftifch- philofophifcher Schriften, ſchrieb er 1790, habe ich in meinem Kopfe das Spftem ded Strebend nach höherer Bolllommen- beit errichtet, welches bei dem Blicke auf meine Beſtimmung und bei dem Andenken an meine Wohlthäter immer ftärfer in mir wird, Liebſter, beſter Onkel, fehrieb er am Jahresſchluſſe 1791, es ift wahr, himmliſche Freuden kann der genießen, der an feiner Befferung arbei- tet, umd ich habe folche Lichthelle Stunden oft gehabt, in denen ich durch dad Betrachten der Bollkommenheiten Gotted und feiner Werke und durch das Gefühl meiner eignen menſchlichen Würde den Bor- geichmad von dem fünftig mir beitimmten Ziele genoß. Dann war alles, alle® in mir Freude und ich fah alle neben mir zur Vollkom⸗ menheit arbeiten, dann waren alle Menfchen meine Brüder, die mit mir zu demfelben Ziele gelangen follten. Zu anderen. Zeiten aber mußte der Jüngling ſich befennen, daß er oftmals rechts und links von dem Wege, den er für den rechten anfah, abweiche. Sie fchreiben, heißt e3 in einem Briefe an den Schwarzburger Oheim: „ich habe eine herzliche Freude über die. in Deinem Briefe aufgeftellten Grund» füge; behalte fie und folge ihnen genau.” Gewiß, lieber Oheim, ich behalte fie, jene Grundfäße; denn fie find nicht bloß ein Werk meiner Vernunft, nein, fie find fo innig mit meinem ganzen ch verwebt, daß ih mir dieſes ohne jene nicht denken kann. Aber genau befolgen, ja

das ift etwas amdered. Gin Heuchler wäre ich, wenn ich genaues Bes folgen Ihnen verfidern wollte. Bald fiegt Leidenfchaft, bald Ge⸗ wohnheit, bald ein mir anhängender Leishtfinn des Blutes, ber mit der Bebächtigleit meines Kopfes ganz im Widerfpruche fteht; bald muß ich auch Irvungen, welche die Bernunft in der Aufitellung jener Grundfäge beging, büßen, wenn fie mir eine Vollkommenheit als möglich vorfpiegelte, Die nur nad) und nad) errungen, nie aber durch einen Sprung bewirkt werben kann. Der Berfuch, ſolche Sprünge zu machen, bewirkt dann allemal ſchwere Rüdfälle. Der Jüng- ling hatte Zeiten, in denen er völlig entmmithigt jede Hoffnung auf⸗ gab, die Beitimmung des Menſchen zu erfüllen. Wahrlich ſchrieb er, ih muß mächtig fämpfen, wenn alled, was Unfrieden gebiert, aus meinen Innerſten heraus fol; denn leider alle böfen Reigungen fhlafen aut, um bei eriter Gelegenheit mit defto größerer Gewalt los⸗ jubrechen. Ach, meine Unftetigleit und mein zu raſches Blut verdirbt unmer in einer Stunde wieder, was ich wochenlang gebaut habe, und dann gehört wieder eine geraume Zeit Dazu, ehe ich zu einer ruhigen, vorwurföfteien Gemüthsverfaſſung fommen kann. Wie oft babe ich mit Thränen im Auge meine Berfehriheit befeufzt, wenn ich kurz vor⸗ ber mir vorgenommen hatte, finndhaft in Ausübung ded Guten zu fein, und dann doch wieder gefallen war, meil ich-eine Leidenfchaft nicht befiegen konnte. Dann ift in meinen Augen jeder andere beſſer als ich, auch wenn jener Verbrechen begangen hat und id nur in Ge⸗ danfen gefehlt habe; denn ich flelle mir vor: hätten Die anderen Men- ſchen ſolche Antriebe zum Guten wie du, fo würden fie gewiß beifer fein ald du. Dann aber famen.auch wieder Zeiten in denen der Süngling mit Seldftzufriedenheit auf feine Unzufriedenheit mit fi felbft hinblickte. Sie fehen, mein guter Obeim, fehrieb er, daß ich einen guten Anfang in meiner Beflerung gemacht habe, denn die Unzufriedenheit mit mir felbit ift ein fichere® Anzeichen davon. Wie fich felbft und alle einzelnen. wollte er auch die Menfchheit zu immer größerer Bolllommenheit fortfchreiten fehen, und von dieſem Geſichtspunkte aus betrachtete er die franzoͤſiſche Revolution, bie ihn in große Aufregung brachte. Ich glaube, fchrieb er 1792, daß bie Menfchheit jet in eine Berwirrung kommt, aus welder fie dann mit

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Glanz einen großen Schritt zur Balltommenheit thun wird. Ich lege Ihnen bier einen Meinen Aufſatz bei, der mir vortrefflich ſchien. Mir beſonders ift fo eine Aufmunterumg nöthig, da ich von Perfonen um« geben bin, welche die alten Zeiten erheben und über die neuen das Anathema ausfprechen. Auch nach meinen Begriffen ift die Herrſchaft über ſich ſelbſt die einzige, wahre individuelle Freiheit, und wären alle Menfchen auf diefe Art frei, fo würde die bürgerliche Freiheit wohl ſchon folgen, weil wir dann gar feine ausübende Gewalt länger nötbig hätten. Allein folher Zuftand- wird wohl erft in Jahrhunder⸗ ten eintreten, und follten denn nun die armen Franzoſen fo lange den bimmelfchreienden Drud geduldig leiden? Nein, fie thaten gewiß ganz Recht daran, daß fie fih feiner entledigten. ch freue mich ale Menſch und als Weltbürger über die Fortſchritte der franzöfifchen Armee; aber als Deutfcher möchte ich weinen, und ewig wirb ed und Schande bringen, der guten Sache nur erft durch Zwang nachgegeben zu haben. Sie glauben, lieber Oheim, heißt e8 in einem anderen Briefe, daß, wenn auch jebt die Bemühungen der Regenten, die Völker zu unterdrüden, gelingen follten, eine Finſternis gleich der in den mitt- leren Zeiten Europa bedecken würde. Aber dies geichieht gewiß nicht; denn Kenntniffe aller Art find unter allen Ständen verbzeitet, und der Geiſt der Freiheit und des Naturrechts ift bis zu den Bettlerhütten vorgedrungen, und bei welchen unferer Herrfcher finden wir den he- roifchen Muth, die Tapferkeit und die Geifteögegenwart, weldge die . alten Tyrannen bei aller ihrer Grauſamkeit doch erſtaunenswürdig machte? Ungeachtet diefer Auffaffung der Revolution hegte Per⸗ thes dennoch um diefelbe Zeit fehon ſtarkes Bedenken gegen den un« mittelbaren Segen ihrer Folgen. Ich glaube nicht, fchrieb er, daß wir ſchon geſchickt und gut genug find, um einer gänzlichen Befreiung von Despotie fähig zu fein. Schimpfen thun die niederen Elafien und die Gelehrten wohl auf die Despoten und Ariftofraten; aber lä- helt ihnen einer zu, fo vergefien fie alle Menſchenwürde und find Speichelleder, und glüdt es gar einem, höher zu fteigen, fo wird er ein Ärgerer Ariftofrat, als die geborenen e8 find. Herrſchen wollenalle, aber zum Gleichfein und zu der Tugend: niemandes Recht zu beein-

trãchtigen, gehört viel. Wollen Sie etwas gründliche hierüber Tefen,

25 fo laſſen Sie fi Ehlers ſtaatswiſſenſchaftliche Auffäpe geben. Ich

fende Ihnen hierbei einen von mir gemachten Auszug, fo wie ich mir feine Ideenreihe zugeeignet habe. Ich kann nicht ohne Schmerzen auf die politifche Welt fehen, ſchrieb er im Frühjahr 1793; dort in Frankreich wüthendes, verftandlofed Volt, und bier bei und bund⸗ brüchige Tyrammen. ch glaubte fonft immer noch,‘ daß, wenn aud) der einzelne Menſch fiel, dennoch das menschliche Gefchlecht ſich ftufen- weife verebeln würde, aber auch das feheint Traum zu fein. Daß fie verbammt wären, die franzöfifchen Bluthunde, welche die heilige Sache der Freiheit fo ſchaͤndlich fchänden!

Die Thätigkeit, welche Perthes innerhalb und außerhalb feines nächften Berufes übte, die politifhen und Die allgemein menſchlichen Bervegungen, welche auch ihn ergriffen, hatten feinen Verſtand gebil- det, feinen Blid für die Berhältiifie bes Lebens gefhärft und ihn mit lebendigen Intereſſe erfüllt; aber fie ließen doch eine Lücke in feinem geiftigen Leben, welche er ſchmerzlich empfand.

Er Hatte nicht nur nichts verftedlte® und unwahres in feinem Weſen, fondern fühlte auch dringend das Bedürfnis, fih und fein ganzes Innere andern aufjufchließen, andern ſich ganz hinzugeben und von andern gleihe Offenheit und Hingebung zu empfangen. Die natürliche Hingebung des Kindes an Vater und Mutter war ihm ver« fagt geblieben, da er den Vater verloren und die Mutter in kurzem Zufammentreffen nur fo flüchtig gefehen hätte, daß dieſe einen bilden- den Einfluß auf ihn nicht gewinnen konnte. Dagegen wendete Per⸗ thes dem Oheim und der Tante, die Bater- und Mutterftelle an ihm vertraten, fein Herz mit voller Liebe zu, und ferne innige Dankbarkeit ſprach ſich faft in jedem Briefe an fie aus. Mit rüdhaltlofer Offen- heit legte er dem Oheime da8 ganze Innere dar. Die Kämpfe, als der Jüngling in ihm erwachte, den Schmerz über feine Schwäche, die Freude darüber, daß ed ihm wenigſtens gelinge, die böfen Gedanken nicht in böfe Thaten übergehen zu laſſen, das alles theilte er dem vä- terlichen Freunde mit, aber dennoch. fehnte er fich für den täglichen Verkehr nach einem Alterögenofien, der mit ihm empfinden fönne, was ihn felbft bewegte. Mein fehnlichfter Wunſch, den ich jebt habe, fchrieb er, ift ein Freund, dem ich mein Innerſtes ganz aufſchließen

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fönnte, der mich ftärkte, wenn ich ſchwach würbe, der mir Muth gäbe, wenn ich an meiner Beflerung verzweifele; aber ich finde feinen, und doch muß ich mich mittheilen, Doch möshte ich mandhmal jeden an mein Herz drüden und fagen: Auch du bift ein Bild Gottes. Während, wie er ſich ausdrücdte, eines feiner Leiden. blieb, feinen Freund zu haben, hatte den einfam aufgewachfenen Anaben. das kind⸗ lich freundliche Entgegenfommen der zweiten Tochter feined Lehrherrn mit wohlthuender Gewalt von dem Augenblide an ergriffen, in wel⸗ hem er Böhme's Haus betrat. Friederike war als zmölfjähriges Mädchen feine treue Pflegerin in jenem erften fchweren Winter gewe⸗ fen; fie blieb ihm liebe Gefpielin und Tröfterin auch in den folgenden Jahren; fie verforgte den Knaben, dem ed an allem fehlte, mit Speife und Trank, mit Holz und Licht und erfreute ihn mit ihrer muntern Laune. Auch fie hatte oftmals ſchwer zu leiden unter der Berworren- beit des elterlichen Haufes, und wenn Ungemach über fie oder den Knaben hereinbrach, fo fehöpften ihre Augen aneinander Troſt. Wir waren gar verftändige Kinder, ſchrieb Perthes fpäter; wir tröfteten einander, lafen einander vor und befprachen alled, was uns drüdte, Gleichzeitig etwa traten beide aus den Kinderfchuhen heraus: der Knabe wurde verlegen und ſtumm, das Mädchen ſcheu und heimlich. Um diefe Zeit fam ein zweiter Lehrling, Nefjig mit Namen, ind Haus, ein flinfer, gutartiger Junge, der eine ausnehmende Gabe befaß, fi und andere mit leichtem luſtigem Geſchwätz zu unterhalten. Das nun freilich Tonnte Perthes Friederifen gegenüber nicht: er hätte nur ver- mocht von der Würde des Menfchen und der Bernolllommnung ded Menſchengeſchlechts, von der Liebe zu Gott und zu dem Rächften höchſt ernfthaft mit ihr zu reden, und da das nicht ging, redete er gar nicht. Darüber, fo klagte er feinem Oheim, wird Reffig viel mehr geachtet als ih: mit ihm fpricht man, mid) läßt man ftehen und behandelt mich fogar zuweilen verächtlich. ‘Perthes fühlte fich gefränft und zu- rückgeſetzt, und eine tiefe Leidenfchaft erfaßte ihn. Er wurde ſich ihrer zuerſt an dem Widertoillen bewußt, den er gegen den ihm vorgezoge⸗ nen Neſſig fapte. Diefen Widerwillen wollte er überwinden; er of fenbarte fein ganzes Herz dem Begünftigten und verſprach auch fünf- tig ihm nichts zu verheimlichen. Eine warme, auf die gemeinfame

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heftige Neigung zu dem geliebten Mädchen gegründete Sreundfchaft zwiſchen beiden heranwachſenden Jünglingen war die unmittelbare Folge diefed Schrittes, der fpäter für Perthes zu mancher muthwilli⸗ gen Rederei,: aber auch zu manchem Zähneknirſchen führte.

Zu einer der teigendften Geftalten war die jet fechzehn Jahre alt gewordene frühere Gefpielin herangewachſen. Die Bewunderer ihrer älteren Schweiter, welche für die erfte Schönheit Leipzigs galt, wur⸗ den nun von der ſchwarzgelockten jüngeren, von deren munterer Laune und überlegenem Berftande bezaubert und bingeriffen. Verehrer ohne Zahl wurden ihr zu Theil, und dennoch) mochte fie des ihr gegenüber verlegenen und ängftlichen neunzehnjährigen Lehrlings nicht entbehren, der nicht durch Worte, fondern nur durch die unwillkürliche Aufmerk famfeit auf alles, was fie anging, zu ihr ſprach. Sie bleibt, fchrieb Perthes, voll Güte gegen mich: mit einem einzigen Worte weiß fie mid) aufzuheitern, wenn fie mich betrübt und traurig fieht, und über ihre Lage im elterlichen Haufe fpricht fie mit mir wie mit feinem an» dern. Ah mein lieber, guter Oheim, wie danfe ich Gott, daf nun die ängfllihen Stunden ‚vorbei find, in denen ich vor dieſer Zeit mit böfen Gedanken, die gewiß nicht abfichtlich durch mich in mir aufges kommen waren, zu fämpfen hatte; was ernſthaftes Nachdenken über Renſchenwürde und Vervolllommnung nicht gefonnt haben, das hat reine, unſchuldige Liebe gefommt. Gott wird mich weiter [hüpen; er ſchütze auch Sie und Yhre Frau und Kinder, und, was mein heißer Wunſch if, er mache Friederifen glüdlid. Gute Naht! Der nähfte Brief des Oheims brachte natürlich die Frage, wad denn nun weiter werden folle. Sie liebt mid gewiß nicht, antwortete Perthes; fie kann ja wählen zwifchen fo vielen jungen Leuten, die ihrer Bildung nach fo beſchaffen find, daß ich mit meinem zwanzigjäbrigen Jungen geficht eine fehr geringe Figur daneben made, unberechnet was Klei⸗ der und Anftand thun. Freilich fieht Friederike gewiß nicht allein auf Kleider und Anftand, aber es macht ihr auch ein junger Mann die Aufwartung,, vor defien Renntniffen ich volle Achtung habe, und ie müßte der eitelfte Menfch von der Welt fein, wenn id) mich ihm’ gleich“ fiellen wollte. Und nun noch eins, lieber Oheim: wenn fie mic) auch lied hätte und wenn ich auch nicht ganz arm wäre, fo Fönnte ich fie

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Doch nicht zur Frau nehmen; denn um Teinen Preis der Welt könnte ich mich für immer mit dem Böhme’fchen Haufe verbinden, und id tönnte auch feine Frau haben, die mich in einer fo untertvürfigen Lage, wie die meinige in diefem Haufe ift, hätte kennen lernen. Aber, ah! das Herz möchte mir brechen, während ich Ihnen das fchreibe. Aber feien Sie meinethalben außer Sorgen, lieber Oheim; ich war nie fo feft überzeugt von meiner Standhaftigkeit im Guten als jekt.

Mit diefem Kampfe in feinem Innern fah fich. Perthes im Sabre 1792 bei einem Mittagamahle, welches Böhme Fremden zu Ehren, die nach Leipzig gelommen waren, gab, Friederiken gegenüber geſetzt. Sie behandelte ihn an diefem Tage mit der größten Aufmerkſamkeit und verflocht ihm in jedes Gefpräh. Er wurde lebhaft, trank Wein und al3 bei dem Nachtiſch dad Mädchen an feinen Stuhl trat und fih, um etwas vom Tifche zu nehmen, über ihn hin bog, ſo daß er jeden Schlag ihred Herzend durch ihr blaufeidned Gewand fühlte, konnte er ed nicht laͤnger aushalten; er fprang auf und lief bis in die Nacht wie rafend ftundenweit durch das Feld. Ich war, fihrieb er einige Jahre fpäter, wie vernichtet, in jener Stunde war mein Hei⸗ ligthbum für meine Gedanken nicht rein geweſen; ftrafen wollte ich mi, nicht wieder wollte ih in des Mädchens Auge ſehen. ch tonnte ed dennoch nicht laflen, blickte dennoch zu ihr hin und fah To⸗ deöfälte. Das Mädchen war nicht mehr dasfelbe: kalt und hart wie Eis und Eifen war fie gegen mich. Da begann ein gewaltiger Kampf in mir, gewaltfam nahm ich mid) zufammen und durd die gewalt- famjten Anftrengungen, die alle meine Kräfte aufregten, babe ich das Boͤſe in mir nicht vernichtet, aber niedergedrüdt. Halbe Nächte hindurch ſaß Perthed Damals auf und fuchte den Sturm in feinem In⸗ nern durch das angeftrengtefte Abmühen mit Schriften über Kantifche Philofophie und Cicero's Lehre von den Pflichten zu ſtillen. Stärkere Hilfe aber als dieſe mühfelige Beichäftigung gewährte ihm und den Anftrengungen feines eignen Willen? ein frifcher, Tebendiger Umgang mit geiftig regfamen und fittlich gefunden jungen Leuten, wie er ihm bis dahin unbekannt geweien war. Der Zufall hatte ihn mit fieben in Freundfähaft eng verbundenen Schwaben Schröder, Duttenhover, Trefftz, Meier und einigen anderen, bekannt gemacht, welche, obgleich

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bedeutend älter als er, ihm lieb gewannen und an ſich zogen. Es waren verftändige, ſehr unterrichtete junge Männer, voll guter Laune und poetifchen Anfluge®. Bald war Berthed alle freien Stunden mit ihnen zufammen. Durch fie wurde er mit Herder, Schiller und Goethe und mit einem fröhlichen Jünglingsfeben befannt. Seit meinem Hierfein, fehrieb er, habe ich noch Feine fo fröhliche, herzſtaͤrkende Stun- den genofien als jept mit meinen lieben neuen Freunden. Sie find ſaͤmtlich Schwaben und halten feft zufammen, und haben nur unter fi) Umgang; aber fo oft ich fomme, fehe ic) ed an ihren Augen, daß fie fi) freuen. Geſtern Abend, heißt es in einem andern Briefe, gab einer meiner Freunde einen kleinen Abſchiedsſchmaus. Wir wa⸗ en fehr luſtig; Sie können nicht glauben, was für eine eigene Art von guter Laune die Schwaben an ſich haben. Ich bin doch gewiß, was Fröhlichkeit anbetrifft, nicht der legte; aber vor der ihrem Wig muß ich die Segel ftreichen, den einzigen Fall audgenommen, wenn ein Glas Wein meine Lebensgeifter erheitert hat. ich bin einer der glüdlichften Menfchen, äußerte er um diefe Zeit dem Schwarzbur- ber Oheim; Freundfehaft und Achtung und Liebe guter Menfchen be» gleiten mich auf allen Schritten, und ein Kummer eigner Art, ber fonft mich drüdte, ift nun auch verfchwunden. Wenn ich nemlich fonft viele FJünglinge meines Alters fah, die alled, was fie thaten, mit einer Lebhaftigkeit unternahmen, wie ih fie nicht fannte, fo fränkte mich das fehr, weil ich überzeugt bin, daß nicht? Großes, nichts Edles ohne Feuer und Muth nnternommen- werben Tann. ch ärgerte mich an meiner Schwächlichkeit und ging fo weit, daß ich alles Gute an mir tadelte, weil ich e8 für eine Folge meines Falten Naturelld hielt, was ih bis zum Tode haßte. Wie hat fich das jet geändert, mein lieber Oheim! Ya ich fühle Feuer in mir, und wenn biefed Feuer, das mid) jest für andere Gegenftände befeelt, einmal bloß für Religion, Boll- kommenheit und Tugend geftimmt ift, dann wird alles Eigennügige wegfallen und ich werde alle, alle ald meine Brüder lieben. - Beichränkt und Mein waren freilich die Berhältnifie, in denen Perthes zum Züngling heranwuchs, aber dennoch hatten fie fein In⸗ neres durch bedeutende Erfahrungen gebildet. und geftählt. Wenn ich iebt, fchrieb. er. im April 1793, an die Jahre zurüddente, die ic) hier

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durchlebte, wenn ih mich in den Ideenkreis zuruͤckſtelle, den ich mit hierher brachte, ſo erftaune ich, wie fich alled in mir verändert hat. Stets werde ich mit Liebe und.mit Segendwünfden auf Leipzig zurüd- fehen; denn bier war es, wo mein Geift anfing ſich zu bilden und Menſchenwuͤrde zu ahnen. Ich habe viele böfe Tage gehabt, fchrieb er, aber diefe böjen Tage haben viel Gutes gewirkt. Ich war, ala ich hierher kam, ein leicgtfinniger Sunge, der viele, viele Fehler hatte; ich habe deren noch viele, aber viele find doch auch unterdrüdt und gebeffert worden. Alles. das Gute verdanfe ih Gott, der fo viele gute Anregungen in mein Schidfal legte, daß mein Leichtfinn bie Oberhand nicht erhalten fonnte. Richt ohne einigen Stolz ſah er, als die Lehrzeit fich ihrem Ende nahte, auf fi) und feine Lage. Es macht mir Freude, ſchrieb er, mir zu fagen: Du hatteft feinen Bater, fein Bermögen und bift dennoch niemandem zur Laſt gefallen, und wirft nun in wenig Wochen von niemand abhängen ald von dir. Dem Bertrage nad lief die Lehrzeit um Michaelid 1793 zu Ende; aber der mit Böhme befreundete Buchhändler Hoffmann aus Ham⸗ burg, welcher auf Perthes aufmerkſam geworben war und ihn als Gehilfen in fein Gefchäft zu nehmen münfchte, hatte defien Lehrherrn erſucht, ihn ſchon Oftern 1793 zu entlaffen. Böhme willigte ein; bei einem feierlichen Mittagsefjen trat er an Berthes heran, hieß ihn aufs - fehen, gab ihm einen leichten Badenftreich, überreichte ihn einen Des gen, nannte ihn Sie, und die Lehrzeit für den Buchhandel war ges endet, aber die für da8 Leben noch nicht.

Die eriten Eindrüde des Aufenthalts in Hamburg. 1793 1794.

Am 13. Mai 1793 verlieh Perthes die Stadt, in weicher er bei⸗ nahe ſechs Jahre, gluͤckliche Jahre ernften Strebend, wie er felbft fie nannte, zugebracht hatte. - Hinter ihm lag nun der harte Drud des Lebens; hinter ihm die äuferfte Armuth und die gebundenfte Abhän-

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sigfeit von andern. Aus der Fleinen kalten Dachkammer fah er fi in den bequemen Reiſewagen feine neuen Principals verfegt. Statt des reblichen aber rauhen Lehrherrn hatte er in Hoffmann einen ge- bildeten und welterfahtenen Reifegefährten zur Seite. Ringsum ſtand alles in Blüte, als er Leipzig verließ, und eine helle Mondnacht for⸗ derte zum fillen Sinnen über die Erfahrungen auf, welche hinter ihm und melde vor ihm lagen. m Hochweiſig, der erfien Station, foll- ten die Reifenden den mit Hoffmann befreimdeten Educationsrath Campe aus Braunſchweig nebſt Frau, Tochter und Neffen treffen. Campe galt damals in weiten Kreifen ald bedeutender Mann und al? vorzüglicher Schriftfteller ; fein Haus war durch feine, gefellige Bildung befannt und eine große Zahl viel genannter Männer ftand in näherer oder fernerer Beziehung zu demfelben. E23 war das erfte mal, daß Perthes in unmittelbare Berührung mit einer Familie tre ten follte, welche auch über die Grenzen des Haufed hinaus Bedeu⸗ tung hatte. Richt ohne große Sparmung fah er dem Zufammentrefe fen entgegen. in einer fehlechten Dorfichente hatten Campe's linter- fommen gefunden und die mancherlei Heinen Einrichtungen und ge- genfeitigen Hilfleiftungen, welche das dürftige Haus und die unge ſchickten und ungefälligen Wirihsleute nöthig machten, ließen Perthes fhnell mit der Familie befannt werden, von der er ſich unter andern Verhaͤltniſſen wohl in fcheuer Verehrung entfernt gehalten hätte. Seine Bewunderung kannte feine Grenzen, ald er in ihrer Gefellfehaft Wörlig und Deffau befuchen durfte. Herm Rath Campe, ſchrieb er feinem Obeim, fand ich noch weit über das Ideal erhaben, das ich mir von dem Verfaſſer des Theophron gemacht hatte. Ex ift ein langer, hagerer, aber fhöner Mann; Würde ift über fein ganzes Wefen verbreitet; ein nur auf Bernunft beruhendes Betragen leuchtet auch auß der Tleinften feiner Handlungen hervor. Am meiften aber trägt zur Verherrlichung feiner Familie und zu feiner eigenen würdevollen Ruhe die vortreffliche Frau bei, welche die feinfte Bildung der großen Welt mit dem beften Herzen und bie trefflichften Kenntniſſe mit den Pflichten der forgfamen Haudfrau zu verbinden weiß. Nun kommt noch, heißt ed weiter, das Meiſterſtück diefer Familie, dad Muſter der Erziehung und ber Bil⸗ dung, Lotichen Gampe. Sie zu loben, wie fie es verdient, bin ich

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nicht im Stande. Der Neffe des beiwunderten Mannes bot ihm Freundfhaft und Briefwechſel an und Perthed fchlug freudig ein. Bei dem Abfchiede, fchreibt er, war mir, ald verließ ich Bater, Mutter, Schweſter, Freund und alles, was Glück auf dieſer Erde heißt. Weber Helmftädt und Uelzen fuhren Hoffmann und er Hamburg zu. Mor- gen? fünf Uhr waren wir an der Elbe angelommen, berichtete er dem Oheim; auf einer mächtigen Fähre mußten wir und nad Zollen- fpider, dem erften hamburgifchen Orte, überfegen laſſen, was mir fehr viel Vergnügen machte, da e3 für mich ein ganz neue? Schaufpiel war. Bon Zollenfpider bi Hamburg bat man noch vier Meilen. Ich hielt ed aber faum für eine Stunde; denn. ſolch eine Abwechslung von Gegenftänden ift mir noch nicht vorgelommen. Die ganze Strede von vier Dieilen ift ein einziges, aus vielen Dertern zuſammengeſetztes Dorf; ein Dorf, welches, nur von Gartenfeldern umgeben, an einem Arm der Elbe liegt und Häufer hat, wie man fie wahrlich in Städten nicht oft findet; alles ift mit der größten Sauberkeit angelegt, alles bemalt, alle Häufer mit böhmifchen Spiegelglasfenftern verfehen.. Es ift zum Erſtaunen. Aber denken Sie nur, ed find hier auch Bauern, die ihren Töchtern zehn, ja zwanzig taufend Thaler zur Audftattung geben. Als wir zehn Uhr Abends, ed war am 17. Mai, dem Tage vor Pfingften, in Hamburg ankamen, mußte ich über das entſetzliche Gedränge von Menfihen erftaunen, welches größer ift ald in Leipzig während der volliten Tage der Meſſe. So groß, fo ſchon, wie hier alles iſt, habe ich noch nie etwas geſehen.

Die Familie Hoffmann's machte durch Bildung und Herzensgüte, durch ſtrenge Ordnung und Redlichkeit einen ſehr wohlthuenden Ein⸗ druck auf ihn. Madame Hoffmann iſt eine Frau von ausnehmendem Geiſte, ſchrieb er feinen Leipziger Freunden; fie iſt vortrefflich als Gattin und. ald Mutter. Aber fehr auf mic Acht geben muß ich bier; denn du kannſt nicht glauben, wie fein fie ift und welche Art fie hat, mit und umzugehen. Hoffmann felbft war ein fehr tüchtiger Ge⸗ ſchäftsmann und als Menſch und Buchhändler unterrichtet und erfah- ven. Er liebte nad Hamburger Sitte reichliched Leben und Gaſtlich⸗ keit, und der Gegenfaß, in welchem feine eigene etwas trodene Ruhe zu: der beweglichen Lebhaftigkeit feiner Frau fand, brachte keine Stö⸗

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rung in der Familie hervor. Du follteft diefe beiden Eheleute beob- achten fönnen, fchrieb PBerthed, und würdeft nicht aus dem Lachen tommen: denn fie ift von Haufe aus Quedfilber und will über alles belehrt fein; er aber ift, wie Dur weißt, jehr phlegmatifh. So gerne er auch fpricht, jo unangenehm ift es ihm doch, Fragen zu beantwor ten. Sie hat daher eine ganze Dienge Fragewörtchen, ala: He? Du? Hoffmann? Sage? Hörft Du nicht? Antworte doch! Oft muß fie mm alle miteinander auffagen, ehe eine Antwort kommt. End⸗ fi entgegnet er wohl gar: ih habe es ja ſchon gejagt, und doch bat niemand etwas gehört, Macht fie ed zu arg, fo brummt er wohl emmal. Hilft aber nichts; er muß doch dahin, wo fle ihn haben will,

Das Gefchäft, in welchem Perthes nun unter Hoffmann’ Leitung zu arbeiten hatte, nahm faft alle feine Kräfte in Anfpruh. ch war fhrieb er ein halbes Jahr nad feinem Eintritte, in vielen Stüden noch unwiſſend, wie dieſes bei den meiften der Fall ift, deren Lehrs jahre verftrichen find; id; habe aber zum Behufe der Erweiterung meiner Kenntniſſe eine ſehr glüdliche Stelle erwählt, da ich hier folche Arbeiten zu machen habe, die fonft für einen eben Audgelernten nicht gewöhnlich find. Daß diefed mir den Kopf warın macht, können Sie vermuthen; zum Süd konnte ich, da ich mir felbft überlaſſen war, arbeiten, wie ich wollte, und dieſes ift für mich der einzige Fall, in welchen ich viel zu leiften im Stande bin. Eigned Nachdenken ift ſtets mein beiter Lehrmeiſter geweſen, aber ebendeshalb wird ed mir auch freilich jehr fehwer, etwas zu begreifen und nachaumachen, was mir ein anderer zeigen und worin ex mich unterrichten will. freie Stunden blieben auch in dem neuen Berhältnid nur wenig für Per⸗ thed übrig. Bor neun Uhr Abends können wir niemald aufhören, ſchrieb er, und müflen doch noch jede Woche eine halbe Nacht auffiken, und alle vierzehn Tage einen halben Sonntag zu Hilfe nehmen. Das ift da8 Gewöhnliche, wenn aber eine Meſſe naht, dann ift die Arbeit faum zu bezwingen. Perthes indeſſen hatte ſchon in Leipzig ge lernt, die wenigen Stunden der Woche, welche die Gefhäftsthätigfeit ihm übrig ließ, für feine Ausbildung. und Erholung auszubeuten, und fand auch in Hamburg Zeit für mancherlei.

Perthes“ Leben. 1. 4. Aufl. 3

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Lebhaft hatten ihn Herder's Briefe über Humanität und Jacobi's neue Bearbeitung ded Woldemar befeäftigt, als Schiller's Auffap über Anmuth und Würde ihn ergriff und Monate hindurch faft aus- ſchließlich in Anſpruch nahm. Es ift fonderbar, ſchrieb er, dag Schrif- ten folcher Art den allerftärkften Eindrud auf mid) machen, während eigentliche moralifche Abhandlungen und Bermahnungen, folkten fie auch noch fo trefflich fein, mich kalt laffen, ja vielleicht mich in Unruhe fegen. Im ihnen: flogen mir immer viele Dinge auf, welche Fragen und Zweifel aller Art erregen; aber folch ein Aufſatz, der wie diefer fo überzeugend, fo erihöpfend iſt, der zu taufend neuen Gedanken Stoff gibt, kann mich tief aufregen. An den gefchäftöfreien Tagen gewährte die herrliche Umgebung Hamburgs Erholung und immer neue Freude. Dem müßte jeder Sinn für die Ratur verfchlafien fein, ſchrieb er, Der bier fih unglüdlich fühlen wollte. Sie können fi) nicht® fchöneres und größere? denken ald die hiefigen Gegenden. Jeder Punkt an der Elbe unterhalb Altona ift einzig in feiner Art und zeigt durch feine Schönheit des Schöpferd Größe und Güte. Belannte hatte er leicht gefunden, und für bie gejhäftsfreien Stunden nicht wie in Leipzig abhängig von dem Willen eined Lehrherrn, mar er keineswegs geneigt, die mannigfachen Freuden, wie dad Leben einer großen Stadt fie darbietet, ungenoffen an ſich vorübergehen zu laſſen. In feinen Briefen vielmehr hatte er bald von dem Feſttage zu berichten, welchen ein Concert ihm bereitet, bald von einem luftigen Tanze, den er und einige Belannte, als Mohren verkleidet, zum allgemeinen Ergögen auf der Maskerade aufgeführt hatten. Mehr ald alles, heikt es ein ande» resmal, liebe ich jetzt das Schaufpiel. Du follteft Schröder fpielen fehen; das übertrifft alled Schöne, was ſich nur denken läßt. Der Sommer brachte an manchem Sonntag eine Luftfahrt zu Lande oder zu Waſſer in der Gefellfehaft befreundeter Familien. Unſerer dreißig, theild Männer theild Frauen, theild alt theild jung, ſchreibt er einmal, fhwammen wir geftern unter Trompeten» und Paufenfchall auf der Elbe dahin und jubelten und waren fehr fröhlich. Bei diefem und manchem ähnlichen Feſte ſchien ihm bald der muntere Witz, bald der finnende Emft, bald die unbefangene Freundlichkeit diefer oder jener anziehenden Mädchengeftalt unwiderſtehlich; aus einem fügen Taunıel

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geriet er in den andern. Wie ift doch, ruft er übermüthig aus, der Menſch von den Göttern begnadigt, dem wie mir die Liebe aus allen Porend dringt! Was muß ich nur an mir haben, daß alle Mädchen glauben, ich fei in fie verliebt, und dadurch bewirken, daß ich e8 wirk⸗ fi werde? Iſt es geſchehen, fo fange ich an mit ihnen von dem zu fprechen, was gerade für mich Intereſſe hat, und wenn ich zu ihnen fpreche, wird das Intereſſe ftärker; derin fie find ja fo empfänglich, dag man im Himmel zu fein glaubt, aber das dauert nicht lange: entweder werden fie meiner oder ich ihrer überdrüſſig. Es ift wirklich traurig, daß dieſe gewaltigen Wefen fo felten und befjer machen wol- in. Wollten fie, wie Großes könnten fie an und bewirken, denn wir thun ja alle®, was fie wollen; aber fie wollen nicht und verlangen nichts von und als lauter närrifche Dinge.

Durd alle die wechfelnden Eindrüde und Zerftreuungen hindurch, welche die veränderte Lebenslage mit fich brachte, trat indeffen immer von neuem Friederikens Bild vor Perthes’ Seele. Bei feinem Fort- gange von Leipzig hatten Friederike und er ſich einander verfprochen, ihre Kinderjahre nicht zu vergeflen und auch fünftig in brieflihem Ber- kehr zu bleiben. Tief wurde er bewegt, als er hörte, Friederike habe noch mehrere Stunden, nachdem er Abfehied_genommen, ftille weinend am Fenfter gefeilen, und von Hamburg aus fchrieb er in feinem erften Briefe an die Leipziger Freunde: Noch lebe ich ganz in der Erinne- tung, und jebt erft werde ich gewahr,- wie fehr ich Friderife liebe. Sie ift und bleibt da8.Schwungrad meiner Gedanken. Treu dem Ber- _ fprechen, durch welches er ſich feinem Freunde Neffig verpflichtet hatte, ihm nichts, was fein Verhältnis zu Friderife beträfe, zu verheimlichen, fendete er diefem alle Briefe, die er von Friederife empfing und die er an fie ſchrieb. Ein wunderlich nahes Berhältni® wurde hierdurdh zwi⸗ fhen den beiden Nebenbuhlern begründet, deſſen Wurzel allein in der gemeinfamen Liebe zu dem Mädchen lag. Du kannſt Geheimniffe vor mir haben, ſchrieb Perthes dem Freunde, aber nichts, nichts darfft Du mir von dem verhehlen, was Da in Beziehung auf mich denkt und fühlft. Hier wäre die kleinſte Heimlichleit dad Grab der Freundfchaft. Keinen Zweifel, feinen Borwurf halte zurück; fehreibe, fage alles, auch . wenn ed mir bittere Thränen koſten follte.

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Mit größter Kälte, ja mit Härte konnte Perthed dem Freunde auseinanderfegen, was ihm nicht reiht und gut an dem Mädchen er- (bien. Dann aber entſchuldigte er wieder alle8 mit den ſchwierigen Berhältniffen,, in welchen fie ſich im elterlichen Haufe befand. Dan fann fie wohl tadeln in diefer Welt, äußerte er, aber Gott beurtheilt feinen Menſchen nach einzelnen Fehlern. Er hat dem armen und gu- ten und edlen Mädchen eine harte Erziehung gegeben und einft wird er fie dafür belohnen. Wüßte ich, heißt ed in einem andern Briefe, einen Weg, das liebe Mädchen glüdlich zu machen, fo wollte ich mit Freu⸗ den mich felbft zum Opfer bringen. Lange fchon finne ich auf eine gute Art, ihr mit Wärme viel Gutes zu fehreiben; aber ein Mädchen fann man wohl dad Unrechte, welches man an ihr fieht, fühlen laffen, und glaube mir, fie fühlt es tief, aber fagen, nein, fagen darf man e8 ihr nicht, oder man wird fogleich da8 Uebergewicht empfinden, welches in ſolchen Verhältniſſen das Mädchen über den Süngling hat. Sei Du ihr Fremd, ihr Lenker und Rather, ſchrieb er an Neffig, aber hüte Dich vor Dir felbft und vor einem Gefühl der Sicherheit, die Du nit haft. Dein letzter Brief verräth den höchften Grad der Leiden- haft und zeigt, dag Du in die Wonne des trunkenen Jünglings ges rathen bift. Narrheit wäre e8, von Dir zu verlangen, Deine Leiden» haft auszurotten; das fannft Du nicht, auch wenn Du wollteft. Nein, bleibe immerhin liebeskrank, bleibe Schwärmer, aber vergiß nicht Tugend und Religion. Die kalte Verftändigfeit und die ſich felbft vergefiende Sorge, welche Perthes zu einer Zeit zeigte, wurde zu einer andern Zeit von ungeftümer Leidenfchaft überwältigt. Du lebft jest, fehrieb er, unter den Augen meiner Friederife, meiner Frie- derike? ja, fo nenne ich fie; denn mag werden was da will, ein Theil ihres Geiftes ift mein und bleibt mein. Friederike fängt mit mir an, heißt es ein anderegmal, Friederike fährt mit mir fort und hört mit mir auf, kurz, Friederike ift Tag und Nacht in meinem Herzen. Ach! und meine Leidenfhaft ift zu Zeiten fchredlich und es ift fchredlich, eine Reidenfchaft wie die meinige unterdrüden zu wollen, und doch will und muß ich fie unterdrüden.

Perthes hatte die feite Weberzeugung, daß. das Mädchen den Freund mehr liebe ald ihn. ch mochte ed Dir nur nicht zugeftehen,

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ſchrieb er ihm, aber lange fhon kenne ich Friederifend Zuneigung zu Dir, welche aus Deinem edlen Charakter, der ftärker und fefter ift ala der meinige, hervorging. Glaube mir, Bruder, es koſtete oft heftigen Streit, ja wahrlich ſchrecklichen Kampf, nicht ungerecht gegen Dich zu werden und Dich den’ Vorzug nicht entgelten zu laffen. Einmal ftand ih auf dem Punkte, Dein Feind zu werden, aber ich übermand und jest bin ich ruhig, wenn auch Thränen in meinem Auge ftehen. Schreibe mir, was aus Deiner Liebe werden foll, und alle meine Kräfte will ih für Dich anftrengen.

In folder Stimmung fuhte Perthes die Einfamfeit, um ſich un- geſtört wehmüthigen Träumen überlaflen zu fönnen. Eben fomme ich von einem einfamen Spaziergange zurüd, fchrieb er, ber mir fehr wohl gethan hat; mir wurde fo fanft in der Herrlichkeit der Natur. Gewiß, ich war nie beffer als jebt. Du, lieber Bruder, was es auch fei, was mich durchwärmt, Gott Natur Herz, gönne es mit, und freue Dich mit mir. Mir fleigen Bilder auf aus dem Zwielicht der Erinnerung, und trübe umfchweben mich die Geftalten der ent- fernten Lieben. Phantafie, heißt es in einem andern Briefe, Phantafie, wer die hat, fagt Campe, auf den fann man ſich nicht verlaffen.. O doch! aufs Herz! Phantafie, du ſchaffteſt mir manches Leiden aber ohne dich möchte ich doch nicht fein! Phantafie gab mir Seligfeit, gab mir Liebe, Innigfeit, Wehmuth. O die Wehmuth, von der Phantafie erzeugt, ift das Süfefte, was ich kenne! Bruder, zu liegen in der ftillen Natur, nicht zu wiſſen, was man denkt und empfindet, und es doch fo klar zu wiſſen! Da, wo jeder Gradhalm, jedes Blatt mit Freund fein und ich au? jedem Träume ziehen fann und weinen möchte in füßem Schmerz , da wirds dem Menſchen Mar, dag Gott die Seele ift in allem.

Sao dankbar Perthed dad Glück der ihm in Hamburg zu Theil gewordenen Lebenslage anerkannte, fühlte er ſich dennoch jegt nicht durch fie befriedigt. Sie fönnen e8 nicht nachempfinden, lieber Campe, fhrieb er, was es heißt, einzig und allein auf. den Umgang junger Leute eingeſchränkt zu fein und allen Umgang mit älteren Männern, alle Kamilienverbindungen, fofern fie etwas anderes als einige fröh⸗

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liche Stunden gewähren follen, entbehren zu müflen. In den Kreifen junger Leute herrſcht, wenn fie auch noch fo groß find, ſtets eine uner- trägliche Einförmigleit, weil der ganze Verkehr ſich um nichtöbeden- tende Dinge dreht. Es kann nicht? gefährlichered geben als der dauernde Umgang mit Alltagdmenjchen. Leidet auch der Charakter nicht unmittelbar, fo wird Doch ein trodner, dumpfer, gedrüdter Zur ftand entftehen, der die Freiheit mehr oder weniger befchräntt. Ich hatte, als ich hierher kam, die Thorheit begangen, mich an manche junge Leute anzufchließen, Die auf die erſte Stunde erträglich fchienen ; jest, da ich fehe, daß fie mir viele ſchöne Stunden verderben, muß ich air, um fie wieder los zu werden, manchen harten Schritt erlauben. Weil Perthes feinen biöherigen Umgang meiden wollte, durfte er kei⸗ neswegs Umgang überhaupt meiden. Seine angeborenen und durch die Einflüffe der Kindheit weiter auögebildeten Anlagen machten es ihm faft unmöglih, aus Büchern Befriedigung für feinen lebendigen Bildungdtrieb zu gewinnen; er bedurfte, um zu werden, was er wer⸗ den Tonnte, des fehriftlihen und mündlichen Verkehrs mit belebten und belebenden Menfchen verfchiedener Stände, verfchiedener Bil- dungsſtufen und verfchiedener Richtungen. Jetzt wurde er fich dieſes Debürfniffes immer mehr umd mehr bewußt. Mein Herz fordert dringend, fchrieb er feinem Oheim, den Umgang mit vielen, aber ges bildeten Menfchen. Solcher Umgang ift Bedürfnis für mich und id muß ihn erlangen, wenn ich in meiner Lage nicht zu Grunde gehen foll.

Hamburg, fo mannigfach wie wohl feine andere deutiche Stadt in der erften Hälfte der neunziger Sabre bewegt, war ganz der Dit, welcher auch dem lebhafteſten Wunfche nach Verfchiedenartigfeit und Lebendigkeit eined anregenden Umganges Genüge leiften fonnte. Der Verkehr mit allen Welttheilen hatte der erften Handeldftadt und dem erſten Seehafen Deutfchland® immer ſchon eine Menge der verfchie- denartigften Interefien und zahllofe Fremde aller Nationen zugeführt. Ceit den erften Jahren der Revolution aber war durch die Handel» fühnheit einzelner großen Häufer und durch die vielen und engen Ver⸗ bindungen mit Franfreih dem Handel ein neuer gewaltiger Auf ſchwung gegeben, deſſen Wirkungen fi bis in die unterften Claſſen

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des Volkes erſtreckten. Ein ſehr lebhaftes Intereſſe an dem Gange der Begebenheiten in Frankreich war entſtanden und eine ſo genaue ſenntnis der dortigen wechſelvollen Zuftände verbreitet, mie fie viel⸗ leiht felbft in den großen Gabinetten fih nicht fand. Emigranten aller Farben hatten eine Zuflucht in Hamburg gefucht, und als gegen Ende des Jahres 1794 die Franzofen von Weften ber die Wefer be» - drohten und viele wohlhabende und angefehene Männer aus Oftfries- land, aud dem Dldenburgifchen und dem Hanndverifchen ihren Auf- enthalt in Hamburg nahmen, erreichte das Gedränge und Getriebe einen früher unerhörten Grab. Außer der deutfchen Schaubühne, die unter Schröder’ Leitung eine der erften Stellen in Deutfchland ein- nahm, hatte das frangöfifche Theater aus Brüffel, das englifche aus Edinburg fih dauernd eingerichtet. Die geiftigen Kämpfe und Be wegungen, welche Deutichland erfüllten, erregten auch Die bedeuten- dern Kreife der großen Handelsftadt. Hinneigung, zum Theil leiden- fhaftliche Hinneigung zu der Revolution und das Bekenntnis zu dein Inhalte der Wolfenbüttler Fragmente waren bier zu Haufe. Aber wenn and) das großartige Streben de3 ältern, 1767 geftorbenen Reis marus ſich verflacht, mern auch Leffing’? gewaltiges Auftreten, als er 1768 von Hamburg aus feine Dramaturgie fehrieb, an Wirkung ver« loren batte, fo war dod in den neunziger Jahren das Wohlmwollen und der Bildungstrieb in jenen Kreifen fo groß, daß an ein fchroffes und gebäffiges Abſchließen gegen bedeutende Männer, welche eine ver- ſchiedene Richtung verfolgten, nicht zu denken. war. Leben und leben lafien galt auch in geiftiger Beziehung. Die Mittelpunkte, um bie fih die Einheimifchen wie die Fremden von Bedeutung ſammelten, wurden durch eine verhältnigmäpig Fleine Zahl Familien gebildet. Büſch, defien Schriften über Staatewirtbichaft und Handlung einen großen und weitverbreiteten Ruf genoflen, war zwar ſchon hochbejahrt ; aber die Handeldafademie, deren Vorſteher er war, führte ihm noch immer Fremde au? allen Ländern Europa's zu, und in feinem Haufe traf ſich, was an Witz, Geift oder Gelehrfamkeit hervorragte. Nabe befreundet mit ihm: war das Haus des jüngeren Reimarus, welcher als praftifcher Arzt die Verehrung feiner Vaterftabt und als Schrift- fteller über mannigfache Gegenftände der Arzneimifienfehaft, der Phi-

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lojophie und der Naturwifienfeheften einen fehr bedeutenden Namen in ganz Deutfchland hatte. Abends, wenn der Arzt fein Tagewerf vollbracht, fammelten fih um ihn und feine Frau und feine unverhei- rathete Schwefter Elife Einheimische wie Fremde. Bunter noch war das Treiben in dem Haufe feined Schwiegerfohnes Sievefing, der ala einer der reichften und Mügften Männer Hamburgs galt; Fremde aller Länder, Männer aller Richtungen fanden fonntäglih in Neu- mühlen, der berrlish an der Elbe gelegenen Sommerwohnung, gafl- freundlishe Aufnahme; fiebenzig, achtzig Säfte ſah man Mittags. oft Dort vereint um die Frau des Haufe, und niemand wußte beſſer ald fie, äußerte fpäter Rift, ein jüngerer Zeitgenoffe, jeden in feiner Weife gelten, jeden an dem unerfchöpflichen Reichthum des reinen und. wohl wollenden Herzen? Theil nehmen zu lafien. Es mag wenige Häufer geben, an die ſich nah und fern fo viele wohlthätige und dankbare Erinnerungen fnüpfen.

Mit und neben diefen Familien bewegte ſich der Kapellmeifter Reichard, welcher nach mannigfachen Schickſalen eine Zuflucht in Neu- müblen gefunden hatte, fein Arbeitäzimmer war mit den Bildniffen von Mirabeau, Pichegru und Charlotte Eorday geſchmückt und einen feiner Söhne hatte die Begeifterung für die junge Republik ald Chaſ⸗ ſeur in die Pyrenäenarmee geführt. In Altona lebte Gerftenberg, der Berfafler des Ugolino, einft thätigfter Mitarbeiter an den Briefen über die Merkwürdigkeiten der Literatur, jeßt einer der eifrigften Kan- tianer und Stifter eined eignen Kantifchen Clubs. Weberall wurde Schröder, ald Director ded Schaufpieled, ald Berfafjer vieler drama⸗ tiſchen Werke und ala Gefellfehafter gleich beliebt, germe gefehen. Die beiden Brüder Unzer, bekannt als Starfgeifter und Bergötterer der itelienifchen Poefie, hielten, wo fie erfchienen, ſcharfes Gericht über die deutfchen Dichter, wie über jede ihnen als engherzig erfcheinende Mo⸗ tal, v.Heß, welcher fpäter auf das Schidfal Hamburgs bedeutenden Einfluß übte, führte dem gefelligen Berfehr politifchen Stoff zu. Ne ben allen diefen Männern aber erfchien auch Klopftod oft und nicht ungern in jenen Kreifen. Man fah ihm feine abweichenden Anfichten nad) und vermied ed, den alten und berühmten Mann zu reizen.

Als Perthes, ein und zwanzig Jahre alt, nach Hamburg kam,

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hatte ex freilich fein Verſtändnis von den Lebergeugungen und Ges genlägen, welche in diefen Kreifen den Mittelpunkt der Bewegung bils deten; aber daß hier .ein bedeutendes Leben gelebt werde, ahnete er, und fih einen Antheil an demfelben zu gewinnen, war fein ſehnlicher Wunſch. Wie pocht mein Herz, fchrieb er feinem Freunde, wenn ich an fo treffliche Kamilien denke, wie die von Büfh, Reimarud, Sieve- fing, und wenn id) junge Leute fehe, die in denfelben die echten Freu⸗ den des Lebend genießen koönnen. Ich will und ich muß, fchrieb er kinem Obeim, dort Zutritt erhalten. Das Ziel indeflen, welches Perthes fich geſteckt hatte, war nicht leicht zu erreichen. Die tief in der Ratur der Sache liegende Scheidung zwifchen dem Großhandel und dem mit Handverlauf verbundenen Kleinhandel war und ift in Hamburg dadurch verfehärft, Daß fie wenigſtens thatfächlih in die Berfaffung der Stadt übergegangen ifl. Der Großhandel gibt die Fähigkeit zum Eintritt in den Senat, der Kleinhandel zu dem in Die fogenannten bürgerlichen Collegien. Schwerlich wird fich jemand, dem das Leben in einer großen Handelsſtadt nicht bekannt iſt, eine Borftellung machen könpen von der Berfchiedenheit der Lebensweiſe und dem gefelligen Verkehr, in den Anfichten und den Intereſſen, welche aus diefem durchaus nicht mit der Verfchiedenheit des Reich thums zufammenfallenden Gegenfab hervorgeht. | Der Buchhandel nun, weil er mit Handverfauf verbunden ift, wurde als Kleinhandel betrachtet und deshalb waren die, welche ihn betrieben, nicht Glieder der Gefellfchaft, welche man an andern Orten die höhere Gefellfihaft genannt haben würde. Perthes überdied war ganz arm, war ohne Empfehlungen und ohne Berwandtichaft in der großen Stadt. Ein glüdlicher Zufall war es, der ihn zuerſt mit dem Sievefingfchen Haufe befannt machte, und fein erfted Erfheinen in demfelben war bezeichnend genug für das Auftreten de3 in den be» Ihräntteften Verhältniffen aufgewachfenen Züngling3 in einer neuen Umgebung. Dein Nachbar bei Tifch, fehrieb er dem Oheim, mar Büfh, ein Mann von fiebenzig Jahren, beinahe ganz blind. Dieſer mußte nun fehlechterding® von mir bedient werden und bei jedem Ges richte fragte er: Was ift das? Ich hatte aber natürlich von all den Gerichten niemal® weder etwas gefehen noch geſchmeckt noch gerochen,

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und mußte das nun allemal jehr laut, damit der alte Herr Vüſch es ‚auch werftehen Eonnte, auseinander fegen, was natürlich für mich und für andere fehr fomifh war. Einmal in diefem Haufe bekannt * geworden, fand er fehnell auch in den befreundeten und verwandten Familien wohlwollende Aufnahme Manche Förderung, manche gei- ftige Anregung wurde ihm hierdurch zu Theil, aber der innere Kampf, die innere Unfiherheit blieb dennoch diefelbe. Ich habe fie gefchmedkt, fhrieb er dem Freunde, die Freuden und Ergögungen einer Welt, in welcher fi) alles untereinander und wibereinander treibt. Trunten zwar, wie mancher andere, bin ich nicht geworden und Erfahrungen babe ich genug gemacht; aber befier bin ih nicht geworden, und nicht beſſer werden heißt ſchlimmer werden.

Nene Freunde und deren Einfluß. 19

Perthes hatte auf einen großen bildenden und umwandelnden Einfluß durch die Berührungen mit den hervorragendſten Familien Hamburgs gehofft, aber der Unterſchied der Jahre, der äußeren Les bengftellung und des tiefften -geiftigen Bedürfniffe® war zu groß, ala daß diefe Hoffnung hätte erfüllt werden können. Einige Alterdgenof- fen follten e8 fein, welche zunächft eine durchgreifende Bedeutung für die innere Fortbildung ded jungen Mannes gewannen. Sch habe jegt, fhrieb Perthed im September 1794, drei Männer kennen gelernt, die ungeachtet ihres fehr verfchiedenen Charakters fo. fehr Yreunde find, dag unter ihnen alle gemeinfchaftlich if. Der eine von ihnen, Spedter, ift Gelehrter, tief eingeweiht in die kritiſche Philofophie und des Philofophen Reinhold vertrauter Freund; der zweite, unge, ift Kaufmann und einer der geiftreichften- Menfchen, die ich jemald ge fehen;; der dritte, Hülfenbed®, wetteifert mit beiden.

Perthes war zwei und zwanzig Jahre alt, ald er die neuen Freunde kennen lernte. Sein überaus zarter, nicht großer, aber fefter

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und regelmäßiger Körperbau, das lodige Haar, die feine Gefichtöfarbe und ein ungemein fanfter Einfchnitt an der Bildung ded Auges gaben feiner Erſcheinung einen lieblichen, faft jungfräulichen Ausdrud. Un⸗ glaublih leicht erregbar, murde er roth wie eine Roſe, wenn der Frauen und Mädchen auch nur die leifefte Erwähnung gefchah. Den- noch gewann, wenn Perthed fich für die Durchführung irgend eine® Entſchluſſes entichieden hatte, die Sicherheit und heftige Kraft ſeines Geiftes einen völlig entfprechenden Ausdrud in dem zarten Körper; feine ftarfe, tönende Stimme, feine Haltung, jede feiner Bewegungen ſprach die fefte Ueberzeugung aus, daß er feinen Willen durchſetzen fönne und durchſetzen werde. Der Heine Perthes hat doch den männ- lichſten Geift von un allen, - pflegten feine Freunde zu jagen, und manchen Vorfall wußten fie zu erzählen, bei welchem er durch bie Entfehiedenheit ſeines Wollend den Trotz und die förperliche Stärte roher Menſchen zum. vermunderten Nachgeben genöthigt hatte. Per⸗ thes kannte diefe feine eigenthümliche Meberlegenheit fehr gut, und auf fie bauend, trat er in jungen und alten Jahren unbedenklich auch un. ter ſolchen Umftänden durchgreifend hervor, unter denen gar mancher förperlich ſtarke Mann ftille ſeines Weges gegangen wäre. Ueber⸗ haupt war ihm Furcht vor einem künftigen Übel nicht befannt, aber jagen konnte er bei der Erinnerung an ein vergangenes.

Als Perthes die drei engverbundenen Freunde, Spedter, Hülfen- bed und Daniel Runge, denen Herterich nahe fich anfchloß, zuerft ge= jeben hatte, übte er fogleich eine überaus anziehende Kraft auf fie aus. Perthes ift ein Menſch, ſchrieb Speckter damals, der mich durch feinen zarten Sinn und durch fein ernfted Ringen nad) Beredlung fehr an fich zieht. Dank Ihnen, lieber Freund, dag Sie mir diefen Men- (den zuführten. Faſt beftändig mußte ich ihn anfehen, erzählte Runge fpäter, und das Wohlgefallen an feiner äußeren Erfcheinung übertrug ich auf den innern Menfchen. Weit überwältigender aber war der Eindrud, welchen Perthes feinerfeitd empfing. ch ge nieße jet mit vollen Zügen, ſchrieb er feinem Oheim, was ein rafches, feuriged Gefühl genießen kann. Drei Freunde habe ich gefunden, voll Geift und Innigleit, voll reinen, echten Sinnes und ausgezeichne⸗ ter, weitumfaflender Bildung. Als fie meinen Willen zum Guten,

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meine Liebe zu dem Schönen erkannten; als jie fahen, wie ih fuchte und ftrebte: da nahmen fie mi) auf, und wie felig bin ich nun! Durch fie habe ich erhalten, was mir fehlte: fie wiffen das, was mein Gigenftes ift, Iebendig und wirklich wirfend-zu machen. Mir ift es wie einem Fifch, der vom trodnen Lande ind Waſſer kommt. Sagen Sie nicht, das fei Schwärmerei. Denn’ beshalb ift ein Gefühl doch nicht Schwärmerei, weil der Menſch nur in erhöhten Stunden es in feiner ganzen Stärfe fühlt; ſolche Stunden find e8 ja vielmehr, in denen der Menfch eigentlich Menfch if. Wie ift ed nur möglich, ſchrieb er feinen Freunden, daß Ihr mich vor allen andern liebt und mehr an mir habt, ala ich felbft in mir finde? Friſcher und le- bendiger ergriffen ihn feit dem Zufammenleben mit den gereifteren Freunden die neuen großen Erfcheinungen der Literatur. Haft Du Goethe's Lehrjahre fchon gelefen, ſchrieb er, wie einfach und wie groß! Und daß ed etwas ſchöneres geben kann als Iphigenie, glaube ich nicht. Am bedeutendften wirkte der neue Umgang auf die tie- fere Auffaffung der Anforderungen, welche das Sittengefeg an den Menſchen ftellt. Während Perthes früher.nach der Meinung, melde - damals die Menge beherrfchte, Tugend und Bervolllommnung we— fentlih nur in der Vermeidung einzelner Fehltritte und in der Aus- übung einzelner edlen Handlungen gefucht hatte, legten die Freunde ihm die Aufgabe bes Menfchen in ganz anderer Weife aud. Nun ftellte fich ihm nur die Tugend, welche einzig und allein ihrer ſelbſt wegen geübt wird, ald Tugend dar und feinen Beweggrund, der ſich nicht aus ihr felbft ableitete, wollte er gelten laſſen. Durch. die Liebe zu Euch, fehrieb er, hätte ich einen Beweggrund mehr, tapferer Streiter zu fein gegen jede Verdunkelung meiner Freiheit durch äußere Ein- flüffe; aber- darf fol ein Beweggrund gelten, da er nicht der hödhfte it? Nur die Tugend ferner erfchien ihm nun als Tugend, die eine Tugend war ohne Fehl und ohne Unterlaß. Beſtände die Tu- gend, fchrieb er, in einzelnen Momenten und guten Handlungen, ließe fie ih durch Aufopferungen und Heldenthaten erwerben, fo hätte ich fie längft errungen; aber unmöglich fann der Werth des Menfchen von feinen gelegentlichen und einzelnen Ihaten abhängen, fondern muß von dem innern Zuftande bedingt werden, ber feine ganze Hand⸗

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lungsweiſe beflimmt. Der volllommene Mann, heißt e8 in einem andern Briefe, Darf nicht® anderes denken, wollen und thun, ala was dem höchften Princip der Moral gemäß ift; feine feiner Leidenfchaften darf überwiegend werden; Kopf und Herz, Wille und Verftand, Ber- nunft und Sinn, alle muß in ungeftörter Webereinftimmung fein. Derjelbe fchnelle Wechfel zwifchen Gefallen an ſich felbft und zwifchen Berzweifelung an fich felbit, welchen der Knabe fchon erfahren hatte, rip nun wiederum den Süngling auf feinem vorgefchrittenen Stand» punkte hin und ber. Auch den gefteigerten fittlihen Anforderungen gegenüber hatte Perthes Zeiten, in denen er Die Zuverſicht zu fich felbft mit verlor. Mein Wille ift ſtets gut, jchrieb er. Wohl bin ich noch Sklave meiner Leidenfhaften, Sklave meiner Gewohnheiten, aber wahr und wahrhaftig, ich will und muß mir meine Freiheit eriver- ben. Zumeilen ſchien ihm feine Rechnung gut genug zu ftehen. Es thut einem fo wohl, fehrieb er, wenn man vor Gott hintreten kann und ſagen: Gott, du weißt es, ich bin gut. Lieber Freund, beißt es in einem andern Briefe, Du ſollſt mir das hohe Bewußtſein von fich felbft nicht verkegern; denn nur. der kann es haben, der es haben darf. Es ijt freilich wohl möglich, daß jemand eitel fein fann auf Talente, die er hat oder haben möchte, aber es ift unmöglich, daß jemand eine hohe Meinung von feinem ganzen Wefen haben fann, wenn fein ganzes Weſen ihn nicht dazu berechtigte. Oefter indeſ⸗ fen fühlte Perthes fich jeder Zuperficht auf die eigne Kraft und auf fein inneres Fortſchreiten beraubt; oft erfüllte ihn eine leidenfchaft« liche, rafche Handlung, oft der geſammte Zuftand feined Innern mit Schmerz und Ungeduld. Wie hat mich Spedter, fchrieb er, getroffen, als er mir fagte: Perthes, all dein jetziges Lieben ift nichts ald Ner- venfpiel und nimmt nur den Schein einer edleren Leidenfchaft ein, weil du ein feines und zartes Gefühl haft. Ach, er hat Recht, und wenn aud) alles fchläft, die böfen Geifter wachen immer.

Mich zieht, fehrieb er an Campe, befonders Ihre alled umfaflende Güte an, welche Sie fo anfpruchlo® über jeden ausbreiten. Dies ift nicht fo bei mir: ich fehe immer fo viel-auf mid) felbit, habe fo viel Nebenabfichten und ich fürchte, daß meine unftete Phantafie mich die echte Lauterkeit des Herzens hat verlieren laſſen. Ob ſich das wohl

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wieder ändern läßt, mein lieber Freund? Ach Gott, ed wird ja doch wohl möglich fein! Jeder alte abgelebte Greis, heißt es in einem an⸗ bern Briefe, deffen Aeußeres Ruhe verkündet, ift ein Gegenftand mei« ned Neided. Taufendmal des Tages wünfche ih mir mit Hintenan- ſetzung aller jugendlichen Freuden fo alt zu fein; wünfche mir diefe Kälte des Blutes, diefe Stumpfheit der Nerven, um nur des heftigen Streites zwifchen Leidenſchaft und Pfliht los zu werden, der mein Inneres zerrüttet. Lieber Auguft, fchrieb er ein anderedmal, Sie find ſehr gut— ach daß ich ed auch wäre! Es ift fo ſchwer, gut zu bleiben, und fo ſchwer, beffer zu werden, daß mir ſchon oft der Zweifel aufge- fliegen ift, ob wir denn auch wirklich von Natur gut geboren find. Wie an feiner eignen Bervolllommnung wurde er auch an der des Menfchengefchlehtd irre. So lange ich glaubte, fhrieb er, daß das Befjerwerden blog von Berihtigung unferer Berftandesirrungen abhinge und daß daher die Menfchen dur Aufflärung ihres Berftan- des beffer und glücllicher werden müßten, fo lange war mir die der maleinftige Bolllommenheit unfered Gefchlecht3 auf diefer Erde wahr- fcheinlich, aber jebt, da ich täglich erfahre, daß die Hügften Menfchen fo oft fehlen, daß Männer, deren Theorien die beiten find, fich Laftern ergeben, ift aller Glaube an die Erreichung jene? Tugendideals in mir ausgeftorben. Ja, wenn es Grundfäße wären, die und zu Böfewid- ten machten, da könnte der Fehler in verkehrten Begriffen liegen, und wir würden befier fein, wenn diefe berichtigt wären. Aber wie kann die Aufklärung ſchwache Kräfte zu jtarfen, ungefunde zu gefunden ma- hen, wie fann fie Unnatur und erfünftelten Zuftand in Ratur und Einfachheit verwandeln! Nein, wahrhaftig Gutfem ift feine noth⸗ wendige Folge der Aufflärung des Verftandes; nur Thorheiten kann fie hinwegſchaffen, aber feine Lafter. Diefen veränderten Anfid- ten entfprehend, nahm Perthes nun audy eine andere Stellung der Revolution gegenüber ein. Das Wunderbare, was jetzt bei den Fran- zoſen erfcheint, fehrieb er 1795, will ich nicht wegleugnen. Was hat es aber für Werth, wenn kein eigentlich hHumaner Zweck zum Grunde fiegt? Bei jedem ihrer Fortichritte bemerkt man es deutlich, daß fie fi immer mehr dem nähern, was die andern Groberer auch ausüb- ten. Auch Klopftod hatte gehofft, durch die conftituirende Berfamm-

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kung Entehrung ded Menſchen durch den Krieg vernichtet zu fehen; allein er beirog fih. Was fagft Du zu der Verbrennung des Jaco⸗ biniſchen Strohmanns? Meinen Gedanken nach hat fich der Parifer Möbel dadurch einen Schandfled angehängt, der größer ift alö alle vorhergehenden. Was kann abſcheulicher fein, ald Unthaten, die man felber gethan hat, von ſich abwälzen und auf andere ſchieben zu wollen, und dann zu frohloden, daß man dieſen andern verbrennen kann? Freilich war diefer Actus nöthig, um die untrüglichen Aus- fprüche des fonveränen Volles zu reiten! Glaube nicht, daß ich ein Feind der Freiheit oder ein Feind des franzöfifchen Volkes bin. Wer kann das fein, wenn man die unerhörten Schandthaten, die kaltblüti⸗ gen Verbrechen hört, die auf der andern Seite vorgehen? Bei Gott, wer noch einen Gran von Kraft in fich fühlt, der muß bereit fein, ihn aufzubieten gegen die Unterdrüder der Polen; aber wir felbft dürfen doch Dabei nichts thun, was der Würde des Menfchen nicht angemeffen it, und darum daß und die Franzofen nicht vergöttern.

Bor allem indeſſen wendete Perthes die neugewonnene Anficht auf fich ſelbſt an und bald wurde es ihm gewiß, daß er die Tugend, welche die Freunde verlangten, nie erringen werde. Entſchloſſen fprach er aus: Den Heldenmuth der Tugend aus dem Willen allein kenne ich nicht, folchen Heldenmuth habe ich nicht, und follte ich den mir eriver- ben, fo müßte zuvor dad Befte in mir getödtet werden; denn glaubt mir, mein Herz klingt heller für das Gute, als mein Wille das Gute will. Das ift freilich da8 Imgefehrte von dem, was Ihr verlangt, aber deshalb nod nicht ein. Berfehrted. Denn wenn mein Herz leb⸗ haft für das Gute erregt ift und ich dem Gange meiner Gefühle mich überlafien kann, nur dann habe ich Kraft zu handeln. Unausſprech⸗ li dankbar bin id) dem höchften Weſen für das Herz, dad er mir gab. Das Herz wäre mir eine Höllenqual, dag nicht? im höchſten Grabe empfinden, nicht ſich hoch freuen, nicht tief leiden könnte, fondern fich falt dem Willen in allem fügte. Sieh, 'vor kurzem fagte mir der Art, daß der ftechende Kopfſchmerz, an welchem ich ſchon längere Zeit leide, einzig und allein von einer großen Senfibilität meined Empfin- dungdvermögend herrühre und dag mich nicht3 von demfelben befreien tönne ala möglichfte Gleichgiltigleit bei guten und böfen Eindrüden,

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Aber fo gerne ich auch diefen Schmerz los wäre, fo wenig möchte ich doch diefe Senfibilität entbehren, denn in ihr liegt mein Reichthum. Sei e8, daß mir durch fie hundert drüdende Gefühle werden, fei es, dag ich ihretwegen viele uuglüdlihe Stunden durchleben muß; den- noch bin ich glüdlicher al® andere; ich lebe mehr, ala taufende le- ben. Dafür danke ich dem guten Gotte, und dennoch muß ich aus⸗ rufen: Glüdlich werden? ob ich wohl jemals glüdlich werden Tann.

Diefelben Freunde, durch welche ihm da3 Sittengefeg in feinem tieferen und umfafjenderen Inhalte auögelegt worden war, hatten unter dem Einfluffe der Schriften Schiller’ 3 einen Schritt vorwärts in ihrer inneren Audbildung gethan und machten nun Perthed aufmerf- fam auf einen bisher ihm verborgenen Weg, welcher zur Erfüllung des Sittengefebes führen ſollte. Richt die Anforderung werde, fo hieß ed nun, an den Menfchen überhaupt und an Perthes insbeſon⸗ dere geftellt, daß er fein warmes und lebendiged Gefühl tödte. und es dem Falten eifernen Willen opfere; das Gefühl vielmehr müffe, indem es an der Kunft und durch die Kunft -belebt, geläutert und gebildet fei, zum Herrn des Willen? gemacht werden. Speckter zuerft verwies den fuchenden Süngling auf Schiller’ d Gedicht: Die Künftler, und legte ihm immer aufd neue die Berfe and Herz: „Nur durch das Morgen- thor des Schönen dringft Du in der Erkenntnis Land“ und „was wir ale Schönheit hier empfinden, wird einft ald Wahrheit und entgegen gehn.” Dann führte Runge ihn in das Verftändnis- der äfthetifchen Briefe Schiller'3 ein. Ein ungeheuerer, die ganze Zeit beherrfchender Irrthum ſchien ihm durch Schiller zerftört, wenn diefer ausſprach: Es ift nicht genug, daß alle Aufklärung des Verſtandes nur infofern Achtung verdient, als fie auf den Charakter zurüdfließt; fie muß auch von dem Charakter ausgehen, weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden. Ausbildung ded Empfindungsvermögend ift alſo das erfte Bedürfnie. ch bitte Dich recht fehr, fchrieb Perthed an Campe, lied die. Horen, vorzüglich die Afthetifchen Briefe; gib Dir Mühe, fie zu verftehen, mach' fie Dir ganz zu eigen und Du wirft den Lohn finden; denn die Anfichten, die in ihnen über die Schönheit und über dad ganze Sein und Werden der Menfchheit aus- gefprochen werden, find dad Erhabenfte und Wahrfte, was je am meine

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Seele gekommen if. O Bruder, heißt e8 in einem andern Briefe, laß und echte, gute Menfchen werden, und und immer mehr zur Sittlich- fit und zur Schönheit erheben! Wenn wir dann recht feft geworden find, wollen wir auf andere wirken. Wir werden es, aber nur durch da8 Schöne; denn fonft findet dad Gute feinen Eingang.

Der Iebbaftefte Dank gegen feine Freunde erfüllte ihn für die neue Ueberzeugung, die fie ihm verschafft hatten. An mir felbft war ich verzweifelt, fchrieb er, als ich durch. dad Opfern ded Gefühle, des geiftigen wie des finnlihen, zur Tugend wollte und nicht konnte. Stets meinem Willen untreu, erwartete ich die Berachtung der Men- ſchen, Die ich liebte. Wo follte ich Haltung gewinnen? Ich hatte das Gefühl, welches meine Bruft bewegte, ich hatte mein Einzig » Eigene verichmäht am Wege liegen lafjen. br lehrtet mich erfennen, was ih verfhmäht hatte, Ihr habt es durch Eure Liebe in mir geftärkt. Eure Liebe wird ed mir fihern, fo lange ih Menſch auf Erden bin, - Ihr feid es, die mir den Weg zum Morgenihor ded Schönen gezeigt haben; nun liegt es geöffnet vor mir. est kann, jebt werde ich das, was mir Roth thut, erringen: Beharrlichleit und Gleichgewicht.

Bald indeffen follte Perthes erfahren, dag auch jenfeitd des Morgenthors des Schönen dunkle und den Sinn verwirtende Wege fih fänden, und ed war ein großes Glüd für ihn, dag, als diefe Efahrung eintrat, ein fefter und mit ganzer Liebe ergriffener Lebens⸗ beruf ihn nöthigte, alle Kräfte zufammen zu nehmen und befonnen bandelnd im thätigen Leben fich zu bewegen.

Perthes Ecben. I. 4. Aufl. 4

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Die Gründung der Handlung. 1796.

Die Betamntſchaft mit den Familien von Reimarud, Sieveking und Büfch, ſowie der genaue Umgang mit feinen neuen freunden ließ den Mangel ’der eignen Durhbildung immer lebendiger fühlen; aber Perthes fah, fo lange er von dem raftlofen Getriebe der Berufsarbeit in Anfpruh genommen ward, feine Möglichkeit, dem erkannten Mangel abzuhelfen. Bei folder Anfparmung aller Kräfte, fchrieb er, wie fie da8 biefige Geſchaͤft verlangt, erlaubt mir meine menfchliche Natur nicht, täglich noch einige Stunden für mich zu arbeiten. Ich bleibe ftehen, wo ih bin, und kann an fein Borrüden denken; das macht mich elend. Er hoffte, fi) die Summe von hundert Tha- lern zu erfparen, um dann an irgend einem Fleinen Orte einige Jahre an feiner Fortbildung arbeiten und Zuſammenhang in feine mancher⸗ fei. Renntniffe bringen zu fönnen. Campe fagt zwar, fehrieb er, daß dieſer Trieb nach eigener Ausbildung nichts ala Eitelkeit fei: der Menſch müſſe nügen, nicht fich felbft leben wollen; aber diefer Aus» ſpruch ift gewiß falfch und macht mich nicht irre. Die fpätere Zus funft war für Perthes ziemlich gefichert, da der Oheim in Gotha den Eintritt in feine Handlung zugefagt hatte. “Mein Lebensplan iſt ſo einfach, äußerte er, daß ich kaum weiß, wie er geſtört werden ſollte.

Wenige Wochen, nachdem er dieſe Aeußerung gethan hatte, wurde ihm auf Veranlaſſung von Reimarus und Sieveking der Vorſchlag gemacht, mit einem jungen Manne, den jene beiden Familien begün- fligten, ein Verlagägefchäft zu begründen; für die Herbeifhaffung der nöthigen Geldmittel folle Sorge getragen werden. Perthes indeffen, damals zwei und zwanzig Jahre alt, traute fich ſelbſt noch nicht die. nöthige Gefchäftäfenntnid zu und fand auch in dem vorgefchlagenen Gefellfehafter nicht Die Tüchtigkeit und Zuverläffigkeit, welche ihm ala die unerläßlihe Vorausſetzung zu einer fo nahen Verbindung erfchien. Dankbar lehnte er den Antrag ab. Aber von dieſem Augenblicke an

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hieß ihm "der Gedanke feine Ruhe, fih, wenn er um die Erfahrung einiger Fahre reicher geworden fei, in Hamburg ein eigene? Geſchäft ju begründen. Beil er hoffte, in feinem (Freunde Neffig einen durch⸗ aus geeigneten Theilnehmer zu finden, fuchte er denfelben ſchon jebt nah Hamburg zu ziehen, und ed gelang ihm, Hoffmann zu beſtim⸗ men, auch den Fremd ale Sehilfen in die Handlung zu nehmen,

Zunächſt freilich fab auch Perthes in dem Buchhandel dad Mittel, welches Bernögen und äußere Selbftändigfeit verfchaffen ſollte; aber die Bedeutung, welcher jein lieber Buchhandel, wie er oft ſich aud- drüdte, für das gefammte geiftige Leben des deuiſchen Volles hatte; trat ihm dennoch fo vorherrſchend vor die Seele, daß er während fei- nes langen Leben? ganz gewiß weniger Gewicht auf den Erwerb. ge- legt bat, als jeder Beamte auf die Befoldung zu legen gewohnt iſt Ohne eine großartige Geftaltung ded Buchhandels fchien ihm Wiſſen⸗ haft und Kunft in ihrer Wirkung gefährdet, wo. der Balgentreter fehlt, äußerte er, fpielt der größte Virtuos vergebens auf der Orgel. Manche Literarifch tobte Gegend hatte er Durch die Regſamkeit eines tüdytigen, dort ſich niederlaſſenden Buchhändler aufleben ſehen, und ſchon von dieſem Geſichtspunkte ans: beklagte er, daß dem: intereſſan⸗ ten Erwerbözmweige viel zu wenig Aufmerfamleit gewibneet werde, An den Orten ferner, an welchen die Buchhändler Sinn für Wiſſenſchaft und Kunſt befaßen, ſah er vorzugsweiſe willenfehaftliche und -fünf- leriſche Werke abgefept; wo ſich Dagegen ein Buchhändler von niedri- gem und fittenlofem Charakter angefiedelt hatte, fanden ſchlüpfrige und elende Schriften aller Art weite Verbreitung. Geftügt auf ſolche Xhatfachen, fchrieb Perthes dem Buchhandel überhaupt und jeden Buchhändler indbefondere einen wefentlichen Einfluß auf die Richtung zu, in welcher Lefer und Käufer bei der Auswahl ihrer geiftigen Nab- wng zu Werke gingen, und da ihm der in ungeheuerem Wachſthum begriffene Einfluß der Literatur auf Gefinnung und Leben vor Augen lag, fo betrachtete er damald und fein ganzes Leben hinburd ben Buchhandel und bie Art feines. Betriebes als eine Her‘ in den Gang der. Geſchichte eingreifende Macht. Ä

Er wußte wohl, daß der Buchhandel vollig banbiverkörmäfik be» trieben werben tönne, aber. auch an Pfarvern und. Brofefforen;, an

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Miniftern und Generalen fehlte ed nicht, welche Frohndienſte leiſteten um das tägliche Brot. Ein Grauen freilih fam ihn an, wenn er Buchhändler fah, welche, wie er fich fpäter audrüdte, gemeine Wirth- haft trieben mit Schreibgefindel, das für Stallung und Fütterung den Geift vermiethete. Wo wäre, fehrieb er 1794, ein Stand, defien Mitglieder die ihnen nothwendigen Kenntniffe weniger befäßen und die ihnen obliegenden Pflichten weniger erfüllten, als der des Buch⸗ handels? Deutſchland ift mit elenden und feheuplichen Büchern über- fhwemmt, und würde frei von diefer Plage fein, wenn dem Buch⸗ händler die Ehre lieber wäre ald das Geld. So entichieden Per⸗ thes den Beruf, dem er mit Liebe und Wärme ſich ergeben hatte, ge⸗ boben wiflen wollte, fo erſchien ihm doch der Vorſchlag feines Freun- des Gampe, den Drud verderblicher Werke durch Errichtung eines Buchhändlertribunals unmöglich zu machen, nicht nur unausführbar, fondern auch gefährlich, weil er eine neue Art Genfur zum Ziele habe. Nur in der Verftärtung einer ehrenhaften Gefinnung ded ganzen Standes und jedes feiner Glieder fah er Hilfe. Lieber Campe, fchrieb er, um zu wirken, was zu wirken möglich ift, laſſen Sie und zuerft uns felbft.im Guten befeftigen und Kenntniffe erwerben und unter den jungen Leuten unfered Standes freunde und Belannte unfered Simmed gewinnen, fo viel wie möglich. Jetzt ſchon find wir unferer fünf, und was können fünf nicht alled wirken, wenn fie ernftlich wol⸗ len? Sucht jeder von und den Geift ded Guten unter feine Belann- ten zu verbreiten, fucht jeder noch einige Auserwählte, behalten wir Standhaftigkeit, gibt Gott und Glück, Auguft, was wollen wir. wir- fen, was Gutes thun! Ich bitte Sie, fchreiben Sie mir doch hier- über ja recht bald und recht viel.

Auf eignen Füßen wünfchte Perthes zu ftehen; durch feinen Bes ruf wünfchte ex auf weite Streife zu wirken, und Hamburg war ihm fo lieb geworden, daß er den Abſchied faſt für unmöglich hielt. Tag und Nacht ſann er über die Möglichkeit nah, fich in Hamburg ein Geſchäft zu gründen, und die Umwandlung, weldhe im Betriebe des Buchhandels eingetreten war, fchien ihm die Ausführung zu erleichtern. Gegenwärtig pflegen die beiden Zweige ded Buchhandels: Ver lag und Sortiment, getrennt von einander betrieben zu werden. Der

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eine vermittelt ald Verleger den Drud der ihm von den Schriftftellern überlaffenen Werke; der andere beforgt ald Eortimentshändler den Berkauf der den Berlegern abgenommenen einzelnen Exemplare. Im vorigen Zahrhundert dagegen war regelmäßig der Berleger zugleich Sortiment3händler und der Sortimentöhändter zugleich Verleger ge- weien, bis in den neunziger Jahren das Verhältnis beider zueinan- der eine Durchgreifende Uingeftaltung erfuhr. Als Perthes feine Lehr⸗ jeit antrat, famen, tie fehon früher erwähnt, die deutfchen Buchhänd- ler jeded Jahr zweimal in Leipzig zufammen, um fid) untereinander über den Austaufch der von ihnen verlegten Schriften zu verfländigen. Ließ fich Die zwiſchen den einzelnen entjtehende Rechnung auf derfelben Meite nicht durch Tauſch ausgleichen, fo trat für den Ueberreft nur jel- ten Baarzahlung ein; die Ausgleichung vielmehr blieb dem Tauſche fpäterer Mefien vorbehalten uud eine nicht unbedeutende Anzahl Hand- lungen fland daher in. fortlaufender Tauſchrechnung miteinander. Noch während Perthes in Leipzig war, verſchwand diefe Art des Ge- häftöbetriebed, weil die Berleger guter und großer Werke fich nicht mit dem fchlechten oder unbedeutenden Verlage anderer befaſſen moll- ten, der in dem legten Sahrzehend des vorigen Jahrhunderts in ton unbegreiflicher Schnelligkeit zu wuchern begann. Ä Allgemein machte fi nun die fogenannte Nettorechnung geltend, nach welcher auf jeder Meſſe das durch Taufch nicht Auszugleichende baar gezahlt werden mußte. jeder Buchhändler, deſſen Sortiment bedeutender war als fein Verlag, bedurfte feit diefer Zeit für jede Meſſe baaren Geldes, und das Sortimentögefchäft, welches früher nur in Berbindung mit dem Verlag vorgelommen war, hatte die Möglich feit gewonnen, fich zu einem felbftändigen Zweige ded Buchhandel? iu geftalten. Eine zweite Aenderung, welche im Geſchäftsbetriebe ein- ttat, gab dem felbftändig werdenden Sortimentshandel eine überaud vortheilhafte Stellung zu den Berlegern. rüber nemlich hatte kein Buchhändler die einem Verleger abgenommenen Bücher demjelben jurüdgeben dürfen, wurden fie nicht an das Publicum verkauft, fo mußte er felbft fie behalten, und daher hütete fich jeder, dem Berleger mehr Eremplare abzunehmen, al® zu verlaufen fihere Hoffnung war. Als die Verleger bemerkten, daß der Abfag ihrer Werke litt, weil es

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dem Sortimentöhandel an Ereinplaren fehlte, um den Verfauf auf das Ungewiſſe hin zu verfuchen, fo gaben fie den Sortiment®händlern außer den Exemplaren, welche biefe feft fauften, roch einige andere à condilion, wie man ed nannte. Die Sortimentähändler follten fich bemühen, diefelben zu verlaufen; gelang es ihnen nit, fo nahm der Verleger fie zurüd. Bald kam es fo weit, daß die Sortimentöhändler fein Gremplar feſt fauften, fondern jedes neu erfcheinende Werk von deſſen Berleger an alle für thätig und zahlungsfähig gehaltene Hand⸗ lungen & condition verſchickt ward. Da bie unverfauft gebliebenen &remplare in der folgenden Meffe ald Remittenden ober Krebfe zum Verleger zurüdtehrten, fo hatte von. nun an biefer allein den Schaden zu tragen, welcher aus den unverlauft bleibenden Werken erwuchs, und der Sortimentshandel mußte in der nächiten Zukunft einen außer. ordentlichen Aufſchwung gewinnen. Jeder, welcher das Jutrauen ber Verleger genoß, Tonnte denjelben mit einem verhältnismäßig kleinen . Capital betreiben und hatte, wenn er Literatur» und Menfchentennt- nid genug befaß, um da8 rechte Buch den rechten Leuten nahe zu bringen, wohl Hoffnung, in einem irgend lebhaften Orte fich ein blü- hendes Geichäft zu ſchaffen. Auch feine gefährlihden Seiten hatte freilich der Buchhandel durch den veränderten Betrieb erhalten. Per⸗ thes erfannte fie wohl; mit größter Befonnenheit und fiherem Blide ſetzte er brieflich feinem Oheim die Urfachen auseinander, durch welche ed dabin gekommen fei, daß die Mehrzahl ber deutfchen Buchhändler nur auf den legten Stoß, wie er ſich ausdrückte, warte, um zu Grabe zu gehen. ber, fügte er hinzu, muß diefe allgemeine Lage deö Buch⸗ handels nicht gerade ein Grund für mich fein, jept mit fefter, ficherer Hand zuzugreifen, wo ſich mir Umftände darbieten, die günftiger find ald Die allgemeinen. Wenn ich), was biöher noch niemand wagte, den Sortimentähandel für fich allein unternehme, fo ſpare ich an Ca⸗ pital, laufe fein doppeltes Rifico, kann alfe meine Unftrengungen auf einen Punkt hinwenden und habe dann in Hamburg die größte Hoff⸗ nung auf Erfolg. Bei einer Benölfernng von hundert und zwanzig tauſend Seelen find hier nur Drei Bucgbandlungen und das liter riſche Bedürfnis ift noch einer folchen Steigerung fähig, daß ein thä- tiger Buchhändler, welcher ſich hier nen niederläßt, den fchon beftehen-

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den Gefchäften Leinen Nachtheil, fondern Bortheil bringt. Dazu kommt, daß die hiefigen Handiungdherren, weil ihre Lage Höllig ge- ſichert ift, es fich ziemlich bequem machen und auch dadurch einem feine Mühe ſcheuenden Anfänger große Bortheile gewähren. Ich felbft habe in hiefiger Stadt viele und fehr gute Verbindungen; eine große Zahl einflugreicher Familien will mir wohl und mein guted Glück ſteht mir zur Seite. Soll id nun alle die Vortheile, welche fich jegt mir darbieten, ungenüßt vorübergehen laſſen? Freilich ich bin noch jung und hätte gerne noch einige Zeit forgenfrei dahin gelebt; aber in gehn Jahren befige ih jo wenig Bermögen wie in dieſem Augen⸗ blide und habe an Kraft und IUnternehmungsmuth unendlich verlo- en. Sept bin ich keck und kühn und kann, da ich erſt vier und zwan⸗ ig Jahre alt bin, noch zehn Jahre arbeiten, ohne an das Heirathen ju denken; wie viel leichter gehe ich da in ſchwierige Unternehmen hinein. Ja, mein lieber Obeim, ich bin entſchloſſen, ein eignes Ge⸗ KHäft zu gründen.

Um feinen Borfab ins Leben zu führen, bedurfte er nad) feiner Meinung die Summe von fiebentaufend Thalern. Freilich befaß er felbft feinen Thaler, aber mancher vorfichtige Dann war der Meinung, daß ihm, was er beginne, gelingen werde. Neſſig wollte fein Handels⸗ gefellfchafter werden und der Vater desfelben fagte ein Darlehn von jweitaufend Thalern zu; gleiche Summe verfprad einer feiner alten ſchwaͤbiſchen Freunde, und um ben Reſt des nöthigen Geldes zu er- halten, wurde ein junger Hamburger Kaufmann als dritter Gefell- ſchafter aufgenommen, obgleich das Gefchäft vorläufig unter Perthes alleinigem Namen eröffnet werden follte. Oftern 1798 verließ Per- thes die Handlung Hoffmann's, in welcher er biäher gearbeitet hatte, und ging nad) Leipzig, um mit den dort zur Meſſe verfammelten Ber- legern die nöthigen Berabredungen zur Eröffnung des neuen Gefchäfts zu treffen. Ich zeige Ihnen an, lautete das Circular, welches er in Leipzig umherſchickte, daß ich im Begriffe bin, mich in Samburg als Sortimentsbuchhaͤndler zu etablieren, zu welchem Unternehmen ich mir Ihr gütiges Zutrauen und Ihre Unterflügung erbitte. Es ift billig, dag man bei Erbittung der Handelsfreundſchaft einige Radricht von fih und feinem bisherigen Gang in. dem zu führenden Geſchäft gebe.

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Sch verweife Sie deshalb auf Herrn Böhme in Leipzig, unter deifen Leitung ich ſechs Jahre ftand, und auf Herrn Hoffmann in Hamburg, dem ich feit drei Jahren gedient habe. Ihren ferneren Nachfragen, die Sie an mich zu thun für nöthig erachten, werde ih mündlich oder fhriftlih gerne möglichfte Genüge zu leiften fuchen. Die älteren Herren waren nicht ohne Bedenken, dem vier und zwanzigjährigen. jungen Mann, der fo keck ein eigened Gefchäft begründen wollte, Cre⸗ dit zu bewilligen. Perthes hatte größere Summen nöthig, ald er geglaubt, er gerieth in bie peinlichfte Verlegenheit: aber die Treue fei- ner drei Hamburger Freunde half ihm aus der Noth. Du wirft er⸗ fahren haben, fchrieb er an Campe, wie es mir auf der Meſſe ergan- gen ift; aber glücdlicher Weife hatte ich neben fo manchen anderen fin- diſchen Einfällen auch den gehabt, mir einige taufend Thaler anzu⸗ ſchaffen, und das war gut, ſehr gut.

Die Arbeiten, Schwierigkeiten und Verdrießlichkeiten, welche ihm das beginnende ſelbſtaͤndige Geſchäftsleben brachte, hatte Perthes feſt und muthig zu überwinden gewußt; aber auf das gewaltſamſte wurde er erfchüttert und zerriffen, ald mitten in dem Gefchäftdtumult die alte Leidenfchaft zu Friederike mit neuem Feuer ihn ergriff. Er war der Meinung gewefen, daß diefe Liebe nicht mehr Leidenfchaft, ſondern nur noch Freude an dem Geifte und an der Anmuth des Mäd- chens fei, und zu Gunften feines Freundes hatte er fich felbft verfpro- hen zu entfagen. ‘Dem fhönen Mädchen gegenüber entzündete fich aber das Feuer von neuem, welches ihn feit dem erften Zünglings- erwachen erfüllt hatte. Wie fteht, fehrieb er, da3 Mädchen vor mir in ihrer Kraft und im Gefühle ihrer Freiheit ernft ohne Meinliche Eitelkeit das Auge voll Geift, jeder Zug, jede Bewegung voll Aus- drud und Leben, und wenn ihr Auge in das meinige blidt, fo fapt mid Leidenfhaft, und ich fühle es tief in mir, daß ich vor einer gro- Ben Entfcheidung ſtehe. Wie ein böfes Schiefal erfhien ihm nun das Wort, welches er fich gegeben hatte, nicht für fich, fondern für den Freund das Mädchen zu erringen. So reiche® Glück, rief er auß, fehe ih mir blühen aus dem ftrahlenden Auge und um alled, alles habe ich mic) jelbft betrogen, arm und hilflos ftehe ich da. Ich foll entfagen, und fann ed nit. Muß ich wirklich halten, was ich wollte,

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muß ich ed auch dann, wenn jie mich liebt, nicht ihn? Nein, ich kann es nicht, denn mir glüht Liebe aus ihrem Auge. Nur einen ein- jigen Weg fah er, um aus dem Widerftreit zwifchen Leidenfchaft und Pflicht zu fommen, und diefen Weg flug er ein. Er fehrieb fogleich an Reſſig wahr und offen, und nod bevor deffen Antwort eingelau- fen war, ließ er durch einen Freund Frideriken erklären: Perthes und Neffig forderten beide ihre Hand; fie folle wählen; der Nichtgewaͤhlte werde in Ruhe zurüdtreten und mit Treue für das geliebte Paar leben und arbeiten. Friederike, ſchrieb Perthes, hat rubig, ohne die Farbe zu ändern, angehört, lange gefchwiegen und dann fehr ernft geant- wortet: Ich habe Perthes Lieb, ich habe Neffig lieb, aber meine Hand kann id) feinem geben. Was nun? fchrieb Perthes weiter. Ich fühle mich Falt und erftarrt, und eine ſchwere Schuld liegt auf mir; denn bin ich es nicht, der die Entſcheidung auch über Neſſig's Schickſal her⸗ vorgerufen hat! Ein Brief des Freundes befreite ihn von diefem Selbftworwurf, aber leer und öde blieb ihm die Zukunft. Mein gan- 8 Lebensgebäude ift zerftört, zerftört won ihr, fchrieb er; ich habe mit dem Leben abgefchloffen, Gott gebe mir Troft und Kraft. Dir Iheint, heißt es in einem andern Briefe, die ftarre Kälte, mit welcher ih all den Sammer auf mich nehme, unnatürlih; Du willft mid weich und wehmüthig. Sch will Dir Folge leiften, ih will überhaupt kuͤnftig immer folgen, denn mir felbft habe ich bisher zu viel vertraut.

Schwer laftete nun auf Perthes die Nothmwendigfeit, kräftig an der Fortführung des beginnenden Geſchäfts zu arbeiten. Alles wollte ih darum geben, fehrieb er, nicht unternommen zu haben, aber es ift geſchehen. Schon habe ih ſchwere Verpflichtungen gegen andere und ih muß und will fie löfen, wie ein ehrlicher Mann. Er kehrte jurüd nach Hamburg und hatte nun, da er im Begriffe ftand, ſich felbftändig niederzulaflen, die Freude, feiner Mutter und feiner Schwer fter einen forgenfreien Aufenthalt in feinem Haufe gewähren zu kön— nen. Mit allen Kräften warf er fich in die Arbeiten hinein, welche, damit da® Gefchäft eröffnet werden könne, vorgenommen werden muß⸗ ten. Er war der erfte Buchhändler, welcher eine Auswahl der vor- jüglichften älteren und neueren Bücher aus allen Fächern eingebunden und wifjenfchaftlich geordnet aufitellte, fo daß fein Buchladen dem Li-

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teraturfreunde dad Bild einer kleinen aber fehr außerlefenen Biblio⸗ thef gewährte, in welcher durch das Auslegen der literarifchen Tages» erfcheinungen zugleich das Mittel Dargeboten war, ſich ſchnell und leicht über den gegenwärtigen Stand der Literatur, ihrer Beivegungen und Kämpfe Ueberblid und Einficht zu verfchaffen. In einer fehr beleb- ten Gegend der Stadt, „hinter dem breiten Giebel“ Nr. 140, hatte Perthes das Local für fein Gefchäft gefunden. Das Haus, ſchrieb er, welches ich für taufend Mark gemiethet habe, ift für Hamburg ein wahre? Wunderwerf; denn von oben bid unten ift alle® literarifch: auf der Erde Buchladen, eine Treppe hoch ebenfo, zwei Treppen hoch Dr. Erich ald Redacteur der hiefigen neuen Zeitung, drei Treppen hoch Dr. Erich ald Riterator und Helfershelfer von Meufel und Conforten, vier Treppen hoch franzöfifcher Buchladen nad) vorne und nad) hinten Muheftätte der jungen deutichen Buchhändler; fünf Treppen hoch ein Torfboden. Meine eigne häusliche Einrichtung, fehrieb er der Tante, ift Hein, aber ziemlich nett; ich glaube, Sie würden fi) darüber freuen. Beine Ordnungsliebe wenigſtens wird von allen Hauöbe- wohnern gefürdhtet. Als Perthes die nöthigen Vorbereitungen vollendet hatte, zeigte er unter dem 11. Juli 1796 die Eröffnung feines Geſchaͤfts mit folgenden Worten im Hamburger Eorrefponden- ten an:

Ich mache hierdurch bekannt, daß ich hier eine neue Buchhand- lung errichtet und nunmehr eröffnet habe. Auf meinem Lager befin- den fih- die beiten ältern und neuern in Deutſchland herausgekomme⸗ nen Bücher, und ich darf verfprechen, jedes Buch, das überhaupt noch irgendwo zu bekommen ift, verfchaffen zu können. Einen Theil mei- ned Sortiments habe ich einbinden laſſen, um fo den Wünfchen des lefenden Publicumd noch geſchwinder zu entfprechen, die Kenntnis von dem, was man fauft, zu erleichtern und den Bebürfnifien der hier durchreifenden Ausländer mehr entgegen zu kommen.

Dur diefe neue Einrichtung glaube ich etwas nüpliches gethan zu haben; die Unvollſtaͤndigkeit und die Mängel, die fi in der Aus- führung finden möchten, werde ich zu verbeflern fuchen, fo wie bie Wuͤnſche des Publicumd mir befannter werden. Um ben Aufenthalt in meinem Laden angenehm zu machen und um überhaupt die Be-

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fanntwerdung unferer neuen Literatur an meinem Theil zu befördern, werde ich Dafür forgen, daß von jedem deutfchen Journal, jeber Neuig- keit des Zaged und jeder allgemein intereffanten Schrift immer ein Eremplar in meinem Laden zur Durchſicht bleibe. Aufmerkfamteit, Pünktlichkeit und Gefälligkeit gegen das mic) beſuchende Publicum made ich mir in jeder Hinficht zur Pflicht.

Dad Geſchäft war gegründet und hatte Hoffnung auf Erfolg. Es war, bemerkte Perthes fpäter, ein keck gewagtes, jugendfiches Unternehmen; aber es ruhte auf der richtigen Einficht in die leben⸗ digen literariſchen Bewegungen und Bedürfniffe damaliger Zeit.

Die erfte Belanntihaft mit Soffein nud dem Münfterlande. 1796.

Wenige Boden, nachdem Perthes fein Gefhäft eröffnet hatte, trat im Juli 1796 ein ſchlanker, hoher Mann mit feiner Geſichts⸗ bildumg, Feicht gebräunter Farbe und finnendem, herrlich blauem Auge in den Buchladen. Dem Anfchein nach ein Funfziger, hatte ex in allen feinen Bewegungen eine leichte und Fräftige Jugenbdlichkeit, und Klei⸗ dung, Ausdrucksweiſe, Haltung, alles fchien gemählt und doch natür- ih. Der Mann, deſſen edler und freier Anftand fchnell Perthes Aufmerkfamteit erregte, war Friedrich Heinrich Sacobi, welcher, aus Düffeldorf geflüchtet, ſich damals im Holftein und Hamburg aufhielt. Vornehmheit freitih drückte fih in feinem ganzen Weſen aus, aber fie hatte nichts Kaltes oder Abwehrended. Die Anmuth ber ganzen Erſcheinung rief vielmehr in Perthes fogleich zutrauensvolles Hinge⸗ ben beruor. Kaum hatte er die nöthigften gefihäftlichen Antworten gegeben, fo ſprach er auch ſchon dem bewunderten Berfaller des Wol⸗ demar die Berehrung uud Liebe, welche er für ihn empfand, mit gro⸗ fer Wärme aus, und ließ den freundlich Zuhörenden einen Blid in daB eigene heftige Streben und unfichere Schwanfen thun. Jacobi

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hatte feine Kreude an dem jungen lebhaften Mann; fchon nach weni- gen Tagen fam er wieder und hielt fih von nun an. oft und.lange in dem Buchladen auf, bald die neuangelommenen deutihen, englifchen und franzdfifchen Schriften durchblatternd, bald ſich mit deren Eigen⸗ thümer unterhaltend.

Wenige Wochen ſpäter, es war im Auguſt 1796, wurde Perthes von Jacobi nach Wandsbeck, wo dieſer damals wohnte, eingeladen. Dort ſah er Jacobi's jüngſten Sohn Mar, der fo eben feine medicini⸗ {hen Studien in England vollendet hatte, und Jacobi's beide Schwe- ftern, Charlotte und Helene, welche, Tebendig an Geift, ſcharf an Ber fland und voll Theilnahme für alle Bewegungen der Literatur, zu gleigugeichäftige und aufopfernde Sorgſamkeit im Haufe wie im Le- ben bewährten. Perthe3 durfte von nun an, fo oft er wollte, und er wollte fehr oft, das Haus Jacobi's befuchen; Helene wurde ihm eine treue mütterliche Freundin, und Jacobi ein väterlicher Freund, der wohlwollend auf die Fragen und auf die innern Kämpfe, Zweifel und Bedenken des jungen Mannes einging, um zurechtweifend und beleh- rend deffen weitere Entwidelung zu fördern. Sch liebe und ehre den herrlichen Mann, fchrieb Perthed dem Oheim, wie ich feinen andern Menſchen liebe und ehre. Mit vollem Herzen bin ich ihm entgegen gegangen; er erfannte es und hielt ed der Mühe werth, fi mit mer nem Innern zu befchäftigen. Die Entwidelungäftufe, auf welcher Perthes fland, mußte die Einflüffe Jacobi's überwältigend machen. Jahre hindurd Hatte er fih abgemüht, feinen Willen nad) Geſetzen zu regeln, welche von dem Berftande ald die allein und allgemein giltigen aufgeftellt fein follen; Jahre lang hatte er ſich abgemüht, den fo geregelten Willen für fein Thun und Treiben zur ausſchließ⸗ lichen Richtſchnur zu nehmen, aber e3 hatte ihm nicht gelingen wollen. Dann hatte er mit größter Freude und Wärme das Gefühl in feinem eignen Innern als den Leitftern für das Leben ergriffen, aber diefes Gefühl follte zuvor an der Kunft gebildet und geläutert fein, und das wollte ihm nicht gelingen. Run ftand ihm Jacobi gegenüber mit der ganzen Macht eines bedeutenden und anerfannten Namen? und mit dem ‚ganzen Zauber feiner perfönlichen Erfcheinung. Er beftä- tigte dem freudig aufhorchenden jungen Mann, daß er allerding® das

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eigne Gefühl als Leitftern für das Leben feithalten folle, wenn auch aus einem anderen Grunde und in anderer. Weife, ald er bisher ge⸗ meint. Wohl jei, fo lautete Jacobi's Lehre, dem Menfchen die Wahr« heit als eine. Mitgift für die irdifche Laufbahn von feinem Schöpfer offenbart worden, zwar nicht in Wort und Bild, aber, doch ald Gefühl in dem eignen menſchlichen Innern. Ein unerforfchliches. Ereignis jedoch, welches auch durch die Auffaffung ald Sündenfall feine Erflä- rung nicht erhalte, habe die urfprüngliche Offenbarung im Gefühl geſtört und der Menfch irre, und. der Menfch fündige. Unzertrennlich zwar von dem Dafein ded Menſchen als Menſch fei ihm der Begriff einer erſten Urfache aller Dinge geblieben; aber wenn der Verftand, welcher nichts vermöge, als Begriffe feftzuftellen oder gehabte An- ſchauungen in Begriffe zu vertvandeln, jene letzte Urfache der Dinge durch Logifche Mechanik Demonftrieren oder aus finnlihen Wahrneh⸗ mungen aufffären wolle, fo gelange er unvermeidlich zu einem noth- wendigen Weſen ohne Perfönlichkeit, zu dem todten Abgott des Ber- ſſandes. Im Gefühle des Menfchen aber offenbare Gott fich felbft und die ewige Wahrheit in. unmittelbarer Weife. Nur indem ber Menfch diefe unmittelbaren Offenbarungen vernehmen und fie von den Eindrüden der Sinnenmwelt wie von den Einflüffen des Verſtandes befreien lerne, dürfe er hoffen, zu einer immer tieferen Erkenntnis der ewigen Wahrheit zu gelangen.

Wie fol ich Ihnen danken, fchrieb Perthes einige Jahre waier an Jacobi. Sie find es, welcher mein Schickſal beſtimmte, indem Sie mir durch Ihre entgegenlommende,; mein jugendliche? Herz wieder aufrichtende Liebe eine ganz neue Laufbahn eröffneten. Nie. ift in Perthes das Gefühl des Dankes und der Verehrung, durch welches er an Jacobi gebunden war, erfaltet, und Jacobi pflegte.den Briefen, die er ununterbrochen bid zu feinem Tode dem jüngeren Freunde ſchrieb, häufig die Ueberſchrift zu geben: der alte Jacobi an feinen waderen und lieben Sohn Perthe2.

Im Haufe Jacobi's hatte Perthes fchon im September Claudius geſehen und am 27. Rovember betrat er zum erſtenmal das beinahe am Eingange des freundlichen und reinlichen Ortes an der breiten lübſchen Landſtraße gelegene Haus des Wandsbecer Boten. Bor ihm

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fand nun der. Mann mit feiner kränklichen Gefichtsfarbe und feinem ſchlicht zurüdgeftrichenen, von einem Kamme zujanmmengehaltenen Haar. Die nicht anfehnliche Geftalt,. der bequeme Haudrod, die nie⸗ derſächſiſche Sprache würde jchwerlich den in dem feltenen Manne verborgenen Schap geoffenbart haben, wenn nicht ein himmliſches Feuer aus dem berrlich-blauen Auge gefprochen hätte. Claudius war längft von mir verehrt, fchrieb Perthes feinem Oheim; aber es ift ſchwer, ihm beisufommen. Mich beugte vor ihm der tiefe Sinn feiner Schriften, in denen jede Zeile ein Zeugnis davon ablegt, daß der Funke, der unfere göttliche Abkunft bekundet, in ihm wach ift wie in Seinem andern. Auch in Claudius' Haufe wieder begegneten ihm, wie-in den Hamburger Kreifen, die großen politifhden and reli« gidfen Fragen, auch bier wieder die lebendigfte Theilnahme an den Bewegungen ber Literatur‘, aber in anderer Weife ald dort. Gegen- über den herrfchenden Jeitrihtungen, welche Religion und Staat mehr oder weniger auf menschliches Meinen und menfchliche Willkür zurüd- führen wollten, fand Claudius in der durch die heilige Schrift be= wahrten Offenbarung die einzige Quelle der wahren Religion und in. der angeftammten Obrigkeit das nicht zu entbehrende, von Gott verliehene Rettungsmittel gegen den Frevel und die Willfür der Men⸗ ſchen. Mit Jacobi fimmte er infofern völlig überein, als auch er “der logifhen Mechanik jede Kraft abſprach, die Wahrheit zu finden, aber freilih im übrigen gingen beide Männer weit auseinander. Während Jacobi ald Folge jened unerforfchlichen Ereigniſſes, welched Zerſtörung in die Schöpfung Gottes brachte, das Irren des Menfchen mit durchaus vorherrfchender Bedeutung hervorbob, fah Claudius vor allem auf dad Sündigen des Menfchen und auf die hierdurch hervor- gerufene Scheidung deöfelben von Gott. Ihm konnte daher als Heil⸗ mittel nicht, wie Sacobi, das die Stimme Gottes vernehmende Gefühl des Menſchen, fondern nur die geſchichtliche Thatſache der Exrlöfung und ihre den Sinn des Menſchen ändernde Macht genügen. Feind⸗ lich indeffen ftanden fi ungeachtet ihrer wefentlichen Berfehledenheit bie Uebergeugungen der beiden nahe befreundeten Maͤnner nicht gegen über. Ohne in einen Widerſpruch mit fich felbft zu gerathen, konnte Jacobi fagen, daß er denjenigen glüdlich preife, welchem ein noch hel⸗

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leres Richt, eine noch freudigere und feftere Zuverficht als ihm gewor⸗ den fei, und Claudius fah, weil die Ahnung der Wahrheit zwar noch nicht groß mache, aber doch die Fähigkeit gebe, es zu werben, Jacobi auf Feinem Wege, der ein anderes Ziel verfolge ald dad, welches er felbft erftrebte. |

Anderen Ueberzeugungen gegenüber ftand Claudius anderd. Die Pertonen zwar übten damals, aud wenn fie in den verfchiedenften Richtungen fi bewegten, größere Duldſamkeit gegeneinander, ala in fpäterer Zeit, aber die Meberzeugungen felbft traten. ſich fchroffer gegenüber. Es fehlte an jeder Bermittelung der religiöfen und poli⸗ tifchen Gegenfäbe, e8 gab nur ein Entweder oder. Manches Un⸗ weientliche, manches Nebenwerk wurde, meil ed einmal ald Zubehör einer beftimmten Grundanficht hergebracht war, nicht weniger ent⸗ fhieden fefigehalten, ala die Grundanficht felbft, und man trug Ber. denken, dem Gegner irgend eine Berechtigung zuzugeftehen, weil man fürdjtete, die ganze Hand würde jedem genommen werden, der den Heinen Finger zu reichen fich geneigt zeige. Auch der Bote von Wandsbeck, obgleich fo ſtark und feft in feiner Veberzeugung wie we⸗ nige der Zeitgenofjen, wurde nicht immer völlig Herr über die Aengſt⸗ lijfeit und über die ſtets aus derfelben folgende Schroffbeit; aber einen Grundzug feine? Geiftes bildete Diefelbe weder in früheren noch in fpäteren Jahren. Gerade um die Zeit, in welcher Perthes Clau⸗ dius zum erftenmale ſah, hatte diefer Uriand Nachricht von der neuen Aufklärung gefchrieben und wollte fie drucken laffen, um den ihm ger machten Vorwurf des Obſcurantismus zurückzuweiſen. Bitterfeit ins deſſen oder Gereiztheit kam durch dieſe Arbeit fo wenig wie durch irgend eine andere Arbeit gleicher Art in fein Gemüth, und weil ihm der Glaube, verjühnt zu fein mit Gott, nicht ein Lehrfab war, ſondern ein dad ganze innere ausfüllender Zuftand der Seele, fo blieb ihm und feinem Haufe jedes traurige und trübfelige, jedes finftere und im Thun und Laien ängfiliche Wefen fremd. Unbefangen gab er fih auch im häuslichen Leben feinen launigen Einfällen hin und konnte ſich berg lih der Anabenfpäße freuen, an denen die heranwachfenden ülteren Söhne einen unerſchoͤpflichen Reichthum befaßen. Ich fand Claudius fo harmlos und deutfhhumoriftifeh wie ehemals, erzählte Ewald, ein

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eifriger Anhänger der Aufklärung, welcher in Claudius, als er ihn 1796 befuchte, einen. düftern Fanatiker zu finden erwartet hatte. Was man alfo au, fährt er fort, von feinen religidfen und politifchen Meinungen fagen mag, er it ald Mann fein anderer geworden; er hat feinen finfteren Blid befommen und ift allen Menfchen gut; ja er lat über mande Dinge, worüber ſich viele unferer Toleranz» und Humanitätd- und Stoicidmud- Prediger halb todt ärgern würden.

Die Sinnedart ded Vaters, welcher dad geiftig Große und Tiefe nicht anders als in unfcheinbarer Form oder ‘verkleidet gar in irgend einer zugleich das Lächeln erregenden.. Geftalt hervortreten lafien mochte, fpiegelte fih, fo wie die hohe weiblidhe Einfalt der Mutter, in dem gefammten Leben der Familie ab. Die großen Werke Paleſtri⸗ na’3, Leonardo Leo's, Bach's, Händel’8, Mozart's, englifche Sprache und - Literatur und geiftige Intereffen aller Art waren einheimifch in dem Haufe, aber verftedt gleihfam unter der größtmöglichften Einfachheit des Lebend. Auch für die alltäglichfte häusliche Arbeit fehienen die Töchter nicht zu gut; und nur darauf bedacht, die tiefen Mittelpunkte ‚de geiftigen Leben? in feinen Kindern zu kräftigen und zu bilden, Tieß Claudius fie im übrigen gewähren. Zwar hatte auch er mit dem Feinde in Inneren des Menfchen zu kämpfen, der in ihm für manche Verhältniſſe als eine angeborne Härte ſich geltend machen wollte, oder ihn verleitete, den Eindrüden des Augenblicks mehr, 'ald recht war, Einfluß zu geftatten ; aber das Reben der Familie wurde hierdurch nicht in feiner freien und unbefangenen Bewegung geftdrt; gemachte und anfpruchvolle Abwechſelung der irdifchen und der himmlifchen Dinge kannte fie fo wenig ald gewaltfame oder erfünftelte Webergänge.

Perthes hatte es bisher für feine mwefentliche Aufgabe gehalten, die eignen Handlungen und Stimmungen möglihft genau zu zerglies dern, fie zu tadeln oder zu bewundern, und war dadurch zu einem ängftlichen Aufpaffer feiner felbft geworden. Der erfte bedeutende Eindrud, melden er von Claudius’ Haus empfing, lieg ihn ahnen, dag ein Zuftand des geiftigen Seins möglich fei, in welchem das Auflauern auf jede Regung des inneren und auf jede frifhe Bewe- gung des äußeren Reben? den Menfchen nicht fördere, ſondern hemme und ftöre, | |

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Den Freunden in Hamburg, Runge, Hülfenbed und Spedter, entging der Eindrud nicht, welchen Jacobi und Claudius auf Perthes machten. Sie konnten von ihrem damaligen Standpunkte aus diefe Einwirkung nicht billigen und fürchteten überdies, daß Perthes ſich in Folge derjelben von ihnen mehr und mehr entfernen möge. Es kam zu einer lebhaften Erklärung, aber Perthes befeitigte durch einen offnen und warmen Brief an Runge den Miöflang, ber hereinzu⸗ brechen drohte. Allerdings hat meine Stellung zu Dir fi geändert, förieb er, feit ich Jacobi und feine Freunde fenne; ich vermag jept Dir zu widerfprechen, ja ich widerfpreche Dir, um zu widerfprechen. Dis dahin hatteft Du meinen Geift gefangen genommen; nun aber habe ich eine Sicherheit kennen gelernt, welche, obgleich an fich viel- leicht nicht höhern Werthes ald die Deinige, Doch anderen ihre Wahr⸗ beit und ihr Recht auch vergönnt, und ſeitdem ftehe ich freier. Aber meine. Liebe zu Dir ift unmwandelbar; ‚wen ich einmal liebe, einmal mit Innigkeit ergriffen habe, den laffe ich nie wieder. Glaubet auch Ihr an mich und werdet nicht irre. | Obgleich, mie diefe Worte zeigen, der Eindruck, welchen Jacobi

und Claudius auf Perthed machten, ihn zunächft nur zu einem Aufs geben feines bisherigen Standpunktes geführt hatte, fo ließ fich doch vorausſehen, dag ein längerer und näherer Umgang mit beiden Män⸗ nern, mochte er nun anziehend oder abftoßend wirken, eine feftere und farere Ueberzeugung begründen müffe. Die Bedeutung, welche hier- durh das Haus Jacobi’? und das des Wandsbeder Boten für Per⸗ the3 gewinnen follten, wurde wejentlich erhöht, indem beide Familien mit allen den Kreifen nahe befreundet waren, in welchen fih damals da® eigenthümliche und vielfach bewegte geijtige Leben Holfteind ausſprach.

Zerſtreut auf ihren Gütern ober i in Meinen Orten fand ſich eine nicht geringe Zahl bedeutender Männer, welche, in mehr oder meniger naher Berbindung ftehend, Lebendigkeit über das ganze Herzogthum verbreiteten. Die Griechen und Römer, Natur und Kunft, politifche und religiöfe Intereſſen hatten hier ihre begeifterten Freunde und Pileger. In Meldorf in Süderdithmarfchen lebte feit 1778 Niebuhr der Bater, nahe verbunden mit Boie, bem Herauögeber des deutſchen

Perthes Leben. 1. 4. Auſl. 5

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Mufeumd, welcher an demfelben Orte das Amt des Landvogtes be- fleidete und wie Riebuhr einen großen Reichthum an auswärtigen Berbindungen und ntereffen befaf. In Eutin befand fih Graf Friedrich Leopold Stolberg feit feiner Rückkehr aus Stalien im De cember 1792 als Präfident der fürftlihen Regierung. Er war voll Beift, Xeben und Liebe, damals wie auf jeder Stufe feiner Entwide- lung aber ſchon unruhig in feinem Innern, weil er den feflen äuße- ren Halt, den er für feine religiöfe Ueberzeugung bedurfte, nicht in der . proteftantifchen Kirche fand, deren hergebrachte Formen er den Angrif- fen der Feinde erliegen ſah. Unter Stolberg. arbeitete der ſpaͤtere Director im preußifchen Eultugminifterium, Nicolovius; er hatte den Grafen al8 Lehrer der Kinder nad Italien begleitet und 1795 in Eus tin eine Anftelung ald Kammerfecretär gefunden. Voß mar bereits 1782 als Rector der Schule von DOtterndorf nad) Eutin gefommen und lange vorher ſchon den boljteinifchen Kreifen befannt und befreun- dei; die beiden Stolbergd waren im Göttinger Dichterbunde feine Brüder geweſen; mit Claudius und deilen edlen Freunden hatte er nad feinem eignen Ausdrude das feligfte Leben während des Auf- enthalt? in Wandsbeck 1775 bi® 1778 gelebt. In Eutin aber nahm er dennoch eine gereizte Stellung ein. Die Unvereinbarfeit der inner- ften Gefinnung, der fchroffe Gegenſatz in den Anfichten über Adel, Religion und franzöfiihe Revolution und vielleicht mehr noch al? al- les dieſes die verfchiedenartige Lebensſtellung, in welcher fich die alten Univerfitätäbrüder nun zu Eutin wiederfanden, hatte die frühere Sünglingsfreundfchaft zwifchen Boß und dem Grafen Friedrich Leo- pold unheilbar erſchüttert; die Unbefangenheit des Umgang? war da- bin, überall erblidte Voß gräflichen Stolz, überall religiöfe Ueber- fpannung, und widrige Zuträgereien vermehrten das Unbehagliche des Verhaͤltniſſes.

Nach Emkendorf, einem Gute zwiſchen Kiel und Rendsburg, hatte ſich nach ſeiner Abberufung vom daͤniſchen Geſandtſchaftspoſten in London Graf Friedrich Reventlow zurückgezogen. Als Eiferer für das ſtrenge Feſthalten an der Augsburgiſchen Confeſſion, als Curator der Landesuniverſität und als Verfechter der Adelsrechte wurde er vielfach angefeindet; aber fein Geiſt und feine Redlichkeit erregten,

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fo wie jeine feine Weltbildung, überall Bewunderung, und feine Ge mahlin Julie, geborne Gräfin Schimmelmann, hatte durch geijtvolle Lebendigkeit, anſpruchloſe Frömmigkeit und freudige Ergebung in ſchweren lörperlichen Leiden, fo wie Durch verftändige Sorge für ihre Öutdangehörigen, Freunde und Berehrer auch unter denen erworben, die ihre Gejinnung nicht theilten. Beſonders häufig in Emkendorf fanden Jacobi, die Stolbergd, Claudius, Cramer der Bater, Hengler und andere fich zufammen, und der Ernft und das vornehme Weſen, welches diefem Haufe eigen war, hatte feine drüdenden Formen und verjcheuchte weder die Freude an der Literatur, noch eine heitere, ja möhliche Gefelligfeit.

Auf Altenhof, nahe bei Edlernförde an der Dftiee, hatte der Bru- der des Grafen Friedrih, Graf Cajus Neventlow, feinen Wohnfig. An Feinheit, vornehmer Weltbildung ftand er vielleicht feinem Bruder nach, aber nicht an Geift und Umfang der Kenntniffe, und an Kraft, an Geichäftsblid und einfacher Tüchtigkeit des Charakter übertraf ex ihn. Nahe befreundet mit Altenhof wie mit Emkendorf war Graf Ehriftian Stolberg, damald Amtmann in dem etwa drei Meilen von Hamburg entfernten Tremdbüttel. Weniger dur ihn ald durch feine Gemahlin Quife, geborne Gräfin von Reventlow, hatte fein Haus eine eigenthümliche Bedeutung für die befreundeten Kreife. Dur ihren fehneidenden Berftand und dur den Umfang ihrer Bildung behauptete die Gräfin eine überlegene Stellung und ftand in einem mit Geift und Selbftändigfeit geltend gemachten religiöfen und po- litifchen Gegenfab zu den verwandten und befreundeten Kamilien Holfteins. |

Für diefe und noch manche andere bedeutende Kreife in Holftein hätte Kiel als Landesuniverſität den natürlichen Mittelpunkt bilden folen,, aber Durch heftige Parteiungen bin und her bewegt, konnte es eine ſolche Stellung nicht gervinnen. Als der Philologe Cramer, wels her feine Begeifterung für die franzöfifche Revolution in unerhörter Beife offenbarte, 1794 entiegt wurde, famen die politifchen, ald dad Guratorium der Univerfität den Lehrbegriff der Augsburgiſchen Con⸗ teffion umangetaftet erhalten. willen wollte, famen bie religiöfen @e- genfäge an den Tag. Wohl nur der alte ehrmürdige Gramer und

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Hendler, deilen Bedeutung als Menſch und als Gelehrter Durch Rie- buhr's Briefe allgemein befannt geworben ift, ftanden in einem wir ih nahen Zufammenhange mit dem geiftigen Leben Holſteins.

Bon Hamburg wurde Holftein durch die ihrem innerften Weſen nach verfchiedene Auffallung der großen Lebendverhältniffe getrennt und die innere Trennung hatte überdies eine Verfchärfung erfahren dur die Stellung, welche der Amtmann von Henning in Plön, be fannt ald Herausgeber der Annalen der leidenden Menfchheit, ein- nahm. Mit den Kreifen, in welchen fein Schwager Reimarus lebte, war er nahe befreundet; von den Holfteinern Dagegen wurde er ver⸗ mieden und bitter gehaßt. Demungeachtet waren Claudius, Jacobi und auch die beiden Stolberg oft und gerne in Hamburg; der gei-⸗

‚fligen Bedeutung freute man fich gegenfeitig und ertrug die Grund- verſchiedenheit in politifchen und religiöfen Ueberzeugungen, fo gut es gehen wollte, ohne ſich diefelben einander zu verbergen. Näher ala mit Hamburg war ungeachtet der confefjionellen Verfchiedenheit Hol» ftein mit dem bedeutenden Kreife im Münfterlande verbunden, ale deſſen Mittelpunkt Die Yürftin Gallitzin erſchien.

Die faft in jeder, Beziehung hervorragende Stellung, welche daB Hochſtift Münfter feit dem Anfange der fiebenziger Jahre einnahm, hatte e8 einzig und allein dem Domcapitular Freihern Friedrih Wil- helm Franz von Fürftenberg zu verdanken, welcher ala Minifter des Erzbiſchofs von Köln und Biſchofs von Münfter, Mar Friedrich von Königsed, feit etwa 1764 die Regierung in Münfter führte. Fürften- berg war zunächſt und vor allem ein Staatdmann im großartigften Sinne ded Worted. Ihm fehlte unter den gegebenen Berhältniffen die Möglichkeit und gewiß auch der Wille, in den beftehenden, jede politische Wirkfamkeit erfchtwerenden Formen der territorialen und der kirchlichen Berfaffung Aenderungen vorzunehmen, und dennoch wan⸗ delte er in unbegreiflich kurzer Zeit da8 gefammte Leben in folchem Grade um, daß dad Hochſtift an. Bildung des Clerus, an Tüchtigkeit der Volks⸗ und der gelehrten Schulen, an Regſamkeit im Aderbau und in Gewerben und vor allem an Liebe feiner Bewohner zum Lande und feiner Verfafjung die meiften weltlichen und alle geiftlichen Ter⸗ ritorien weit überragte. Auch abgefeben von feiner Bedeutung als

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Staatemann, nahm Fürftenberg eine geiftig hervorragende Stellung ein. Sachkenntnis in fehr ungewöhnlihem Umfange ftand ihm zu Gebote, und in den literarifchen wie in den philofophifchen Bewe⸗ gungen der Zeit war er einheimifch. Während er in den früheren Jahren feine? Lebens eine gewifle Vorliebe für die Künfte des Krieges nicht verleugnen konnte und deshalb beſonders Fräftig für die Ver- breitumg der mathematifchen Studien und für eine muthige und fräf- tige Ausbildung der Jugend wirkte, nahmen ihn im fpätern Alter die religiöfen und die philofophifchen Intereſſen vorzugsweiſe in Anſpruch.

Zu diefem Manne und in dieſes Land kam im Sommer 1779 die Fürftin Galligin, Gemahlin des ruffifhen Gefandten im Haag, um fich den Rath Fürftenberg’3 für die Erziehung ihres Sohnes ein- zuholen und dann fich derfelben auf einem Landfis am Genfer See ganz hinzugeben; aber der Eindrud, welchen Yürftenberg auf fie machte, war jo groß, daß fie feine? Rathes und feiner Unterftügung nicht wieder entbehren mochte und fortan ihren dauernden Aufent- halt in Münfter nahm. |

Die Fürftin, eine Tochter des preußifchen Generalfeldmarfchalld Grafen Schmettau, hatte eine Erziehung erhalten, welche durchaus nur auf dad Auftreten in der damaligen großen Welt berechnet war. Als Hofdame der. Prinzeffin Ferdinand wurde fie 1768 im Bade Spaa mit dem Fürften Galligin befannt und nach einer Belanntichaft von wenigen Wochen im zwanzigften Jahre feine Gemahlin. Mit ihm lernte fie vorübergehend das Leben an den Höfen von Wien, Peteröburg und Paris kennen und hatte dann als Gemahlin des ruffifchen Geſandten eine der erften Rollen im Haag zu Spielen. Die Bewunderung, welche ihrem Geifte nicht weniger als ihrer Stellung überall zu Theil ward, fchmeichelte ihrem Ehrgeize und ihrer Eitelkeit, aber befriedigt fühlte fie fi) dennoch nicht durch ihre Lage. Bon frühefter Jugend an hatte mit wunderbarer Stärke ein Trieb nad Erkenntnis der Wahrheit und nach Erreichung des ihr unter wech⸗ feinden Geftalten vorfchwebenden Ideals fittliher Vollkommenheit fie erfüllt. Die Zerftreuungen der großen Welt hatten denfelben nicht ertödtet; aus dem ununterbrochenen Kreife vielmehr von Spielen und Befuchen, von Schaufpielen und Tänzen brachte fie Abend nur

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ein vermehrtes, fie bis zur größten Dual erregended Streben nadı etwas Beflerem mit ind Haud. Der fehnliche Wunſch ermachte in ihr, aus dem] Leben der großen Welt auszuſcheiden und fih, um dem Zwielpalt in ihrem Innern zu entgehen, ganz der Wiſſenſchaft und der Erziehung ihrer beiden Kinder hinzugeben. Seltſamer Weife mußte e8 Diderot fein, welcher, obfchon er die von ihm verlangte Förderung in der Erfenntnid der Dinge nicht gewähren konnte, die Zuſtimmung des Fürften zu dern Entichluffe feiner Gemahlin vermit- telte. Seit 1773 lebte die vier und zwanzig Jahre alt gewordene Kürftin einfam in einem Fleinen Haufe nahe dem Haag und gab fi mit einer an leidenfchaftlihen Ungeftüm grenzenden Energie einem durhaus männlichen Studium der Wiffenfhaften bin. Unter Hem- fterhuis’ Leitung füllten nun Mathematit, Sprachen und vor allem griechifche Literatırr und Platonifhe Philofophie ihre Seele aus. Ob⸗ gleich, da ihre Mutter Katholifin war, in den Formen der Fatholifchen Kirche erzogen, hatte fie doch das Chriftenthum weder ald Katholicid- mus noch ald Proteftantigmud in irgend einer Weife berührt. So lange fie im Haag und in der Nähe de® Haag lebte, hatte fie die von Hemſterhuis getheilte und geftärkte Ueberzeugung, daß im Grunde niemand an das Chriftenthum glaube ald der Pöbel, da e8 unmög- lich fei, an die Drohungen und Berheigungen des Chriftenthums zu glauben und dennoch deffen Lehren fo zuwider zu handeln, wie es in der Negel gefchehe. Als fie 1779 nah Münfter fam, hielt fie dem Herrn von Fürftenberg, deifen große Einfichten fie verehrte, fein Chri- ftenthHum wegen des Borurtheild feiner Erziehung zu Gute, aber bat fich gleich von ihm aus, daß er nicht verfuchen möge, fie zu befehren, weil fie, was Gott betreffe, nichts in fich leiden könne, was Gott nicht felbft in ihr gefhaffen habe. Noch im Jahre 1783 hatte fie in den Stunden, in welchen fie felbft, wie die Aerzte, jede Hoffnung auf Er- haltung ihre® Leben? aufgegeben hatte, den Geiftlichen, den Fürften- berg ihr zufendete, entfchieden abgewieſen, weil ihr jede innere Ueber⸗ zeugung von der Kraft und Bedeutung der Sacramente fehle In der Zeit ſehr langlamer Genefung, welche diefer Krankheit folgte, wurde fie ſich zum erftenmale zu ihrem großen Schreden bemußt, daß Gelehrtenehrgeiz und Gelehrtenftolz ihre ganze Seele erfülle. Mit

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diefer Entdeckung war, fo äußerte fie jelbft, alle meine bisherige Freude an mir felbft dahin. Um diefelbe Zeit waren ihre Kinder reif zum Religiondunterricht geworden, und auch diefen felbft zu übernehmen erfchien ihr mütterfiche Pflicht. Um nicht gegen ſich felbft unwahr zu fein und demnad nicht die eigene Bezweiflung des Chriſtenthums den Kindern aufzudrängen, follte der Unterricht in der chriftlihen Religion, ben fie ertheilte, lediglich hiftorifch fein. Zu diefem Zweck begann fie ein ernfted Studium der heiligen Schrift, welche fie am liebften in lateinifcher Sprache lad. Was fie ihrer Kinder wegen begonnen, febte fie bald ihrer felbft wegen fort. Mehr und mehr wurde fie von der Bahrheit des Chriſtenthums, wie ihr dasfelbe aus der heiligen Schrift entgegentrat, ergriffen und durchdrungen, und einmal ergriffen, arbei- - tete fie ihr Leben hindurch mit der ganzen Energie ihres feltnen Gei- fled daran, ihr gefammted Sein und Thun von der Wahrheit, welche nun ihr Inneres beliebte, durchdringen zu laffen. Ein zwar kleiner, aber bedeutender Kreis ſammelte fich um die feltene Frau: Fürſten⸗ berg mit feiner umfaflenden Bildung und Erfahrung gehörte demfel- ben an und Overberg, in deſſen frommer Kindlichleit und. Einfalt der Scharfblid Fuͤrſtenbergs ſchnell den innern Beruf erkannt hatte, die für die Bollabildung gehegten Pläne ind Leben zu führen. Auch füngere Männer ſchloſſen fih an, unter denen fih namentlich die Söhne des Freiherrn Drofte zu Bilchering, Kaspar Mar, fpäter Bir (hof von Münfter, und Clemens Auguft, fpäter Erzdifchof von Köln, mit ihren beiden Brüdern und ihrem frühern Führer, dem nachheri⸗ gen Domcapitular Katerkamp, befanden.

Eine Frau, welche wie die Fürſtin Galligin an Weltbildung die meiften und an Geiftedbildung.alle Zeitgenofien ihres Gefchlechtd über- ragte und nım mit dem bligenden Geifte Kindesglauben verband, mußte einen außerordentlichen Eindrud auf jede geiftige Groöße machen. Goethe und Lavater, Herder und Hamann fühlten ſich in gleichen Grade, wenn auch in verfchiedener Weife, durch die außerordentliche Erfeheinung angezogen und gehoben. Alles, was geiftig bedeutend war, ftand in den beiden legten Jahrzehenden des vorigen Jahrhun- dert3 miteinander in Verbindung; auch zwiſchen Holſtein und Mün⸗ ſter konnten naͤhere Berührungen, welche zunächſt wohl durch Hamann

| 72 vermittelt waren, nicht ausbleiben. Es war, äußerte Perthes fait fünfzig Jahre fpäter, eine andere Zeit als jest. Die holfteinifchen Familien ftanden ald chriftlih Gefinnte vereinzelt und ebenfo der Galligin«Droftefche Kreis. Mit Ausnahme der. Familie Kerfenbrod nahmen die Domherren wie die andern Vornehmen Münfterd die Kirche ala Weltleute; unter den Bürgerclaffen herrſchte Ueppigkeit und Schlimmered. Die ernften Chriften, gleichviel ob Katholiken- oder Proteftanten, näherten ſich einander: zu enger Verbindung. Man fannte fein Arg; Claudius, NReventlow, Jacobi, Stolberg® waren öfter in Münfter, die Fürftin öfter in Hamburg und Holftein gewefen, wo fie namentlich dur. Claudius und fein Haus ſich angejogen ges fühlt hatte. Die Confeſſion war freilich verfhieden: Claudius war überzeugter Qutheraner, die Fürftin eifrige Katholifin, und ihr Katholicismus war derfelbe mit dem Katholicismus aller Zeiten, ſo⸗ fern diefer ald ein Syſtem von Dogmen und als ein Inbegriff fir licher Gebräuche betrachtet wird; aber fo weit er ein Leben ift und als Leben fich darftellt, unterfchied er fi) von dem neupoetifchen Katholi- cismus im erften und dem biftorijch-politifchen Katholicismus im vierten Sahrzehend dieſes Jahrhundert? nicht weniger ald von dem frivolen Katholicismus Frankreichs und dem erftarrten Deutſchlands im vorigen Jahrhundert. So lebensvoll und fo durchaus herrſchend trat in der Fürftin die dem Katholiciamus und Proteſtantismus ges meinſame Erlöfungäthatfache hervor, dag in Beziehung auf die Hol- fteiner Kreife die confeffionellen Verſchiedenheiten als verhältnismäßig unweſentlich erſchienen. Mit: größter Liebe und Verehrung wurden Fuͤrſtenberg's, Overberg's und der Kürftin Namen in Holftein genannt.

Sobald Perthes in Jacobi's und Claudius’ Haufe befannt ge worden war, wurde durch beide Familien fein Blid auf diefe Lebens⸗ freife in Holftein und in Münfter gerichtet. . Wefentlich follten fie fünftig auf feine innere Entwidelung und feine äußere Stellung ein- | wirfen, aber zunächft Iernte er fie nur aus Erzählungen kennen.

Eine Eifahrung anderer Art wartete feiner, aus welcher das Glück ſeines Lebens ihm erwuchs.

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Die Berheirathung und bie eriten Jahre der Che. 1797 1800.

Garoline Claudius, die ältefte Tochter ded Wandsbeder Boten, war 1774 geboren, alfo 22 Jahre alt, als Perthes zuerft dad Haus der Eltern betrat. Ihre ganze Erfcheinung, fo angenehm die regel- mäßig edlen Züge, die ſchlanke Geftalt und die feine Farbe auch wa⸗ ren, hatte nichts überraſchendes und blendendes; aber aus dem lihthraunen Auge blidte ein Reichthum der Phantajie und eine Tiefe des Gefühld, eine Kraft und Ruhe des Charakterd und eine helle Klarheit ded Berftandes hervor, welche mit ftiller, unwiderſteh⸗ licher Macht Die Gemüther anzog. hr ganzes Leben hindurch flößte fie jedem, der ihr näher trat, hingebendes Vertrauen ein; zu ihr ka— men die Fröhlicden und waren fiher, freudige Theilnahme zu finden, und für viele, viele Menſchen ift fie in äußeren und inneren Leiden eine Quelle des Trofted, der Ergebung und eined neuen: Muthed geworden. Sn den einfachen VBerhältnifien des elterlichen Haufes war fie aufgewachſen und jedes Zufammentreffen mit der Unruhe der äußeren Welt erſchien ihr ala eine Gefahr für ihren findlich unbefan- genen Umgang mit Gott. Getheilt zwifchen häuslichen Arbeiten, Mufit und Bemühen um geiftige Ausbildung, ging ihre Zeit dahin. Eine volle, reine Stimme und ein ſicheres mufitalifches Urtheil blieb ihr aud im höheren Alter. Der neueren Sprachen war fie kundig und in der lateinifchen fo weit vorgefchritten,” daß fie fpäter. ihren Eöhnen wefentliche Hilfe leiften fonnte. |

So lange Caroline im elterlichen Haufe gewefen war, batte fie nur wenige Eindrüde in fi aufgenommen, welche einen Urfprung außerhalb desjelben gehabt hätten. Mit Eindlicher Berehrung hing fie an der Fürſtin Galligin, welche. mehreremale ſich bei Claudius. aufgehalten und das Mädchen fo liebgewonnen hatte, daß fie bid zu _ ihrem Tode demfelben eine mütterliche Freundin blieb. Gleich nahe fand Caroline der Gräfin Julie Neventlow. Mehrere Monate war fie im Sommer 1795 in Emkendorf zum Befuche geweſen und der

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Kamilie fo nahe getreten, daß dieſe fie nah Italien mitzunehmen dringend wünfchte, aber ded Vaters Einwilligung nicht erlangen fonnte. In dem folgenden Sommer führte der Tod ihrer etwas jün- geren Schweſter Chriftiane ihr die erfte große Lebenserfahrung zu. Ein Brief, den fie um diefe Zeit an die Gräfin Reventlom nad) Rom ſchrieb, hat fich erhalten. Es geht mir, heipt es in demfelben , mie einem kleinen Kinde, das, wenn es betrübt ift, die Arme außftredt nach denen, die es lieb hat, und Freude daran findet, fich in deren Schoße audzumweinen. Wie oft habe ih mich, liebe Gräfin, in die- fer Zeit zu Ihnen gewünſcht, und wenn mein Arın Sie au) nicht erreichen kann, fo kann es doch mein Brief. Wir haben eine fehr betrübe Zeit gehabt; unfere liebe Chriftiane wurde an einem bößarti- gen Nervenfieber frank und ift am 2. Juli geftorben. Sanft ift fie eingefchlafen, aber fie hat ſchwere Stunden gehabt, ehe fie fo weit war, und da fie jekt die Arbeit des Sterben überfianden hat, möchte ich fie nicht zurückwünſchen, auch wenn fie weiter feinen Scha⸗ den dabei hätte. Wie lieb ift mir das Sterbebeit geworden; dem, der zufieht, wird hier befonderd lebendig außgedrüdt und unvergep- lich gemacht, wie nöthig wir e8 haben, und nad) etwas umzufehen, was uns im Tode halten und begleiten fann.

63 war am 27. November 1796, ald Perthed zum erftenmal Garoline im Haufe ihrer Eltern ſah. Ihr helles Auge, fchrieb er, ‚ihr grader, Elarer Blid gefiel mir, ich war ihr gut. - Einige Wochen fpäter, am erften Weihnachtöfeiertage, hatte er den Mittag bei Ca» roline Rudolphi, der Vorſteherin der bekannten Erziehungsanftalt, mit Jacobi zugebradht und von diefem die Einladung erhalten, am Abende der Weihnadhtöbefcherung beizumohnen. Auf dem Bande beder Schloffe, welches Jacobi damald bewohnte, fand Perthed un- ter den anderen Gäften auch Claudius und deſſen ganze Familie. Der Zufall führte ihn, bevor der Feſtſaal geöffnet ward, mit Caroline allein in einem Nebenzimmer zufammen; fein Wort hatte er zu fagen, aber ihm war. fo unausſprechlich ftile und wohl in feinem Herzen, wie er ed noch nie geweſen war. Die Weihnachtsfreude begann, aber Perthes fah nur den Ausdrud ftiller Freude, die in Carolinens Zü- gen fih ausprägte. Diefem Mädchen fchien nad) feiner Meinung das

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Befte zu gehören, mas der Abend darbot, und dennoch glaubte er zu bemerfen, daß das Gefchen? der jüngeren Schweiter fchöner fei ala dad ihrige. Aber hoch oben an dem Weihnachtsbaume hing ein Apfel, fo ſchön, fo funftreich vergoldet wie fein anderer; den holte er plöß- lich mit halsbrechender Kunſt herab und dunkel erröthend gab er ihn zur nicht geringen Berwunderung der Anweſenden dem ahnenden Mädchen. Run hatte fie doch eine Weihnachtögabe, wie fein anderer fie haben konnte. Bon diefem Abende an erging es Perthed und Ca⸗ rolinen, wie ed allen ergeht, die des Lebens Leid und Luft gemeinfam als Mann und rau erfahren follen. Zwar meinte Klopftod, ala er von Claudius' filberner Hochzeitfeier am 15. März 1797 mit Per⸗ thes nach Hamburg zurüdfuhr: Die Liebe, die wir andern Euch bei- den lange fehon anfehen, kennt Ihr jungen Leute felbft noch nicht. Aber Perthes kannte wohl die Liebe, die in ihm feimte und wuchs ; doch wußte er auch, daß er äußerlich und mehr noch innerlich Clau⸗ dius zu ferne ftehe, um fich unmittelbar an ihn wenden zu dürfen. Jacobi und deilen Schweitern eröffnete er deshalb zunächft fein Herz und bat fie, nachzuforſchen, ob er wohl Hoffnung hegen dürfe. Gottlob, mein lieber Perthes, fchrieb ihm Helene Jacobi am 27. April. Sie find doch recht verliebt, und da mein Muth fo groß if, wie der Ihrige Hein, fo fehe ich einer großen Seligfeit für Sie entge⸗ gen. Bon Caroline felbft konnte ich geftern nicht? hören, weil ich fie keinen Augenblid allein ſah; aber von ihrer Mutter habe ich died und das erfahren, was mir große® DBertrauen einflößt, und Caroline war auch fo freundlih, als wenn fie etwas artige® in ihrem Sinne trüge. Wenige Tage fpäter, am 30. April, wendete Perthes ſich an Caroline ſelbſt. Wie follte ich.je, fchrieb er fpäter, des tiefbeweg⸗ ten Tages vergeffen, in dem ich Dir meine Liebe befannte. Stumm und ftille ftandft Du vor mir, fein Wort hatteft Du für mid, nur als ih traurig fortgehen wollte, gabjt Du mir innig die Hand. Garolinens Liebe fprach ſich noch an jenem Abend feit und ficher aus; aber dem Bater konnte der Entſchluß unmöglich leicht erfchei- nen. Bor wenigen Wochen erſt hatte Perthes das fünf und zwanzigſte Jahr angetreten, keck hatte er ein eigene® Gefchäft gegründet und feine natürliche Offenheit ließ darüber feinen Zweifel, daß in feinem

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inneren die. Kräfte noch ungeordnet und unficher durcheinander gähr- ten. Ueberdies war Claudius von einer Art von Eiferfucht nicht frei. Ihm wurde es fehwer, die Tochter aus der eignen Obhut zu entlaf- fen, und nicht ohne Schmerz fühlte er, daß die Tochter einen jungen unerfahrnen Dann mehr liebe ald den Bater. Der Sprud: Du follft Bater und Mutter verlaffen, dünkte ihm ein harter Spruch. Zwar erklärte er fogleih, daß er der Verbindung nicht entgegen fein werde, aber förmlich und feierlih könne er feine Zuflimmung noch nicht geben. Darüber beunrubigte Perthes fich nicht und reifte, Liebe und Dank im Herzen, zwei Tage fpäter nad Leipzig ab. Willen Sie denn, meine liebe Garoline, heißt es in dem erften Briefe an feine Braut, noch gar nicht, was ich laſſen foll oder was ich thun foll; ih möchte fo gerne um Ihretwillen etwas thun oder etwas laffen. Gewiß ich bin fehr glüdlich und feit meinen Kinderjahren bin ich dem lieben Gott nicht ſo gut geweſen als jest, und er wird mir nicht böfe fein, daß ich ihm eben jetzt fo gut bin. Liebe habe. ich zwar auch fonft wohl gefühlt. Das aber war immer fo peinlich und ſchmerz⸗ lid; jept ift mir fo ruhig und wohl. Dank dafür, meine liebe Caro fine. Lange harrte Perthes vergeblih auf Nachricht aus Wande- best, endlich nad) vierzehn Tagen fam ein Brief von Claudius feldft. Lieber Herr Perthes, lautete derfelbe, es ift und angenehm, daß Sie glüdlih und gefund angekommen und fih wohlauf befinden und an und denken. Caroline hat Ihre Briefe aus Braunfchweig und Leipzig gerne erhalten und gelefen und dankt Ihnen verbindlich da- für. Sie würde auch wohl antworten; aber fo lange die Einwil- ligung der Eltern noch nicht förmlich gegeben ift, Tann fie doch ihrem Herzen noch) nicht freien Lauf lafien. Es ift daher beffer, daß fie ihre Antwort erjpart, bis Sie felbft zurüdgelommen find. Ein Brief von Helene Jacobi gab weiteren Aufihluß. Ihre Caroline, hieß es in diefem, bat dem Vater, der ihr fagte, fie dürfte nicht fehreiben, wie wenn feine Einwilligung fehon gegeben fei, geantwortet: Wenn ich nicht fehreiben darf, wie mir ed um das Herz ift, fo kann ich über- haupt nicht fchreiben, fondern du mußt fehreiben und erzählen, wa⸗ rum ih flumm bleibe. Ich habe, fügte Helene Jacobi hinzu, Ihr Mädchen dafür noch wärmer als font and Herz gebrüdt.

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Von Leipzig aus ſchloß Perthes den Zuſtand ſeines Innern den drei Hamburger Freunden auf, welche eine Verbindung, die Perthes noch feſter an Jacobi und Claudius binden mußte, nicht als ein Glück für ihren Freund betrachten konnten. Woher, ſchrieb Perthes, regte fih in Dir die herbe Ditterfeit, ald ich Euch meine Verbindung mit Saroline befannt machte? Dachtet Ahr an meine zertrümmerte Liebe? Sie wird in mir leben, fo lange ich lebe. Oder dachtet Ihr an die flüchtig wechfelnden Neigungen, die oft mich bewegt haben? Möglich, dag diefe auch künftig mich noch bewegen. Hätten allein folhe Gedanken Euch gereizt, ich könnte es nicht unrecht finden. ‚Aber höret mih! Als e8 mir zu gelingen ſchien, meine untergegan⸗ gene Liebe zu verwinden, ergriff mich Entjepen, daß folche Liebe, an welche mir das Höchfte gebunden war, verwunden werden fönne. Todesfälte trat an die Stelle des Feuerd. Soll denn Liebe, die der Grund ift von Bott und allem Guten, durch äußere, zufällige Ver- hältnifje getödtet werden? Etwas muß doch Stand halten! Iſt es die Liebe nicht, fo muß e8 die Freundfchaft fein. Aber vergebt! die Sreundfhaft ich habe nicht® wider die Freundſchaft und den- . noch riefelt es mir kalt durch die Glieder. Woher dann aber Hilfe und Rettung für mein Inneres? Meine Seele verlangt etwas nicht Bergehende?, mein Herz verlangt eined, was mir alles ift, mein Geift will ein Bleibendes, mein Ich verlangt ein Gebundenfein, ein Band, welches befteht, auch wenn die Welt in Trümmer geht, und nur die Liebe ift mehr als die Welt. Kann ich überhaupt gehalten werden, fo ift ed nur durch Caroline; in ihr ift Ruhe und Sicherheit, Hingebung und Treue. Die frühere Leidenfchaft der Liebe ift in mir gewürgt, aber die Liebe nicht. Nur einmal kann jene Leidenfhaft fein. Wie ich Friederike liebte, Tann ich Caroline nicht lieben. Aber fie läßt mich mein Auge wieder zu Gott erheben, und das ift Hilfe von oben.

Als Perthes Ende Mai nah Hamburg zurücgefeprt ı war, hielt Claudius nicht länger mit der förmlihen Einwilligung zurüd, und nun theilte Garoline zunächft und vor allen der Fürftin Galligin ſich mit. Ihnen, meiner lieben Mutter Amalie, fchrieb fie der Fürftin, muß ich felbft fagen, daß ih Braut bin und daß ich gerne Braut

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bin. Das würde mir fonft unglaublich gewefen fein, auch wenn Sie ed mir gelagt hätten, aber mein lieber Perthes hat mich gut Freund mit diefem Schritte gemacht. ch weiß und fühle ed zwar auch jebt, wie. groß und wichtig der Schritt für Zeit und Ewigkeit ift; aber ich glaube, daß ich ihn nah Gottes Willen thue, und kann nun nicht® weiter ald die Augen zumahen und Gott um feinen Se gen bitten, und das müfjen Ste auch) in meinem Namen thun, liebe Fürftin. Mit voller Wahrheit kann ich Ihnen fagen, daß mein lie ber Perthes ein guter Menſch iſt, der fich felbft noch. nicht für formiert hält, fondern weiß und fühlt, dag er noch nicht mit fi) fertig iſt, und da, denke ich, können er und ich gemeinfchaftliche Sache machen und werden mit Gottes Hilfe weiter kommen.

Dftmald legte Perthed von nun an den Weg nah Wandsbeck zurüd und Briefe, von denen viele fich erhalten haben, gingen faft täglich hin und her. Am 15. Juli wurde die Verlobung, in Holftein eine Pirhliche Handlung, gefeiert. Die Fürftin Galligin mit ihrer Tochter und mit Overberg, welche in Wandsbeck zum Beſuche war und in Elaudius’ Haufe wohnte, nahm, fo wie Graf Friedrich Leo» pold Stolberg, zur großen Freude Carolinens an der feierlichen Handlung Theil. Kurz vor derfelben erinnerte der Paftor die Braut, daß fie einmal verlobt völlig feft wäre und nur durch das Conſiſto⸗ rium gefchieden werden könne, ch bin, entgegnete fie, ſchon lange völlig feft gemejen und konnte fchon lange weder von Ihnen noch von dem Confiftorium gefchieden werden. Immer inniger und ftärfer trat die bräutliche Liebe in das ftille Mädchenleben Carolinens hinein und jepte auch diefen ebenen Sinn in Unruhe und Bewegung. Caroline mag ſich, fehrieb die Tochter der Fürſtin Galligin an Perthes, noch fo ſehr den Anfchein einer philofophifchen Braut geben, die Liebe dringt dennoch überall durch, und ich glaube feit, fie träumt von nichts ala von dem Buchſtaben P, und wenn ich felbft Ihnen zuweilen ein wenig aus der Ordnung vortommen follte, fo werden Sie wohl willen, wer es ift, der mic) angeftedt hat. Dein Bruder Hans, ſchrieb Per- thes feiner Braut, hat die Roſe unzerbrochen bis in die Stube gebradht, dann aber noch gefnidt. Habe Dank für dieſe Roſe! Hand verleumdet Did, Du könnteft nichts finden, fagter, wenn Du etwas fuchteft.

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Soliteft Du auch diefe Richttugend behalten, fo fei fie Dir verziehen, - - weil Du einmal nicht fuchteft und doch fandeft und Dich finden ließeſt von dem, der den Engel ſeines Leben? fuchte.

Der 2. Auguft war zum Hochzeittag beftimmt. Am Tage vor- ber erhielt Perthes den lebten Brief von Caroline als Braut. Ich babe fo große Luft, heißt es in demfelben, zu einem kleinen ſchwar⸗ zen Kreuz und weiß ed auf feine liebere Weife zu befommen, ala wenn ich Dich darum bitte, und warum follte ich e8 nicht thun, Du lieber Perthes? Heute war ich bei dem Paftor; das Formular, nad welchen mir getraut werden follen, ift weder kalt noch warın, weder alt noch neu, fondern ein unfelige® Mittelding. Das fol und aber nicht ſchaden, lieber Perthes; wir wollen Gott nach alter Weife um feinen Segen bitten und er wird und nach alter Weife fegnen. Thue es doch mit mir, Du lieber Perthed, und mache die Arme weit auf und halte mich feft, bis Du mein Auge zudrückſt. Ich bin Dein mit Leib und Seele und vertraue Gott, daß ich mid) wohl dabei befin- den werde.

Am folgenden Tage, den 2. Auguft 1797, wurde die Hochzeit gefeiert, und die erften Monate und Jahre der Ehe mußten wohl den großen inneren Gegenfag, in welchem Perthes und Caroline fanden, ſcharf und beſtimmt herbortreten laffen.

Angeborener Sinn, früherer Lebensgang und nunmehrige Stel- lung in Hamburg hatten für Perthes die Mannigfaltigfeit der äuße- ren Berhältnifie und Eindrüde, die Kämpfe in fehwierigen und wech—⸗ felnden Lagen, fo wie die Berührungen mit Männern von fehr ent- gegengefeßten Richtungen zu dem Elemente gemacht, in welchem er fi freudig und muthig bewegte. Caroline dagegen hatte eine ftille, von dem Gewirre der äußeren Welt wenig berührte und nad) innen gerichtete Jugend.verlebt. Zurüdgezogen zu fein von dem irdilchen Zreiben, fich frei zu halten von jeder lebhaften Theilnahme für dad Bergängliche, fchien ihr die Aufgabe des Menfchen zu fein. Nicht alle Einzelheiten, wohl aber die Gefammtheit der drei erſten Bü- der des Thomas a Kempis möchten den Ausdruck deſſen enthalten, was in ihrem- Innern fich bewegte. Als fie nun dad Haus ihres

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Baterd verlieh und neue Eindrüde aller Art fie berührten und ergrifs fen, mußte fie wohl ſich geftört und beunruhigt fühlen.

Feſt und ſtark zwar erfüllte fie die Liebe zu ihrem Manne und tief im Grunde ihrer Seele war fie ſich bewußt, daß ihre neue Le⸗ benslage Glück und Segen für fie fei. Einft, wenige Wochen nad der Hochzeit, als ihr Vater fie weinend auf ihrem Zimmer traf und überrafcht und nicht Ohne einen Anflug von Befriedigung audrief: Habe ich Dir nicht gefagt, das würde nicht ausbleiben, wenn Du von

Vater und Mutter gingft, antwortete fie: Und wenn ich auch das

Weinen nicht laſſen fönnte, fo lange ich lebte, fo bleibe ich doch froh, daß ich bei meinem Perthes bin. Diefe Sicherheit indeffen, welche den Grund ihred eigentlichen Seins ausmachte, vermochte richt die Unruhe über fo manche Störung und fo manche wirkliche oder fchein- bare Hemmung des innern Lebens durch das äußere auszuſchließen. Zaufendmal hat meine Seele mir ausgeſprochen, ſchrieb ſie an Per⸗ thes, daß ich nicht mehr bin, wie ih war. Fruͤher hielt mich Gott immer an der Hand und leitete mich auf allen Wegen und id) vergaß ihn nie; jebt fehe ich ihn nur von ferne ftehen und den Arm ausſtre⸗

cken, den ich nicht ergreifen fan. Einmal muß es doch wieder an«

ders werden, fonft fönnte das Herz nicht immer fo verwundet -fein. Ich habe mich darein ergeben, lieber Perthes, daß es hier auf Erden

fo bleiben wird; Gott erhalte mir nur bis and Ende das inwendige

Sehnen und Verlangen und laffe mich lieber verhungern, als ohne- dem fatt werden. Auf Viertelftunden fann mir noch jet wohl gut zu Muthe werden, aber feithalten kann ich es nicht und es ift Doch auch nicht wie früher. Wenn Du, mein lieber Perthes, heißt es in

einem anderen Briefe, nicht bei mir bift, fo bin-ich ganz allein und

fühle mich ganz verlaſſen; wenn Du mid nicht hältft, fo bin ich ein wahre® Jammerbild. Soll das und darf das fo fein? Sonft war · es nicht ſo mit mir.

Die Briefe, welche Perthes auf kleinen Reiſen aus Leipzig, Hol⸗ ſtein, Weſtfalen ſchrieb, zeigen, daß er ungeachtet der Freude an den

eigenen Kräften und deren Uebung den Werth eines Lebens anzu⸗ ‚erkennen wußte, welches ſich nach innen ſtatt nach außen wendete.

Glaube mir, fhrieb er im Sommer 1799 an feine Frau, glaube

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mir, Du mein guter Engel, ich fühle ed, dat Du viel haft, und laß Dich nicht ftören. O unfer Bater hatte fehr Recht, Euch Kinder von der Richtung aufs Wirken und Handeln und auf das Kunftwefen zu- rüdzubalten. Selbft wenn er zu weit hierin gegangen wäre, felbft wenn er Euch ungeſchickt gemacht hätte zum Handeln und Schaffen im 2eben, ja felbft wenn Ihr der Welt eine Thorheit werden folltet, fo habt Ihr dennoch in Euch den Geift der Liebe, und der Beift der Liebe ift lebendig. Die Achtung, welche Perthed vor dem Rechte jeder Perfönlichkeit in fih trug, würde auch dann, wenn ihm die Sinnedart feiner Frau nicht an und für fich fhon als berechtigt er- (dienen wäre, ihn von dem Verfuche abgehalten haben, die eigne Rebensrichtung auf Caroline zu übertragen. Einem inneren Leben, ihrieb er einem Freunde, anderen Inhalt geben, auf den fremden Stamm die eigne Frucht pfropfen zu wollen, das ift Sünde. Ueber⸗ dies ftand ihm auch die Bergeblichkeit jedes ſolchen Verſuches bei Ca- tolime deutlich vor Augen. Meine Caroline, fchrieb er dem Schwarz- burger Oheim, macht mich unausſprechlich glücklich. Sie ift ein from- med, treued, reines und gehorſames Wefen, aber ihren inneren Gang geht fie, wie fie will, unabweichbar, feften Schrittes.

Nicht weniger feften Schritted ald Caroline ging Perthes den Weg, der ihm ald der feinige erfchien. Alles, fchrieb er 1798 an ſeine Frau, alles macht e8 mir immer gewifler, daß ich recht eigent- - ih zu einem männlichen Menfchen gefchaffen bin, der fein Rad und das der anderen drehet mit: rafhem Muthe. In Beziehung auf fih wurde er auch nicht durch den Gegenfaß irre, in welchem er feiner Frau gegenüber ftand. Iſt e8 Dir denn wirklich möglich zu glauben, ſchrieb er 1799, daß mein raftlofed Arbeiten, mein ganzes Thun und Zreiben Dir Eintrag thun könne? Dir, Caroline! Danken must Du ja vielmehr Gott für die Fähigkeit, die er mir gegeben hat, Tätige, drüdende Sachen mir zur Luft zu machen. Wie wollte ich fonft be- ftehen? Liebe Caroline, ich bin nicht immer fo gut, wie Du es glaubft, aber in diefer Rückſicht bin ich beſſer, als Du glaubft. Zweifel dagegen konnten hin und wieder darüber in ihm entftehen, ob feine Lebendrichtung nicht ftörend in die Garolinend eingreifen werde. Du haft, fihrieb er ihr, fo manches Uebele an mir und mit

Pexthes Echen. 1. 4. Aufl. 6

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mir zu befämpfen. Ich habe mich gefragt, was ich thun würde, wenn e8 von mir abhinge, Dich in eine Lage zu verfepen, die nad) Deinem eigenen Geſchmacke ganz glücklich wäre, fei es in einem Klofter oder in den Händen eined Mannes, der Dich nicht nur liebte, wie ich Dich liebe, fondern auch ganz eined Sinned mit Dir wäre. Nein, Caro (ine, ich fönnte ed nit. Du mußt mit mir leben oder nicht leben, und Du, Du liebes Weib, Du fühlft, ich weiß es, ebenfo wie ich.

Die Scheu freilich vor- Berührungen mit der Welt und die leichte Berwundbarleit und Beunruhigung durch äußere Verhältniſſe konnte Perthes nicht für gefordert von jenem inneren Leben halten. Grade ein folder Sinn wie der Karolinend müfle fih, ſchien ihm, in ber Melt und an der Welt bewähren. Glaube mir, fchrieb er ihr, ich verftebe jebt Dich und Dein Inneres fehr gut. So lange Du im elterlihen Haufe Tebteft, hatteft Du ununterbrochenen Umgang mi Gott, Hatteft nur einen Sinn und nur einen Weg. Zwar war Dein Umgang mit Gott der Umgang eine® Kindes, welches die Sünde und die Welt und ihre Berhältniffe gar nicht oder nur dem Namen nad tennt, aber Einheit war in Deinem Sein. Beil Du in der wirfli- ‚hen Welt bift, mußte diefer Zuftand früher oder fpäter geſtört wer⸗ den; ich habe Dich dem Kindesleben entriffen und in dad Gewirre der Welt geführt. Du erfunnteft in mir ein edles Herz und ein Ge müth voll Liebe, aber Du fahft in mir und durch mi) auch in Dir die Sünde des Menfchen. Deine Liebe zu mir deckte einige Zeit, aber nicht lange, alles zu. Jetzt kannſt Du nicht mehr fo vertraut, wie früher, mit dem Unfihtbaren umgehen und er fpricht Dir nicht mehr wie früher zu. Du bift irre m Dir geworden und wollteft gerne jene Einheit und Reinheit des Kindes wieder haben und fannft doch nicht alfe3 reimen und ordnen in Deinem Sinn. Liebe Caroline, die Roth, die Du in Dir fühlft, kommt vor allem aud Deinem eigenen Kopfe. Du haft, Du frommesd Kind, das herzliche Vertrauen, das Beugen des ganzen Gemüthed unter höhern Rathſchluß in Deinem Herzen und in Deinem Gemüthe; aber wo andere rubig bleiben, machſt Du Dir Unruhe und Sorge und möchteſt fo ungeftörten und fichern We- ged gehen, wie einft ald Kind. Aber bier auf Erden ift nun einmal der Menfch ein wandelbar und unſicher Weſen; nie, in feinem ein

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jelnen Moment ift er er ganz, immer nur ein Theil von fih. Werth freilich ift nur in der Liebe und Treue, aber mwollteft Du deshalb an nichts hängen, 108 fein von allem?- Wenn Du fo los fein wollteſt, dag fein Schmerz, feine Unruhe Dich mehr treffen könnte, weil Du nur dad Höchfte und nicht® anderes liebteft, fo würde Kälte in Dir enifiehen, und Kälte ift immer ein Schredliched. Rein, wir follen nicht los fein von ber Welt; ein Aufopfern aller natürlichen Bande verlangt Gott nicht, fondern Beugung unfered Willens unter feinen Billen. Dem Schmerze, der Unruhe, die, weil er und in die Welt geſetzt bat, uns trifft, ſollen wir nicht entfliehen, ſondern mit inne ver Ruhe tragen. Es ſollte nicht gut fein, fchrieb Perthes ein an- deredmal, dag Du jept fühlft, daß Du ohne nrich allein biſt; es follte‘ beiler fein, wenn Du ohne mich geblieben wäreft, in dem früheren Nichtbewußtſein Deines Alleinſeins? Gewiß nicht, liebe Caroline. 63 kann fein gutes „Ich“ jein ohne ein „Du. Dad große „Du” aber, zu dem alles fich neigt, alles fich erhebt, das große „Du“ theilt fh den Ichs in unendlichen Geftalten mit. Wo echte Liebe ift, da iſt dad Geliebte immer ein Theil Gottes. Die Beränderlichkeit, die ih Dir Schuld gebe, heißt es in einem etwas fpäteren Briefe, liegt gar nicht in Deinem eigentlichen Wefen, das feft und treu ift und lauter wie Gold, aber fie ift doch da. Die verfchiedenen Eindrüde, die von augen auf Dich wirfen und die bei andern Menſchen nur leichte Wetter verurjachen und dann für immer vergeflen find, erregen

bei Dir ſogleich Sturm. Was andern höchſtens eine Strieme jchlägt,

bringt Dir eine tiefe Wunde bei und hinterläßt Narben. Steh, meine. Einzige, Bertraute: wenn Du nicht den tiefen Grund im Dir hätieſt, würdeft Du diefes Uebel nicht haben. Es ift die natürliche Folge Deineß lebendigen Bewußtſeins von der Bergänglichleit und der Men⸗ ſchennoth des jegigen Seins und Deines Gedenlens an die Unfterb- lichkeit und an einen befleren Zuſtand. Warum aber follte diefer Grund nicht bleiben können ohne jenes Dich aufreibende. heftige Hin und Her? . Eben Div würde Ruhe und Ebne ded Sinned jo wohl fieben. Ich verlange ja nichts ungewöhnliches und weiß, dag daß, was ich Dir gönnte, nicht vollkommen gu erlangen ift; aber Du mußt doch daran arbeiten. Wir wiffen ja, meine mir ewig einzige Caro- 6 *

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fine, wa8 kommt und fommen muß: der Tod, und dieſes Wiffen, dächte ich, müßte Dir Ruhe bringen und Dich lebendig ſtark machen für das Leben. Caroline fommt nicht leicht durch das Leben, fchrieb Per⸗ the8 einem Freunde. ©o heiter ihr Temperament, fo fliegend und reich ihre Phantafie auch ift, fo wird es ihr doch fehr fchwer, das Berän- derlihe und Endliche diefer Zeit und Welt zu tragen. Daß fie, un« geachtet folcher Schmerzen, die der Tumult ded Leben? nur zu oft her⸗ beiführt, dennoch nicht nur in ihrem Innern feftfteht, fondern auch in äußeren Berhältniffen ſtets in nachgiebiger, freundlicher und edler Art ihre Stellung ausfüllt, das hält auch mein Herz und macht fie zu meinem leitenden Engel. Berfchiedener in Art und Weife als Caroline und ich, verfchiedener im Aeußeren, in Bildung und Richtung tonnten faum zwei Menfchen fein, äußerte Perthes fpäter, und doch erfannte Caroline in der erften Stunde unferer Bekanntſchaft das Werthyvolle in mir und liebte mid. Ihr Vertrauen ift unverrüdbar, unmwandelbar geblieben, was auch fremdes und Widerfprechendes in mir ihr entgegenftand. Auch ich erfannte augenblidlich ihre Liebe zu mir und war berfelben ficher,; ich erfaßte fogleich Mar und feft den treuen, edlen Sinn, den hohen Geift, den wahren Heldenmuth für da8 Leben, die Demuth ded Herzen? und dieſe reine Frömmigkeit, die das Glück meined Leben, der Segen meiner Seele ift.

Wenn Perthes und Caroline in fpäteren Jahren und nicht als Mann und Frau fich begegnet hätten, fo würden fie mwahrfcheinlich eine abftogende Wirkung aufeinander geäußert haben. Nun aber murbde die Bejeitigung aller der Schwierigkeiten, welche fich dem Eindwerden zweier fo ftarfer und fo verfchiedener Perfönlichkeiten entgegenftellten, durch die Jugend der Liebe erleichtert, deren bräutliches. Feuer weit hinein in die Che reichte. Viele Briefe haben fih aus jenen Jahren von Perthes erhalten, die oft erfüllt find von zärtlichen Spielereien, oft aber auch den Ausdruck glühender Leidenjchaft oder das Beugen vor dem ihm nod fehlenden innern Leben Carolinens wiedergeben.

Als ich noch Mädchen liebte hier und da, fchrieb Perthes im drit- ten Jahre feiner Ehe an die auf einige Wochen abwefende Frau, als ich die Leipziger Friederike lieb hatte, als ich anfing, Dich kennen zu

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lernen, da fuchte ih nur zu erobern, zu gefallen, wollte immer nur mi, war immer Ih. Aber an Dih, an Dich jebt babe ich mich verloren, ohne Dich bin ich nichts, habe ich nichts, bin mir felbft ein Nichte. Du, ja Du, mein mir ewig junge® Mädchen, fchrieb er am folgenden Tage, Du haft mich neu geboren. Wenn Du nicht da bift, fo ift alles rund um mich her kalt und intereßlos; nur Du gibft allem Zon und Farbe. Ich wußte ed nicht, daß mein Hera noch fo friſch wallen könnte! Ich glaubte, die erfte Liebe wäre vorbei; aber nun, feit ich Dich befite, nun erft ift erfte Liebe und unendliche Liebe. Wo fol, wo fann fie aufhören? Immer lieben, immer mehr und inniger lieben! “Jeden Morgen neue Liebe und jeden Abend ruhen an Deinem Herzen. Ach, auch ich erfahre es wohl, wie ed einem öde und kalt in Mark und Bein fein kann, aber im Stillen fchlägt doch das Herz.

Liebes Kind, liebe Caroline, heißt in einem anderen Briefe, ih bin wahrlich wie unfer Biſchof Caspar, ich möchte ohne Unterlaß Liebe, Liebe und nichts als Liebe rufen. Wenn ich ded Morgens auf- ſtehe, frage ich: wozu? ift doch meine Caroline nicht da! Bin ich in der Arbeit, immer will ih fort zu Dir, und ach! leider, Du bift nicht da; ich habe feine Heimat, feine Ruhe. Bin ich Abends fertig mit der Arbeit und will nun anfangen, ein frohes Geficht zu machen, ab, für wen? ift doch mein Herz nicht da! Was ift der Menſch mit feiner Liebe? Wenn Du, mein Engel, mich) verließeft, mich ganz verlieeft, der gute Geift wäre von mir gewichen. O ja, ich glaube es wohl, daß ich wieder lieben würde, aber wie? Es graut mir vor mir felbit. Du meinft, ich wäre eiferfüchtig auf unfer Meines Töchterchen,, fehrieb er ein anderedmal, weil ich Deine Liebe mit ihr theilen muß. Ach, ih wollte, Du hätteft ſchon zwölf Kinder, gefund und ſtark, voll Leben, Deine Freude. Für alle zwölf müßteft Du mir ja dankbar fein, Du mein herrliches, treffliches Weib. Die Rückkehr Carolinend von einer Meinen Reife verzögerte fich wider Er⸗ warten um einige Tage. Wie wenn an jeder Stunde ein Taufend- Bund» Gewicht wäre, fchrieb Perthes nun, ſo ſchleichen mir die Tage hin.

86 So wie bed Wandrers Blick am Morgen Vergebens in die Lifte dringt, Wenn, in bem blauen Raum verborgen, Hoch über ihm die Lerche fingt: - &o dringet ängftlich bin und wieder Durch Feld und Buſch und Wald mein Blick; Dich rufen alle meine Lieder: : D komm, Geliebte, mir zurüd.

Die weitere Geſtaltung des Geſchäfts und der Familie | 1800 1805. |

Die Handlungägemeinfhaft, welche Perthes 1796 unter feinem alleinigen Namen vorläufig auf zwei Jahre gegründet hatte, entſprach den Erwartungen der beiden Gefellfchafter nicht. Der Capitalumſatz dom Juli 1796 bis zum December 1798 hatte im ganzen etwa vier zigtaufend Thaler betragen und für jeden Theilnehmer während des

- Zeitraums von drittbalb Jahren nur einen Ertrag von faum drei» zehnhundert Thalern abgeworfen. Durch Uebereinfunft vom Decem- ber 1798 fchieden beide Handlungsgefellichafter and. Die Trennung war Perthes infofern nicht unlieb, ald er fich fehmerzlich geftehen

- mußte, in Reffig’® Sinnedart ſich völlig getäufcht zu haben; aber da die Ausfcheidenden nicht nur die eingefchoffenen Capitalien, fondern auch den Credit ihrer wohlhabenden Familien dem Gefchäfte entzo⸗ gen, fo befand Perthes ſich in peinlicher Berlegenheit. Dennoch war er feſt entfchlofien, die Handlung auf alleinige Rechnung und Gefahr fortzufeßen. Wenn das junge Gefchäft auch nicht vermocht hatte, drei Theilnehmern den Unterhalt zu fihern, fo reichte e8 doch ſchon jebt aus, den einfachen Haushalt einer einzelnen Familie zu tragen, und mit Gewißheit glaubte Perthes ein raſches Wachfen desfelben voraus⸗ fehen zu können, weil die Handlung nit nur die Aufmerkjamteit und Zuneigung, der literarifch am meiften belebten Kreife Hamburg?

87 gewonnen, fondern auch in Weftfalen, Hannover, Holftein und Med- lenburg mannigfache Verbindungen angefnüpft hatte, welche weitere Ausdehnung hoffen ließen.

Ohne Capital war freilich auch bei den beften Ausfichten für die Zukunft feine Möglichkeit vorhanden, die Handlung fortzuführen; aber ein rafch und keck benuster Gluͤcksfall ſetzte Perthes in den Befis einer für feine Verhältniffe bedeutenden Summe. Er hatte im De cember 1797 ein am Jungfernftieg gelegene? Haus gekauft; zwei Drittel des Kaufpreifed Tonnten auf dem Grundftüde ftehen bleiben und das lepte Drittel desfelben in Betrag vpn zehntaufend Ihalern erhielt er, da ein vermögender Freund ſich für ihn verbürgte, in meh. teren Tleineren Summen aus dem Münfterlande. Gin Jahr fpäter, im December 1798, verlaufte Perthes das Haus, noch bevor er es bezogen hatte, mit einem Gewinn von. fünftaufend Thalern, und bes gnügte fih von neuem mit einer Miethwohnung hinter St. Petri, nahe der biäherigen gelegen. Sogleich reifte er nah Münfter und erlangte von feinen dortigen Gläubigern, daß fie ihm die gehntaufend Ihaler auf noch zehn Jahre liefen, obgleich ex nun nicht mehr das Haus zur Sicherheit ftellen fonnte. In diefer Weife hatte Perthes ein Beiriebscapital von fünfzehntaufend Ihalern in feine Hände bekom⸗ men, und der Gredit, welchen ihn die Handlung. feiner Yreunde Hül- ſenbeck, Runge und Spedter gewährte, betrug eine gleiche Summe. Auf ſolche Geldmittel geftügt, ging Perthes den großen Ummälzun- gen entgegen, welche 1799 in den Handels⸗ und Geldoerhältniſſen Hamburgs eintraten.

Als die Revolutionskriege begannen, hatte Hamburg, währenb das Neich fih im Kampfe gegen die junge Republik befand, den leb⸗ hofteften Handel mit derfelben, namentlich in Korn, unter däniſcher Slagge beirieben. Als der Verkehr zwiſchen England und Frankreich gehemmt ward und Holland in theils freiwilliger theild gezwungener Handelsruhe verharrte, kam der Seehandel ausſchließlich in die Hände der Briten, und Hamburg war der Vermittler für den gefammten Handel Englands mit dem Feitlande geworden; hier war der Stapel» plap für die britifhen Eolonial- und Manufacturwaaren; hier der wichtigfte Einkaufdort für die Erzeugniffe des Feſtlandes, welche, mie

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z. B. Schiffsholz und Kom, England nicht entbehren konnte. Ham⸗ burg zog für England alle Zahlungen ein, die dasfelbe auf dem Feſt⸗ lande zu empfangen hatte, und erfehien zugleich ald Bürge für die- felben. Es galt vermöge feiner auf fefte Grundlage gegründeten Bank als ficherfter Wechfelplag, und bald übte e3 eine Art Alleinherrfchaft über den Handel des Feſtlandes aud. Große Reichthümer ſtrömten herbei und franzöfifhe und bolländifche Kaufleute, welche in ihrer Heimat fich nicht für ficher hielten, vermehrten, indem fie ihr Geld und ihre Waaren nah Hamburg brachten, die Mittel der Stadt; aber auch gewinnluſtige Menjchen der verfchiedenften Völker und Stände famen als reibeuter, die weder Ruf noch Vermögen zu verlieren hatten, von allen Seiten herbei, um in Hamburg fchnell zu reichen GHandelsherren zu werden. Die vielen überlühnen und doch glücklich auögefchlagenen Unternehmungen ließen die Meinung entitehen, es fönne und ed werde nicht? midlingen; leichtfertiged Wagen und die Sucht, alle oder nicht® zu haben, trat ala Folge ein; zahllofe Un- ternehmungen wurden gemacht, welche die wirklichen Kräfte der Ein- zelnen weit überftiegen und dem Reichthum der Stadt nicht angeme|- fen waren. Der alte befonnene und zuverläffige Charakter des Ham- burger Handeld war dahin. Nur Gefchäfte her, mögen fie fein, wie fie wollen, riefen damals, wie Büfch erzählt, zahllofe faufmännifche Wildfänge und ftürzten fi in die wildeften Speculationen hinein. Zugleich hatten die hohen Summen, über welche zu verfügen man fid) gewöhnte, die größte Geringſchätzung gegen Ausgaben jeder Art er zeugt. Es galt ala Fleinlih und engherzig, fi) einer auch noch fo hohen Ausgabe wegen irgend eine Annehmlichkeit, irgend eine feinere oder gröbere Schwelgerei zu verfagen. Neben der prahlenden und nicht felten gefhmadlofen Bergeudung gehörte es zum guten Ton der Reichen, die leichten Sitten, die loderen Grundfäge und vornehmen Laſter jener vielen Flüchtlinge nahzuahmen, welche fih in Hamburg aufbielten. Die unglaublich wachſende Menge der öffentlichen Luſt⸗ barfeiten und lärmenden Freuden, die Sucht der Hermeren, es in ihrer Weife den Reichen gleich zu thun, vwerwifchten mehr und mehr den Eindrud der Ehrbarkeit und wohlhäbigen Tüchtigkeit, welche frü- ber den nach Hamburg fommenden fremden in Erftaunen fegte. In⸗

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dem das Geld durch die Menge, in’ welcher ed fih vorfand, und durch den Leichtfinn, mit welchem es für Nichtigkeiten verfchwendet ward, an Werth verlor, mußten nothwendig alle Bedürfniffe des Lebens im Preiſe fleigen. Die Wohnungdmiethe eined Arbeitömannes betrug mehr ald der Gehalt eines preußifchen Lieutenants ; der jährliche Auf- wand für eine Loge im Theater mehr ald der Gehalt eines preufi- ſchen Geheimen Raths. Kein Ort und feine Zeit, bemerkt Herr von Heß, hat ein ähnliches Beifpiel der. Theuerung aufzuftellen, wie da⸗ mald das von allen Seiten der Zufuhr offene Hamburg. Neben dem maflenhaften Reihthum trat daher in früher unbefannter Ausdeh⸗ nung Noth der Armen und forgenvolle Bein aller derer hervor, welche, wie 3.2. die Beamten, bei dem allgemeinen Umſchwung aller Geld- ‚verhältniffe ihre Einnahmen nicht erhöhen konnten.

Es lag in der Natur der Sache, daß in fürzerer oder längerer Frift ein Zeitpunkt fommen mußte, in welchem das fi immer ftei- gernde Wagen nicht länger von einem glüdlichen Gelingen begleitet werden konnte. Seit dem Audbruche ded Krieges waren die Preife der Waaren, vor allem der bedeutenditen Colonialwaaren, Kaffee, Zuder und Tabaf, ununterbrochen in die Höhe gegangen, fo daß fie im Herbfte 1798 mehr ald doppelt jo hoch waren, wie wenige Jahre zuvor. Große Borräthe lagen ſchon 1798 in Hamburg aufgefpeichert, aber auf ein fernered Steigen der Preife rechnend, machten die Ham⸗ burger Kaufleute im Herbfte neue große Ankäufe in England zu den geltenden hohen Preifen, welche durch Wechſel auf kurze Friften be- jahlt werden follten. Um eben diefe Zeit aber begannen die unge- heuren Vorraͤthe, welche in den engliſchen Colonien aufbewahrt wor⸗ den waren, in den Handel zu fommen und mußten die Preife in Eng- land drüden. Ungemwöhnlic früh trat der Winter ein und hielt an bis ſpät in den Frühling 1799; die Schiffahrt war ganz unterbro- hen; weder über See noch die Elbe hinauf war Ausfuhr möglich und die in England gefauften Waaren mußten ein halbes Jahr hin- durch Dort liegen und der Berfügung der Hamburger. Eigenthümer entzogen bleiben. Stodung trat ein. Zuglei hatte Kaifer Paul, indem er Rußland gegen den Handel Hamburgs ſperrte, einen bedeu⸗ tenden Markt für den Abſatz verſchloſſen; nad Frankreich war der

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Handel ſchon 1798 geftört geweſen, weil.England feinen alten See- grundſatz wieder geltend machte, nach welchem die neutrale Flagge feindliche® Eigenthbum nicht vor Wegriahme dedt. Die Hamburger Kaufleute wollten nun fämtlich den in Rußland und Franfreich ver- lorenen-Abfag in Deutichland erfeßen, aber in Deutfchland hatte der unerhört harte Winter den durch die Kriegdunfälle, durch die neuen Steuern und durch die vielfachen Plünderungen hervorgerufenen Geld» mangel allgemein bemerkbar gemadt. Es fanden fich für die uner meflichen Borräthe nur wenige Käufer. Sobald ein hierdurch noth- wendig gewordene? Sinken der Preife eintrat, wurde die Hamburger Börfe von Unficherheit und Schreden ergriffen. Während Die einen von neuem große Einkäufe in England machten, indem fie auf ein neues Steigen der Preiſe hofften und ben durch dad Fallen erlittenen Berluft dur) den Gewinn bei dem gehofften Steigen decken wollten, glaubten die andern ein immer tiefere Fallen vorausſehen zu kön⸗ nen, und um die hocheingefauften Waaren fich vom Lager zu fchaffen, _ forderte der eine immer noch weniger als der andere, fo daß in we⸗ nigen Wochen die Preife beinahe fo niedrig flanden, wie in den Zei⸗ ten des tiefiten Friedens vor 1789. Ungeheure Berlufte trafen den Beſonnenen wie den Leichtfinnigen; Hamburg konnte nicht zahlen, was es zu zahlen hatte, ein Handelshaus brach nad) dem andern, und ungeachtet der Rettungsverfuche, welche die Bank, die Admira- lität und die ſchnell errichtete Discontocaſſe machte, trat dennoch eine allgemeine Handeldzerrüttung ein. Während 1763, dem fchredlid- ften Handelsjahre, defien man fi erinnern fonnte, die Zahl ber Handlungen, welche ihre Zahlungen einftellen mußten, fi nur auf jechzig belief; während in den acht Jahren von 1790 bis 1798 der Gefammtbetrag aller Falliſſements nur achtundzwanzig Millionen be trug; wurden, wie ein amtliche® Verzeichnid nachweift, in dem ein⸗ jigen Jahre 1799 einhundertfechunddreigig Falliſſements großer Handlungshäufer mit einem Gefammtbetrag von ſechsunddreißig Mil lionen Mark Banco zu Rathe und außerdem eine Menge tleinerer auf den fogenannten Herren und Landherrendielen angemeldet, von denen manche fieben oder fünf oder drei Procent, ein? fünffechzehntel Pro⸗ cent und viele gar nicht? den Gläubigern zahlen fonnten.

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Dem unmittelbaren Einfluffe des tief eingreifenden Ereigniffe® war Perthes freilich vermöge der Natur feined Gefchäftes entzogen, aber mittelbar hatte auch er ſchwer umter der allgemeinen Geldnoth wu leiden. Getragen jedoch durch feine eigene befonnene Kräftigfeit und durch Die helfende Treue feiner drei Hamburger Freunde, konnte er nicht nur die Krifis, welche außerdem unfehlbar zum Bruche geführt haben würde, überftehen, fondern auch dem Gefchäfte eine früher kaum gehoftte Ausdehnung geben. inmitten der allgemeinen Zer- rüttung gelangte die Handlung zu Ruf und erhielt einen Schwung, der freilich, weil er die vorhandenen Geldfräfte weit überftieg, ſchwere Sorgen und peinliche Berlegenheiten vielfach bereitete.

Meine Berhältnifle, ſchrieb Perthes 1799, geftalten fih fo man⸗ niofaltig, daß ich alle meine Zeit und alle meine Kräfte aufbieten muß, um bie Zügel feit zu halten. Das, was man in der Welt Glüd nennt, habe ich wirklich; denn alle gelingt mir, was ich un⸗ ternehme. Aber wahrlich! leicht wird mir dieſes Glück nicht gemacht; und wenn ich die forgen= und peinpollen Stunden gegen die ruhigen und forgenlofen halte, fo haben die erfteren ein übermäßiges Gewicht. Sie fennen mich ja und willen, mas ed mich von jeher foftete, zu bitten, zu fordern, dreift zu fein; Sie willen, mie fehwer ed meinem Herzen wird, hart, fireng, unbiegfam zu fcheinen: und dad alles babe ich fein oder jcheinen müflen. Wahr ift e8, der liebe Gott hat im⸗ mer geholfen, aber nur dann erſt, wenn die Noth am größten mar. Gläck, Thätigfeit und eine Energie, wie fie nur ein Wagftüd - dem Menſchen gibt, heißt ed in einem andern n Briefe, fteht mir hel⸗ fend zur Seite.

Eine große Aufgabe hatte Perthes der von ihm gegründeten Handlung um diefe Zeit geftellt. In Hamburg, Holftein, Medlen- burg und Hannover follte fie die Grundlage ihres Geſchäftsbetriebes finden, aber von diefer Grundlage aus eine Stellung gewinnen, durch welche fie zur Bermittlerin des Titerarifhen Verkehrs aller europäi- (hen Bölfer untereinander würde, indem fie die Literatur eines jeden Volkes allen andern Völkern zugänglich machte. Hamburg fehien für eine ſolche Stellung der rechte Ort, und in London follte eine Filial⸗ bandfung zur Unterftäpung gegründet werden. Um diefen umfaffen-

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den Blan ind Leben zu führen, fühlte Perkhes ſich für fih allein zu ſchwach. Schmerzlich vermißte er die nöthigen Kenntniſſe, ſchmerzlich empfand er vor allem den nun nicht mehr zu erjeßenden Mangel ei- ner gründlichen Schulbildung. Er fah fih nad Hilfe um und fand fie in Johann Heinrich Befler, welcher von tun an der treuefte Freund, der zuverläffigfte Genofle in Freud und Leid ihm blieb und bald auch durch Verheirathung mit Perthes' Schweiter ihm ein lieber Schwa- ger ward.

Beiler war eines jener Sonntagskinder, denen jeder, dem fie be- gegnen, freundlich gefinnt ift, mit denen jeder gerne verkehrt, in deren Nähe jeder fich wohl fühlt. Schon als junger Mann war er von fehr. behaglihem Körperbau und der Bequemlichkeit nicht abgeneigt; in feinem freundlichen Auge und in feinen milden Geſichtszügen drückte fih vollkommen dad Liebevolle und das LXiebebedürftige feined Gemü-« thes aud. Ein ihm eigenthümlicher Sinn Tieß ihn fohnell die Wün- ſche und Nöthe anderer errathen, und ohne zu willen und zu wollen, half und förderte er, oft in weiterem Umfange, al? feine Kräfte er- laubt hätten. Unzähligen Menſchen hat er in großen und in kleinen Berhältniffen Gefälligkeiten erwiefen. Kinder zog er, wie der Magnet dad Eifen, fchon aus der Ferne an und konnte fi) ihrer anhängen- den Freundlichkeit kaum erwehren. Ohne inneren Kampf, ja ohne eined Entfchluffes zu bedürfen, handelte er immer und in allen Ber- hältniffen mit der reinften Lauterkeit, und dag der Menfch auch gegen - feine Meberzeugung reden könne, war ihm unbefannt. Später, als die Franzoſen Hamburg beſetzt hatten, fagte er den Officieren und Beamten, mit denen er vielfach verkehrte, oft zum Erſchrecken naiv die derbite Wahrheit grade ins Geficht und behielt dennoch ihr volles Bertrauen. Seine vielen Fleinen Sonderbarkeiten, feine Zerftreutheit und ein Hang, dem morgenden Tag vorzubebalten, was dem heuti- gen gebührte, förderten freilich zumeilen die wunderlichften Dinge an den Tag; aber fo feft waren diefe Eigenheiten mit der feltenen Lie. benswürdigkeit feiner Sinnesart verwachſen, daß feine Freunde mut ungern fie vermißt haben würden. . Befler war 1775 geboren. Sein Vater, welcher ald Oberprediger in Quedlinburg lebte, fendete den Sohn wohlausgeftattet mit Schulfenntniffen und der neueren Spra-

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chen fundig nach Hamburg, um den Buchhandel zu erlernen. Hier zeigte fi) der heranwachſende Jüngling fo zuverläffig und tüchtig dag fein Lehrherr Bohn ihm ſchon nad) drei Jahren die felbftändige Leitung einer Nebenhandlung in Kiel anvertraute. Al Perthes nach Hamburg fam, trat er fchnell zu Beier, welchen er früher vorüber- gehend in Leipzig gefehen hatte, in ein nahes Verhältnis, und beide Freunde erfannten, dag ihre Raturen zur gegenfeitigen Ergänzung beitimmt feien. Befler ging, um feine literarifche Bildung zu erwei« tern und zu befeftigen, 1797 nad) Göttingen, arbeitete dort auf der Bibliothel und hörte literaturgefchichtliche Borlefungen. Zurüdgelehrt trat er 1798 in die Handlung ein; zwar wurde fie noch auf Perthes’ alleinigen Namen geführt, aber ſchon von jetzt an war ihr Befler un- entbehrlich. Nicht ein einziger Buchhändler möchte fich finden, äu- herte Perthes fpäter, welcher in dem Umfange wie Beiler Kenntnis von dem Dafein, von der Beitimmung und der Brauchbarkeit der verichiedenften Werke aus der Literatur aller Völker befigt, und nie- mand weiß in dem Umfange wie er, wo fie zu finden und wie fie anzufchaffen find. Dazu fam, daß Beller ungeachtet der Weich- heit ſeines Gemüthes auch in verwidelten und bedrängten Lagen eine Ruhe und Befonnenheit bewahrte, welche, vereint mit Perthes' durch⸗ greifender Kraft und frifchem, unbefiegbarem Muth, große Schwie- rigfeiten überwinden und.die Handlung fehnell zu Anfehen und Um⸗ fang gelangen lie. Der Plan, fie zur Bermittlerin des literarifchen Berlehr der europäiſchen Bölker untereinander zu machen, mußte jwar fpäter in Folge der großen Störungen und Berlufte, welche das Jahr 1806 herbeiführte, zum größten Theil aufgegeben werden; aber bis dahin wurde er feftgehalten, und im deutfchen Buchhandel nahmen Perthes und Beffer, welche in unbedingtem gegenfeitigen Vertrauen ihr Leben hindurch verbunden blieben, eine bedeutende und wohlbe⸗ gründete Stellung ein. Ich glaube nicht, fehrieb Perthes ſchon 1802 aus Leipzig, daß einer unferer Collegen mit fo ausgezeichneter Ge- fälligfeit und Zuvorkommenheit behandelt wird wie ih; es tft Feiner, der fih nicht um und bemühte.

Das perfönliche Vertrauen, welches Perthe3 in weiten Kreifen genoß, und das Intereſſe, welches feine frifche, Fräftige Lebendigfeit

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fo vielen. bedeutenden Männern einflöpte, wurde eine wefentliche Srundlage des Geſchäfts. Don Jahr zu Fahr vergrößerte fi im nordweitlichen Deutfchland die Zahl der Familien, welche fich durch Perthes die älteren und neueren Werke beftimmen ließen, die ihrer befonderen Sinnedart, ihren Neigungen und Verhältniffen die anges meſſenen und fördernden waren. Der gefunde Blid und die Gewiſſen⸗ baftigfeit, mit welcher Perthes hierbei verfuhr, läßt ſich aus den er- baltenen Verzeichnifien erfennen, in denen er furz aber treffend die literarifchen Neigungen und Bedürfnijfe der ihm bekannten Familien fih bemerkte, um hiernach die Auswahl der Werke zu beftimmen, die er bis in eine Entfernung von dreißig und vierzig Meilen, ja bid nad Dänemark, Schweden, Petersburg und England in längeren oder fürzeren Zmifchenräumen zur Durchſicht und Auswahl verfendete. Seiner ganzen Natur nad) war ed zwar für Perthes unmöglich, fich in den inneren Verhältniſſen des Menſchen zum Menſchen durch Rüd- fihten auf Geldgewinn oder Geldverluft in irgend einem Grade be ftimmen zu laffen. Alles, ſchrieb er einmal, Tann ich vergeben, nur den Eigennutz nit, und noch in feinem fpäteren Leben regte nichts am Menfchen fo ungeftüm feine Leidenſchaftlichkeit auf, als kleinliche Engherzigkeit in Geldſachen; auch die beſchränkteſte Lage, meinte er, geſtatte Großartigkeit in Verhältniſſen des Mein und Dein, und nie mand al? der eigentlich Arme brauche fein. Familienleben mit Geld» gedanken auszufüllen, wenn er nur befonnen genug fei, dad Haus⸗ weſen in feiner Ganzheit den ihm zu Gebote ftehenden Mitteln ent⸗ fprechend einzurichten. Grade diefer Sinnedart wegen konnte Perthed in bedrängten Augenbliden die Hilfe feiner geiftigen Freunde unbe- fangen annehmen, wie fie ihm unbefangen dargeboten wurde. Biel fach find ihm Männer, mit denen er urfprünglich nur in Gefchäfte- verbindungen ftand, nächte Freunde geworden, und fein audgebrei- teter geiftiger Berkehr fam wiederum der Handlung zu Gute. Da in beiten dem großen Umfchwunge des Geſchäftes noch immer die vor- handenen Geldmittel nicht gewachſen waren, fo hatte Perthes, unge: achtet aller glänzenden Erfolge, nad) wie vor zwar nicht mit Nah- rungöforgen,. aber immer mit Geldforgen zu. fämpfen, melde das fünftlihfte und befonnenfte Handeln namentlih im Wechſelverkehr

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nothwendig machten. Mich quälen und geifeln, fchrieb er 1803, Die Arbeiten und Sorgen jetzt Tag für Tag. Meine Geichäfte, heißt es in einem andern Briefe, nehmen einen immer beſſern Gang; nur bin ich immer geldarm, und wenn hier ſolche Stodungen wirklich eintre⸗ ten follten, wie fie in folge der englifchen Geldoperationen und der Kopenhagener Finanznoth zu fürchten find, fo ift gar der Teufel los. Aber was hilft alled Lärmen und Klagen? Dadurch kommt kein Geld. As Perthes im Herbfte 1805 da3 von Axenſche am Jungfernſtieg gelegene Haus bezogen hatte, welches er fortan, fo lange er in Ham» burg blieb, bewohnte, wurde der Gefchäftöverfehr durch die überaus günftige Lage aufs neue gefteigert. Meine Gefchäfte haben ſich mit der veränderten Wohnung fo übermäßig vermehrt, ſchrieb er, daß wir faum dagegen anzugehen wiſſen; aber der Laden ift auch) der ele gantefte in Deutjchland und die Sammlung Bücher, die darin ftebt, iſt gewiß in folcher Audgefuchtheit nicht zum zmeitenmal zu finden. Ich habe, beißt es in einem anderen Briefe, ein große®, mühevolles Geſchaͤft, ich bin in großen Berwidelungen und habe eine nicht Fleine Zahl von Freunden, jung und alt. Das alles quält, erfreut, treibt mi, macht mich lebendig und meinen Körper manchmal müde, ob» wohl er reichlich zähe ift. Ich,bin, äußerte er um eben diefe Zeit, jest zwar manchmal in gewaltiger Geldflemme, aber auf ficherem Wege, veich zu werden, und ich wünfche mir Reihthum um meiner Freiheit und des allgemeinen Beften willen. Gott gebe, daß man einmal ruhig wirken könne!

Mit lebendigem Dante erkannte Perthes den ihm durch feinen Beruf zu Theil gewordenen Segen an. Bor act Tagen habe ich, ſchrieb er 1906, mein zehnjähriges Handelsjubiläum begangen. Wie dankbar muß ich fein! . Denn wäre mir da3 Unternehmen 1796 nicht gelungen, fo würde ich weder meine liebe Carolme, noch meinen treuen Gefährten Beiler, noch meine Freunde, noch meinen jepigen fhönen und großen Wirkungskreis befipen.. Ja mic) felbit habe ich durch meinen Beruf mir gewonnen; denn bei meiner früheren Ver⸗ nachlaͤſſigung konnte ih nur auf dieſem Wege mich entwideln. Aber dem raftlofen Getriebe und den ſorgenvollen Anftrengungen des Geichäftälebens gegenüber bedurfte Perthes, um innere Ruhe, Freu⸗

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digkeit und Kraft zu bewahren, eined anderweitigen Haltes und fand ihn in feiner Familie, deren Leben fich immer ficherer und glüdlicher geftaltete. Bis in die tiefften und entlegenften Falten meines Geiftes bift Du eingedrungen, fehrieb er feiner Krau; fein Moment meines Seins gibt. ed, in welchem Du nicht bei, in und vor mir wäreft; mir ift ed, ald wenn ich alled, was ich fehe, fühle und-bemerfe, nur um Deinetwillen fehe, fühle und bemerfe. Zwar wurde Perthes durch bedeutende Menfchen aller Art und durch Frauen nicht weniger, wenn auch in anderer Weife ald durch Männer, fchnell und ſtark an- geregt und pflegte dann, auch in feinen fpäteren Jahren noch, gegen Freunde und Belannte, gegen Frau und Kinder den empfangenen Eindruck in deffen ganzer Lebhaftigfeit auszuſprechen; aber fo felfen- feft war feine Treue, daß nie auch nur ein einziger midtönender Aus genblid durch diefe leichte Erregbarkeit hervorgerufen ift.

Am 28. Mai 1798 war ihm eine Tochter, Agned, am 16. Ja⸗ nuar 1800 ein Sohn, Matthiad, am 10. Januar 1802 eine Tochter, Luife, und am 25. Februar 1804 wiederum eine Tochter, Mathilde, geboren worden. In jedem Haufe freilich jind die Mühen und Freu- den, welche nirgends ausbleiben, wo Kinder ſich einfinden, ein Mit tel, durch welches die Eltern erzogen werden, aber in jedem Haufe find fie e8 in anderer Weile. Die Liebe zu Gott kann fi) wohl ver- fucht fühlen, mit dem äußeren Leben brechen zu wollen, um als ein ausfchlieglich Innerliches ungeftört und unzerftreut fich in fich felbft zurüdzuziehen; aber die Liebe einer Mutter zu ihren Kindern ift ihrer Natur nah nächſter Zufammenhang mit dem äußeren Leben, ift un« mittelbar ein Schaffen und Sorgen und läßt ald ein nur Inneres und Beichauliches fich nicht denken. Die Liebe zu ihren Kindern wurde auch für Caroline die erfte Schule, in welcher fie lernte, den verbor- genen Menfchen des Herzens kräftig und befonnen nach außen zu be währen. Der wadfende Haushalt, der Einflug des Mannes, der. vielfach wechfelnde Verkehr mit den verfchiedenartigften lebendigen Menfchen bildeten fodann die Fähigkeit weiter aus, fich freien Geiftes im Leben zu bewegen und mitten im Wechfel äußerer. Eindrücke innere Stille und Bleihmäßigfeit zu bewahren. Zwar blieb ihr, fo lange fie lebte, die Sehnſucht nach einer ruhigen und wechſelloſen Lebens⸗

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lage und fonnte in manchen Stunden fie wehmüthig ftimmen. Mit mir ift e8 noch immer die alte Sache, heißt es in einem Briefe an die Gräfin Sophie Stolberg, ich will fehr viel und kann fehr wenig. Agnes läßt Dir fagen, fhrieb fie im Frühjahr 1804 ihrem Manne am Tage nad feiner Abreife, Du möchteft glülih über dad Waſſer fommen und ift betrübt meine Tochter; Matthias will nur wiſſen, wie ed mit feinem Schaufelpferde wird, und iſt luftig Dein Sohn. Ungeachtet aber der ihr bleibenden Sehnfucht nach äußerer Ruhe hatte fie fhon im erften Jahrzehend der Ehe die Freiheit, Ruhe und Kraft gewonnen, welche fie fpäter, ald-Bermögen, Familie und alles äußere Glück zufammenzubrechen drohte, mit wahrem weiblichen der denmuthe bemäbhrte.

Sept fah fie fich nicht mehr, wie ed früher wohl vorübergehend gefhehen war, beunruhigt in ihtem innern Leben durch die Liebe zu dem Manne und durch die Einwirkung, welche feine Lebendrichtung und feine Lebenslage auf fie äußerte. ch habe eben, fehrieb fie einft dem entfernten Perthes, hinausgeſehen ins Freie und an Did; gedacht. Herrlich ift die Nacht mit ihren funkelnden Sternen. Sieht Did) in Deinem Wagen der eine heller ald die andern an, fo foll er Dir Lie- bed und Gutes von mir überbringen und nicht? Betrübtes; denn mir it nicht mehr fo wehe, wie wohl früher, wenn Du verreifteft., Aber id) weiß gewiß, daß darin nicht Abnehmen der Liebe ift. Könnte ich ed Dich nur einmal ganz wilfen laffen, wie ich wirklich zu Dir ftehe, fo würdeft Du Deine Freude daran haben; aber was ich auch fage und fchreibe, es bleibt immer ein unverftändlich Ding und ift nicht das Lebendige, was ich in mir trage. Wenn Du mich nach diefem einmal ohne Worte wirft verftehen können, dann erft wirft Du beffer merken, was und wie ich es eigentlich gemeint habe. Was Sie jest haben, fchrieb Caroline 1803 einer vor furzem verheiratheten Freundin, ift nur ein Borihmad und wird mit jedem Tage mehr und bejfer. Mit mir hat nun der liebe Gott ſchon fech® Jahre e8 fo ge- maht und mir gehen die Augen über, wenn ich daran denfe. Mein lieber Perthes, fchrieb fie ein Jahr fpäter ihrem Manne an dem Tage, an welchem diefer ihr vor fieben Jahren feine Liebe bekannt

hatte, heute ift der 30. April und grade 9 Uhr. Weißt Du wohl, Perthes Leben. 1. 4. Aufl. 7

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heute vor fieben Jahren gerade in diefem Augenblide? Gott fei ges lobt aus Herzgendgrund,, der mich Dir in den Sinn gab. Eben habe ich die Kinder befehen, die ſchon im Bette liegen, und Dich habe ich im Herzen. So find wir denn, obſchon Du weit entfernt bift, alle bei⸗ fammen und fegnen den lieben Augenblid, in welchem Du vor fieben Jahren mich anfaheft und mir fagteft: Ich habe Dich lieb. Ja, mein “ewig lieber Perthes, ich danfe Gott und ich danke Dir dafür, daß ed und fo wohl geworden iſt. Gott ftehe und ferner bei und fegne und and unfere Kinder und halte und durch zu einem fröhlichen und feli- gen Ende! | |

Die Befeftigung des inneren Lebeus. 18001805.

Getragen von dem mit Liebe und Erfolg gepflegten Beruf und dem in geifliger Lebendigkeit erftarkenden Kamilienleben, entging Per- the8' glüdliche Natur der Gefahr, in haltungsloſes Schwanken oder verworrenes Träumen zu verfallen, als gleichzeitig fehr .entgegenge- jebte und fehr bedeutende Perfönlichkeiten auf ihn Einfluß gewannen. Zunächſt und vor allem war ed dad Haus feiner Schwiegereltern, welches ihn fefter und fefter an ſich zog. Auf jeden, den der Bater achtet, baue ih blind, vertraue ihm und mein Herz geht ihm entgegen, hatte Perthes jchon im Sommer 1797 an feine Braut gefchrieben. Niemand auf der Welt, heißt es in einem Briefe von 1802, gebt mir über unfern Vater; Gott erhalte una den herrlichen und lieben Mann. Des Wandöbeder Boten ununterbrochen wenn aud nur allmählich fteigender Einfluß wurde durch manche verwandte Ein- drüde verſtärkt. In Klopſtockss Haufe war Perthes oft und gerne, bis dieſer 1803 ftarb. Die Ruhe war Klopftod fehr zu gönnen, fchrieb Perthes kurz nach defien Tode. Mir fagte er drei Wochen vor feinem Tode: Der Schmerzendzuftand ift mir jegt der liebere, denn jeder an⸗ dere ift Erfchlaffung. Geftorben ift er, wie er gelebt bat, friedlich, kindlich und in fih fiher. Keiner feiner Freunde, nicht einmal fein

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Bruder ſah ihn in den legten vierzehn Tagen. Nur feine Frau, Meta, und die Aerzte waren bei ihm. Die Frau feheint falſche Rüdfichten gehabt und für Klopſtocks Größe beforgt gemwefen zu fein. Mir thut es leid, fie hatten es nicht nöthig; denn jeder weiß es, daß das Ster- ben kein Kunftwerk if. Sein Leichenbegängnid gab die Achtung zu erfennen,, die Hamburgs und Altona’® Einwohner für ihren Mitbürs ger gehabt hatten. Als Die Leiche aus der Kirche nach der Gruft getragen wurde, fang ein Chor von Mädchen, „Auferftehn, ja auf erſtehn“; es war ein überaus ergreifender Augenblid. Aber hart mußte Klopftod noch im Tode büßen für die Nachficht,, die er mit dem Zeitgeifte und feinen eigenen fehalen und lahmen Jüngern gehabt bat; denn NR. hielt ihm eine Barentation!!

In Hamburg ftand Perthed zwar nach wie vor in einem leben- digen Verkehr mit dem Sieveling’fchen reife und lebte froh und offen mit feinen alten Freunden Spedter, Runge, Hülfenbed und Herterich; aber tiefer und bedeutender wurden jet Die Cindrüde, welche er aus Holftein empfing. Gräfin Julie Reventlow auf Emkendorf blieb bis zu ihrem Tode eine warme Freundin Carolinend und die auch im .brieflichen Verkehr hervortretende anfpruchlofe Geiftigkeit und Milde ihred Weſens erleichterte ihren Weberzeugungen bei andern den Ein- gang. Ueberall, wo er erfchien, gewann der Bruder ihres Mannes, Graf Cajus Reventlow auf Altenhof, durch feine geiftvolle und herz fihe Männlichkeit Vertrauen für fih und den gefunden Ernft, der ihn belebte. Angejogen von Perthes' frifcher und zuverläffiger Natur, wurde er ihm ungeachtet der Verfchiedenheit des Alters und der Le bensverhältniffe ein wahrer, in Rath und That bewährter Freund. Der Graf war der lepte der großartigen Adelihen einer vergangenen Zeit, fchrieb Perthed 1834, furz nach des Grafen Tode, an deſſen Ge⸗ mahlin Luife. Edlerer Art, ala ihn, hatte das Baterland feinen; mir _ war erein güfiger Freund und ein Wohlthäter in großer Bedrängnie. Wie ich werden viele dem Gefchiedenen mit Liebe und wehmüthiger Ruhe nachfchauen. Durch Altenhof hatte fich für Perthed und Caroline ein nahes Verhältnis zu der Gräfin Augufte, geborenen Stolberg, gebildet, welche ald zweite Gemahlin ded Grafen Andrea® Petrus Bernſtorff die Stiefmutter der Gräfin Luife war. Manche

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fonnten an der ftillen, frommen Frau vorübergehen, ohne den in ihr verborgenen Schag zu ahnen; aber auch an ihr bewährte Goethe den ihm eigenen Scharfblic für die geiftige Bedeutung des Menſchen, wie feine befannte Zufchrift an die nie gefehene Jugendfreundin zeigt. In Briefen voll Herz und Wärme wendete fih die Gräfin in inneren und äußeren Angelegenheiten an Perthes und fand in ihm einen zu- verläfjigen Freund. So tief, fehrieb fie, als diefer fpäter Samburg für immer verließ, fo tief greift Ihr Leben in dad meinige ein, fo eng ift es mit fo vielen meiner früheren und fpäteren Erinnerungen ver⸗ wachen, für die mein Herz einen großen Theil feine? Lebens hindurch gefchlagen hat, daß mich Ihre Abreife in weitere Ferne ſehr wehmü- thig ſtimmt. Vergeſſen Sie mich nicht.

Mannigfaltiger wurden die Eindrüde, welche Perthes aus Hol⸗ ſtein etfuhr, indem er in Kiel durch nähere Bekanntſchaft mit dem alten, frommen Kleuker theologiſche Gelehrſamkeit und durch Rein⸗ hold's Zuneigung das große Durcheinander der ſich ablöfenden und befämpfenden philoſophiſch⸗theologiſchen Anfichten aus eigener Ans ſchauung kennen lernte. . Reinhold bat mich gewohnter Weife mit alter Liebe aufgenommen, fehrieb Perthed 1799 an feine Frau, und - mir feine eigne befte Stube eingeräumt. Er gewinnt ald Menſch, je länger ich ihn fehe, aber freilich feine eintönige Bielfeitigkeit verfperrt ihm den Weg zur Wahrheit. Den Vorhang fhiebt er zurüd Schritt für Schritt, aber aufziehen kann er ihn nit. Die Scheidewand, welche zwiſchen ihm und Kleufer ift, werden fie ſchwerlich wegräumen, weil beide die Punkte, auf welche ed ankommt, nicht berühren mögen und dur wißige Anmerkungen einander erbittern. Gebt muß. ieh, ſchrieb Pertbes ein anderesmal, Reinhold's Abhandlung über die Berechtigung des gemeinen Berftandes lefen, aber Gott weiß es, feine Manier vorzutragen wird mir fehr ſchwer. Wenn ic) mit ihm fpreche, geht es viel beffer. Auch Jacobi's Einfluß auf Perthed dauerte fort und gerne unterhielt ſich der reifere Mann mit dem jüngeren Freunde über die Arbeiten, mit denen er ſich befchäftigte. Geftern gab mir Jacobi feine neue, noch ungedrudte Abhandlung zu leſen, Ichrieb Perthes 1801 aus Eutin an Caroline. Sie madhte mir entſetz⸗ fiche Arbeit. Ich habe mich geftern den ganzen Tag damit beſchäftigt,

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und der lange Papa fügte mir dabei vortreffliche Dinge; heute habe ich wieder recht ernftlich mit ihm ftudiert. So oft Perthes ſich auch in Holftein kürzer oder länger aufbielt, immer fühlte er fich ge- fördert und gehoben durch die Eindrücde, welche er von dem Land und von den Menfchen empfing. Am Sonntage, heißt es in einem Briefe an Caroline, war ich mit Nicolovius in Sielbed. Der Tag war präd- tig. Es ift ein lieber Menfch, diefer Nicolovius. Wie fühlte ich mich fo jugendlih, fo reich; wie dankbar bin ich Gott! Er gab mir fo viel, eine fo lange frohe Jugend und Did, Du Liebe, Edle.

Nicht weniger nahe ald dem Tutherifchen Holftein trat Perthed dem Fatholifchen Münfter. Zuerft im Winter 1798 hatte er das dor- tige Leben aus eigener Anfchauung kennen lernen und ſchon auf der Sinreife einen tiefen Eindrud von dem weftfälifchen, namentlich dem odnabrüdifchen Lande mit feinen hohen Eichenwäldern und feinen tie- fen Thälern empfangen. Seine Reijeftimmung drüdt ſich in einem nach einer dDurchfahrenen Nacht gefchriebenen Briefe an Caroline aus. Heute Nacht, heißt es in demfelben, wie die Sterne blintten und alles Leben mit feinem Freud und Leid breit über die Erde hingewebt ruhte, und nur ich wachte und deutlich fühlte, daß der liebe Gott auch wache und feine Kinder in allen den ring® umher zerftreuten Hütten fehe, da wurde mir e8 wohl bie zu Thränen, und wunderbar! eben ala ich fo ann, fuhren wir vorbei an einem Chriftusbilde, welches, von dem ſternenhellen Himmel beleuchtet, aus Pappelbäumen von einem Hügel berabfchimmerte. In Münfter fah Perthes die Fürftin Galligin und die Drofte wieder, fah den alten fiebenzigjährigen Fürftenberg, fah Kiftemafer und Katerfamp und den feltfamen Bater des als Hi⸗ ftorifer befannten Buchholz. Der, obſchon nur flüchtige, Münfter’fche Aufenthalt gab ihm das lebendige Bild ded Lebens, mit welchem er aus anderen Beranlaffungen in nahe Berührungen kam. Die Für- fin Galligin blieb bis zu ihrem Tode in brieflichem Verkehr mit Ga» toline und trug ungeachtet der Berfchiedenheit der Confeſſion fein Be denken, zugleich mit Klopftod und Claudius Pathenftelle bei Perthes’ älteftem Sohne zu vertreten. Caroline hielt die Fürftin in gleicher Liebe und Verehrung feſt. Durch nichts in der Welt, ſchrieb fie, als

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1806 die Todeskrankheit der Fuͤrſtin befannt ward, habe ich einen fo großen und fo bleibenden Eindrud wie durch die Färftin erhalten, und von dem Augenblide an, in welchem ich fie zuerft fah, ift fie mein Leiter zu Gott gemwefen. Mit dem Freiheren von Drofte war Perthes zuerſt befannt geworden, ald wenige Wochen nach feiner Ber- beirathung die drei Brüder Kadpar, Clemend und Franz, begleitet von Kellermann und Brodmann, nah Hamburg famen. Perthes wurde ihr Geleiter, ald fie die Stadt und deren Einrichtungen kennen fernen wollten. Mittags ließen fie ſich gern den fpärlidhen Tifch der jungen Eheleute gefallen, und zwifchen den Männern, die ungefähr gleichen Alters waren, entftand ein fo fefted gegenſeitiges Vertrauen, daß die perfönliche Achtung und Liebe auch fpäter Durch den verfchie- denen Lebendgang und die verfchiedene Lebendanficht nicht aufgehoben wurde, Mich zog, äußerte Perthes in feinen lebten Lebensjahren, befonder? Kaspar an, damals fchon Weihbifchof und an Liebe Jeſu Lieblingsjünger zu vergleichen. Mit ihm bfieb Perthed ein Vier- teljahbrhundert hindurch in einem dem Herzen angehörenden Briefe wechſel. Wer von. und Schuld hat, Tieber Perthes, fehrieb ihm Droſte einmal, daß wir fo lange einander ſchwiegen, weiß ih nit. Das Befte wird jein, wir laffen es dahingeftelt und beſſern und; dazu will ich.gleih den Anfang machen. Seit geftern, beißt e8 in einem Briefe Droſte's vom Jahre 1806, fehen wir unferer lieben Galligin in Die ihr gewiß zu Theil gewordenen ewigen Freuden nah, und be- trauern mit zerriffenem Herzen, daß fie nicht mehr unter und lebt. Am 23. gegen halb drei Uhr rief Gott fie zu fih. Ihm gehörte fie ganz, nun ift fie gewiß in unaudfprechlicher Glückſeligkeit ewig bei ihm. Die legten fünf Stunden waren noch fehr harte Stunden für fie, aber gewiß auch gnadenreihe. Mit vollem Bewußtſein nahte fie fi ihrer Vollendung, opferte ſich und ihre Leiden ganz ihrem Gott, und empfing noch ungefähr eine Viertelftunde vor ihrem Tode ihren Herrn und Heiland im allerheiligften Sacrament. So ſchied ihre I&höne, geläuterte, heilige Seele in der feligften, innigften Bereinigung. Ein fehöner Tod, lieber Perthed! Beten fie vorzüglich für die liebe Toch⸗ ter der Fürftin, Damit Gott ihr zu Hilfe fommen möge mit feiner

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Gnade! Sie wie ih halten den Glauben, die Erleuchtung von oben und die und allen nöthige Gnade für nöthig, und das andere nun das wird ſich in der Folge ſchon geben, fhrieb Drofte in einem anderen Briefe, und fügte etwas fpäter hinzu: Mir ift ed gewiß, daß Sie auf dem Standpunfte nicht fiehen bleiben fönnen, auf dem Sie jest ſtehen. Bei und kann weder dad Treiben und Drängen, um zur Wahrheit zu gelangen, noch das Bedürfnis, etwas Feſtes zu gewinnen, ftattfinden, wie bei Ihnen; denn, lieber Perthes, wir fuchen die Wahr- heit nicht, wir haben fie; den Glauben, den wahren Glauben fuchen wir nit, wir haben ihn. Nur das ift unfere Aufgabe und unfere Pflicht, durch einen wahrhaft hriftlihen Wandel, durch unfer ganzes Thun und Laflen unfern Glauben zu beiennen. Das immer mehr und mehr zu thun, dahin muß unfer Streben gehen, und weil wir es nicht ohne befondere Gnade Gottes fönnen, fo beten wir täglich darum. Vergeſſen Sie, lieber Perthes, meiner nicht!

So entſchieden Drofte feiner Kirche angehörte, vermochte er den- noch) freudig das Gemeinfame in dem Chriften anderer Gonfeffion an⸗ juerfenmen, und jede Ahnung fehlte ihm von dem aus haferfülltern Herzen auffteigenden Gifthauche derer, welche fich. für gute Chriften halten, weil fie die Proteftanten haffen. Noch im Jahre 1819 konnte der Weihbifchof einen Brief an die Witwe des Wandebeder Boten mit den Worten fchließen: Gott behüte Sie, liebe Mama, und und alle! Beten Sie für mih! Mit findlicher Liebe Ihr Caspar.

Dem Münfter'fchen Kreife gehörte feit feinem Uebertritte zur fa- tbolifchen Kirche Graf Friedrich Leopold Stolberg an. Er hatte die Kirche feiner Väter verlaffen, um Ruhe zu finden für feine Seele, die eines fichtbaren Haltes bedurfte, damit fie ihred Glauben? ficher und feft werden könne. Durch das tief in den Gang der geifligen Zeit- entwidelung eingreifende Ereignid feine® Webertritt® war e8 an den Tag gekommen, wie groß die früher weniger beachtete Kluft fei, welche den Ehriften fatholifcher Confeſſion von dem der proteftantifchen Con⸗ feifion trenne; dein Stolberg, obſchon ein Chrift gewefen vor feinem Hebertritte und ein Chrift geblieben nach feinem Webertritte, hatte dennoch nicht in der einen, fondern nur in der andern Kirche innere

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Ruhe finden fünnen. Mit tiefem Schmerze fahen feine Freunde auf Stolberg bin, aber perfönfih ihm zümen, ihn misachten konnten fie nicht, ſobald der erfte überwältigende Eindrud: überwunden war. Das Berhältnis, in welches Perthed anfangs nur als Claudius’ Schwie- .gerfohn zu Stolberg getreten war, hatte ſchnell einen fehr nahen, auf warme gegenfeitige Zuneigung und. unbedingted gegenfeitige® Ver⸗ trauen gegründeten Charafter erhalten. Stolberg blieb, fo lange er lebte, jenem befchränften, unruhigen Eifer völlig fremd, welcher fo oft den religiöfen wie den politiihen Bonvertiten bezeichnet. Gewiß hatte er auch in feinem fpäteren Reben feinen Augenblist, in welchem er den gethanen Schritt bereute; aber weil er weniger feinen Glauben ala feine Kirche gewechſelt hatte, vermochte er es, ſich dem Proteftantid- mus gegenüber einen ungewöhnlich freien Blid zu erhalten. Sch habe, fhrieb er 1809 an Perthes, Ihren lieben Brief mit der Anfündigung des vaterländifchen Muſeums erhalten. Wir werden und immer ver- ſtehen, liebſter Perthes. ine gewiſſe Stelle der Ankündigung wird vielen Katholiken, ach! nur zu vielen, anftößig fein, Mir ift fie.es nit. Die Reformation ging urfprünglich hervor aus reiner Abficht, und fo verfichert ich auch bin, doß Luther denen, die ihm zufielen, mehr nahm, ald Menfchen geben können, fo erkenne ich doch die vie- len und großen Bortheile an, welche denen, die katholiſch blieben, aus der Reibung, dem Wetteifer u. f. m. herporgegangen find. Wider die Perſon Luther's, in welchem ich nicht nur einen der größten Geifter, fo je gelebt haben, fondern auch große Religiofität, die ihn nie verließ, ehre, werde ich nie einen Stein aufheben.

Sleihen Sinn bekundet e8, wenn er 1815 nah Claudius' Tode an Perthes fhrieb: Er kommt nicht wieder zu und; Gott führe und alle dahin, wohin er und vorangegangen ift, und fein Gebet wird und fördern. Bid zu feinem Tode hielt Stolberg den mehr al? zwanzig Jahre jüngeren Freund feft und innig umfchloffen. Ihr lie ber Brief, fehrieb er wenige Wochen, ehe er flarb, an Perthes, in wel- chem Sie Ihre Reife zu und auffagen, betrübt mich fehr. Wie hatten meine Frau und ih und auf Sie gefreut, twie lange wuͤnſchte ich ſchon den Freund ‚wieder zu umarmen, und hätte auch fo gern über man»

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ed und manded mit Ihnen geſprochen! Sie geben Hoffnung für künftiges Jahr. Ach, lieber Perthes, Klopftod fagt irgendwo: „Ein Jahr ift viel im Leben des Menfchen.” Wie viel im Leben des Greis ſes! Bon Herzen Ihr alter Stolberg. Auch mit Sailer, damals Profeffor in Landshut, aber feinem Leben und feiner Weberzeugung nah dem Münfter'jchen Kreife angehörig, traf Perthes ſchon 1802 zufammen. Sailer hat mich hier aufgefucht, fchrieb er feiner Frau aus Leipzig. Er hatmir fehr gefallen: ein überaus geiftvoller Mann, fieht jehr katholiſch aus, aber, wie mich dDünkt, nicht ohne einige An⸗ ftrengung. Er empfiehlt fi) Deinem Bater und auh Dir. Mit vielen andern konnte auch Perthes fich nicht vorftellen, dag Stolberg, obſchon Katholif geworden, alle und jede LXehrfäbe der Fatholifchen Kirche als Inhalt feines hriftfihen Glaubens aufzunehmen vermöge. Sie fragen, ſchrieb Sailer 1803 aud Landshut an Perthed, ob es wirklich begründet fei, daß ein zur fatholifchen Kirche Webertretender dad ganze Syſtem als wahr anerkennen müſſe. Darauf weiß ich Ihnen nur folgendes zu antworten: Bor Gott, im Gerichtähof des Gewiſſens und im Urtheile eine? jeden vollendeten Selbftdenferd Tann niemand glauben, was er nicht glauben kann, foll ed alfo auch nicht. Im Urtheile der buchſtäblichen und abfoluten Orthodorie dürfte aber der Grundfaß anders lauten und wenigftend in der Praxis jo audge- fprochen werden: Das ift wahr, das muß vollitändig geglaubt wer⸗ den, alfo glaube auch Du ed. In der buchſtäblichen Orthodoxie und in der Prarid dürfte wenig Unterfchied gelten zwifchen Glaubbarem und Unglaubbarem. Wer fih aber in feinen Gedantenreihen aus diefer Buchftaben-Orthodotie und aus diefer durchaus abfoluten Recht⸗ gläubigfeit zu dem milden Geift aller Orthodorie hindurch gearbeitet bat, der wird im katholifchen Kirchenſyſtem, fo wenig wie in irgend einem andern, die Nothwendigfeit des Glaubens nie über die Grenze der Ueberzeugung ausdehnen und fih mit dem Dahingeſtelltſeinlaſſen deſſen, was der andere nicht glauben fann, begnügen. Mehr weiß ih nicht zu fchreiben. Sie follten doch auch einnal die Edlen in der patriarchalifhen Burg zu Wernigerode befuchen, fügte er hinzu; Sie lommen jedesmal angenehın um Ihres Schwiegervaterd und um

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Ihrer eigenen Perfon wegen. Fenelon's Werke finden bei allen Freun⸗ den der Innigfeit Eingang, aber leider find die innigen Menſchen bei- nahe fo felten, wie die weißen Raben.

Mährend fih für Perthes in Holftein und Münfter das innere teligiöfe Leben in feft Iutherifcher und in feft fatholifcher Korm dar⸗ ftellte, wurde ihm zugleich Durch zwei bedeutende Perfönlichleiten ein religiöfe® Leben nahe gebracht, welches die Ausprägung in dogma⸗ tifchen und kirchlichen Formen überhaupt zurüdtreten ließ. Gräfin Luiſe auf Windebye, welche, wie ihr Gemahl Graf Ehriftian Stolberg, in ununterbrochenem Briefiwechfel mit Perthes ftand, machte mit geift- voller Lebendigkeit und ſcharfem Verftande immer von neuem die Be⸗ hauptung geltend, daß der Menſch nicht in Formeln oder Formen irgend einer Art fein innered Verhältnis zu Gott ausdrücken dürfe. Ach, mein lieber Perthes, ſchrieb fie einft, angeregt durch eine Schrift, welche. fie nad) ihrem Ausdrude unter alten wurmſtichigen Büchern entdeckt hatte, es ift fo gefährlich, den wahren lebendigen Glauben, Die rechte wirkliche Neligiofität in Dogmen faflen und durch Dogmen beftimmen zu wollen. Wie müde bin ih aller Formeln! Zwar ftrebe ih dahin, frei genug von allem Buchftäblichen zu werden, um in je- dem Nitus das Wefentliche von dem Zufälligen, den Geift von dem Buchſtaben unterfcheiden zu können und fo wenig Anftoß an dem ka⸗ tholifhen wie an dem indifchen Rofenfranz zu nehmen; aber, lieber Perthes, mit jedem Forfchen, mit jedem Streben im Geifte nach der Wahrheit wird mir das katholische Wefen widriger. Auf Claudius’ neues Buch freue ich mich fehr. So wenig ich eind mit ihm in alfem bin, bin ich e8 doch in den Hauptfachen ;. denn diefe find bei ihm nicht Buchſtaben, fondern That. Wer fih an Dogmen hält, fchrieb jie ein anderedmal, hat fich einen Planeten zum Polarftern genommen, und wie oft habe auch ich das Nordlicht der Nacht für Die Morgen- röthe ded kommenden Taged gehalten. Reſolut ſprach fie in einem fpäteren Briefe aus: Jeder Dogmatiker, der fatholifche wie der proteftantifche, der theologifche wie der philofophifche, ift mir ein Göpendiener.

Bon einem tiefen religiöfen Leben erfüllt, welches ſich gleichgil-

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tig, aber nicht, wie bei der Gräfin Luife, feindlich gegen dogmatiſche Faſſung verhielt, trat der Mater Philipp Otto Runge als eine wun⸗ derbar anziehende Erfcheinung Perthes gegenüber: von ftrengfter Sittlichkeit, kraftvoll am Körper in feinen gefunden Tagen, eine derbe, fernhafte Natur, dabei voll Luft und Humor. Kremden blieb er, ohne es zu wollen, tief verfhlofien, Freunden entfaltete er wunder⸗ bar fein innerfted Wefen. Munter,. reizend wigig, reich an Ideen, die fi mit Leichtigkeit entwidelten, wurde der Kern feines Weſens gebil- det durch einen ihm eigenthümlichen Sinn, welcher die großen Ge heimniſſe Gottes als offenbart in fombolifchen Darftellungen der Na⸗ hur eriheinen lieg. Wenn irgend jemand unter den Deutſchen des legten Jahrhunderts echte Myſtik und Theofophie repräfentiert, fo ift es Runge, äußerte Perthes ſich fpäter; denn in ihm wie in feinem anderm vereinigten ſich von innen heraus und ohne äußere Anregung die großartigen theofophifchen Anfchauungen Jakob Böhme's und die myſtiſche Liebesinnigkeit Sufo'd. Mit dem feierlichften Ernfte konnte Runge audfprechen, daß dem Künftler, welcher dahin fäme, die Kunft zur Religion zu machen, ein Mühlftein an feinen Hal gehängt und er erfäuft werden müſſe im Meere, da ed am tiefften fei; aber ein großer religidfer Inhalt fenkte ſich, ihm felbft oft unbewußt, auch den kleinſten Spielereien feines Stifte® oder Pinſels ein: überall fand er in den Erfcheinungen der Natur Bezüge auf da8 Geheimnid der Schöpfung, Erlöfung und Heiligung, und ald Aufgabe feined Leben? erfhien es ihm, diefe Bezüge heraudzugreifen und künſtleriſch geftaltet darzuftellen. Nicht immer waren feine Ahnungen zugänglich für dritte, und vieles in feinen Compofitionen blieb deshalb anderen un- verftändlich. Um Auffchluß gebeten, pflegte Runge lächelnd zu ante worten: Wenn ich das fagen fönnte, fo hätte ich nicht nöthig gehabt, ed zu malen. Aehnlich wie Novalid zur Poefie, ftand Runge zur Malerei, aber dennoch fanden nad) Goethe'3 eigenem Ausdrud Die Darftcllungen einer neuen, wunderfamen Art, in denen überall de? Künftlerd jchöne®, herzliches Talent und frommer, zarter Sinn fi) äußerte, auch in Weimar guten Eingang. Runge ift, fehrieb Goethe 1810 an Perthes, ein Individuum, wie fie felten geboren werden.

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Sein vorzügliches Talent, fein wahres, treued Weſen ald Künftler und Menfch erweckte ſchon längft Neigung und Anhänglichkeit bei. mir, und wenn feine Richtung ihn von dem Wege ablenkte, den ich für den rechten halte, fo erregte er in mir fein Misfallen, fondern ich be- gleitete ihn gern, wohin feine eigenthümliche Art ihn trug. Achtzehn Jahre alt, war Runge 1795, um in dem Haufe feines Bruders die Handlung zu erlernen, von Wolgaft, feinem Geburtsort, nad Hamburg gefommen. Zwar verließ er die Stadt ſchon 1798 wieder, um ſich in Kopenhagen und Dresden für die Kunft auszubil- den, und fehrte erft 1804 zurüd. Das zwijchen ihm und Perthes ſchnell und innig entftandene Freundfchaft3verhältnis erlitt hierdurch feine Störung, fondern feßte fi) bis zu Runge's frühem Tode im Jahre 1810 mit wachfender Stärke fort. Du haft mich ganz verftan- den, fchrieb 1802 Runge an Perthes; was Du von mir hältft, das halte ih auh von mir und mehr nicht. Noch in fpätem Alter war für Perthed der Eindrud unvergeßlich geblieben, den er 1802 empfing, als er mit Runge die Dresdner Gallerie befuchte. Geſtern Nachmittag habe ich einzig und allein Raphaels heilige Familie anges jeben, fchrieb er damals feiner rau, und hoffe, daß diefer Himmel nie vor meiner Seele vergehen foll. Solche Schöpfungen geichaffen zu ſehen von unfere® Gleichen, ift etwas fehr großes; jo unmittelbare Ausflüffe und Zeugniſſe ded göttlichen Weſens in und find Gemälde diefer Art, dag Worte ihnen nicht verglichen werden fünnen. Töne find e3 vielleicht in einem noch höheren Sinne, find vielleicht noch Gott ähnlicher, aber fie find vergänglich und find mur Ahnungen.

- Der nahen Berührungen mit Menfchen, welche wenn aud) in ver- jchiedener Weife ein vorwiegend inneres Leben führten, waren freilich viele, aber angeborener Sinn und ein Lebendberuf, der die größte Thätigfeit verlangte, hielten dennoch das Gleichgewicht, und zwei ſehr bedeutende Männer, welche in naher Verbindung mit Perthes ftanden, Graf Adam Moltfe und Schönborn, erregten und belebten immer von neuem das leicht zu belebende Interejje in Perthes für die Ver- hältnifje des irdifchen Lebens.

Graf Adam Moltke, eine herrliche Männergeftalt mit edler Stirn

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und bligendem Auge, Tebte feit den Anfange etwa dieſes Jahrhun⸗ dert? auf Nütfchau, einem holfteinifchen Gute, welches er als geringen Erfag für das verlorene Bamilienlehn auf Seeland erworben hatte. Meberbraufend an Kraft und reich an Phantafle, war er mächtig von den erften Eindrüden der franzöfifchen Revolution ergriffen worden und gehörte Jahre lang zu ihren feurigften, gewiß aber auch zu ihren rein- fien Anhängern. Nachdem er einen großen Theil Europa’3 gefehen und von manchem herben Weh des Lebens getroffen war, zog er ſich nad Nütſchau zurüd, wo er fern von Staatögefchäften, aber erfüllt von politifhem Intereſſe in gewaltfamer Refignation die eiferne Zeit zu dulden fih bemühte. Nur weniger Stunden Schlaf bebürftig, fuchte er das innere Drängen durch ernfted und nachhaltiged Studium. der Geſchichte zu ftillen; namentlich die Entwidelung der italienifchen Republilen des PMittelalterd kannte und verfolgte er bi® ind einzelne. Oftmals unternahm er. e3, das eigne innere Leben dichterifch zu ge⸗ ftalten oder mwohlgefannte politifhe Berhältniffe vergangener Tage hiftorifch darzuftellen , aber er vermochte nicht für Bilder, die in feinem. Innern fi) bewegten, die Beitimmtheit und.Klarheit zu gewinnen, um fie hinaus in die Außenwelt treten zu laffen. Berfagt blieb es ihm deshalb, durch Schrift oder That in die Gefchichte einzugreifen ; aber wie er in den Jahren feiner heißen und ftürmifchen Jugend ge= waltfam hinreißend auf jeden eingewirkt hatte, der ihm perfönlich. nahe trat, fo führte er auch noch als Mann rafche3 Leben allen Krei⸗ fen zu, die er berührte. Er war zur Vollendung feiner Natur gedie- ben, äußerte ſich Niebuhr 1806 über diefen feinen Tiebften Jugend⸗ freund; er hatte den Löwen in fih, den zu raftlofen Geift, gezähmt, und fein morgenländifches Feuer zur Belebung griechifcher Geftalten gewendet. Ä Perthes war zuerft 1799 in Kiel mit Moltke zufammengetroffen. Welch ein Menfch, fehrieb er im Januar an feine Frau, welche Kraft und welches Bändigen der Kraft. Caroline, ich wollte, Du fönnteft ihn fehen, diefen tollen Moltfe, wie fie ihn nennen. -Mir fteht er fo body wie einer, und hat ein liebes, Föftliches Weib. Wenige Mo- nate fpäter waren beide Männer in dem nächften und offenften Ver⸗

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hältnis. Danken Sie der Gräfin für ihren lieben Brief, ſchrieb Per- thes ſchon im Herbfte 1799 an Moltfe. Karoline und ih mögen er⸗ ſtaunlich gerne lefen, was fie fehreibt, und ich wollte, ich hätte viel jehr Interefjantes und Wichtiged mit ihr zu correfpondieren. Viel» fach fam Moltke damals, wie in fpätern Jahren, nah Hamburg und dann war ed um die Ruhe der Nacht für Perthes gefchehen. Abende zwiſchen neun und zehn, wenn Perthed aus dem Gefhäfte zu Frau und Kindern ging, fand Moltke ſich ein und nad wenigen Augen- bliden faßen fich beide Männer im heftigen, leidenfchaftlichen Gefpräche gegenüber, und mehr als einmal mußte die aufgehende Sonne die nie Einigwerdenden erinnern, daß es Zeit fei aufzubrechen. Einft, es war im Jahre 1803, hatte das Gerücht, Perthed werde feine Zah- lungen einftellen müſſen, Moltke in Florenz, wo er fi) damals aufs hielt, erreiht. Mit allem, was ich habe, helfen Sie fogleich meinem Freunde, wenn ihm noch zu helfen ift, ſchrieb Moltke feinem Ge- (häftsführer in Hamburg, und legte dem Briefe die nothigen Voll⸗ machten bei.

Dem Grafen Moltke war faſt in allem der Legationsrath Schoͤn⸗ born entgegengeſetzt, deſſen Andenken Riſt durch eine treffende Schil⸗ derung der Vergeſſenheit entzogen hat. In den Jahren 1802 bis 1806 wohnte er als Gaſt in Perthes' Haufe. Oft verließ der ſeltſame Mann, deſſen Körperbau unanſehnlich war, deſſen ſtark bezeichnete Geſichtszüge aber Schärfe und Tiefſinn ausdrückten, Wochen hindurch die Wohnung nicht, ſondern freute ſich des bequemen Schlafrocks und der Unordnung ſeines Zimmers, oder vergrub ſich in den Bücher⸗ ſchätzen, welche die Handlung darbot. An ihn, der dem fiebenzigften Lebensjahre nicht mehr fern ftand, hatte in der großen, vielbewegten Stadt niemand einen Anſpruch zu machen; nur durch feine Gewohn- heiten und durd feine phyſiſche Trägheit, außerdem aber durch nichts, wollte ex fich in diefer lang erfehnten Unabhängigkeit befchränten laſ⸗ fen. Nicht felten fahen ihn die Hausgenoſſen in langem, fchlottern- dem Oberrode, den Stod unter dem Arm, um die Mittagdftunde aud der Hausthür treten, fi nach allen Weltgegenden wenden, wählend umfchauen, ſchwanken, bei welchem Freunde oder in welchem Gafthofe

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er den Mittag zubringen wolle, und dann nad einiger Zeit in das Haus zurüdkehren, um auf feiner Stube zu bleiben. In Perthes' Familie wie ein Glied derfelben angefehen, ging und fam ex. nach Gefallen, freute fich des lebendigen, wechfelnden Verkehr? und konnte dennoch, ohne zu reden, viele Stunden zerftreut oder in träumerifcher Behaglichkeit unter den Kindern oder den beſuchenden Freunden hin» bringen. Schweigen mar ihm keine Laft, bemerkt Rift, auch nicht, wo Unverftändige laut wurden. Später machte fich etwa der ftille Un- wille durch eines jener Kraftworte Luft, die er der derben niederfäch- ſiſchen Mundart abzuborgen gewohnt war. Wenn aber Schön. born, was Perthes meifterhaft verſtand, zum Reden gebracht ward, fo bildete er fogleich den Mittelpunkt des Kreifed, in welchem er ſich befand, und der feltne Schab von Gelehrſamkeit, von Lebenskennt⸗ niffen und Lebenderfahrungen, welcher in ihm verborgen lag, that fich in überrafchenden Wendungen und in einer kurzen Kernfprache fund, die ſtets das unmittelbarfte Erzeugnis des Augenblidd war. Schön bom, 1737 geboren, war der Sohn eined vom Harz nad Holftein übergefiedelten Pfarrerd. Er hatte fi in manchen Zweigen der Wiſ⸗ ſenſchaft mit gewaltfamer, ſtoßweiſer Kraft verfucht, dann Jahre hin- durch in dem geiflvollen Kreife des Grafen Bernftorff,in Kopenhagen und Hamburg gelebt und unter den Beiten feiner Zeit als ihred Glei- hen gegolten. Durch Bernftorffd Vermittelung wurde er. 1773 als dänischer Eomftlatfecretär nach Algier gefendet. Die Herren Seeräu- ber hier rüften ihre Kaper, fhrieb er von feinem neuen Wohnort aus an einen Freund; alddann können für einen, manchmal für zwei Monate feine Schiffe herauskommen. Daß euch der Geier hole, ihr Raubvieh, aber daß er-hunderttaufendmal die europäifchen Regierun⸗ gen hole, welche dasfelbe füttern! Daß Algier noch fteht, heißt es in einem andern feiner Briefe, hat mich, nachdem ich es felber ge- jehen, erflaunt, und ebenfo der kurzfichtige Geierhunger der europaͤi⸗ ſchen Bolitit, welcher über ein Quentchen Gegenwart herſtürzt und einen Gentner Zukunft liegen läßt. Man unterhält und füttert dieſe Nefter bier, um denen, welche fie nicht füttern fönnen, die Schiffahrt fauer zu machen. Nach einem vierjährigen Aufenthalt in Algier

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ging Schönborn als daͤniſcher Legationdfecretär nach London, wo er bi8 zum Jahre 1802 blieb und mehreremale den Poſten eines Ge⸗ ſchaftetraͤgers verſah.

Geſtern Abend habe ich wieder einige Stunden mit Schönborn

philofophirt, ſchrieb Niebuhr 1798 aus London; wir haben aus freiem Erguß des Herzend geredet. Er ift fehr originell im Ausdrud, Fraft- voll, bisweilen felbft bis zum Unfeinen, von fehr tiefer Philofophie und audgebreiteter. Kenntnis der Alten, beſonders ihrer Philofophie und Mathematif; ein außerordentlich ftarfer Kopf und .auffahrend gegen Widerfprudd. Sein kühner Geift, der eben die Auslegung der Mythologie fpielte, gewährte mir eine intereffante Unterhaltung. Wenn er, heißt e3 in einem andern Briefe Niebuhr's, fein eigenes tief audgedachted und vielfach erwogenes Syſtem in weit verfolgter Aus⸗ dehnung und unter den kühnſten Wendungen zeigt, fo erhellt er den Geift feined Zuhdrers und reißt in zu ganz neuen Ideen hin. Wenn aber eben. diefer herrlihde Dann von der Tiefe der. Metaphyſik zum Erdboden des gemeinen Lebens fteigt, fo iſt er gar nicht mehr derfelbe. Er gleicht einem Mathematiker, der die Erde in Gedanken ausgemefe fen hat, aber darum ihr Antlit doch nicht kennt.

Nach faft dreißigjähriger Abwefenheit kehrte Schönborn, fünf und fechzig Jahr alt, nach Deutfchland zurüd, welches er mährend diefes langen Zeitraumes nur ein einzigedmal und nur auf kurze Zeit ge fehen hatte. Wie wenn Jahrhunderte zwifchen feinem Fortgange und feiner Rüdtehr gelegen hätten, fand er Deutfchland wieder. Als er ed verlafien hatte, mar das erfte Jahrzehend nach dem fiebenjähri« gen Kriege noch nicht völlig abgelaufen; an Friedrih dem Großen ſuchte Deutfchland zu erftarken, fuchten die Deutfchen fich zu wärmen. Leffing, Schönborn’? Genoffe und naher Freund, hatte wenige Jahre zuvor feine Hamburgifche Dramaturgie, hatte Diinna von Barnhelm und Emilie Galotti vollendet, und ald Schönborn auf der Reife nach Tranfreih und Algier den Herrn Rath Goethe in Frankfurt befuchte, fah er dort auch deſſen Sohn, den fingularen jungen Menfchen, wel« her foeben den Götz gefchrieben und bald darauf an Schönborn nad) Algier meldete: Auf Wieland habe ih ein ſchändlich Ding druden

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laſſen unterm Titel: Götter, Helden und Wieland. Als Schön- born 1802 nach Deutichland zurüdkehrte, gehörte felbft der Revolu⸗ tionsjubel fhon zu den Traditionen einer vergangenen Zeit und Na⸗ poleon biendete Europa; Leffing, zwanzig Jahre todt, war vorläufig vergeſſen und Goethe rüftete fich ſchon, den Ueberfchlag eines gelebten Lebens zu machen. In London, im Mittelpunfte der Gefchäfte, hatte Schönborn die Zeit der großen politifchen Entwidelungen verlebt und mit einer Kenntni® Englands und deifen Beziehungen zu Europa fehrte er zurück, wie fie in gleich hohem Grade felbjt Gens ſchwerlich beſaß. Auch feine alten Leidenfchaften für die Philofophie hatten ihn nicht verlaffen, aber die Hoffnung, daß der Menfch die Wahrheit fin- den könne, war längft von ihm gewichen. Einen vollendeteren Step- tifer, äußerte Perthes fpäter, hat es vielleicht nie gegeben, Gott, ‘Freiheit, Unfterblichleit waren die Gegenftände, die er ftet3 mit feinem Berftande befämpfte, gerade deshalb vielleicht, weil fie feft begründet in feiner edlen Natur fih ihm unmiderftehlih aufdrängen wollten; denn freiheit, die allgemeine wie die individuelle, war fein Idol und diefe wollte er auch durch fein eigene? Inneres fich nicht befchränfen lafien. Die Schranken feine? eignen Ich erfüllten ihn mit Zorn, er riß und big unaufhörlich in diefe Kette wie ein alter Löwe. Füge die- ſes königlichen Thiered waren auch in feinem Gefichte, und wenn er zuweilen an unferem Tiſche aus Altersſchwäche einfchlummerte, fo fliegen oft die Augenbraunen wie Mähnen und zeigten, daß der Geift im Innern fortfämpfte. Er ftarb im achtzigften Jahre; acht lange Zage dauerte der Kampf mit dem Tode; er wollte das Leben nicht laffen; er müſſe angefchmiedet fein an das Leben, fagte der Arzt. Seiner tiefiten Cigenthümlichleit nach verlangte Schönborn in der . Philofophie, wie im Leben, nur Conſequenz und Tüchtigfeit, und wo ex diefe fand, glaubte er auch einer Seite der Wahrheit gewiß zu fein. So leidenfchaftlich heftig er jeden falfchen Schein haßte, fo anerken⸗ nend war er gegen jede auch noch fo entgegengefepte Ueberzeiigung, wenn fie wirklich Ueberzeugung war. Unmittelbar nad) feiner Rüd- fehr aus England, als er, aller Geſchäfte entledigt, mit dem neuen in Deutfhland aufgewächſenen Gefchlechte ein Leben anfnüpfen wollte,

Perthes‘ Leben. I. 4. Auf. 8

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ebenfo frifch wie das, welches er einft mit dem nun vergangenen ge führt, wurde er durch Klopftod- und Claudius mit Perthes befannt und wenig Wochen fpäter fein Hausgenoſſe. Damals noch nicht an | den ruhelos und unftet über die Erde hingehenden Geift der Gräfin Katharine Stolberg gebunden, verweilte er Jahre hindurch in dem Haufe, das er liebte, und eine neue Welt von Intereſſen und An⸗ ſichten, Kenmtniffen und Erfahrungen wurde dur ihn für Perthes

eröffnet. | |

Die verfchiedenen Verhältniffe und die bedeutenden Menfchen, unter denen Perthes fich bewegte, mußten wohl einen durchgreifenden Einfluß auf ihn gewinnen und ihn zu einem neuen Menfchen heran- bilden. Ich weiß es, fhrieb er einft dem Schwarzburger Oheim, Sie denken oft an ihren Friß; aber der Fritz, an den Sie denken, bin ich nicht mehr. Sie kennen nur den kleinen Fritz, mich müflen Sie erft wieder fennen lernen. Wo foll ih anfangen und aufhören; um Ihnen zu fagen, wer und mas ich Bin? Sie kannten mid) ala ein Kind, wel- ches Gutes hatte, welches man lieben fonnte und welches ſich gern fieben ließ und mit Herzlichleit wieder liebte; ala ein Kind, welches leicht begriff und nicht ohne Wi war, aber aud) eine äußert gefähr- liche Lebhaftigkeit und eine bi? zur Kränklichkeit getriebene Reizbarkeit beſaß. Seitdem ift manches Jahr vergangen was ift von alle dem, was das Kind in ſich hegte, geblieben, wad dazu gefommen, was hat das Kind Kindliched an fich behalten? Wollte ich auch verfuchhen, den Gang, den ich genommen, treu Ihnen darzulegen, wer fteht mir denn dafür, daß ich felbft ihn wahr und wirklich fenne?

Bon frühefter Kindheit an hatte Perthes unter mancher Angft und Roth geftrebt, fih und fein ganzes Thun und Wollen in Einflang mit dem einigen Willen zu bringen. Fortſchreitend an Bildung und Erkenntnis, hatte er fein Ziel auf immer geiftigerem Wege zu erreichen geſucht und dennoch mußte er ſich jagen, daß der Wille tief in feinem Innern ein anderer fei als der Wille Gottes, und daß die Neigung, den eigenen Willen Gott gegenüber durchzuſetzen, felbft dann bie ftärffte unter allen feinen Neigungen bleibe, wenn die innere Angft hierüber größer werde als der Leichtfinn und der Trotz. Als Per-

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thes nun, beunruhigt durch ein Bemußtfein diefer Art, mit fo man hen bedeutenden Perfönlichkeiten zufammengeführt wurde, welche die immer tiefere Erkenntnis der Stellung des Menfchen zu Gott als ihre unmittelbare und wefentliche Lebensaufgabe betrachteten, mußte die Entwidelung und Befeftigung feine? geiftigen Sein? zunädhft und vor allem eine religiöfe werden. Lange ſchon war ihm fein früherer Standpunkt, von welchem aus der Menfch fi) vermöge feines ver⸗ fländigen Willen? zu einem vernünftigen Wefen auszubilden beftimmt fei, als ein befchräanfter und verkehrter erfchienen. Geftern war N. bei mir, fchried er 1799 an Caroline; er hat mir durchaus. miöfallen. . Seine regelrechte Berftändigkeit hat ihn ausgetrodnet und ihm das Herz weit hinein zur Schale gemacht. Mit aller feiner vielgerühmten Beionnenheit ift ihm höchftens nur gelungen, einer. tabellarifchen Sit- tenlehre genug zu thun; aber über den fogenannten guten Willen, immer Recht zu thun, hat er Geift und Seele verloren. Den Anre- gungen feined inneren Genius darf er nicht folgen, denn er muß fich ja befinnen, und dennod hat ihn feine Beionnenheit nicht fchügen können gegen gemeine Sinnedart, die doch wahrlich in feiner Natur nicht lag. Ä

Das Gefühl, ald dad unmittelbare Bewußtſein feiner Seele, hatte Perthes lange ſchon als die einzige Kraft erfannt, welche den Men» ſchen frifh und muthig, Gott und der Welt gegenüber, durch das Le ben zu führen vermöge. Aufgegeben hatte er die unter Schillers Einfluß entftandene Hoffnung, dad Gefühl durch Bermittelung der Kunft rein und wahr bervortreten zu fehen. Könnten wir, fchrieb er an den Grafen Moltke, das Phufifche fo erheben und veredeln, daß es mit dem Geiftigen ein Ganzed, ein Einklang würde, fo wäre Die Menfchheit vollendet. Aber aud dem Traume einer ſolchen Hoffnung werden wir fchnell genug gerifjen; denn Jammer, Roth und Tod fte- ben überall und zur Seite. Nun horchte Perthes unter Jacobi's Einfluß auf die Stimme Gottes, welche unmittelbar zum Gefühle und im Gefühle rede. Aber Zwiefpalt blieb in feinem Innern nad wie vor. Aus zwei Wefen befteht der Menſch, fchrieb er an Jacobi, das eine lacht das andere aus, und dieſes andere hat Beradhtung gegen

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jenes. erfte. So ift® bei jedem Dienfchen, der nicht eins mit ſich ges worden ift. Sin den holfteinifchen und münfterländifchen Kreifen aber, denen er nahe getreten war, hatte Perthes Menſchen gefunden, die in einer früher ihm nicht vorgefommenen Weife ein? mit ſich er- fchienen. Daß es die Liebe tief in ihrem Innern war, welche ihnen mitten im Gewirre ded Lebend Ruhe, Freudigkeit und Einigkeit nicht verloren gehen ließ, wurde ihm gewiß. Nur eine überfchwengliche ‘dee, fchrieb er an Moltfe, kann den Menfchen oben halten, ihn Noth und Tod, Himmel und Erde vergeffen machen. Jedes ſolches Ber- geſſen ift Größe, aber die Größe kann gut und kann böfe fein je nad dem Inhalte der dee, durch die fie hervorgerufen ift. Wir fehen Menfchen mit Engelsfinn und Menſchen mit Teufeldfinn dem Gräß- fichften feft und fur&htlod entgegen gehen. Groß ift noch nicht gut, obgleich gut immer groß fein muß. In Gott aber und in.un®, den von ihm gefchaffenen Wefen, ift ein Etwas, welches immer groß und gut in einem ift, und dieſes Etwas ift die Liebe. Mit ihr ift au der Schwache groß, und mas ohne fie die höchfte Größe ift, zeigt und der Teufel. Der Stein ded Anſtoßes bei Dir, lieber Moltke, fiegt darin, daß Du der chriftlichen Liebe genug in Deinem Herzen haft, aber der Römergröße zu viel in Deinem Kopfe. Warum doch aber an Größe denken? Größe für und ift Doch nur ein poetifcher Traum. Haben wir die Liebe zur überfchwenglichen Idee in und gemadht, jo wird die Größe fich von felbft finden. Nur wer die Liebe hat, fihrieb er an Jacobi, Tann das Räthſel unferes Seins und unferer Freiheit Töfen. Liebe ift die fichtbare Geftalt der Frei—⸗ heit. Wer liebt, und auch wer nicht liebt, der kann erfahren, wenn

er will, daß die Liebe frei ift, wie nicht® anderes auf der Welt. Ich

bin ein Knecht, wenn ich nicht liebe, und ich fann nicht lieben, wenn ich Knecht bin, und. wer liebt, weiß, was fein anderer weiß, daß die eigene freiheit und der Wille Gotted eines ift und dasſelbe. Um die Liebe, als bleibenden Zuftand der Seele, auch für fih gewinnen zu können, fühlte Perthed, daß er der Dermittelung einer menfchlichen Perfönlichkeit bedürfe, und niemand auf Erden fand ihm näher als Garoline. Dur fie und nur dur fie glaubte er das

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Weſen diefed Lebens, wie er die Liebe nannte, feinem Leben einver- leibt zu fehen. Daß ich etwas in mir habe, was lebt und ewig leben wird, ſchrieb er an feine Frau, fühle ich mit einer Gewißheit, deren Sicherheit durch feine Worte fich bezeichnen läßt; aber ich fühle auch, daß dieſes mein ewiges Ich nur in der Liebe zu Gott feine Be- friedigung finden fann. Jedem, der nach diefer Liebe ftrebt, dem e3 Ernſt hiermit ift, der niederfällt, hebt, betet und danft, dem wird der Herr gnädig fein, ſelbſt wenn er ein Stüd Holz anbeten follte ftatt den Gefreuzigten. Denn da der Unfidhtbare für und hinter dem Borhange der fichtbaren finnlichen Welt fteht, ift jedes Medium, durch das ich wagen darf mich Gottes Herrlichkeit zu nähern, ein heiliges Erlöfungsmittel von der Sünde und feine Abgötterei. In mir tobt das Böfe und ift mächtig. Deine Gebete find nur Nothſchüſſe und hel- fen nicht, denn ich bin nicht, wie Du, durchdrungen von der Heilig- feit des Höchften, von feinem Fichte und feinem Glanze, aber von Dir, Du meine Heilige, bin ich durchdrungen, und durch die Liebe * zu Dir werde ih die höhere erlangen, deren ich unmittelbar nicht theilhaftig werden fann. Halte Du Dich mader, Du fromme Garoline, heißt e8 in einem anderen Briefe, und made mid durch Dich ſo fromm wie Dich.

Bald indeſſen wurde Perthes gewahr, daß die Liebe zu Gott ſich nicht aus dem, was er die Liebe zu den Menſchen genannt hatte, gleichſam von ſelbſt entwickeln werde, weil ſie nicht allein dem Grade nach, ſondern auch dem Gegenſtande und deshalb auch dem Weſen nach ein von dieſem Verſchiedenes ſei. Ungeachtet er der reiner und ſtaͤrker werdenden Liebe zu Caroline ſich feſt und ſicher bewußt war, wich er dennoch ſcheu vor Gott zurück. Wie eine für die Liebe un⸗ durhdringliche Mauer fah er zwifchen Gott und ſich das eigene ver- gangene Reben und den gegenwärtigen Zuftand feine® Innern ftehen, in welchem er ald Grundrichtung ein Seinwollen ohne Gott und ein Ankämpfen gegen Gott nicht verfennen konnte. Unmöglich erfchien ed ihm, daß durch den Menfhen die Scheidung ded Menfchen von Gott überwunden werden könne. Meine innere Angft fordert jemand, der ftatt meiner genug thut, fhrieb er an Caroline, und Ahnungen

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fteigen in mir auf, welche einen Gott verlangen, der ald Menfch die Menfchenqual gefühlt hat, Schon auf manchen Stab habe ich mich geftüßt, der nicht gehalten hat, und manchen Stern habe ih vom Himmel fallen fehen. Nur Wahres, aber nicht die Wahrheit wird und durch die Wiffenfchaft gegeben. Manches Tann fie meffen, aber ausmeſſen kann fie nichts, und ewig unbegreifbar werden die großen Beheimniffe des Leben? fein und bleiben. Sind fie aber deshalb we⸗ niger da, oder weniger gewiß und lebendig?

Bas nicht gewöhnlich, nicht wiederholt, fondern nur einmal ſich zuträgt, fehrieb er an Moltfe, nennen wir unnatürlih, und wenn wir es nicht felbit betaftet haben, nennen wir es unwahr, und bes - zeichnen den Glauben daran ald Aberglauben; aber freilich die Natur felbſt, die doch dad unnatürlichite Wunder von allen Wundern ift, laſſen wir und gefallen und finden fie natürlich, Und wir, die wir mit unferer ganzen Gefchichte nur ein Moment des großen Naturwunders bilden, follten über Natur und Unnatur eines einzelnen Ereigniſſes entfcheiden fönnen? Freilich nicht hier und da dürfen die großen Ge- heimniffe der Welt gefucht und gefunden werden, aber eine Ahnung derfelben ift und eingeboren ; unfere Seele ift von Natur eine ahnende Chriftin, und mas in un? ald Ahnung lebt, hat und Gotted Gnade außer und als Wirklichkeit offenbart. Jacobi hatte gegen Per- thes geäußert: ch werde heute noch ein Chrift nach Claudius’ Art, wenn man mir die Fortdauer des Pfingftwunderd gewiß machen kann; aber kein hiftorifcher Glaube kann mir das Pfingfiwunder erfegen. Nichts berechtigt den einzelnen Menfchen, entgegnete Perthes, das Pfingfiwunder deswegen für nicht fortdauernd zu halten, weil es in ihm noch nicht wirkſam geworden if. Für Perthes ftanden Die Thatſachen der Offenbarung als hiftorifche Ereigniſſe unzweifelhaft feft, aber von der Gnade Gottes hängt ed ab, äußerte er gegen Moltte, warn und wie flar? fie in meinem Innern lebendig werden follen. Ein Ringen und Arbeiten entftand nun in ihm, damit, wie er ſich ausdrückte, der nie erfchaffene Sohn des Vaters auch fein Gott wirf- ih werde, die ihm unableugbare Wirklichkeit der Menſchwerdung Gottes verlangte er für fih als bie ihn in feinem Sein ausfüllende

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Idee. Run trat die heilige Schrift in ihrer ganzen Macht ihm an die Seele, und helfend, belebend und befeftigend ftand ihm Claudius zur Seite, theild in dem immer inniger und näher werdenden per- fönlichen Verkehr, theils durch feine Schriften. Befonderd lebhaft fühlte er fih duch den „einfältigen Hausvaterbericht über die chrift- liche Religion‘ in dem fiebenten, 1803 herausgefommenen Theile dex gefanmelten Schriften ergriffen. Er gewann eine Sicherheit der Ueber⸗ jeugung, eine Ruhe des innern Lebens, wie er fie früher nie gefannt hatte. Du fragft, wie es jegt mit mir fteht, ſchrieb er. Lieber Moltte, ich weiß, was Wahrheit ift, ich weiß, was ber Menſch ift und was er foll, ih weiß, was in der Welt zu finden ift, ih weiß, daß dev Menſch, je reicher er in fich ift, um fo ärmer in der. Welt wird. ch danke Gott für diefe Erkenntnis und dafür, daß ich fühle, welch ein armer Sünder ich bin ohne Hilfe und ohne Troft aus mir felbft. Un- begreiflich find mir jest die Menſchen, die ſich mit ſich begnügen, oder, wenn fie dad nicht fönnen, von einer Frucht nach der andern genie- Ben, in der Hoffnung, fatt zu werden, und nicht mit Schreden fehen, daß der Satte verloren ifl. Meine Jugend war friſch, beißt ed in einem Briefe an Caroline, und ein tiefe? Sehnen, ein heftige® Streben nad) oben, lebendiger wohl als jept, war in mir. Dage- gen habe ich nun eine klare Einficht des Weſens; ich fühle Kraft und Stärke, ich habe eine Feftigkeit und Traumlofigfeit, wie früher nie, ich weiß, Gott und diefer Zuftand ruhiger Gewißheit ift freilich nicht fo wohlthaͤtig, nicht fo ſchmeichelnd, möchte ich fagen, als jenes Ah⸗ nen und Sehnen, aber wahrlich er ift ein ſicheres Zeichen der Wahr⸗ beit. Wäre der Heftigfeit der Leidenfchaft nicht zu viel und das Ge⸗ drange der Welt nicht zu arg, fo würde es freilich beifer um und ſtehen; aber es ift Bermeffenheit zu fordern, was unfer Gott und bier nicht gewähren will. Ungeſtörte innere Sicherheit und volle Ruhe war auf diefer Welt nur einem möglich, und diefer eine war der menfchgemwordene Gott. Liebe Caroline, wenn wir lernen uns begnügen und und in Zeit, Umftände und Umgebungen möglichlt Har und ruhig zu fchiden, fo fördert da8 und mehr als alled Quälen, Berlangen und Drängen nah einem Ziele hin, welchem wir wohl

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durch Gottes Gnade und nähern, das wir aber hier uf Erden nie erreichen fönnen.

Für die Milde Ihres Briefes, fhrieb er an Jacobi, in welchem Eie die Scheidung unferer innerften Ueberzeugung audfprechen, fage ih Ihnen, mein väterliher Freund, den innigften Dank. ch habe nur noch anzuführen, daß ich durch die Worte: der philofophifche Un- glaube genüge mir fo wenig, wie der poetifche Aberglaube, mich ge- wiß nicht zu dem befennen wollte, was Sie tadelnd Romantik nen» nen. Gegen das loſe, wilde, wüfte und nichtige Hinundher glaube ich ficherer geftellt zu fein ald andere, weil ih mich an das geoffen- barte Wort Gottes halte, und dieſes Wort allein ift.über und. Alles andere ift nur in und und ſchweift, mag ed nun philoſophiſch niet- und nagelfeft oder romantifch buntfchedig fein, umher, bis es endlich findet, daß alles eitel fei. Mich ftört wie Sie Jean Paul’? Schwan- ten, fo oft ich feine Schriften leſe. Wohl verlangt auch er Wahrheit und feſten Inhalt des Glaubens, aber dennoch kann er es nicht laſſen, den Gottmenſchen hineinzuziehen in die Darſtellungen einer nur menſchlichen Phantaſie. Meſſiaden aber, mögen ſie nun von Klop⸗ flo oder von einem andern fein, werden nie gelingen. Es iſt gewiß bei weitem mwürdiger, äußerte er, als er das nad) feinem Aus- drude unfäglih dumme Buch: Scenen aud dem Geifterreiche, gelefen hatte, durch Philofophieren zum Thoren zu werden, ald Geburten der eigenen Einbildungsfraft auf religiöfe Wahrheiten zu pfropfen. Winckelmann's Briefe, wie Windelmann felbft, haben mir, fo in- tereffant fie find, wenig gefallen, heißt es in einem andern Briefe an Jacobi, und Goethe thut Windelmann zu viel Ehre an, wenn er ihn einen gründlich gebornen Heiden nennt und ihn gleihfam zum Repräfentanten feiner eignen Welt» und Menfchenanfhauung macht. Schön und wahr finde ich dagegen die Entwidelung des Goethe'fhen Heidenthums, welches fo fcharf und beſtimmt wie. fonft nirgends al? der andere Pol des Chriftentbums erfcheint: auf der einen Seite Stärke und Einheit durch die Liebe, auf der andern Seite Selbftver- laß. Das Chriftenthum ift ein Berliehenes und im Chriftenthbum wird alles fortdauernd durch die Gnade Gottes gegeben und durch die Liebe

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empfangen. Das Heidenthum ift die Natur und im Heidenthum: ift jedes Product ein Selbft. Die religiöfen Gefühle des Menfchen er- fheinen als ein Erzeugnis der Natur; jedes Gefchöpf fol als fich ſelbſt fchaffend feft und rein auf feinen eignen zwei Füßen ftehen; der Menſch foll alles genießen, allem widerftehen, alles Unvermeidliche leiden mit eigner voller Kraft. Heidenthum und Chriftenthum er⸗ fhöpfen, wie mir fcheint, alle®, und das zwiſchen ihnen Liegende, hab’ ed nun Namen, wie es wolle, ift immer nur ein inconfequente® Bruchſtück, ift Lappenwerk und Eitelfeit; es gibt nur Demuth oder Stolz. Daß Goethe den ihn entgegenftehenden Pol haft, ift natür- id, und warum wollte der Chrift nicht einen vollen Feind lieber fih gegenüber haben als zehn hinkende Schwaͤtzer? Es verſuche nur einer ehrlich, ein Goethe'ſcher Heide zu werden und wirklich auf eig- nen Füßen zu ftehen, das wird ihm Arbeit genug foften und dem Chriſtenthum viele Profelgten zuführen. Freilich ich habe über mein Lob des Goethe'ſchen Werkes eine tüchtige Lection von der Gräfin Zuife erhalten, aber indem fie fih auf Reinhold beruft, beweiſt fie - felbft, wie ſehr ich Recht, fie Unrecht hat. |

Im Frühjahr 1805 verließ Jacobi Holftein, um fich nach Mün⸗ chen überzuſiedeln. Gott ſei mit Ihnen! ſchrieb ihm Perthes zum Abſchiede. Welchen Dank ſoll ich Ihnen, der Sie meine Entwickelung beſtimmten, ſagen! Sie haben mich die Ueberzeugung, die religiöfe Gewißheit, die ich jest in mir habe und in Ewigkeit haben werde, gewinnen laffen, indem Sie mir die Ueberzeugung aufdrängten, daß Eie, ih muß Ihnen das fagen, nicht fanden und nicht finden, was Sie fuhen. Kein anderer ald Sie hätte mid) von der Nichtigkeit des Eignen überzeugen fönnen, aber was Sie mit Ihrem Herzen und mit Ihrem Kopfe nicht fallen, nicht erhalten und halten konnten, dad mußte auf anderem Wege ald auf dem Jhrigen zu ſuchen fein. 2eben Sie wohl! Gott fegne Ihre Wege und alle®, was Sie thun! |

Unter Mühen und Aengſten hatte Perthes nach langen Irr⸗ und Abwegen die chriſtlichen Heilswahrheiten gewonnen, nun aber auch gewonnen als ein Stück des eignen Lebens. Freilich fie bildeten we⸗

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der damald noch fpäter die alleinige und lange nicht immer die herrſchende Macht in ihm; oftmals vielmehr brach fi) durch fie hin⸗ durch der natürliche Menſch in Leid und Luft, im Sorgen und Schafe fen mit ungejtümer Gewalt feine Bahnen. Aber verloren gegangen find fie ihm niemald wieder, und als er viele Jahre fpäter im An- gefihte des Todes ftand, füllten fie feine ganze Seele aus und nah: men dem Tode feinen Stachel.

Zweites Bud,

Die Zeit der Napoleoniſchen Herrſchaft in Deutſchland.

1805— 1814.

Die Eindrüäde der Jahre 1805 und 1806.

Als im Jahre 1803 die Reichsdeputation zu Regensburg die ſchwä⸗ cheren deutſchen Territorien maſſenweiſe unter die ftärfern vertheilte, war e8 Hamburg gelungen, feine Selbftändigfeit ald Reichsſtadt zu retten. Aber den Gewaltthaten Napoleon's und der Nichtigkeit des Reichszuſammenhanges gegenüber war e8 gewiß, daß Hamburg, wenn e8 eine Zukunft haben follte, diefelbe nur durch feine eigene politifche Klugheit und Kraft finden fönnte, und dennoch war von einem poli- tifchen Leben innerhalb der freien Reicheftadt wenig zu fpüren. Die Erftarrung aller ftaatlichen Zuftände, die auf ganz Deutfchland la⸗ fiete, hatte auch den Rath und die einft derb übermüthige Bürger- [haft erfaßt. Sorglos und gleichgiltig überliegen die Bürger dem einft mistrauifch und eiferfüchtig betrachteten Rath das Regiment der Stadt, und nur die Berpflichteten, nicht die Berechtigten, fanden fich in den bürgerfchaftlichen Collegien ein, welche den Senat überwachen und das Feld für die politifche Thätigkeit der Bürger fein follten. Bequem freilich für Obrigkeit wie für Untertanen war die Regie- rungsart des vorigen Jahrhunderts; aber dem Rath jo wenig wie der Bürgerfchaft konnte fie Kraft, Muth und Gefchid verleihen, in . bedeutenden Zeiten mit entſchloſſener Selbtändigfeit zu handeln, und ein Mann, deffen Auge und Herz für die großen Weltereigniffe nicht

verfehloffen war, konnte unmöglich dem unbelebten reichöftädtifchen

Gemeinweſen eine lebendige politifche Iheilnahme zuwenden. | Perthe3 war bei dem Ausbruche der Revolution fiebenzehn Jahre alt gewefen und hatte die Begeifterung feiner Zeitgenofien für den

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Kampf gegen da3 altfranzöfifhe Königthum getheilt. Sobald aber der Krieg Frankreichs gegen das deutiche Reich ausbrach, ftand er anderd als die meiften andern mit feinem Herzen auf deutfcher Seite. Nicht in Deftreih oder in Preußen oder in einem andern der größern deutfchen Territorien, welche die wenigſtens ſcheinbare Möglichkeit be- fagen, auf fich felbft beruhen zu können, war während ded vorigen Sahrhundert3 ein Neichdgefühl zu finden, aber in den Heinen Graf» fhaften und Fürftenthümern hörte man wohl den römifchen Kaifer noch „unfern Kaiſer“ nennen und in den Gemüthern lebte das Bes wußtfein de? Reichszuſammenhanges, zwar nicht als politifhe Kraft und friſches Leben, aber doch als eine überlieferte politifche Gewohn⸗ beit fort. Perthes, in einem folhen Kleinen Territorium groß gewor⸗ den, hatte aus feinen Knabenjahren ein faiferlich gefinntes Herz mit- gebracht, und fobald fein Kaifer, ſobald das deutfche Reich von den Franzoſen befriegt und bedrängt ward, wurde er ein Feind der Fran- ofen. In Hamburg, welches die Grundlagen feiner Bedeutung aus Berhalb Deutichland fuchte und fand, trat der Form wie dem Wefen nad ein Zufammenhang mit dem Reiche nur in geringem Grade her- vor; aber ed war doch auch Feine widerdeutfche Stimmung vorhan⸗ den, welche übermwältigenden Einfluß auf die einzelnen hätte üben tönnen, und die frühere Hinneigung zu der franzöfifchen Republit war längft dem nahen, auf dem Intereſſe des Lebens ruhenden Zu- fammenhange mit England gewichen.

Perthes hatte, obgleich das Leben der bedeutenden Menſchen, mit denen er zufammengeführt war, eine vorwiegend religiöjfe Natur an fih trug, dennoch einen lebendigen politifhen Sinn entwidelt. Da er feine Anhänglichkeit an beftimmte politifche Richtungen und Lehren fannte, über deren Sieg er ſich felbft dann gefreut haben würde, wenn berfelbe von den Feinden unferes Volfed und auf Ko« ften unfere® Volkes erfochten worden wäre, fo blieb feinen politifchen MWünfchen, Hoffnungen und Befürchtungen alles Allgemeine, Unbes ftimmte und Iheoretifche fremd. Da er von Haus aus Taiferlih ge finnt war und die Verhältniffe der Stadt, in der er fih befand, nicht geeignet waren, zu einem kleinlichen Aufgeben in denfelben zu ver-

führen, fo blieb er frei von dem befchränkten und engherzigen Eifer

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für einen einzelnen, au® dem Zufammenhange mit dem ganzen Deutfchland herausgerifjenen Theil unfered Vaterlanded. Seine po⸗ litifhe Gefinnung war eine deutfche im Gegenſatz nicht nur zu dem Kosmopolitismus, welcher die Geltung der politifchen Lehrſätze höher ftellt ald die der Nationalitäten, fondern auch zu dem Xocal« oder Zerritorialpatriotianus, welcher den Wald yor Bäumen nicht ſehen kann.

Das Schickſal Hamburgs, ſo nahe es auch ſeinem Herzen lag, trat dem Schickſal Deutſchlands gegenüber in den Hintergrund und nur durch Deutſchland war, das ſah er deutlich, Rettung für deſſen einzelne Beſtandtheile möglich. Sein ſehnlicher Wunſch war daher, ſich eine Einfiht in die großen politiſchen Verhältniſſe zu gewinnen, und die Lebenslage, in welcher er fich befand, war auch in diefer Be- ziehung ihm günftig. Schon früher hatte es ihm nicht an Berührun- gen mit Männern gefehlt, welche die europäischen Verhältniſſe aus eigner Anſchauung kannten. Der mehrjährige tägliche Umgang mit Schönborn machte ihn mit den innern Zuftänden Englands und mit deffen Stellung zu der Lage des Feſtlandes bekannt. Bielfaches Zu- fammentreffen mit Baggefen gab ihm manchen erwünfchten Aufſchluß über das politifche Gewirre in Paris. Der dänifche Dichten Bagger fen, fehrieb er 1806, der fich mehrere Jahre in Paris herumtrieb, in alten und neuen Revolutiond- und Regierungszirkeln, hat mir gar vieled und merkwürdiges über Frankreich mitgetheilt. So wenig ih in manchem Betracht den Farben traue, die diefer prismatifche Menfch fpielt, fo gewiß hat er doch politifch einen prophetifchen Blid echt gei- füiger Natur. Tiefer wurde Perthed durch einige andere Männer, die fich längere Zeit in Hamburg aufhielten, in die innern Zuftände Frankreichs eingeführt.

Reinhard, der Sohn des würtembergifchen Pfarrerö, der frühere Candidat der Theologie und fpätere Graf, war bid 1798 Gefchäftd- träger der franzöfifchen Republif in Hamburg gewefen und ala Schwie⸗ geriohn von Reimarus und Schwager von Sieveling in den Kreifen. zu Haufe, in welchen auch Perthes Zutritt hatte. Im Jahre 1799 zwar hatte Reinhard Hamburg verlaflen, um ald Commifjär feiner Regierung die neue Berwaltung in Toscana anzuordnen. Dann wurde

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er vom Directorium an Talleyrand’3 Stelle zum Minifter der aud- wärtigen Angelegenheiten ernannt, fehrte aber, nachdem er nur furze Zeit dieſes Amt bekleidet, ald Gefandter bei dem niederſächſiſchen Kreiſe nach Hamburg zurück, wo er blieb, bis ihn im Mai 1805 Bourrienne erfeßte. Perthed war in vielfache Berührung mit Reinhard gefommen und hatte feinen Blid dur die Gefpräche mit dem red- lihen und in den politifchen Berhältniffen erfahrenen Manne erwei⸗ tert, aber perfönlich näher ftanden ihm zwei Sranzofen, welche Sinn und Herz für deutfched Wefen hatten, Matthieu Dumas nemlich und Billerd. Dumas war tief in der Revolution verflochten gewefen: 1789 hatte er an Lafayette's Seite die Nationalgarde errichtet, 1792 gehörte er zu den bedeutendften Wortführern der Feuillantd und bes fehligte die gefammte bewaffnete Macht, welche des Könige Rüdkehr nach deſſen Flucht fichern follte, 1796 nahm er eine hervorragende Stellung im Rathe der Alten ein und 1797 entfloh er, in Folge der Umwälzung des 18. Fructidor zur Deportation verurtheilt, nach Ham⸗ burg, wo er unter dem Namen General Funk lebte. Er ſchloß fi) mit großer Liebe an Claudius, Klopftod, Jacobi, Stolberg, Revent⸗ low an und fühlte bei Perthes ſich wie ein Hausgenoſſe heimiſch.

Grade und treuherzig in feinem Wefen, unabhängig in feinem wi

fenfhaftlihen Streben und in feinem Aeuperen einem Deutfchen ähn- li, blieb er dennod) dur und durch Franzoſe. C’est un maitre- homme, pflegte er damals bewundernd von Rapoleon zu fagen, und am 29. Juli 1830 erfhien er, ein faft achtzigjähriger Greis, in der Uniform der Rationalgarde mitten unter den Sulifämpfern. Der deutfchen Sprache hatte er fich, wie feine fpätern Briefe an Perthes bezeugen, in hohem Grade bemädhtigt, und. die Anhänglichfeit an feine alten Freunde hatte er auch 1812-nodh bewahrt, ald er ald General und Intendant der großen Armee durch Deutfchland zog.

In einem weit näheren Verhältnis ald Dumas ftand Villers zu Deutfchland. Der franzöftfche Artilleriehauptmann von 1792 hatte fih 1796 in die Reihe der Göttinger Studenten aufnehmen lafjen und fi) deutfche Wiffenfihaft und deutfche Bildung in einem auch unter Deutfchen nicht gewöhnlichen Grade angeeignet. Obgleich ihn feine äußeren Gründe von Frankreich ferne hielten, konnte er es den-

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noch nicht über fich gewinnen, Deutfchland wieder zu verlaſſen. Seine politifche Theilnahme wendete fih, nachdem er feit 1797 feinen dauern⸗ den Wohnfig in Zübee genommen hatte, vorzüglich den Hanfeftädten zu, deren Stellung ihn vielfach befchäftigte, und deren Unabhän- gigfeit er für Deutfchland und Europa von hoher Bedeutung hielt. Manches haben die Städte feinen in Paris nicht einflußlofen Berwen- dungen zu verdanken, und in damaliger wie in fpäterer Zeit lafjen fih in Perthes' Anfichten über Die Stellung der Städte manche, durch vielfachen fchriftlihen und mündlichen Verkehr vermittelte Einflüffe Villers' erkennen.

So anregend und bildend auch die Berührungen mit Reinhard, Billerd, Dumas und andern mehr oder minder bedeutenden Franzo—⸗ jen, weiche jich vorübergehend in Hamburg aufbielten, für Perthes waren, fehnte er ſich dennoch nach einem lebendigen Zufammenhange mit Männern, die nicht nur feinen politifchen Blid erweiterten, ſon⸗ dern auch feine politifche Gefinnung theilen und derfelben durch die Gemeinfhaft des Hoffend und Fuͤrchtens, des Duldens und Strebens immer neue Wärme, Klarheit und Kraft zuführen fonnten. Politiſche Gemeinschaft zu finden und zu bewahren, war damals nicht fo ſchwer, wie in fpätern Zeiten; denn nur zwei Parteien fanden fih in unferm Bolfe: eine Heine, welche gegen Napoleon, und eine große, welche durch Napoleon dad politifche Heil erringen wollte. Alle, welche Frankreich gegenüber die innere Selbftändigkeit des deutichen Volkes um jeden Preis zu erhalten. und die äußere Selbftändigkeit um jeden Preis wieder zu gewinnen fuchten, fühlten fi) politifh eins; und all das Berlangen nach diefer oder jener beſtimmten Geftalt der deutſchen politifhen Zukunft, welches fpäter die früher einigen Männer weit auseinander führte, war Damals durch die Sehnfucht nach Befreiung von Napoleon's Herrfhaft in den Hintergrund gedrängt. Unter den vielen deutſch gefinnten Männern, mit welchen Perthes in den Jahren nad) dem Reichddeputationshauptichluß von 1803 Gemeinfchaft hielt, gewannen vor allen andern Johannes von Müller und Niebuhr Be⸗ deutung für feine innere politifche Ausbildung.

Johannes von Müller war 1804 als preußifcher Hiftoriograph

von Wien nad) Berlin gegangen und ſetzte, damals im engften Verein Perthes’ Lchen. 1. 4. Aufl. 9

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mit Gentz, alle ſeine Kraͤfte daran, die Schwierigkeiten beſeitigen zu helfen, welche das entſchloſſene und vereinte Auftreten Oeſtreichs und Preußens verhinderten. Zugleich war Müller unabläſſig bemüht, durch kuͤhne und kraͤftige Aufſaͤtze das Nationalgefühl der Deutſchen und den Grimm gegen deren Dränger anzuregen und zu ſtählen. Bon einem folchen Aufſatze nahm Perthed Beranlaffung, fi) warm und zutrauendvoll an ihn zu wenden. In diefer Zeit muß fich, ſchloß Perthes feinen erften, im Auguft 1805 gefchriebenen Brief an Müller, alt und jung, rei und arm, ſtark und ſchwach, wer nur das Ba- terland, die Freiheit, Ordnung und Gefeg liebt, zufammenhalten. Dank, edeldenfender Mann, für Ihre Zufchrift, entgegnete Müller. Es ift Labſal, folche deutſche Gefühle zu finden ; ohne Sie gefehen zu haben, wurde ih Ihr Freund. Die Zeit ift da, wo alle Gleichgefinn- ten fi einander brüderlich anfchließen müffen in dem Werke der Ra- tionalrettung. Hierfür nur hat für mich das Leben noch Reiz. Es ift eine innere Sprache, eine unfihtbare Verbrüderung der Gleichges finnten, die bei jedem Worte fih erkennt. Diefe Berbrüderung, wozu Sie, mein Freund, gehören, ift das Salg der Erde; wer da fich zu⸗ fammenfindet, ift Bruder und Freund, mehr als mit vielen, bie er lebendlänglich gefehen. Aus diefer erften fchriftlichen Begegnung beider Männer entftand ein für dad Verftändnid der Gefinnungen in ben Jahren 1806, 1807 und 1808 überaus merkwürdiger Briefwech- fel, von dem ein Theil fpäter gedruckt worden ift. Oftern 1806 ging Perthes zu Müller nah Berlin, im Herbfte desfelben Jahres kam Müller zu Perthes nad) Hamburg. Es ift etwas anderes, ſchrieb Perthes über diefed perfönliche Zufammenfommen an Dtüller, es ift etwas anderes Die Achtung vor dem großen Geift, dem fräftigen Mann, dem gradsoffnen Freund in Briefen, und etwas andere? dad _ anhaͤngliche, liebehegende Gefühl an die Perſon, an den Menſchen. Seit ih Sie fah, koͤnnen Sie an biefed Gefühl in mir glauben. Ich für meinen Theil mache keinen Anſpruch, ala dag Sie willen, daß mir ein Träftiges, Tebendiged Herz im Bufen fihlägt und daß ich weiß, was an der Zeit ift.

Zangfamer aber tiefer als mit Müller, hatte fi für Perthes ein nahes Verhaältnis mit Niebuhr gebildet. Niebuhr war in den

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Kreifen, in welchen Berthes ſich bewegte, lange jchon befannt. Den Sommer 1792 hatte er als fechzehnjähriger FJüngling in Hamburg bei Bülch zugebracht und Klopftiod, Reimarus, Sieveling kennen ge lernt; in den Jahren 1794 bis 1796 hatte er in Kiel fludiert und in naben Berbindungen mit den Stolbergd, mit Reinhold, Jacobi und vor allem mit Moltke geitanden. |

Als er ſich vor feiner Abreife nad) England im Frühjahr 1798 einige Zeit in Hamburg aufhielt und Perthes durch Jacobi und Clau⸗ dius perfönlich kennen lernte, entitand zwifchen beiden an Jahren nur wenig verfchiedenen Männern die Freundichaft, welche bis zu Niebuhr's Tode an Wärme, Stärke und Innigkeit zunahm, obſchon fie einmal unheilbar, wie es fheinen konnte, unterbrochen worden war. Die feltne, beiden Männern genieinfame Wahrheit des ganzen Weſens bielt fie feſt aneinander: Perthes fühlte fih unauflöslich an den edlen Sinn und an da8 reihe Gemüth des gropen Mannes gebunden, den er auch gegen dritte nicht leicht ander? als „meinen lieben Niebuhr” nannte, und Niebuhr war von tiefer Achtung erfüllt vor der herrlichen Kraft, wie er ſich ausdrüdte, und vor der männlichen Lebenstüchtigkeit des ungelehrten Freunded. Dem Gefchäftdinanne, welchem wilfen- fhaftlihe Bildung fehlte, legte Niebuhr 1811 den eriten Band feiner römischen Sefchichte mit den Worten vor: Gerne möchte ich ohne Rüd- halt gefagt willen, wie Sie mit meinem Buche zufrieden find. Eine gelehrte Beurtheilung verlange ich nicht, aber wern die Grundzüge Ihnen gefielen, würde ed mich fehr freuen. In einigen Punkten, fcheint e8 mir, werden: wir nicht einig fein, und in anderen troß der Maſſe des Publicums fehr. Auf Perthes’ einige Monate fpäter erfolgte Antwort entgegnete Niebuhr: Ihr Urtheil über den erften Band meined Werkes hat mir unbefchreiblih wohlgethan. Rehmen Sie es nicht ald ein zu viel fagended Kompliment, wenn ich fage, daß neben Goethes Zub Ihr Gefühl mir genügt, wenn auch öffentlich fehr . feindjelige Stimmen fich Hören laſſen follten, wie man fie namentlich aus Göttingen erwarten kann. Niebuhr's überlegener Geift und eine gewiſſe Schärfe, welche nicht felten die Weichheit feine Gemüthes plötzlich durchbrach, hatte, felbit für ehr bedeutende Männer, etwas drüdended. Um jo mehr fiel noch in fpäterer Zeit dritten die Freiheit

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des Geifted und die Umbefangenheit auf, mit welcher ſich Perthes Nie- buhr gegenüber im perfönlichen Verkehr bewegte. Diefe Unbefangen- heit, welche Perthes auch im Verkehr mit andern bedeutenden Män- nern nie verlor, lag theild in feiner Stellung begründet, theild in dem Bewußtſein, nicht mehr gelten zu wollen, ald er war. Konnte doch feinem Berufe und feinem ganzen Lebendgange nad) niemand die An- forderung gelehrten Wiſſens oder ftaatemännifcher Durchbildung an ihn ftellen, und demungeachtet durfte er das Gefühl haben, auch et- was zu fein und zu bedeuten. In einem Briefe an Johannes Mül- fer drüdte er ſelbſt fich in folgender Weife hierüber aus: Ich weiß, wer und was ich bin, und eile immer, nicht meine Unwiſſenheit zu ver- bergen, fondent fie zu offenbaren, damit nicht Zeit verdorben werde. Halten Sie diefe Befcheidenheit aber auich nicht für zu groß; denn ob ih wohl weiß, daß ich nichts weis, fo weiß ich doch auch, daß ich viel kann.

Im lebendigen Verkehr mit Niebuhr und mit Müller durchlebte Perthes die beiden fchredlichen Jahre 1805 und 1806. Die meiften Briefe aus diefer Zeit find zwar verloren und die feit der Echlacht von Jena gefchriebenen verrathen den Drud, welchen die Späherkunft der Franzoſen dem fchriftlichen Verkehr auflegte; aber dennoch läßt ſich aus dem Erhaltenen die politifche Richtung erkennen, welche Perthes verfolgte. Mit bitterm Unwillen und tiefem Schmerz fah er die ftumpfe Gleichgiltigkeit, in welcher Männer, die den Stolz unſeres Volles aud- machten, ſich nach dem Lüneviller Frieden und dem Regensburger Hauptſchluß abſchloſſen gegen das grenzenlofe Leiden Deutfchlands und gegen den frevelnden Uebermuth der Peiniger. Mit Grimm wurde er erfüllt, ald um diefe Zeit Goethe's Eugenie erſchien. Scham, glü- hende Scham über die Zerreigung unjered Vaterlandes, fehrieb er 1804 an Jacobi, follte und müßte unfere Herzen foltern, aber was thun unjere Edelften? Statt fi) zu waffnen durch Rährung der Scham und fih Kraft, Muth und Zorn zu fammeln, entfliehen fie ihrem. eigenen Gefühl und machen Kunftftüde. So wenig aber Rettung für einen Sünder zu hoffen ift, der, um die Reue nicht zu fühlen, Karten fpielt, fo wenig wird unfer Volk, wenn feine Beften fo ſich betäuben, dern Schidjal entgehen, ein verlaufened, über die Erde zeritreutes

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Gefindel ohne Vaterland zu werden. Eine neue Hoffnung der Rettung tauchte auf, ala im Sommer 1805 die Gerüchte von einer Bereinigung England®, Rußlands und Oeſtreichs fich verbreiteten. Mit Entfepen ſah PBerthed, tie die politifchen Wortführer Deutfch- lands fih auf Napoleon's Seite gegen England ftellten und das Belt durch die am meiften gelefenen Zeitfehriften bearbeiteten. Aus Schlech- tigkeit, Dummheit und Angjt oder fürd Geld reden unfere Yournali- ften, ich nenne nur Woltmann, Archenholz, Voß und Buchholz, dem Tyrannen und der großen Nation dad Wort, fchrieb er Damals und machte in einem Brief vom 25. Auguft an Müller feinem beflommenen Herzen Luft. Ihr Brief, beißt ed, hat mich bei der tiefen Rührung, mit welcher er mich erfüllt, betrübt! Wenn ſolche Männer an un fern Zeiten verzagen, was dann? Ich bin nicht fo hoffnungslos und gerade in der lebten Zeit wächſt mein Muth. Freilich bin ich jung, von der Geſchichte nicht unterrichtet! Sie ſchließen folgerecht von dem Alten auf das Reue und geben darum auf. Aber wurde nicht jedes Bolt, ehe Einheit in ihm entfland, ftet3 erft bereitet zum Empfang bes Führers, des Retters, des Meffiad? Eine folche Bereitung, dünkt mich, ift unter uns fehr bemerfdar. Ein Schmachten, Sehnen, Greifen nach einem Haltungspunkt ift allgemein. Vieles ift auch ſchon wegge⸗ räumt daß ich nur anführe: die Endſchaft der papiernen Zeit. Noch zwanzig Jahre folcher Buhlerei mit der Kiteratur, folcher Ber- hätfchelung geiftiger Bildung, foldher Krämerei mit belletriftifhem Lu⸗ Jus und wir hätten ein siecle litteraire erlebt, abgeſchmackter al? das unferer Nachbarn. Sept fühlt jeder der Jüngeren, daß dad Va⸗ terland nicht zum Dienfte der Wiffenfchaft da ift, fondern umgekehrt. Wie viele find jetzt nicht ſchon überzeugt, dag Kraft und Tugend nicht aus moralifchen Grundfägen erwachſen, fondern einen ganz andern Boden haben! Wie dringt e3 jet in die Menfchen, daß die Liebe und freie Sorge für ihre Hütte und was dazu gehört mehr ift, als eine allgemeine Umfaflung ; daß berzvoller, vielleicht leidenſchaftlicher Pa⸗ triotismus befjer fei, als kalter Kosmopolitismus! Und felbit auch die Religion obwohl durch den zu lange berrfchenden Misbrauch theo- logifcher Sagungen der Unglaube und die Gleichgiltigkeit tiefe Wur- jel gefhlagen haben, fie, die Religion, veird immer wet wet-

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mißt! Freilich ed muß noch ein Zeichen geſchehen, ehe Land und’ Bolk wieder einen Glauben haben werben, aber viele, viele find doch ſchon übel daran, möchten geme beten, und beten, um es zu fönnen. Waren bei unfern Nachbarn entgegengefegt- nicht eben folche Zeichen, ehe Beeljebub kam und fie zu einer gewaltigen Heerihar feſſelte? Mir büsen die Sünden unferer Bäter; die beiden legten Generationer arbeiteten und mit einem unglaublichen Reichtfinn nach dem Abgrunde bin! Muß dad Herz und nicht deshalb ſchon groß werden, daß wir grade in der fehlimmiten Zeit eben? Iſt auch die Schweiz gefallen, noch find Sie nicht ohne. Vaterland, noch ftehen die Deutfchen; de⸗ nen gehören Sie an und werden von Ihnen erfannt. Lind feheint es Ihnen nicht bedeutungsvoll, daß die Schweiz, getrennt vom deutfchen Reich, Jahrhunderte neben dentfelben ftand und nun, da das Reich aufgelöft ift, auch zertrümmert wird? Sollte man es nicht als ein neues Bundeszeichen anjehen? Das Wie? ich erwarte einen Be= geifterten. Berzeihen Sie mir mein Lallen, ich kann es nicht befier heraudbringen ; was darinnen ift, ift gut.

Auch in einem. Brief an Reimer in Berlin fprach Perthes feine damalige Hoffnung auf die Erfcheinung eines großen deutfchen Helden aus. 3 ift wahr, fchrieb er, mir find hier unferer mehrere, die einen feften Glauben und eine innige Liebe treu in der Bruft bewahren, und wir meinen, daß, wer fi fo ftil hält, auch raſch und ernit au? fich heraus handeln und wirken fann, wenn ed Noth thut. Aber, lieber Reimer, Menſchliches Hilft in ſolchen Zeitläuften nicht mehr; - ed muß eine höhere Erfcheinung auftreten, an die fich alled Salz der Erde anfchließen Tann. Bald langte von Johanned Müller eine Antwort an: Den Eindrud Ihres Briefe, heißt es in derfelben, kann ih Ihnen nicht genug fihildern. Sie betrachten, was wir fehen, ald eine Vorbereitung zum Beſſeren. Ich wünſche ed, aber was hat ein ungeheures Weltreich voll Raubſucht, Hohn und Eitelkeit je gebeſſert? Die kalte Hand des Todes ift fein Scepter; Humanttät und Wiſſen⸗ ſchaft fterben von feiner Berührung. Doc e3 ift ein hochfinniges Wort, welches Sie ausſprechen: Müffen wir nicht fhon darum und groß fühlen, weil wir in der fchlimmften Zeit leben? Sie find ein Mann von feltener Seele, ih liebe Eie fehr.

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Wenige Wochen, nachdem Perthes jenen Brief gefchrieben hatte, war Deftreich,, ed wußte felbft nicht wie, mit Rußland verbändet und in den Kampf gegen Rapoleon verwidelt, und ſchon am 20. October überlieferte der öftreichifche Herrführer fein ganzes herrliches Heer den Franzoſen. | |

Mein lieber Bruder, fchrieb Perthes im Rovember 1805 an ben Sohn jeines väterlihen Freundes, den Medicinaltath Jacobi, welcher, mit Claudius’ jüngerer Tochter, Anna, verbeirathet, fih im Früb- jahr 1805 aus Holftein nach München übergefiedelt hatte, mein lieber Bruder, kaum ein halb Jahr find wir getrennt und eine Welt von Begebenheiten liegt zwifchen und. ch fann bei Dir darauf rechnen, Daß die Gedanken und die Empfindungen, bie jie erregten, daß der brennende Schmerz, die quälende Unruhe, die Angft und Scham, die mich umbertreiben, Dir nicht fremd find. Wir verfiehen und, Gott fei gedankt! aud ohne Worte, die im Briefe nicht ftehen dürfen. Sept freilich muß jeder von ung, der fich fühlt, ftille ftehen in aufmerf- famer Betrachtung der Krifid, Die zu ſtark und groß ift, um nicht bald abzulaufen, aber wenn fie abgelaufen ift, was fehe ich dann zu thun vor und, fei es im Zuftand der Freiheit oder der Knechtſchaft? Ich weiß Dir , mein geliebter Bruder, feinen beſſern Troſt für Deine und für unfere Lage zu geben, als den, daß feiter Borjag, Trieb zu wir- fen und Ausführung des Borgefepten und auch die härtefte Schmach, die wir nicht abwenden können, mit Muth erdulden läßt. ch hatte - Dir fo vieled auf Deinen lieben Brief zu antworten, aber das alles ift dahin. Aufrichtig zu fagen, ich habe nur einen Gedanken und nur den halte: ich feit und hoffe, alle andere, was mir noch durch den Kopf geht, bei Seite zu bringen.

Nah dem unbheilvollen Tage von Ulm fchien alled verloren, wenn Preußen in feiner Unentfchloffenheit verharrte, vieled gewonnen, wenn Preußen feine Heere mit denen Rußlands vereinte und Napoleon entgegenftellte. Was müffen wir erleben, fchrieb Perthes an Müller, welche Schmach, welche Berhöhnung, welche Herabwürdigung fteht Deutichland, fteht den Völkern und der Welt bevor, und Doch, welche Momente bietet die Borfehung den Menſchen dar, die Macht haben! Preußen kann Oeſtreichs Retter werden, und muß ed werden, bei

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Gefahr des eigenen Verderbens. Mann, der Sie von fidh fehreiben: „Sch gehöre einer weit älteren Zeit an, gehören Sie ihr wirflih an? - In alten Zeiten war der Gefchichtfchreiber feines Volkes zugleich der Nathgeber, oft auch der Führer feined Volles. Für Sie, der Sie bisher durch Schrift Die Herzen für das Vaterland gewannen, ift ed jest an der Zeit, dur Wort, Gegenwart und Geift zu wirken. Ge⸗ ben Sie hin zu Preußens König und fagen Sie ihm, was er, ein Deutfcher, für Deutſchlands Rettung thun kann. Umfonft ift Preu- pen nicht auf dieſe Spipe geftellt. Hebt Preußen Deutſchlands Pa- nier auf, fo ſchließen alle fi) an und geben jetzt gerne ihre geliebte Unabhängigfeit theilweife hin, um nur endlich der Gefahr ald Nation in® Auge zu fehen und nicht Knechte eined Volkes zu werden, welches fich als Verftandesmafchine von der Fauft des einen gebrauchen läßt, - der alles in der Welt gleich niedrig zu machen ftrebt. Sollen Sie, der Hiftoriograph, nur hinter fich fehen? Nie war ein Mann fo hoch auf feiner Stelle wie Sie! Für Sie kann es feine Urfache geben zur Abhaltung von dem, was man nicht laſſen fol. Die Ausficht des Bergeblichen und fomit die Ausficht, etwas Lächerliched zu thun, ift nichts! und weiß der Menfch, was in dem Menfchen ift, das erweckt werden kann? Ych bin es nicht, der Sie ruft; Deutfchland ruft. Kennten Sie unfere Stadt, es würde Sie begeiftern, und alle Deut« fchen fühlen jet wie wir. Diefe Stunde ift einzig groß; fie kommt nicht wieder. -— Muthlos werde ich nicht, fehrieb er kurz darauf, und will es nicht werden. Nie wird ed an freien deutfchen Männern fehlen und Gott wird für dad Weitere forgen.

Am 2. December war die Schlacht bei Aufterlig gefchlagen und am 26. December 1805 der unglüdliche Frieden zu Presburg geichlof- fen. Baiern und Würtemberg hatten den Königstitel angenommen. E8 wurde unzweifelhaft, daß Preußen durch feinen Unterhändler Haugmwig fi tief mit Napoleon eingelaffen habe, und ſchon im Ja—⸗ nuar 1806 befegten preußifche Truppen die hannöverifchen Lande und fperrten die Elbe gegen England. Nach dem, was wir nun gejehen und erlebt haben, fchrieb Perthed am 12. Januar 1806 an Müller, hatten Sie freilich vollfommen Recht, nicht zu fprechen, und wahrlich auch ich will lieber zwiſchen den Zähnen des Gewaltigen frifeh bluten,

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als der Mabenfraß eines verfaulten Körpers fein. Auch mid) wan⸗ delt die Luft an zu gehen, ohne mich umzuſehen. Aber haben wir auch alles gethan, was wir als freie Männer thun können? Was thaten die Sulioten alled, ehe fie fich zerftreuten? Wie foll ih diefen Brief beginnen? fehrieb Perthe an demfelben Tage Jacobi nad München. Soll ih mit gebeugtem Sinn dem deutfchen Manne, dem alten Stimmhaber der Nation klagen über unfere Unterjohung durch Deftreih® Befiegung, über unfere Entehrung durch Preußens Selbftfucht, oder ſoll ich dem nun königlich gewordenen Geheimderath Glück wünfchen zu der Ehre, die ihm durch dad Königwerden feines Fürften widerfahren iſt? Wahrlich e8 wird den jubelnden neuen Kö- nigen ergeben, wie ed dem Fauſt erging: ald er mit dem Teufel ſich eingelaflen und A gejagt hatte, mußte er hernach auch B fagen. Wie Schade ift eg, daß der Heflenfürft dad Königsfleeblatt nicht voll ge- macht hat! Doch nicht? mehr davon, aber was der Groß - Größefte, der auch die Bibel feheint gelefen zu haben, dem Würtemberger Her- zog oder Kurfürft oder König gejagt, das gilt auch für und: Wer nicht für mich ift, der ift wider mid.

Im Mai 1806 war Perthed, um Müller perfönlih kennen zu lernen, auf einige Tage nach Berlin gegangen. Ueber dad, was id) gefehen und gehört habe, fchrieb Perthed an Mar Jacobi, kann ih , Dir nichts mittheilen, es ift nicht geeignet für Briefe; aber mein Auf- enthalt war fehr intereffant. Den Tag vor meiner Ankunft hat man Graf Keller zum Conferenzminifter gemacht, weil Alopeus nicht mit Haugwitz eonferieren wollte, und am Tage meiner Ankunft warf man Haugwis die Fenfter ein. Im Juli erfolgte die Stiftung des Rheinbundes und bald darauf ward das deutfche Reich auch der Form nad) aufgelöft. Die Weltbegebenheiten, fehrieb Müller an Per⸗ the3, find nun über alle politifche Berechnungdfraft erwachſen. Ges wöhnliches hilft nicht mehr, auch zeigt ſich nirgends ein Schein von ‚Hilfe. Gott muß einen wegnehmen oder einen Größeren meden oder fonft etwas unvorhergefehene® herbeiführen. Zorn und Furcht find von mir gewichen. Die Scene wird zu feierlih. Der Alte der Tage figt zu Gericht, die Bücher werden aufgethan und die Nationen und ihre Kürften gewogen. Welches wird der Ausgang fein? Cine neue

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Drdnung bereitet ſich vor, ganz etwas anderes, ald die ahnen, welche die blinden Werkzeuge find. Was ift, wird nicht bleiben, was war, ſchwerlich fo wiederlommen, und nicht darin wird der Unterſchied liegen, daß dort, wo ein italienifcher oder deuticher oder ſlaviſcher Schwächling herrſchte, nun ein Corſe herrſchen wird.

Durch die Vernichtung des Reiches war Hamburg aus einer freien kaiſerlichen Stadt ein ſouveräner Staat geworden. Nur wenige deut⸗ ſche Männer, äußerte Perthes, weinten bei dem Untergange des Reiches; die meiften und unter ihnen fehr. Verfländige waren froh, der Audgaben für Wien und Regendburg überhoben zu fein, und glaubten, Hamburg bleibe Hamburg immerdar. Blöglich in den erften Tagen des Auguft verbreiteten fi Gerüchte von einem nahen Kriege Preußen? gegen Frankreich. Wir halten über das neuefte Po- litiſche feit geftern hier die Köpfe hoch empor, fchrieb Perthed am 15. Auguft an Müller, und wiffen faum, ob wir wachen oder träu- men. Halte ich mich an da3 Träumen, fo finde ich, alles natürlich. Die Ausfihten um und werden immer dunkler, fehrieb er einige Wo⸗ . hen fpäter; ich bin nicht verzagt. Gott offenbart ſich immer zuerft durch Wunder, welche man fpäter ald Weisheit erfennt und endlich als natürlich begreift. Gott Lob! ed wird Ernit, heißt e8 in ei nem Briefe aud der erften Hälfte des October. Der Herr der Heer ſcharen, der den Willen und den Eifer feiner Bölfer fieht und erforſcht, wird und helfen und beijtehen. Gent ift im Hauptquartier bei dem Grafen Haugwitz. D, daß ich meinen Kopf auf einen militärifchen Rumpf ſetzen könnte!

Unmittelbar nach der Schlacht bei Jena hatte Mortier, während Murat, Bernadotte und Soult Blücher nach Lübeck verfolgten, Han- nover befegt und rüdte am 19. November 1806 in Hamburg ein. Wie wehe wird Ihnen das Schidjal unferer Gegenden gethan haben, wie wehe das unferer Stadt, fchrieb Perthed an Iacobi. Zu wel chem Zwecke follte ich Ihnen das fehredliche Schickſal Lübecks ſchil⸗ dern. Schreckniſſe dieſer Art ſind nur nothwendige Folgen; iſt man über die Urſachen ins Reine, ſo trage jeder das Seine und es mache nicht einer den andern fürchten. Unſerer Stadt iſt von Kriegsunruhen nichts Arges widerfahren; die Einnahme ging friedlich ab und wurde

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wie ein neue? Schaufpiel behandelt. In den Borftädten gab es eis nige Mordthaten, au etwa? der Art in der Stadt; doch waren Vor⸗ fälle diefer Art nur Privatangelegenheiten, die nicht erwähnt werden fönnen in Zeiten, in denen nur nad Maflen gerechnet wird. Meine Einquartierung beftand aus junger unverdorbener Mannſchaft aus dem Rhone-Departement, dann kamen italienifche Regimenter, denen das hiefige Klima befonders gut zufagte, doch haben wir fie fäntlich mit Mänteln fehr reichlich verforgen müffen. Diefe Sremdlinge be- fonderen Anfehen® haben uns feit geftern verlaffen und nun haben wir vollauf Holländer. Prächtig Volk!

Bon allen Seiten liefen die fchredlichften Nachrichten ein. Die Vernichtung Preußen? fei gewiß, fchrieb Niebuhr aud Danzig, und auch nit ein Zug von Muth, Tapferkeit und Baterlandökiebe laſſe fi erzählen. Die Fehler, die wir machen, ſchrieb Scharnhorſt am 11. Juni 1807, find der Art, daß nur ein Wunder und retten fann. Aus Berlin ſchrieb Müller die verzweiflungsvollen Worte: Sch ge- denfe der großen Seher alter Zeit, welche aus den Zeichen erfannt hatten, daß Gott etwas neued machen wolle. Die Augen hat Jere⸗ mia? ſich audgeweint, aber er fah, daß Aften und auch fein Volt dem babylonifchen Könige übergeben war, und er rieth, fi) darein zu ſchicken. Darüber vergaß er fein Volk und feine Grundgefühle. nicht. So find auch jetzt durch die Wunder des achtzehnhundertundfechäten Jahres die Nationen wie in dem Netz des Vogelftellerd gefangen; von Gadir bi8 Danzig, von Ragufa bis Hamburg und bald allerfeits ift alles empire francais ob auf fiebenzig Jahre wie im babylonifchen, oder auf fiebenhundert Jahre wie im römifchen Reich, wer kann das wiſſen.

In Hamburg ſelbſt wurde gleich nach dem Einrücken der Fran⸗ zoſen aller Verkehr mit England bei Todesſtrafe verboten, alles eng- liſche Eigenthum für verfallen erflärt, da® von Engländern gefaufte und bereit3 bezahlte Gut feinen Eigenthümern abgefordert und der Handel nur unter dem Zwange der Urfprungbefcheinigung geftattet. Was war, fchrieb Perthed an Jacobi, ift vernichtet; fein Handel, tie er biöher jemals betrieben ward, paßt in die neue Welt, die in Rapoleon's Rath befchloflen ift; das genialifche Decret gegen England

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ift der Beweis für meine Anfiht. Wir find fchlimmer daran als alle anderen Städte, äußerte er gegen Müller, weil keine Stadt fo wie wir im regften Leben begriffen war, feine fo in dem Intereſſe des Welthandels fich befindet, der nun fo, wie er biäher geführt wurde, aufhören foll. Für feine Perfon verlor Perthes alled, was er in zehn forgen» und arbeitvollen Jahren erworben hatte, weil weit und breit die Unmöglichkeit, Zahlungen zu leiften, eintrat. Allein in Medienburg berechnete er feinen Berluft zu zmwanzigtaufend Marf. Den Muth und die Hoffnung aber verlor er nicht.

- Die Auffaſſung der Lage Denticlands in den Jahren 1807 und 1808.

In jenen Jahren des fchweren politiihen Drudes that fich für viele Menichen aufs neue die nicht von Staat und Bolt abgeleitete, fondern in ſich felbft ruhende Selbftändigfeit des Familienlebens fund. In alle Leiden und Freuden der Nation foll und muß die Familie zwar tief verflochten fein; aber fo wie fie demungeachtet in einer gro- gen und glüdlichen Zeit verfümmern kann, fo fann fie auch in einer erftorbenen und trübfeligen Zeit Kraft und Freude entwideln und Muth und Rüftigkeit zum Wirken nad) außen erzeugen. Je huff- nungsloſer Damals die politifche Gegenwart und Zukunft erfchien, um fo dankbarer erfannte Perthes die Größe der Gabe an, melde ihm in Caroline verliehen war. Frifh und Fräftig wuchfen die vier Kin- der heran und am 23. Sanuar 1806 wurde ihm aufs neue ein Sohn, Johannes, am 15. September 1807 eine Tochter, Dorothea, geſchenkt. Aber auch den Schmerz, der nur aus der Familie dem Menjchen er- waͤchſt, follte Perthes jegt zuerft erfahren, indem am 7. December 1807 die jüngfte Tochter, Dorothea, ftarb. Liebe Mama, fchrich Garoline unmittelbar nad) dem Tode ded Kindes an ihre Mutter, Gott hat meinen Engel fanft und ruhig zu fi) genommen. Ich danke Gott, daß er mein Gebet erhört und mein liebed Kind ohne alle Qual

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gerufen hat. Es fieht jo ruhig aus, daß man es mit ihm wer- den muß.

Schwer hatte Perthes freilich in feinem Geſchaͤfte an den 'gro- pen Berluften des Jahres 1806 zu tragen ; aber die bewegte Zeit, in- dem fie viele Handlungdherren zu ängftlichem: Zaudern oder doch zu vorſichtiger Beſchränkung ihres Gefchäftes bewog, führte für ihn, der rafch und Ted einzugreifen nicht unterlaffen konnte, bald wieder einen jehr belebten und weit audgedehnten Betrieb feiner Handlung herbei. Niemand in Hamburg hat jept Gefchäfte, fchrieb er um diefe Zeit, die meinigen aber find größer ald je und werden bald eine noch größere Ausdehnung gewinnen.

Schon damals galt feine Handlung als eine der bedeutendſten im Norden Deutſchlands. Ich weiß, ſchrieb ihm Hüllmann 1807 aus Frankfurt an der Oder, daß Sie das ſtärkſte Sortiment in Deutſch⸗ land befiten, und. etwas fpäter nannte Niebuhr ihn ſcherzend den Buchhändlerfouverän von der Em? bid an die Oſtſee. Der Muth und die Freudigkeit, welche während jener Jahre des Öffentlichen Elend Perthes in feinen Privatverhältniffen belebten, drüden fich in einem Briefe an Sacobi vom October 1807 aud. Mein Geift wird mit jedem Jahre ficherer und freier, beißt es in demfelben, und fo bin ich bei allen Ereigniffen muthooll und heiter. Ein gebrecdhlicher Meni bin ich wohl, aber ein unglüdlicher nicht, fondern vielmehr ein fehr glüdlicher, dem es befchieden ift, eine unruhige Laufbahn zu durchlaufen. Biel Intereſſe für Leben und Tod, viel Liebe, viel Lei- denſchaft, viel Kinder, viel Freunde, viel Arbeit, viel Gefchäfte, viel Luft, viel Unluft, viel Unruhe und nicht viel Geld! Dazu ein Du- gend Spanier im Haufe und feit neun Tagen drei Genddarmen, die mich faft zur Verzweifelung bringen! Wie e8 mir geht und was ich treibe, fragen Sie? heißt es in einem Briefe aus derfelben Zeit. Ich will e8 Ihnen fehreiben, fo weit fo etwas in unferer Zeit gefchrie- ben werden Tann. An brieflihem Verkehre bin ich wahrhaft reich. Gräfin Luiſe Stolberg fehreibt mir fleißig und nie ohne irgend etwas bedeutendes zu fagen; von Johannes Diüller erhalte ich regelmäßig alle vierzehn Tage einen Brief und Niebuhr, offen wie immer, bat dann freilich aus feiner jegigen Stellung viel merkwürdiges zu er-

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zählen. Hier an Ort und Stelle haben wir jest Marfchall Brune zum Gouverneur, unter dem wir und leidlich befinden, da er felbft fich gerne leidlich befinden mag;_aud hat diefer ci-devant-Buchdruder ſchon bei mir dad Handwerk begrüßt. Dann lebt jegt in Altona der alte Zimmermann aus Braunfchweig, der einer der geicheideften Menfchen ift, die ih fah, und mich im höchiten Grade interefliert ; ich achte und Liebe ihn, ohne ihm zu trauen. Bon Zeit zu Zeit fehen wir bei und oder bei Madame Sieveling Wallmoden und die Lippe Büdeburger jungen Gräfinnen, zwei fehr intereffante Mädchen und die jüngfte wirklich bezaubernd. Auch außerdem gehen viel merkwür⸗ dige Menfchen ab und zu, die das Leben frifch und auch muthig er- halten. inen beſondern Eindrud machte Bernadotte auf Per- thes. Er hat, heißt e8 in einem Briefe, im Aeußern fo wie in man⸗ hen Manieren und Gewohnheiten viel ähnliched mit Jacobi. Auch philofophiert er gern. In Lübeck ließ er fich bei einer großen Tafel auf einen Streit über das Dafein Gottes ein, welchen er nicht zu glauben glaubt, und rief endlich, als er in die Enge getrieben ward, feinem Gegner, einem Lübeder, mit großer Lebhaftigfeit zu: Wie fönnen Sie für das Dafein Gottes ftreiten? Gäbe es einen Gott, fönnte ich denn bier in Lübeck fein! Auch Billerd hielt ſich oft und gern in Hamburg auf. Er bleibt mir immer ein fehr lieber Menſch, ſchrieb Perthes; aber fonderbar, während er die Franzoſen gar nicht mehr zu erkennen und zu verftehen vermag, fieht ihm felbft der Fran- zofe an allen Enden heraus.

Sich gegen außen abzufchliegen in den glüdlichen und anregen⸗ den Berhältniffen feine? Kamilien- und Geſchäftslebens, lag indeilen nicht in: Berthed’ Natur; durch eigene Neigung vielmehr und durch die Gewalt der Zeit wurde er zur geiftigen Theilnahme an den großen Begebenheiten, welche die Welt erfüllten, geführt. Mir find, ſagte er viele Fahre ſpäter zu einem feiner Söhne, in den Jahren von 1806 bis 1812 liebe Kinder geboren und liebe Kinder geftorben und ih habe aud außerdem damals viel Freude und viel Leid im Haufe erfahren; aber denke ich zurüd an jene Zeit, fo ift dad alle® in mei- ner Erinnerung fo gut wie vernichtet durch die gewaltigen Eindrüde, welche die Theilnahme an den politifchen Hoffnungen und Befürch⸗

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tungen binterlaffen hat. Perthes fcheute ſich damals ſchon nicht, den Zuftänden deö untergehenden alten Europa grade ins Angeficht zu fhauen. Wer fieht es nicht, äußerte er, daß für Europa eine Wie dergeburt im Staate, in der Kirche, in der Moral nothivendig war? wer fennt nicht die Unordnung, den Kleinigkeitöfinn, die Erftorben- heit im deutfchen Reiche? Und unter den einzelnen deutfchen Staaten gibt e3 feinen, für den der Untergang nicht eine verdiente Strafe ift, weil in feinem Fürft und Bolf für das Ganze leben und opfern woll- ten. Notbwendig mußte fih, heißt e8 in einem andern Briefe, aus der allgemeinen Schwäche und jelbitfüchtigen Berdorbenheit eine Kraft erheben, welche alles befiegte, weil nichts kräftiges fich ihr ent- gegenfeßte. Napoleon ift und bleibt eine hiftorifche Naturnothwen- digkeit. Er, Napoleon, der Gewaltiger der Welt, ift ein? in fi und fiher und feft, wie fein anderer, weil er, wie fein anderer, nichts will als fich felbft, und wie fein anderer ift er des Teufel? geworden, weil er, wie fein anderer, fich felbft zu feinem Gotte gemacht hat. Er will nit, er wird gewollt, fagte mir mit treffendem Ausdrud Baggejen. Diefem dämonifchen Menfchen glaubte Perthed die Welt von Gott dahingegeben, aber nicht, damit fie fich ihm füge, fondern damit an der peinigenden Kraft des Böfen die erftorbene Kraft des Guten, wenn auch unter den entiehlichften Wehen, von neuem geboren werde. Was da war, äußerte er, iſt ruiniert. Wels her neue Bau ſich auf den Trümmern erheben wird, weiß ich nicht; aber das Entjeglichite von allem wäre, wenn nach dieſer Zeit des Schreckens die alte matte Zeit mit ihren zerbrochenen Formen wieder.

fehren follte. Zu einer neuen Ordnung will Gott uns auf praftifchen

Noth- und Angftmegen: führen. Rüdwärts läßt ſich das Stüd nicht - fpielen, alfo vorwärts! Es falle, was nicht ftehen kann! Diejen Weltbegebenheiten wird nichts entgehen, und ed ijt ein Troft zu ſehen, dap die Begebenheiten größer werden ald die, welche fie herbeiführ- ten. Die Schaufpieler in dem großen Stüde werden jelbft zur Rolle und hinter den Couliſſen fteht der große unfichtbare Theatermeiiter und ift Troft und Halt für und arme Zufchauer, denen leider nur zu arg mitgefpielt wird. Wer jebt noch, beißt e8 an einer anderen Stelle, das Rad rückwärts dreben will, der will nur Ruhe, Bequem

Lin

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lichkeit und Privatglück. Diefen dreien freilich ift die Zeit nicht gün- ftig; aber danach kann die Vorfehung fich nicht bequemen; wir viel- mehr find es, die fih der Zeit gewachfen halten müffen, und wer wollte au) Anfang und Ende einer ſolchen Ummälzung, wie die ge⸗ genmärtige ift, in ein Menfchenleben zufammendrängen. Ja das alte Laub muß herunter, entgegnete ihm Stolberg, auf daß der noch in brauner Knofpe fhlummernde Frühling für die Entwidelung auf- bewahrt bleibe. Ach könnten wir nur die erſte grüne Spibe fehen!

Daß Gott in dem großen Umbildungsfampfe zunächft und vor allem auf unfer Bolt gezählt, ftand für Perthes unumftöplich feit. Wir Deutfche find ein auserwähltes Bolt, ſchrieb er 1807 an Müller, ein Volk, welches die Menfchheit repräfentierte und alles zur allgemei- nen Angelegenheit machte. Wir waren nie bloß national. Naͤher und beftimmter führte Perthes feine Anficht von der weltgefchichtlichen Bedeutung des deutfchen PVolfed in einem Briefe an Jacobi vom 19. Detober 1807 aus. Nie hat ed und Deutfchen an großen geifti- gen Aufgaben allgemeiner Natur gefehlt, heißt es in demfelben, im- mer haben gerade wir und der Wiſſenſchaft ihrer felbit wegen hinge- geben. War nicht Deutſchland feit langen Jahren gleichfam die all» gemeine Alademie der Willenfchaften für ganz Europa? Alles, was empfunden und erfunden, was entdedt und gedacht wurde in Deutfch- land und außer Deutjchland, wurde von den Deutfchen gleih auf das Allgemeine bezogen und für die Entwidelung der Menfchheit ver- arbeitet. So weit wir Deutiche überhaupt ein Leben hatten, haben wir ed nie für uns allein, fondern immer auch für Europa gelebt. Wir haben alles Recht, und reich bemittelt und tief an Charakter zu finden ; aber nie haben wir es verftanden, unfere Schätze anzuwenden; nie haben wir unfern Bolfe eine gemeinfame Tüchtigkeit und eine - gemeinfame Bildung gegeben und nie gemeinfame Anftalten gegrün- det, welche das Gefühl für Rationalehre wach erhalten und und Sicherheit gegen die Angriffe Fremder gewähren konnten. Dennoch aber kann alle®, was wir denfen und gedacht haben, nur wenn wir auch zu handeln lernen, Wahrheit und Wirkſamkeit erhalten. Noch nie gab es einen großen Heilfünftler, der nicht praftifcher. Arzt gewe- fen wäre, und Sie jelbft, verehrter Freund, treffen doch nur darum

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fo oft die Sache und dag Herz, weil Sie neben Ihrer Speculation auch einmal eine thätige Periode durchlebten. Männer dagegen, die nichts befigen ald Wiſſenſchaft, werden, felbit wenn ihnen Geift und Kraft nicht fehlt, zu Narren, fobald fie in dad Leben eintreten und auf das Leben einwirken wollen, ohne die Anwendung ihrer Mittel praftifch gelernt zu haben. Ich will nur Bülow und Buchholz anführen und könnte auch Fichte nennen, und nun lefen Sie dagegen Rehherg. Wie mit dem einzelnen Menfchen, fo ift ed auch mit einem ganzen Volle. Sie würden mid) misverftehen, wenn Sie mir den Wunſch unterfohieben wollten, daß unfer Bolf jih fo wie die andern Nationen auf fih allein befchränfen, mie Diefe nur an fich denken und für fi ſchaffen follte. Solcher Wunſch, den freilich jetzt wohl mandjer hat, was wäre ex anders ald der Wunfch eines Deutfchen, fein Deutfcher zu fein, fondern eine Rationalität zu haben, wie jede andere Nation fie hat, nur die deutfche nicht?

Perthes war der feiten Ueberzeugung, daß die Deutfchen das ausfchließliche Leben in Wiſſenſchaft und Kunft verlaffen müßten und jest auf ein auch handelndes Leben angewiefen feien; aber fo wie fie denfend und Ddichtend nicht allein für fih, fondern auch in anderer Meife noch ald andere Nationen für die gefammte Eulturwelt gear: beitet hätten, fo follten fie, eingetreten ind handelnde Xeben, handelnd für ganz Europa zu-wirken haben. Nur die Deutfchen können Eus vopa retten, fehrieb er 1806. Es kann fein, fehrieb er 1807, daß den Deutſchen das lebte Stündlein geichlagen hat, aber Europa wird ed fühlen. In einer Reihe von Briefen, furz nach dem Tilſiter Frie⸗ den gefchrieben, führte er feine Anficht weiter aus. Der Friede, heißt es in denfelben, und folcher Friede ift alſo wirklich gefchloifen. Nun wohl befomms! Man könnte allenfall® vorausfegen, daß die Begeben- heit in Zilfit nur ein Werk der Noth und dag die Freundſchaft der beiden Kaifer nur eine Scene der widrigen Gewohnheit fei, nach wel⸗ cher Fürften, wenn fie in Haß und Widerftand nicht weiter können, thun, als wäre nicht® vorgefallen, und fih der Sprache der Freund⸗ fhaft bedienen. Geſetzt aber auch, ed wäre fo, fo ift die Herabwür⸗ digung Alexander's und Friedrih Wilhelm's doch fo groß, daß fie, wenn der Kampf de3.Nordend und Südens in einigen Jahren von

Perthes“ Leben, I. 4. Aufl. 10.

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neuem beginnen wird, unmöglich die Achtung und das Zutrauen der Völker, deren geiftige Kräfte fie fo wenig zu benugen verftanden, wies der gewinnen fönnen. Ob das die Herren in ihrer Klugheit aud) wohl erwägen! Aber war'die Ausföhnung der beiden Kaifer in Tilfit wirflih nur ein Schein? Vielleicht doch nicht. Ein Mittel nur, das ift jest far geworden, kann Hilfe gegen Napoleon geben, das Revo- Iutionieren der Völker. Wenn nun Alerander, weil er Fürft ift, dieſes Mittel ſcheut, follte dann nicht die falte Größe. und das Beftreben Napoleon's, ſich ald Netter des Menſchengeſchlechts darzuftellen, den Kaiſer Ruplands zu einer wahren Ausjöhnung mit feinem bisherigen Feinde haben führen können? ft das, wie ich aus befondern fiche- ven Nachrichten glauben muß, wirklich der Fall, fo ift Alerander der Bafall von Napoleon's Geift und ift in firengerer Knechtſchaft als wir, die wir nur um der Gewalt willen Knechte find. Eine gänzliche Um- tehrung aller Dinge ift dann unausbleiblih. Nie haben bisher der Norden und der Süden fi) unmittelbar berührt; deutfche felbftändige Völker, Schweiz, Holland, Reich, Deftreich, Preußen, ftanden zwiſchen ihnen und banden die beiden Ertreme, welche fi einander nicht bes fiegen fünnen. Nun find wir niedergetreten. Auf die Dauer zwar fönnen der Süden und der Norden nicht an einem Strange ziehen, aber auf Jahre könnten fie e8 doch verfuchen wollen, und richten wir Deutfehe in einer folden Zeit und nit aus und felbft wieder auf, fo wird eine Geifel, wie man fie hienieden noch gar nicht kannte, Eu- ropa züchtigen. Bon augen fann uns Hilfe nicht mehr kommen; wir follen und müſſen uns felbft helfen: aber dem tüchtigen Volke ift wie jedem ehrlichen Menſchen die Hilfe von oben, das Licht und der Er- loͤſer, verheigen. |

Daß die Selbfthilfe des deutſchen Volkes ihren Ausgangspunkt von den deutſchen Regierungen nehmen werde, glaubte Perthes ſchon deshalb nicht, weil nie eine großartige und dauernde politiſche Geſtal⸗ tung von einzelnen wenn auch noch fo großen Fürften gegründet fei. Haben nicht alle Schäe, fragte er, welche die Völker an Conftitutio- nen, Staatöverwaltungen und Einrichtungen irgend einer Art befigen, fih im Laufe der Jahrhunderte von felbjt gemacht, das heißt, find fie nicht fämtlih durch den Berftand, die Einficht, Forfchung und

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Erfahrung der Gefammtheit entwidelt worden? Wer machte die englifche, wer die Samburgifche Conftitution? Wir wiſſen den Dann nicht zu nennen, wir ehren die Väter. Die damaligen Regierun« gen hatten überdies ihre felbftfüchtige Schwäche und berechnende Hin⸗ gebung an Napoleon deutlih genug an den Tag gelegt. Unſer Bolt ift verrathen, äußerte Perthes nach dem Preßburger Frieden; von den Unfrigen find wir der Entehrung überliefert, auch der allergewöhn- lichſte Gemeinfinn ift unter den Gefhäftsführern, den Machthabern und Stimmgebern erlofhen. Gut und Blut, Ehre und Eigen- tbum haben die Völker daran geſetzt, fehrieb er nah dem Tilfiter Frieden. Wenn nun demungeachtet eine Ausföhnung der Fürften wie zu Tilfit ftattfinden fonnte, wer wird fünftig unter diefer Menfchen Leitung ed noch einmal wagen? Kein Stab foll halten, heißt es in einem Briefe an Jacobi aus derfelben Zeit. Sie brechen alle, auf dag ein jeder nur Gott anhange und fich in fich bereite, bis das Ge⸗ richt kommt; und dad Gericht ift nahe, aber auch für die Richtenden bin ich bange. |

Diefen Regierungen gegenüber, welche ihr Bolt verlaffen hatten, hielt Perthes e8 an der Zeit, den Deutfchen die Rechte der Bölfer zu fagen, zu lehren, was ihre Verfalfung ohne Bernachläffigung hätte werden fönnen und was die Deutfchen durch ihre Gefinnung aud jebt noch wieder erlangen fönnten. Er zürnte auf Klopftod, weil dies jer die Nationalehre höher als die Nationalfreiheit gehalten habe; er forfehte nach den Mitteln, durch welche das deutfche Volk feinen ver- zagten Regierungen gegenüber felbftändige Bervegung erringen koönnte. Bie. erlangten, fragte er, die Engländer ihre Berfalfung? wie drüdten fie den fi) befämpfenden Parteien die Freiheiten ab, und bemwahrten diefelben gegen die mehreremale eintretenden concentrierten, fejten, ge⸗ waltigen Regierungen? Wie fam es, daß fie diefe Freiheiten nie aus den Augen, verloren? wer behielt fie im Auge? wie erbte das fich fort vom Bater zum Sohne? Den Deutfchen könnte ein guter Spies gel dadurch vorgehalten werden. '

Da Perthes weder von außen noch durch bie Regierungen Ret- tung erwartete, fo richtete fich feine Hoffnung damald ausfchlieplich auf das deutfche Volk in deffen Einheit. Schon feit den Jahren 1805

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und 1806 ahnete er in demſelben eine Kraft, welche e8 zum Befreier Deutfchland® und Europa's machen könne und werde. Allenthal- ben unter dem Bolfe, heißt es in Perthes' Briefen aus jener Zeit, ift Wille, Kraft und Entrüftung. Selbft in Baiern bildet fich ein Ge- meingeift, der über den baierifchen Nationalgeift fiegen wird. Wir hier denfen nur an Nationalehre, und Leipzig, two in der Meſſe Menfchen aus allen Provinzen und allen Ständen des Reiches zuſammenkom⸗ men, gibt die erfreuliche Gewißheit, daß ganz Deutjchland nur eine Stimme hat: Vaterland, Freiheit, Rache. Ich ſprach mit Taufenden und ich war der Vorfichtigere in meinen Aeuperungen. Man kann gar fehr zufrieden fein mit dem Volle; Gott fende nur einen Geift, der die Gemüther binde und entlade. Nein, Deutfchland geht nicht unter und die Deutfchen fterben nicht ab als ein thatenlojed Volk; ein neues Gefchlecht deutfcher Art wird entftehen und wird blühen auf Sahrhunderte hinaus.

Als aber der Tilfiter Frieden gefchloffen war, ſchien es möglich, daß unter dem fürchterlichen Drude auch der nationale Geift erſtickt werden könne. Nur eine Sorge habe ich, ſchrieb Perthed im Auguſt 1807, eine Angft, die mich Tag und Nacht drüdt, ob auch wir Deut- Ihe Geſchick und Verftand genug haben, unfere Nationaltugenden und Eigenheiten bis auf beijere Zeiten und zu bewahren. Wir find jegt grade in einer Epoche, in welcher wir und ald Bolt wahrhaft groß beweifen fönnen. Berlafjen von unfern Fürften, dahingegeben, ohne Berfaflung und ohne Religion, follen und können wir unfere Haus⸗ und Menfchentugenden rein erhalten. Alles fchien ihm darauf anzufommen, daß in der Bedrängnis und Äußeren Berwirrung ber innere Sinn ded Volfed uuverwirrt erhalten werde. Auch im Joche müffen wir Deutfche bleiben; wir mülfen und felbjt überleben und die einftige Auferftehung wird nicht ausbleiben. Der Charakter des Deutſchen, fein Sinn für Wahrheit und Recht, der muß behauptet werden, Tofte ed, was es wolle, jchrieb er an Jacobi und faft mit den» felben Worten an Müller und an Stolberg, und wer noch irgend Mann ift, der muß feinen Kopf daran ſetzen, daß uns nicht Unrecht für Recht, Lüge für Wahrheit aufgebürdet werde. Sei über Deutſchland verhängt, was da wolle, heißt es in einem andern, kurz

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nach der Webergabe von Ulm gefchriebenen Briefe, immer muß der Hauptzwed fein, in den befondern Intereffen der deutfchen Staaten und Völker dad Allgemeine, dad, was das Deutfche ausmacht, zu er= weden und zu erhalten und mehr und mehr zum Bewußtſein des Vol⸗ feö zu bringen. O mein Gott! wer hat je dem Deftreicher, dem Brans denburger, dem Heilen gefagt, was für ein Gut er habe, deutfch ge- boren zu fein, und wie wäre das eine Sünde gegen die Fürſten des Landes geweſen!

Wer aber wird uns nun in dieſer Zeit wach erhalten? fragte Perthes. Seine erſte und nächſte Hoffnung ſetzte er auf Napoleon ſelbſt; die Völker, äußerte er, müffen erſchreckt werden, ſonſt gewöhnen fie ſich an alles. Je gewaltſamer und brutaler die Maßregeln Napoleon's waren, deſto geeigneter erſchienen ſie ihm, den Sturz der Gewaltherrſchaft vorzubereiten. Köſtlich ſind, ſchrieb er 1806, die Verfügungen der Franzoſen in Frankfurt, Baiern und andern Län- dern. Nur zu! Das hilft! Der Haß der Deutfchen wird gründlicher werden als einer fonft. Wenn Napoleon fi) einmal begnügen und gemäßigt verfahren fönnte, fehrieb er an Max Jacobi, fo wären wir verloren und hätten den Strid um den Hal; aber dies ift nicht zu fürchten. Auf Thatfachen flüge ich mich, wenn ich fage, daß des Kaiſers Aberglaube an fich felbit fo weit geht, daß er ſich noch wird anbeten latfen. Ihm fehlt in folhem Grade jeder Glaube an ein Etwas oben oder unten, er hat in folhem Grade nur fich felbft, er fieht ſich wie ſoll ich das ausdrüden, was außerhalb des Kreifes der Menfchheit liegt er jieht fich fo beftimmt als dad Werkzeug des Fa- tums an, daß das Schredliche, was bis jest nur in dunflen Sagen umherirrt, auch noch an den Tag fommen wird. Lardinal Maury arbeitet an einem Plan zur Vereinigung aller Religiondparteien und man fchreibt, der Kaifer werde fich dann zum Oberhaupt der Gefammt- firche emennen. Ja ed wird dahin kommen, daß jeder fehen muß, diefe Ruhm⸗ und Regierungswuth habe keinen Raum auf dem Erd⸗ ball hienieden.

Weil Napoleon für immer neue Aufregungen des Volkes ſorgte, wollte Perthes indeſſen keineswegs, daß die deutſchen Männer ihre Hände in den Schoß legen ſollten. Unſere ehrliche, einfältige Gut⸗

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müthigkeit ängftigt mich, äußerte er. Alfe feine Kräfte muß man in Zeiten, wie die unfrigen find, gebrauchen, um ſich nicht hingehen zu laffen in bloßem Bertrauen zu der guten Sache. Ron allen ehr- lihen, treuen Männern forderte Perthed, daß fie je nach ihrem Bes rufe und ihrer Befähigung fehaffen und arbeiten follten, um die po« litifehe Rettung vorzubereiten, indem fie neue Kraft und neues Reben der Nation zujtrömen liegen. Bor allem hoffte Perthed auf die her- anmwachfende Jugend feiner Zeit. Gewiß ich ſchätze und ehre unfere Alten, fehrieb er an Jacobi, aber höher liebe und ehre ich für unfere Zeit die Jugend. Alle Jugend feit Anbeginn der Welt ift alt gewor- den, ohne die Jugend mit fih nehmen zu können. Immer verblieb bei der Jugend die Jugend und deren Friſche und Feuer.

Das Recht und die Bedeutung, welche Perthes dem einzelnen entſchloſſenen Manne für außerordentliche Zeiten zugeſtand, war nicht in enge Grenzen eingeſchloſſen. Schon 1804 hatte er an Jacobi ge- ſchrieben: Es gefällt mir fehr wohl, dag Schiller den Tell, der nad Johannes Müller im Bunde war, von dem Bunde trennt. Nur fo fonnte Tell ald der fichere, feite Mann handeln, der ohne Borplan that, was die entjegliche Zeit forderte. Nie gab ed einen Abfchnitt in unferer Gefchichte, fohrieb er 1805 an Max Jacobi, in welchem dem einzelnen deutſchen Manne mehr Freiheit zuftand, auf eigene Hand zu wirken, als eben jest. Wir leben in einer Art ded Naturzuftandes: von allem find wir entbunden, nur nicht von dem, was den Deuts fchen zum Deutfchen macht, nur nicht von Treue, Biederfeit und um⸗ fichtiger Befonnenheit. Wenn aud) eine nähere Verabredung gleich gefinnter Männer zu Stande kommt, fchrieb er 1806, fo ift damit nicht gefagt, daß der einzelne, den der Geift treibt, ſich nicht treiben laſſen follte. Nach Schiller war Tell ja au nicht im Bunde. Ein jeder zählt nur ficher auf fich felbft, der Starke ift am mädhtigften a [- lein. Der Muth, fih und feine Stellung einzufegen, wenn es galt, war Perthes angeboren,; einmal angeregt, fannte er feine Rüdficht auf fich felbft, und ich habe, fchrieb er, Gottlob! eine Frau, die meine Gefühle theilt und, wenn Noth an Mann gebt, mir den Muth nicht nehmen wird. Wer Geift und Kraft, Größe und Lei⸗ denſchaft in irgend einem Grade hat, fagte er, der ſoll und muß jekt

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den Blid nad augen richten, um mit zu fhaffen und zu geftalten. Wer jept nur in feinem Innern Bedeutung hat, hat gar feine Be - deutung.

Perthed war feiner ganzen Natur! nach zu entſchieden auf die Wirklichkeit und auf dad in der Wirklichkeit Erreichbare geftellt, um ind Unbeftimmte und Unbefonnene hinein ſchwärmeriſch für fein Va⸗ terland auftreten zu können. Daß jede Gewaltthat und jeded Aufleh- nen des einzelnen nach Lage der Dinge rafende Thorheit und deshalb auch ungeachtet der damaligen Auflöfung aller politifchen Ordnung Verbrechen fei, wußte er und mußte auch, daß ed damals für jeden Privatmann unmöglich war, auf die Haltung der Staatdmänner und Regierungen oder auf die politifche Kräftigung der Kriegs - und Geld» macht irgend einen unmittelbaren Einfluß zu üben. Aber den Haß und die Erbitterung des Volkes gegen den Unterbrüder durch jebes mögliche Mittel muthiger und entfchloffener zu machen, das hielt Per⸗ thes für jedes deutichen Mannes Recht und Pfliht. Doch auch in die- fer Beziehung war es ihm feiner praftifchen Natur nad) ganz unmög- lich, gleihjam in der Luft ftehend nach augen und auf andre Wirf- _ famfeit zu üben; er bedurfte, um zu handeln, eines durch das Leben felbft ihm gegebenen Ausgangspunktes und fand ihn in feinem Be- rufe ald deutfcher Buchhändler. Zunächſt und vor allem betrachtete er es ala feine- Aufgabe, dafür zu forgen, daß Fräftigen und anregenden Worten deutfchgefinnter Männer nad) allen Seiten hin ein nachhaltie ger Einfluß durch Drud und ſchnelle Verbreitung gefichert werde.

Haben Sie Mittel gefunden, fehrieb er im October 1805 an Mül- ler, die Geng’fche Schrift über England® Krieg mit Spanien unjer- zubringen? Sonſt will id) Rath fchaffen; zu rathen weiß ich in fol- hen Fällen immer. Daß ich Dinge der Art nicht felbft unternehme, rührt nicht aus Furchtſamkeit her, fondern weil ich mich eigentlich aufhebe. Man kann in unfern Zeiten nicht wiſſen, was einem vor- fommt, und dann iſts beffer, man hat mit der Obrigkeit und Polizei noch nie etwas zu thun gehabt. Wenn der Krieg wird audgebro- hen fein, ſchrieb er in den erften Tagen des October 1806, fo müßte eigentlich fein Tag vergehen, wo nicht eine neue und andere Stimme zum Ausharren und zur Einigkeit, zur Kraft und zum Muth aufmun-

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terte und anfpornte. Unſere Freunde wollen beitragen, nicht ale wenn fie glaubten, fie könnten etwas beſſeres jagen, ald 3. B. die patriotifchen Männer in Berlin, fondern weil in jeder Korm und Ma- nier gefprochen werden muß. Für jeden Schnabel ift auch ein Ohr ge- wachſen. In Nürnberg follte, nah Meinung der Franzofen, der Buchhändler Palm ein ähnliches Ziel wie das verfolgen, welches Per- thes fich geftedt hatte. Am 25. Auguft 1806 wurde Palm erjchoffen. Sofort jtellte Perthed eine Sammlung für die Witwe und Kinder des getödteten Mannes an. Der Familie werde dadurch geholfen, meinte er, und jeder, der. eine Beifteuer gebe, lerne dadurch fich al? Feind der Mörder fühlen. Als der warme Dank, den die VBormünder der hinterlaffenen Kinder, Roſt und Rurff, gegen Perthes ausfprachen, anlangte, war Hamburg ſchon mehrere Monate hindurch von franzö- fifchen Truppen erfüllt. Jeder thue das Seine, äußerte er kurz nach⸗ ber, ich laffe nicht ab anzuregen, wo nur ein Menſch ift, der Kopf und Herz hat. Ich treibe an, recht? und links, auf feinem Poften zu bleiben und nicht® aufzugeben. Um Gotteswillen bitte ich auch Sie, nicht nachzulaſſen, und das Ihrige zu thun.

Lies doch, ich bitte Dich, Tieber Bruder, ſchrieb er im uni 1 1806 an Mar Jacobi, die von Müller herauögegebenen Poſaunen des hei- ligen Krieged aus dem Munde ded Propheten. Es find die durch Meberlieferung aufbehaltenen Sprüche und Reden, dur welche Mus hammed feine Araber zu den Thaten entflammte, die in wenigen Jah⸗ ren eine halbe Welt überwanden. Die glühende orientalifche Bered- famfeit wird, von Herzen zu Herzen gehend, auch unfer Abendland ftärfen und begeiftern. Der Flammenjtrom ded Propheten wird viele vielleicht noch gewaltiger ergreifen als Niebuhr's Nede des Der mofthene?.

Früh ſchon war es für Perthes gewiß geworden, dab einzelne Männer, wenn fie zufammenhanglos ihre Ihätigkeit übten, nur in einem fehr geringen Grade auf das Bolf wirken könnten. Als eine weſentliche Aufgabe erfhien e8 ihm daher, daß alle, welche in irgend einem Grade den inneren Beruf hatten, geiftige Leiter ihres Volkes zu fein, ſich in diefer oder jener Form zu gemeinfchaftlihem Wirken verbänden. Biel denke ich, ſchrieb er fhon 1805 an Müller, über

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die Möglichkeit nach, mohlgefinnte Deutfche einander befannt zu ma⸗ hen, einen Mittelpunkt zu ftiften, wo Kraft an Kraft fich lehne und neue Kraft erwede. Dazu ift eine gewilfe Unbefangenheit, Unwiſſen⸗ heit, Unnambhaftigfeit, wie ich fie habe, fehr fähig. Wenn bie Deutfhgefinnten aller Länder miteinander Communication hätten, ihrer Liebe für das Vaterland gemeinfchaftliche Richtung gäben, es fönnte viel geſchehen. Perthes wollte nicht hart abgefprochen ha⸗ ben über Männer, die zur Revolutiongzeit Frankreich angehangen hat« ten. Sept ſolle man fih, fagte er, nur in dem Haffe gegen die Un- terdrüder vereinigen, alles andere finde ſich und Löfche fih. Auch große Gegenfähe in der politifchen Ueberzeugung ſchienen ihm einem gemeinfamen Auftreten gegen den Feind -nicht im Wege zu ftehen. Berfchiedene Theorien, Meinungen, Anfichten, äußerte er 1805 gegen Müller, müpten eben ald das Charakteriftifche deutfcher Nation ge- ehrt werden und könnten einem Bunde deutfcher Männer ein Hinder- nis nicht fein. Verſtehen Sie mich nur recht, ich meine feinen Bund, der gefnüpft, gebunden werden foll, fondern der Bund, der fchon da ift in jeded Deutfchen Bruft, foll nur gemeinfhaftliched Leben erhal« ten. Es ſchwebt hell vor meinem Sinn, was darand werden könnte: ‚den deutfchen Völkern könnte ein Sinn gegeben werden, der zum Be- ften deuticher Fürften die Fürften zwänge, einen deutfchen Fürften- bund zu ftiften, den feine Macht fprengen würde. Doch jest iſts Zeit zu ſchweigen; die große Krifi® wird bald entfchieden fein und be» fiinmen, wie man feine Richtung nehmen muß. Als Müller auf diefen Gedanken eingegangen war, entgegnete ihm Perthes im Ja⸗ nuar 1806: Ich mag nicht gern fo ind große Blaue hineinfprechen, fondern lieber gleich was thun. Der Verein der Baterlandöfreunde von den Alpen bis an die Dftfee, den auch Sie erwähnen, was 'foll er? wie foll ex fein? Bor der Hand doch nur erſt Berftändigung, Be⸗ rührung einerlei Sinnes in möglichfter Ausbreitung. Mehr zu wols len, jest, wo niemand das Schidfal auch nur des nächſten Tages er- tathen kann, hieße unverftändig der Gefahr fih ausſetzen und dennoch den-Zwed vereiteln. Iſt das Verftändnis eröffnet, ift der Weg berei- tet, fo fchließt fich vielleicht mit des Höchften Hilfe ein Thatenbund. Für die Ausbreitung ift mir nicht bange, fo etwas wälzt ſich fort,

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aber er müßte, wie Sie ſchreiben, durch wenige einfache, unverbrüch- liche Grundfäge verbunden und durch die Zufammenficht talentwoller Männer geleitet fein. Gedrudt müßten die Grundfäße nicht werden, fie müßten von Mund zu Mund, von Brief zu Brief in Kraft und - Saft übergehen. Das beutfche Bündnis, das ich erftrebe, heißt e3 in einem andern Briefe, foll das Verjtändnid über das, was Noth thut, um wach und würdig zu fein, verbreiten. Jeder joll werben, wo ein gutgefinnter und ehrliher Mann zu finden ift; Feiner foll ver fäumen, dad Bündnis inniger und Öffentlicher zu machen, denn es fann öffentlich fein. Denn was es bedeuten will, verftehen die Frem⸗ den nicht und auch die Deutfchen nicht, die zu den Fremden gehören. Nur nad perfönlichen Angriffen forſchen die Spione; die Sache ſelbſt verstehen fie nicht, und perfönliche Angriffe find nach der letzten Kata- ſtrophe ohne Frucht. Je öffentlicher wir die Sache betreiben, defto geheimnisreichere Chiffernſchrift ift fie den Schlechten. Drudichriften für diefen Zweck find recht und gut, aber das innere Verjtändnis ift das eigentliche Ziel. Die Lettern mit Druderfhmwärze thun wenig Wirkung mehr.

Perthes hatte fi Johannes Müller ald den geiftigen Mittel- punft ded Bundes deutjchgefinnter Männer gedacht. Müller war tief eingeweiht in die politifhen Zuftände des weftlichen Deutichlande und in die Geheimniſſe Deftreih8 und Preußens; er hatte die ausgebrei- tetfte Bekanntſchaft mit deutfchen Staatemännern und Gelehrten der verfchiedenften Farben; er genoß ein hohes Anfehen und zeigte als Menſch und ald Schriftfteller ſich rüftig und entjchieden, wenn e3 galt, für Deutihland und gegen Napoleon zu wirken. Kein anderer fchien, wie er, geeignet, Die Seele des gehofften deutfchen Vereins zu fein. Aber die Folgen des Krieged von 1806 warfen ihn auf eine andere Bahn. Als die Franzofen in Berlin einrüdten, verlieg Müller Ber: lin nidt. Als Napoleon ihn zu einer Unterredung vorgefordert hatte, fhrieb er begeiftert an Böttiger in Dresden, er habe anderthalb Stun- den mit dem großen Manne gefprocdhen über alle großen Stellen in der Gefchichte und über alle Hauptgegenftände der Politik. Nun hielt Müller in der Akademie der Wiſſenſchaften feine befannte Rede über Friedrichs Ruhm, ging im Herbfte 1807 nad Parid und Anfang

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1808 ald Minifter-Stantöfecretär des König? von Weftfalen nad) Kafs fel. Sch werde Deutſchlands nicht vergefien, äußerte er freilich, fo wenig wie Daniel, dem niemand die hohe Stellung zu Babel übel« nahm, Serufalemd bei Hofe vergaß.

Perthes fah fih durch diefe Wendung in dem Lebensgange ſei⸗ nes Freundes in eine qualvolle Lage verſetzt. Er hatte Müller lieb gehabt, und einen Mann, den er einmal lieb gehabt hatte, innerlich fallen zu laſſen, war ihm fait unmöglid. Weber Müller fälle fein Endurtheil, fehrieb er an Mar Jacobi, Du haft ihn nicht gefehen ; geſehen aber muß man ihn haben, um da3 unvertilgbar Große in ihm anzuerkennen und de3 guten Menfchen gewiß zu fein und zu fei« nen Schwächen, Fehlern, vielleicht auch Laftern den Schlüffel zu ha— ben. Perthes hatte in Müller einen Mann erkannt gehabt, der es ernft und wahr mit feinem Volke meinte, und er behielt die Ueber- geugung, daß Müller auch jetzt nur mit den Fremden ſich verbinde, um noch auf dem Wege, den er für den einzig möglichen: halte, für die Deutfchen wirken zu können. Weber dad, was Sie für Ihr fünf- tiges Schickſal befchliegen werden, bin ich in mir fiher. So gewiß ih weiß, was Necht ift, fo gewiß weiß ih au, daß Sie nicht? thun werden, wobei Sie vergeffen, was Sie fi fchuldig find. ch glaube voraudzufehen, daß Sie Dienfte dans l’empire frangais annehmen werden, und, fügte er fehmerzlich hinzu, wo wollten Sie wohl fonft auch Dienfte nehmen? Ich finde, heißt ed in einem anderen Briefe, Ihre Recenfion des Rheiniſchen Bundes ſchön, Hug und brav. Es ift die Sache des Gelehrten und Sprechers der Nation, diefelbe, in welche Form fie auch gezwängt werde, in Schug zu nehmen und ihre Rechte und Nationalität immer wieder auszuſprechen. Er fchiebe das Gute unter, wo es nicht ift. Sehr glüdlich war ed, daß Sie das wirklich Gute bei dem Fürften von Berg fanden. Diefer Zug bat mich ungemein ergößt. Gott gebe Ihnen Kraft, fihrieb er, ald Müller's Anftellung in Kaffel entfchieden war, und bewaffne Ihr Herz und Ihren Sinn mit Standhaftigkeit; das ift mein einziges Gebet für Sie. Nicht der letzte möchte ih fein, der Ihnen fagt, daß er fih des großen Berufs freut, der Ihnen geworden ift. Ihrer Nation Beruhiger, Tröfter, Erweder zu fein, das verlangt und erwartet man

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von Ihnen. Ein Schilfal, wie Ihnen bereitet ift, wurde noch fei- nem. Ich weiß von Ihrer Pietät, daß Sie dasfelbe nicht einem blin- den Schickſalswurf beimeffen, fondern es als einen Beruf der höchften Weisheit annehmen. Komme, mad da fomme, fei, was da fei, ſchrieb Perthes etwas fpäter, als Müller die Leitung. ded öffentlichen Unterrichts in Weftfalen übernommen hatte, Sie fönnen und werden ein Arbeiter im Weinberg ded Herrn fein. Sie find Vorfteher grade von den Einrihtungen und Snftitutionen, die dad eigentlihe Organ des deutfchen Volkes und Geiftes find. Gott ftärfe und erhalte Sie dafür! Nie habe ih an Ihnen gezweifelt, und babe auf Ihre Treue und Wahrheit geſchworen.

Ungeachtet alles perfönlihen Vertrauens konnte ſich indeſſen Per: thes den entfeglichen Eindrud nicht verhehlen, welchen Muͤller's Ver⸗ halten auf das Volk machen mußte. Mir ift der Mann, fchrieb Per- thed 1807 an Jacobi, was er mir vorher war; aber Unrecht hat er und für die Nation ift er verloren. Für meine Freundihaft war mir Ihr Brief eine große Beruhigung, fchrieb er kurz nach der Schlacht von Iena an Müller. Ich bin Ihres Glaubend, daß die Welt von. Gott an Napoleon den Großen übergeben und er darum nnüberwind- lih if. Nur möchte ich erwähnen, daß der univerfalhiftorifche Kopf das regfte Herz für die Nationalität mit dem weiten Blid auf die Weltregierung vereinigen fann und muß. Nicht alle aber, die einen kräftigen, feſten Glauben haben, find zugleich umſichtige Weltweife, ‚und dem eigentlichen Kern der Nation mug man fein Aergerniß ge- ben. Es ift nicht genug, mit fih und feinen Vertrauten im Reinen zu fein; auch den blinden Anhängern muß man fich rechtfertigen kön⸗ nen. War ed doch jebt ſchon manchem Zweifler ſchwer, einzufehen, warum Sie nah Mainz, nad) Wien, nach Berlin gingen. Man muß Schonung haben mit den Gemüthvollen der Nation. Ihnen ift die Gewalt über unfer- Volk entwunden; died müßte nicht fein.

Auch in ſich felbft fühlte Perthes fchwere Sorge nicht über Mül- ler's Nedlichkeit, wohl aber über die Wahrheit der Grundanficht, durch welche fich derjelbe damals treiben lieg. Müller hatte, überwältigt durch die ungeheuren Erfolge Napoleon’d, alles alte verloren gegeben und fab in Napoleon das Werkzeug Gottes, welches die Beitimmung

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babe, ein Neues, nie Dagemefened in die Weltgefchichte einzuführen. Was werden folle, meinte Müller, fönne man nicht wiffen, aber dem Werden felbft fih in den Weg werfen ‚zu wollen, fei Raferei. Man müffe fich undenfen und die an da® morfch gewordene Alte nutzlos verfchwendeten Kräfte auf das Neue übertragen. Ihm, Napoleon, ſei die Welt dahingegeben; das fei Schickſal, das fei Gottes Finger. Gott fei es, der die Regierungen einfege. Wer vermag damwider? rief er aus. Alfo füge fich der Menfch, fuche das Befte des neuen Ganzen, ſuche fich felbft nicht zu verfchlechtern und erwarte die fernere Ent» widelung der Ereignifie, die nicht in unferer Macht ftehen. Hier han⸗ delt es fich nicht von Theorien; die Praxis befteht in Thatfachen; vor diefen fann man die Augen nicht verfchliegen, die Ohren nicht ver« ftopfen. Diefen Anfichten gegenüber fehrieb Perthes an Müller: Nur dann wird mir die fchnelle Umänderung Ihrer Anfichten nad dem in jieben Tagen vollendeten Umſturz der preupifchen Monarchie ganz einleuchten, wenn ich von Ihnen erfahre, wie Sie in die neue Welt fih hineingedacht haben. So ſchwer mir e8 wird, zu begreifen, wie Deutfchland ohne freie Selbftändigfeit, nur von außen gehalten, im Innern von fraftvollen Thatmännern verlaffen, die Rolle der Lehrerin unter den Völkern einnehmen könne, da niemald ein Pro« feifor, der nur Profeilor war, Weisheit lehrte, fo will ich doch hof- fen und glauben auf Ihr Wort. Ihre Rede auf Friedrich, heipt e8 etwas fpäter, habe ich nun ganz gelefen; es kommt mir aber doch vor, als wäre hierin um des Herrn willen das übrige Menſchenge⸗ ſchlecht zu ſehr als Pad behandelt. Goethe's Ueberſetzung der Rede iſt ſehr ſchön, aber wo meine Achtung und Liebe für Johannes Müller mich nicht überzeugt, wird auch Goethe mich nicht beftechen. Sie haben Recht, wenn Sie fagen: Alles hat feine Etelle, alled hat feine Zeit; aber es muß auch jedes wirklich feine Stelle und befonders feine Zeit haben, und fo :befürchte ich, daß Ihre Neußerungen über das, mas nun Deutfchland zu thun habe, noch nicht an der Zeit waren, der große Procep noch nicht entfchieden if. Obwohl ich Ihnen nicht, wie die Berliner, übel nehme, fchrieb Perthes im Mai 1807, daß Sie ſich nicht haben füfelieren laffen, fo ift doch, vergeben Sie es Ih» rem Freunde, das Andenken an einen wegen Wahrheit und Recht

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Füfelierten ein heilige® Denfmal. Auch glaube ich an dies Füfelieren noch niht. Ein Mann von fo hoher, ungeheurer Kraft und fo un gebrochenem Willen wie Napoleon kann auch einmal den Willen ha⸗ ben, ſich ſagen zu laſſen, daß noch nie ein Staat durch die Weisheit und den Willen eines Einzigen, ſondern nur durch das collective Wir⸗ ken eines verſtändigen mannhaften Volkes gegründet war und in Wohlftand und Feftigfeit beftand. Doc, wer weiß, vielleicht fagen Sie ihm auch etwas ähnliches.

Beforgter noch, ala über die Wahrheit der veränderten Grund» anfiht Müller's, war Perthes über deffen Feftigkeit und innere Si« herbeit in der neuen, gefahrvollen und fihmantenden Stellung , die er eingenommen hatte, feitdem er am Hofe Jerome's ſich aufbielt. Es bangt Ihrem treuen Freunde, fihrieb er ihm, um Sie, den Men- ſchen mit dem reichen Herzen, mit der offenen Gutmüthigfeit. Was wird fih nicht alle8 an Sie drängen, wo und wie werden Sie helfen follen, und was werden Sie können? Den großen Weltplänen ded Kaiſers follen Sie hilfreiche Hand leiften, die Selbftändigfeit und das Profperieren der Monarchie Ihres Königs follen Sie begründen, fich felbft und Ihrer Nation, fo wie den von Ihnen audgefprochenen Ueberzeugungen über Freiheit und Nationalität follen Sie treu blei- ben und nicht8 vergeben. Diefe Aufgaben haben Sie zu löfen. Gott waffne Sie mit Standhaftigfeit und Nefignation; denn auch bei dem Größten und Beften, was Sie thun, werden Sie doch von allen Sei⸗ ten verfannt werden.

Alle Belorgniffe und quälende Zweifel, welche Perthes in Be⸗ ziehung auf Müller hegte, hatte er fhon im März 1807 in einem Briefe an denfelben zufammengefaßt. Entweder ganz Freund oder gar nicht, fehrieb er ihm, und jo finde ich mich berufen, Ihnen zu ſchreiben, was ih in Hinficht Ihrer höre, fehe und erfahre. Wahr⸗ lich ich habe dadurch fehmerzhafte Wochen gehabt und bin mehrere male wahrhaft erfchüttert worden. Man declamiert, fuhr Perthes, einen von Müller gebrauchten Ausdruck mwiederholend, fort, von Ad} felträgerei, von Falfchheit, Verrätherei an Freiheit und Nation, und dies thut nicht allein die pöbelhafte Gemeinheit aus elendem Zeit⸗

geifte; bon mehreren Seiten und von Männern, die Sie lieben und

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ehren, trauert und weint man am Grabe Johannes Müller'd. Ein- Freund fchreibt mir: „Es iſt wahrlich eine fehr böfe Zeit, in die wir und zu ſchicken haben; aber dieſes Schicken muß ſchicklich bleiben, das mit wir nicht von ihr aufgelöft und zerftört werden. Das Auflöfen aller Charaktere, dies moralifche Faulfieber ift jet die graffterende Krankheit, vor der mir ärger ald vor der Peft graufet.” Glauben Sie mir, feste Perthed hinzu, unter den Kümmerniffen und unge- - willen, unruhigen Lagen ift mir Ihr Verhältnid zur Nation eines der quälendften gewefen. Glauben Sie mir, es ift die Nation, die jet in Ungewißheit und ohne Hirten ift, und nicht weiß, ob fie ferner Ihre Stimme hören foll oder nicht. Ich quäle Sie, aber ih müßte mid nicht achten und Sie nicht lieben, wenn ich fchweigen Fönnte. Gott fei mit Ihnen und mit und allen; das Gottedgericht wird nun bald geiprochen haben. Ich fühle Kraft und Muth in mir, in jeder Lage deutfch und brav zu fein, und hoffe bald die Straße vorgeſchrie⸗ ben zu ſehen, die man wandeln muß.

Die Bemühungen um die Erhaltung dentſcher Geſinunug in den Jahren 1809 und 1810.

Obgleih Mortier am 19. November 1806 Hamburg beſetzt hatte, war dasfelbe eine freie und fouveräne Stadt geblieben, aber von den Zruppen Napoleon’3 ward ed nicht wieder verlaffen. In rafchem Wechſel löſten fih Franzoſen, Staliener, Holländer, Spanier, Deut- fche unter kaiſerlichen Oberbefehlshabern ab. Nach außen ging jeder Schein der Selbftändigfeit verloren, die innere Berwaltung der Stadt dagegen blieb ähnlich wie in den Rheinbundaftaaten der hergebrachten Obrigkeit überlaffen, nur die Einführung des franzöfifchen Gefehbu- ches ward geboten. Die Staatdeinnahmen Hamburgs hatten, da ihr Gebiet nicht in Betracht fommen konnte, feine andere Quelle ald den Handel, und der alte Handel Hamburgd war durch dad Eontinental- foftem vernichtet. Weber dreihundert Hamburger Seeſchiffe lagen ak«

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getafelt im Hafen, und die Aſſecuranzcompagnien der Stadt erlitten in den nächften drei Jahren nah der Belebung einen Berluft von zwanzig Millionen Franken. Während die Einnahmen fich in unbes rechenbarem Grade verminderten, waren die hundertunddreißigtau« fend Menfchen, welche in der Stadt und auf deren Gebiete wohnten, den unerhörteften Ausplünderungen der franzöfifchern Regierung und den fchamlofeften Erpreſſungen der franzöfifchen Beamten, unter denen vor allen Bourrienne fi) auszeichnete, preidgegeben. Mancher wohl« habende Mann verließ, um nicht zu verlieren, was er hatte, die Stadt, und die Bleibenden gingen, gequält von Sorge und Noth, in dum⸗ pfer Trauer einher. In dieſer Zeit, die für Deutſchland und Europa nicht minder troftlo® und hoffnungslos war, wie für die einzelne niedergetretene Stadt, wurde die Erhebung Spanien? gegen den Gewaltherricher mit allgemeiner Freude begrüßt. Den Norddeutfchen, vor allen den Ham- burgern, trat die Bedeutung ded neuen Kampfes lebendig vor die Seele, ald der Marquid de la Romana, welchen Napoleon möglichft fern von feinem Baterlande, nach Fünen, gejendet hatte, fich im Au- guft 1808 mit feinen Spaniern auf englifhen Schiffen dem Dränger entzog und nad Spanien zurüdfehrte. Perthes wurde um fo tiefer von der That des entſchloſſenen Mannes ergriffen, als er mit demfel- ben während deſſen Aufenthalt in Hamburg feit dem Spätfommer 1807 in vielfachem perfönlichen Verkehr geftanden hatte. Die Spa- nier, die wir jeßt in unferer Stadt haben, äußerte Perthes fich 1507, mildern unfer Schidfal fehr. Sie find faft ohne Ausnahme gute Kin- der und verftändig. Gleichviel, ob fie lefen können oder nicht, man - erkennt doch in ihnen die Abkömmlinge einer großen und gebildeten Nation. Ihr General, Marquis de la Romana, ſpricht fehr gut deutſch . und fennt deutfche Literatur, befonderd aber die deutfchen Herausge⸗ ber der Glaffiter. Noch viele Jahre fpäter erinnerte fich Perthes ‚mit großer Freude der vielfachen belebten Gefpräche, die er mit dem Marquis gehabt. Richt lange nach Romana’ Fortgang aus Fünen erreichten dunfle Gerüchte von großen Vorbereitungen Deftreich® und ‘von Verbindungen entihlofjener Männer in Preußen und Weſtfalen Samburg und hielten Perthes in ſteter Spannung.

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Oftern 1809 ging er nach Leipzig. - Lieb ift e8 mir, fchrieb er an feine Frau, daß ich hierher gelommen bin. Es ift faum zu glauben, wie einftimmig die Menfchen find; fo eind wie jebt war Deutfchland nie. Am 25. April Abend wurde in Leipzig die Reihe von Sies

- gen befannt, welche Napoleon in den Tagen vom 18. bis zum 20. April: .

über Deftreich erfochten hatte. Geftern Abend ift die Nachricht von den verlorenen Schlachten hier angefommen, ſchrieb Perthes; in der größten Beftürzung hat man geftern bier illuminiert. Der . erfte politifche Schreck, heißt e8 in einem Briefe an feine Frau vom 4. Mai, hat fich gelegt, und nun fangen andere und nähere Betrach⸗ tungen an ftattzufinden. Die Lage der Dinge ift fehredlih und die Ausſicht von höchfter Beunruhigung. Der große Kampf ift noch nicht beendet und vielleicht wird er noch lange dauern, und dann nur auf Koften unferer Nation. Schreiben Tann id) ed nicht, bis auf welchen. Grad Muthlofigkeit fich aller bemächtigt hat, aber an einen Zuftand, wie er jeßt fich findet, grenzt ganz nahe die Wuth der Verzweiflung, und dieſe wird eintreten. Es gibt hier in der Nähe nach Wittenberg zu fonderbare Auftritte, die ſchwer zu erflären find. Es wird das Gerücht davon ficher auch zu Euch gefommen fein. Beuntuhige Di darüber nicht. Die Sache ift bis jetzt durchaus nicht von der Art, daß fie mich etwad anginge. Das Schill’fhe Infurgentencorps hält den Weg von hier nah Hamburg beſetzt, fehrieb er am 8. Mai, aber wie Ehrenmänner refpectieren fie.alle Reifenden. Du wirft nicht bange fein, meine liebe Caroline, vor Gefahr von außen. . Die Ge- fahr liegt wo anderd. O daß ich dürfte, dab Gott mir die Erlaub- ni® gäbe zu thun, was ich auf meinen Willen allein nicht thun darf! Die Schlacht von Wagram am 6. Juli und: der Wiener Friede am 14. October 1809 ftellten die Fortdauer der Gewaltherrſchaft Na- poleon’® von neuem außer Frage. Der Welten Deutihlands war längft mit dem franzöfifchen Reiche vereinigt; Deftreih und Preußen, welche den Often inne hatten, waren völlig befiegt; die zwifchen ihren Staaten und dem franzöſiſchen Kaiferreiche liegenden Landeötheile ftanden unter Fürften, die entweder der Kamilie Napoleon's angehör- ten oder doch ald Glieder. ded Rheinbundes Werkzeuge Napoleon’d

waren. Jeder politifche Zufammenhang des deutigen BUB wur Pexthes Leben. I. 4. Xufl. . 11

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zerriffen und jeder Verſuch, denfelben herzuftellen, wäre für den Pri- vatmann Wahnfinn gewefen. Alles aber fam darauf an, zu verhin- dern, daß die politifche Auflöfung nicht zugleich eine nationale Auflö- fung wurde. Wenn die Deftreicher und Preußen, wenn die Bewoh⸗ ner des linken Rheinuferd und die Unterthanen der Rheinbundsfürften das Bewußtſein verloren, Glieder einer und derfelben Nation zu fein, fo war die Herftellung einer deutſchen politifhen Einheit und Selb. ftändigfeit für immer unmöglih, und dennod war ed damals nur nad einer einzigen Seite hin den Deutfchen möglih, ihre Nationali- tät frei zu entfalten, ohne fogleich von dem Späherauge des Feindes ertappt und von feiner rohen Gewalt erbrüdt zu werden. Die Wif- ſenſchaft, fo lange fie nur Wiffenfchaft blieb, fürchtete Napoleon nicht und beachtete fie deshalb auch nicht. Für die Deutfchen aber war jeit manchem Jahrhundert ihr felbftändiged und eigenthümliches Leben in der Wiflenfchaft eine der wefentlichen Kräfte gewefen, durch melche fie als Nation erfchienen. Diefed Bewußtſein wiſſenſchaftlicher Selb- ftändigfeit und Einheit konnte freilich für fi) allein die nationale Ein- beit nicht erhalten, aber e8 fonnte doch fie erhalten helfen, konnte die Hülle werden, unter welcher verborgen der nationale Haß gegen den Unterdrüder ſich fräftigte, und ein Mittel fein, durch melches in un- verdächtiger Form ein lebendiger und fefter Zuſammenhang deutich- gejinnter Männer aus allen Theilen ded zeriprengten Deutſchlands hervorgerufen ward, der dann, wenn die Stunde der Rettung fchlug, auch mit andern Waffen ald mit denen der Wiſſenſchaft zu wirken vermochte.

Perthes hatte in den Monaten nad der neuen Beſiegung Oeſt⸗ reichs Troft und Belehrung für die Gegenwart in der Gefchichte der vergangenen Tage gefuht. Ihm fchien die Zeit der Reformation - durch ihre ungeheuren Ummälzungen, die der italienifchen Republiken durch die politifche Zerfplitterung eines lebensvollen Volfed mit den Zuſtänden feit Ausbruch der Revolutionskriege vergleichbar. In die inneren Lebendzuftände des fechzehnten Jahrhunderts, fchrieb Perthes, habe ich mich durch Benvenuto Gellini einführen laffen, dann war mir Robertſon's Geſchichte Karl's V. Leitfaden. Sch habe gelernt, daß fefter Borfab und Wille, dag ruhige Befonnenheit und die Erreichung

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großer Zwecke auch in einer Zeit: der "fürchterlichften öffentlichen Un ruhen und Ummälzungeu möglich ift. Sept erfreuen und ftärken mich Sismondi's italienifche Republiten. Jahrhunderte hindurch war Ita⸗ lien ohne gemeinſchaftlichen Mittelpunkt und ohne politiſchen Zuſam⸗ menhang geweſen; aber in den kleinen Kreiſen jener Republiken war dennoch Kraft, in ihnen erhielt man ſich dennoch mit Verſtand, und Italien konnte aufs neue erblühen und Menſchen erzeugen, deren Geiſt unſterblich, deren Thaten unvergänglich ſind. Sollten wir verzwei⸗ feln? nein. Obſchon das Ende aller bisherigen Hoffnungen eingetre- ten ift, bin ich dennoch getroft. ch liebe mein Baterland, habe oft gebetet, oft gezittert für dasfelbe und würde auch für dasſelbe gefochten haben, wenn damit etwas hätte ausgerichtet werden können; ich bin aber, um Adam Müller's Ausdrud zu gebrauchen, nicht mit der graf- fierenden Baterlandsretterei behaftet und darum auch nicht in Per- zweiflung, fondem habe die Heberzeugung, daß die deutiche Geſchichte deshalb, weil die alte Form des deutichen Reiched zertrümmert ift, nit eine Geichichte des Berfalld® der Nation zu werden braudt. Wenn ein jeder auf feinem Standpunft thut, was er Tann, fo können. die einzelnen viel ausrichten und dürfen ed, und ich will verfuchen,

was ich auf dem meinigen vermag.

Alle Deutfche, welche, ſei es fchaffend, fei- es aufnehmend, irgend einen Antheil an dem wiſſenſchaftlichen Leben hatten, wollte Perthes ohne Rüdjicht darauf, ob fie dem franzoͤſiſchen Reiche, oder den Rhein⸗ bundsftaaten, oder Deftreih und Preußen angehörten, möglichit feſt zuſammengeſchloſſen fehen. Deutfchland ift recht eigentlich, fchrieb er, Element und Vaterland ded Standes der Männer der Willenfchaft; deutfche Gelehrtenrepublif befteht noch und kann auch ferner beftehen, obgleich unfere Fürften befiegt find und das deutiche Reich zertrüm- mert if. Zu feiner tiefen Entrüftung aber mußte er ſehen, daß jelbft ehrenmwerthe Männer hier und da aus Schwäche oder Unbedacht dem Feinde dad Wort redeten. An der Afademie,-deren Präfident Sie find, fchrieb er nach) dem Wiener Frieden von 1809 an Jacobi, hat Schlichtegroll gefagt, daß dieſesmal Deutichland durch Baiern gerettet fei. Wenn Napoleon da3 fagt, jo hat das feine Wahrheit; wenn die bairifche Regierung das fagt, fo weiß man, wie man es zu nehmen

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bat; wenn aber ein deutfcher Gelehrter in einer deutfchen Akademie der Wiffenfchaften das fagt, fo ift ed eine Entehrung, und wer dazu ſich hergibt, ift das Leichenhuhn der. Wahrheit. Wie ift, fragte er, ſolchem Berhalten einzelner gegenüber die deutfche Gelehrtenrepublif zu fichern, wie ihr Zufammenhang zu erhalten und wie jind ihre Mit- glieder vor Sklaverei, das heißt vor ihrer Vernichtung, zu bemahren ? Wenn ihnen nur, antwortete er fich felbft, eine Freiftätte geboten wird, durch welche fie, fei es auch nur vor der äußerten Xebendnoth, ge⸗ fichert werden, fo ift mir nicht bange; dann wird, weil ſie Deutſche jind, die Stimme der Wahrheit erfchallen von Bafel bis Königsberg, von Schleswig bis Prepburg, und damit ift viel, fehr viel gemonnen und erhalten. Solche. Freiftätte aber hat der Buchhandel ihnen ſchon lange gewährt und muß fie fünftig noch mehr gewähren. Der deut- ſche Buchhandel ift das einzige noch. vorhandene Band, welches die ganze Nation umfaßt; ein Nationalinftitut ift er, frei aus fich felbit entfproffen und jetzt beinahe allein unfere nationalen Eigenthümlich— keiten echt harakterifierend. Daß er nicht altes leitete, was er leiften konnte, ift wahr; aber für die Zukunft fann er noch vieles Teiften, und er allein kann die deutfche Gelehrtenrepublif retten, und das ift meine Aufgabe für diefe® Leben. Das Wie ift mir Mar vor Augen und ift ausführbar. Komme eine Einrichtung für Deutfchland, wie fie wolle, fie kann diefer Sache fein Hindernis in den Weg legen. Ich habe durch ganz Deutfchland Freunde, von denen nicht wenige fähig find, aus eigener Weberzeugung mit Kraft etwas gutes und wahres zu er- greifen und zu verfolgen; andere werden mir zu Liebe gerne etwas thun, und wieder andere find mir gern gefällig um der Gegengefäl- ligfeiten wegen... Den Kreis der Freunde fuche ich mir auszudehnen, Feinde habe ich nicht. Bewahrt mir Gott das Leben, fo hoffe ich felbft noch tüchtig Hand anlegen zu fönnen, und was ich nicht kann, das werden andere nach mir thun. Bor der Hand aber muß, ehe ſich etwas größered- unternehmen läßt, abgewartet werden, welche Ordnung unſeres Paterlanded nad dem nun geſchloſſenen Frieden von Napoleon beliebt wird.

Ein Unternehmen nur ſchien Perthes jetzt ſchon möglih und, von den verfchiedenften Geſichtspunkten aus betrachtet, nothwendig. Die

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deutfchen Sournale, fehrieb er an Jacobi, find mit wenigen Ausnah⸗ men in ganz fhlechten Händen; fie find theil® fchlecht aus Abficht und Wahl, theild find fie nur des Gewinne? wegen unternommen und trachten deöhalb nur darnach, die verwöhnten Gaumen ftet3’mit dem Neueiten zu kitzeln. Das ift zu allen Zeiten traurig, zu unferer Zeit aber ift ed ſchrecklich. Es kommt jetzt, da es nöthig ift, zur rechten Zeit augenblidlich zu fprechen, viel darauf an, daß deutfche Männer willen, wo fie für den Augenblid etwas zu Tage fördern können. Eine in furzen Zeiträumen erfcheinende Zeitichrift, welche Tebendige Berbindung aller deutfchgefinnten Männer erhält, ift dringendſtes Bedürfnis. Meinen guten Willen zu fold einem Unternehmen kenne ih, meine Stellung ift günftig; ich kenne die Edelften der Nation theild perfönlich theild durch dieſe oder jene Berührungspunfte und kann ‚mir deren Beihilfe verfprechen; mein Buchladen reicht in der gedrüd- ten Zeit Hilfamittel für die Nedaction dar, wie fein anderer e8 ver- mag.. Aber, werden Sie vielleicht fagen, was hilft Euch Euer guter Wille. Dürft Ihr au? Darauf antworte ih mit Jean Paul: Mit feinem Zwange entichuldigt die Furcht ihr Schweigen. Wir können auch unter Napoleon’® Herrfchaft vieles fagen, wenn wir nur die rechte Weife lernen, es zu fagen, und überdied wollen wir das Gute nicht verihmähen, was zugleich mit dem fremden Uebel uns zu Theil wird. Wahrlich es find gar viele heilfame Dinge, die wir von den Franzofen erlernen und erwerben fönnen, und e8 ift echt deutfche Sin- nesart, das Gute allenthalben zu erfennen. Baterländifches Muſeum fol fich die neue Zeitfchrift nennen. Sie foll nicht verboten werden, darum muß fie fehr vorfichtig auftreten. Sie foll gelefen werden, darum muß ihre Abficht und Richtung erfennbar für die Deutfchen fein. Ich werde meinen Gang ruhig vorwärts gehen, in der feften Veberzeugung, daß ich mein Ziel erreiche, und wahrſcheinlich ungeftört.

Seit Ende Rovember 1809 verfendete Berthes den Plan des va- terländifhen Muſeums nad allen Gegenden Deutfhlands ar alle Männer, von deren deutſchem und wilfenfchaftlichem Sinn er Kunde hatte. In befondern Zufhriften, von denen manche zurücbehaltene Auszüge aufbewahrt geblieben find, fuchte er den einzelnen die Seite des Unternehmens hervorzuheben, welche er ihnen am meiften zugäng⸗

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lih bielt. Bald ſprach er von der Förderung der deutfchen Wiflen- fhaft, bald von der Einwirkung auf die Gefinnung ded Volkes, bald von der Möglichkeit, welche die Zeitfchrift den wegen ihrer deutfchen Geſinnung von ihren Regierungen verlaffenen oder gedrüdten Män- nern gewähre, fich ihr Leben bis auf beflere Zeiten zu friften. Andern that er dar, wie der wilfenfchaftliche Zufammenhang jet der einzig mögliche Zufammenhang der Deutfchen fei, und wie in dem Mufeum aus allen Wiffenfhaften das Nationale hervorgehoben werden follte. Einigen wenigen und unter diefen namentlich Sean Paul eröffnete er fein ganzes Herz. Ein unverdächtiger Bund der deutfchen Männer, welche von Gott zu geiftigen Leitern ihred Volkes berufen feien, werde; . fo hoffte er, den Augen der Dränger verborgen ins Leben treten; jedes einzelne Mitglied könne nad Map feiner Stellung und Bedeutung, ohne Auffehen zu erregen, gleichgefinnte Männer an ſich ziehen; ein Mittelpunkt, der einzige, welcher jest möglich fei, fei gegeben und fhnell könne fi, wenn die rechte Stunde fäme, der wiflenfchaftliche Verein in einen Bund umſetzen, welcher zu fräftigen Thaten Kraft und Zufammenbang befite. Damit der Verein eine fo breite Unterlage im Bolfäleben wie möglich erhalte, follte Feine Seite des deutfchen wittenfchaftlichen Lebens unvertreten bleiben. Bon Rumohr erbat er fih Nachrichten über die Werke altdeutfcher Kunft, von Wilken über alte Gebräuche und Gewohnheiten und über die Wahrheit und Un⸗ wahrheit des Gegenfaged von Nord- und Süddeutichland. euer. bach follte über deutſches Recht und Gefebgebung, Auguft Wilhelm Schlegel über deutfche, Friedrich Schlegel über öftreichifche Literatur insbeſondere, Sailer in Landehut über das religiöfe Leben der deut- [hen Katholifen, Marheineke in Heidelberg über die Bedeutung des deutſchen Predigtamtes, Schleienmacher über die philoſophiſche, Pland über die biftorifche Iheologie der Deutfchen berichten. Schelling machte er darauf aufmerffam, daß er wohl, wenn e8 darauf anfäme, fih dem großen Publicum bequemen fönne, wie die Rede über bil- dende Künfte zeige; Gentz erinnerte er daran, nicht deshalb ganz zu ſchweigen, weil er nicht alles fagen könne, was er zu fagen wünſche.

Zahllofe Antwortfchreiben aus den großen Städten wie aus den entlegenften Winkeln Deutfchlanda Tiefen ein und unter ihnen waren

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nur fehr wenige, welche ſich nicht mit Wärme über dad Unternehmen und mit Dank gegen den Mann, welcher ed verfuchte, auögefprochen hätten. Adam Müller, Gent und Karl Ludwig von Haller, Karl Friedrich Eichhorn, Thibaut, Savigny und Heife, Marheineke, Stäud- lin, Schleiermader und Planck, Sailer, Stolberg und Friedrich Schlegel, Steffen, Amim und Fouqué, Goͤrres, Franz Baader und Brentano, Rumohr, Tiſchbein und Fiorillo, Scheffner aus Koͤnigs⸗ berg und Schlippenbach aus Kurland, Lichtenftein und Grimm, Rühs und Heeren, Raumer und Rehberg,, der alte Feder in Hannover und der eben fo-alte Hegewiſch in Kiel und viele andere hegten nach dieſer oder jener Seite hin und in mehr oder minder hohem Grade Hoffnun- gen von dem angekündigten wiſſenſchaftlichen Bereinigungspunft. Hüllmann glaubte die deutfche Gefellihaft in Königsberg dem deut⸗ fhen Mufeum anfchliegen zu können, und hoffte, daß auch an andern Drten ähnliche Gejellfehaften eine Verbindung eingehen würden. Mit wärmfter Begeifterung führte Villers Deutfche in Mosſskau, Parid und Warſchau dem Unternehmen zu und erwedte auch Guizot's Aufmerk⸗ ſamkeit für dasſelbe. Goethe freilich verfagte feine Theilnahme. Ich muß, obgleich ungerne, ablehnen, an einem fo wohlgemeinten In⸗ flitute Theil zu nehmen, antwortete er; ich habe perfönlich alle Ur- fache, mich zu concentrieren, um demjenigen, was mir obliegt, nur einigermaßen gewachfen zu fein, und dann ift die Zeit von der Art, daß ich fie immer erſt gerne eine Weile vorüberlaffe, um zu ihr oder von ihr zu fprechen. Berzeihen Sie Daher, wenn ich dem Antrage ausweiche, und laffen Sie mid) manchmal erfahren, wie Ihr Unter- nehmen gedeiht. Ich freue mich, fchrieb dagegen Graf Friedrich Leopold Stolberg, mid) an Sie und die Ihrigen anzuſchließen, Tie- ber Perthes. Wie fehr ich die Kühnheit Ihrer ald Manuſcript ge- druckten Ankündigung ehre und liebe, brauche ich Ihnen nicht zu fagen. Die für das Publicum beftimmte Anzeige mußte etwas gezwungen audfallen. Das wird wenig fehaden: der ungeübte Lefer merkt es nicht, und der geübte fieht fogleich dad Warum, der patriotifche wird Fhnen manche Aeußerung mit vielem Danke hoch anrechnen. Gebe Gott Shnen, edler Mann, Muth, Kraft und Ausdauer, fchrieb Marheinefe, um ein Unternehmen behaupten zu können, das fich

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durch feine Idee ſchon allen Deutfhen empfiehlt. Mit großer Ein- fit haben Sie eine eigene Rubrif „Kanzelredner“ aufgeftellt, denn grade von diefen wird das Deutfche in der-proteftantifhen Gefinnung dem Bolfe nahe gebracht. Gerne bin ich bereit, Ihnen einige Auf ſätze über den wahren Charakter eines proteftantifchen Geiftlichen zu liefern, welche ich mit deutſchem Sinn und deutfchen Muth zu ent- werfen gedente. Suchen Sie aber für andere Seiten der Theologie noch einen Dann von gediegener Philoſophie und von tüuͤchtiger Hiſtorie; in jener Rückficht weiß ih nur den einzigen Schleiermacher, in dies fer nur den einzigen Pland vorzufchlagen. Ihr Unternehmen, hochverehrter Herr, ſchrieb Haller aus Bern, fehe ich wie eine Fügung Gotted an. Nie darf man verzweifeln. Das einzige Mittel gegen das Unglüd der Zeiten ift, beffere Grundfäge und beffere Gefinniun- gen in Kopf und Herz der Menfchen zu bringen. Diefe dringen zu- legt auch in das Gemüth der Gewaltigen ein und bringen Reſultate herbei, die man nie erwartet hätte. Haben ſtaats⸗- und religionsver⸗ derbliche Irrthümer ſelbſt auf manche Throne fich geſchwungen, wa- rum ſollte der himmliſchen Wahrheit nit aud ein Platz vergönnt fein, fie, deren am Ende jeder bedarf, die Fürften und Bölfern gleich nügfich ift, für welche die Gemüther wieder empfaͤnglich werden und die jetzt noch dazu den Reiz der Neuheit gewinnt. Laſſen Sie, vor⸗ trefflicher Mann, nur den Muth nicht ſinken. Die Mannigfaltig- feit Ihres Muſeums hat mich keineswegs befremdet, Tiebfter Freund, ſchrieb Steffens aus Halle; es mußte das Eigenthümliche der ganzen Literatur ergriffen werden, und diefe bewegt fich in den mannigfach⸗ ften Richtungen. An äußere Berfnüpfung de? Bielfachen muß man gar nicht denken und den vielfeitigften Anfichten muß man freien Spielraum geben. Wenn nur ein jeder Aufſatz etwas tüchtiges in feiner Art leiftet, fo fpricht fich die Einheit des deutſchen Geifted von jelbft im Ganzen aus. Wo die Natur da3 Lebendige nicht äußerlich vereinigt, fondern innerlich frei walten läßt, fo, denke ich, .liegt 28 auch und ob, überall die ebereinftimmung des Einzelnen mit dem Ganzen zu fuhen. Mag doch der Zwiefpalt in unferer Nation fi regen und ſcheinbar Geifter von Geiftern trennen; auch die Natur erfchien im wildeſten Kampfe mit ſich felbft, bevor das herrlichfte le

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ben, ber Mittelpunkt der Schöpfung, hervortreten follte. So ſtark ift der Kern der deutfchen Nation, daß eine ewige: Bergangenheit in ihr lebt und eine ewige Zukunft mit Sicherheit weisſagt. Nie hö⸗ ven Sie auf, wie ich jehe, fi mit den großen Intereſſen des ge- meinfhaftlichen Vaterlandes zu befchäftigen, antwortete Gen aus Prag, und über Meinfihe Rüdjichten erhaben, tragen Sie fein Be- denken, auch mich zur Mitwirkung bei dem höchſt Löblichen Unterneh⸗ men aufjufordern. Sie haben volltommen Recht. Die Preſſe iſt kei⸗ neswegs in dem Grade gefeſſelt, wie fo manche zitternde Buchhänd⸗ ler und Schrifiſteller wähnen. Dan darf ſelbſt in Frankreich und um wie viel mehr alfo in Deutfchland jept beinahe alles ſchreiben, was dem Publicum zu leſen frommt, wenn man fi nur in der Form von gewiſſen Klugheitämaßregeln nicht entfernt, die, im rechten Lichte betrachtet, der wahren Bervolllommnung fehrifftellerifcher Arbeiten am Ende wohl eher vortheilhaft ala [hädlıch find. Ahr Plan ift vor⸗ trefflih umd der, welcher die Ankündigung abgefaßt hat, gewiß fein mittelmaͤßiger Kopf... Auch kenne ich Sie-felbft genug, um mich über- zeugt zu halten, daß Sie zu einer folhen Sache nicht fehreiten wür—⸗ den, wenn Sie fih nicht audgezeichneter Werkzeuge verfichert hätten. . Wenn ich felbft mich nicht gleich beftimmt und unbedingt unter die Zahl ihrer Mitarbeiter einfchreibe, fo hat das feinen Grund in mei« nen perfönliden Berhältnifien. An authentischen Auffchlüffen über die neuefte Zeitgefchichte kann Fein Schriftfteller, Tönnen überhaupt wenige’ meiner Zeitgenoffen fo reich fein als ich; ich darf es fagen, weil Umftände, nicht mein Berdienft, mich dazu führten. Aber.grade das Anziehendfte, dad Wichtigfte von dem, mas ich weiß, fann ich nur felten dem Publicum mittheilen, weil es mir unmöglich ift, Perfo- nen zu compromittieren,,; die große Rollen auf dem Schauplah der - Melt fpielen oder fpielten,, deren Vertrauen ich um feinen Preid mid» brauden wollte und an deren Freundfchaft mir. oft mehr- gelegen ift ald an dem flüchtigen Beifall oder kalten Dank des Publicumd. Auch ergreife ich diefe Beranlaffung, um Ihnen etwas zu fagen, mad Ih» nen vielleicht in mancher Beziehung - nicht unintereffant if. Es hat fich nemlich ſeit den legten öftreichifchen Friedensverhandlungen, ohne daß in meinen Grundfäßen oder in meinen Gefinnungen oder in mei⸗

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ner übrigen Lage das geringfte alteriert oder verändert worden wäre, in meinem Verhältnis zur franzöfifchen Regierung eine weſentliche Veränderung zugetragen, indem die dee, welche der Kaifer Napo⸗ leon von mir gefaßt hatte, eine andere Geftalt gewonnen hat; und wenn Sie gleich nie von mir hören werden, daß ich meinen biäherigen Wandel und Charakter verleugne, jo habe ich Doch Gründe zu glau- ben, daß es in franzöfiihen Blättern forthin Feine Ausfälle gegen mich mehr geben wird. Den eigentlichen Zuſammenhang der Sadıe kann ich einem Briefe nicht anvertrauen, daß mir aber in der Rage, worin die Welt nun einmal fich befindet, diefe Art von Bacification nicht unwillkommen fein fann, werden Sie leicht begreifen.

. Seit dem Frühjahr 1810 trat das deutfche Mufeum ind Leben " und brachte Beiträge von Jean Paul, Graf Friedrich Leopold Stol- berg, Claudius, Fouqué und aus dem Nachlaß Klopſtock's, Auffäbe bon Heeren, Sartorius, Hüllmann und Friedrich Schlegel, von Gör⸗ red und Arndt, von Scheffner und Zifchbein und manchen andern bes deutenden Männern.

Obgleich Perthes fich zu dem Geftändniffe gendthigt fah, daß nur wenig von dem, was er gefagt haben möchte, in dem Mufeum ge fagt werden dürfe, fo übertraf die Aufnahme dedfelben dennoch alle Erwartungen; aber auch die durch die Herausgabe geforderte Arbeit überftieg neben den großen politifchen Aufregungen und neben den fortlaufenden Anftrengungen für das ausgedehnte Geſchäft fait dad Map der menſchlichen Kraft, und das Familienleben der Jahre 1809 und 1810 trat mit feinen Freuden und Leiden hinzu. Am 2. März 1809 ward ihm ein Knabe, Clemend, geboren. Wir haben gerne einen Knaben, fehrieb Perthes; durch dieſe aufwachſende Jugend Tann man für die Zukunft werden, was für die Gegenwart zu fein unmög⸗ lich if. Am 4. April 1810 wurde ihm eine Tochter, Gleonore, ge- fhenft, aber auch ſchwere Kinderfrankheiten fuchten die Familie heim, und am 18. December 1809 ftarb Perthes' zweiter Sohn, Johannes, ein bedeutender, lebensvoller Knabe. Mit feinem Herzen voll reiner Liebe und Fröhlichkeit, fehrieb Caroline, war er unfer Glüf und unfere Freude. Run fehen wir ihm mit betrübtem Herzen nad und fönnen und noch immer nicht Darauf befinnen,, daß wir ohne ihn

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weiter fortleben follen, und können und nur traurig des vielen Guten freuen, was Gott un? gelaffen hat. Es ift ein bitterer Schmerz, ein lie bes Kind fo weit entfernt zu haben, aber Gott wird mein Sehnen, Hof. fen und Glauben wahr machen und mir wieder geben, was mir Tag und Nacht fehlt und was ich fo von Herzen gern behalten hätte. Nach manchem Fahre der Unruhe und Anftrengung gewährte ſich Perthes ein, wenn auch nur furzes, forgenlofes Ausruhen, indem er feine liebe Schwarzburger Heimat beſuchte. Die beiden jüngften Kinder wurden von den Wandabeder Großeltern in Obhut genom- men, und mit den vier Altern reiften Perthed und Caroline Anfang Juli 1810 über Braunfchiweig und Naumburg nach Zhüringen ab. Könnte ih Euch nur, fehrieb Karoline aus Schwarzburg an ihre Mut- ter, die Groͤße, Schöne und Kieblichkeit der hiefigen Gegend wieder: geben, aber Worte reichen nicht. Und Gott fei Dank, daß der Menſch mehr empfinden als audfprechen kann; es bleibt ein jämmerlih Ding um dad Sprechen, wenn ed Ernft im inneren if. Die Thüringer Berge und Thäler greifen den Menfchen an der rechten Stelle, id) halte fie feft und werde fie fefthalten, fo lange ich lebe. Es ift zu viel, fage ih, und man hat nicht Kraft, alles in fich zur Ruhe zu bringen. In unferer Fläche fann man zu dieſem Zuftand von Freude, Dank barkeit und Sehnfuht nad) dem Herrn diefer himmelfchönen Natur nit fommen, und ich fehe es als eine große Gabe an, daß mich der liebe Gott dieſes alled hat fehen laffen in diefer Welt. Dad Schwarz. burger Thal ift die Krone, es hat einen unglaublichen Reichthum von mannigfaltiger Größe und Schönheit, und man kann e8 nicht Taffen, man muß ſich ausſtrecken nad) dem Schöpfer und Erhalter des Wun- derwerkes. Auf der einen Seite find große Felsmaſſen wie mit Men ſchenhand aufeinander gefeßt, auf der andern Seite wunderliebliche, bewachſene Berge, mit Feldern, Häufern, Menfchen und Vieh geziert. Die Schwarza fließt hell und Har in der Mitte und rauſcht und brauft mitunter tüchtig. Unſer Anfommen in Schwarzburg glüdte fehr gut. Wir waren zwei Stunden vor Schwarzburg audgefliegen und gingen ju Fuß; mit einemmal fam um eine felfenede der Oberftlieutenant und faßte Perthes in großer, herzlicher und natürlicher Freude um den Hald. Meinem lieben Perthes wurde fein beſonnenes, ehrbared

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und verftändiged Concept verrüdt und.er mußte ſich der Freude bed Wiederſehens überlaffen, wie andere ehrliche Leute. Diefer Onfel Oberftlieutenant ift ein fehr kräftiger, grader und gefcheider alter Mann, den ich fehon herzlich lieb habe. Als wir noch einige Schritte weiter gegangen waren, hatte er auf einem breiten Felsſtück ein Frühftüd zurecht gemacht, das er felbit in feiner Jagdtaſche hergetragen hatte. - - Er war überaus fröhlich und freundlich und fonnte ſich nicht fatt er⸗ zählen vori der Freude, die er an Perthes gehabt, wenn fie zuſam⸗ men Fußtouren gemacht oder nad) dem Bogelherd gegangen mwäten. Noch etwas weiter kam der andere Onfel mit feiner ganzen Kinder- fhar. Wir padten nun da3 Fleine Bolt in den Wagen und gingen langfam hinterher. Bis tief in meine Seele bin ich gerührt über die große und allgemeine Freude, die hier ift, weil fte den Perthes . wieder. haben, und mein lieber Perthes ift wie ein Kind, und ih danfe Gott; daß er ihn und mid; dies hat erleben laſſen. Sie find alle initeinander wieder zwanzig Jahre jünger geworden.

Mach einem Aufenthalte von einigen Wochen reifte Perthes mit

Frau und Kindern von Schwarzburg nad) Gotha, wo Juſtus Per-

thes, der Bruder feined Vaters, lebte. "Hier wären wir denn, fchrieb Caroline, und find aud) hier wieder unbefchreiblich freundlich aufge- nommen, aber unfere lieben Thüringer: Berge fehen wir nur noch in der Ferne. Die Kinder fehnen fih nah der Waldfreiheit und mir felbft geht es nicht beffer; ich Habe Mühe, es mir nicht merken zu laf- fen. In unferm Wald hatten wir die Franzoſen beinahe ganz ver- gefien, aber hier wird man tagtäglich wieder an fie erinnert. Schon feit Monaten werden Gefchüge, mwunderfchöne große Kanonen, aus Danzig und Magdeburg nad) Paris hier durchgeführt. Ad, man hat die Welt mit aller ihrer Noth und Unnatürlichkeit recht vor Augen, und fo wunderwohl, wie in den Bergen und Thälern, in denen man fi felbft mit allen feinen Nöthen und Gebrechen vergißt, kann es ei. ‘nem nicht werden. In Erfurt habe ich dritthalb ftille Mefien abge hoͤrt oder abgefehen, die mir im höchften Grade misfallen haben. Auch war ich in dem Urfulinerflofter, von dem fich viel erzählen läßt, aber nicht? gutes; die erfte Frage einer alten Nonne war, ob der Kaffee in Hamburg noch nicht wieder wohlfeiler würde. Auguftiner

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babe ich mehrere gefehen, die mir zu meinem größten Aerger ſaͤmtlich misfallen haben, dagegen bat Neudietendorf, ein Ort der Herrnhuter, mir wohlgethan. Die Menfchen haben-ein reines, ruhiges, fröhliches Auge und, ich glaube, aud eine ftille Sehnfucht im Herzen. Wenn ihr Innere wirklich dem Aeußeren entjpricht, möchte ich wohl, daß nach meinem Tode die Kinder dort fein könnten. Auch der Kirchhof ift fi und ruhig, und man möchte dort fchlafen.

Ueber Kaffel und Göttingen kehrte Perthes nach Hamburg zurück. So eine Reife, wie wir fie genoffen haben, fchrieb er nach Schwarz. burg, ift ein wahres Bild des Lebens, nur was nad) der Reife noch übrig bleibt von der Reife, ift die eigentliche Neife. Uns ift vieles geblieben. .

Nicht Tange nach feiner Ruͤckkehr wurden Gerüchte von neuen gewaltfamen Beränderungen, welche Napoleon in Deutfchland beab- fihtige, laut. Schon im Herbfte 1809 hatte fich der franzöſiſche Ge- fandte Reinhard in Hamburg aufgehalten, um die Entfcheidung über das endlihe Schickſal der Stadt vorzubereiten. Er hält, fehrieb da— mal? Perthed, Conferenzen mit Deputierten und Nichtdeputierten über die Erhaltung und Fortdauer der Hanjeftädte. Der Kaifer wird, nach⸗ dem er erfahren hat, wie die Lage der Dinge ift, das künftige Berhältnid der Städte beftimmen. Mehr ala ein Jahr war feit diefem Briefe verlaufen, als kurz vor Weihnachten 1810 der Beſchluß des franzöfi- fhen Senats in Hamburg befannt gemacht wurde, nach welchen die drei Hanfeftädte zugleich mit dein ganzen nordweitlichen Deutfchland zu einem Beitandtheil des franzöfifchen Reiches erflärt wurden. Ham⸗ burg, von Karl dem Großen erbaut, fo hieß e8, folle nicht länger des angeftammten Slüdes entbehren, feinem größeren Nachſolger an⸗ jugehören.

Hamburg war eine franzöfifche Stadt und ihre Bürger waren Napoleon’3 Unterthanen geworden. Da Perthed die Unmöglichkeit, feine Ziele in der bisherigen Form zu verfolgen, erkannte, gab er da8 deutſche Mufeum auf. Bei Anlegung diefer Zeitfchrift, fagte er am Schluffe des legten Hefte, war mein einziges Ziel, die Wohlge- finnten und Berftändigften unfere® Vaterlandes zu vereinigen, um durch Lehre und Rath in verfchiedenen Formen zur Erhaltung ded Eis

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genthümlich-Guten der Deutſchen an Kraft, Wahrheit, Wiſſenſchaft und Religion beizutragen. Da ih aber ald Einwohner Hamburgs durch die neueften Einverleibungen Unterthan des franzöfifchen Kaiſerthums werde, fo machen die Dadurch eintretenden Berpflichtungen jene fruͤ⸗ here Richtung jetzt unzuläßlih, und das deutfche Mufeum kann von mir nicht weiter beforgt werden. Ihr Mufeum verftummt nun auch, fehrieb ihm Nicoloviud, aber der Geift wird leben und Sie und Ihr Beftreben preifen. Sehr wünjche ich, Tieber Perthes, äußerte Stolberg, daß Sie mit den waderen Männern, die Sie vereinigt hat⸗ ten, auch künftig in Verbindung bleiben könnten, um fi) den Ge danken einer neuen Bereinigung zu edlem Zwecke nicht fremd werden zu laffen, je nachdem Zeit und Umftände auf vielleicht nicht erwar⸗ tete Weife fie erfordern und begünftigen möchten.

Wer jest, fo viele Jahre fpäter, den Inhalt des deutfchen Mu- ſeums überblidt, wird wohl den Eindrud deutfcher Tüchtigkeit und Nedlichfeit empfangen, aber nur die wenigen, die ſich den Drud je ner Zeit in feiner ganzen Furchtbarfeit lebendig vor die Seele zu brin- gen vermögen, werden ed erHlärlich finden, dag das Aufhören jener Zeitfchrift inmitten der ungeheuren Ereigniffe als ein nationales Un⸗ glüd von allen Seiten betrachtet werden konnte.

Perthes' Haltung als frauzöfifcher Unterthan. | 1811 und 1812.

Napoleon hatte, um die Berhältniffe der drei neugebildeten han- featifchen Departement? zu ordnen, eine eigene Commiffion beftellt, deren Präfident Davouft, Prinz von Eckmühl, Herzog von Auerftädt, wurde. Am 2. Januar 1811 langte die Commiffion und in den er- ften Tagen des Februar Davouft in Hamburg an; unter ihm arbei- tete Graf von Chaban, früher Präfeet in Koblenz; und in Brüffel, als Intendant des Innern und der Finanzen, und Staatsrath Faure follte Einrichtungen im Gerichtöwefen treffen. Am 4. Juli hatte die Cogmiffion ihre Arbeiten vollendet, und am 19. Juli wurde die

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neue Ordnung der Dinge befannt gemacht. Davouft blieb General- gouverneur für die drei hanfeatifchen Departements; unmittelbar un⸗ ter ihm ftand ald Generaldirector der hohen Polizei Mr. D’Aubignofe. Gr leitete da3 gefamte Spionenwefen und benugte feinen großen Ein» flug auf den Prinzen, um deſſen Midtrauen gegen die Bewohner Hamburgs zu vermehren und zum eigenen Vortheil auszubeuten. Präfect des Departements der Elbemündungen wurde Baron de Co- nind, Maire von Hamburg der frühere Senator der Stadt Abend- roth. An dem in Hamburg eingefesten kaiſerlichen Gerichtähof, wel⸗ her die legte Inſtanz für die drei hanfeatifchen Departements und für dad Departement des Oſtens bildete, verfah de Serre, der fpäter in Stalien Niebuhr'd naher Freund ward, die Stelle des eriten Prä- fidenten, und Eichhorn, der fpäter das gleiche Amt am rheinischen Reviſionshofe in Berlin lange Jahre bekleidete, die Stelle des Ge neralprocurator.

Perthes war kein blinder Feind alles deſſen, was die neue Herr⸗ ſchaft brachte. Glauben Sie mir nur, ſchtieb er dem Schwarzburger Oheim, mich leitet in meinen Anſichten nicht Leidenſchaft. Ich achte und ſchätze ſehr vieles der neuen Wirthſchaft und ſehr weniges von dem, was unſere Fürften und Regierungen früher thaten. Unter den höheren franzöfifchen Beamten find fehr wackere Männer, und die Ge- richtsverfaſſung ift ein großer Gewinn. ber auch dem Manne, der nicht in blindem Eifer dahinging, mußte der neue Zuftand ſchrecklich erjcheinen. In dem ganzen nordmeitlichen Deutfchland waren durch Einverleibung in das Kaiferreich und durch die fie begleitenden Um- wälzungen alle Berhältniffe des Befiged und des Verkehrs von Grund aus verändert, und auf die Stellung, welche Perthed als Gejchäfts- mann einnahm, wirkte überdied das Verhältnis ein, in welchem die franzöfifche Regierung zu der Literatur und zu deren äußerem Träger, dem Buchhandel, ftand.

Die Denkfreiheit ift die erfte Eroberung des Jahrhunderts, hatte Napoleon erflärt, und ich will Prepfreiheit in meinen Staaten ha» ben; aber ich- will willen, fügte er hinzu, was für Gedanfen und Ideen in den Köpfen umgehen. Cine Reihe von Anordnungen wa⸗ ten, um bdiefe Wißbegierde zu befriedigen, fehon durch das Decret

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vom 5. Februar 1810 getroffen worden. Die Buchhändler und Buch druder follten in jedem Departement Frankreichs bis auf eine Fleine Zahl von Männern verringert werden, deren Eifer in der Pflichterfül- lung gegen den Kaifer und gegen dad Wohl ded Staated unverdädh- fig fe Um den gejamten, durch diefe wenigen Männer betriebe- nen Bücherverkehr zu beauffichtigen, wurde in Paris die aus vier Püreaud und zahlreihen Beamten gebildete Generaldirection der Buchdrudereien und ded Buchhandel? errichtet, an deren Spige fich der Staaterath Baron Pommereul als Generaldirector befand. In. den einzelnen Departements führte ein Infpecteur der Buchdruderei und ded Buchhandeld die unmittelbare Auffiht, und neben ihm ftand, um da8 Stempeln der einzelnen Bücher zu beauffichtigen, der commis- saire-verificateur à l’estampille. Jeder Buchhändler, welcher nad) irgend einem Punkt des Kaiferreiches ein außerhalb desfelben gedrude ted Werk einführen wollte, mußte Originaltitel, franzöfifche Ueber- fegung desfelben, Autor, Inhalt, Jahreszahl, Format, Drudort dem Generaldirector in Paris einfchiden und die.Erlaubnis zur Ein- führung nachſuchen. Hatte diefer-Fein Bedenken, fo fendete er den fogenannten Permid an dad Grenzdouanenamt, über welches der be⸗ treffende Bücherballen. in das franzöfifche Reich eingehen follte. Das Douanenamt, wenn Die Bezeichnung des Ballens mit dem Permid übereinftimmte, fendete beides an den Präfeeten, unter welchem der Bücherempfänger wohnte, der Präfect übergab ed dem inspecteur de l’imprimerie et de la librairie, welcher es, nachdem er einen proces verbal darüber aufgenommen, dem verificateur à l’estampille zufen- dete. Der-Verificateur rief den Eigenthümer der Bücher, öffnete den Bücherpaden in deffen Gegenwart, verglich den Inhalt mit dem Per⸗ mis, nahm die nicht im Permis angegebenen Bücher fort,. wog die andern und beftimmte die droits nad) dem Gewicht, fünfundftebenzig Gentimes nemlich für jedes Kilogramme, das heipt für 2 Pfund 2 Loth. Dann ftempelte er jeded einzelne Buch und gab es frei. Am Ende jedes Monats fendete der Verifcateur ein Verzeichnis aller freigege- denen Bücher an den Generaldirector nah Paris, damit eine noch malige Vergleihung mit den in Paris geführten Liften vor fi) gehen Tönne. In diefer Weife fhien das Reich gegen dad Eindringen von

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Schriften, die dem Kaifer hätten unangenehm fein können, ficher ges nug verwahrt, und um zu verhindern, daß nicht Schriften dieſer Art im Innern felbft zu Tage gefördert würden, mußte jeder Buchdruder Frankreichs von jeder Schrift, die er zu druden beabfichtigte, den ausführlichen Titel an den Präfecten feined Departement? und an den Generaldirector nah Paris fenden. Der Generaldirector konnte nach Gutbefinden Einfendung und Unterfuhung de? Manufcripts ver⸗ langen und den Druck verhindern; hielt er die Unterſuchung nicht für nöthig, fo ſendete er dem Buchdrucker einen Schein, recepisse,, dar⸗ über, daß er die Angabe des Titel erhalten habe, und der Drud durfte vor fih gehen, jedoch auf Verantwortlichfeit des Druders, Berbreiterd und Verfaſſers.

Sobald Hamburg und dad nordweitliche Deutfchland dem fran⸗ zöſiſchen Kaiſerreiche einverleibt worden war, erſchien es gewiß, daß dieſe Einrichtungen auch in den neuen Departements Geltung erhal⸗ ten würden. Für jedes einzelne deutſche Buch alſo, welches in Ham⸗ burg gedruckt oder z. B. aus Göttingen oder Leipzig, Berlin oder Kiel nad Hamburg und durd Hamburg in die deutichen Theile des Kai⸗ ferreiche® gebracht werden follte, mußte, mie vorauszufehen war, ein Erlaubnisſchein aus Paris beigebracht werden. Es ſchien unmöglich, daß ferner noch von Buchhandel in Hamburg oder in einer andern deutfchen Stadt des Kaiferreiched die Rede fein könne. Um fich mes nigften? für die nächfte Zukunft zu helfen, erbat fich Perthes von allen Buchhandlungen Deutfhlands die in denfelben verlegten bedeutende- ren Werke auf fein Lager in Commiffion. Mafjenweife gab man ihm größere und Pleinere Werke, welche in möglichfter Eile, bevor die Sperre wirklich eintrat, nach Hamburg geſchafft wurden. Zugleich wendete fich Perthes an den ihm ſchon länger befreundeten Görres nad) Koblenz, um vor diefem Auskunft über die Art und Weife zu erhalten, in welcher die ftrengen den Buchhandel betreffenden Anord- nungen audgeführt würden. Ich erhalte eben Ihren Brief, antwor- tete Görres, und fee mich ſogleich hin, denfelben zu beantworten und Ahnen in Ihrer gegenwärtigen Lage mit Rath an die Hand zu gehen. Allerdings fteht Ihnen, wenn das franzöfifche Geſetz bei. Ih— nen eingeführt wird, viel Berluft, Störung, vemmung und Ver⸗

Perthes“ Leben. 1. 4. Aufl. 12

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drießlichkeit bevor. Die ganze Sache iſt noch ſehr ſchlecht organifiert, nichts greift ineinander, nirgends iſt Kenntnis des Gegenſtandes, al⸗ les ins Unabſehbare ausgezogen, ſonſt aber vor der Hand noch nicht eigentlich drückender Geiſt und Illiberalität. Die Bücher werden hier bei ihrer Ankunft, wenn fie verdächtig ausſehen, vom Präfecten un- ter Leute in der Stadt zur Beurtheilung vertheilt, die fie nun nad Gutdünfen Donate lang behalten. Doch unterwirft man nichts einer jolchen Unterfuhung ald politifche Schriften, und auch dieſe nur oben- bin; aber defto ftrenger ift man gegen theologische Werke, in denen man etwa ulttamontanifche Grundfäße wittert. Hier ift die Spio- nerei bei dem jetzigen Streite mit dem Pabfte an der Tagesordnung. Hefthetifche und wiſſenſchaftliche Schriften find noch nicht angefehen worden, auch weiter nicht® fonderliches verboten, aber die Schlech- tigkeit der Zeit und die Erbärmlichfeit der Deutſchen kommt den franzöfifchen Anordnungen überall auf halbem Weg entgegen. Gar manches wird bier von Deutfchen denunciert, obſchon die Franzofen felten eine Antwort darauf geben und auch dem Einfchmuggeln von Büchern, welches, um all die Weitläufigfeiten zu vermeiden, vielfach geihieht, wenig Hindernifie in den Weg legen. Das ganze über den literarifchen Verkehr jet beitehende Syftem ift der Art, daß es auf feine Weife langen Beftand haben fann. Die Schreibereien und des⸗ halb auch die Beamten find zahllos. Bald wird die Regierung ein- ſehen, daß die geringen Bortheile mit den großen Koften in feinem Verhältnis fiehen, und wird deshalb dad ganze Syſtem über kurz oder lang wieder aufheben. Für Sie in Hamburg fommt daher alles darauf an, daß Sie die Einführung der ganzen Einrichtung fo lange wie möglih von Ihrer Gegend abhalten, weil diefelbe dann wahrs ſcheinlich gänzlih an Ihnen vorübergehen wird. Ich rathe Ihnen deöhalb, fich zu diefem Zwecke ohne Verzug an Chaban zu wenden. Ich kenne diefen Dann, der vor einigen Jahren Präfect in Koblenz war, recht gut, er ift im ganzen billig, gutmüthig, leichtgläubig, blindling? vertrauend jedem erften, der, gut oder ſchlecht, fich feiner- bemädhtigt; aber er felbit hat fich niemals wiſſentlich fchlecht hier ge zeigt und wird ed auch in Hamburg nit. Sie werden fehnell fein. Vertrauen gewinnen können, und haben Sie ed einmal gewonnen,

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jo werden Sie mandjed böfe verhindern, manches gute bewirken koͤn⸗ nen. Wenn Sie ihm in Beziehung auf den literarifchen Verkehr vor⸗ fiellen, wie die Sache fteht und wie die allgemeinen franzöfifchen Maß⸗ regeln unnüg und unpaffend für Ihre Gegend feien und den Ruin des ganzen Buchhandels nach, fich ziehen müßten, dann verwendet er fi) mit allem Eifer in Paris wenigftens für die Suspenfion auf un- beitimmte Zeit, und er hat vielen Einfluß dort. Gelingt Ihnen das niht, nun fo können Sie im Anfange, fo lange die Flitterwochen dauern, viel mit den Franzoſen anfangen, wenn Sie fie nur einiger- maßen zu behandeln willen. Später aber fi) viele Mühe mit ihnen zu geben, rathe ich Ihnen nicht; denn alles ift vom verruchten Sata- nad, und eben die nationale Gutmrüthigkeit, die mehr oder weniger in allen Franzofen liegt, ift dad Werkzeug der Sünde. In den Kern hat fi. der Teufel eingebiffen, und es ift alled nichtsnützig, und wer dauernd wirken will in diefem Kreife, muß werden wie einer von ihnen, habfüchtig im Herunterbliden, niederträchtig im Heraufbliden, und dabei muß man die Beitie ſchon von außen ihnen im Bauche heulen hören fönnen. Halten Sie für die Dauer fich ferne und ver⸗ trauen Sie ebenſowenig auf die Menge der Deutſchen, wie wenn von dieſen irgend etwas, was tüchtig iſt und brav, zu erwarten wäre; fie find ein eitel charakterloſer Haufen, Schafe, die ein Wolf zu Tauſen⸗ den jagt, wohin er will.

Wenige Tage ſpäter ſandte Görres einen zweiten Brief an Per⸗ thes ab, in welchem er, auf fichere Nachrichten fupend, jeden Verſuch als vergeblich bezeichnete, der die Ausdehnung der allgemeinen Map- regeln über den Buchhandel auf die neuen Departement? zu verhin- dern ftrebte. Die Schule, in. die Sie demnach jest eintreten, fügte er binzu, haben wir als ältere Lehrgeſellen bereitd durchgemacht und find gehaͤnſelt worden nach alter Sitte, und können nun den neu eintreten- den Lehrburfchen ein warnend Wort zugurufen uns fchon herausneh- men. Zuerft und vor allem warne ich Sie vor Ruhe und beſchaulicher Baffivität, an der ich in diefer Zeit ſchon viele Hunderte habe ver- derben fehen. Entweber müfjen Sie ganz heraustreten aus allen Ge⸗ fhäften , fih zufammentugeln wie ein Igel zum Winterfchlaf, um ber

Zeit fo wenig Oberfläche wie möglich zu geben, oder Sie müffen Ihre 12 *

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Thätigfeit um ebenfo viel verftärken, ald das Leben fchneidender wird. Unfere Zeit läßt nichts beftehen, was ruht: wie in den Wilfenfchaften das gemächliche alte Büchermachen aufgehört hat, fo find aud die Kaufleute von ihren ruhigen Sigen in den Comptoiren aufgetrieben. Wer nicht beftehen fann mit dem, was er früher erworben hatte, der muß heraus aus der Sänfte und hinauf aufs Pferd; alles alte Fuß⸗ vol? muß beritten werden, denn die Zeit jelbit fährt auf dem Renn⸗ wagen daher. Das haben fchon Taufende verfehen, ald der Sturm fie erreihte: wir wollen, fagten fie, das Ungewitter vorüberziehen laſſen, unfern Vertrieb befchränfen und alle Höhe. meiden, weil der Blig leicht in die Höhen einfhlägt. Aber wie irrten fie fih! Das Ungewitter zog nicht vorüber, fondern blieb Jahre lang feit über ihren Häuptern ftehen. Das Unglüd hatte ihnen Unthätigfeit gebracht und die Unthätigkeit brachte wieder Unglück. So fteigerte ſich das Der- derben immer höher, Bid alles zerronnen war. Das ift die Gefchichte von Unzähligen in hiefiger Gegend und der Hauptgrund des Wechfeld in allem Befig. ch denke nicht, daß Sie bei Ihrer Thätigfeit und bei Ihrem fiheren Auge Gefahr laufen, an diefer Klippe zu ſcheitern; ich wollte Ihnen das nur beftimmt ausdrüden, wonach Sie gewiß ſchon lange gehandelt haben. Alſo hinaus auf den Markt und zur rechten Zeit die Zeit benutzt! Jeder, der jebt praftifch auf die Welt einwirken will, muß ftreben zu vielfeitigem Befiß zu gelangen; denn alle höheren Formeln haben fich jest in geprägte Zahlzeichen unge feßt, mit denen fich allein noch einige Zauberei treiben läßt. Die Schlechtigkeit und die Gemeinheit ftreben immer deutlicher fih in den Alteinbefig aller Güter zu theilen, und man kann ihnen nicht wirk⸗ famer entgegentreten als dadurch, daß man ihnen von ihrem Raube entreißt fo viel ald möglih. Geld ift jebt dad erfte Werkzeug des Despotismus, und dieſes Werkzeugs muß ſich der bemächtigen, der eine Gegenwirkung üben will. Und dennoch verzettelt, was und die Gewalt nicht nimmt, unfer Ungefhid, unfere Dummheit und Unbe- hilflichkeit. Freilich wie das, was in ber Literatur Aufwand forbert, alſo zunächft der Verlagshandel und dann auch der Sortimentshandel, beſtehen fann, ift nicht abzufehen. Aber anderfeitd hat die Nation nichts, was fie erfreuen-fönnte, als ihre Literatur. So wenig Still«

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ftand ift nach der ideellen Seite hin eingetreten, daß mehr als je die Production in den Geiftern drängt und der literarifche Eierftod noch gar nicht ausgehen will. Auch Lefe- und Studierluft ift nicht ver- mindert, und e3 ift daher auch wiederum nicht abzufehen, wie die Literatur Außerlich untergehen könnte. Alfo nur Muth zum Unter- nehmen! Wahr ift es freilich, wer reich werden will, fälkt in bes Satan? Klauen, aber eben auch nur der, welcher reich werden will. Der wahre Kaufmann aber ift der, welcher Erwerb allein ald Erwerb für höhere Zwecke betrachtet und ba erft anfängt, wo andere enden. Haben Sie fih Mittel gewonnen, dem zwifchen Recht und Unrecht jet Wankenden nur einiges zu Gunften des Befleren zu bieten, fo ift die menfchliche Natur fo gut immer noch, daß fie dann den Teufel von ſich ftößt. Rühren Sie fih, derweil ed noch Zeit ift, ſich Ihren Theil im Beltlauf zu gewinnen; es ift nöthig, daß Sie in Ihrem Handel große Geldmittel für große Zwede fammeln. Dap ich felbft nicht nad gleichen Grundfäben handele, darf Sie nicht wundern; ih bin zu fehr Gelehrter, um Kaufmann fein zu können. |

ALS Perthes diefen Brief mit Dank und mit einer näheren Aus- -einanderfepung feine Gefchäftd erwiedert hatte, -fchrieb Görred: Nun - erſt begreife ich die Großartigkeit Ihres Gefchäftes, welches, in Deutſch⸗ land und Frankreich feine Wurzel fehlagend, im Norden und in der neuen Welt feine Zweige audbreitet. Sie find ald Geſchäftsmann ein wahrer Hanſeate, und es ift nichts geringes, ben .geiftigen Verkehr eined großen Theild von. Europa in feiner materiellen Grundlage zu fihern und zu leiten. Das ift der Bortheil des Meeres, welches jeden, auch den kleinſten Theil aufnimmt in feiner Grenzenlofigfeit, während im Lande jedes Flüßchen fich ein Eigned dünkt und fein Gebiet ab- fließt. Ich hatte Die Sache niedriger genommen, und Sie werden das meinem fchlechten Augenmaß in ſolchen Dingen und dem Um⸗ ftande zu Gute halten, daß ich felbft ein Binnenländer, ein Flußan- wohner bin.

Perthes fah der Gefahr, welche feinem Gefchäfte zugleich mit dein ganzen deutfchen Buchhandel den Untergang drohte, befonnen und muthig ind Auge. Meine Lage ift durchaus verändert, fhrieb er an Jacobi, doch fo, daß durch alle Umftürze dad, was ih ald Geſchäfts⸗

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mann betreibe, noch größeren Aufſchwung erhalten muß. In meinem Innern ift die Fülle der Liebe und des Leben? nicht weniger durch die Fahre geworden, und fo wie ich von Tage zu Tage mich mehr bändi- gen lerne, vermag ich auch mehr meine Kräfte nach außen zu richten, um die Zwede zu erreichen, die mir nad) meinen Berhältniffen vorge» legt find. Furcht vor Gott und Muth gegen Menfchen find ein und diefelbe Sache, fo lautet meine Philofophie und mein Ehriftenthum. Je fehlimmer die Zeiten find, fehrieb er feinem Handelöfreunde Rein nach Leipzig, um fo mehr Muth und Aufmerkſamkeit muß man haben, fie zu überwinden. Sei nur ruhig, wir werden ſchon in Ordnung kom⸗ men. Zunächft mußten die Schwierigkeiten befeitigt werden, welche die franzöfifchen Zocalbehörden in Hamburg dem Einbringen deutfcher Schriften entgegenftellen fonnten. Nicht auf halbem fondern auf ganzem Wege famen die kaiferlihen Beamten entgegen. Der Veri- ficateur à l’estampille erhielt als folcher feinen Gehalt, fondern follte nad wohlgeleifteten Dienften vom Staate belohnt werden; bis dahin friftete er durch Buchhändler und Bücherliebhaber fein Leben. Der Inspecteur de la librairie, Mr. Johannot, ein charafterfofer, verwirrt. ter Glüddritter, bedurfte ebenfalld milder Gaben, ebenfo die Gehilfen beider Männer. . Die Generaldirection in Paris war meit entfernt, der ausgedehnteſten Nachficht der Xocalbehörden in den Weg zu treten. Der Kaifer hat wohl, äußerte ſich Görres gegen Perthes, eine inſtinct⸗ artige Abneigung gegen die Literatur, aber feinen Haß, und betrach- tet fie fehon lange ald das Spielwerk der deutfchen Nation, und wird nicht einmal einen Berfuch machen, fie und zu entreißen. Jwar wer⸗ ben die für das eigentliche Franfreic getroffenen Anordnungen auch auf uns übertragen; denn um das ungeheure Ganze überfehen zu koͤnnen, foll Gleihförmigkeit überall fein; überallhin werden die fer tigen Patronen mitgebracht, in die über Nacht alled Borgefundene gegoffen wird und alabald fertig da fteht. Jener alte franzöfifche Gartengefhmad, wie er früher aus Bäumen Menſchen fchnitt, will jept aus Menfchen gleiche Flächen fchneiden; Inder und Perfer, Tür- fen und Neufeeländer werden noch Präfecten und Unterpräfeeten, den Code und die Genfur befommen. Das kleinſte Grundmaß hat Na- poleon vom Menfchen angenommen, und alled, was größer ift, wird

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abgebhauen, und jo werden Rafenpläbe glatt geichoren und gleich ge- walzt; aber man achtet und fcheut feine andere Oppofition, al? die materielle, und hat gar feinen Begriff davon, daß in Deutichland noch eine andere Widerſtandskraft lebt. Die Franzofen würden bier- über noch mehr im Dunkeln fein, märe nicht das inländifche deutſche Geſchmeiß, da3 ſich anhängt und zuträgt. Davouft zwar glaubte, äußerte Perthes etwas fpäter, dag nur unfere Literatur ed den Deut⸗ fhen möglich mache, fi) noch für eine Nation zu halten, doch auch er mußte e8 bei dem guten Billen bewenden lafjen, denn die Sache felbft war feinen Begriffen zu fein. Mit Händen wollte er fie greifen und vergriff ſich deshalb immer nur an einzelnen Männern oder an lite- rariſchem Handwerksgerüſt. Tiefer ging es nit. Die Jdeologie, wie-Rapoleon das ihm im Wege ftehende Geiftige nannte, das heißt den Sinn für die Wahrheit, die Liebe zu Gott, die Furcht vor ihm und den und unvertilgbaren Trieb, den Urfprung der Dinge zu er» forfchen, zu alle dem drang Davouſt und feine Gehilfen nicht, und fo wurden die Grundfäpe wahrer Ordnung, Freiheit und Nationali- tät wie ein ſtummes Geheimnis in und bewahrt, bid die Morgen- töthe Fam.

Ber einer ſolchen Stellung der franzöfifhen Machthaber zut deutihen Literatur machten ſich die Herren-in Paris ihr Gefchäft nicht ſchwer. Der alte Generaldirector de Pommereul, welcher feit dem Streite Napoleon’3 mit dem Pabſte an Portalis' Stelle getreten mar, ‚hielt die deutſchen Bücher für völlig gleichgiltig; fein Büreau war mit fprachunfundigen, meiften? jungen, lebensluftigen Leuten beſetzt, weil diefe, da fie am mohlfeilften zu haben waren, ihrem Chef den größten Ueberſchuß von den fechzigtaufend Franks Büreaukoften ließen. Diefe jungen Leute nun follten die langen, von den Buchhändlern zur Erlangung des Einführungspermid eingefendeten Liften der Büdher- titel, deren feinen fie verftanden, durchlefen und dann beurtheilen, ob die Einführung zu erlauben oder zu verbieten fei. An diefer Auf- gabe verzweifelnd, halfen fie fich mit angenehmer Leichtigkeit, erlaub- ten alles und ftrihen, um ihre Gefchäftdgenauigkeit zu zeigen, von je- der Lifte auf gut Glüd jedesmal dreißig bis vierzig Artikel, darunter oftmals Werfe über Färbekunft, Obſtbaumzucht, Schachſpiel u. f. w.

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An der nächften Lifte führten die Buchhändler folche geftrichene Artikel von neuem auf, und ed war ein feltner Zufall, wenn fie zum zmeiten-- mal von der Einfuhr ausgeſchloſſen wurden. Perthes benutzte diefe Berhältniffe im vollſten Umfange. Manche der von ihm eingereichten Liften haben fich erhalten. Er gabfich nicht die Mühe, die einzelnen Titel anzuführen, fondern machte allgemeine Rubriken: wenn er z. B. ſchrieb: oeuvres completes in zwanzig Exemplaren, fo fam die Ein« führungserlaubnid, und nun konnten gefammelte Werke eingehen, mochten fie von Peter oder Paul fein. Aehnli finden ſich in den Liſten eingetragen: 25 Exemplare tragedies, oeuvres politiques, poé- sies, oeuvres diverses, discours, und dazwijchen wurden mit guter Laune und zur Verfpottung der Parifer, Werfe über die Rechtſchrei⸗ bung, über den Kartoffelbau, über botanifche Gärten, und dann in derfelben Lifte von neuem 25 Eremplare veuvres diverses, tragedies

u. ſ. w. gefeßt. Sechzehnmal mußte freifich der Titel jedes Buches, welches aus Deutſchland nad Hamburg eingeführt werden follte, dem Geſetze nad) gefchrieben werden, aber dennoch war dad ganze mit pein- licher Aengjtlichkeit zur Niederdrüdung des Buchhandels errichtete Ge- bäude für dad Leben bedeutungslod, und in den deutſchen Theilen ded Kaiſerreichs erfchien der Titerarifche Verkehr nur in geringem Grade beengt. Da indeffen wenige die gegebenen Berhältniffe zu benutzen verftanden, jo gewann die Handlung von Perthed eine außerordent- liche Ausdehnung. Ganz Holland, dad ganze nordiweftliche Deutfch- fand, England und der Norden Europa’d gehörten zu ihrem Gebiete. Das fauerfte, mühjfeligfte Sahr meines bisherigen Lebens, fchrieb Per⸗ the8 im December 1811 an feinen Schwarzburger Oheim, habe ich diefed Jahr durchlebt: der Umfturz alled Alten nöthigte mid, um nur etwas zu retten, das neue Weſen mit meinem Geſchäfte auf das em- figfte anzufaffen. Es ift diefer Zeit eigen, dag man nicht durch Zur rüdziehen fi) rettet, fondern durch regfames VBorwärtdgehen. Meine Geſchäfte haben fich nicht verringert, fondern vermehrt, und oftmald war mir bange, ob ich mein nicht kleines Schiff durch die gefährlichen Klippen und die unerhörten Stürme durchführen könne, aber Gottlob! die Hauptgefahren find jebt befeitigt, und ich fehe etwas Land. Da die eigenen Geldmittel bei weiten nicht audreichten, um den Be»

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trieb- der Handlung im Gange zu erhalten, mußte Perthed hie und da nad) Aushilfe fuchen, aber in der geldarmen Zeit meiftend ver- gebend. Niebuhr und ich, antwortete ihm z. B. Nicolovius, haben darüber lächeln müffen, dat Sie, lieber Perthes, hier in Berlin Geld zu finden glauben ; indeflen wollen wir doch verfuchen, was möglich if. Ihr Geſchäft ift.ein durchaus folided, entgegnete ihm Keet⸗ mann, ein fehr ehrenwerther Mann von ftrengfter Rechtlichkeit, aber es ift doch nur deshalb folide, weil e8 auf Ihrer Perfönlichkeit ruht. Wenn Sie Ihre Perfon gefährden, fo gefährden Sie die einzige fichere Grundlage der Handlung. Darauf follten Sie doch etwas mehr Rüd- ſicht nehmen, werther Freund, und fich ſchonen; fein Menſch hält es aus, angeſpannt thätig zu ſein von Morgens fünf Uhr bis Abends zehn Uhr. |

Ein fehr reichhaltiger Briefmechfel mit bedeutenden Männern der verfehiedenften Richtungen und Gefinnungen, wie mit Rumohr und Klinkowſtröm, mit Stolberg und Drofte, mit Steffens und Kouque, mit Riebuhr und Ricoloviud, mit Görred und Billerd, mit Jacobi und Reinhold hielt das geiftige Leben wach, die Sitzungen des Ge- ſchwornengerichts, an denen Perthes ald Mitglied Theil nahm, und ein freundlicher Verkehr mit de Serre und Eichhorn regten neue In⸗ terefien jehr lebhaft an, und die Geburt eined Sohnes, Bernhard, am 27. September 1812 gab dem Familienleben neue Freude, aber der Drud der Zeit blieb. ſchwer und ein Ende- war nicht abzufehen. ° Friede wird nieht, meinte Görres, bevor nicht Die ganze Generation, welche die Revolution gefehen hat, ausgerottet ift bid auf den Iegten Mann. Sch bereite mich vor, fehrieb Nicolovius aus Berlin, im Glauben dahin zu fahren, ohne felbft die befjere Zeit anbredhen zu fehen ; aber meine Kinder will ich derfelben würdig machen. Vor⸗ zeichen eined kommenden beffern Tages konnte Perthes nicht erfennen ; aber die Sicherheit feiner Weberzeugung, dag alle Noth und alles Elend der Gegenwart ein nur vorübergehendes fei, durch welches man ſich durchhelfen müſſe fo gut wie möglich, gab ihm im fehriftlichen mie im mündlihen Verkehr fo muthige Friſche und belebende Kraft, daß viele Männer in der Nähe und Ferne mit freudiger und bewundern⸗ der Theilnahme auf ihn fahen. Der Thränen fann man fich freilich

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nicht immer eriwehren, fehrieb ihm Sartorius aus Göttingen, aber Glaube und Hoffnung follen wir nicht aufgeben. Wohl dem, der nicht in fich felbft verzweifelt, wohl Ihnen, daß Sie auch in der jetzigen Lage den Muth nicht verlieren! Ihr Brief, fchrieb ihm Fouqué, bat mid mit Waffer und Feuer getauft, mit dem Ihränenmwafler der tiefften Wehmuth, aber auch zugleich mit den Feuer des ficherften, ftählendften Glaubens und Muthes. Wenn alle gute. Männer une red Volkes die Erfcheinungen der Zeit fo befonnen, tieffühlend und Har wie Sie betrachten, fo hat e8 mit dem Höchſten und Erhalten?- werthen in und feine Noth. Niebuhr wird Ihnen fagen, fchrieb Ricolovius, wie fehr wir ihren männlichen Muth und Ihr evange- liſches Schlangen- und Taubenbenehmen bewundern. Bertrauen Sie auch und, daß wir nad befter Kraft und wader halten und Ihrer Zheilnahme werth bleiben werden. -

Auch ald die Gerüchte von dem bevorftehenden Kampfe zwifchen dem romanischen und flavifchen Kaiferreiche laut wurden, blieb Per- thes getroft und hoffnungsfeſt. Ihr Muth, mein lieber, theurer Freund, ſchrieb Nicolovius an Perthes, ftärkt mid und macht Sie mir immer neu wertb. Sie haben Recht, wir ftehen am Einbruch neuer großer Begebenheiten, und wir müflen mit ernflem Sinne ihnen ent- gegengeben; aber Sram und Kummer find erlaubt, da ed nicht das Reich der Wahrheit und des Recht? ift, das immer mehr fich verbreitet.- Möchte allem, was nad Gottes Rathſchluß untergehen foll, ein Tod in Ehren zu Theil werden und in der finftern Nacht die Vorzeichen eined befjeren neuen Tages nicht ganz unferm Auge verfhwinden! Die großen geiftigen Bewegungen und die fehneidenden Gegenfähe ber politifhen Parteien, welche damals in Preußen und vor allem in Berlin hervorzutreten begannen, blieben auch außerhalb Preußend den Männern deutfcher Gefinnung nicht unbefannt. Perthes war in fi nicht einig, ob dieſes gährende Durcheinander politifh aufgeregter Herzen und Köpfe zum Rechten führe oder nicht, und wünſchte ſchon im Sommer 1811 die innern Kämpfe Berlind aus eigner Anfchauung fennen zu lernen; aber Hindernifie ftellten ſich damals der beabfich- tigten Reife nach Berlin in den Weg. Wie fehr bedaure ich, daß Sie nicht fommen zu dürfen glauben, fchrieb ihm Niebuhr. Mich hatte fehr

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verlangt, Sie zu fehen. Sie wären ein paar Tage hier geivefen und hätten nur Freunde gejehen, und vielleicht fennen Sie von den beiden Brincipien, die hier unvermifcht neben einander eriftieren, dad Gute noch nicht, welche? doch in manchen fo rein ift, wie Sie ed nur wün- fhen können. Mir find wie Ihnen die Schwäger und Maulhelden bis zum Abfcheu verhaßt; aber gerne hätte ih Sie mit dem Salze in unferer Wüjtenei befannt gemacht, und vor allem iſt e8 mir nicht we⸗ niger al® Nicolovius ein Bebürfni®, mit Ihnen ein paar Tage lang von Herzen zu Herzen zu reden. Lieber Perthes, ift ed nicht ganz feſt bei Ihnen entfchieden, fo fragen Sie ſich noch einmal, ob es Ihnen nicht möglich ift, zu und zu fommen. ch verfpreche Ihnen, daß Sie es nicht verdrießen fol. Ihre Grundfäge find freilich nicht allgemein "hier geltend, ich aber befolge fie treu und lange ſchon bis zur firen- gen Gewohnheit.-

Im Juli 1812 führte Perthed den im vorigen Jahre aufgegebe- nen Plan aus und verlebte mitten im Getümmel der nad Oſten zie- benden franzöfifehen Heere einige Wochen in Berlin. Er wurde ge nau befannt mit dem Getriebe der fämpfenden Parteien und mit den MWünfchen und Ausſichten der heißen Patrioten, und durd) alles, was er fah und hörte, wurde fein Glaube, daß die Stunde der Befreiung für Deutfhland nicht ausbleiben könne, verftärkt. Crgriffen und bes wegt von den vielen ſich durchkreuzenden und widerfprechenden polis tifchen Eindrüden des damaligen Berliner Lebens, gab Perthes fich in fräftiger Lebendigkeit Dem Verkehr mit feinen Freunden und Belann- - ten hin und kehrte geftärft und mit ermeitertem Blicke nach) Hamburg zurüd. Perthes' geiftreiche Lebendigkeit, ſchrieb Niebuhr Damals an die Doctorin Hendler, hat etwas fehr belebendes. Er verlieh und am Freitag. Wir haben viele lebendige Stunden mit ihm genofien. Dieſe Regſamkeit, mit der er fich in jede verwandelte Geftalt der Zeit hinein⸗ findet, literariſch und politifeh, ohne je feine Selbftändigfeit zu verlie- ren, und fi) immer jung erhält und erhalten wird, ift etwas fehr beneidenawerthed. Ihr Beluh, mein lieber Perthes, fehrieb Ni- colovius im Auguft 1812, hat mid) geftärft. Sie verftehen ed, ed mit der böfen Zeit aufzunehmen und ſich nicht unterbringen zu laffen. Gebe Gott Ihnen Kraft zu fernerem Kampf und weiterm Sieg! Unter und

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bleibt Ihr Andenken fehr lebendig, und Sie dürfen Ihrer Erſcheinung

unter und fih freuen. Bir willen es beide gegenfeitig, ſchrieb Niebuhr an Perthes, dag wir nun fo recht alte und vertraute Freunde geworden find und es bleiben werden. Das Andenken an Ihren Auf enthalt bleibt und Iehendig gegenwärtig, und ich denke, es ift ganz in der Ordnung, wenn ed mir vorkommt, als hätten wir und noch eigentlich gar nicht recht audgeiprochen nd als wenn jede Stunde, Die wir nicht allein oder mit Nicolovius zufammen verbracht haben, halb verloren gewefen wäre. Ihr Beſuch, mein lieber Perthed, war ein fo lebendiger Beweis Ihrer Liebe, mar fo erheiternd und genußvoll, und eine folde Verftärfung des Bundes zwiſchen uns in der jertrüm- mernden Zeit, daß ich Ihnen nicht auddrüden kann, wie dankbar ich Ihnen dafür bin.

Den ſchweren, furchtbaren Drud, mit welhem Frankreich auf Preußen laftete, hatte Perthes in Berlin nun aus eigener Anfchauung tennen gelernt; aber wahrlih in Hamburg war er nicht geringer. Handel und Schiffahrt waren zu Grunde gerichtet, von den vierhun- dertachtundzwanzig Zuderfiedereien hatten nur einige wenige fich er- halten, die Kattundrudereien hatten ohne Ausnahme aufgehört, die Zabafdfpinnereien waren fämtlich durch die Negie verdrängt. Zahl: lofe Abgaben dagegen: droits reunis, Regie, Enregiftrement, Thür⸗ und Fenſterſteuer, Perfonenfteuer, Grundfteuer u. f.w., waren einge führt und braten durch ihre Höhe und durch die Quälereien, von denen fie begleitet waren, die Bürger zur Verzweiflung. Die milden Anftalten: das Waifenhaus, der Kranfenhof, die Gottesmohnungen, ſahen ſich ihrer Zuflüffe beraubt und in ihrem Fortbeftand bedroht, das Grundeigenthbum verlor feinen Werth und die Zinfen der öffent» lihen Schuld fonnten nicht bezahlt werden. Die einft fo ftolze, reiche Stadt bot nun das Bild eines allmählichen Hinfterbend dar. Mit

hartherziger Brutalität wurden die herben Maßregeln durchgeführt. Gequält durch die Erprefjungen geldgieriger Beamten jeden Ranges und geängftet durch die willfürlichen Bedrädungen, hatten die Ein- wohner Hamburgs nicht einmal den Troft, in ihren eigenen Häu- fern ficher gegen Beunruhigungen zu fein. Jede Ausſicht auf Rettung oder auch nur auf Erleichterung ſchien zu verſchwinden, ala im Spät«

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fommer 1812 eine Siegednachricht nach der andern von der großen Armee aud Rufland einlief, und niemand wagte, den etwas fpäter umlaufenden dunflen Gerüchten.von fehweren Unglüddfällen verfelben Glauben. beizumefjen. In dumpfer, verzweiflungdvoller Trauer ſchick⸗ ten fich die Bürger an, dad Weihnachtsfeſt zu feiern, ‘ala faft allen unerwartet am 24. December das neunundzwanzigfte Bülletin befannt ' gemacht wurde, welche® über die Vernichtung der großen Armee feis nen Zweifel laffen fonnte. Ein Wunder Gotted war gefchehen und ein Stern der Hoffnung aufgegangen, welcher neues Leben und neuen Muth in allen gedrüdten Gemüthern fhuf. Ein Weihnahtsabend wurde in Hamburg gefeiert, wie feit langen Jahren nicht.

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Der Berjud Hamburgs, ſich zu befreien. Jannar bis 18. März 1813.

Seit vielen Jahren ſchon hatte Perthed in mannigfachen Be⸗ rührungen mit Ludwig von Heß, einem merkwürdigen und bedeu- . tenden Manne, geftanden, welder, Schwede und Edelmann von Ge- burt, einft in früher Jugend Regierungsrath ſeines Königd geweſen war. Um das Jahr 1780 hatte er ſich in Hamburg niedergelaffen, und feine. leidenfchaftlihe Liebe zu der neuen Heimat, feine ſtrenge Rechtſchaffenheit, fein feharfer Verftand, fein Reihthum an Auskunfts⸗ mitteln in ſchwierigen Lagen und feine Gabe, verwidelte Verhältniſſe lichtvoll darzuftellen, fanden allgemeine Anerfennung. In den Krei⸗ fen von Sieveking und Reimarus hatte er geglänzt und mit vielen bedeutenden Männern des Auslandes fand er in. naher Verbindung. Durch eine Reihe auögezeichneter Schriften über die innere und äußere Stellung Hamburgs hatte er fi) große? Anfehen unter den politifch gebildeten Männern, durch fein Auftreten für die Rechte der Bürger- ſchaft großes Vertrauen umter den Bürgern gewonnen. Vielfach hatte er feine günftige Stellung benugt, um durch perfönliche Einwirkung fördernd und verhütend in die ftädtifchen Zuftände einzugreifen; aber

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nur felten war er öffentlich in Gefchäften der Stadt verwendet wor⸗ den, weil’ ihn ein ſtarres Fefthalten an eigenen Anfichten und eine unverträglidhe, von den Stimmungen. ded Augenblicks abhängige Ge- müthsart verhinderte, fich in gegebene Berhältniffe- zu ſchicken. Er hatte viele warme freunde, aber Die meijten derjelben waren zugleich feine heftigften Gegner; denn er felbft war ein doppelter Menſch, der die größten Gegenfäbe ungeeinigt in fid) trug. Er war großartig und edel, aber auch Fleinlih und unverföhnlid; er konnte ſich in vollem - Vertrauen ganz hingeben und hegte und pflegte lauerndes Midtrauen in feiner Seele; er verachtete alled Aeupere und war eitel und ehrgei- zig; er dürftete nach Freiheit und war militärifcher Despot; eine-fel- tene Geiftesfraft machte den reizbaren, fränklichen Körper zu den größ- ten Anftrengungen fähig, und dennod) jah man den Mann oftmald ohne äußere Veranlaſſung in tieffter Muthlofigkeit zufammenfinfen. Auf Perthed hatte He immer Vertrauen gefebt und gerne mit ihm verkehrt, aber ein nahe? Berhältnid war erft im Sommer 1812 zwifchen ihnen entftanden, ald Napoleon’? Zug nad) Rußland beide Männer in die heftigfte Bewegung ſetzte. Sie fuchten. Troft und Er- leichterung, indem fie in der ſchweigenden Zeit ihre Anfichten, ihre Hoffnungen und Befürchtungen offen und rüdhaltlos austaufchten. Heß, einer älteren Zeit angehörend und der Geburt nach Fein Deut- fcher, hatte fein politifche® Hoffen und Sorgen an Hamburg, die Hei« mat feiner Wahl, gebunden, ein deutſches Nationalgefühl kannte er nicht. Perthes dagegen liebte zwar Hamburg und war der Stadt dankbar, in welcher er Bildung, Freunde, Beruf, Weib und Kind gefunden hatte, aber unummunden ſprach er fehon damals au: Wenn Deutſchlands Freiheit nicht erftritten wird, fo ift mir an Hamburg nichts gelegen. Diefer politifhe Gegenſatz verhinderte indes fo wenig wie die fonftigen großen Berfchiedenheiten einen lebendigen Verkehr und ein unbedingtes gegenſeitiges Vertrauen zwiſchen beiden. Män- nern. Bir flanden und, äußerte Perthes etwas fpäter, an Jahren fern, wir hatten einen fehr verfchiedenen Gang unferer inneren und äußeren Schidjale gehabt und waren in Anfichten und Ueberzeugun⸗ gen, beſonders infofern fie in Saft und Blut übergegangen waren,

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fharf getrennt, und dennoch wurden wir Freunde im eigentlichen, wahren Sinne de Worte.

Der Winter 1812 fam heran, der Brand von Mostkau eröffnete Die Ausficht auf eine nahe große Zukunft. Seine eigenen Hoffnungen theilte. Perthes manchen Männern, denen er vertraute, mit: zunächft von Heß und feinem alten Freunde Hülfenbed, dann dem Doctor Fer⸗ dinand Benede, welchem dad Herz warm bid zur hingebendften Be⸗ geifterung für Deutſchland fchlug, und dem Grafen Joſeph Weitpha- len, welchen die Ausficht, für feinen ritterlihen Sinn und feinen rit⸗ terlichen Muth ein weites Feld zu finden, um diefe Zeit nad) Hamburg geführt hatte. Bald erweiterte fich der Kreis, und die Anfichten und die Ausfichten wurden beftimmter. Im Januar 1813 beftand die franzöfifche Beſatzung aud wenig mehr als dreitaufend Mann. Die- fer geringen Truppenzahl gegenüber fannten die vielen Traftvollen Männer der großen See- und Handeläftadt, welche in ſchweren und gefährlichen Anftrengungen Tag für Tag fih übten, ihre körperliche Ueberlegenheit, und an verwegenem Muthe fehlte ed ihnen nicht. Unter den übrigen Bürgern wurden die Stimmen täglich lauter und fühner; felbft Männer, melche der alten Stadtobrigkfeit angehört hat- ten, gaben zu verftehen, daß man in der Stunde der Entjcheidung auf fie rechnen könne. Alles hing davon ab, der fräftigen aber un- geordneten Menge einen Zufammenhang und eine Ordnung zu geben, und Ende Jamıar fprad) zuerft von Heß mit feinen Freunden über die Errichtung einer Bürgerbewaffuung. Es ſchien nicht unmöglich, die Zuftimmung der von Angft gemarterten franzöfifchen Behörden zu ge- winnen, weil fie hoffen konnten, in dieſer Weife Sicherheit gegen wilde Audbrüche der Volkswuth zu erlangen. Während durh Rift hierüber mit den franzöfifhen Generalen verhandelt ward, trat Per- thes mit feinem alten Freunde Spedter und mit dem Bleideder Mett- lerkamp, einem muthigen, entſchloſſenen und im Volke ſehr befannten und ſehr beliebten Danne, in Verbindung. Mettlerfamp zog fofort eine Anzahl der fräftigften und tüchtigften Leute, meiftend aud dem Handwerksſtande, heran, ſprach mit jedem einzeln und forderte fie auf, andere in gleicher Weife zu demfelben Zwede zu werben. “Pers thes bemupte in ähnlicher Weile die ausgedehnte Befanntfchaft, die

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er theil® durch feinen Beruf theild durch feine frühere Stellung ala Mitglied der Einquartierungdcommiffion erworben hatte. Bald konn⸗ . ten Berzeichniffe der Männer angelegt werden, die fi) für den Au- genblid, in welchem die Vertreibung der Franzoſen möglich würde, zu allem bereit erklärt hatten.

Während die Aufregung und der Muth der Bürger flieg, er- fhien in den erften Tagen des Februar General Laurifton in Ham- burg, und nachdem er den größten Theil der Befagung nad) Mag- deburg, wo ein größeres Heer zufammengezogen werden follte, abge- führt hatte, erfannten die zurüdbleibenden franzöfifchen Generale Cara St. Eyr und Ivendorf volllommen das Gefährliche ihrer Lage und gaben durch das Schwanfende und Unfihere ihrer Haltung die inmere Unruhe zu erkennen.

Perthes hatte unbedingtes Vertrauen zu dem Muthe und zu der Kraft der Bürgerfchaft, und es fchien ihm unmwürdig, die Befreiung den Anftrengungen Dritter zu verdanken, aber er konnte ſich nicht verbergen, daß die Stadt feine anderen Waffen habe ald die Fräfti- gen Arme und den muthigen Sinn der Bürger. Kriegerifche Uebung und erfahrene Kriegsführer fehlten gänzlih. Zwar war er überzeugt, dag an jedem Tage ein Ausbruch de? Volksgrimmes hervorgerufen werden fünne,,. welcher die damalige franzöfifche Beſatzung vernichten werde, aber wer follte dann den ohne Zweifel heranrüdenden fran- zöfifchen Heeren und franzöfifchen Generalen gegenüber die Bertheidi« gung der Stadt und die Anftrengungen ihrer kriegsunerfahrenen Bür- ger leiten? Ueberdies konnte und wollte Perthes die Erhebung Ham- burgs nicht ald ein Hamburgifches, ſondern als ein deutſches Ereig⸗ nis betrachtet willen. Die feierliche Losſagung der zertretenen Stadt bon ihrem Peiniger. [hien ihm nur dann ihre wahre Bedeutung zu gewinnen, wenn fie dad Zeichen wurde für Die Erhebung ded ganzen norbweftlihen Deutſchlands; denn in diefem Falle waren, wie es ſchien, die Fürften, welche in den erften Tagen de3 Februar zwifchen Furcht und Hoffnung ſchwebten, zu einem ſchnellen, entjcheidenden Entihluß gedrängt. Um dem Aufftande der einzelnen Stadt einen ſolchen allgemeinen Charakter zu verleihen, war ein Mann nothwen⸗ dig von hoher, allgemein gefannter Stellung, welcher die Leitung

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übernehmen und den Bürgern erfahrene Kriegsführer aller Grade ver- ihaffen fonnte. Der Herzog von Oldenburg fchien diefer Mann zu fein, und Perthes glaubte ſich ohne weiteres mit einer fräftigen Auffor- derung an ihn wenden zu Dürfen. Die verhängnidvolle Zeit, heißt es in derfelben, erlaubt dem Bürger, fih mit Freimuth und Bertrauen dem Fürften zu nahen, und die Stimme des einzelnen Bürger? ift zugleich die Stimme vereinter Freunde. Deutichland fann nur durch fich felbit eine wahre und dauerhafte Unabhängigkeit erringen. Wenn in diefem Augenblide eine auch nur Heine Zahl Truppen in unferer Gegend auftritt, geführt von einem braven deutfchen Fürſten, der ſich einige Männer von unbefcholtenem und befanntem Namen aud dem Adel und dem Bürgerftande beigefelit, fo fteht alles zur Unterſtützung auf, und Deutfchland wird mit Gottes Hilfe allein durch ſich felbit frei bis an den Rhein. Der Fürft, der jebt den Deutſchen ſich hin- gibt, kann mit Zuverfiht auf die Nation rechnen. Immer hat der Deutſche feinen Fürften geliebt, und diefe Liebe ift auch jetzt noch da und fuht mit Inbrunft einen Gegenftand. Allgemein ift Hoffnung und Wunfh auf Sie, durchlauchtigiter Herzog, gerichtet, der fein Land wie feiner glüdlih machte, der deutſche Art und Kunft wür- digte und die Ehre rettete, indem er der Gewalt mit hoher Würde wid. |

Am 21. Februar reifte Perthes in Begleitung feines älteften Sohnes? Matthias mit diefer Schrift zum Grafen Adam Moltfe nah Nütſchau. Moltke brachte ihn am folgenden Tage nah Eutin, wo auf entfchloffene® Zureden ded damaligen Regierungdrathed Runde der Präfident von Maltzan ſich bewegen ließ, die Beförderung der Schrift an den Herzog zu übernehmen. Bon Eutin ging Perthed nach Lübeck und fand hier die Bürger in gleicher Weife wie in Hamburg gefinnt und bereitet. In der Nacht vom 24. zum 25. Februar cilte er nah Hamburg zurüd und traf die gefamte Lage der Dinge durch— aus verändert. Schon am 22. hatte ſich eine große Bewegung in der * Stadt gezeigt, hervorgerufen durch das falfche Gerücht von dem Her- annahen der Rufen. Geſtern Morgen find Kojaden in Perleberg, fiebzehn Meilen von bier, gewefen, ſchrieb Caroline an ihren Pater

nah Wandsbeck. Ach, daß ich taufend Stimmen hätte, vw u Derthes' Echen I. 9. Aufl, 13

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gen: Benediclus qui venit! In der Stadt ift alles lebendig, und ganz gewiß ftehen ernfthafte Auftritte bevor. Ich habe nicht Ruhe, nicht Naft auf meiner Stube, Gott helfe weiter und gebe und Lob und Danf ind Herz gegen Gott und Menfchen, und lehre und thun nach feinem Wohlgefallen! Am 24. Februar, dem Tage vor Per: thed’ Ankunft, war, durch unbedeutende Vorfälle veranlagt, auf zwei entgegengefegten Seiten der Stadt zu derfelben Stunde ein Träftiger Aufftand ausgebrochen. Am Altonaer Thor wurde die Douanen- wache vom Volke angegriffen, die Douanen gaben mehreremale Feuer; eine nicht ermittelte Zahl der Angreifenden fiel, aber die Wache wurde geftürmt, das Wahhand zertrümmert und eine lange Reihe Pallifa- den niedergelegt. Am Hafen, wo die aus Bürgerjöhnen gebildete Präfecturgarde eingeſchifft werden follte, hatte fich die dortige Bevöl⸗ ferung ind Mittel gelegt, den herbeieilenden Maire mit Steinwürfen zurüdgetrieben und, durch die Stadt ziehend, die franzöfifchen Adler unter lautem Jubelgeſchrei abgeriffen und mit Füßen getreten. Dann ward das Haus eined beſonders verhaßten franzöfifhen Polizeibeam- ten von Grund aus verwüftet. Sonft aber kam kein Diebftahl, feine Berlegung vor; ed galt nur den Franzoſen. Dad Glüd oder Unglüd, ſchrieb Earoline ihrem Bater, hat feinen Anfang genommen. Abend roth, der zur Ruhe ermahnte, ift fehwer verwundet, mehrere Doua⸗ nen find todt gefchlagen, eine große Menfchenmenge ift auf den Bei- nen; die Schiffer, welche unfere Leute auf Befehl der Franzofen fort fahren follten, haben ihre Schiffe im Stich gelaffen und find fortges laufen; es fann alfo nichts fort. Gott helfe weiter! Kein Adler ift mehr in der Stadt zu fehen, fügte jie eine halbe Stunde fpäter hinzu; der Lärm auf den Straßen wird größer. Gott fei Lob und Dank wäre nur mein Perthed hier! Die franzöfifche Befagung verhielt ſich dieſen Auftritten gegenüber leidend, aber unter dem wild aufgeregten Bolt trat fein Führer auf. Mit einbrechender Nacht zer ftreuten fih die Haufen und die Franzoſen blieben, wenn auch ent« mutbhigt durch Furcht und Schreden, in der Stadt.

Ah, e8 hat ein andered Ende genommen, ſchrieb Caroline am 25. Februar nah Wandsbeck, ald wir gehofft und gewuͤnſcht hatten; jelbft die Douanen arbeiten [don wieder auf ihren Büreaud. Die

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Sache fing gewiß ernſthaft an und ſie haͤtte auch ein ernſthaftes Ende genommen, wenn nicht fremde Hände mit ind Spiel gekommen wä⸗ ren; aber mächtiglich flankieren dänifche Huſaren durch die Straßen. Indeſſen ift doch auch nach diefem Ausgange fchon mehr gefchehen, als wir vor einigen Tagen erivarten durften, und was geſchah, wird nit ohne weitere Folgen fein. Ich war die legte Nacht allein im Haufe; alle unfere Leute waren auf der Wache. Ich bin müde und matt, aber mehr vom Hoffen ald vom Fürchten.

Während ded Tumultes hatten Veſſer und von Heß durch ſchnell umbergefendete Einladungen die Bürger aufgefordert, firaßenmeife zufammenzutreten, um die Stadt vor Plünderung zu ſchuͤtzen, und bald lärmten mit Zuftimmung der franzöfifchen Behörden die Trom⸗ ‚meln der alten reichaftädtifchen Bürgerwache durch die Straßen und rie- fen die Bürger aus allen Ständen unter ihren früheren Hauptleuten zufammen. Die mit Säbeln oder Stöden oder Flinten bewaffnete Wache war ihrer Zufammenfegung wegen fehr geeignet, die Stadt gegen Augfchweifungen der erregten. Menge zu ſchützen; aber die Stadt follte nicht allein gegen die Menge geichügt, fondern auch von der franzöfifchen Heerfchaft befreit werden, und dazu war die Wache mit ihren veralteten, unkriegeriſchen Einrichtungen nicht geeignet. Den Schreden der Franzoſen benugen wollend, begaben fi), ange» regt durch die im Anfang Januar gehaltenen Beiprechungen, einer- feitd von Heß und anderfeit® DBenede mit Prell und Ewald zum Maire und baten um die Erlaubnis, zur Unterflüßung der Bürger- wache einige friegerifch eingerichtete Refervecompagnien errichten zu dürfen. | Als Perthed am Morgen ded 25. Februar mit diefer Tage der Dinge befannt gemacht worden war, fuchte er vor allem von Heß, der einen grundlofen, aber, wie alle feine Stimmungen, leidenfchaftlichen Widerwillen gegen Benede hegte, zu bewegen, ſich mit Diefem, mit Prell und Ewald zu vereinigen. Nachdem Heß fich bereit erflärt und Perthes Mettlerfamp berbeigezogen hatte, hielten die fech® Männer am 26. Februar in Perthes' Wohnung die erfte gemeinfame Ver⸗ fammlung. Da eine Zufchrift des Maire ihnen befannt machte, daß die franzöfifchen Behörden die Bewaffnung von fünfhundert Bürgern, 13 *

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welchen die Gewehre geliefert werden follten . zugeftanden hätten, fo war die Hauptfchwierigfeit aud dem Wege geräumt; aber dur) die Ichneidende Cchärfe, mit welcher Heß der warmen, allgemein deut- hen Begeifterung Benecke's entgegentrat, zeigte ſich ſchon bei diefer eriten Zufammenfunft, daß ein gemeinfamed Wirken beider Männer faum möglich fein werde. Damals zuerft fah ih, äußerte Perthes, das böfe Element des Haſſes mit einer mir unbefannten Gewalt in von Heß hervorbredhen; ich fah, daß eine Leitung der Gefchäfte nur durch meine Vermittelung möglich fei, und eine ſchwere, leidensvolle Thätigfeit nahm für mich ihren Anfang. Perthes beiwog den Bil- dungsausſchuß, wie ſich die vereinigten ſechs Männer nannten, von Heß zum Chef der Bürgerreferve zu wählen. ch mußte gewiß, äu—⸗ Berte Perthes, daß Benede der guten Sache wegen ſich freudig unter- ordnen werde, und ich hoffte, daß von Heß, geehrt durch dieſe Wahl, feinen Haß überwinden könne. Am 27. Februar wurde der Aufruf an die Bürger, fich bei den Refervecompagnien einzuzeichnen, erlafs fen: entihloffene und angefehene Männer meldeten fich in hinreichen- der Zahl und die Waffenübungen begannen. In Perthes' Wohnung fuchten die fünf Sauptleute fi der nothmwendigften Handgriffe zu be meiftern, welche fie dann auf dem ihnen zum Waffenplage einge- räumten Bauhof den andern beizubringen fi) bemühten. Einige Tage der unrühigften aber muthigjten Stimmung vergingen. In der Stadt iſt es noch ruhig, ſchrieb Caroline ihrem Vater, aber ſonſt regt es ſich allenthalben. Auf dem Deich haben ſie das Haus des Maire aufgeräumt, aber leider unſer Milchmann hat dabei einen Lehnſtuhl erobert und einem Douanen zwanzig Thaler abgenommen. Das gefällt mir nicht; reinlich muß die Sache betrieben werden. Aus Billwerdet find alle Douanen verjagt, vom Deiche find fie fortgelau- fen, an unferen Thoren find fie verfehwunden. In Burtehude haben fie die ganze Regie vor das Thor getragen und die Thore hinter ihr zugemacht. In Lübeck ift es in vollem Gange und fein Adler mehr ‚zu fehen. Koſacken find über die Elbe ind Hannöverifche gegangen, aber freilich bis jegt nur als Lärmtrommel; denn wir haben Briefe and Berlin: dort waren fie noch nicht. Aber alles, alt und jung, ſtellt ſich; auch Fouque und Steffen? find mit. Bald tndeilen

197 fhwanden die Hoffnungen, welche auf den neuen Waffenverein ges gründet waren. Der johnelle und glüdfiche Fortgang deöfelben hatte die Eiferfucht der Hauptleute von der alten Bürgerwache erweckt. Sie fürdhteten, völlig in den Hintergrund gedrängt zu werden, und ver- breiteten ihre feindfelige Stimmung gegen das neue Unternehmen aud) unter anderen. Zugleich zeigte fich der Riß unheilbar, welcher die leitenden Männer der Bürgerreferve trennte. Ingrimmig trat von Heß gegen jede allgemein deutfche Gefinnung auf, aus feinem ande» ren Grunde wohl, als weil Benede fie mit fleigender Wärme aus ſprach; er verwarf mit der leidenfchaftlichften Heftigfeit jeden Plan, der bei der Befreiung Hamburgs auch auf den Aufftand der nicht in friegerifche Ordnung gebrachten Menge zählte. Benede dagegen und Perthes fanden in den ungeordneten Bolldbewegungen eine Kraft, die nad) Lage der Dinge dankbar benußt werden müfle und zum Gu- ten geleitet werden fünne. Der Aufftand des 24. Februar hat be> wiefen, jagte Perthes, daß unfer Volk zu großen Schritten bereit und menig graufam-und bösartig ift. Bor allen Dingen, erflärte Be- nede, muß die Bürgerreferve populär fein und deshalb alled vermei- den, was ihr das Vertrauen nehmen könnte; fie foll daher ihre Dienfte durchaus auf die Befhügung der Perfonen und Häufer ihrer Mitbür- ger beichränfen und nie den kaiſerlichen Militär- und Douanenbehör: den gegen dad Volk Beiftand leiften. Nicht die geringfte Abweichung von diefem Grundfaß darf fie fih erlauben. Heß dagegen hatte bei mehrfachen Gelegenheiten laut und öffentlich ausgefprochen, daß, wenn die ungegrdnete Maſſe aufitände, die Bürgerreferve verpflichtet fei, den bedrohten Franzofen Schuß gegen die Volkswuth zu gewäh- ren; da ihm nun im Bolfe diefe Worte dahin verdreht wurden, ala ob er die Referve wie zum Schupe der Kranzofen errichtet betrachtet wiſſen wollte, fo trat allgemeine Abneigung gegen die Referve her- vor. Petthes erfannte, daß in dem verhängnisvollen Zeitpunfte die Einigkeit der Bürgerfchaft auf dein Spiele fand, und er fürchtete, daß fich die Leiter der Referve, wenn fie in der eingenommenen Stel- lung verharrten, auch für die Zukunft um das Vertrauen der Bürger und um den Einfluß auf diefelben bringen würden. Das einzige Mit- tel, um dieſe zwiefache Gefahr zu befeitigen, ſah er in der augen-

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blicklichen Auflöfung der Bürgerreferve. Unterftügt von Mettlerfamp, gewann er am 2. März die Zuftimmung des Bildungsausſchuſſes, und am 3. März gingen die Refervecompagnien auseinander. An eben diefem Tage, an welchem Perthes ſchmerzlich bewegt die Anftalt, an welche er feine Hoffnung auf Befreiung gefmüpft hatte, auseinan« der fallen ſah, wurde er durch fröhliche Nachrichten aus Berlin ers muthigt und geftärft. Hier in Berlin ift jebt alle® Leben und Thä— tigkeit, fchrieb ihm Reimer, und jedermann ift auf feine Weife be müht, dem Aufruf für Vaterland und König nad Kräften zu ent- fprechen. In fchöner Regung und Bewegunf erfreut fich jedes Ge- müth, und der innere Menfch wird neu geboren, und der einzelne verſchwindet ſich felbft und ‚geht auf in feiner Beziehung zur Gefamt- heit. Durch die fichtbar gewordene Gegenwart Gotted auf Erden ift da8 Vertrauen bis zum böchften Grade gefteigert und die Hoffnung auf einen glüdlichen Ausgang ift faft zur Gewißheit geworden. So fteht e8 bei und, Tieber Freund, und ich hoffe, ganz Deutfchland wird unfere Erhebung theilen und kräftig dazu thun, daß der neue Tag hereinbreche und Friede und Freudigkeit wieder auf Erden wohnen mögen immerdar. Als mit dem 3. März die Möglichkeit ver- ſchwunden war, eine größere Anzahl Männer öffentlich in den Waf⸗ fen zu üben, fammelten Heß, Perthes und Prell im Geheimen eine Heine Zahl der entfchlofjenften und zuverläffigften Mitglieder des auf- gelöften Bereind und fegten mit ihnen in verfchiedenen Wohnungen, unter andern auch auf Perthes’ Boden, die Waffenübungen fort. Es follten für alle vorfommende Fälle, das war die Abſicht, wenigſtens einige Männer fich finden, welche ala Führer auftreten könnten. Die franzöfifchen Behörden fahen verftört und verzweifelnd die⸗ fen gegen fie felbft gerichteten Berfuchen zu. Bon ihren auswärtigen Vorgeſetzten erhielten fie den Befehl, auf das fchärffte gegen die Stadt und ihre rebellifchen Bürger zu verfahren, und einige Tage hindurch fuchten fie dieſem Befehle nachzufommen. Die Hausſuchun⸗ gen gingen ins Unglaubliche, fchrieb fpäter Caroline an ihre Schwe⸗ fer, Anna Jacobi; feine Schublade, fein Bett, auf denen Kranke oder Wahnfinnige lagen, wurde verfhont. Wir wußten, daß der Präfert von auswärts eine Lifte von Bürgern zugefchidt erhalten

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hatte, welche aufgehoben werden follten. Auf diefer Lifte ftand Per⸗ the obenan. ch legte jeden Abend mit Wilhelm Perthed, der in der Handlung arbeitet, Breter über dad Waffer hinter unferm Garten und nahm den Hausfchlüffel jede Nacht zu mir in meine Stube, da- mit Perthed, wenn die Sranzofen ihn holen wollten, Zeit und Ge- legenheit hätte, fich in die Nachbarfchaft zu retten. Der Präfeet aber war zu brav oder zu furchtſam, den erhaltenen Befehl auszuführen, und als er gefchärfte Ordre erhielt, hing er fi) auf feinem Boden auf, wurde zwar noch lebendig wieder abgefchnitten, blieb aber wahn⸗ finnig. Bald verloren auch die Militärbehörden Muth und Be finnung; dad Schredbild des 24. Februar und die tropige, heraus⸗ fordernde Haltung der Bürger ftand ihnen furchtbar vor Augen. Die höheren Beamten mußten nicht mehr, was fie thaten, und ſcheuen Blickes fehlichen-die niederen umher. Allen war es unheim- lich in der großen, aufgeregten Stadt, und viele Anzeichen deuteten darauf hin, daß die Befabung in furzer Zeit den unficheren Aufent- halt verlaffen würde. Lieber Papa, fchrieb Caroline am 12. März Morgen? 7 Uhr nah Wandsbeck, taufend und eine Nacht ift an der Tagesordnung. ara St. Eyr, der vorgeftern Nachmittag um 5 Uhr wirflih den Befehl zur Räumung der Stadt erhalten hatte, bleibt nun nad den legten Stafetten, feine Leute haben wieder auspacken müffen, und dem Maire ift befohlen, mehrere Häufer mit Betten, Möbeln u. f. w. bereit zu halten für den Kaifer und eine Ehren- garde aus den angefehenften Bürgern zu errichten. Der Anfang da- mit hat gemacht werden müſſen; der Maire und Godefroi und Wort» mann ziehen in aller Eile aus ihren Häufern; andere Wohnungen find für die Suite beftimmt. Jeder Menfch weiß freilih, daß der Kaifer nicht fommt; indeflen mir müffen unfer Stüd fpielen, bi® Et. Eyr aufbricht. Die Sade hat fi um 11% Uhr geändert, fchrieb Caroline am Nachmittage desfelbigen Tages. Die Franzoſen⸗ herrſchaft ift, um ſich treu zu bleiben, mit einer Rüge geendet. Al- led, was von Truppen hier ift, geht fort: eben ift die franzöfiiche Hauptwache auf dem großen Neumarkt von den Bürgern abgelöft worden; die Franzoſen haben fehr Tange Gefichter gehabt, fagen un⸗ fere Leute, und die Bürger haben fehr zufrieden audgefehen, wie

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wenn fie die Urfadhe von allem wären. Sept eben ziehen die Refte mit einigen Kanonen und Bagage an unferm Haufe vorbei, alle jehr ernſthaft, die Officiere blaß wie der Tod. Da kommt Prinz Neuß, St. Cyr und ein dider Herr. Gott helfe mir danken! Ich bin durch all den Wechfel von Freud' und Leid fo matt und müde, daß ih zum Danfe rechter Art nicht kommen kann.

Nah Abzug der franzöfifchen Befabung war die Stadt mit ihrer aufgeregten Bevölkerung ſich felbft überlaffen. Der Maire und die Municipalität errichteten eine qus fünf Männern beftehende Com- mandantichaft, welche die Bürgerwache befehligen und für Erhaltung der Ordnung Sorge tragen follte.. Aus dem Innern der Stadt drohte indeffen feine Gefahr, aber die Abficht der Franzofen, Hamburg aufs nene zu befegen, ließ ſich kaum bezweifeln, Cara St. Eyr befand ſich, obwohl er auf das linke Elbufer übergefept war, nur wenige Stun- den von der Stadt, und au? Stralfund war General Morand auf: gebrochen und zog durch Medlenburg heran, um fich in oder bei Hamburg mit ©t. Cyr zu vereinigen. Anderfeitd wurde es befannt, daß rufjifche Truppen von Berlin aus ſich näherten und alles aufbic- ten würden, um Hamburg nicht wieder in die Hände des Feindes fal- len zu lajfen. In haftiger Eile durchkreuzten ſich einander widerfpre- chende Gerüchte: bald jollte Morand, bald follten die Ruffen fi in nächſter Nähe befinden. Jubel, Angft, Wuth erfüllten wechfelnd die Ge- müther, aber Freude und Hoffnung behielten doch das Uebergewicht.

Es ift himmelſchreiendes Unrecht, fehrieb Caroline in diefen Ta- gen an ihren Bater, daß Du mir nur durch Gedanfenftrihe antwor⸗ teſt. Wenn wir jebt fehweigen, fo müſſen die Steine fehreien. Ein: folcher Dienft ift und noch nicht geleiftet und ein ſolches Glüd und noch nicht zu Theil geworden, und Du mußt mir in Worten dar- über fehreiben, lieber Papa. ch weiß wohl, dag wir fehmeigen und Doch Gott danfen können, aber wes das Herz voll ift, des geht der Mund über. Perthes ift bis diefen Morgen 5 Uhr auf der Wache ge= wefen und noch habe ich ihn nicht wieder gefchen. Das Morand'fche Corps foll in Lübeck eingerüdt fein. Wenn ed auch wahr ift, fo fha- det es nicht; denn gefangen werden fie doch. Die Ruffen fönnen nicht ferne mehr fein, und bei und in der Etadt fteht es gut und nirgends

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artet die Freude in Tumult aus, Sch bin außer mir und weiß nicht, wie mir gefchieht, feitdem die große Seelen- und Lebendlaft von und genommen ift. Gott fchaffeund unfere Confcribierten wieder und ver- leihe allen Gefallenen Ruhe und allen Lebendigen Muth!

Bon Perthes' altem Freunde Keetmann, welcher fih nach Neu⸗ wied zurüdgezogen hatte, langte in diefen Tagen ein Brief an, der zum Vertrauen auf den rechten Helfer ermahnte. Möchten wir, hieß es in demfelben, bei den großen Entwidelungen der Gegenwart nur auf die Hand des Herrn fehen und nur von ihm Rettung erwarten. Er hat feine Macht bewährt und den Ader des menfchlichen Herzen? gepflügt und ihn mürbe und empfänglich gemadt. Wie oft find die Hoffnungen der Menfchen auf Menfchen getäufeht, und dennod) hofft man immer wieder auf einen fleifchernen Arm. Das Bertrauen auf die Hilfe Gottes lebte feft in Perthes' Bruft, aber die Hände in den Schoß legen dürften die Menfchen nicht, blieb feine Ueberzeugung. Ald am 16. März General Morand mit etwa dreitaufend fünfhun- dert Mann in Bergedorf, einem nur wenige Stunden von Hamburg entfernten Städtchen, einrüdte und die gewaltfame Spannung der Bürgerfchaft den höchften Grad erreichte, waren Perthed, Mettler- kamp und mehrere ihrer freunde feſt entfchloffen, jedem Verſuche der Franzoſen, fi) Hamburgs aufs neue zu bemädhtigen, die Volkswuth entgegenzufegen, die, um in wilder Bewegung audzubrechen, nur de? leijeften Anſtoßes bedurfte. Die Nothwendigkeit aber, von dieſem äußerften Mittel Gebrauch machen zu müffen, verſchwand, als eine Abtheilung dänifcher Truppen fi) zwiſchen Hamburg und Bergedorf aufftellte und dem General Morand den Durchzug durch das dänifche Gebiet verweigerte. Während Morand ſich in Folge diefer Weigerung genöthigt fah, am 17. März auf das linke Elbufer überzufepen, tra- fen an demfelben Tage etwa fünfzehnhundert Kofaden von Berlin über Ludwigsluſt und Lüneburg in Bergedorf ein. Eine Streifpartie derfelben von dreizehn Mann, welche von dem damaligen Rittmeifter und fpätern Regierungsrath Bärſch befehligt ward, durchſprengte noch am Abend eben diefed Tages auf eine Stunde die Straßen Ham- burge. Sobald da8 Detachement der Stadt ſich näherte und im Angefichte der Steinthorwache war, ließ unfer Capitän, ſchrieb Be⸗

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nede von der Steinthborwache aus an Perthes, die Wache ind Ge⸗ wehr treten und ging: mit acht Mann, unter denen ich war, den Ruf- fen entgegen. Auf fein Zeichen ließ der ruffifche Officier halten und unfer Capitän überreihte ihm den Schlüffel der Stadt mit den Wor⸗ ten: Hier ift der Schlüffel der freien Hanfeftadt Hamburg; es lebe Deutfchland und Rußland hoch! Ein fi fehnell unter Taufenden fortpflanzender Ton übertobte die deutfche Antwort des die Schlüffel mit adelichem Anftand und herzlicher Freundlichkeit annehmenden ruf ſiſchen Officiers. Der” Jubel war unbefchreiblih. Deutfh, Ruß, Koſack, Alerander waren die einzigen verftändlichen Laute, in vielen Augen ftanden helle Thränen. Lieber Perthed, ed war ein Augenblid, der für die Ewigkeit Werth behält.

Während der Naht vom 17. zum 18. März ftanden in Berge dorf die Nuffen Hamburg gegenüber, welches feiner Gefinnung nad) durch und durch deutfch, den Formen feiner Verfafiung nad) aber noch eine franzöfifche, alfo den Ruſſen feindliche Stadt war. Perthes hatte mit manchen anderen fchon feit dem 12. März die Anficht ger habt, daß die franzöfifche Civilobrigkeit, der Maire nemlich und die Municipalität, nun, nachdem die franzöfifhe Militärgewalt nicht mehr dränge, fofort befeitigt und hierdurd) die Losfagung von Frank⸗ reich förmlich und feierlich audgefprochen werden müſſe. Die Wider: ftandäfraft der Bürger würde hierdurch, meinte er, bis zum Muthe der Verzweiflung gefteigert, und nur der Staat, der alle® an alles zu ſetzen Entfchloffenheit genug befite, werde von Rußland und Preu⸗ en als felbftändiger Freund behandelt werden können. Beftärft in ihrer Anficht wurden die Männer diefer Gefinnung durch ein Schrei⸗ ben, welches der ruffifche Gefchäftdträger, Herr von Struve, am 13. März aus Altona gefendet hatte. Hamburgs Bürger, lautete da8- jelbe, find durch den Abzug der franzöfifchen Militärbehörden von ihren bisherigen Fefleln frei, aber Hamburg kann fein Wohl nur durch Schritte begründen, die Europa und feinen herannahenden Ber freiern beweifen, daß es frei fein will. Es muß erflären, daß ed Frankreich auf immer entfagt. Die Municipalität Hamburgs war aus · wackern einheimiſchen Männern zufammengefegt und der fran-

zöfifchen Herrfchaft durchaus feindlich gefinnt; aber der form nad war.

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fie franzöfifche Behörde, und deshalb konnte ihr der Entfchluß, fich offen gegen Frankreich zu erflären, nicht fo leicht wie andern erfchei- nen. Es handelte fi, wenn etwa den Franzoſen die Rückkehr gelang, um den Kopf der einzelnen und um das Geſchick der Stadt, welde in diefem Falle niht nur ala eine feindliche, fondern auch ala eine res bellifche- Stadt die Wuth und die Rache Napoleons und feiner Hel- feröhelfer zu fürchten hatte. Um wenigftend den Borwurf der Res .bellion abweifen zu fönnen, wollte die Municipalität die Erflärung der eigenen Auflöfung und die Losfagung Hamburgs. von Frankreich wie durch die Ruffen erzwungen erfcheinen laſſen. In der Nacht vom 17. zum 18. März erhielt fie die Nachricht, daß die Ruſſen am folgen- den Tage in Hamburg einziehen würden, und zwar ald Feinde, wenn ſich noch irgend eine franzöfifche Behörde innerhalb der Stadt in Thä- tigkeit befinde. Nun ſprach fie ihre Auflöfung aus, und fo wie der Tag anbrach, füllten fi alle Straßen mit freudig bewegten Menfchen, welche die bis dahin nur aus Ammenerzählungen befannten Reiter einer fremden Welt ankommen fehen wollten.

Mein lieber Papa, ſchrieb Caroline einige Stunden vor Ankunft derfelben an ihren Vater, wie foll ich machen, um Dir da3 allge meine reudenleben von alt und jung, von arm und reich, von fchlecht und gut zu fchreiben? Das gefehen und gehört und em⸗ pfunden zu haben, ift eine Gottedgabe. Dem Grunde und der Ur- fache der Freude will ih nicht nachforfchen; aber der Ausbruch der Freude ift unverbeiierlich fhön und ift wie aus einem guten und reis nen Grunde. Ein Borpoften von dreizehn Kofaden kam ſchon geftern Abend in die Stadt mit ihren Manteltalaren und mit eben von Franzofen oder doch wenigſtens von deren Kleidern geziert. Ein jeder Mund rief und jubelte, und jedes Herz dankte Gott im Himmel und den Ruſſen auf Erden. Niemald, mein lieber Papa, habe ich eine folche Bereinigung in Einem Punkt, ausgehend von taufend Herzen, empfunden. Könnten wir fo zum beften Punkt und vereinigen, das müßte eine herrliche Kirche fein. Alſo die Koſacken kamen geritten, batten ihre Ranzen gefenkt, ſchwangen ihre Düsen und fahen erftaun- ih treuberzig und freundlich von ihren Pferden herab. Bon allen Seiten brachte das Volk ihnen Brantwein, Kuchen und Brot aufs

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Pferd. Leute, die fein Gemüth gehabt haben, haben geftern und heute eins befommen, und wenn man nur öfter den Menfchen fo tief in die Seele kommen fünnte, follte e8 wohl gute Folgen haben. Sch fühle die Erlöfung mehr, als ich die Freiheit fühlen werde, denn fo werden wir nicht frei fein, wie wir von dem Uebel erlöft find. Wenn die Ruſſen eher einziehen, als der Bote geht, fo fehreibe ich Euch mehr; ich wollte gar zu gern, Daß. Ihr auch etwas von unſerer Freude hättet.

In den Mittagsſtunden hielten die Koſacken unter unermeßlichem Jubel ihren Einzug, und alles Weh der Vergangenheit und alle Ge- fahr der Zukunft war in dem Glüde der Gegenwart untergegangen. Kaum eine deutfche Meile entfernt ftand der Feind und fonnte in we- nigen Stunden die Stadt mit Mord und Brand erfüllen, aber nie mand dachte an ihn und feinen Grimm. inen wunderbaren An- blid bot die Stadt jedem dar, der nad) dem lauten Jubel ded Tages in der fommerwarmen Frühlingsnacht die Straßen einfam durd- "wanderte. Ueberall tiefe Stille und forgenlofed Ausruhen; fein Po- ften war auögeftellt, Feine Patrouille durchritt die Gaflen, fein Polizeibeamter war zu ſehen. In hellem Glanze ſchien der Mond auf die Häufer mit ihren fchlafenden Bewohnern herab und vollen- dete das Bild des Friedens und der Sicherheit. Dem Schube Got- te3 allein hatte die freudenmnüde Stadt fi anvertraut.

Die nene Bedrohung und die Wiederbeſetzung Hamburgs durch Davouſt. Bon 18. März bis 30. Mai 1813.

Die erwartungdvolle Spannung, in welcher Deutfhland fich während der Monate vor den Maifchlachten von Lügen und Bausen befand, ließ den Abfall der einzelnen vom Feinde umgebenen Stadt in einem überaus glänzenden Lichte erfcheinen. Mit Jubel und Freu- denthränen haben wir Hamburgs That gefeiert, fehrieb der alte Rein-

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hold aus Kiel an Perthed, und unfer eigened, wahrlich nicht Fleines - Elend haben wir darüber vergeffen. Ich kann e8 nicht laſſen, Shnen zu jagen, heißt es in einem Briefe Schleiermacher'8, wie auch unter und allgemeine Freude ift über Hamburg® Befreiung und über das herrliche Beifpiel, welches die Stadt gegeben hat. Möge es weit- bin in ganz Deutfchland wirken und die Achtung für freie Berfaffun- gen auf neue beleben! Eine kräftige Stimmung, welde zum Fortfchreiten auf dem betretenen Wege ermahnte, trat bejonders in den Briefen, welche Perthed aus Preußen empfing, hervor. Sie ath- men wieder frei, mein lieber Freund, fchrieb Reimer; nun aber laſſen Sie und auch feft daran halten, dag wir die Freiheit nicht ald Ge- ſchenk von fremder Hand empfangen, fondern felbit dafür kämpfen und und ihres Befiged durch jedes Opfer werth zeigen wollen. Feder Bürger Deutſchlands muß ftille vor Gott und laut vor feinen Mit- bürgern fehwören, daß er die Schande der Unterdrüdung nicht wieder tragen wolle. Gott wird helfen, und wir werden einem Baterlande angehören, daß feiner Größe und dem treuen Sinne feiner Bewohner nad) zum erften Lande von Europa beftimmt ift. “Bor einer ver- Iorenen Affaire darf man ſich nicht fürchten, meinte Schleiermacher. Für den Anfang wünſche ich fie zwar nicht, wohl aber für die Folge; denn wenn der Krieg nicht fünf, wo möglich zehn Jahre dauert, fann es und nicht gründlich helfen. Wer hätte ed ahnen fönnen, heißt es in einem Briefe Niebuhr's, daß uns ſolche Tage bereitet würden. Laſſen Sie und nun nur jeden predigen uns felbft haben wir nicht nöthig es vorzufagen, daß die müßige freude nicht mehr verderb- lich als ſchmählich if. Auch Sie laſſen es fich gewiß nicht fchreden, daß der Weg auf den Gipfel der Freiheit an einem Abgrunde hin- führt, daß wir recht wach an ihm vorübergehen müſſen, nicht zu wiel bineinfchauen, fondern aufwärts bliden, aber wohl aufınerfen, wohin wir den Fuß ſetzen. Unſere Befreiung kann nicht unvollendet bleiben, fie kann nicht rückwärts gehen, wenn wir nur einigermaßen thun, wozu und alle aufruft.

Ermuthigende Worte, wie fie in diefen und manchen anderen Briefen gefchrieben wurden, waren für Hamburg zur rechten Stunde geſprochen; denn die Stadt war zwar frei, aber ihre Lage und das

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Verhältnis der in ihr wirkenden Kräfte ließ vorausfehen, daß der Kampf um die Behauptung der fehnell gewonnenen Freiheit fein Teich» ter fein werde. Als es am 12. März nach Abzug der Franzoſen ge- wiß wurde, daß die Municipalität werde abtreten müffen, entftand die Frage, durch welche Behörde fie erfet werden könne. Am nächften lag e8, die frühere reichöftädtifche Obrigkeit, den Senat nemlih und die bürgerfchaftlichen Collegien, wieder in ihre alte Stellung einzufegen. Bon Heß aber und Perthes waren der Anficht, daß die Obrigfeit der Neichözeit wenig geeignet fei, die Kraft, Kühnheit und Schnelligkeit zu entwideln, welche der große, außerordentliche Augenblick erfordere. Beide Männer hielten bis zur Herftellung des allgemeinen Friedens eine höchfte Behörde für nothwendig, welche, ungehemmt. durch die Formen und Vorſchriften der alten Verfaſſung, allein auf eigene Ver⸗ antwortlichkeit und aud eigener Machtvollkommenheit die durchgrei⸗ fendften und entfchloffenften Anordnungen zur Bertheidigung treffen und dem zu jeder Aufopferung bereiten Eifer der Bürger eine bes ftimmte Ordnung und Richtung geben könne. Aus den Fräftigften Mitgliedern des früheren reichsſtädtiſchen Senated und aus einer An⸗ zahl allgemein befannter und des Vertrauens der Stadt genießender Bürger follte diefe Zwilchenbehörde gebildet werden, und ihr Recht und ihre Macht follte fie erhalten, indem fie von Tettenborn, dem Führer der ruffifhen Truppen, eingefeßt oder doch wenigſtens beftä- tigt würde. Bon Heß war allein von allen Hamburgern dur Stä- gemann in Berlin mit Zettenborn belannt und er gewann denfelben bei dem erften perfönlichen Zufammentreffen in Bergedorf am Abend des 17. März für feine Anfiht. Als aber Heß im Auftrage des Ober- ften nad Hamburg zurüdgefehrt war, wurde er in der Nacht vom 17: zum 18. durch die Municipalität erfucht, dem ruffifchen Befehlshaber die Anzeige zu überbringen, daß die Municipalität dad Stadtregiment dem Senate, aus deſſen Händen fie e8 empfangen habe, wieder zurüd- gebe. Noch in der Nacht wurde der alte Senat und das Collegium der Oberalten zufammenberufen und die ftädtifche Verfaſſung der Reichszeit ward ohne irgend eine Aenderung wieder bergeftellt. Lie⸗ ber Freund, fchrieb Heß in diefer entfcheidenden Nacht vom Rathhauſe aus an Perthed, die Sache ift geicheitert, aber damit nicht unfer Zweck.

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Der alte Senat nimmt zwar dad auf, was der Municipalrath fallen läßt, aber die außerordentliche Commiffion foll doch, fo wahr ein Gott lebt, her. Zmeimal bin ich in diefer Nacht vor Ihrem Haufe gewe⸗ fen, aber ich konnte nicht hinein. Ich wollte an Ihrem Bufen meinen Ingrimm audweinen.

Sobald der alte Rath feine frühere Stellung wieder eingenom- men hatte, erwachte in ihm die bedächtige Abwägung der fünftig mög. lichen Wechfelfälle und die berechnende Vorficht, deren die Reichsſtädte ehemals in ihren, wenn auch nicht großartigen, Doch ſchwierigen Ver⸗ widelungen beburft hatten. Die franzöjtfchen Truppen fanden noch in großer Nähe, die Ruffen waren ſchwach und die Rüdkehr der Na⸗ poleonifchen Herrihaft war -nicht unmöglich. Die Berüdjihtigung biefer Möglichkeit erfchien dem Senat daher als die erfte Forderung, welche an eine umfichtige Obrigkeit gemacht werden mülfe. Sein aus ſolcher Anfiht hervorgehendes Verhalten machte auf alle, welche für die außerordentlihe Zeit auch außerordentlihe Kühnheit forderten, den Eindrud der Halbheit und Zaghaftigkeit. Solche Ruhe und Weis- heit, hieß e8, fei weder geeignet, die Rückkehr der Franzofen abzuweh⸗ ren, noch werde durch fie der Zorn und die Wuth derfelben fich be⸗ ſchwichtigen laſſen, falls jie wirklich zurückkehren follten. Um die Wiederbeſetzung der Stadt verhindern zu können, müſſe man noth⸗ wendig von der Boraudfegung ausgehen, daß die Wiederbefegung eine Unmöglichkeit fei. In einem fo entfcheidenden Augenblide, ald ber gegenwärtige, dürfe man nur das Nächfte und Nothwendigfte, das Zurüdichlagen nemlich der Franzoſen, ind Auge fallen, und jeder, der bereit fei, dad eigene Gut und Blut dahinzugeben, habe dad Recht und die Pflicht, Gefahren außer Acht zu laffen, welche die Stadt tref- fen könnten, wenn aller Widerftand vergeblich fein follte. Anſich⸗ ten und Weberzeugungen diefer Art hatten fi unter dem größten Theil der Bürger geltend gemacht: bis in die arbeitenden und dienen⸗ den Stände hinab trat in Worten und Werken der freudige Muth hervor, alled zu wagen und zu opfern, auch die in den legten fünfzig Jahren fait erftarrten bürgerfchaftlihen Collegien waren zu fühnen und großen Entſchlüſſen bereit. Ein Auftreten aber, welches auf die- fer Seite ald Muth und Kraft erſchien, ftellte fi) der Gegenfeite al?

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unbefümmerter Leichtfinn dar, welcher dad Wohl und Wehe der Baterz ftadt in blindem Eifer auf das Spiel feßte. Mitten hinein in diefen Gegenſatz zmwifchen dem Rathe und der Bürgerpartei trat Tettenborn, der Führer der Ruſſen, unbekannt mit allen ftädtifchen Verhältniſſen und in feinem Urtheile über diefelben geleitet durch von Heß, welcher leidenschaftlich mit dem Senate grollte, an deflen Stelle er die außer: ordentliche Regierungdcommilfion hatte fehen wollen.

Der Oberft Freiherr von Tettenborn, Sohn eines badifchen Forſtbeamten, war 1812 aud öftreichifchen in rufjifhe Kriegsdienfte getreten und hatte fi) hier wie dort den Ruf eines kecken Reiterfüh- rerd don perjönlihem Muthe erworben. An der Spike einer zum Umbherihwärmen beftinnmten Kofadenfhar war ihm bei dem Por: dringen des rufftichen Heeres manches Wagſtück geglüdt; nun aber fah er fih durch feinen Zug nad Hamburg in die ſchwierigſten Ver⸗ hältnifje verfeßt, ohne bisher Gelegenheit gehabt zu haben, ſich in an- deren Sagen zu bewähren, als in folchen, die mit den Streifereien eines fliegenden Corps verbunden find. Nur auf feinen Heinen Rei— terhaufen geftügt, fonnte er unmöglich Die Stadt gegen einen ernften Angriff der Franzoſen halten, und alles fan darauf an, den Mangel des Fußvolks zu erjegen. Die natürliche Kühnheit und der begeifterte Eifer der fräftigen Bevölkerung ermwedte zwar Hoffnung und PBer- trauen; aber kriegeriſche Borbildung fehlte ihr völlig, und ein Stamm geübter und erprobter Truppen war nicht vorhanden, an welche die junge Mannſchaft ſich hätte anfchliegen fönnen. Officiere und Unter- officiere zur Einübung der nöthigften Handgriffe und Bewegungen fanden ſich nur in fehr kleiner Zahl, und diefen wenigen mußte ihr Geſchäft durd dad an militärifchen Gehorſam nicht gewöhnte ftarfe Bürgergefühl der Hamburger erjchwert werden. Tettenborn hatte ſich feldft zum oberften Befehlöhaber der Etadt gemacht, und feine Auf- gabe war es, alle zu verfuhen, um mit dem guten und fräftigen Willen der Bürger die mandherlei Schwierigfeiten zu überwinden, welche fich einer erfolgreichen Vertheidigung der Stadt gegen den in größter Nähe ftehenden Feind entgegenfegten. Unmittelbar nad) fei- nem Ginzuge hatte der Oberft zu diefem Zwecke die Einrichtung einer Bürgergarde zur unmittelbaren Bertheidigung der Stadt und die Er-

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rihtung eined Corps von Freiwilligen angeordnet, welches unter dem Namen Hanfeatijche Legion fich den Heeren der Verbündeten anſchlie⸗ Gen follte. Glüdliche Ereigniffe gewährten eine Ruhe von mehreren Wochen, um fi zum Kampfe gegen die franzöfifhen Truppen vorzu-

bereiten. Ringeum nemlich war um dieje Zeit alle® in Bewegung .

gerathen. In Medlenburg wurde muthig und Fräftig gerüftet; Frei⸗ willige fammelten fi in Lauenburg unter Dajor von Berger, in Lü⸗ bed unter dem Rittmeifter von Dobened und dem Hauptmann von Zucadou, im Cüneburgifchen unter dem Grafen Kielmandegge; Dörn⸗ berg und Tſchernyſcheff festen auf das linfe Elbufer über und die Franzoſen zogen fich bis zur Wefer zurüd. Faſt ſechs Wochen ver« gingen ohne.einen Verſuch derfelben, das rechte Elbufer zu beunruhi- gen; demungeachtet aber befand fih Hamburg auch nach Ablauf die- fer Zeit nicht in einem vertheidigungsfähigen Zuftand. Tettenborn verftand es wohl, einen raſchen Reiterhaufen auf gewagten Streife- veien zu führen, aber ihm fehlten Geduld und die nöthigen Erfahrun- gen, um mit geringen Kräften und mit befchränften Hilfsmitteln die Befeftigung der weitläufigen Stadt: den Umftänden .entfprechend zu leiten. Er fonnte wohl mit leidenſchaftlichen Worten die Menfchen zu einem fehnellen Entfchluffe drängen, aber feft und kräftig feinen Weg durd) die politifchen Gegenfäße der aufgeregten Stadt zu geben ‚vermochte er nicht; denn er befaß weder bie fichere Ruhe eines bedeu- tenden Charakters noch das Feuer eine? fi felbft vergeffenden Helden. Die Pläpe auperhalb Hamburgd, auf welchen die Sicherheit desfelben weſentlich ruhte, blieben ſchwach oder gar nicht befeftigt, der Senat wurde zu keinem ausharrenden und entfchloffenen Handeln vermodht und der oft übergroße Eifer der Bürger wenig geordnet und.benugt.

Die hanfeatifche Region, welche aus zwei Hamburgifchen Bataif- lons und etwa taufend Neitern beftand und zwei Männer, die allge meine? Vertrauen genofjen, den damaligen Major von Pfuel und den Major Graf Joſeph Weſtphalen zu Führern hatte, konnte zwar nach wenigen Wochen ſchon gegen den Feind verwendet werden; aber die Ausbildung der Bürgergarde, auf deren Tüchtigkeit die Vertheidigung der Stadt beruhte, ſchritt nur ſehr langſam vor. Beinghe drei Wo—

chen waren nach dem Einrücken der Koſacken vergangen, bevor der Perthes“ Leben. 1. 4. Aufl. 14

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Senat den Aufruf zur Bildung derfelben erließ. Als diefer endlich am 6. April erfhien, hatten ſich bereits feit etwa acht Tagen dreitau- fend Bürger unaufgefordert in die Liſten der am 1. März aufgelöften Mefervecompagnien einfchreiben laſſen und ſich auf die lebendige An⸗ regung und unter der thätigen Leitung des Herrn von Heß, welcher von Tettenborn zum Oberft der Bürgerbewaffnung ernannt war, in den Waffen geübt. Ende April beftand die Bürgergarde aus eiwa 6000 Mann, die fih mit Eifer zu den Uebungen drängten; aber die Zehrmeifter fehlten und an Waffen war in Hamburg und in der gan⸗ zen Umgegend ein folder Mangel durch die Plünderungen der Fran- sofen entftanden, daß für die 6000 Mann nur 1500 Gewehre herbei- gefchafft werden Fonnten, von denen der größte Theil, weil er zum Feuern unbraudbar war, höchftend zur Einübung der erften Hand- griffe dienen konnte. Die Perfönlichfeit des Herm von Heß, fo geeig- net fie gewefen war, den Eifer der Bürger zu entzünden und in die rechte Bahn zu leiten, zeigte fich nicht gefchidt, die angefangene Be- waffnung durchzuführen. Er felbft ſank oft von der aufgeregteften Begeifterung zur größten Mutblofigfeit herab und mußte nicht Ord⸗ nung und Zufammenbang in die Uebungen der fechötaufend eifrigen Männer zu bringen. Midmuth über die zwecklos verlorene Zeit und Unzufriedenheit mit Heß machte fich immer lauter bemerflih. Endlich nahm fi, fhrieb Tpäter Mettlerfamp, Herr Friedrih Perthed der Sade an, deſſen Scharfblide die Bernachläffigung des guten patrio- tifhen Willen? der Leute nicht entging. Er ließ fih zum Major bei dem Stabe und zum Adjutanten ded Herrn von Heß machen, gefellte fih ein paar junge, rüftige Leute ald Gehilfen zu, warf fih in Uni. form und erfhien nun jeden Morgen auf dem Uebungsplatze, wo er mit der größten Mühe und Thätigfeit die umherirrenden Haufen fammelte und zu firieren ftrebte. Perthes hatte in den erften Ta⸗ gen nach Tettenborn's Einrüden alle feine Kräfte verwendet, um frei⸗ willige Gaben zur Augrüftung armer Bürger und zur Unterftüßung ihrer Familien zufammenbringen zu helfen. In allen Ständen hatte er überrafchend große? Entgegenfommen gefunden. Während Salo- mon Heine, großartig wie immer, ihm fehrieb: Sie erhalten hierbei dreitaufend Mark; Gott wird Ihnen lohnen, daß Sie fich diefer

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Sache annehmen, berichtete ihm Peter Godeffroy, welcher in einzelnen Bezirken perjönlich gefammelt hatte: Es ift mir nicht möglich, diefen Bericht zu ſchließen, ohne Sie auf die Bereitwilligfeit und den Eifer aufmerfjam zu machen, den jeder ohne Ausnahme bewiefen bat. Bor allen aber haben fich Die ärmeren und mittleren Claffen durch ihre verhältnismäßig großen Gaben audgezeichnet. Unmittelbar nad Beendigung diefed erften und nothwendigften Gefchäftes gab fi Perthed ganz den Arbeiten für die Einrichtung der hanfeatifchen Le⸗ gion hin. ch hatte ihr ja, fchrieb er nicht lange nachher, in den drei trefflichen mir anvertrauten jungen Leuten: Maufe, Weber und Wil- heim Perthes, mein Herzblut hingegeben. Dann wendete er fich, von vielen Seiten dazu aufgefordert, der Bürgergarde zu und wurde am 6. April zu deren Stabsmajor ernannt. Perthes hatte damals dag vierzigfte Jahr bereit? überschritten und bi? zum Jahre 1813 nie irgend eine militärische Uebung oder Erfahrung gehabt. Diejem Mangel ließ fich nicht plöglich abhelfen, auch fehlten ihm, wie er felbft fagte, die Anlagen, ſich in militärifche Uebungen hineinzufinden. AL? Dfficier im eigentlichen Sinne ded Worted Fonnte er daher nicht auf- treten und that es auch nicht, es fei denn, daß jede andere Aushilfe fehlte; aber den Eifer und den guten Willen der Leute wußte er neu zu beleben, das gute Verhältnis derfelben zu Herrn von Heß wieder herzuftellen, Ordnung in die durcheinander geworfenen Verhältniffe und die rechten Leute an die rechten Stellen zu bringen. Friſch wurde er angeregt durch das Erfcheinen des preußifchen Staatsraths Scharn⸗ weber, welcher am 11. April in Hamburg anlangte, um eine möglichft große Einheit für die Volksbewaffnung der einzelnen Staaten zu ver- abreden. Preußen ift diefen Plänen bereitd beigetreten, ſchrieb ihm Benede; nun gehts die Elbe herunter. Mecklenburg iſt bereit; für Lauenburg ift Kielmandegge einverftanden,; nun fehlt noch Hamburg. zettenborn hat ſich hierum nicht zu befümmern; da3 ift Hamburg? Sache. Den perfönlihen Einfluß, den Perthes bei den Bürgern, bei einzelnen Mitgliedern des Raths und in Tettenborn’d Umgebung befaß, wendete er mit unermübdlicher Thätigkeit und ohne Scheu vor Verdrieplichkeiten und Opfern aller Art an, um das geftörte Verhält- nid zwoifchen der Bürgerfchaft, dem Senate und dem tuffifhen Haupts

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quartier möglichft wieder herzuftellen. Innere Zwietracht wenigſtens ſollte dem Feinde den Angriff nicht erleichtern. Ein ſeltenes und all- gemieined Vertrauen ward ihm und feiner ebenfo entichloffenen ala anfpruchlofen Thätigkeit von allen Parteien ju Theil, und immer has ben feine Mitbürger freudig anerkannt, daß er in der außerordent« lichen Zeit viele® und großed gewirft. Mit folgenden Worten. legte einige Jahre fpäter Poel fih und andern die Gründe vor, welche es möglich machten, daß Perthes damals die große Bedeutung für die Stadt gewinnen konnte. Man darf, fagte er, um Perthes' perſön⸗ liche Thätigfeit zu würdigen, nur die Gefchichte, der von ihm errichtes ten Buchhandlung fennen, die er in wenigen Jahren ohne andere Mit- tel als diefe Thätigfeit zu einer der bedeutendften Deutfchland® erho- ben hat. Weil er früh des Beiftandes anderer Menfchen bedurfte, - übte fich fein Beobachtungsgeiſt, lernte er Weltflugheit in der Behand- lung der Schwächen anderer, Selbfiverleugnung in rüdfichtövoller Schonung fremder Meinungen, Befonnenheit in Bezwingung leiden- Ihaftliher Aufwallungen. Sollte bei dem unermeßlichen Detail feie nes Geſchaͤfts das Ganze nicht durch Vernachläſſigung des Einzelnen

leiden, ſo mußte er fih die-raftlofefte Thätigkeit, den anhaltendften

Fleiß, die firengfte Ordnung zu eigen machen. Den Mangel an ge lehrter Bildung erfegte reichlich „der Umgang mit den bedeutendften Männern Deutfchlands,. fo daß nichts großes und ſchönes in ber vaterländifchen Literatur zur Sprache gefommen ift, das fein Geift fi) nicht angeeignet hätte, und es wurde vielleicht um fo reiner voy ihm aufgefaßt, weil fein Blick durch Feine gelehrten Borurtheile getrübt war. Was aber diefer Bereinigung jo feltner Eigenschaften einen ganz vorzüglichen Werth gibt, ift die Wärme feined Herzens und der ‚tiefe religiöfe Sinn, der den weltlihen Beftrebungen eines ftolzen Gelbftgefühld Grenzen feßt und fie veredelt.

Endlich war die Ausbildung der Bürgergarde fo weit vorgefehrit- - ten, daß fie feit dem 21. April fünf Wachen der Stadt befeken und dem medlenburgifchen, vierhundert Mann ftarfen, Grenadierbatail- Ion und den beiden hanfeatifchen Bataillon? den Dienft erleichtern fonnte, welcher von. Tage zu Tage anftrengender und gefahrvoller wurde, weil Bandamme und. Davouft. aufs neue von der Wefer her

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vorgedrungen waren und mit etwa 6000 Mann am 29. April Har- burg befett hatten, welches von Hamburg nur durd die Elbe und durch die großen in derfelben liegenden Inſeln Wilhelmsburg Ochjen- wärder und Feddel getrennt wird. Die Bürgergarde erhielt zwar am 30. April zweitaufend Gewehre aus England, aber an weitere Waf- fenübungen auf dem Exercierplatz Tonnte bei dem harten Ernftdienft nicht länger gedacht werden. Am- 9. Mai Morgens fünf Uhr tönte die Lärmtrommel durch Die ganze Stadt; der Feind war auf der Wil- helmsburg gelandet, hatte das Bataillon Lauenburger und das Ba- taillon Hanfeaten,. welche dieſelbe befegt hielten, zurüdgetrieben und fih in den Befig der Inſel gebracht. Zwar gingen zwei Compagnien der medienburgifhen Grenadiere und das erfte Bataillon Hanfeaten, fobald der damalige Hauptmann von Canig fih an ihre Spike ge- ftelft hatte, mit Muth und Ordnung auf den Feind los, drängten ihn bi® auf die äußerſte füdliche Spibe der Inſel und fchlugen ihn felbft nad) Harburg zurüd, aber am 11. Mai ließ Tettenborn zum Grftaunen und Entfegen aller die ganze Inſel räumen,. und nun wurde am 12. Mai, nachdem die beiden hanfentifhen Bataillons bei- nahe gänzlich aufgerieben waren, auch die Feddel verloren. Der Feind war im Angefihte Hamburgs. In der Nacht vom 19. zum 20. Mai wurde die Stadt aus Kanonen und Haubiken befchoffen. Liebe Ca- toline , fehrieb Perthed am folgenden Tage an feine Frau, welche die Nacht in Wandebed zugebracht hatte, ich bitte Dich aus Grund mei- ner Seele, faffe Dich und ftelle Di und mid) in Gotted Hände, und naͤchſtdem vertraue mir und glaube, daß, was ich thue, ich vor Got- tes Richterftuhl verantworten fann. Das Bombardement fieht übri- gens fürchtlicher aus als e3 ift, und follte dieſe Scene auch noch ein- mal wiederholt werden, fo wird es ſo ſehr nicht ſchaden; oft ift bei ganz gewöhnlichen Dingen größere Gefahr als hier. In der Nacht vom 22. zum 23. Mai fielen abermals etwa fünfhundert Granaten in die Stadt, aber der Muth der Bürger wurde nicht gebrochen.

Seit dem 9. Mai ftellte die Bürgergarde, welche höchftens drei- tauſendvierhundert brauchbare Gewehre befaß und daher zum Theil nur mit Pifen bewaffnet war, täglich 800— 1000 Mann, um den - Hamburger Berg, den Stadtdeich und den Elbdeich gegen die Lan⸗

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dung des Feindes zu fihern. Nacht für Nacht mußte ein Theil der- felben bivouafieren. In diefen Wochen fühlte Perthbed nun auch durch feine Stellung in der Bürgergarde fich berufen, alles, was ihm felbft an geiftiger und Förperlicher Ausdauer, an friſchem Muth und an Gewalt über die Gemüther verliehen war, aufjubieten, um Muth und Ausdauer der Bürger wach zu erhalten in einer Lage, die, an fih ſchon ſchwierig, noch fchmerer durch das Verfahren der Militär- behörden wurde. Bald gab er Durch feine eigene befonnene Entichlof- fenheit dem Herrn von Heß, der in leidenfchaftlicher Unruhe von der größten Sicherheit zur muthlofen Berzweiflung, von der angeftrengtes ften Thätigkeit zur fraftlofen Schlaffheit überfprang, den Halt, deffen er bedurfte, bald beruhigte er die Bürger, wenn fie ohne irgend ge= gründete Urfache durch den dDumpfen Ton der Sturmglode zufammen- berufen wurden und in der-allgemeinen Verwirrung oft viele Stun- ' den vergeffen auf dem Sammelplate ftanden; bald und namentlich Nachts fuchte er die Bürger auf den entfernteiten Poſten außerhalb der Stadt auf, und für viele war feine Erfcheinung ſchon eine Quelle ded Muthes und der Ruhe. Seit dem 9. Mai ift Perthes, fo fchils derte fpäter Caroline den Zuftand jener Tage, einundzwanzig Nächte nit aus den Kleidern und nicht in ein Bett gefommen. Jeden Tag mußte ich in Sorge um fein Leben fein, und nur zuweilen war er auf eine halbe Stunde in unferer Wohnung. Meine drei Feinften Kinder hatte ih in Wandöbed bei meiner Mutter, die vier Altern blieben bei mir, weil ich fie nur mit Gewalt hätte entfernen fünnen. ‘ch hatte feinen Mann mehr im Haufe, alle waren auf den Wachen. immer aber gingen Leute aus und ein, die effen und trinfen woll- ten; denn feiner unferer Bekannten hatte in der Stadt noch eine Haus⸗ haltung. Unfere große Stube hatte ich mit Strohfäden belegt, auf denen bei Tag und Nacht Bürger lagen, die ſich ausruhen wollten. An dem Tage auf der Wilhelmsburg verloren wir unfern Weber und mehrere Befannte. Tag und Naht war ich auf dem Balkon und gab Acht, ob Perthed oder nahe Freunde unter den Verwundeten wären, die vorbei getragen wurden. In den Augenbliden des heftigften Schießens und der größten Noth und Angft vor dem Landen der Fran⸗ zofen ſchickte Perthes, als ſchon alles verloren fchien, eine Ordonnanz:

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ich folle ihm augenblidlich eine gewiſſe Fleine Schlachtel, die in feinem Schreibtiſch ftände, ſchicken. Als ich mit der Schachtel die Treppe berunterlief, wurde ich auf einmal gewiß, daß fie mit Gift gefüllt fei. Sch ließ die Ordonnanz warten und ging auf meine Stube, um zu entfcheiden, was ich thun mußte, denn diefe große Sache war in mei- ner Hand. Es war ein ungeheurer Augenblid. Die Gräßlichkeit, daß Perthes Tebendig in Franzoſenhände fallen konnte, wurde mir fo über- . wiegend und es fam mir in diefem Augenblide fo vor, al8 könnte der liebe Gott ihm unmöglich böfe darum werden, daß er dad nicht wollte, und dad Unrecht auf meiner Seite, wenn ich zwifchen ihm und Gott entfcheiden wollte, erſchien mir fo groß, daß ich mit zitternden Hän⸗ den und Knien dem Manne in Gotted Namen die Schachtel in die Hand gab. Mehrere Stunden mußte ih warten, ehe ich weiteres erfuhr. Es war Gift und Gift zu diefem Gebrauch, aber nicht für Perthed, der mir vor Gottes Augen verfichert hat, daß er es ſich nicht erlaubt haben würde, und mir ed verdacdhte, daß ich e8 von ihm geglaubt hatte. | |

Das Vertrauen der Bürger zu Tettenborn war, feitdem er die Inſeln dem Feinde überlaffen hatte, unmwiederbringlich verloren. Viele erfannten, daß er unter den gegebenen Berhältniffen der Mann nicht fei, welcher die Bertheidigung der Stadt zu einem glüdlichen Ende führen werde, und mande fürchteten, er würde in dem Verlufte Ham- burg® nur wenig andere® ald den unglüdlichen Ausgang einer kühn angelegten und glüdlich begonnenen Kofadenftreiferei erkennen. Bon der jtädtifhen Obrigkeit war feine Hilfe zu erwarten; die friegerifchen Vorbereitungen, die getroffen waren, waren getroffen ohne ihr Zu- thbun. Für Herrn von Heß war fchon feit Erfcheinung des Feindes an der Elbe die Aufgabe, die er löfen follte, viel zu ſchwer. Aller Augen wenbeten ſich nach außen. Da weder von dem großen Heere der Verbündeten, noch von der Fleinen Truppenzahl, welche unter Wallmoden zwifchen Boigenburg und Magdeburg fich ſammelte, Hilfe zu erwarten ftand, fo waren es die Dänen, auf welche zunächft die Hoffnung gerichtet ward. Sie hatten in Altona, unmittelbar vor dem Thore Hamburgs, eine zu defien DBertheidigung ausreichende Truppenzahl vereinigt, und da fie die feit Ende März gegründete

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Ausficht zu haben glaubten, für den Berluft Norwegens durch die Hanfeftädte entjchädigt zu werden, fo erboten fie fich fehr bereitwillig, die Bertheidigung der Stadt zu übernehmen, eben deöhalb aber machte Tettenborn erft am 11. Mai Abends, ald die Gefahr dringend geworden war, von ihrem Anerbieten Gebrauch. Dänifche Truppen erſchienen und unterftügten die Bertheidiger. In eben diefen Tagen aber kehrte Graf Joachim Bernftorff aus London zurüd, welcher dort über den Beitritt Dänemarks zu dem großen Bunde unterhandelt hatte. Er war hart zurücgewiefen worden; Dänemark glaubte fich Napoleon, als dem Einzigen, welcher ſchwere Berlufte abwenden fönne, in die Arme gedrängt, und am 19. Mai Abends mußten die dänifchen Truppen Hamburg verlaffen und in Altona eine mehr al? zmweideutige Haltung annehmen. Nun ſetzte Tettenborn feine Hoffe nung auf die Schweden. Der Kronprinz felbft war zwar noch nicht in Stralfund angefommen, aber in Medlenburg ftand eine ſchwediſche Divifion. General Döbbeln, ein braver, unerfchrodener Mann von echtem Schrot und Korn, befehligte diefelbe und rüdte am 21. Mai Abends auf eigene Gefahr und Berantwortlichkeit mit drei Bataillons in Hamburg ein. Sobald indeflen der Kronprinz bei feiner Ankunft in Stralfund erfuhr, daß die Truppen in Hamburg auf der einen ©eite von den Franzoſen, auf der andern. Seite von den Dänen ein- gefchloffen feien, mußten diefelben am 25. Mai fich wieder aus der Stadt zurüdziehen, und Hamburg war wiederum auf ſich allein an- gewiefen. General Döbbeln wurde wegen jeined eigenmädhtigen Ver⸗ fahren? zum -Tode verurtheilt. ' | Schon feit den erften Tagen ded Mai hatte Perthed die aus den innern Zuftänden der gefährdeten Stadt hervorgehende verzweife - lungsvolle Lage der Dinge erfannt. Wie wird, wie fann das enden, äußerte er, wenn unfer guter Mille alled und alles erfegen fol! Ich will ja nicht reden von den Leuten, die fo handeln, wie wenn fie alle unfere Anftrengungen vergeblich machen wollten, aber was hilft aller Muth, wenn feiner unter und Bürgern die Waffen zu gebrauchen und militärifche Bewegungen zu machen weiß, und dennoch feine Soldaten und gefendet werden, an welche wir und anfchliegen fönnten? Fürch⸗ terlich rächt es ſich jetzt, daß unfere alte gute Wachtordnung viele

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Jahre hindurch fo [handlich verfchleudert worden ift. Hätten wir nur drei Bataillon? Bürger, die marfchieren und fchießen könnten, hätten wir nur hundert junge Leute, die eine Kanone zu richten verftänden, fo wären wir gerettet; aber nun hängt unfere Erhaltung von der Hilfe Fremder ab. Wie ed um diefe Hilfe ftand, wußte Perthes nur zu gut. Bon allen Samburgern war nur er über die politifche Gtellung der Ruffen und Dänen, und nur er und von Heß über die der Schweden unterrichtet. Seit Wochen ſchon war er es gewefen, der von Heß gehalten hatte, damit diefer das Ganze zu halten ſchien, und alle feine vielfachen perfönlichen Verbindungen hatte er benupt, um Ruſſen, Dänen, Schweden zum Beiftande zu bewegen. Die Wen- dung, welche in den großen europäifchen Verhältniffen eingetreten war, hatte indeflen jede Möglichkeit, weitere Hilfe von außen zu er halten, abgefchnitten, und am 26. Mai, dem Tage, nachdem die Schweden Hamburg verlaffen hatten, trat die Abficht Tettenborn’s, fi aud) mit feinen Truppen aus der Stadt zu entfernen, erfennbar hervor. Immer noch, liebe Caroline, geht eine Stunde nad der an- bern in Ungemwißheit dahin, fehrieb Perthes, und fo ift fortdauernd Sammer und Marter. Heute Abend aber noch wird es zur Gewiß- heit fommen und übermorgen mußt Du abreifen. Wenn Tetten- born wirklich abzog, fo war Hamburg von allen erfahrenen Truppen entblößt, und jedes militärifchen Führers entbehrend, konnte es fei- nem Angriffe der Franzofen widerftehen. Perthes fah in einem fol- hen Falle für fich felbft feinen andern Ausweg als die Stadt zu ver laſſen und an irgend einem anderen Punkte für Deutfchland und dur Deutihland auch für Hamburg aus allen Kräften zu fämpfen. ch halte die Sache am Ende, ſchrieb er in diefen Stunden an Beriede, und weiß weiter aud) nicht? als fortdanernd auf ®ott zu vertrauen. Leben Sie wohl, geliebter, theurer Freund. Wohl fhmwerlich fehe ih Sie wieder; ich gehe mit fieben Kindern und einer ſchwangeren Frau in die weite Welt, ohne zu willen, ob ich in acht Tagen noch Brot habe. Doch Gott wird helfen. Noch einmal leuchtete ein Schimmer von Hoffnung auf, ald am 27. Mai Wallmoden auf Tettenborn’d drin- gende Vorftellungen das tapfere preußifche Bataillon von Bork nad Hamburg’ fendete und fogleich an der Vertheidigung Theil nehmen

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ließ. Unſere Lage ift zweimalvierundzwanzig Stunden älter ald vor- geftern, ſchrieb Perthed am 28. an Benede. Heißt das beſſer? Ich glaube nicht. Doch müſſen wir weiter aushalten von einer Stunde zur andern; denn jeden Gedanken an Rettung aufjugeben fällt mir nit ein, aber der Fälle, die und retten können, find faum drei, und wie felten trifft man eine Terne!

Am Abend des 28. Mai ließ Perthes Frau und Kinder hinaus nach Wandsbeck bringen; dort auf dänifchen Gebiet waren fie gegen Kriegsbegebniſſe gefichert. Du fannft Dir, fehrieb Caroline einige Wochen fpäter an ihre Freundin Emilie Peterfen in Schweden, feine Borftellung machen von der Angft, Noth, Furt und Hoffnung, Die wir in den legten drei Wochen unfered Hamburger Aufenthaltes ges habt haben. Mein Herz ift voll und auch Dir wollte ich es gerne gönnen zu willen, wie viel mehr Guted, Wahrheit und Ausdauer wir alle gehabt haben, als wir und hätten zutrauen dürfen. Gebt dür⸗ fen wir davon fprechen, denn e8 hat fih in Noth und Tod bewährt. Wie danfe ich Gott für diefe Erfahrung! Ich habe die Kraft nicht ge- kannt, welche entteht, wenn fi alle in einem guten Punkt vereinis gen. Liebe Emilie, fo ein allgemeine? Wollen habe ich niemals ge- fühlt. Wir waren alle über alle Meinen Nöthe und Kümmerlichfeiten erhoben und wollten nur da® Eine, da® noth war, und wollten es von ganzem Herzen, ein jeder auf feine Weife, und zweifelten keines⸗ wegs am Gelingen. Der 28. Mai, meiner Agnes Geburtdtag, war der lette Tag, den ih in Hamburg zubrachte; da nahm ich mit be trübtem Herzen, aber doch mit Danf gegen Gott von meiner lieben _ Stube Abſchied. Betten und Leinwand hatte ich fchon in den Tagen vorher nad) Wandsbeck geſchickt und meine andern Sachen hatte ich zum Theil verftedt, zum Theil vertheilt. Alle größeren Stüde freilich mußten an ihrem Platze bleiben, weil Perthed durch Vorbereitungen zur Flucht die Bürger nicht entmuthigen wollte. | Um unfered Gotted willen, heißt e8 in einem Briefe, den Per⸗ thes in Diefen Tagen von feinem Freunde Moltke empfing, wa? ift, wie ift Euch? Bier lange bange Tage habe ich auf Euch gewartet und, Gottlob, Ihr jeid noch nicht da. Hätte fich die Finfternis wie- der erhellt? Jene Schlacht bei Baupen, deren Ausgang wir bier

219 noch nicht fennen, hätte fie dem Horizonte unferer Wünfche und ah» nungsbangen Erwartungen wieder eine lichte Farbe gegeben? Guter Gott, wenn ih nur eine Stunde zu Euch könnte, aber e3 ift nicht moͤglich; denn noch immer pocht ed Tag und Nacht an der Thür mei- ne® Haufe. Unſere Truppen, die alle hier wie aufeinander liegen, haben DOrdre, ſich täglich marfchfertig zu halten, aber niemand weiß wohin, niemand weiß gegen wen. So erwarte ich Euch, Geliebte, mit zitternden Armen, allein der frampfhafte Wunfch meines Herzens ift, daß Ihr Hamburg nicht zu verlaffen braucht. Müßt Ihr aber dennoch, warum wollt Ihr nicht in mein Haus? Ach habe hin und her gedacht, Du, mein Theurer, warum Ihr Wohnung bei mir zu nehmen fo hartnädig verweigert. Glaubt Ihr mich dadurch in Ge- fahr zu ſetzen? Wäre aber dad nicht das wenigfte, was ich der hei- ligen Sache opfern könnte? Dod ich will nicht überreden, nur da? noch: handelt gegen Euren Freund, der es ift mit Leib und Seele, auf folhe Weife, dag Ihr in Eurem Herzen fagen könnt: wir haben ihn al® einen Mann behandelt, der der großen Sache werth war. Ach, fehreibe bald, ich flehe auf das inftändigite darum. Deine Ca- roline fann fchreiben, Dein Sohn; nur daß ich erfahre, was Ihr fürchtet, was Ihr hofft. Euch alle drüde ich an mein treued, blu- tendes Herz. Bald genug follte Moltke Gewißheit erhalten. We- nige Stunden, nachdem Caroline die Stadt verlaffen hatte, began- nen in der Naht vom 28. auf den 29. Mai die Gefchübe aufd neue zu donnern. Der Feind war von der Wilhelmdburg auf Ochſenwär—⸗ der übergefegt und griff das dort ftehende Bataillon Lauenburger mit überlegener Macht an. “Das Gefecht, welches feit heute Nacht 2 Uhr dauert, fchrieb Perthes an feine Frau, ift auf Ochfenmärder. So viel man beobadıten kann, entfernt fich der Rauch, und man kann Gute? hoffen, da der Angriff bereit? fünf Stunden ausgehalten ift. Noch immer feine fichere Nachricht, fchrieb er einige Stunden fpäter, noch (hlägt man fih. Glaub do, glaub, daß ich Gott im Herzen und vor Augen habe. Wie könnte ich in meiner Lage ander® handeln, wie follte ih vor Dir beitehen? Daß ich mein Herz möglichft den Aus⸗ -brüchen des Schmerzes, des Gefühls verfchliege, ift um Deinetwillen; denn meinem Körper Toftet eine Stunde des Gefühld mehr ala zehn

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durchwachte Nächte, und ich will mich Dir erhalten und den Kindern. Nah muthigem Widerftande bemädhtigten fi) die Franzoſen der unmittelbar an der -Stadt gelegenen Infel Ochfenwärder, und nun ftanden ihrem Webergange nad der Stadt wenige Hinderniffe entge- gen. Zugleich erklärte am 29. der dänische Befehlahaber in Altona, daß er, wenn’er zu Feindſeligkeiten übergehen müſſe, nur zwei Stun⸗ den zuvor davon Anzeige machen könne. In der gewaltſamſten Span⸗ nung ging der unglückliche Tag dahin. Bald kamen Nachrichten, welche den Abmarſch Tettenborn's als bereits begonnen meldeten, bald liefen die entgegengeſetzten Verſicherungen ein. Perthes befand ſich mit von Heß auf der Wache am Steinthor. In tief bewegten Ges fpräche begriffen, gingen beide Männer Abends nad 10 Uhr vor derfelben auf und ab, ald Major von Pfuel, zum Thor hineinfah- rend, Heß aufforderte, ihn in die Stadt zu begleiten, Heß werde ſchnell wieder da fein, fagte er zu Perthed. Eine halbe Stunde etwa mochte Perthed mit Mettlertamp, welcher das dort aufgeftellte Bür- gerbataillon befehligte, über das, mas in den Gefahren der fom- menden Nacht zu thun fei, berathen haben, als er durch einen Offi⸗ cier den Befehl erhielt, fofort nach dein etwa eine halbe Stunde ent- fernten fogenannten Hühnerpoften zu Herrn von Heß zu kommen. Um Mitternacht dort angelangt, erfuhr er, daß Tettenborn mit allen Truppen aus Hamburg abgezogen fei. Tettenborn brachte feine Trup- pen nad Lauenburg in Sicherheit und überließ die Stadt ihrem Schickſal. Wenige Stunden fpäter, am Morgen ded 30. Mai, rüde ten die Dänen in Hamburg ein und. verhinderten Davouft, der nun aus ihren Händen die Stadt empfing, die verlaffenen Buͤrger ſofort mit roher Gewalt zu mishandeln.

Perthes war, nachdem er die Schreckensnachricht durch von Heß erfahren hatte, nach Wandsbeck gefahren. Dort ſagte er um 2 Uhr Morgens feiner Frau, daß alles verloren ſei, und beſtimmte ihr Nüt⸗ hau, da8 Gut feines Freundes Moltke, als nächſten Aufenthalt. Die franzöfifchen Truppen waren nur noch wenige hundert Schritte von Wandsbeck entfernt. Der Gefangenfchaft und dem Rebellentode durch Henkershand zu entgehen, fuhr Perthes über Rahlſtedt in die dunkle Nacht hinein.

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Die Zeit des Waffenftillftandes. Juni bis Mitte Anguft 1813.

Für Garoline. war ein längerer. Aufenthalt in Wandsbeck nicht möglih. Nachdem mir Perthes. im Fluge Lebewohl gefagt hatte, fing ich an zu paden, heißt e8 in einem etwas fpätern Briefe derfelben an ihre Schwefter Jacobi in Saljburg. Dann fuhr id) mit fieben Kin- dern und der Amme fehr abgemattet und müde und fchon ſehr beſchwert von meiner Schwangerfchaft auf einem offenen Korbwagen fort. Es war ein. gewaltiger Abfchied, meine Mutter war außer fih, mein Vater tief bewegt, die Kinder weinten laut, ich felbit war wie ver- fteinert und konnte nichts als ohne Unterlaß fagen: Nun in Gottes Namen! Zum Troft und zur Stüge begleitete mich meine Schweiter Augufte und wollte Angft.und Arbeit treu mit mir theilen. Abends famen wir in Nütfhau an, und da wir für zehn Perfonen nur zwei Better fanden, mußte id unſere Mändel und Bündel mit Wälche vertheilen, damit die Kinder wenigftend unter Die Köpfe etwas erhiel- ten. Noch an dem Abend diefed Tages fchrieb Caroline einige Worte an ihre Elten. Ich kann Euch, lauteten diefelben nur noch gute Nacht wünfhen, denn ich bin an der Seel’ und Leib fo müde, daß ich weder denken noch fehreiben mag. Wäre Perthes, wie ich. ge- hofft.hatte, heute Abend gefund hier eingetroffen, fo hätte ich, glaube ih, all mein Leid vergeffen. Jetzt bin ih hart wie-Stein und es graut mir vor dem Aufthauen. Den ganzen Tag war mir, wie wenn jemand geftorben und ich allein nachgeblieben wäre und nachfehen müßte. Das waren Wochen auf Leben und Tod! Gott helfe jedem armen Menfchen, der über diefe Angelegenheit in Leibed- oder Cee- - lennoth fommt! Am 1. Juni langte Perthed an. Nun wollten ‚wir ung befinnen und und befprechen, fchrieb Caroline, was und wo⸗ bin wir wollten; aber mein Bruder Johannes kam und fagte und, daß alle unfere Freunde und riethen, nicht zu fäumen, fondern fehnell weiter zu gehen; denn in unferem Hamburger Haufe ſei alled Durch. fucht, und Nütſchau fei Lübeck zu nahe. Perthes ging alfo augen-

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blicklich weiter, ich fing wieder an aufjupaden, und am 3. Suni-fuhr ich nach Lütgenburg, um, wenn ed Noth thäte, nach Auguftenburg fommen zu fönnen. Perthes war, begleitet von jeinem älteften Sohn, Matthias, nach Altenhof gegangen, dem unweit Edernförde an der Oftfee gelegenen Gute ded Grafen Cajus Reventlow. Ich habe, fchrieb er von hier aus an feine Frau, eine jo natürlich gute Aufnahme von dem Grafen und der Gräfin erhalten, daß ich mich wahrhaft daran erfreue. Der Graf will und Aſchau einräumen; es foll zwar wüſt fein, doch hoffe ih, e8 wird gehen. Am Mon- tag den 7. Suni trafen fi) Perthed und Caroline in Edernförde wie- der. Hier weinten wir und aus, fhrieb Caroline, was wir in aller Noth nicht hatten thun können. Bon Edernförbe ging die ganze Familie nah Aſchau, einem einfam an der Oftfee gelegenen Garten- hauſe des Grafen Reventlow, und richtete fich, fo gut es gehen wollte, ein. Dort vergaß ich, fehrieb Karoline, anfangs die Noth der gan- zen Welt vor freude, daß Gott mir meinen Perthes erhalten hatte, und ich kann wohl fagen, daß wir unbefchreiblich vergnügt miteinan- der waren. ch dachte weder an Vergangenheit noch an Zukunft, jondern dankte Gott immerwährend und freute mich, daß aus diefer Angſt Perthes mir lebendig und gefund erhalten war. Perthes hatte alles, was er befaß, verloren. Seine Handlung in Hamburg war verfiegelt, fein übriged Bermögen mit Beſchlag bes fegt, feine Wohnung wurde, nachdem fie aller. beweglichen Sachen beraubt war, von einem franzöfifhen General bezogen. Baares Geld zum Unterhalt für Frau und fieben Kinder hatte er nit. Glau⸗ ben Sie nicht, daß ich Flage, fchrieb er von Aſchau an feinen Schwarz- burger Oheim. Wer nicht? zu bereuen braucht, hat auch nicht? zu bes Magen. Ich habe vor Gottes Augen gehandelt und oft mein Leben - auf dad Spiel gefebt: wie follte ich nun den Muth verlieren, weil ih das Vermögen verloren habe! Was werden wird, mie und wo ih in der Fremde Brot für Frau und Kinder finden werde, weiß ich noch nicht. Wenn indeilen nur zwei Drittel meiner noch audftehen- den Forderungen eingehen, fo fann ich alle meine Verpflichtungen gegen Dritte erfüllen. Aber überall in unferer Gegend ift jeder, außer Stand zu zahlen, im franzöfifchen Reiche darf ich meine Forderungen

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nicht eintreiben,, und fo wird es mir ſchwer werden, Dritte nicht in Schaden zu bringen. Das ift hart, fehr hart für mid. Bon vie: len Seiten liefen Briefe feiner Gläubiger ein und fein einziger findet fih, in welchem nicht Worte wie die folgenden enthalten wären: Den- fen Sie jeßt nicht an meine Forderungen; ich weiß ja fo gut, wie Sie, daß Sie zahlen werden, wenn Sie zahlen fönnen; Sie han- delten, wie Sie handeln mußten. Mit Hilfe der geretteten Hands lungsbücher verfchaffte ſich Perthes eine genaue Weberficht feiner Ver⸗ haͤltniſſe, ordnete, was zu ordnen war, und ſuchte den Gläubigern ſeiner Handlung wenigſtens für die Zukunft Deckung durch die Schuld⸗ ner ſeiner Handlung zu verſchaffen. Mit Anſtrengung aller Kräfte brachte er diefe Arbeit zu Ende. Er arbeitet, fchrieb Caroline, von des Morgen? bid des Abends mit Ausnahme einer Stunde nad Tiſch, wo wir uns befinnen, das heißt fchlafen, weil wir um vier Uhr aufitehen. Perthes hat den Kopf vollflommen oben, ift ruhig und, ic) darf wohl fagen, auf gewiſſe Weife heiter, und fo lange er bei mir ift, bin ich.e8 auch. Kraft und Muth wurden in Perthes durch Worte der Achtung geftärkt, Die er von den veichiedenften Eei« ten empfing. Was ich von Ihnen erfahre, fehrieb ihm z. B. der Herzog von Auguftenburg, flößt mir die tieffte Achtung ein, Ihr un⸗ gebeugter Sinn erfüllt mich mit Bewunderung, und id) rechne es mir zur Ehre und Freude, Ihnen das fagen zu können. Es iſt doch eine große Sache, dieſer Ihr fefter Glaube an eine höhere Welt; die- fer Slaube allein gibt Ihnen Ihre Kraft. Sobald Perthes feine eigenen Angelegenheiten nad) der Rage der Dinge geordnet hatte, war ſeines Bleibend nicht länger in Aſchau. Die dänifche Regierung er- Märte ihm, daß fie außer Stande fei, ihn zu ſchützen, wenn die Franzofen feine Auslieferung verlangten; er mußte fort. Der am 4. Juni zwifchen den Verbündeten und Napoleon gefchloffene Waffen ftillftand hielt zwar für die nächften Wochen auch im nördlichen Deutichland das Schwert in der Scheide; aber Perthed, der in fei- nem einfamen Aufenthalt feinen Ueberblick über die Lage der öffent- lichen Verhältnife gewinnen konnte, wollte zu einem Eutfchluffe über die Stellung, Die er nach Ablauf ded Waffenftillftandes einzunehmen babe, gelangen. In Medlenburg hatten fich bedeutende Männer als

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„ler Art gefammelt; dorthin wollte er gehen, und zugleich hoffte er, durch Einziehung mancher dort ausſtehenden Forderungen den Unter: halt für die nächite Zeit fichern zu fönnen. Als wir einige Wochen in Aſchau zufammen gelebt hatten, fagte Perthe mir, heißt es in einem Briefe Carolinens, daß noch nicht aller Dinge Abend fei und daß er wieder fort müffe,. um für unfern Unterhalt zu forgen. Nun fiel e8 mir wie Schuppen von den Augen; ich wußte, ohne weiter zu fragen, was Perthes wollte-und was Perthes mußte, und der ganze Jammer brach wieder über mich herein. Vielleicht dauert es Wochen, vielleicht Monate, vielleicht bis in jene Welt, ehe ich ihn wies derſehe, heißt ed in einem andern Briefe aus diefen Tagen. Ich fürchte

mich vor mir felbft; denn mit ihm fann ich, glaube ich, alles ertra- gen, aber ohne ihn weiß ich nicht, wad aus mir wird. Ad, und um meinen lieben Perthes ift meine Seele voll Trauer, Angft und Sorge. Du haft mein Sehnen und Wünfchen um etwad mehr Ruhe und Zeit für Perthes gefannt, und nun muß er, da er alles in fiebenzehn ſchwe⸗ ren Jahren Erworbene verloren hat, im allerglüdlichften Falle wie⸗ derum ein Arbeitsjoch auf fi) nehmen, das ſchwerer fein wird als das frühere. Bete zu Gott, daß ich nicht verzage!

Am Donnerdtag den 8. Juli nahm Perthes unter den dunfeln Tannen ded Garten? Abſchied von Caroline. Es war die fehmerz- lichfte Trennung meine? Lebens, fchrieb er Damald. Ein Tagebuch), welches mit diefer Trennung beginnt und außerdem nur kurze Anga- ben von Thatfachen enthält, beginnt nrit folgenden Worten: Ich trete wieder in die Welt, in eine neue, unbefannte Welt voll großer Um⸗ tiffe und voll Gefahren, aber ernfter, froher, großer Muth ift in mei- ner Seele. Ergebung in Gott, ſichere Weberzeugung und reihe Er⸗ fahrung, ein Herz voll Liebe, Jugend und Gefundheit, Wahrheit, Ge- techtigfeit und Treue im Charakter das ift dad Gut und der Schaß meines vierzigjährigen Xebend. Herr, mein Gott, Dir danke ih. Ber- gib. dem armen Sünder und führe mid) nicht in Verfuhung.

‚Die beiden älteften Kinder, Agnes und Matthias, begleiteten Perthes bis nach Kiel. Hier traf. er Beſſer und fuhr mit ihm über Lütgenburg nad) dem unmittelbar an der Oftfee gelegenen Städtchen Heiligenhafen. Die Stimmung feines Innern fand in mehreren Brie-

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fen, die er von bier aus fchrieb, ihren Ausdrud, Anderthalb Stun« den hinter Lütgenburg ändert ſich Die Gegend in wunderbarer Schnelle, heißt es; alle wird mild und firuppig und das Wirthshaus Brödel it ein Bild des Grauſens für die Phantafie, feinen Grashalm bringt die Einöde hervor. DerWirth lag im Sarge, Fremde wirthſchafteten gleichgiltig im Haufe, felbit der Pudel vor der Thüre war faum noch Hund zu nennen und hatte, obfchon der Farbe nach auf ſchwarz an- gelegt, es nicht meiter bringen können, als bi® zum trüben Grau der Katur ringsumher. Aber einige Hügel weiter und man fommt in eine andere Welt. Zwar bleibt da Land ohne Baum und Hede, aber es ift bedeckt mit den herrlichiten Saaten, und zwifchen dem un- abfehbaren Grün der Erde und dem unabfehbaren Richt ded Himmels "dehnt ſich, beide verbindend und drei zu eins machend, die See im tiefften Blau. Am ufer, der. Erde zugewendet, wird fie immer feiter und dunkler , am Horizonte, dem Himmel zugewendet, wird fie immer durchfichtiger und heller, bis fie endlich eins ıft mit dem Lichte des Himmeld. Neben mir fteht im Geifte mein lieber feliger Otto Runge, um mit mir alle die Geheimnifje und Wunder zu fehen, welche die Natur und zeigt und verbirgt. An Heiligenhafen fand ſich Per⸗ thes bald allein, da Beſſer ihn gleich nach ihrer Ankunft verlaffen mußte. Seit Wochen hat fich, fehrieb Perthes an Poel, ein Glied des alten Seins nad) dem andern von mir abgelöft, ein Abichied folgte dem andern. Nun ift auch Befler gegangen, und als er die Thür hin⸗ ter ſich zumachte, war mir, ald wenn der Dedel auf dem Sarge zu⸗ geſchlagen würde und ich aus einem vergangenen Leben in ein neues übergetreten ſei, aber die Liebe in mir und das Angedenken iſt fri⸗ ſcher und heiliger als je. Von hier will ich nach Roſtock, um ſelbſt zu ſehen, was ein ehrlicher Mann mit reinen Abſichten in dieſer ge⸗ waltigen Zeit zu thun hat. Vor Gott und meinem Gewiſſen habe ich ernſthaft abgewogen, ob ich der Stimme in meinem Innern folgen darf, die mich auſs neue in das Gewirre hineintreibt, und ich habe gefunden, daß ich ihr folgen muß. Aeußerer Ehrgeiz treibt mich nicht; denn in jedem Falle kehre ich, wenn ich leben bleibe, zu dem Gefchäfte, das ich Siebe, zurüd. Wohl fühlt mein noch jugendliched Herz einen Enthufiadmus des Haſſes gegen- unfere Unterdräder, dem: zu folgen

Perthes“ Leben. I. 4, Aufl. 15

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meine Religion mir wohl erlaubt; aber da ich nicht Militär und ohne Kenntnis des Mechaniſchen bin und da an muthigen und fräftigen Männern fein Mangel ift, fo werde ich mich nicht in die Linie drän- gen. Wenn aber ein Anführer eine Mannes bedarf, der im Leben und im Handeln geübt ift, der verwortene Verhältniife ſchnell zu über- blicken und zu ordnen verfteht und der mit der offenen Wahrheitd- liebe eines Freundes gerne den Gehorfam eines Untergebenen und die Dienfte und Arbeiten eined Adjutanten verbinden will, fo werde ich, um einem folchen Berhältniffe zu genügen, feine Gefahr fcheuen ; Ca⸗ toline wird mir vergeben, und meinen Kindern hinterlaffe ich das Vermächtnis der Ehre. Finde ih dagegen die Berhältniffe und die Merfonen bei meiner Ankunft im Medlendurgifchen fo, daß ed mir Milicht wird, mich von aller Theilnahme an denfelben fern zu halten, fo forge ich zunächſt für mid, gehe den Winter mit Frau: und Kindern nad Schweden und im nädften Frühjahr nach England, wo ich ficher weiß, mir durch meinen Beruf in kurzer Zeit äußere Selbftändigfeit verichaffen zu können.

In einem Heinen Schifferhaufe zu Heiligenhafen am äußerften und lebten Ende Deutfihlands wurde Perthes faft acht Tage fefige- halten, weil bei hellſtem, veinftem Wetter ein frifcher Oftwind blies, gegen weldhen anzugehen fein Schiffer unternehmen wollte. Eine _ harte Gebuldprobe, meinte er; doch muß man fich von Menfchen fo viel gefallen laffen, warum nicht auch von der Natur? Uebrigens find die Tage, ſchrieb er an Caroline, die ich hier nad) der Regel Ia Trappe verlebe, nicht verloren. Das Evangelium Johannis führt mich zu mir ſelbſt; ich recapituliere fireng mit mir, und der Schluß: aller Prüfung und Bettachtung iſt, daß ih in Gotted Händen war umd bin, fo wenig ich auch den Tempel, den er fich in mir erbaut, rein ges halten babe. Endlich am Sonnabend den 17. Juli feste der Wind um und Nachmittags 5 Uhr fuhr Perthes, begleitet von einigen andern Samburgen und dem Syndikus Curtius aus Lübeck, mit ‚einem fliegenden Sturm aus Weften hinüber nach Warnemünde, einem

Schifferorte nahe. bei Roſtock. | So eben trete ih and Land, ſchrieb er von Bier aus an Caroline. Es war eine hertliche Ueberfahrt! Weich himmliſche Luft: diefe Waſſer⸗

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wogen! Mein Innerfted that ſich auf und wurde froh und muthig, ich fühlte mich wie in meinem Elemente. Die Wellen waren in Bier- telftunden langen und hohen Berwegungen, fo daß das offene Boot, welche? un? zehn grade fahte, bald hoch oben auf ihren Spitzen, bald tief unten im Abgrunde ftand. Mit Dunkelmerden wurden meine Gefährten nebft einem Bootsmann ſeekrank, ich blieb gefund. Nachts 11 Uhr fchon hatte und der ſcharfe Wind auf die. Höhe von Warne- münde geführt; aber der Schiffer wagte nicht einzulaufen und wir freuzten bi? zum Morgen in ber finftern Nacht, die und nicht? fehen ließ ald die Wellenungeheuer ringdumber, welche in allen Formen ihren Rachen gegen und aufjperrten. Mit Tagwerden lag nun un mittelbar vor und Hope's Admiralichiff, ein Koloß von vierundfieben- zig Kanonen, und außerdem noch zweiundzwanzig andere große Schiffe unter englifher Flagge. Weit hinaus ind Meer warf der Mond eine fülberne Linie und die Sonne ein ftrahlenlofed, glühend rothes Licht. Nie habe ich einen ſolchen Eindrud: des Großen empfunden als auf diefer Fahrt. - | In Medlenburg, wohin Berthed, um zu einem Entfehluffe über feine nächſte Zukunft zu gelangen, ſich begeben hatte, war in den Wo⸗ ben nach Abſchluß des Waffenftillftande® vom 4. Juni ein buntes, bewegted Leben. Unweit der Grenzen bed Herzogthums hielt Mar- ſchall Davouft das linke Ufer der Niederelbe und das Land im Weften einer von Travemünde nach Bergedorf gezogenen Linie mit etwa zwanzigtaufend Franzofen und zmölftaufend verbündeten Dänen be- fest. Ihm gegenüber hatte der Generallieutenant Graf von Wall- moden-Gimborn fein Hauptquartier in Grabow nahe bei Ludwigs⸗ luft genommen. Sein ungefähr vierundzwanzigtaufend Dann ftar- kes Corps bildete einen Beftandtheil des vom Kronprinzen von Schwe⸗ den befehligten Nordheeres und war aus fehr verfchiedenartigen, zum größten Theil neuen und ungeübten Truppen zufammengefeßt. Ko- faden unter Tettenborn fanden neben den Lützowern; die aud-Deut- ſchen aller Länder erwachſene ruffifch-deutfche Legion neben den Schwe⸗ den unter General Vegeſack; Engländer unter General Gibbs und Hannoveraner unter General Lyon fanden fi neben Mecklenburgern, Deffauern und Hanfeaten. Das Gewirre, welches durch alle diefe 15 *

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Truppen in dem zu andern Zeiten till abgeſchloſſenen Medienburg entftand, wurde durch zahlloſe Flüchtlinge aud Hamburg und Lübeck | vermehrt. Männer traten auf, die in den Bewegungen beider Städte tief verflochten gewefen waren; aber auch Weiber und Kinder erfchie- nen, die Brot und Obdach verlangten, und neben vielen braven und ehrenmwerthen Dlitgliedern der ehemaligen Hamburger Bürgergarde trieben fich Abenteurer und patriotifche Spigbuben jeder Art umher. Noth und Wünfche hatten alle, und was man eigentlich wollte und follte, wußte niemand. Nach feiner Ankunft in Roftod fuchte ſich Perthes ein Bild von den Zuftänden der in dem Gewirre zerftreuten Hamburger und Xübeder zu verfchaften. Er ging nad Dobberan, nach Stralfund, Güſtrow, Parhim, Grabow, Ludwigsluſt, Schwerin, und überall fand er die dringendfte Noth, überall Männer, die bereit waren zu fämpfen, denen aber jede Möglichkeit fehlte, fich zu bewaff- “nen. Eine ſchnelle und Fräftige Geldhilfe war dringendes Bedürf- nid, und nur England konnte fie unter den damaligen Umſtänden gewähren. | Ä

Nah dem Falle Hamburgs war von Heß über Stralfund und Schweden nad London gegangen und hatte durch feine großartigen Anftrengungen die lebhafteite Theilnahme für die Bewohner der un- glüdlichen Städte und den Zufammentritt einer Gefellfchaft zur Unter- ftügung der Hanfeaten hervorgerufen, welche über fehr bedeutende Geldmittel verfügte. Dorthin wandte fi) Perthes. Sie fennen mid), lieber Heß, fchrieb er, und wiſſen, daß ich das Gute und Rechte will und daß ich die rechten Wege, es zu erreichen, von den falfchen zu un- terfcheiden weiß. Nun verfagen Sie mir aber auch Ihren Rath und Ihren Beiftand nicht. Sollen unfere unglüdlihen Mitbürger bier im Lande nicht völlig zu Grunde gehen und nit viele ſtarke Arme und viele muthige Herzen dem Kampfe entzogen werden, ſo muß une Hilfe-von außen fommen. Die- Sammlungen in England find, fo viel ich weiß, für alle beftimmt, die durch den Krieg unglücklich wur⸗ den: alfo gewiß doch aud für alle, welche Hamburg und Lübeck ver- lajjen mußten und nun Verlangen tragen, die Waffen gegen unfere Dränger zu führen. Daß nicht ein Schilling des Geldes, der großen und guter Engländer vergeudet werde, dafür werde ich, fo gewiß ich

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auf Gotted Wegen wandele, forgen. Aber Geld müffen wir haben, und Sie allein find es, der ed ung ſchaffen kann und wird. Hilfe für den Augenblid langte zugleich mit der Antwort auf diefen Brief an und bedeutende Geldfendungen für die Zufunft wurden verfpro- hen. Um diefe Summen zu verwenden, fehien vor allen Dingen ein Verein nothwendig, welcher fich über die Lage der zerftreuten Ham⸗ burger und Lübeder genaue Kenntnis verfchaffen und demgemäß die Unterſtützungen unter fie vertheilen fonnte. Perthes faßte die Errich⸗ tung eines ſolchen Hilfsvereind lebhaft auf, aber er glaubte, daß der- jelbe neben feiner nädhften Aufgabe eine größere und bedeutendere zu löfen habe.

Der Wiederausbruch des Krieges und die glüdfiche Beendigung desjelben fiand zwar zu hoffen und Hamburg, Lübeck und Bremen durften daher erwarten, im fürzerer oder längerer Zeit von der fran- zöſiſchen Herrfchaft befreit zu werden; aber ungefährdet fehien deshalb . die Lage der Städte nit. Schon vor dem Waffenftillftand hatten Rußland und Preußen unter dem Namen Berwaltungsrath eine Be⸗ hörde angeordnet, welche in allen von den Verbündeten beſetzten Län⸗ dern die obere Leitung der Gefchäfte durch Einil- und Militärgouver- neure führen follte. An der Spike derfelben ftand Herr von Stein, und für Medlenburg und die Hanfeftädte hatte fich ald Gouverneur ein ruffifcher Beamte, Herr von Alopeus, angefündigt. Schnell ver- -breiteten fich in Folge feined Auftretend dunkle Beforgniffe von Er- oberungsabfichten der beiden Verbündeten, deren Verwirklichung nur durch England und dur den Kronprinzen von Schweden verhindert werden fünne. Bor allem die Hanfeftädte fchienen bedroht. Sie hat- ten feine Obrigkeit, nicht einmal, wie die Helfen oder Braunſchweiger, eine vertriebene, die fich ihrer hätte annehmen fünnen, und weil ihnen jede politifche Vertretung fehlte, waren fie dem Willen der kriegfüh⸗ renden Mächte unbedingt bingegeben. Die großen Höfe, äußerte Perthes, werden unfere Städte während des Krieged nur ala militä- rifche Pläͤtze berüdfichtigen, und wenn es zu Friedendverhandlungen fommt, werden fie, um fich dad Ausgleichungsgeſchäft zu erleichtern, diefelben ald herrenloſes Gut behandeln und diefem oder jenem Staate als Entfchädigung zuertheilen. Das einzige Mittel, diefe Gefahr

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zu befeitigen, ſah Perthes in der Bildung einer Behörde, welde, ſo lange die franzöfifche Kriegsherrſchaft dauerte, als anerlannte Obrig- feit der drei Städte deren Rechte wahrzunehmen berechtigt und ver- pflichtet fei._ Er wünfchte daher, jenen zur Verwendung der englifchen Gelder nothiwendigen Hilföverein zugleich zum politiſchen Bertreter der Städte zu geftalten, und bildete in vertrauten Gefprächen mit Dr. Ferdinand Benecke diefen Gedanken näher aud. So weit es fich mit der Ueberzeugung: der Menfch denkt, Gott lenkt, vereinigen läßt, fchrieb Perthed an Heß, bin ich entfchloffen, fünftig meinen Aufenthalt in England zu nehmen, aber zuvor muß dad Schidfal Deutichlands und der Städte entfchieden fein. Ich habe ein Paar gefunde Augen, Treue und guten Willen, und an Muth, dem Schwierigen und dem Böfen entgegenzutreten, fehlt e8 mir nicht. So will ich jept denn vor allem fehen, was fi thun laͤßt, um den verwaiſten Städten einen Hirten zu verichaffen,

Kurz vor dem Wiedereinrüden der Srangofen in Hamburg und Lübeck war der Syndikus Gries aus Hamburg und der Syndikus Curtius aus Lübeck von den Senaten beider Städte an den Kronprin⸗ zen von Schweden abgeordnet worden. Beide Männer befanden ſich jegt in Mecklenburg und niemand fchien berechtigt, ihre Vollmacht und amtliche Eigenfchaft deshalb für erlofchen zu halten, weil die Obrig- keit, die fie abgefendet hatte, gemaltfam unterbrüdt werben war. Beide Männer vielmehr erfchienen als der legte Ausfluß der rechtmä- Bigen Obrigkeit Hamburgs und Lübecks. An fie zunächft wendete fich Perthes. Sie willen, meine Herren, fhrieb er ihnen am 31. Juli, daß ich Sie beide ald die Testen nod vorhandenen Glieder unferer rechtmäßigen Obrigkeit betrachte, und deshalb ſtehe ich nicht an, Ihnen zu jagen, daß e8 Ihre Pflicht ift, als Civilobrigkeit der Hanfe- ftädte aufzutreten und dafür zu forgen, daß diefelben, obgleich von dem Feinde unterjocht, dennoch als freie, felbftändige politiſche Körper auftreten können. Sie jind vom Kronprinzen ald Syndici der Städte anertannt und der englifche Gejandte, Herr Thornton, wird Sie, wie ich verſichern kann, anerkennen, fobald. Sie ihm den Wunſch zu erfen- nen geben. Ich hoffe und ih weiß ed, Sie werden mit voller Thä⸗

tigkeit helfen, und dann wird vieles zu retten-fein. Haben Sie die

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Güte, mir baldigſt zu fehreiben, was Sie beſchloſſen. Als beide Männer zuftimmend geantwortet hatten, ſchlug Perthes vor, daß ſich Mettlerfamp, Dr. Benede und Dr. Karl Sieveling mit ihm und den beiden Syndicid vereinigen und fi unter dem Namen Hanſeatiſches Directorium al® Vertreter dex drei Städte unter die kriegführenden Mächte einführen follten. Die genannten Männer milligten freudig ein, und nachdem der Herzog -von Mecklenburg, der Kronprinz von Schweden, der General Wallmoden und von ruffifcher Seite die Her- ren von Struve und von Alopeus ihre Zuffimmung Auögefprochen - hatten, erflärten am 15. Auguft die fech® verbundenen Männer das hanfeatifche Directorium für cenftituiert und gaben in einer von Per⸗ thes entworfenen Denkſchrift ihren Mitbürgern nähere Aufichläffe über die Abfichten, welche fie verfolgten. Die Hanja darf nicht unterge ben, beißt es in derfelben. Können die Bürger nicht innerhalb: der Städte fortleben, fo müffen fie außerhalb derfelben bis zur Wieder- eroberung der verlorenen Heimat in freier Bereinigung ein neued Ham- burg, ein neues Lübed, ein neue? Bremen bilden. Zu diefem Zwede bat fi) das hanfentifche Directorium:errichtet: es will allen hanfeati- Shen Audgewanderten mit Rath und That berftehen, die vorhandenen Geldhilfsmittel verwenden und zur Befreiung der Städte auf Diplo matiſchem Wege umd mit den Waffen: beitragen, fo viel es vermag. Das Erſcheinen einer eigenen Kriegsmacht der drei Städte fonnte, nachdem. Diefelben nicht nur Anerkenntnis ihrer Selbſtändigkeit, ſon⸗ dern auch politifhe Vertretung gewonnen hatten, nicht ald eine Un⸗ natürlichfeit betrachtet werden. Für die Stäbte aber mußte ed von größter Bedeutung fein, Truppen im: Felde zu haben, weil damals nur. der größere oder Kleinere Staat auf äußere Unabhängigteit hoffen durfte, welcher Muth genug befaß, alles für diefelbe einzufegen. Aus diefem Grunde und um in den Bürgern jelbft da8 Gefühl der eigenen Kraft und der innern Selbftändigfeit zu ftärten, fuchten Perthes und feine Freunde eine möglichft ftarfe Kriegsmacht der Städte herzuſtel⸗ len. Trümmer der hanjeatifchen Legion und Trümmer der Bürger- garde, welche fich nach Medlenburg gerettet hatten, gaben den Anhalt. Die hanfeatifche Legion beſtand noch aus zwei, freilich hart mit- genommenen, Bataillond Fußvolk, acht Schwadronen Reitern, einer

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veitenden und einer Fußbatterie, aber fämtliche Truppen waren in der traurigften Lage. Ohne Sold, zum Theil ohne Schuhzeug und nur in Stleiderfegen gebüllt, hatten fie Wochen hindurch in Näffe, Kälte und Schmuß aller Art zubringen müffen und fi, weit fie einer ge- ordnneten Kriegszucht entbehrten, manche Wildheit und manchen Aus⸗ bruch des Mismuths und des Ungehorfamd zu Schulden kommen laf- fen. Schwer liegt mir unfere Legion auf dem Herzen, fehrieb Per- thes; fie ift dad Capital an Gut und Blut, welches die Städte aud«- gethban haben. Herrliche liebe junge Leute von frifhem Leben und verwegener Kühnheit machen vier Fünftheile derfelben aus; aber fie find hilflos in. die Welt geftopen und find Entbehrungen und Berfüh- rungen aller Art, wie feine anderen Truppen, preidgegeben und nie- mand nimmt fi) ihrer an. Sie felbft fünnen um der militärischen Subordination willen nicht fprechen und doch ift es nöthig, daß für fie gefprodgen und gehandelt werde; denn verwahrloft und mishandelt ift die ‚Legion von Anfang an. Unreines böfe® Gut haben unfere Kofadenfreunde ihr gleich nach der Errichtung einverleibt und die Feigheit und Gleichgiltigkeit unſeres Senates hat e8 nicht verhindert. Unordnungen und Schandthaten werden von foldhen Banditen, Die man auszuſtoßen nicht die Entfchloffenheit hat, verübt; unfer hanfea- tifcher Rame wird durch fie gefehändet, Ehre und Sittlichkeit der Kin⸗ der unferer Mitbürger, unferer Freunde und Verwandten ift ihnen dahin gegeben. Dem muß abgeholfen werden und fo wahr ein Gott lebt, ich laffe diefe Sache nicht fallen und ich ruhe nicht, bis die Tenne gefegt ift, und ich werde durchdringen; denn ich wende mich an die Engländer, und die werden mid) .verftehen. Da die feinem Staate angehörende Schar nur dann vor Auflöfung und Verwilderung zu bemahren mar, wenn fie Beftandtheil eine® größeren Heered wurde, fo nahm England auf fräftiges Betreiben Wallmoden's fie in feinen Sold und ſtellte fie etwas fpäter unter den Befehl des Oberft von Wipleben. Demungeachtet fehlte e8 dem hanfeatifchen Directorium nit an Sorgen und Mühen, um den Truppen, denen 3 heute an diefem, ‚morgen an jenem gebrach, und den vielen Erkrankten und Berwundeten Hilfe zu verfchaffen ; aber dringender noch war die Bür- gergarde der Fürſorge bedürftig.

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Als Hamburg gefallen war, hatte fih Mettlerfamp nad Med- lenburg begeben und durch Bermittelung ded Herrn von Alopeus die Erlaubnid vom Herzog erlangt, in Güftrow auf? neue die Hambur- ger Bürgergarde zu fammeln. Tapfer wollen wir ftreiten, heißt es in ‚einem Aufrufe deöfelben vom 21. Juni, für Vaterland, Freiheit und alte Heimat, und der im Himmel, auf den wir bauen, wird un- fer Wer? nicht untergehen laffen. Gleichzeitig hatten Gried und Sievefing dem Kronprinzen von Schweden einen Plan zur Wieder⸗ vereinigung der Bürgergarde vorgelegt und nad) erhaltener Zuſtim⸗ mung am 17. Juni au) von ihrer Seite die Bürger aufgefordert, fich in Ribnig zu fammeln. Beide anfangs getrennte Scharen vereinigten fih fodann in Güftrow unter. Mettlerfamp und ſchworen Treue den Hanfeftädten und Gehorfam ihrem Oberften. In den legten Tagen des Juli fam Perthes dorthin und trat, von allen Seiten dringend aufgefordert, unter dem Namen eines Diajord neben Mettlerfamp an die-Spige der neuen Bewaffnung, melde von nun an den Namen Hanfeatifche Bürgergarde führte. Jede Stunde mehrt ſich unfere Zahl, jchrieb damals Perthed, ‚aber nicht die Zahl macht unfere Wichtigkeit aud. Unſer Name ift ed, der und Bedeutung gibt. Wenn der Name Bürgergarde vor Hamburgs Thoren gerufen wird, fo wird er die Thore fprengen und im Imern wird alle aufftehen. Sollte Gott und helfen, die Städte frei zu machen, fo wird ſchon das ein großer Segen fein, daß fogleich eine fefte, gefchloffene Einheit, geleitet von rechtlichen, freien und befonnenen Männern, ‚in der obrigfeitälofen Stadt auftreten fann; aber unfere eigentliche und nächte Beftim- mung wird immer. bleiben, Gut und Blut einzufegen, um den un- mittelbaren Angriff zur Befreiung der Stadt herbeizuführen. Der englifche Gefandte Thornton und der ruffiiche Gefandte Alopeus be- förderten die Bewaffnung und Ausbildung der Bürger in jeder Weife. Ein neuer, von Gried, Curtius, Mettlerfamp und Perthes unter- zeichneter Aufruf wurde ungeachtet der franzöfifchen Polizei an. meh» veren Strapeneden Hamburgs angefchlagen, der Kronprinz von Schwe⸗ den und der Herzog von Medlenburg gewährten Einquartierung und freie Belöftigung, ‚General Lyon ließ die Fleinen Bewaffnungäftüde aus den englifhen Magazinen liefern; aber freilich an taufend Din-

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gen litt dennoch die nen fich bildende Schar Mangel, welche mit Freude und Eifer die Waffenübungen begann. Um für die nöthigften Be⸗ bürfnifje Abhilfe zu erlangen, wendete ſich Perthes an das englifche Hilfscomite und feine freie, kraͤftige Anſprache wurde von dem glüd- lihften Erfolge belohnt. Sch habe, erwiederte der Präfident.ded Co⸗ mite, den Auffat ded Patrioten Herrn Perthed fogleih dem Herzog von Sufler vorgelegt, ihn ind Englifche überfegen und unter die eifrig. ften Männer vertheilen lafien. {ch bin überzeugt, daß ohne Zeit. verluft die fo fehr verdienten Unterflügungen erfolgen werden, welche die heilige Sache, in die wir alle verflochten find, fördern follen. Reben der englifchen Hilfe liefen bald auch Gelder vom Kronprinzen von Schweden und freiwillige Gaben aus Berlin und Wien ein, und General Begefad nahm auf des Kronprinzen Befehl die Bürgergarde unter feine befondere Obhut. Die Sache hatte ihren guten Fortgang. Misachten Sie und nit, Herr General, ſchrieb Perthed, der die Abneigung der Krieger gegen Bürgerbewaffnungen wohl kannte. Wir find freilih militärifch ungeübt, aber wir haben Muth und könnten

Eurer Erxcelleny in vielen Beziehungen nüglich fein. Unſere Berbin- dungen mit den Städten find in einen fo regelmäßigen Bang gebracht, daß wir ftet3 die genaueite Nachricht über den jededmaligen Stand der Dinge geben fünnen, und bei Operationen auf Hamburg oder auf Holftein würden wir wegen unferer genauen Ortdfenntnid als Borpoften fehr gute Dienfte leiften. Sollte e8 aber zu einem: unmit- tefbaren Angriff auf unfere Städte fommen, dann können und wer⸗ den wir die erfte Stelle einnehmen.

Ermuthigt durch den glüdlichen Fortgang, weichen das hanfen- tiſche Directorium und die hanfeatifche Bürgergarde genommen hat ten, wagte Perthes an die weitere Zukunft der Städte zu denfen. Dadurh vor allem ift Hamburg wieder erlegen, äußerte er, Daß nad) Ginrüden Tettenborn’3 dad Alte ohne innere Wiedergeburt hergeftellt ward. Wird Hamburg aufd.neue befreit, fo müſſen wir verhindern, daß nicht das fchleppende Alte voriger Zeiten den Städten zum zwei» tenmal durch fremde Gewalt oder einheimifche Trägheit aufgedrängt wird. Die möglichfte Achtung vor den alten, Tiebgewordenen Yor- men hat ihr gutes Recht; das Alte wird die Grundlage für die Zu-

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‚Runft fein; aber die ganze frühere Verfaſſung liegt jegt zufammenge- drochen da, ein Theil der Glieder des Senates und des Oberalten- collegiums ift geftorben, ein anderer Theil läßt es fih unter der fran« zöfifchen Herrfchaft gefallen, noch ein anderer Theil ift außerhalb der Stadt, ohne für die Stadt zu wirken. Wer nun Hamburg wieder befreit und die alte Verfaſſung wieder aufrichtet, darf und muß fi durch die Nüdjicht auf die Kraft und Frifche der neuen Zeit zu befon- nenen aber durchgreifenden Yenderungen berechtigt halten. Das hanſeatiſche Directorium hatte nach Perthes' Anficht die Aufgabe, über die nöthigen Umwandlungen einen vorläufigen Entſchluß zu faſſen; der General, welcher zuerft in Hamburg einrüden würde, follte ſo⸗ dann im Namen der Allitrten und nach dem Rathe ded Directoriumd eine Commiffion zur Feſtſtellung der künftigen Verfaffung einfepen. Manche Pläne wurden vorläufig entworfen und alles verſucht, um die in Rorddeutichland befehligenden Kriegsführer günftig für Die künftige Selbftändigfeit Hamburgs, Lübecks und Bremend zu ftim- men. Die Städte felbft follten, um träftiger inmitten der Fürften auftreten zu können, ihren alten Bund, die Hanfa, in erneuerter Form wieder herftellen, ihm durch eine gemeinfame Bewaffnung, in» nere Feſtigkeit und dur den Stab diefer Bewaffnung ein gemein- ſchaftliches Haupt verkchaffen. Für Deutichland follte der Bund durch bürgerliche (Freiheit und durch Freiheit ded Handel® und der Gewerbe werden, was England für Europa war, und fi) wie die deutfchen Fürften feſt der. deutfchen Reichsverfaſſung, welche man erzielte, ein⸗ ordnen.

Manche fehmerzend - und forgenvolle Stunde unterbrach freilich dad an Muth und Hoffnung reiche Leben jener Wochen. Aus Sams burg liefen die traurigften Nachrichten ein. Zwar war dafelbft am 24. Zuli ein Generalpardon befannt gemacht. Nur zehn Männer wa⸗ ven namentlich ausgenommen, welche ald Feinde des Staats erflärt, auf ewig aus dem franzöfifchen Reiche verbannt und alles ihres Ver: mögen? verluftig gefprochen wurden. Dank Dir von Herzendgrund, mein lieber Perthes, ſchrieb Garoline, dag Dein Name unter den Ra- men der zehn Feinde des Gewaltigen ſteht; das foll und eine Ehre und freude fein, fo fange wir leben. Der Generalpardon ſchützte

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indefien die Stadt nur wenig gegen die Unmenſchlichkeiten Davouſt's. Schon im Juli fehienen diefelben, obgleich fie ihren Höhepunkt noch fange nicht erreicht hatten, unerträglich. Es hat wohl fein Gutes, äußerte Perthes, denn außerdem würde das alte, lahme Bol, wel⸗ ches: jedem Eräftigen Widerftand entgegentrat, glei} wieder in die träge Gewohnheit des Lebens gefommen fein; aber fehredlich bleibt e8 immer und tief fehneidet e8 in die Seele, wenn man die Greuel hört. Schwerer noch ala das Schidfal der einzelnen Stadt drückie die unbeilvolle Lage Deutfchlande. Die Ungewißheit, ob dem Waf- fenftillftande ein neuer, fühner Kampf oder ein fhmählicher Friede folgen, ob Deftreich dem großen Bunde beitreten oder Neutralität bes haupten werde, erfüllte alle® mit banger Unruhe. Bald muß es fich entſcheiden, ſchrieb damals ein geborner Deftreiher an Perthes, ob die Deutſchen eine Nation ſind oder nicht, und ob wir Stolz oder Scham darüber empfinden müſſen, Deutſche zu ſein. Wäre ich nur von der Angſt befreit, die mir Oeſtreichs Benehmen macht. Ich kann und mag nicht fürchten, daß hinterliſtige Politik ſeinem Zaudern zum Grunde liegt und daß es den Entſchluß, gegen wen es feine Waf— fen wenden will, von dem Ausfall der nächften Ereigniſſe abhängen zu laſſen beabfichtigt. Richt weniger zweifelhaft erfchien e8 vielen, ob Deutſchland Preußen vertrauen dürfe. Das lange gehaßte oder vergeifene Preußen wurde zwar bei dem Zaudern Deftreich® immer entfchiedener als die Macht anerkannt, durch welche Deutſchlands Schickſal bedingt werde, und die aus der Erhebung ded Volkes her- porgegangenen großartigen friegerifchen Anftrengungen riefen in ganz Norddeutichland freudige Bewegung hervor. Der Muth Gottes, heit ed in einem Briefe Moltke's, hat fi in die Bruft der Preußen ge- fenkt und aus den Preußen wird der Odem Gottes Verderben fprühen gegen den allgemeinen Feind. Zugleich aber ermwedten dunkle Gerüchte von manchem, wa3 nicht fei, wie e3 fein follte, auch wie der banges Mistrauen. ch weiß, antwortete Nicolovius, an den ſich Perthes gewendet hatte, dag im menſchlichen Treiben neben dem Simmlifchen auch immer das Gemeine geht und daß nur Thoren die- ſes nicht in Anfchlag bringen; aber ich weiß auch, daß das meit grö- Bere Thoren find, die nur dad Gemeine fehen und in Anfchlag brin-

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gen. Die Farben, mit denen man Ihnen Preußen gemalt hat, find nicht die richtigen. Ich würde glauben, wider den heiligen Geiſt zu fündigen, wenn id) die eingetretene Wiedergeburt unſeres Volkes ver⸗ fennen wollte. Wohl und und unfern Kindern, daß die Herzen wie- der himmelwaͤrts fich richten und die Knie ſich in den Staub beugen. Ihnen felbft, mein theurer Freund, hat fich ein großes Leben geöffnet. Mein Vertrauen auf Sie war nicht Mein, aber wie weit ift ed über- troffen! Herrlich wird der Kampf enden, des bin ich gewiß, aber freilich Sie ftehen in Gottes Hand und können als Opfer fallen. Sft dad Gottes Wille, fo fol ed mir eine heilige Pflicht fein, für die Ih—⸗ rigen, infonderheit für die Söhne zu thun, was ich vermag. Sie wiſſen wohl, wie hoch ich Caroline verehre das fei genug. Mit Jh: nen, der Sie viel thun, viel zu reden, ſchäme ich. mich. Gott fei mit Ihnen und mit unferer guten, Sache! Aehnlich lauteten die An«. fihten, welche Niebuhr aus Reichenbach über Preußens Zuftände mit» theifte. Sie ſelbſt, mein treuer Perthes, fchrieb er, find mir noch näher und ‚lieber geworden; fo wie Sie haben fich wenige Menfchen bewährt. Ich fragte nach dem Falle Hamburgs jeden, ob er nichte von Ihnen wiffe, und man mußte Ihre Aechtung, aber nicht, ob Sie . gerettet wären. Auch ald ich erfuhr, daß Sie in Hofftein feien, bürgte mir nichts dafür, daß der König von Dänemark nicht noch Hleinere Shandthaten nachlefen werde. Ihre Frau, das weiß ich gewiß, be— hält Muth und Kraft, und hat das Vertrauen, daß Ihre Ihaten Segen erweden müflen. Sie wollen von Preußen willen. Die fehmerzliche Erfenntnis der Gebrechen, welche alle die herrlichen Kräfte der preußifchen Nation um ihre Erfolge betrügen müffen, und der Anblid der Wunden, welche der eine Theil. des Doppelkörpers dent Ganzen fchlägt, hält mich vom Schreiben ab. Alles Nationale ift bei und vortrefflih, unfere Armee ift die erfte der Welt, die ganze Na- tion ift werth fie zu recrutieren, und wir müßten Erfolg haben, wenn nicht böfe Schäden noch ſchweres Unglüd drohten. Doch ich habe Muth auf die Nation und auf eine unſichtbare innere Kraft, welche am Ende ald Strom durchbrechen wird. Mit bitterem Grolle hat unfere Armee den Waffenftillftand angenommen und getragen, aber die Vorherfagungen, daß ihr Geift und ihre Kraft niederfinfen würde,

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find, Gottlob, thöricht geweſen; fie ift fo löwenmufhig wie je. So geneigt bin ich, an eine höhere Leitung, die auch dad Schlimmſte zum Beften wendet, zu glauben, daß ich den Sieg ald gewiß anfehe.

Der große folgenreiche Gegenſatz, welcher damals zuerft zwi⸗ fchen Regierung und Volk in Preußen hervortrat, aber den meiften noch verborgen blieb, war durch die Briefe diefer und einiger ande- ren Freunde für Perthes aufgededt. Bewundernd ſah er auf die An- firengungen des Volkes, nicht ohne Mistrauen auf das Berhalten der Regierung, und dennoch war ihm gewiß, daß die Hanfeftädte Preu- end ald ihrer Stüge nicht entbehren könnten. Ausführlich legte er dem geheimen Staatsrath Scharnweber, der da® Pertrauen des Staatöfanzlerd in hohem Grade genoß, die Berhältnifie des nördli- hen Deutfchlands dar. Ich baue, fchloß er feinen Brief, die Rettung des nördlichen Deutſchlands faft ausfchlieplich auf die preußifche Na⸗ tion, auf den Ernſt, auf den deutichen Geift und die Freiheit, die fie in fi entwidelt. Das jededmalige Gouvernement, mögen deſſen befondere Gefinnungen und Zwecke fein, wie fie wollen, wird von diefem Geifte durchdrungen und fortgeriffen werden. Was Sie, ver- ehrter-Herr, perfönlich wollen und was und wieviel Sie können, weiß ih, und fo empfehle ich unfere Angelegenheiten Ihrer Fürforge. Neh⸗ men Sie ſich unferer an, fo haben wir einen Stüßpunft gewonnen, wie wir ihn bedürfen. .

Anter folden Sorgen, Arbeiten und Zweifeln lief am 10. Au⸗ guft der Waffenftillftand ab, welcher auch im nördlichen Deutfchland die Waffen hatte ruhen laſſen.

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Die hauſeatiſchen Berbältniffe während des Krieges an der | Niederelbe. Mitte Auguft bis Anfang November 1813.

Am 17. Auguft wurde der Kampf zwiſchen Davouft und Wall: moden auf8 neue eröffnet. Wallmoden, deſſen Abtheilung den äu— berften rechten Flügel des vom Kronprinen von Schweden befehlig- ten Rordheered bildete, ſah fich zurüdgedrängt, und Ende Auguft - hatte der Feind Wismar, Gadebuſch und Schwerin eingenommen. In den erften Tagen aber ded September mußte Davouft wieder zu- rückweichen; er räumte ganz Medlenburg und nahm während des Septembers fein. Hauptquartier in Rageburg. Wallmoden dagegen ſchickte ftarfe Streifpartien auf das Tinte Elbufer, welche am 16. Sep- tember ein franzoͤſiſches Corps von 7000 Mann an der Göhrde ver- nichteten, Züneburg beſetzten und weit hinein ftreiften in da® hannö—⸗ verifche Land. Als mit dem Anfang October Davouft feine Haupt- macht an der Elbe zwischen Lauenburg und Hamburg feſt zufamnıen- 309, ſah er fih daher von der medlenburgifchen wie von der hannö« verifihen Seite durch Wallmoden’d Truppen bedroht.

Während Diefer Monate des Füͤrchtens und Hoffen? wurde Per⸗ thed durch die Stellung, welche er zur hanfeatifhen Bürgergarde und zum banfeatifchen Directorium einnahm, befchäftigt. Die Erhaltung der Bürgergarde erfihien ihm als eine Sache von größter Wichtigfeit für die fünftige äußere Stellung und innere Entwidelung der Städte, vor allem deshalb, weil nur fie dem auf Handel und Handwerk allein gerichteten Bürgergeifte einen muthigen, der eigenen Kraft vertrauen- den Sinn verleihen und dadurch dem eng abgeſchloſſenen jtädtifchen Leben ein ſtaatliches Gepräge gewähren fönne. Sollte aber die Bür- gergarde diefe Aufgabe löfen, fo mußte fie, bevor fie in die Städte zurüdtehrte, allgemeine Achtung und Anerfennung ſich erworben und deshalb thätigen Antheil an dem Kampfe um die Befreiung genom- men haben. Berthes hielt ed daher für ein Unglüd, als Ende Auguft

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der General Vegeſack die Bürgergarde zur Garniſon von Roſtock im Rücken der kämpfenden Truppen beſtimmte. Wir haben geſchworen, ſchrieb er am 3. September an Mettlerkamp, fuͤr die Befreiung der Städte unſer Leben zu geben, und die Stunde, unſern Schwur zu erfüllen, hat geſchlagen. Unſere Waffenbrüder in der Legion ſind voraus, wir dürfen nicht zurückbleiben. Wir Bürger der Städte, wir bitten, zum Kampfe gelaſſen zu werden, nicht als ob unſer Häuflein ein. neued Gewicht verleihen fönnte, nein, unfertwillen bitten wir. Am folgenden Morgen legte er den Officieren und Gemeinen eine an General Begefad gerichtete Bitte, fie zum Kampfe zu führen, vor; alle unterzeichneten, der General aber erklärte, es weder vor. feinem Gewiſſen noch vor der fünftigen Obrigfeit der Städte -veranhivorten zu können, wenn er eine faft nur aus Yamilienvätern gebildete Schar ohne die dringendfte Roth dem Feinde gegenüberftelle. Die Bürger- garde blieb daher während der Monate September und October in Wismar, Greſſow, Caljow und Grevismühlen ftehen ,„ nahe. dem Feinde, aber ohne Antheil an den Kampfe. Bald genug zeigten fi die nachtheiligen Folgen einer ſolchen Zwifchenftelung zwifchen Buͤr⸗ gerleben und Kriegerleben. Der frifche Muth nahm ab und die Un⸗ ordnung nahın zu. Die langen Zögerungen, ſchrieb Perthes an Rier buhr, und die Unthätigfeit gebiert Uebel und erregt Fäulniſſe, die auch die Edelften anſtecken. Gebricht es an Geift, Luft und Leben, fo Hilft fein guter Wille, fein edler Vorſatz, feine gute Natur; die Menichen verderben doch. Und dann tft auch diejed Land, in weldem wir ftehen, ein wahres Grab für Geift und Leben. Ganz Medlen- burg iſt eine große Fabrik für Lebensbedürfniffe, die freilich die erften, aber auch die gröbften find, alle Anftalten find nur darauf berechnet, und die Herren diefer Fabriken taugen fo gar viel nicht. Es iſt eine Freude, aus dem fetten Boden auf die reine, faubere Heide zu kom⸗ men. GStreitigfeiten ohne Ende fielen vor, weil die einen militä- rifche Subordination forderten und die andern die Unabhängigkeit. des Bürgers entgegenfeßten. Gefährlicher noch ald die innere Zerrüttung mußte der Zwiefpalt erfcheinen, in welchen die Bürgergarde zur Ler gion getreten war. Müßig lägen die Bürger der Garde im Rüden bed Feindes, jo murrte man in der Region; fie lebten gut.bei Bürger

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und Bauer, hätten warme Betten, Kleider und Geld, während die Bürger der Legion vor dem Feinde ftänden und Näſſe und Kälte und Mangel aller Art ertragen müßten. Ob diefe Bürger der Garde denn etwas anderes, befiered oder verdienteres feien als die der Legion? Die Bürgergarde vergalt den Spott mit bitterm Groll und nannte die Mitglieder der Legion Miethlinge und Solddiener Rußlands und Englands; aber fie fühlte den Stachel des Vorwurfs doch und alt und jung wollte vorwärtd® und etwas thun gegen den Feind, ehe man in die Städte einzog.

Schon feit Ende September fah Perthed, um Unheil für die Zukunft zu vermeiden, keinen andern Ausweg ald die Bereinigung der Bürgergarde mit der Legion unter dem gemeinfamen Oberbefehl des Oberften Wigleben. Mettlerfamp war entichieden dagegen unb wollte mit feinen Bürgertruppen eine unabhängige Stellung bewah- ten; aber Perthes gewann Vegeſack und Wibleben und bot feinen ganzen perfönlichen Einfluß auf, um aud die Mitglieder der Bürger: garde für fich zu gewinnen. Wenn unfere Mitbrüder in der Legion . und misachten, redete er am 24. October die Officiere an, wenn vor und mit und ein übler Name in die Städte fommt, wie foll das wer⸗ den? Bürgerzwift wird entfliehen und Streit in der Stadt und in den einzelnen Familien, Haß zwifchen Brüdern und Brüdern. Nur ein Mittel kenne ih), und und unfere Ehre aus diefer unglüdlichen Lage zu retten. Mit Genehmigung des Generald Vegefad darf ich ihnen den Anſchluß an die Region vorfhlagen. Laffen Sie uns mit unfern Brüdern in der Legion dulden und fämpfen und mit ihnen die Ehre und Freude des Einrüdens in die Städte und des Wiederfehens tbeilen. Niemand ſoll zum Webertreten gezwungen oder überredet, Mann für Mann foll um feinen freien Entſchluß gefragt werden, aber das weiß ich, daß jeder von und lieber alles ertragen wird ald Man- gel an Ehre. Alle flimmten ihm bei, auch Mettlerfamp fah fich zum Rachgeben genöthigt und am 29. October trat zu Gadebufch die Bereinigung der Bürgergarde mit der Legion ein. Aller Groll und alle Eiferfucht war vergeflen; es war, ſchrieb Perthes, eine freudige Stunde, als Bürger und Bürger, Bruder und Bruder fi) wiederfan-

den. Freilich fehr böfe Elemente waren zu überwinden, aber was nicht Perthes Leben. 1. 4. Aufl. 16

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im Guten ging, feßte ich mit Gewalt durch. Mile Jugend in der Bürgergarde wie in der Legion hing an mir und. deren eiebe fiegte über das üble Alte.

Im banfeatifchen Directorium hatte Perthes einen nicht feinen Theil der Anftrengungen auf fih genommen, welche gemacht werden mußten, um immer neue Geldhilfen aud Deutichland und England zu gewinnen und unter die von Tage zu Tage wachlende Zahl der Flüchtlinge zu vertheilen. Das Vertrauen zu feiner Gerechtigkeit und Gewiffenhaftigkeit ftand um fo fefter, weil er geglaubt hatte, jede Un⸗ terftügung für fich ſelbſt beftimmt und für immer zurückweiſen zu müf- fen. Die Stellung jedoch, welche das hanfeatifche Directorium als politifcher Vertreter der drei Städte einnahm, ließ deſſen Eigenfchaft ala Hilföverein für einige Zeit in den Hintergrund treten. Die An- fichten über die politifhe Zukunft hatten in diefen Monaten eine bes ftimmtere Geftalt gewonnen. Auf Herftellung des in fi) erneuerten deutfchen Reiches unter einem Kaifer aus dem Haböburgifchen Haufe waren die Hoffnungen des außerpreußifchen Norddeutſchlands gerichtet. Die zum Hanfabunde vereinigten Städte. follten einen ebenfo ſelb⸗ ſtändigen Beſtandtheil des Reiches wie Baiern oder Preußen oder Hannover bilden und, um lebenskräftig und geachtet auftreten zu koͤn⸗ nen, fich in fich felbit erneuern, Trennung der Juſtiz von der Ver waltung, bejjere Finanzverwaltung, Aufhebung der politifhen Un- fähigkeit aller Nichtlutheraner, Befeitigung des Oberaltencollegium? und eine neue Grundlage für die Vertretung der Bürgerfchaft follten, um die Erneuerung zu bewirken, von einer einzufeßenden Organifa- tiondcommiffion herbeigeführt werden. Seine audgebreitete perfön- lihe Belanntihaft benutzend, wendete ſich Perthes nach den verfchies denſten Seiten hin, um Auskunft darüber zu erhalten, inwiefern das Streben des Directoriums vereinbar mit den ‘Plänen der verbündeten Mächte fei, und von allen Seiten lief die gleichlautende Antwort ein, dag noch niemand, daß fein König und fein Staatsmann irgend eine Anficht über die politifche Zukunft Deutfchlande habe und dag daher Deutfchland ohne Zweifel da3 fein werde, was der von Zufällen ab» bängige Gang der Dinge aus ihm machen werde. Der Herzog von Oldenburg fei durch Kaifer Alerander beauftragt, ihm Vorfchläge über

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die deutfchen Angelegenheiten zu machen. Der Kaifer von Oeſtreich fehe Die deutſche Krone ald eine Dornenkrone an und fein Gabinet verharre in einer verfchloffenen und zurüdgezogenen Haltung. Stein, der von Tage zu Tage bitterer und fchneidender würde, habe ben früheren Einfluß zum größten Theil eingebüßt und feiri Verwaltungs⸗ rath liege noch ganz im Rohen. Die Abfichten der preußifchen Regie- rung fenne niemand, aber ohne Furcht dürfe man fie in feinem Falle betrachten. Unter ſolchen Umftänden ließ fih die Stellung ber Städte nad außen nur mit Hilfe Englands umd des Kronprinzen von Schweden, nach innen nur mit Hilfe bed fie befreienden Generals fihern und beflimmen. Gried und Sieveking begaben ſich Anfang September im Auftrage des Directoriumd in das Hauptquartier des Kronpringen, Perthes fuchte in England, befonderd in dem Grafen Münfter, durch perfönliche Verbindungen eine günftige Stimmung zu erwecken, und unermüdlich eilte er von Begefad zu Wallmoden, von Wallmoden zu Dörnberg, Witleben und. den übrigen in Deutſchland einflugreihen Männern, um ihre Theilnahme für das Schidſal der Städte zu erregen oder lebendig zu erhalten.

Die Abfichten und Bemühungen des hanfeatiſchen Directoriums fonnten nicht verborgen bleiben und erregten den heftigften Wider- willen mancher früher in Hamburg einflußreichen Männer. Yür alle, die der ftädtifchen Obrigfeit angehört hatten, Tag in der kräftigen Thätigkeit ein fchneidender Vorwurf, und nie werde, meinten fie, die gute alte Zeit, welche durch die Gewalt ber Franzoſen fo ſchrecklich unterbrochen fei, wiederkehren, wenn die Neuerungsſucht unberufener und unbefugter Männer das Unterfte zu oberft fehre und alles ver- wirre. In dem von den Franzoſen fürchterlich bedrängten Hamburg felbft, unter den Hamburgern in Medlenburg und auch unter den böhern fremden Dfficieren machte fich namentlich) bei ältern Männern eine Stimmung bemertlih, welche. die Thätigfeit des hanſeatiſchen Directoriumd mit Mistrauen betrachtete und ihr im Stillen entgegen. zuwirken fuchte.

Sievefing zuerft, wie es feheint, faßte die Gefahren ind Auge, welche aus dem Hervortreten eines folchen argmwöhnifchen Gegenſatzes für die Selbftändigkeit der Städte ermachlen konnten. - Wir haben,

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fchrieb er am 19. September aus Berlin, die Denkſchrift über die Schritte, welche bei der Befegung Hamburgs unter militärijcher Auto- rität zu thun fein möchten, dem Kronprinzen übergeben. Ich kann aber nicht leugnen, lieber Perthes, daß mid) bei diefen Borfchlägen manchmal ein ängftliche® Borgefühl anmandelt. Die fünftige Unab- hängigfeit der Hanjeftädte fcheint mir fo jehr von der Ruhe in ihrem Innern und von dem Ausſchluſſe jeder Einmifchung der Fürften abzu- hängen, daß ih das Geftändnid eignen Unvermögend vermeiden möchte und Scheu fühle, Widerfpruch, bürgerliche Unruhen und Ein- greifen der Fürften, fei e8 auch den beiten Abfichten zu Liebe, zu ver- anlafien. Laſſen Sie und Mare Sinne und freie Hände behalten, da» mit der Untergang der Städte, den die Richtung des Zeitalterd viel leicht unwiderftehlich herbeiführt, nicht auf unfere Rechnung geſetzt wird. Laſſen Sie und nicht allzu fehr auf die gelaffene Spiepbürgerei unferer Mitbürger rechnen; es glimmt Feuer genug unter der Afche, und Sie willen fo gut wie ich, daß die Vorſehung ſich oft geſetzgebe⸗ rifcher Ideale bedient, um nad) und nad die verblendeten Menſchen zu einem politifchen Selbftmord zu verführen. Mir ift Hamburg zu fremd, um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der ungeänderten alten Verfaffung zu beurtheilen; aber das weiß ih, daß wir nur im Falle ihrer Unmöglichkeit viel wagen dürfen, um viel zu gewinnen, und auch dann dürfen wir nicht vergeflen, daß ed ein Würfelfpiel ift, das wir fpielen. Mich macht die Reaction, die ſich ſchon jetzt nachdruͤcklich äußert, immer ficherer, daß jeder Schein der Neuerungsfucht vermie- den werben muß. Die Gefahr des Berfuches, Verfaffungsände- rungen mit fremder Hilfe durchzuführen, erſchien um fo größer, ale der Glaube erweckt wurde, daß von Heß feine Stellung zu den enge liichen Miniftern benugen, die Bürgergarde in englifchen Sold neb- men und in folcher Weife fich felbft zum Gründer einer neuen Berfaf- fung aufmwerfen möge. Dieſer Wallenftein, heißt es in einem Briefe an Perthes, muß wirklich ſcharf ind Auge gefaßt werden; er fucht in Ihnen feinen Octavio Piccolomini. Aber halten Sie fich frei, lieber Perthed, und hat es wirklich mit Wallenftein’3 Plänen feine Richtig- feit, fo laffen auch Sie fich bei dem Feſtmahl in Pilſen entfchuldigen.

Zugleih waren dunkle Gerüchte verbreitet über tief verborgene

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Abfichten, welche der Kronprinz von Echweden in Beziehung auf Norddeutſchland hege. Unter feinem Oberbefehl, fagte man, ftänden die Truppen aller kleinen deutfchen Staaten vereinigt; fo wie er für ſich allein einen Sieg erfochten haben würde, fünne er ganz frei über ein Heer non fünfzigtaufend Deutfchen und drejßigtaufend Schweden "gebieten; zu den Hanfeftädten habe er fich namentlich fo zu ftellen ge- wußt, dag ihr Schidfal in feiner Hand liege, und er vermeide es ficht: lich, irgend eine fefte, fie betreffende Aeuperung zu thun. In der That hatte der Kronprinz mit dem hanfeatifhen Directorium durch» aus, als menn es eine völlig "berechtigte und ſelbſtändige politifche Macht fei, verhandelt; aber wenn es wirklich felbftändig auftreten wollte, wurde wohl von revolutionären Schritten, Die vermieden wer⸗ den müßten, gefprochen. General Begefad, ein derber Krieger alten Schlages, gab auf die Bemerkungen über die künftige Verfaffung der Städte zur Antwort: Wenn ih in Hamburg oder Kübel einrüde, werde ich den Leuten fagen: Nun, Kinder, dankt Gott; da habt Ahr Eure Freiheit wieder; nun regiert Euch nad) Euren Geſetzen. Wo ift Euer alter Bürgermeifter? wo find Eure alten Rathsherren? Die will ih wieder auf ihre Stühle fegen. Habt Ihr dummes Zeug ge- macht, fo feid hinfüro flüger. Ich kenne weder die Strohlöpfe noch die Füchſe unter- Euch; die müßt Ihr felbft fennen. Ich kann mich um nicht? fümmern; nicht von Regierungdveränderungen, dazu habe ich den Kopf gar nicht. Das Alte fehe ich wieder ein, wie es vordem gewefen ift, und thue, was mir mein Herr befehlen wird.

Perthes wurde durch dieſe Gegenfähe, deren Gewicht er nicht in Abrede zu ftellen vermochte, in die heftigfte innere Bewegung gebracht. Es ift eine große Zeit, fehrieb er, und ich bin fähig, fie zu faflen, aber marihmal finft der Menſch zufammen, und alles, alled wird ihm eitel und elend, alled wird zu Lug, Trug und Schatten. Durch folche elende Stunden muß man ſich durchwinden; fie gehören zum Men- ſchenſchickſal, und mußte doch auch der, der ohne Sünde war, fie er- fragen. Meine Caroline, nicht auf taufend Blättern ift es zu fagen, was an Gefühlen und Gedanken mir den Tag über durch den Kopf geht. Saure Tage habe ich jebt: wie ſchwer ift ed, der Wahrheit eine reine Geftalt in den Millionen Farben zu geben, die fie durch

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Beimifhung von zahllofen Ihorheiten in jedem Menſchen annimmt. Wie ſchwach und verkehrt find die Menfchen, auch die guten! Wäre man nicht ein armer Sünder, man müßte fi für einen Gott hatten. Möge Gott mir helfen dad Nechte thun, heißt e8 in einem andern Briefe, und mich vgr Weberhebung meiner felbft bewahren. Rein will ich bleiben, mit gutem Gewiflen will ich das Vaterland betrach⸗ ten können und mit freier Stirne in die Städte zurüdfehren. Zwar blieb ihm die fefte Ueberzeugung, daß die Verhältniſſe, mie dad Reben fie "hervorgerufen habe, eine Aenderung ber Verfaſſung für die Städte forderten und fie dennod) ohne fremde Berntittelung unmöglich machten; aber was hilft es, äußerte er, daß uns die Ver- hältniffe deutlich und. beftimmt den Weg; vorzeichnen, den wir zu ges hen haben? Die Menfchen, mit denen und für die wir handeln follen, haben fich blind gegen das gemacht, was die Berhältnifje verlangen, und in diefem Augenblid ift die Meinung der Menfchen ftärker ale die Kraft der Berhältnifle, und fie jest außer Acht laffen wollen, wäre Zhorheit und Verbrechen. Werthed gab das Borhaben auf, durch Hilfe Fremder eine Berfaffungsänderung für Hamburg berbei- zuführen. Jeder Verdacht muß entfernt werden, ſchrieb er, als ob wir ben politifhen Zweden auswärtiger Fürften dienen oder revolu- tionäre Neuerungen im Innern der Städte beabfichtigen fännten. Das banfeatifche Directorium muß ſich für die nächfte Zukunft ſtille verhal- ten und ruhig abwarten, was der Gang der Dinge bringen und, ohne Midtrauen und Argwohn zu erweden, mögli machen wird. Nur dahin muß es von jegt an alle feine Anftrengungen richten, daß Die verbundenen Städe nicht nur feinem Fürften untergeben werden, fondern auch diefelbe felbftändige Stellung wie die Fürften in dem künftigen Reiche einnehmen.

Die bewegte Zeit, welche von dem Ende des Waffenftiliftandes bis zur Mitte November verlief, hatte von Perthes geiftige und koöͤr⸗ perliche Anftrengungen, Opfer und Aufregungen aller Art gefordert, aber fie war auch überreich an inneren und äußeren Erfahrungen für ihn gewefen. Er hatte die Beſchränktheit -feiner Kräfte, denen ein übergroßes Vertrauen zu fehenken er nie abgeneigt gewejen war, ken⸗ nen gelernt; aber auch deſſen bin ich ficher geworden, äußerte er, dap

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die Stimme des rechtlichen Mannes, der fi frei von Selbſtſucht hält, eine ftarfe Kraft ift und große Gewalt hat über den Dienfchen. In einzelnen Augenblicken machten es ihm freilich die Eindrücke der großartigen Erhebung Preußens und der an Anftrengung und Er⸗ folg gleich außerordentlichen Schlachten fehr ſchwer, für Berhältnifie, die den ungeheuren Greigniffen der Zeit gegenüber eng und kleinlich erfcheinen mußten, freudige Theilnahme und thätigen Muth zu bes wahren. Auch manche feiner Freunde wünfchten ihm einen größeren Wirkungskreis. Wollte Gott, fchrieb ihm Niebuhr, dag Sie jest ald Staatdmann im Baterlande erfcheinen könnten; jedem, der Ohren bat zu hören, rufe ich zu, in welcher Weiſe Sie bei unferem weites ven Borgehen ald Adminiftrator wirken könnten. Perthes indeſ⸗ fen war ſich defien ganz gewiß, daß er vermöge feine bisherigen Lebendganged nur den Beruf. erhalten habe, in dem Kleinen. Kreife für Die große Sache zu wirken, und freute fi), ba ihm ein unmit telbarer Antheil an den großen deutſchen Berhältniffen verfagt war, des nahen Verkehrs mit. den in Norddeutfchland hervorragendften Männern. General Wallmoden, General Dörnberg, General Be gefad, der Erbprinz von Schwerin und der Oberfilieutenant von Wibleben vertrauten ihm perfönlich unbedingt und nahmen in un- zähligen Fällen feine Dermittelung in Anſpruch, wenn e8 darauf an- fam, neue Hilfemittel berbeizufchaffen , ſchwierige Berwidelungen zu löfen oder die jungen Truppen mit freudigem Muthe und hingeben- der Begeifterung zu erfüllen. Mit Leib und Seele, mit kindlicher Liebe und Bertrauen hingen die jungen Leute der Legion ihm an. Sie hatten ihre Freude daran, daß der Feine, zartgebaute Dann ſich feiner Befchwerde entzog, an ihren Freuden und Gefahren mit jugend- licher Frifche Theil nahm und nimmer abließ von freumndlihem und ernftem Zuſpruch, wenn ed galt, fie in dem wilden Xeben vor Ber- wilderung zu ‚bewahren. Durch die lebendigfte Anerkennung vergalt Perthed den jungen Männern ihre Liebe. Nicht. ohne einigen Stolz meldete er es hierhin und dorthin, wenn Wisleben und andere er fahrene Dfficiere die fröhliche Ausdauer bei allen Befchiwerden und den verwegenen, tolltühnen Muth bei dem Angriff an der kaum zu- fammengetretenen Legion rühmten, und die mandherlei Wildheiten

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entfehuldigte er wenigſtens gegen Dritte ald Weberfhuß an Poeſie. Thränen traten ihm. in die Augen, ala Wigleben ihm fhrieb: In dem geffrigen Gefechte am Möllner Walde, mein lieber Perthes, hat die Infanterie wie ein Löwe gefochten; ich bin völlig mit ihr zufrie- den; den Ruhm der alten Hanfa hat fie erneuert. Mandy herrliche Jugend, fehrieb Perthes, fehe ich bier, die fich kühn umd frei entfal- tet. Auf unferer Jugend wird Gotted Segen ruhen, und durd fie wird er alled gut machen. Das ift meine fefte Ueberzeugung, und meine Freude ift, daß alle die jungen Leute mir wie die Rinder anhängen. Mitten hindurch durch das frifche und muthige Leben jener Mo⸗ nate zog fich freilich in Perthes’ Innerem ein Zug tiefer, ſchmerz⸗ licher Wehmuth, hervorgerufen durch die Lage, in welcher er feine Frau und feine Kinder wußte. In Aſchau, jener zu Altenhof, dem Gute ded Grafen Cajus Reventlow, gehörenden Dieierei, hatte er fie, als er Anfang Juli nah Medienburg überfegen wollte, zurüdlafien müſſen. Dort jtand unfern der Pachterwohnung, nahe der See und mitten im ®ehölz, ein Gartenhaus mit einem Saale und einigen Meinen Kammern, in welchem Caroline mit ihren Kindern eine Zuflucht gefunden hatte. Außer dem Pachter wohnte im Umfreife einer Stunde fein Menſch. Wir konnten, fchrieb Caroline fpäter ihrer Schweiter nad) Salzburg, von dem Pachter, fo willig er auch war, durchaus nichts ald Milh und Butter erhalten; Brot, Salz, Seife, Oel u. f. w. war unter einer Stunde Weges nicht zu befommen und mußte von meiner Schwefter und den beiden größeren Kindern geholt werden. Fleiſch und Weißbrot haben. wir in achtzehn Wochen nicht im Haufe gehabt. Unſere fogenannte Küche war vierzig Schritte vom Haufe entfernt; unſer Küchengeräthe befand. aus vier fupfernen Töpfen, einer zinnernen Terrine, einigen Tellern, und damit Puncum. Unſere Löffel hatte ich mitgenommen, einige Meier und Gabeln gekauft; alled übrige ward entbehrt. Und doc find wir, heißt e8 in einem anderen Briefe, reich im Vergleich mit vielen an⸗ deren; denn immer haben wir hunderttaufendmal mehr als nichts. Garoline felbft erwartete in wenigen Monaten ihre Entbindung. Von ihren fieben Kindern war. die ältefte Tochter fo eben fünfzehn Jahre alt, der jüngfte Sinabe lief noch nit. “Der. ältefte Sohn Matthias,

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wanderte jeden Morgen 7 Uhr nad) dem eine Stunde entfernten Al- tenhof, um an dem Unterricht der Söhne ded Grafen Theil zu neh» men; für den Unterricht der übrigen Kinder konnte nicht? gefchehen. Ein altes Dienftmädchen hatte treu bei ihrer Herrihaft auögehalten, ein zweites anzunehmen erlaubten die Geldmittel niht. Das feuchte Gartenzimmer mit feinem zwölf bi8 auf die Erde hinabgehenden Fenſtern, die der Laden entbehrten, 309 den Kindern in dem naffen, regnichten Sommer Unpäßlichkeiten aller Art zu und bradte Caroli⸗ nen mebreremale auf das Krankenlager. Zwar war in Edernförde ein alter freundlicher Pferdedoctor, aber ein Arzt nur in dem vier bis fünf Stunden entfernten Kiel zu finden.

Manche Hilfe und mancher Troſt wurde der verlaffenen Frau von freundlicher Menfchenhand zu Theil. In muthiger Ausdauer ſtand ihr ihre Schweſter Auguſte zur Seite, bei Tag und Nacht zu je⸗ der Mühwaltung bereit, und von den eine Stunde von Afchau ent« fernten Familien des Grafen Cajus Reventlow und ded Grafen Ehriftian Stolberg fehrieb Caroline: Es ift gar nicht auszuſprechen, wie unfere Freunde in Altenhof und Windebye fih in Worten und Werfen gegen und nehmen. Einer übertrifft den andern an treuer Eorglichkeit und an der Freude, und zu helfen. Auch die Kinder bereiteten der Mutter neben vielen Sorgen und Mühen Freude und Stärkung; fie erquidten mich, ſchrieb fie, in meiner Noth, ein je de? auf feine Weife, Durch ihr Herz voll Liebe, den Heinen Bern« hard. nicht ausgenommen, der fich oft vor Freundlichkeit nicht zu laf jen weiß. Ich habe ed in der Wahrheit erfahren, heißt e8 in einem anderen Briefe, dag Gott und nicht? größeres geben fann in Freud und Leid ald ein liebhabendes und geliebted Kind. Nichte kann und das Herz fo erquiden, aufrichten und befchämen. Das habe ich hun- dertmal erfahren, und ih glaube faum, daß ich Herr geblieben wäre, wenn Gott mir nicht meinen Engeld- Bernhard und in ihm das le⸗ bendige Bild der kindlichen Liebe und des kindlichen Vertrauens gege- ben hätte. Wenn ich verfunten war in Angft und Sorge um Per- thes und in den Jammer, meine acht Kinder ohne Baterrath und Baterliebe ihren Weg durch das Leben anfangen zu fehen, fo war ih oftmals in Gefahr zu verzagen. Wenn ich dann aber meinen lie-

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ben Bernhard in meine Arme ſchloß und ihm in fein helles Kinder- auge fah und gewahr ward, wie er fih um nichts befümmerte und für nichts fürchtete, fondern nur freundlih war und mich lieb hatte, fo fand auch ich meinen Haltpunft wieder und bat. Gott, mid wer- den zu laffen, wie mein liebes Kind:

Gegen ‚ben fchweren Drud des äußeren Lebens konnte Freundes» hilfe und Kindesliebe wohl einen Halt gewähren, aber wenn die Sorge um den entfernten Mann erwadte, vermochten fie das betrübte Herz miht zu tröften. Während bei der unterbrochenen Verbindung mit Medlenburg nur in fehr langen Zwifchenräumen Nachrichten von Perthes einliefen, verbreiteten ſich die widerfprechendften Gerüchte über die Stellung, welche er eingenommen habe, und die Gefahren, in denen er fich befände, wurden bis ind Ungemefjene vergrößert. Garolinend bange Sorge fürdhtete das Schlimmſte; für eine nicht zu ferne Zukunft fah fie ihre Kinder bald ohne Mutter, bald ohne Ba- ter, hilflos und verlaffen in der Welt. In Briefen voll tiefer Weh⸗ muth legte fie den Echmerz nieder, der fie erfüllte. Ich habe Hoff- nung nöthig, fchrieb fie an Perthes; denn die Gegenwart ift traurig und mein Zuftand und meine Lage ift ernfthafter und meine Berlaf- ſenheit größer, ald Du in Deiner Thätigfeit und Hoffnung wiſſen fannft. Soll ih bier allein meiner Stunde entgegengeben, foll ih ohne Nachricht von Dir bleiben und Dich in beitändiger Gefahr wif fen, fo überlebe ih ed nit. Ich kann es Dir nicht genug and Herz legen, mein Perthed, daß, wenn ed möglich ift, Du ernfthaft ſor⸗ gen mußt, daß wir den Winter nicht getrennt bleiben. Ich ver- fihere Dich, es ift ein Unrecht, wenn Du mid) ohne die höchfte Noth bier verlaffen läßt. Ich fehe wohl, dag ‘Deine Arbeit und ihr Gelin- gen Dir die Sache erleichtert und daß Du die Qualen nicht haft und fennft, die mid) erwarten. Doc ich will fhweigen und ftille halten, bis es Gott gefällt, mich zu erlöfen. Mir iſt alles dunfel und angſt⸗ voll, und mir ift zu Muthe, wie an einem harten Sterbebette, an weichem man fich jeden Augenblid zurufen mug: Ich will Doch nicht versagen. Gott ſchütze Dich und erhalte Dich und, wenn ed möglich iſt; wir beten alle Zag und Nacht für Did. Wenn Du mid liebſt, fchrieb fie etwas fpäter, fo forge, daß, wenn ich fterbe, meine

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Kinder und fonderlich meine Meinen Kinder in Hände fommen, wo fie Gott lieben lernen, ehe und ohne daß fie felbft es willen. Das allein ift die Hauptſache, alles andere genügt fonderlich für die Klei⸗ nen nit, deren Herz, in dem fo vieles fehläft, erft aufgefchloflen werden fol. Ad, mein Perthes, Gott helfe und, mögen wir nun einzeln oder vereinigt leben follen hierauf diefer Welt, daß wir Got- ted Liebe in unfern Kindern weden. Meine Hand zittert und ich bin fo bewegt, daß ich nicht weiter fchreiben fann. In andern Stunden überwog die Sorge um das Leben ihres Manned den Ges banken an die Gefahr, welcher fie felbft entgegengehen follte. Wie follte ich mir einreden dürfen, fehrieb fie, daß grade Du, mein lieber Perthes, erhalten werden müßteft! Tauſende von Männern nimmt Gott in diefer Zeit hinweg, die von Frau und Kindern geliebt und feftgehalten wurden, wie Du von mir. Perthed, mein lieber Per⸗ thed, Deinen leifeften Wunſch wahr zu machen, wenn ich den Jam⸗ mer erleben follte, ohne Die) auf diefer Welt zu fein, wird die ein» zige Freude fein, die ich mir dann noch denken kann. Sage mir doch mehr, damit ih thun kann, was Du willſt.

Die ftille Kraft und ruhige Befonnenheit, mit welcher Caroline auch im tiefften Schmerze ihrem Haufe vorftand, und mancher Brief vol Muth und Ergebung, den fie an Frauen fehrieb, die wie fie von den Schlägen der gewaltigen Zeit berührt worden waren, hatte in weiten Freundeskreiſe die Ueberzeugung feſtgeſtellt, daß fie, ſelbſt wenn das Härtefte fie treffen follte, ihre innere Sicherheit nicht ver- lieren würde. Wohl machte fie ihrem Manne gegenüber, in welchem fie, fo lange fie ihn fannte, eine fefte Zuflucht in inneren und äuße⸗ ren Nöthen gefunden hatte, dem geängfteten Herzen in mancher Klage Luft, aber mitten unter den Klagen ſprach fi oftmald un- vwilltürlih die Kraft de® Duldens aus. Den feiten Glauben zu mir habe ich, jchrieb fie an Perthed, daß mein Bertrauen zu Gott niemald enden kann, aber nicht immer kann ich mit Freuden das wollen, was Gott will, und Dich kann ich nicht laſſen ohne Thränen und ohne ein tief verwundetes Herz; zu fehr bift Du mir alled auf diefer Welt. Aber glaube mir, ich murre gewiß nicht, ich weine nur, und Dein bin ih in Ewigkeit. Heute kann ih Dir nicht ſchreiben,

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heißt in einem Briefe vom erften Auguft, ich bin gar zu fehnfüchtig, betrübt und bange, und ein Grauen ift in mir vor dem, was kom⸗ nien wird. Daß ich Dich lieb habe aus aller Kraft, weißt Du au ohne Brief, und an Dich denken will ich morgen an unferm Hochzeit tage tief im innern Herzen, wenn auch mit heigen Thränen; aber in diefen Tagen darf ich meine Seele nicht anrühren, wenn ich fie nicht zerbrechen will. Gott ſchütze und bewahre Dich, fchrieb fie etwas fpäter, und gebe mir Kraft zu tragen, was ich foll und muß. Das ganze Glück der Liebe habe ih, die Gott gibt, aber auch ihre ganze Angſt und Qual. Ich bin bei Dir, mein Perthes, und laſſe Did nit in Ewigfeit; halte auch Du mid) feft und vergiß mich nicht.

Nur nach langen Zwiſchenräumen kamen diefe Briefe in Perthes Hände und feine Antworten, die oft verloren gingen, oft Monate hindurch umberirtten, konnten die Entſchlüſſe Carolinens nicht: be flimmen wollen. Frau und Kinder nach Medlenburg -in dad Kriegd- gewirre zu verfehen, war unmöglich, und aud) nur auf einige Tage nad) Holſtein zu gehen, hätte nach Andeutungen der Dänifchen Regierung Freiheit und Leben in Gefahr gebracht. Daß er den einmal betrete- nen Weg nicht verlaffen dürfe, fühlte und wußte Perthes feſt. Ich folge Gottes Ruf und meiner Pflicht, fehrieb er, die mir in die fer Zeit fo beftimmt fpricht, wie früher nie, aber deöhalb traf - ihn die Noth und die Sorge, in welcher er feine Familie wußte, nicht weniger ſchwer.

Wie könnte ih, ſchrieb er, Dich täuſchen wollen und ſagen, daß mein bunter Wandel in jetziger Zeit nicht mehr Lebensgefahren in ſich trüge, als der ſichere, geregelte Gang in gewöhnlichen Tagen! Aber keinen Gedanken laß in Dir aufkommen, liebe Caroline, wie wenn meine Liebe zu Dir und den Kindern weniger tief und warm wäre, als etwa bei denen, die Leib und Leben für Weib und Kinder aufzuheben ſich aͤngſtlich bemühen. Es gibt Stunden, in denen die ganze Angſt des Lebens, welches verborgen vor mir liegt, und der ganze Jammer des Lebens, welches ich jetzt führen muß, auf mir laſtet. Ja wahrlich, für Dich iſt die Zeit ſchwer, aber für mich iſt ſie nicht leicht. Habe Geduld, Stille und Ruhe in Dir, meine herz⸗ liebe Caroline, traue meinem Gewiſſen und. meiner Vorſicht und über-

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laffe den Ausgang Gott. Du wollteft, als wir Abfchied voneinan- der nahmen, wiflen, wie ed mit den Kindern werden follte für den Fall, daß ed mit mir hier auf Erden ein Ende nehme. Man follte über dad Grab hinaus wenig oder nicht? verfügen; denn jeder Augen⸗ blick des Lebens ift ein anderer und neuer, und jede Verfügung muß, weil fie feftitehend ift, unpafjend werden. Dir, Deinem: Berftande, Deiner Kraft und Deiner Liebe vertraue ih, und bitte Gott, daß er Dir gebe, was Du nicht immer haft: Ruhe. Hätte ich einen Wunfch, fo wäre es der, daß Du mit den Kindern an dem Orte leben könn⸗ teft, wo Nicolovius wohnt, und daß Matthiad unter Tweſten's Leis tung ununterbrochen fünf bis ſechs Jahre bliebe. Doch der Menſch denkt, Gott lenkt. Gott fei ed gedankt, heißt ed in einem an« dern Briefe, daß Ihr mohl feid, Ihr meine Lieben und einzigen Güter diefer Welt. Liebe Caroline, wie groß und wild ift die Welt, wenn man nicht zu Haufe iſt! Dad, was mir als Süngling fehlte, fehlt mir jept ald Mann, aber ander? ald damald. Als Jüngling ſah ih Dih, das Ziel meiner Liebe und Freundfchaft, vor mir in reigendem Zauberlicht ; jest feh ich Dich wieder vor mir, aber im ganzen Ernft Deiner Wahrheit und Wirklichkeit, und kann Dich nicht erreihen. Die Zeit, die ich durchlebe, ift groß und intereſſant; aber es ift hart, Feine Heimat zu haben, und der elenden Stunden, in denen ich. mich. ohne Dich allein mit mir ſelbſt kümmerlich behelfen muß, find gar zu viele und in einer Beziehung wenigſtens iſt meine Lage härter ald.die Deinige. Du haft doch nur mid von. Dir gelaf- fen; wie viele Menfchenleben aber ließ ich zurück, von denen jedes, wenn es erlifcht, mir das Herz brechen wird! Der Anblid Kleiner Kin- der treibt mir jedegmal Thränen in die Augen. Gott wird hels fen, fehrieb er ein anderesmal. ch thue, mas ich nicht laſſen darf. Keine Thorheit und fein Wahn verhindert mich zu fehen, daß Man⸗ gel an Talenten und an Kenntniffen, daß Alter und der biöherige bürgerliche Beruf mir, da ed an tapferen jungen Männern nicht fehlt, ein eigentliche militärifched Wirken nicht vorfchreiben, ‚aber meine Aufgabe ift ed, der Wahrheit und Gerechtigkeit, wo ed nur angeht, mit. Berftand dad Wort zu reden und zu zeigen, daß Gottes Wille nicht untergegangen ift im Menfchen, wenn auch Sündhaftigleit und

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Schwäche nirgends den Gotteswillen rein und völlig ericheinen laſſen. Daß man aber in Zeiten, wie die jetigen, in denen der Streit des Böfen mit dem Guten, der Lüge mit der Wahrheit, fo gewaltig ift, nichts ausrichten fann, wenn man fich nicht ausſetzen will, Daß man, um zu ſchaffen, Leib und Leben, Gut und Blut daran fepen muß, um der Wahrheit und dem Rechten die Ehre zu geben, das, mein edles Weib, weißt Du fo gut wie ih. ch habe Muth und Kraft und Demuth und bin einig mit Gott und mit mir ſelbſt. Ich kann beten, wie ich niemals gebetet habe, und bete viel. Liebe Herzens » Caroline, fei muthig und ruhig; Gott wird Dir und. mir helfen. Es ift, fehrieb er. etwas fpäter, als wenn Gott mein Thun und Treiben recht fegnete. Wirklich, es ift viel gefchehen, manches Verhältnis hat Durch mich Geftalt geivonnen und in manches Handeln habe ich Feſtigkeit und Einheit gebracht. Aber nicht bloß in der Mitwirkung für das große allgemeine Ziel bringt unfere Trennung Früchte, fondern auch für viele einzelne befannte und unbelannte Menfchen; denn über nicht Heine Summen habe ih zu verfügen und kann Nothleidenden aller Art zu Hilfe kommen, nit blog mit Troſt und Rath, fondern auch mit Hilfe und That. Ta, liebe Caroline, alle Reizmittel, die den Menschen bewegen können, fräftig und thätig mit Aufopferung aller Erdengüter zu handeln, treffen jegt in mir zufammen: Ehre, Dant, Liebe, Freiheit, Thatluſt. Nichte an dem, was erreicht wird, mit mir Did auf und fer getroft.

Am 17. September war Caroline mit ihren Kindern von Aſchau nah Kiel gezogen, wo ihr Graf Moltfe einige Zimmer eingeräumt hatte, die er bei längerem Aufenthalt in Kiel zu bewohnen pflegte. Aerztliche Hilfe, Sreunde und Verwandte fand Caroline in. der fihern Stadt; aber die äußerfte Geldbedrängnis, kranke Schwäche des eignen Körperd und Kinderfrankheiten aller Art waren geblieben, und die Sorge um dad Schidfal der verlaffenen Kinder, wenn fie felbft, wie fie fürdhtete, ihre Entbindung nicht überleben follte, wurde um ſo drüdender, als fie in gänzlicher Ungemwißheit über ihre® Mannes Lage und Aufenthalt war. Bom 7. Auguft bid zum 2. October blieb fie ohne Nachricht von ihm und mußte nicht, ob er lebend fei.oder todt. Ich bin, fehrieb fie. gegen Ende October an Perthes, in immerwähren-

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der großer Arbeit, um Phantaſie und Gedanken, Herz und Sehnen in Zaum und Zügel zu halten. Ach, mein Geliebter, ih leide unaus⸗ ſprechlich! Nachdem fie ihm dann ihre und ihrer Kinder Lage ausführlich dargelegt hatte, fügte fie hinzu: Ich mußte Dir alles fa- gen, damit Du die Wahrheit weißt und thun fannft, was recht ift; aber ich fage Dir ed nicht, um Did) zur Rückkehr zu bewegen. Gott den Herrn, der mir mehr ift als Du, nehme ich zum Zeugen, daß ich nicht will, was Du nicht darfſt.

Wenige Tage, nachdem Perthes dieſesmal ungewöhnlich ſchnell dieſe Worte Carolinens erhalten hatte, ſah er ſich in eine Thätigkeit verfet, Die e8 ihm erlaubte, feiner Frau zu antworten: Nun haft Du für mein Leben nit. mehr zu fürchten, da ich auf friedlicher Laufbahn bin.

Perthes' Bemühungen für die Hanſeſtädte. November 1813 bis Januar 1814. |

Durh einen fühn und glüdlich audgeführten Zug Tettenborn's war Bremen von der franzdfifchen Herrichaft befreit und hatte am 6. November feine frübere Berfaffung: wieder angenommen. Eine au« Berordentliche Commiſſion zur vorläufigen Leitung der Gefchäfte wurde beftellt, und Tettenborn beauftragte zwei von ihm ernannte Dfficiere, Freiwillige in Bremen zu ſammeln und aus ihnen eine befondere Ab⸗ theilung der hanfentifchen Legion zu bilden. Als der Befehlshaber der hanfeatifchen Brigade, Oberft von Wigleben, dieje Nachricht ers * halten hatte, fürdhtete er, daß Tettenborn auch die weitere Bildung und fünftige Führung des neuen Truppentheil® in Anſpruch nehmen werde. Um einen foldhen Uebergriff zu verhindern und die Leitung der Rüftungen und den Befehl über die gefammelten Truppen in feine eigene Hand zu befommen, fendete er zwei Officiere nach Bremen und beauftragte Perthes, fie zu begleiten. Perthes folle verfuchen, ſchrieb ‚er ihm, was er durch feine perfönliche Bekanntihaft mit Zettenborn und mehreren einflußreichen Mitgliedern des Senates außzurichten

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vermöge, in jedem Falle aber nicht dulden, daß fich der Senat die Ernennung der DOfficiere von Tettenborn aus den Händen winden laſſe. Es wiſſe ja jeder, wie ſchwer es fei, fih von den aufgedrunge- nen räudigen Schafen zu befreien.

Nicht weniger ungern als Wipleben fahen die Mitglieder des hanſeatiſchen Directoriums das Auftreten Tettenborn's in Bremen. Sie hatten feine Unfähigkeit zu organiſieren und feinen grenzenloſen Leichtfinn in Hamburg kennen gelernt und hielten es für eine Schmadh, dag ein Kofadenofficier die erften, vielleicht für alle Zukunft nachwir⸗ enden Anordnungen in der befreiten Stadt treffen follte. Sobald die in Medlenburg zurüdgebliebenen Mitglieder ded hanfeatifchen Directortumd Perthes’ Abfendung nah Bremen erfuhren, forderten fie ihn dringend auf, aus allen Kräften dahin zu wirken, daß der Senat eine feite Stellung Zettenborn gegenüber behaupte. Wir entbehren Sie hier freilich ungern, fchrieben fie ihm, aber in Bremen wird Shre Anmwefenheit von guten Folgen fein. Wenn Sie aud) die bereitd ind Leben getretenen Operationen nicht aufhalten können, fo find Sie doch vielleicht im Stande, die Uebel der Hauptquartierwirtbfchaft, welche Sie in Hamburg fennen lernten, zu mildern, damit ed nicht wieder fo wild und leichtfinnig hergehe, wie in unfern Städten.

Perthes mar am 10. November, unmittelbar nachdem er Wip- leben's Auftrag erhalten hatte, aus Gadebuſch abgereift. In Witten berg erhielt er perfönlich von Dörnberg, in Dömig von Wallmoden nähere Nachrichten über den gegenwärtigen Stand der Dinge und am 13. November traf er in Bremen ein, wo er alles in größter Be wegung fand. Tettenbom war jet bier, wie früher in Hamburg, der Held ded Tage? und wurde, wo er fich fehen ließ, von freiheite- trunfenen Menfchen umlagert, die ihn mit freudigem. Hurrah begrüß- ten. Am 12. November ſchon war General Winpingerode mit zahl⸗ reichen ruffifchen Truppen, unter denen auch Tſchernyſcheff und feine Kofaden ſich befanden, eingetroffen, am 17. Rovember: langte der Kronprinz von Schweden, am 26. November der Herzog von Olden⸗ burg an. Mit freudigem Jubel wurden die Befreier aufgenommen, große Seite wurden ihnen gegeben und die Häufer ihnen gaftlich ges öffnet; aber zugleich fuchte Die ernannte einheimifche Regierungdcom-

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miffion kräftig und entfchloffen Bewaffnung und Verfaſſung den Ein- wirfungen der Fremden zu “entziehen und ſcheute, um diefed Ziel zu erreichen, auch die unangenehmften Mishelligkeiten nicht. Schnell wurde Perthes von dem Stand der Dinge unterrichtet; die Bremer

betrachteten ihn wie einen alten vertrauten freund, der Oberftlieuter

nant Pfuel machte ihn mit der Stellung Tettenborn’d zu Witzleben befannt und Tettenborn felbft verhandelte faft täglich.mit ihm ohne Mistrauen und Rückhalt. Ich ftehe, fchrieb damals Perthes, auf einer bedenklichen Stelle, da ich Freund bin der verfchiedenen, fich be- kaͤmpfenden Parteien. Du mein Gott, gib mir Weidheit und Ber- ftand und den Muth der Wahrheit und lag mich niemals dich ver- gefien! Ungeduldig harrte Wigleben auf Nachricht. An gutem Willen fehlt es hier nicht, fehrieb ihm Perthes; bei der Obrigkeit ift Verſtand, bei dem Bolfe Feuer und warmes Gefühl bei den Weibern. Schon feit einer Woche ift alled im vollen Gange und es wird nicht® anderes zu thun fein, als vorläufig mit dem Strome zu ſchwimmen. Denn Tettenborn tritt auf und organifiert im Namen ded Kronprinzen ; der General Wingingerode felbft ift und bleibt hier und läßt alles durch Tettenborn formieren und einrichten; kurz, Tettenborn fibt mit⸗ ten in der Seele ded Körpers, während Sie mit der Legion außerhalb der Bewegung ftehen.

Obſchon ed an muthigen Männern in Bremen nicht fehlte, rüdte dennoch die Bildung der einheimifchen Truppenabtheilung nur lang- ſam vor. Die hanfeatifche Legion, ihre Beftimmung und Einridtung, war der Stadt in Folge der Anftrengungen der franzöfifhen Polizei nur dem Namen nach befannt ; die Truppen der Befreier dagegen, vor allem die preußifchen Jäger ftellten fich den Augen der danfbaren Bürger in dem hellen Glanze eines frifchen Kriegerlebend dar, und viele junge Leute fuchten daher mit Umgehung der heimifchen Trup⸗ pen die Aufnahme unter den Preußen und Lüsowern nach. Perthes fühlte den Nachtheil, der aus ‚diefer Richtung für das Anfehen der Legion und der Städte hervorgehen mußte, und fuchte ihm entgegen- jutreten, indem er durch feine warmen und lebendigen Schilderungen bei alt und jung, bei Männern und Frauen Aufmerkſamkeit und

Theilnahme für die hanſeatiſchen Krieger zu erwecken wußte. Von Perthes Leben. I. 4. Aufl. 17

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vielen Eeiten aufgefordert, Tegte er die Entftehung und Ausbildung ber Legion in einem kurzen Auffake dar, welcher, in der Sprache bes Sahres 1813 gefchrieben, die Leiden und Ihaten derfelben auf das länzendfte darftellte. Gottes Segen den Eltern, heißt es am Schluſſe, die ihre Söhne dem Baterlande geben; Gotted Segen den Söhnen, die für ihre Eltern fämpfen; und der Friede Gotted allen denen, bie als Opfer fallen. Ihnen ift die Krone des Qebend geworden. - In vielen Exemplaren verbreitet, war die Wirkung diefer, den Eindrüden des Augenblicks angehörenden Schrift eine nicht geringe und trug weſentlich dazu bei, Perthed in jenen, jegt längft vergeffenen Tagen allgemeiner Aufregung zu einem Liebling der patriotifchen Kreife Bre- mens zu machen, während zugleich die Erfahrungen, welche er in Hamburg gefammelt, fo wie da® Vertrauen, welches feine Berfönlich- feit einflößte, und die Stellung, welde er zu Tettenborn einnahm, feiner Stimme Gewicht für Die ftädtifche Obrigkeit verliehen. Smidt, welcher am 15. November von einer Sendung an den Kronpringen jurüdgefehrt war, wurde fein naher, vertrauter Freund. Die Se natdcommiffion zog ihn zu ihren Sigungen hinzu, der Bürgerconvent {ud ihn zu feinen Verhandlungen ein, und als Bremen durch eigne befonnene Kraft die Bewaffnung und Verfaffung zu einem guten Ende geführt hatte, durfte Perthes fich fagen, daß auch er zu den Werke mitgewirkt habe, indem durch ihn manche Echwierigfeit befei- tigt, mancher ſchroffer Gegenfag gelöft und manche Gefahr vermieden worden war. Wir haben e8 wohl gehört, jhrieb ihm damals ein entfernter Freund, daß Sie alter Alhymift von neuem Ihre wohlbe⸗ fannten Rünfte üben und Elemente, die fih einander fliehen, zufam- menzmwingen, indem Sie bei einem Glaje Wein, oder weisſagend und in Zungen redend, Ahr eigenes aus Liebe und Eifen gefchaffene® Herz als Bindungsmittel zwifchen die feindlichen Gegenſätze werfen. Während die franzöfifhe Herrſchaft in Bremen beendet war und in Hamburg und Lübeck fihtlid ihrem Ende entgegenging, ſchien von anderer Seite her die künftige Selbftändigfeit der drei Städte aufs nene in frage neftellt zu werden. Schon feit feinem erften Auftreten im nördlihen Deutfchland hatte der Kronprinz von Schweden eifrig geftrebt,, Hamburg und Kübel an ſich zu fefleln; er war Tängft ſchon

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bemüht gewefen, die Bürgerfchaft beider Städte für fih zu gewinnen und fi der hanfeatifhen Legion und der banfeatifchen Bürgergarde als Schüger, Vertreter und Befehlshaber darzuftellen. Mit dem An- fange des Monats November glaubten einfichtsvolle Männer mit Beftimmtheit wahrzunehmen, daß er die drei Städte aus allem Zus ſammenhange mit den großen Yandmächten und ihrer Gentralcommifs fion bringen, die Legion unmittelbar an feine Perfon binden und um jeden Preis ſchwediſche Befasung in die Städte bringen wollte Er bot Davouft die vortheilhafteften Bedingungen an, wenn diefer Ham- burg in feine Hände liefere; er lieg in einem Gefpräcdhe mit Sievefing Aeußerungen fallen, welche denfelben in die größte Beitürzung ver⸗ feben mußten. Es ſchien gewiß, daß der Kronprinz die drei Städte oder doch wenigftend Hamburg und Lübeck in Befiß nehmen wolle, um fich fpäter durch deren Abtretung an Dänemark die Herrfchaft über Norwegen zu fihern. Als Perthes und Sievefing am 28. November dem Audfchuffe des Bremer Senats ihre eignen Befürchtungen und die bedenklichen Aeußerungen des Kronpringen mittheilten, erfuhren fie, daß der Senat alle Urfache habe, die Adfichten Hannovers nicht weniger als die des Kronprinzen mit größter Borficht zu beachten. Zwar nicht das engliſche Minifterium, wohl aber der hannöverifche Minifter, Graf Müniter, beabfichtigte, wie man fürdhtete, Die Hanſe⸗ ſtädte oder doch wenigſtens Bremen in feinen befonderen Schuß zu nehmen, um fie durch Eimverleibung in Sannover allen Gefahren einer freien Stadt zu entziehen. Solche Befürchtungen machten es zur dringenden Prlicht, fi) um einen mächtigen Schuß gegen Schwe⸗ den und Hannover zu bemühen.

Die früheren Beforgnifje vor den Eroberungsabfihten Rußlands und Preußens maren im nördlichen Deutfchland ſchon vor der Schlacht von Leipzig in den Hintergrund getreten. Jene Abfichten waren, wie man glaubte, dur) das von England ünterftüste Auftreten Han- noverd, dur das Widerftreben ded Kronprinzen von Schweden und vor allem durch den Beitritt Deftreichd zur großen Allianz für immer vereitelt, denn Alexander's Macht, Kriegsluſt und Einfluß habe ab- ‚genommen, je weiter er fi) von feinem Reiche entferne, und Preußens mittelmäßiges Cabinet fei nicht im Stande, die Stellung ju gewin-

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nen, welche der Strom der öffentlichen Meinung dem Heldenmuthe feiner Nation freudig zugeftehe. Fürſt Metternih wäre daher nun der Mann geworden, welcher faft in allen Dingen den Ausſchlag gebe, und Oeſtreichs weiſe, jedem Schwindel abgeneigte Mäpigung werde niemald die Unterdrüdung deutſcher Staaten durh Preußen und Rußland zugeftehen. Als die Echlacdht bei Leipzig gewonnen war, erfchien die Stellung Deftreih® und Preußens wiederum in einem andern Lichte: beide Mächte waren von neuem die natürlichen Vertreter Deutfchlands geworden, und die größeren und Fleineren Fürften drängten fih an fie heran, um von ihnen die Entjheidung ihres Schickſals zu empfangen. Während ſich dad große Hauptquar- tier langfam von Leipzig nad) Frankfurt bewegt hatte, war bereits einer Anzahl deutfcher Staaten Anerkenntnis ihrer Unabhängigkeit und Aufnahme in die große Allianz gewährt, und al® um die Mitte des November fi Kaifer und Könige, Staatömänner und Generale in Frankfurt fammelten und zugleich der unter Stein’d Vorſitz ange ordnete deutſche Verwaltungsrath Leben zu gewinnen jchien, konnten die Hanfeftädte nur in Frankfurt Sicherung ihrer politifhen Selb- ftändigfeit erlangen. Perthes war zuerft durch Wallmoden auf die Wichtigkeit der Berfammlung in Frankfurt aufmerffam gemacht wor- den. Der brave Mann gab und ehrlichen Beicheid, fchrieb Perthes damald, und rieth den Städten, fi) unter den gegenwärtigen Um- ftänden feft an den Freiherın von Stein zu halten. Auch der Her- 30g von Oldenburg und der General Winkingerode, die nad) Perthes Ausdruck offen und wie gute Deutfche fprachen, waren der Meinung, daß in Frankfurt die wefentlichften deutfchen Fragen ihre Erledigung finden und deshalb die Städte große Gefahr laufen würden, wenn in dieſem entfcheidenden Augenblicke niemand feine Stimme für fie er⸗ höbe. Zwar fürchteten mehrere Mitglieder des hanfeatifchen Direr- toriumd, daß das Erfcheinen von Abgeordneten Hamburgs und Lü- becks, weil die Städte felbft noch unter franzöfifcher Gewalt ftänden, leicht Befremdung und Misſtimmung erregen fönnte; aber ald der Bremer Senat eine Deputation nah Frankfurt abfendete, Ichloffen ſich dennoch auf Smidt's dringended Zureden Perthed und Sievefing unbedenklich derfelben an. Diefer Augenblid darf nicht ;verfäumt

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werden, fchrieb Perthed an einige bedeutende, in die großen Handeld- verhältniffe eingeweihte Hamburger Kaufleute; jest ift die allgemeine Aufmerkfamfeit auf Hamburg und fein Schidfal gerichtet, und der Congreß, welcher fi in Frankfurt verfammelt, wird auf lange Zeit hinaus dad Schickſal unferer Gegenden beftimmen. Wir baben und deshalb entichloffen, mit der Bremer Deputation nah Frankfurt zu gehen, und bitten Sie dringend, und durch Mittheilung Ihrer Erfah- rungen und Ihrer Kenntnis der Thatfachen zu unterflüben. Wie groß find die Verlufte, die Hamburg erlitten hat; was muß gefcheben, damit Hamburg ungeachtet des ungeheuren Gapitalverlufte® wieder in die großen Handelöverhältniffe eingreifen fönne; was ift für die Bank, wa3 für die Zölle, nicht allein auf der Elbe, fondern auch auf den andern Handelöftragen, zu erftreben? Verſäumen Sie nicht?; es ift in diefem Zeitpunfte vielleicht: manche? zu erlangen, was, einmal ver- fäumt, für immer verloren fein wird.

Am 3. December reiften Perthes und Sievefing in Gemeinfhaft mit den Bremer Deputirten Smidt und Gildemeifter aus Bremen ab. In Hannover erhielten fie über die hannöveriſchen Abfichten Durch den Hofrath Rehberg, über die fchmedifchen durh A. W. Schlegel neue Aufſchlüſſe. Benjamin Conftant in Hannover, Billerd, Sartoriug, Heeren und. Hugo in Göttingen, Martens, die Brüder Grinm, Har- nier und Euabediffen in Kaflel, Bachler und Merrem in Marburg gaben ihnen in belebten Uinterredungen ein Bild von dem Gewirre der Wuünſche, Hoffnungen und Befürdhtungen, welche in jenen Wochen Deutfchland erfüllten. Am 8. December langten fie in Frankfurt an und am folgenden Tage ſchon hatte Perthed die Freude, von dem Herrn von Stein in einer langen und fehr offenen Unterredung die nachdrüdlichften Zuficherungen für die Selbftändigfeit der drei Städte zu erhalten. Das deutfche Reich,’ fagte Stein, werde hergeftellt wer⸗ den; aber fo lange ber Friede noch nicht gefchloffen fei, dürfe, damit nicht Zwiefpalt entftände, feine Verhandlung über die nähere Geftal- tung desfelben geführt werden. Den drei Städten fei die Stimmung der großen verbündeten Mächte durchaus günftig; fie würden feinem Fürſten untergeordnet werden, fondern eine felbftändige Stellung im Neiche erhalten. Nichte hätten fie von dem Kronprinzen von Schwe-

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den zu fürchten; man kenne ihn ſchon mit feinen Projecten und In⸗ triguen und wiffe, daß der Schmuß der Revolution ihm noch anhinge. Sobald die Adfichten, welche derfelbe vertraulich geäußert hatte, offi« ciell befannt würden, werde man ihn mit feinen 25,000 Mann, die theuer genug bezahlt würden, einpaden und nad) Haufe ſchicken. Im äußerften Falle fönne man feiner immer mit Geldopfern los werden; jept aber den Schlangengängen feiner Politik nachzugehen, fei unter der Würde der verbündeten Mächte. Eben fo wenig habe Hannover Eingriffe zu machen; die Städte follten nur jede Zumuthung desſel⸗ ben ohne weiteres abweifen; . bie Verbündeten hätten überall feine Urſache, Hannover etwas zu ſchenken. In das Innere der Berfaffung der Städte werde fi, wenn diefe fih jo nähmen, daß feine Unruhen entftänden, niemand mijchen. Alle Misbräuche müßten abgeſchafft werden, und die Sleichftellung der Drei chriſtlichen Eonfefjionen in allen politischen VBerhältniffen mache er dringend zur Pflicht; aber fein Jude dürfe als gleichberechtigt aufgenommen werden. Das Verfahren des banfeatiihen Directoriumd billige er fehr und ganz richtig fei ed, daß für Hamburg eine proviforifche Regierungscommiſſion beftellt werden müffe, um die nothiwendigen Berfafjungsänderungen vorzunehmen. Ausführlich Lie fih fodann Stein auf die Bedenken ein, welche Per- thed gegen den Elsflether Zoll erhob. Zölle, fagte er, feien feine Beſchränkung des Handels, auch England habe fie; aber-freilich nur für eine einzelne Gegend dürfe ein Zoll nicht beftehen, fondern eine einzige große Zollinie für das ganze Reich müfle von Holland bis Rußland errichtet werden. So frei, fo herzlich und offen ſprach Stein, fchrieb Perthed, daß ich ihm alles, was ich über unfer deut- ſches Vaterland und über unfere Städte auf dem Herzen hatte, ohne Rüdhalt äußern konnte und bald merkte, daß er mich gerne hörte.

Unmittelbar von Stein ging Perthed mit Sievefing zu Herrn v. Pilat, dem Cabinetöfecretär des Fürften Metternich. Als wir, äußerte Perthes, mit ihm und dem Baron Binder den Mittag und Abend in freier und fröhlicher Unterhaltung zubrachten, fpürten wir bald, daß Oeſtreich jedes Hinftreben auf deutfches Reich und deutfches Kaiferthum billige und gut aufnehme. Eine andere Seite der Dinge aber zeigte ſich uns, ald wir zu dem preußifchen Nathe Bartholdy

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gingen, Hier deutete-alled auf große Ummälzungen hin; der König werde, fagte Bartholdy, in kurzer Zeit Nationaljtände zufammen ber rufen, und bald werde ſich Preußens Stellung zu Deutfchland entr wideln.: Im Innern der Städte follten wir immerhin, ohne viel zu fragen, machen, was wir machen fönnten; wenn ed gemacht wäre, würde es gebilligt ‚werden. Am 10, December wurben die vier Reifegefährten durch Pilat zum Fürſten Metternich geführt. Der Fürft nahm und mit großer Güte auf, fchrieb Perthed, und fagte un? feſt

- die Freiheit der Städte zu und ſprach von der ficheren Hoffnung auf

Herftellung des deutichen Neiched. Als ich bemerkte, daß Die Städte an eine Neutralität wie in früherer Zeit jeßt nicht denken wollten, fondern fih nur durch einen feften Anſchluß an das Reich gefichert hielten, antwortete er: Ich fehe, Sie, wie wir alle, find von vielen Ehimären der früheren Zeit zurüdgelommen. An demfelben Tage gewährte auch Kaifer Franz eine Audienz. Sie haben viel gelitten, fagte diefer ihnen freundlich, aber es wird fchon beffer werben; denn nun bleiben wir alle Deutfche, und ich will ſchon machen helfen. Dann zu Perthed und Sieveking fih wendend, febte er hinzu: Sa, dem Hamburg gebt es fchlecht, und der wüſte Kerl, der Davouſt, rächt fi) arg; aber was ich gut machen kann, yill ich thun. Während die zutraufiche Anfprache des Kaiferd die Vorliebe für denfelben noch erhöhte, waren die kurzen, barfch Elingenden Worte ded Könige von Preußen, der am folgenden Tage bie vier Männer empfing, nicht im Stande, die Abneigung zu befeitigen, welche damals im nördlichen Deutfchland gegen die preußifche Negierung beftand. Der Staat?- kanzler Hardenberg, Wilhelm von Humboldt, der Staatsrath Hippel ſprachen von der Freiheit der Hanfeflädte wie von einer politischen Nothwendigkeit, aber dennoch blieb ein geheimes Midtrauen gegen tief verborgene Abfichten des Berliner Hofed nach wie vor beftehen.

Eine Maffe von großen politifhen Eindrüden drängten mäh- end des kurzen Aufenthalts in Frankfurt auf Perthes ein. An der Tafel des Staatdlanzler® fand er die herporragendften Perfünlichkeir ten Preußens vereinigt; Graf Neſſelrode ſprach wohlwollend zu ihm von der Bedeutung der Hanfeftädte für den europäifchen Verkehr; der bannöverifche Graf Hardenberg beeilte fih, feine freundnachbarlichen

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Gefinnungen erkennen zu geben; Stägemann und der Banquier Har- nier erflärten ihm unummunden, daß die großen deutfchen Handels⸗ verhältniffe, dag Stromſchiffahrt und Zollweſen, weil niemand über fie eine fefte Anficht befite, lediglich dur den Zufall und durch die Einflüffe des Augenblids ihre fünftige Geftalt erhalten würden; die Bevollmächtigten der Fleinen Staaten, Kanzler von Kettelhodt, Prä- fident von Berg, Minifter von Gagern, fo wie die Schweizer Deputir- ten, Zandamınann Aloys Reding, Staatdrath Eicher und Rathöherr Hirzel, gewährten Aufſchluß über Einzelverhältniffe der Gegenwart, und an den belebten Abenden, die Perthed mit Schloffer, Zacharias Werner, Günderode, Paffavant, Rühle von Lilienftern und andern bedeutenden Männern zubrachte, kamen geiftige Intereſſen aller Art zur Sprache. Heute, am 16. December, ift unfere Entdeckungsreiſe zu Ende, ſchrieb Perthes, und wir haben gefunden, daß das fefte Land, welches wir fuchten, gar nicht vorhanden ift; aber unfere Her- zen find erfüllt von Lob und Dank gegen Gott, der un? fo viel Gu⸗ tes für unfer deutſches Vaterland -und für unfere Städte in den Ges walthabern Europa’3 finden lieg. Während Smidt dem großen Hauptquartier folgte, kehrten Perthes und Sieveling nad Bremen zurüd, mo fie am .20. December anlangten. Kaifer Franz, König Friedrich Wilhelm und Kaifer Alerander erfannten in befonderen Handihreiben die Freiheit der Städte an, und freudig konnten Per- thes und Sievefing auf dem Ratheweinkeller zu Bremen den dort zu⸗ fammengelommenen Senatoren Bericht über ihre Reife abftatten. Dergebend hatte Perthed gehofft, in Bremen Briefe von Caro— line zu finden. Er war um fo beforgter, ald Holftein nun der Schau- plaß des Krieges geworden war. Der Kronprinz von Schweden hatte, nachdem er Bremen verlaflen, fhon am 29. November fein Haupt. quartier in Boipenburg genommen und ſich, nachdem er Davouft und die franzöfifchen Truppen auf Hamburg befchränft hatte, zum Angriff gegen die Dänen gewandt, er nahm am 5. December Lübeck, drängte nach einer Reihe von Gefechten die däniſche Kriegsmacht über den Ka- nal zurüd, und behauptete in dem am 15. December gefchloffenen Waffenftillftand ganz Holftein und das füdliche Schleswig. Es war auf diefen Kriegdzügen nicht grade reinlich- zugegangen, und angſt⸗

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voll hatte Perthed fchon von Frankfurt aus nach Kiel gefchaut, wo Caroline in eben diefen Wochen ihre Entbindung erwartete. Du bift gewiß noch bei mir auf diefer Erde, hatte er am 14. December an fie gefehrieben, ich weiß e®, ich bin deffen überzeugt. Wohl hat e8 Stunden gegeben, in denen ich glaubte, Du mwäreft drüben bei Gott, zu dem auch ich früher oder fpäter komme; mit dem innerften kla⸗ ten Auge bes Geifted habe ih dorthin nach Dir gejchaut, aber nicht? vernommen, Du bift gewiß noch hier bei mir. O daß Gott Dir auch das geliebte Kind in Deinen Armen gelaffen hätte! Ich bin gefund und habe. viel erlebt, genug, um eine Lebenszeit darum zu geben, und kann von hier mit Muth und Ruhe und mit Glauben zu Gott fortgehen was fo viel ift, ald man faum hoffen durfte, wenn man weiß, daß die Fürften der Welt und ihre Minifter und Feldherren bier verfammelt find. Da Perthed in Bremen feine Briefe vor- fand, eilte er nach Lübeck und brachte auch dorthin die Zuficherungen für die Sreiheit der Städte. Hier erhielt er die Nachricht, daß Caro⸗ line am 16. December glüdlih von einem Sinaben, Andreas, ent- bunden fei. In der Weihnachtsnacht reifte er weiter nach dem nun von feindlichen Truppen befreiten Kiel, wo er am erſten Feiertage Nachmittags fünf Uhr eintraf. Unermwartet, Abends im Halbduntel, trat er nach faft ſechsmonatlicher Trennung in unfer Zimmer, fchrieb, Caroline; Matthias hatte ihm zuerft gefehen; alle Kinder konnte ich ihm gefund übergeben und noch einen lieben, gefunden Jungen oben- drein in Kauf. Was dad war, weiß niemand, ald der es erfah- ren hat. |

Wenige Tage nad) feiner Ankunft erhielt Perthes Von dein Ge- neralftabe des Kronprinzen von Schweden den Auftrag, in Gemein» ſchaft mit zwei von Lübeck und Bremen ernannten Männern die Ber waltung und. Verwendung der bedeutenden Summen zu übernehmen, welche der Kronprinz zur Unterftügung der aus Hamburg Vertriebe- nen bewilligt hatte. Perthes verließ daher am 1. Januar 1814 feine Familie und begab fih, um den Hilfsbedürftigen nahe zu fein, nad dem zwei Stunden unterhalb Hamburg an der Elbe gelegenen flei- nen Orte Flottbeck. Hier trat ihm fogleih die Lage Hamburgs in ihrer ganzen Erſchrecklichkeit vor Augen.

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Während der größte Theil Deutfchlands längft von den Fran⸗ zofen befreit war, hatte fih Davouft in Hamburg gehalten; aber er war mit feinen Truppen auf die Stadt felbjt und deren nächte Um⸗ gebung durch den General Benningjen befchränft, welcher jeit Ende December an General Woronzow's Stelle die Belagerung leitete. Was Davouft that, konnte vielleicht in der Stellung eine® belagerten Generals feine Entfchuldigung finden; aber wie er that, was ex that, laͤßt fih nur aus der Wuth und der Stumpfheit eines Boͤſewichts ab⸗ leiten. Unermeßliche Gelderpreffungen, Beraubung der Bank und barbarifhe Bedrüdungen der Bürger hatten den Anfang gemacht; dann waren feit der Weihnachtswoche alle Borftädte, alle Vorbörfer und alle die herrlichen Landhäuſer an der Alfter nad einer nur acht⸗ flündigen Ankündigung niedergebrannt und an zwanzigtauſend Men- [hen aus der Stadt geftoßen worden, zuerft die Jungen und Starken als gefährlih, dann die Alten und Schwachen als überflüffig; die Kinder aus dem Waifenhaufe, die Gebrechlihen aus den Gotteswoh⸗ nungen, die Verbrecher aus den Zuchthäufern wurden vor die Thore gebraht und ihrem Schidjal überlaffen, und am Nachmittag des 30. December befahl Davouft, das mit achthundert Kranken und Wahnfinnigen gefüllte Krankenhaus zu leeren: am Mittag des andern Tages werde e8 in Brand geſteckt werden.

Während Rotten betrunfener Soldaten mit den Kronfen um ihre Habe fämpften, die Umgegend plünderten, die nahe liegenden Häufer anzündeten und Scheußlichkeiten aller Art verübten, wurde dad Krankenhaus durch die großen Anftrengungen braver Bürger völ- lig geräumt; aber die Todesangft in dem wilden Gedränge und die ftrenge Kälte des Januar koſtete in den nächſten Tagen faft ſechshun⸗ dert der geflüchteten Kranken das Leben.

Die Nachricht von diefen Greueln machte Perthes und feinen in Flottbeck verfammelten Freunden das Blut erftarren, und das Elend, welches fie mit eigenen Augen fahen, war nicht geringer. Stunden- weit lag die Umgegend wie ein großer, mit Schnee und Eis bebedier Schutthaufe da, aus welchem nur einzelned Mauerwerk und balb- berbrannte Bäume hervorjtarrten; Weiber und Kinder irrten, nad ihrem alten Eigenthum fuchend, in der Zerftörung umber, und noch

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immer wurde Racht für Nacht der Himmel von der Glut brennen- der Häufer geröthet. In den Gaffen Altona's, auf den Landſtraßen und Dörfern der Umgegend fah man halberfrorene Geftalten umber- fhmwanfen, die nach Kleidung, Brot und Obdach in den eifigen Win« ternächten verlangten, und auf den Wegen nad) Lübeck und Bremen bewegten fi, geführt von SKtofaden, lange Züge von Alten und Kranken, von Weibern und Kindern, die in den Schwefterftädten Hilfe ſuchen wollten. Du wirft gehört haben von dem Elend diefer Ge gend, fhrieb Perthed an Caroline, aber fein Ausdrud reicht auß, um es zu bezeichnen, geſehen muß 23 werden. Aller Jammer, den ic in den legten dreiviertel Jahren an mir und. andern erlebt habe, ift nicht? gegen diefe Gegenwart. - Wie wird fie enden? Möge Gott fie abkürzen und uns durch fie hindurch geleiten! Es geſchah vieles, um das unerhörte Elend zu lindern: in Altona, Bremen und Lübeck wurden große, befonnene Anftrengungen gemacht; bedeutende Gaben liefen au8 der Nähe und Ferne ein; ein Unterſtützungsverein ange fehener Hamburger Bürger übte in. Altona umfafjende Wirkjamteit, und die Berwaltungscommiffion der fehwedifchen Gelder that, was fie thun konnte: aber alle unfere Anftrengungen, äußerte Perihes, fönnen nur diefem oder jenem einzelnen fein Elend lindern; zu hel⸗ fen ift der Gegenwart nit, möge Gott die Zukunft reiten! Alles, was an Kräften in und lebt, müſſen wir zufammennehmen, um bie unglüdliche Stadt und ihre Bürger vor einem Untergange zu bes wahren, au® dem fein Erftehen möglich.

Auf Jahre hin fhien Hamburg durch das, was bereit geſchehen war, zu Grunde gerichtet, und. wenn die Befreiung der Stadt von dem Erfolge der Belagerung abhängig blieb, fo fonnten Davouft und feine falten Gehilfen, Präfect Breteuil und Maire Rüder, noch Mo— nate hindurch an der Bollendung ihres Werkes arbeiten. Auf ſchnel⸗ lerem Wege als auf dem der Eroberung oder Aushungerung mußte daher Hamburg, um der gänzlihen Vernichtung zu entgehen, von feinen Peinigern befreit werden, und alles fam darauf an, die Ver⸗ bündeten zu bewegen, den Abzug Davouſt's aud Hamburg zu einer Präliminarbedingung ber erften Waffenſtillſtandes⸗ oder Friedensver⸗ bandlungen zu machen, welche fie mit Napoleon anfnüpften: Gin,

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pfindlicher noch als in diefem Berhältniffe trat in den mannigfacdhen Verwickelungen des Augenblid® der Webelftand ‚hervor, daß Hamburg, obfchon es als eine freie, nur vorübergehend vom Feinde beſetzte Stadt betrachtet ward, dennoch der einheimifchen Obrigfeit und der politi» fhen Bertretung entbehrte. Die Bürgergarde, welche ſich in der äu- Berften Bedrängnis befand, verlangte die nöthigen Gelbmittel, um fih von einem Tag zum andern erhalten zu können, General Ben- ningfen und der Chef feined Generalftabed wollten Nachricht haben über die verfchiedenften Berhältniffe und Zuſtände der von ihnen bes lagerten Stadt; Smidt, welcher dem großen Hauptquartier gefolgt war, forderte dringend Auskunft über. die Berlufte und Anſprüche Hamburgs und über die Handeldaufgaben, welche gelöft werden foll- ten. Diele Dinge könnte ich jebt mit ficherer Hoffnung auf guten Erfolg geltend machen, fehrieb er damald, wenn ich) genaue Zahlen und fonftige Data hätte. Wäre doch Perthes, wie er es wollte, zu und zurückgekehrt. Wahrlih, die Hanfeftädte werden die Wichtigkeit ded gegenwärtigen Augenblid3 erſt kennen lernen, wenn er vorüber if. In diefen und vielen andern Beziehungen fehlte es an einer Behörde, welche die Stadt hätte vertreten und Nede und Antwort hätte ftehen können. Das hanfeatifche Directorium hatte unter den ganz veränderten Umftänden feine Thätigfeit einftellen zu müſſen ge glaubt, und am 5. Januar zeigten Perthed und Sieveling die Auf- löfung desfelben den aus Hamburg geflüchteten Gliedern des Senates an. Nach der Befreiung zweier Hanfeftädte, heißt es in dem abge- ftatteten Bericht, und nachdem fo viele Mitglieder des alten Senats von Hamburg und fo viele in Gefchäften mehr als wir bewanderten Bürger fih dem franzöfifchen Einfluffe entzogen haben, halten wir und nicht länger für befugt, allgemeine Angelegenheiten der Städte zu behandeln. Wir haben daher den Senatscommiſſionen in Lübeck und Bremen diejenigen Aufflärungen über die Verhältniffe der Hanfe- Hädte gegeben, die wir und durch unfere Verbindungen hatten vers fhaffen können. In beiden Städten hat man mit Beifall unfere Be- mühungen anerfannt. Sept überliefern wir vertrauendvoll den Män- nern, die wir ald die natürlichen Häupter Hamburgs zu ehren ge= wohnt find, die ganze Sammlung von Auffägen, die für die politis

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Ihe Zukunft diefer Stadt .und für die Wohlfahrt ihrer Angehörigen nicht ganz ohne Bedeutung find, und fordern fie auf, diejenigen Mapregeln zu treffen, durch welche unfere Stadt in dem Vereine der Schwefterftädte eine geeignete Vertretung erhalten könne. Ein ge- meinfamed Auftreten indeilen der außerhalb Hamburgs ſich befinden- den Senatöglieder erfolgte niht und war auch für die nächſte Zu- funft nicht zu hoffen.

Den einzelnen Bürgern, welchen das Wohl ihrer Stadt am Herzen lag, blieb e8 daher überlafien, zu verfuchen, wie viel fie durch ihre Anftrengungen auszurichten vermöchten. Perthes wendete fich zunächſt mit der dringenden Bitte an Smidt, nicht abzulaffen. von feinen Anftrengungen, Metternich, Hardenberg und Neffeltode zu be- fiimmen, daß fie den Abzug der Franzoſen aus Hamburg zu einer der Borbedingungen aller Berhandlungen mit Napoleon machten. Zugleich nahm Perthes zu demjelben Zwecke die Verwendung de? Her- 3098 von Oldenburg, deifen perfönliches Wohlmollen er genoß, in Anfpruh, indem er denfelben um feine Fürfprache bei dem Kaifer Alerander erfuchte. Wie eine von Gott gefendete Retterin, fchrieb er dem Herzog, erfcheint eben jetzt die durch ein geliebted Fürſtenhaus für Deutfchland gewonnene Fürftin in unfern Gegenden. Ein Wort bei dem faiferlihen Bruder, und viele TZaufende find vom Elend und vom Sammertode errettet. Der Herzog will Ihnen felbft antiwor- ten, entgegnete hierauf. Zehender ; vorläufig aber foll ih Sie benady- richtigen, daß wahrfcheinlich fchon in den nächſten Tagen ein Courier an den Kaifer abgeht, welcher ein gut Wort für das unglüdliche Hamburg mitnehmen wird.

Die drüdende Noth der Bürgergarde fuchte Perthes durch Schritte die er bei Benningfen und in London that, zu erleichtern, aber ver- gebens; nun brachte er in Form einer Anleihe bei wohldentenden Männern namhafte Summen zufamınen, durch mwelchE wenigftend für Unterhalt und Kleidung einige Hilfe möglich ward. Die Stadt werde, fagte er in feiner Aufforderung, diefe Schuld fünftig ‚gewiß erfennen und fie ala Ehrenſchuld vor jeder anderen abtragen. Für Smibt fertigte Perthes mit unfäglicher Mühe eine Zufammenftellung der Ver- luſte an, welche Hamburg durch die Franzofen erlitten hatte, und

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unabläffig war er bemüht, dem Hauptquartier des Generals Ben- ningfen Männer zuzuführen, welche die nöthigen Nachmeifungen ge- ben fonnten. |

Die zum großen Theil noch erhaltenen Briefe aus jener Zeit ge- ben ein Bild von ber faft unglaublichen Maſſe von Anforderungen, ‚welche an Perthed während feines Aufenthaltes in Flottbeck aus der Nähe und Ferne in Meinen und in großen Dingen gemacht wurden. Das Hauptquartier der Ruflen und das des Kronpringen, die leiten» den Männer in Lübeck und in Bremen, Unglüdfide aller Art und Männer aller Parteien wendeten fih an ihn, um Auskunft, Rath und Unterftüßung zu erhalten oder um ihre Abfichten mit feiner Hilfe durchzuführen. Perthes bekleidete fein Amt und hatte feinen Rang, und dennoch war ed, wie wenn er im Mittelpunfte der Gefchäfte ftände, welche fih auf dad Schidjal Hamburgs in diefen Wochen bezogen.

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Die Zeit vor der Rückkehr nach Hamburg und die Ansfichten für die Zuknnft. Januar bis Mai 1814.

Perthes hatte bie legten Tage in Flottbeck trübe und niederge- drüdt durch Arbeit und Sorge zugebradht. Keinen Brief, fein Wort von Dir, meine geliebte Caroline, hatte er am 17. Januar geſchrie⸗ ben; wie ift died möglih? Ich fühle mich fehr unglüdlich bier und fhmachte nad Dir und den Kindern, aber ich darf nicht fort, da die Rettung einer großen Sache von meiner Gegenwart abhängen fann. Seit unferem Fortgang von Hamburg iſt mir fein unglüdlicherer Zu- ftand geworden als biefer, und nun auch feine Nachricht von Euch. Es ift gewiß ein großes Unglüd gefchehen: mein Bernhard lebt doch noh? Er war frant, als ich fortging. Dad Kind, ein Knabe von ungewöhnlicher Schönheit und ungemöhnlichem Leben, lebte zwar noch, als Perthes diefe Zeilen fchrieb, aber e8 rang ſchon mit dem Tode und zwei Tage fpäter, am 19. Januar, nahm Gott es zu fich.

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Mein lieber Perthes, ſchrieb Caroline unmittelbar nach dem Tode des Kindes, was ih gefürchtet, ift wahr geworden: unfer lieber Bern- hard ift recht franf, und obgleich der Arzt mir noch geftern Abend verficherte, daß er ihn nicht für gefährlich halte, fo bin ich Doch voll Angft und Sorgen und fürchte alles. Ich wünfchte unausſprechlich um Deinet» und meinetwillen, daß Du bier wärft. Er leidet freund« lich wie ein Engel und er ift mein Engel in Ewigkeit. Gott ftehe und bei mit feiner Kraft! Was foll ich e8 Dir verhehlen? unfer En- gel ift bei Gott; diefen Morgen um halb zehn Uhr ift er geftorben. Er fieht wunderbar ſchön aus, und ih bitte Di, komme fo ſchnell wie möglich, damit Du feine liebe Leiche noch einmal fiehft, ehe fie fi verändert. Perthes hatte bei der Unterbrechung ded Poſten⸗ laufes weder dieſen Brief noch die früheren Nachrichten von der Krank. heit des Kindes erhalten und trat am 21. Januar wohlgemuth mit der Frage in Carolinens Zimmer: Sind alle wohl? Ich mußte mei- nen armen Perthes zur Leiche des lieben Kindes führen, ſchtieb Ca⸗ roline ihrer Schwefter, er wurde heftig in feinem Schmerze, und die Sorge um ihn brachte mich über die ſchrecklichen Tage fort. Wenige Stunden nad feiner Ankunft in Kiel erhielt Perthes die Aufforderung , fogleich nad) Pinneberg in das ruffifche Hauptquar⸗ tier zu gehen, um im Namen des Ktronprinzen die. weiteren Echritte zu verabreden, durch welche die Roth der vertriebenen Hamburger ge mildert und vielleicht die gutwillige Uebergabe der Stadt befchleunigt werden könnte. Wenn Du in diefer Zeit und in ſolchen Berhältnifien gerufen wirft, jagte ihm Caroline, fo mußt Du folgen. Perthes aber fühlte fi körperlich unfähig zu gehen. Catolinens Heldenmuth war größer, fchried er, ala meine Kraft. Nicht früher als am 27. Januar vermochte er ed, fi vom Haufe zu trennen. Durch meine fpätere Ankunft ift, Gottlob, nichts verfäumt worden, fchrieb er von Pinneberg aus an Caroline; fonft aber fieht ed mit dem Menſchen⸗ jammer ebenfo aus, wie dor acht Tagen, und zu dem Alten kommt noch Neues hinzu. Sei ſtark, meine Geliebte möge Gott und nicht weiter srüfen wir halten ja ftille! Worte habe ih mit Dir nicht weiter gu maden für die Ewigkeit verftehen wir und auch ohne Worte.

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Gott füge Dich und meine geliebten Kinder und halte und die in Liebe, welche ruhen.

Das Elend, welchem Perthed auf jedem Schritte begegnete, er⸗ laubte ihm nicht, dem eigenen Schmerze nachzuhängen. Alle feine Kräfte nahm er zufammen, um Einheit in die Anftrengungen zu brin- gen, welche vom Kronprinzen von Schweden und von den Städten Altona, Lübeck und Bremen zur Rettung der Vertriebenen, deren Zahl zwifchen zwanzig und dreißig TZaufend betrug, gemacht wurden. Große Sammlungen find in den bedeutendften Städten Europa's für die Unglüdlichen angeftellt, berichtete er dem General Oppermann, aber die eingelaufenen Gaben befinden fih in den Händen von vielleicht hundert Privatperfonen, und wir erfahren oft nur durch die fünfte, fechöte Hand, daß hier oder da Geld für und vorhanden fei. Des⸗ halb habe ich den Plan zu einer Gentralunterftügungebehörde entwor- fen, der in den verſchiedenen Orten bereit? genehmigt if. Der Gentralverein trat bald ind Leben und übte unter dem Borfige de? tätigen und fräftigen Senatord Abendroth eine Wirkſamkeit, die vielen Unglüdlichen Rettung aus der äußerſten Roth gemährte. Per⸗ the felbft war, um dem eigentlichen Sige der Noth möglichft nahe zu fein, auf van der Smiſſen's Mühle an der fogenannten Teufeld- brüde in Slottbed einquartiert und mußte, da die Ruffen am 9. Ye bruar in derfelben Mühle ein fliegended Lazareth zur Anlegung ded erften Verbandes errichteten, feine Arbeiten unter dem Gejammer der Verwundeten und Sterbenden vornehmen.

Meinen Brief vom 7. Februar, Deinem vierzigften Jahrestag, Du meine noch immer jugendliche Braut, wirft Du erhalten haben, jchrieb Perthes von hier aus an Caroline; wie gerne wäre ich in Deine Arme geeilt und hätte Dich and Herz gedrüdt! Sei getroft, meine geliebte Caroline: was fich liebt und recht liebt, das lebt; unfere ge- liebten Entjchlafenen find gewiß durch irgend einen Zufammenbang der Liebe an und gebunden. Hier geht e3 feit diefer Nacht drei Uhr ehr, fehr ernfthaft ber. Auf der Wilhelmsburg, in Neuhof, in Har- burg werden die Franzoſen von allen Seiten angegriffen, und man- cher der Unfrigen ift fhon verwundet gebracht. Ein fehr braver jun⸗ ger Mann, Boltmann, wird heute noch fterben; er ging geftern fo

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heiter ab, fein Vater, ein wackerer Handwerksmann, hatte grade Die- jed Sohnes? wegen aus Hamburg flüchten müften und fteht nun hier tief betrübt, doch fügt ihn die Ehre, daß fein Sohn fo fich opferte. Neben mir liegt ein ruffifher Gapitän, ein alter Mann über fünfzig Jahre; er ſchrie, ald ihm die Kugel heraudgefchnitten wurde, daß das Haus erbebte. Unter Blut, Aechzen, Stöhnen ſitze ich nun unter Sterbenden; aber ich hoffe zu Gott, die Sache führt zu einer Ent» fheidung. Da kommen wieder: drei Wagen mit Berwundeten, und es ift fein Pläplein mehr im Haufe, neun Todte liegen ſchon der Reihe nach vor meiner Thür im Schnee. Wärft Du doch bier, um helfen und pflegen zu können, es ift wunderbar zu jehen: diefe wil- den Menſchen nun fo ftill und zahm. | Das Elend der Vertriebenen und der Sammer der Berwundeten in feiner unmittelbaren Nähe erfüllten Perthes, deffen Gemüth durch den Berluft des Kindes in anderer Weife noch als durch die Schreden der großen Zeit wund und weich geworden war, mit einem Grauen und einem Entfegen, wie er es früher nie gefannt hatte. Zugleich mußte er auf den durch tiefen Schneefall unwegfamen Straßen feinem Körper felbit dann noch maßlofe Anftrengungen zumuthen, als er durch einen unglüdlichen Sturz aus dem Wagen fich eine gefährliche Berlegung am Fuße zugezogen hatte. Ringsum führte ein bösartiges Nervenfieber dag Regiment, und den Keim desfelben trug Perthes mit fh, als er am 16. Februar Flottbed verließ, um im Hauptquartier und- in Lübeck einige Einrichtungen zur Unterftügung der Vertriebenen zum Abſchluß zu bringen. Wenn ich fomme und etwas hinfe, fo er- ſchrick nicht, „fchrieb er von hier aus an Garoline; ich bin vom Wagen gefallen und habe eine Flechfe gequetfcht; ein paar Tage weiter und. ed wird wieder gut fein. Am 19. Februar langte Perthes in Kiel an. und nun fand. fi, daß das Bein gebrochen war. Ich hoffe, mein künftiger Lebensbeſchreiber wirds erzählen, fehrieb er noch ſcher⸗ zend an Sievefing, daß ich fait vierzehn Tage auf einem gebrochenen Beine umbergeftiegen und auf Nequifitiondfarren an zwanzig Meilen umbergefahren bin. Neun lange Wochen war Perthed nun an das Bett gebunden und ein gewaltſamer Ausbruch des Nervenfieberd brachte ihn während der eriten Zeit feined Krankenlagers in große Ge- Perthes' Eben 3. 4. Aufl. 18

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fahr. Bald aber trug feine gute Natur den Sieg davon und er hatte nur von der Qual des Stilliegend zu leiden. Hier habe ich nun nad manden Irrfahrten feft vor Anker gehen müſſen, fehrieb er an Beſſer. Es ift hart, fo ein Schickſal in dieſem Augenblid! Hätte mans noch von einer Kugel, fo ließ man ſichs gefallen. Seinen guten Muth indeffen verlor Perthed auch jest nicht. Mein lieber Perthes bat fi im Liegen und Leiden wie im Kahren und Handeln bewährt, ſchrieb Caroline; während feine? langen Kranfenlagers ift er feinen Augenblid ungeduldig oder verdrieplich geweſen. Sch freute mich, daß er bei und war und ich ihn hegen und pflegen konnte; die Kinder waren alle gefund und wir waren fo vergnügt, wie wir e8 fein konn⸗ ten. Un geiftigen Anregungen fehlte e8 für Perthes, fobald die erfte Kraft der Krankheit gebrochen war, nicht. Reinhold, Graf Adam Moltke, Hegewiſch, die beiden Grafen Reventlow, Dahlmann, Pfaff, Graf Chriftian Stolberg, die Hamburger Ferdinand Schwarz, Jakob Dppenheimer, Anton Schröder, ferner Rift und der alte Schönborn brachten manche belebte Stunde mit ihm zu. Brieflich und mündlich berieth er mit Beſſer, deffen Liebe und Treue ihm in diefer wie in je- der andern Lebenslage Troft und Halt gewährte, die Mittel und Wege zur Wiedereröffnung ihres Gefchäftes, und eifrig gab er fich der lang entbehrten Freude des Leſens bin. In Pütter's Entwidelung der deutfhen Reichsverfaſſung, in Friedrich Schlegel’3 Borlefungen und Lacretelle's Geſchichte Frankreichs fuchte er nach den Gründen, welche die Ereignifje der Gegenwart möglich gemacht hätten; die zahltofen Flugfchriften des Tages hatten auch ihr gutes Recht, und auf Nean- der's heiligen Bernhard wurde er Durch Nicolovius hingewiefen. So⸗ bald Sie fönnen, fehrieb diefer ihm, müſſen Sie Neander's heiligen Bernhard lefen: Sie werden erftaunen über Neander's Reichthum an innern Erfahrungen und über die ihm aufgehenden Blicke. Friedrich Leopold Stolberg bat mir mit dem gröpten Feuer darüber geſchrie⸗ ben und fragte mich, ob der Mann noch mehr leiften könne oder ſchon alt ſei. Sein Beifall auf der hieſigen Univerfität ift groß und fein Einflug muß fhön werden. Es ift rührend, mit welcher Einfalt ex die erhabenften Anfichten und Refultate feiner Studien vorträgt. Mehr indeilen als durch irgend em anderes Wert wurde Perthes j

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aufs neue durch Goethe’? Wahrheit und Dichtung gefeffelt. Wie die Bibel dad Buch des Leben? in Gott ift, möchte ich, fchrieb er da⸗ mals, Goethe's Wahrheit und Dichtung das Buch des Lebend in der Melt nennen. Alle übrigen ntereffen aber wurden freilich. Durch die gewaltige Gegenwart in den Hintergrund gedrängt. In zahl« lofen, nach allen Seiten hin gerichteten Briefen fuchte Perthes Einheit, Ordnung und Ausdauer in die Maßregeln zur Unterftüsung der Ver⸗ triebenen zu bringen, und aud vom Krankenlager aus ift fein Bes muͤhen nicht vergeblich geweſen. | Die Berhandlungen zu Chatillon, die neuen Siege Napoleon’s, das Bordringen der Verbündeten, ihr Einzug in Paris wurden ihm, noch bevor er das Zimmer verlaffen durfte, befannt und manches be- geifterte Wort der Hoffnung für die Zukunft fand nach dem entlege nen Kiel feinen Weg. Ja wir leben unter Gotted Wunder, ſchrieb Nicolovius in einem Briefe, den die Gräfin Luife Stolberg Perthes mittheilte. Was wir unfern Kindern mit fummervollem Herzen wünfchten, aber niemals zuzufidern wagten, dad haben mir felbit noch erlebt. Und diefe wunderfchöne Morgenröthe, welch einen Tag verheißt fie! in Gefchlecht, das fo fish erhob, wird nicht wieder fin« fen, fondern von Kraft zu Kraft in Ehren wandeln. Ja ich hoffe, wie im neuen Serufalem wird fortan Gott felbft unjere Sonne und die Quelle alles vollen echten Lebens fein; denn Bolf, Heer und Her fcher haben ihn erkannt und fi vor ihm gebeugt. Und was füm« mern mic) die Minifter , die doch nur nad) eitler Ehre geizig find und Bald nad) dem herrſchenden Geiſte jich drehen und wenden werden. Am 9. April endlich erhielt Perthes die Erlaubnis, von feinem lan- gen Aranfenlager aufzuftehen. ch habe, fchrieb er an Mar Jacobi, die Geduldsprüfung des Liegend fo ziemlich mit Ruhe und Heiterfeit ausgehalten. Immer hat mich wieder die große Zeit geftärkt, in wel⸗ her die Wahrheit fiegend wieder Freiheit, Ordnung und Liebe unter die Menfchen bringt. Gott ift und nahe und jeder fühlt, wie er mehr . gethan hat, ald er ſelbſt fich zugetraut hätte. Kein Saul ragt, Bott fei Dank, über dad Bolf hervor, dem man alles zu verdanken hätte, und fo fommt feine Abgötterei und der Dienft Gottes kann rein und herrlich daftehen. Laſſen wir die unglüdieligen Menfchen, die auch 18 *

276 jest zur lauten Freude und zum Jubel, das heißt zum Lobe Gotted . nicht kommen Tönnen, laffen wir fie in der Berfnöcherung und Ver⸗ fleinerung einer untergegangenen Zeit und halten und an der Jugend des aufgehenden Frühlings.

Am 19. April verließ Perthed mit feiner ganzen Familie Kiel und traf am 20. April in Blantenefe, einem Fifcherdorfe drei Stun- den unterhalb Hamburg, ein, wo er bis zum Abzug der Franzoſen aus Hamburg zu bleiben ſich entfchloifen hatte. |

Wir find, fehrieb Perthed von hier aus an Rift, am 20. Abends bei guter Zeit hier angefommen,, groß und Hein gefund und munter. Wir können von Glüd fagen, daß wir die Reife in den ſchoͤnen Tagen machten; heute liegt es draußen voll Schnee und- ich fehreibe mit er- ftarrten Fingern. Als wir in Pinneberg anlangten, war eben der Fürft Galligin mit der Depefche aus Paris nad) dem Marfchall Da- vouft abgegangen und alle meinten, nun würde fogleih capituliert werden: die Männer nahmen den Hut, die Frauen die Handſchuhe, un nad) Hamburg hinein zu ſpazieren. Mir ſchien das nicht wahr. fcheinlih, und jeßt, nachdem ich den Inhalt der Depefche erfahren - habe, die nichts enthält ala eine Auffordetung, ſich der Parifer Regie rung anzufchliepen, bin ich gewiß, dag Davouft fih zwar unterwerfen, aber die Uebergabe der Stadt, fo lange er kann, verzögern wird, um an Silber und Silberwerth fo viel als möglich einzuziehen und. dad Eingezogene zu verwechleln , zu verfteden und zu verichleppen.

So ungewiß indeflen der Tag der Befreiung Hamburg? aud ers ſchien, fo gewiß war e3, daß derfelbe innerhalb einiger Monate er- folgen müffe, und mit diefer Gewißheit traten zugleich alle Durch die Noth des Augenblicks zurüdgedrängten Hoffnungen und Befürdtun- gen für die fünftige politifche Geftaltung der Stadt aufs neue hervor. Es ftand nun feft, daß Hamburg, um der Gewaltherrſchaft entledigt zu werden, feiner eignen außerordentlichen Anftrengungen weiter be» durfte, und immer lauter fonnte die Partei ihre Stimmen erheben, welche fchon feit dem März 1813 jedes entfchloffene Auftreten der Bürger ald ein Unglüd für die Stadt betrachtet hatte. Heftig griff fie alle an, welche bei dem Herammahen der Ruffen nur in der allge meinen Erhebung der Bürger Rettung zu finden geglaubt. hatten;

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heftig wies fie jeden Verſuch zuräd, der eine Aenderung in den alten veichaftädtifchen Verfaſſungsformen bezweckte. Weber jugendlich leb⸗ hafte Köpfe hörte man Flagen und über Schwärmer mit Ideen und PBrojecten zu leichtfinnigen Neuerungen, über eitele Menfchen, die ſich ala Schöpfer einer neuen Berfaffung bewundern laffen wollten, über Intriganten, die fi) ein bequemes Leben zu fhaffen fuchten und hoher Protection fih rühmten. Nicht ohne tiefen Unwillen hörte Perthes “bald hier bald da diefe und ähnliche Meußerungen laut werden. Was. wir gethban haben, äußerte er damals, mußten wir thun; denn überall mußte erft der Glaube an die Unüberwindlichkeit Napoleon’d gebro- hen.und der zitternde Dienft vor diefem Götzen befeitigt werden; überall mußten die Regierungen erft wieder Zutrauen zu ihrem eige- nen Willen und ihrer eigenen Kraft erhalten, und dieſes Zutrauen fonnte ihnen nur durch das muthige Auftreten des Volke gegeben werden. Wie die andern Deutfchen find auch die Hamburger aufge- ftanden, und ohne foldhed allgemeine Aufftehen war für Deutfchland feine Rettung möglid. Nun iſt Deutſchland gerettet und Deutfch- land wird Hamburg auf Jahrhunderte hin die Freiheit gewähren, welche fein Privateigennup und feine Magiſtratsvorſicht und hätte er- werben können. Wo find die Schwärmer, fehrieb er ein anderes⸗ mal, wo find die Intriganten, wie heißen fie? Seid doch nicht zu feige, ihre Namen zu nennen. Sch will Eu zwar mit Bornamen und Zunamen die Männer von vorgerüdten Jahren bezeichnen, welche ver- möge der Befchränttheit ihrer Anfichten mit ſolchem bornierten Eigen: finn auf vorgefapte Meinungen beitehen, daß ihre leidenfchaftliche Hige weit hinaus über den Eifer aller Enthufiaften reicht; ich will Euch auch die jüngeren Männer namentlich bezeichnen, die nur ihrem Pri⸗ vatvortheil nachgehen und ſich nicht um das allgemeine Wohl beküm⸗ mern; ich will Euch die Jungen und Alten nennen, die alles, was andere thun, bekritteln, beräſonnieren und verklatſchen und, während ſie ſelbſt die Hände in den Schoß legen, auf Patrioten den Schein voreiliger und eigennuütziger Thaͤtigkeit werfen.

Perthes hatte die feſte Ueberzeugung bewahrt, daß Hamburg nur dann ſich wieder erheben könne, wenn in dem Senate wie in der Buͤrgerſchaft eine kraͤftige und entſchloſſene politiſche Bewegung mög-

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lich geworden fei. Zwar hielt er die frühere Berfaffung als Ganzes für ein beiwunderndwürdiged Meiſterſtück und glaubte nicht, daß fie einem neuern frifcheren Leben Hinderniffe entgegenfegen werde, aber in einzelnen Beziehungen ſchien ihm eine Fortbildung derfelben drin- gendes Bedürfnid. Er wuͤnſchte Gleichftellung der drei chriftlichen Gonfeffionen, freie, nicht, wie nach bisherigem Gebrauch, auf die aͤl⸗ teften Mitglieder des Sechzigercollegiumd befchräntte Wahl der Ober: alten, Berftärfung und Belebung der erbgefeifenen Bürgerfchaft durch Hinzutritt mehrerer Deputationen der Hunderte, der wiſſenſchaftlich Gebildeten, der Juden u. |. w., und endlich Feſtſtellung des Rechtes für die Bürgerfchaft, den Senat zur Vorlegung beftimmter Geſetzes⸗ entwürfe zu nöthigen. Viel umfallender ald in der Verfaſſung muß» ten nach feiner Anficht die Aenderungen in der Verwaltung fein, die in ihrer Geſamtheit einer Anfrifhung, Anpafjung und Umänderung bedürftig fei. Der Unthätigfeit der Mitglieder des früheren Senates gegenüber fchien e8 nicht fehwierig und, da die Stadt damals weder rehtmäßige Obrigkeit noch Verfaſſung beſaß, auch der Form nad ‚nicht widerrechtlich, die vielen ältern und jüngern Männer, welche feine unbedingte Herftellung des Alten wollten, zu vereinigen, um durch ein gemeinfames fräftiged Auftreten die Zuftimmung der ver- bündeten Mächte und die Nachgiebigkeit der einheimifchen Gegenpartei zu erlangen.

Manche fahen in Perthes den Mann, der eine folhe Vereinigung zu Stande bringen fönne und mülle. Perthes aber war befonnen genug, um zu willen, daß feine Lebendftellung ihm nicht geftatte, Auf- forderungen, wie fie damald an ihn gerichtet wurden, Folge zu lei- ften. Sie machen zu viel aus mir, fehrieb er. Wenn die Verhält- niffe e8 verlangten, bin ich gewiß nie aus dem Wege gegangen; oft habe ich mit nur zu großer Lebhaftigkeit zugegriffen: aber nun mid unberufen aufjumerfen, das thut nicht gut und geht auch nicht. Wohl weiß ih, womit Gotted Gnade mi auögeftattet hat, und preife und danke ihm dafür; aber um in einem fo bedeutenden Verhältnis aufzu- treten, muß man nicht allein Durch angeborene Anlagen, fondern auch durch den ganzen Gang ſeines Lebens den Ruf erhalten haben. Das aber ift bei mir nicht der all: mir fehlt willenfchaftlidhe Bildung

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und Erfahrung und Uebung im politiihen Geſchaͤftsgang; beides läßt ſich nicht aus der Taſche fpielen, Alles Revolutionäre aber muß vermieden werben und auf die Gewalt der Fürften möchte ich mich in feinem alle flüben.

Auch abgeſehen von der Erkenntnis feiner eignen Stellung war es Perthes mehr ald zweifelhaft geworben, ob nicht ein offner Partei- kampf im Innern der Stadt in diefem Augenblid größere Gefahren als die. in der Wiedereinführung alter abgeitorbener Einrichtungen liegenden hervorrufen werde. Aus dem großen Hauptquartier der Verbündeten mahnte eine warnende Stimme eindringlich von jedem innern. Zwiefpalt ab. Die Hanfeftädte können noch jept Darüber zu Grunde gehen, fhrieb Smidt, wenn fie e8 nicht verftehen, die Noth⸗ wendigfeit fremder Einmiſchung außzufchliegen. Den Verbündeten ge- genüber darf jede Stadt nur als ein einziger politifcher Körper, nie als getheilt in Parteien erfcheinen, von denen jede ein Berfchiedenes begehrt ; denn die Diinifter bier fagen ganz richtig: Wer in gegenmwär- tiger Zeit und nöthigt, und in feine inmern Angelegenheiten zu mis fhen und Friede und Ruhe in feinem Haufe zu ftiften, der muß, da- mit er die Erreichung ded einen großen Yield nicht ftöre, unter Vor⸗ mundfchaft gefeßt werden. So ift ed den Schweizern gegangen. er der Canton und faft aus jedem Canton jede Partei hatte Abgeord- nete geſchickt, und weil des Lärmens und Anfuchend fein Ende ward, hat man endlich, Lebzeltern und Capo d’Iftria nach Zürich geichidt, um die Saden in Ordnung zu bringen. Die Hanfeflädte genießen Dagegen bis jest noch die vollfte Achtung, und diefe muß uns erhal- ten bleiben, koſte e8 auch was ed fofte. Kein Wunſch, fein Anſpruch kann fo wichtig fein, daß er irgend eine Partei bererhtigte, die Einig- feit der Stadt den Verbündeten als geſtört erfcheinen zu lafien. Alle mäflen Mäßigung beobachten und jept nicht? übereilen oder etwas ungeitig durchſetzen wollen; dann wird alled gut gehen. Gibt ed Ge- genftände, über die man fich nieht einigen Tann, fp fege man fie aus oder wähle Schiedsrichter aus den Beiten und Einſichtsvollſten der eig- nen Stadt oder im äußerſten Notbfall einer andern Hanfeftadt. Zu etwas weiterem aber darf es in feiner. Weife fommen.

Dem Gewichte dieſer Gründe ließ fich wenig entgegenjegen und

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jeder Berfuch, Umgeftaltungen der ftädtifchen Verhältniffe durch Ver⸗ mittelung der Verbündeten oder der fremden Generale hervorzurufen,

ward gänzlich aufgegeben. Um fo bewegter aber und heftiger wur⸗

den die Kämpfe, welche unter den Hamburgern, deren Zahl fidh. in Altona und deffen Umgegend täglich mehrte, geführt wurden.

Ad, lieber Perthes, fchrieb ihm em Freund, wenn Gott nicht alles noch anders fügt, ald wir es denken, jo wird die Zukunft Ham⸗ burg® trübe fein; denn bald werden nun die Menichen, deren be= fehränfte Armfeligfeit vor einem Jahre die freudige Erhebung ftörte, aufs neue wieder die alten Zügel mit ungewiffer Hand ergreifen und jede Hoffnung vernichten, daß diefe große Zeit auch unfer Gemein- weſen durchdringe und befeele. Ich will ja wahrlich fein neue? Haus; aber im alten Haus will ich einen neuen Geiſt. Nun aber treten unfere Berfafiungdaltflieler auf und wollen ohne neuen Geift es treis ben, wie es vordem träge und traurig getrieben worden if. Mas hen Sie fi) nur feine Sorgen, heißt e8 dagegen in einem Briefe, den Perthed von einem Bertheidiger der Gegenfeite erhielt; wenn wir nur erft unfer Samburg wieder haben; fo wird fehon alled gehen, mas unfere eitelen Schwärmer nicht zu Grunde richten. Die unverjtändi- gen Menſchen follen ja jest, wie ich höre, an einer neuen Eonftitu- tion arbeiten. Nun ich denfe, wir laffen fie arbeiten, vielleicht finden fih unter dem Wuſt einige gute Ideen, die man brauchen fann. Aber daß nur feine Factionen gebildet werden, mein verehrter Herr Pertheg, um Gottes willen Feine Yactionen! Was wollen denn nur diefe tollen Leute? und noch unglüdlicher machen, ald wir fehon find, und felbft eine große Rolle fpielen? Aber fie werden in der Gefchichte jämmer⸗ lich paradieren; denn darüber ift Doch wohl fein Zweifel, daß wir erniteren, gefeßteren Männer es find, welche allein von den Mächten unterftügt werden Fönnen. Aber wer will, wer kann folche Unter- flügung von außen wünfchen? Darum’fuchen Sie, mein lieber Herr Perthes, wenn Sie irgend etwas über diefe Menſchen vermögen, ihrer verkehrten Thätigfeit Meifter zu werden; die Leute find in jeder Hin- fit, fo wenig diefelben felbft glauben mögen, zum praftifchen Leben verdorben und haben durchaus feinen Tact dafür. Es laſſen

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ſich nun einmal die Menſchen und die Sachen in der Wirklichkeit nicht fo behandeln, wie in einem Roman.

"Immer fehroffer traten ſich die Ueberzeugungen gegenüber, im- mer vermorrener brauften die Meinungen durcheinander. Wie in als len Zeiten großer politifcher Entfcheidungen trat auch damals die zähe Selbftfucht derer, die conferviert, und die gierige Selbftfucht derer, die neu eingeführt willen wollten, was gerade ihnen für ihre Perfon gut that, laut fich geltend machend hervor und ließ die Männer, welche weniger ſich als das politifche-Ganze, dem fie angehörten, wollten, faft wie nicht vorhanden erfcheinen. Es war ſchwer, fich zu entſchei⸗ den, ob man den Kämpfenden der einen oder der andern Seite fich anfchliegen wollte. Es offenbaren fich fo viele gemeine Gefinnungen, fchrieb Perthes am 10. Mai an Billerd, und durch die lange Verzö⸗ gerung der Räumung Hamburg erhigen fi die Gemüther fo fehr, daß ich für rathfam ‚halte, dem Gedränge erft etwas zujufehen, bid man flar wird, wo der Weg zum Beſſeren und Kräftigeren ſich ebnet. Noch ift mir ed nicht entfchieden: foll man mit wohlgefinnter, wacke⸗ rer, feiter Obrigkeit zur Schlichtung unruhigen, unbeftimmten Volkes binarbeiten, oder foll man da8 Streben und Drängen der Bürger aller Claſſen, alte Lahmbeit und Feigheit aus den Behörden zu fegen, unterftügen? Die Zeit wirds lehren.

Während die an fich ſchon kleinen Berhältniffe der einzelnen Stadt nun durch das widrige Gezerre felbftfüchtiger Leidenfchaften auch klein⸗ lid) geworden waren, trat die Größe und die Großartigkeit der Beger benbeiten, in denen die Entfcheidung für Deutſchlands Zukunft lag, mit wachfender Stärke hervor. Zunächſt wurde der Unterſchied zwi⸗ fchen den Lebendregungen innerhalb eines Theiled der Bürgerſchaft Hamburgs und der gewaltigen Erhebung Preußens feharf und fchnei« dend durch Niebuhr vor Perthes' Augen geftellt. Niebuhr war feinem gefamten Lebensgange nach nur wenig zugänglich für eine allge mein deutfche Begeifterung, und von der Größe, die fih in Preußen offenbarte, fo erfüllt, daß ihm der rechte Maßſtab für das, was au- Berhalb Preußen geſchah, fehlte. Er mußte fih daher durch die Stimmung, in welcher Berthes fih befand, unangenehm berührt und zurüdgeftoßen fühlen; denn Perthes hatte Auge und Herz ausfchließ-

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lich Deutfchland zugewendet und glaubte in Preußen eine Richtung zu erfennen, welche, weil fie nur Preußen wolle, Deutſchland gefähr- den müfle. Zugleich erfchienen ihm die Verhältnifie, in denen er felbft fich bewegt hatte umd in denen er felbft eine treibende Kraft geweſen war, ungeachtet des großen Unterfchiedes in Rückſicht auf ihre eingrei- fende Bedeutung, dennoch ihrem innern Wefen nach gleichartig mit dem Größten, was in Preußen gefchehen war. Perthes hatte wäh—⸗ rend feined Aufenthaltd in Bremen, als ed darauf ankam, die dor« tigen jungen Männer für die hanfeatifche Legion zu gewinnen, einen Aufſatz, der die Opfer und Thaten Hamburgs und feiner Legion in einem mehr der aufgeregten Stimmung des Schreiberd wie der Wirk- lichkeit angehörenden Glanze erfcheinen ließ, gefchrieben und denfelben auch dem unter Niebuhr'd Leitung ftehenden preußifchen Correfpon- denten eingefendet. Um diefelbe Zeit erhob er in einem Briefe. an Niebuhr die Herrlichkeit des Beifpield, welches Hamburg gegeben habe, in Ausdrüden, die nichts weniger ald genau abgemefjen waren, und ſprach die Meinung aus, dag der Stadt, welche für alle ſich geopfert babe, auch von allen geholfen werden müffe. Riebuhr war gereist und erklärte im preußifchen Eorrefpondenten mit feiner Namendunter- ſchrift, wie die Hamburger Infurrection, deren trübfeliges Ende aus ihrem Anfang und Fortgang unvermeidlich gefolgt fei, mit dem tie- fen Ernft der preußifchen Anftrengungen nicht verglichen werden dürfe; denn wenn Hamburg geleiftet, was Berlin gethan habe, fo hätte es fih durch eigene Kraft ohne alle fremde Hilfe behaupten Tönnen.

Wie ich Sie anſehe, fchrieb er an Perthed, Sie, der Sie fich be- währt haben, wie Ihre Freunde ed erwarteten, habe ich nicht nöthig zu erflären; aber dem Hiftorifer muß man nicht zumuthen, ein Bolt fo unfriegerifher Art, wie Ihre Hamburger, deffen Angejebene feine andern als Gewerbaedanten haben, und eine jo unrühmlich gefallene Stadt, wie Ihr Hamburg, auszeichnend rühmen zu hören, ohne ſol⸗ ches Rühmen eine parteiifche und ärgerliche Mebertreibung zu nen- nen. Längſt fchon, äuferte Niebuhr etwas fpäter, hatten die ifo- lierten handelnden Städte fein anderes als ein gefrifteteö Leben ohne alle politifche Regungen gehabt. Solche Bürgerfchaften waren mit dem Glüde des Schilfes fehr zufrieden und fahen es als ein Borrecht

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an, fih vor dem Winde zu ‚beugen. Männlichkeit befteht nur bei den Bürgern eine? Staat? voll freien Lebens, der ald Gefamtheit mit eigner Kraft fih behaupten kann. Volles Leben ift jet nur in gros Ken Staaten möglich, die das Gleichartige zufammenfaflen. Man» ches heftige, aufgebrachte Wort wechfelten im Frühjahr 1814 die al« ten Freunde, und Perthes fchrieb fo erbittert über Niebuhr, dap Nico» loviud ihm entgegnete: Auch ih mag zwar das Rechten in folchen Zeiten fo wenig wie Sie und ich bin überzeugt, daß man in feinem Berhältni Fed abjprechen darf, fobald nur der gute Geift fich regt, da e3 hier wie im Evangelium ein Scherflein gibt, dad. mehr werth ift als reiche Gaben und große Thaten; aber thun Sie Niebuhr nicht Unrecht, wie in Shrem legten Briefe an mid. Sie combinieren nicht richtig und ziehen falfche Schlüſſe. Erhalten Ste ihm Ihr gan- zes, volled Bertrauen, denn er verdient es. Cr ift nicht nur einer der tiefften, reihhaltigften Menfchen, fondern auch einer der reinften. Reizbar und daher biömeilen ungerecht fann er fein, aber immer ift er voll Demuth gegen die Guten und vor allem Göttlihen, Höheren.

Um den Preiß eines, wie damals fheinen mußte, unbeilbaren Bruchs mit dem Manne, welchem er durch gemeinfchaftliches Gefühl und einftimmigen Sinn in leidensvoller Zeit nahegetreten war, hatte Perthes die Gewißheit gewonnen, daß ein großes geiftiged Ringen bevorftehe zwiſchen denen, die durch das deutfche Voll, und denen, die durch den preußifchen Staat Deutſchlands fünftiges Geſchick be ftimmt wiflen wollten. Manche bange Sorge mußte durch die Aus⸗ fiht auf einen ſolchen Kampf hervorgerufen werden; aber ber helfen den Hand von oben, die fo eben aus der ſchrecklichſten Noth geret- tet hatte, durfte niemand fein Vertrauen für die Zukunft verfagen. Warm und lebendig legte Nicolovius diefen Glauben Perthed an das Herz. Da ich heute ficher ein Blatt in Ihre Hand bringen kann, heißt e3 in einem Briefe desfelben vom 7. Mai, fo fehreibe ich Diefe Zeilen, mein lieber alter herrlicher Perthed. Gott im Himmel hat es doch befier gewollt und beſſer verftanden ala die klugen Köpfe in Chatillon, die fih mit dem Böfen vertragen wollten und nicht wuß⸗ ten, wie Gott wunderbar hilft, wenn man von ganzer Seele etwas großes will und die Erde mit Füßen tritt. Diefe mächtige, gewaltige,

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gänzliche Hilfe wird auch Ihnen neues Leben in Bein und Herz ges geben haben und das Unterpfand eines herrlichen Lohnes jein für alle Aufopferungen, die Sie gemacht haben. Werden Sie forthin, was Sie wollen und mid freut ed, daß Sie wieder Buchhändler fein wollen. Die Krone von Ihrem Haupte und den Orden von Ihrer Bruft und das gute Bewußtfein in derfelben wird Ihnen nie- mand nehmen und taufendfacher Segen wird Ihnen auch im Leiblis hen zu Theil.werden. Das ift mein Glaube und ich höre den Him- mel dazu Amen fprechen. Laſſen Ste und guten Muth haben für alle Krankheiten, die noch zu heben und zu heilen find, namentlich au für die Uebel arger Staatöverfaffungen oder Unverfaffungen. Eine Zeit, in der die Wolfen fo getheilt und Gott fo fihtbar unter und erfihienen ift und die Völker feiner Erfcheinung fo inne geworden find und Augen und Hände zu ihm aufheben, kann nicht porbeigehen wie ein Sonnenblid, fondern muß neues, echt menſchliches, das heipt frommes Leben erzeugen, und wir, die wir und rein gehalten und feine Gemeinfchaft gemacht mit dem Fürften diefer Welt, werden noch unſeres Lebens und freuen und, gefegnet und Gott, anderen helfen und wohlthun fönnen. Die neue Zeit wird fortichreiten und wir werden immer neue Wunder erleben. Halleluja!

Die großen Eindrüde, welche von diefen und manden andern _ Seiten auf Perthes einwirften, verfchafften ihm die Weberjeugung, dag Die Zukunft Hamburgs weniger durch den Gang des eignen ale durch den des allgemeinen deutfchen Lebens ihre Geftaltung erhal⸗ ten werde. Die Herftellung diefer oder jener ftädtifchen Einrichtung verlor nach diefer Anficht vieles von ihrer Wichtigkeit und mit grö- Berer Ruhe und größerem Gleichmuthe konnte Perthed von nun an die Creigniffe betrachten, unter deren Einfluß Hamburg zu feiner früheren Selbftändigfeit zurückkehrte. Weberall fah er Gährung und Bewegung, überall im Großen die Gegenfäße, die Hamburg im Kleinen darbot. Mich quält, fehrieb ihm Achim von Arnim, die Sorge, daß jekt alle fo dumpf und lebenslos enden fönne wie nach dem dreißigjährigen Krieg. Die elende Sorge Deftreih® hat ange- fangen, alfe andern Regierungen zu ergreifen; aber dennoch hoffe ih, daß die ſchändlichſte aller Arten Furcht, dag die Furcht vor der

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Freiheit der Völker endlich vor dem Triumphe über den confequente- ften aller Tyrannen ſchweigen wird.

Bereits feit den erften Tagen ded Mai war durch PVermittelung eined aus Paris gefendeten franzöfifchen Generals mit Benningfen über die Uebergabe der belagerten Feſtung zunächſt an einen preußis hen General verhandelt worden, und noch immer hielten die Mit- glieder deö alten Senat? e3 für zu gewagt, außerhalb Hamburgs zu⸗ fammenzutreten und als die rechtmäßige Obrigfeit der Stadt Antheil an den Verhandlungen über diefelbe zu nehmen. Endlid am 12. Mai langte General Gerard an und leitete an Davouft’ Stelle den all⸗ mäbhlichen Abzug der Franzoſen ein; aber auch jeßt war von dem Senate niht8 zu hören und zu fehen. Nun freilih haben die Herren eine Entſchuldigung für ihre Feigheit, fehrieb dDamald Perthes; denn Ge- neral Gerard foll gefagt haben, fo lange eine franzöfifche Compagnie in Hamburg fei, werde er feine andere Behörde einreden laffen, jon« dern die Stadt als eine franzöfifche betrachten. Nur die Feigheit der Unfrigen, fügte Perthes hinzu, hat foldhe Anmaßung hevorgerufen; denn auch dem Erbärmlichften muß der Kamm wachſen, wenn er noch Erbärmlichere fih gegenüber fieht. Ein Blid auf dad Ge⸗ wirre der Meinungen, welches in den zahllofen Conferenzen der Ham- burger in Altona ſich zeigte, Tieg mit Gewißheit vorausfehen, daß unmittelbar bei der Herftellung der früheren Verfaſſung fein durch⸗ greifender Schritt zu deren Belebung und Erneuerung gefchehen werde; um fo nothwendiger erfchien e8 daher, daß die vielen durch den Tod erledigten Stellen im Eenate und im Oberaltencollegium mit fräftigen und raſchen Männern wieder befegt würden. Iſt nur das der Fall, fchrieb Perthed, fo. mug man bei der jegigen Lage der Dinge zufrieden fein und dem rafcheren und befjeren Geifte unſerer Zeit fih vertrauend überlafien, it es aber nicht der gall, fo muß man wirken und thätig. fein, felbft auf die Gefahr hin, daß für: den Augenblid Unruhe und Unheil entftehen könnte. Am 26. Mai machte der alte Senat befanmnt, daß er in Amt und Würde wieder eingetreten fei, und alö die am folgenden Tage verſammelte erbgefef- jene Bürgerſchaft auf drei Monate eine Commiſſion von zwanzig Mäns nern erwaͤhlt und mit den Verhandlungen über die Reorganijation

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der Stadt beauftragt hatte, waren die Verſuche zur Fortbildung der Verfaſſung und zur Belebung der Verwaltung in den hergebrach⸗ ten Gang des ſtädtiſchen Lebens gebracht worden. Bon jept an darf ich, fchrieb Perthed, Feine andere Beziehung zu den öffentlichen. Ber- bältniffen haben, als die ift, welche mir mein Recht ald Mitglied der Bürgerfchaft und mein Einfluß auf meine Freunde von felbit gewährt, und Gott bin ih von Herzen dankbar, dag mir im reichiten Maße meiner Mitbürger Liebe und ein Vertrauen geworden ift, welches fonft einem Manne felten gegönnt wird, der ein andered und ein mehreres that, ala fein häuslicher Beruf von ihm verlangte.

Der Tag, an welchem Perthes mit Frau und Kindern Blanfe- nefe verlaffen und nach Hamburg zurüdkehren konnte, war nahe heran- gerückt. Diefe ſechs Wochen in Blanfenefe, ſchrieb Caroline an ihre Schweſter, find dad Confect meined Lebens gewefen. Ich hatte Perthes bei mir, die Kinder waren gejund, und die Hoffnung auf Befreiung unferer Stadt wurde mit jedem Tag größer. Da wehte plöglich in Harburg und vom Michaelisthurm in Hamburg die weiße Fahne, und nun ftrömten von allen Seiten die Vertriebenen wieder der Stadt zu. Wir wohnten nahe an der Elbe und konnten alle, Die von Bremen und aus dem Kannöverifchen zurüdlehrten, ankommen jehen. Einmal wurde und ein ganzer Wagen voll Fleiner Finder zu- gefhicdt, deren Eltern im Kranfenhaufe zu Bremen geftorben waren, Große Scharen von armen Audgehungerten zogen mit vielen Kin- dern und weniger Habe bepadt an unferen Fenſtern vorbei, und wun⸗ derbar groß und rührend war die Kiebe zu Haus und Herd erfichtlich, obgleich die meiften nur Jammer und Elend zu erwarten hatten. So wie die armen Leute and Land fliegen, brachen fie ſchweigend Zweige von den Bäumen, und alt und jung bi? auf die Fleinften Kinder her- unter befamen einen Buſch in die Hand und dankten Gott unter Freudenruf und Zrauerthränen für die. Erlöfung von dem großen und allgemeinen Uebel, wohl wiſſend, daß ein jeder feinen Privat- paden mit hineintrüge in die Stadt.

Am 31. Mai hielt General Benningfen mit den Ruflen und der Bürgergarde feinen feierlichen Einzug. Am Morgen diefes Tages brach auch Perthed mit feiner ganzen Familie in Blankeneſe auf und

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fehrte von Altona aus in der Mitte der eingiehenden Truppen in die Stadt zurüd, Die er grade vor einem Jahre hatte verlaffen müflen. Die Geifteäftimmung, mit welder er in feine frühere Stellung und in feinen früheren Beruf wieder eintrat, läßt fich aus den Briefen er- jehen, die er in diefen Wochen an Villers und an H. Sacobi fchrieb. Ich habe manches wirklih Harte und Schwere getragen, heißt e8 in diefen Briefen; aber wahrhaft unglüdlich ift der Menſch nur, wenn er mit Gott, mit fih und mit der Welt irrig, ungewiß und uneind iſt. Das aber war ich nie. Ich weiß, daß Gott im Himmel ift und daß fein ewiged Wort durch Sefum Chriftum zu und gefpro- hen hat, und ih weiß, daß fein Volk und kein einzelner im Bolte fremde Herrfchaft dulden darf und, um fie nicht zu dulden, alles und jedes irdifhe Gut opfern darf und muß. An diefe einfahe Wahrheit babe ich mich gehalten, und fie war mir bisher genug. Um ſchlechte, gute oder befte Staatöverfaffung mich zu quälen, hatte ich nicht nö- thig; ich konnte thun, was ich nicht laſſen durfte, und darum ſehe ich auch jeßt ruhiger und zufriedener in die Zukunft als viele andere. Unfer deutſches Vaterland ift zum Kern und Inhalt der großen euro- päifchen Staatenrepublit beftimmt. Europa ift nicht beftehend ohne Deutſchland und bedarf feiner jeden Augenblid, um europätfches Les ben leben zu fönnen, und Deutfchland kann zu Feiner politifchen Ges ftalt und zu feinem politifhen Zuftand oder politischen Vollkommen⸗ heit berufen fein, die diefer feiner Beftimmung widerfprechend wäre. Wir armen Deutfhen müſſen uns fhon bequemen, ald Inhaber der Ideen und ala Aufiteller der Ideale, durch welche das Uebergewicht Europa's über die übrige Welt gefchaffen wird, ein etwas unbeque-. med und durcheinander wogendes Leben zu ertragen. Bei jeder Un⸗ zufriedenheit mit dein, was unferm Baterlande zu Theil wird, müß- ten wir und fhämen, wenn wir die Schuld auf Kaifer Alerander oder auf das englifche Parlament fchieben wollten. Bon dem Augen- blid des Einzugs in Paris an hätte jeder Kaifer Alerander ein ruffiicher Kaifer und jedes englifche Parlament ein englifches fein müffen. Daß andere für und fämpfen und fterben, dürfen wir nicht verlangen, und müffen uns ſchämen, es auch nur zu wünſchen; für Deutſchland haben wir und mir allein zu forgen und zu ringen, und was aud)

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der große Congreß, der nun in Wien bevorſteht, gebäre, die deutſche Nation wirds ſich ſchon bilden und fo lange fih wenden und winden, bis das Nechte zu Tage gefördert ift; und unfere Fürſten am wenig- ſten haben ein Recht, über Unrecht zu Hagen, das ihnen etwa jet willfürlich zugefügt werden ſollte. Was aud) fomme, die franzöfis che Nation hat viel Zeit gebraucht, um auf conftitutionellen Boden zu gelangen, fo wie Napoleon, um auf großen Ummegen von Cor» fica nad Elba zu fommen. Diefe Zeit und diefer Raum find mit Sammer, Blut und Elend angefüllt, ‘aber die Refultate rechtfertigen die Weltregierung. Was auch fünftig große und Kleine Tyrannen be= ginnen mögen, es wird ihnen doch nicht möglich fein, den Geift ord⸗ nungdmäßiger Freiheit, den Sinn für Verfaffung und für ftändifche Nechte bei den Völkern zu unterdrüden. Hat es doch auch, feitdem dad ChriftenthHum in die Welt trat, noch Aberglauben und Unglau⸗ ben genug gegeben, und ſchlechte Päbſte und Dumme Superintenden- ten haben ihr Unmwefen getrieben; aber hohe, geiftige Idee, Sinn für göttlichen und ſittlichen Adel find nicht wieder auszulöſchen gewe—

fen. Klinger hät gefagt, die franzöfifche Revolution fei ein Schau- -

fpiel, worin Hölle und Erde thätig waren, aber der Himmel ſchweige. Nun hat der Himmel gefprochen, und er wird nicht wieder ſchweigen. . Getroft für mich gehe ich der Zukunft enigegen und voll guter Hoff« nung für meine Kinder.

Drud von Fr. Frommann in Sena,

Friedrich Perthes Leben ſchriftlichen und mündlichen Mittheilungen

aufgezeichnet von

Olemens Theodor Merihes,

ordentlihem Profeflor der Rechte an der Univerfität in Bonn.

Zweiter Band. Vierte Auflage.

Gotha. Verlag von Friedrich Andreas Perthes. 1857.

Borrede

Dar erfte Theil des Leben? meined DBaterd hat einem weit größe- ‚ren Kreife, ald ich erwarten konnte, Freude und auch Stärkung in fhwerer Zeit gebracht; ich fürchte nicht, daß dieſer zweite Theil dem erſten nachſtehen werde. Den vielen Bekannten und Unbekannten in allen Theilen Deutſchlands, welche das, was meine Eltern ih⸗ nen gewährt haben, auch mir zu ſchulden glaubten, ſage ich für die freundlichen Zuſchriften, die einzeln zu beantworten unmöglich war, meinen herzlihen Dank. Behalte ich Kraft und Gefundheit, fo hoffe ih fpäter in einem dritten und lebten Theile die reichen Erfahrungen auch der legten zwanzig Lebendjahre meines Baterd mittheilen zu fönnen.

Bonn, im Mai 1851.

Berthes.

Inhalt.

Drittes Buch.

Die Verſuche zur Wiedereinrichtuug in Hand und Stadt und Staat feit der Befreiung Dentſchlands. | 1814— 1816.

Geite Perthes' Rücktritt in die früheren Berhältniffee Sommer 1814. . . » 3

Die politifchen Stimmungen während des Wiener Congreffes und des zweiten Defreiungsfrieges. Herbft 1813 bie Herbſt 1815.» oo 2 0. 0. 0

Perthes' Thätigkeit für die leidenden Stände und feine Erfahrungen in ber Bamilie 1814 und 1815. 0 0 0 0 0 0 ee ee een. 37

Die politifchen Ausfichten nad dem zweiten Barifer Frieden. Herbſt 1815 bie Herbfl 1816. . 0. 0. 0 00, 08 8 8 1 L 1 1 RL Tr. 0

57 Perthes’ Anfichten über die Bedeutung des. Buchhandels für Deutfchland, . 72 Perthes' Reife nach Frankfurt am Main 19. Juli bie 4. Auguft 1816. . . 80 Perthes' Aufenthalt in Frankfurt, Heidelberg und Stuttgart. 4. Auguft bie

20. Auguf 18116. 2 2 0 0 0 2 er ne A Perthes' Reife von Stuttgart nah Wien ‚und feine Rückkehr nach Hamburg. |

20. Auguft bis 8. October 1815s8. ee. 13 Perthes' Bemerkungen über den literarifchen Verkehr während feiner Reife

duch Deufchland. 2 0 0 0 0 0 0 re er er en 1

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Viertes Buch.

Perthes' brieflicher Verkehr über die politiſchen und religiöſen Fragen von der Zeit des Wartburgsfeſtes bis zur Zeit der europäiſchen Congreſſe in Troppau und Laibach.

1817 1822.

Seite Die Bewegungen im Volke bis zu den Karlsbader Beſchlüſſen im Spätfoms

ma 189, 2 0 0 Eee ee ee 143 Die Haltung der Regierungen um die Zeit der Karlsbaber Beichlüfee . . 161 Das Herwortreten einzelner politifcher Bragen. - o 0 0 0 181 Oeſtreich und Preußen während der erften Jahre nach ben Karlsbader Beichlüfs

fen. 1819-1322. 2.2 0 0 02 rennen tee 1N

Die oͤffentliche Meinung über die beutfchen Angelegenheiten während ber er= fien Jahre nach den Karlsbader Befchlüffen. 1819 1822. . . . . 211

Die Eindrüde ber füdenropäifchen Nevolutionen auf die Stimmung in Deutfchs land. 1820 1822. [ ® U} ® ® 0 [2 [2 + 2724

Die Heilige Allianz in ihrem DVerhältniffe zu den füdeuropäifchen Revolutios nen. 1820 1822. ® 0 0 0 0 ® 240

Die religiöfen Gegenfäge der Seit. 1817— 182. 0 2 0 2516 Die kirchlichen Gegenfäße der Zeit. 1817— 1822. . .. » 00. 2%

Fünftes Bud.

Berthes’ Samilienleben bis zur Verlegung feines Wohuſitzes . von Hamburg nad) Gotha im Jahre 1822.

Die Verheirathung der älteften Tochter. -. > 0 0 0 een. 28 Die Verheirathung der zweiten Tochter. » » 0 0 0 ee 301 Der Bortgang des älteften Sohnes zur Univerſität.. 311 Garolinens legte Lebens. 2 0 0 2 een. 2000. 327

Drittes Buch.

Die Berfuhe zur Wiedereinrihtung in Hans | nnd Stadt und Stant ſeit der Befreiung Dentfchlands.

1814 1816.

Pertheö’ Leben. 11. 4. Aufl. 5 1

Rüdtritt in die früheren Berhältniffe. Sommer 1814.

Als Perthes am 31. Mai 1814 die Stadt und die Wohnung wie—⸗ der betrat, die er ein Fahr zuvor verlaffen hatte, konnte dem Dante für die faum gehoffte Heimkehr ſchweres Sorgen für die nächſte Zus funft nicht ferne bleiben. Gott fei gelobt für fo weit, für feinen Beiftand und feine Nähe in diefem ſchweren und ernften Jahr! fchrieb Garoline am Tage der Ankunft ihren Eltern nah Wandsbeck. Ich will mich freuen und will alle8 vergeben und will alled vergeifen, nur meinen lieben Bernhard nicht. Unſerer wartet, fügte fie hinzu, wenn es am glüdlichften geht, eine mühjfelige Zeit. Gott erhalte mir nur Perthed und gebe ihm Muth und Kraft zu feinem jchweren Tage⸗ werfe!

Die Wiederanfnüpfung des alten, durch ein Jahr voll Noth und Angſt unterbrochenen Leben? war in der That nicht leicht. Schon die Wohnbarmachung des Hauſes hatte ihre Schwierigkeiten: die fehönen, freundlichen Räume zur ebenen Erde hatten Monate hindurch fran- zöfiihen Soldaten ald Wachtituben gedient; mitten in dem größten Zimmer fland ein mächtiger Ofen; zum Fenſter hinein waren Baum- ftämme gefchoben, deren Ende dem Feuer im Dfen zur Nahrung diente, alled irgend abldsbare Holzwerk im ganzen Haufe war her- untergeriffen und verbrannt, Rauch und Qualm hatte feinen Weg Durch die Fenſter fuchen müllen. Die oberen Stockwerke waren zu⸗ lebt vom General Loifon bervohnt geweſen, aber. auch hier hatten die

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Soldaten in einer ſolchen Weife gehauft, daß dag ganze Haus einem einzigen großen Schmutzhaufen glih. Aller Mobilien war dagfelbe völlig beraubt; theild hatten Freunde fie hier und da verftect, theils der franzöfifche Präfeet ſich ihrer bemächtigt. Nirgends war eine Stelle zum Ausruhen, überall mußte der fußhohe Unrath fortgefchafft, überall für die Einrihtungen zum Sitzen und Liegen, zum Kochen ‚und Eſſen geforgt werden, und dennoch mahnte der Mangel an Geld und der herzzerreißende Anblid der vielen bleichen, halbverhungerten Sammergeftalten heimfehrender Flüchtlinge daran, auch die Fleinfte, irgend vermeidliche Ausgabe zu feheuen. Es war ein harter Wieder- anfang für Caroline. In unferem alten Haufe wohnen wir, fehrieb fie im Juli, und ftreben danach, auch wieder in das alte Geleife zu foınmen; ob das aber gehen wird, weiß Gott. Es ging, wenn auch nicht ohne viele Arbeit und Sorge. Noch vor Eintritt ded Wins ter8 war das Hausweſen geordnet und in feinen früheren Gang zu- rüdgeführt. Mit ungleich größeren Schwierigfeiten war freilich die Herftellung des Geſchäfts verbunden, welches ungeachtet feiner völli- gen Auflöfung eine zahlreiche Yamilie erhalten und bedeutende Schul- den tilgen follte.

Jede politifch ftark aufgeregte Zeit bringt außer den Abenteurern, den Beuteluftigen und Revolutionsmenſchen auch die bedeutenderen und thatfräftigeren Männer in Bewegung, entzieht fie ihrem eigent« lichen Lebensberufe und entführt fie in das allgemeine Gewirre, wo die außergewöhnlichen Zuftände auch außergewöhnliche, nicht der her⸗ gebraten Ordnung angehörende Kräfte fordern. Wenn nun die wil- den Gewaͤſſer ſich wieder verlaufen haben, fo follen diefe Männer aus einem bewegten, durch taufend Neizmittel immer neu angeregten und mit den größten Berhältniffen zufanmmenhängenden Leben wieder zu⸗ rüd in den ruhigen, einförmigen und engen früheren Beruf. Ein fol- her Schritt ift zu allen Zeiten vielen und wackeren Naturen ſchwer geworden und oft bat ſich aus denfelben Männern, die in der beweg⸗ ten Zeit Dankenswerthes leifteten, fpäter nach hergeftellter Ruhe ein Gefchleht von geiftig vornehmen Bagabunden gebildet, welche, in feinem Berufe zu Haufe, hier und da umher hantieren und, mit ſich und der Welt unzufrieden, fi und anderen zur Qual werden.

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Für Perthes, der ſeit Jahr und Tag, ungeachtet ſo mancher ſchweren Stunde, nicht ohne Behagen in den gewaltſam durcheinander gewor⸗ fenen Verhältniſſen gelebt und gehandelt hatte, war, wenn er nicht einer ſolchen Gefahr unterliegen ſollte, mit der Befreiung Hamburgs der Augenblick gekommen, in welchem er ſich wieder mit voller und ganzer Kraft feinem Lebensberufe hingeben mußte, und er hatte Tüch- tigkeit genug, diefen Entſchluß zu faffen und durchzuführen. Die Lage freilich, in welcher er fein Gefhäft vorfand, machte ihm den Mebergang zu den Sorgen und Mühen des täglichen Lebens doppelt Ihwer. Es grauet mir, fehrieb er an Villers, aus der Poefie mei- nes bisherigen Lebens wieder in die Profa des gewöhnlichen Lebens zurüdzufehren, befonder® da ich auf Fahre hin Sorgen und Arbeit ſchwerſter Art haben werde.

Als Hamburg ein Jahr zuvor, am 30. Mai 1813, von den Franzoſen wieder befegt worden war, hatte Davouft gleih am fol- genden Tage Perthes' Bücherlager und Handlung verfiegeln laſſen und bald darauf befannt gemacht, daß die Schuldner der Handlung nicht an Perthes, fondern an die franzöfifchen Behörden zu zahlen hätten. Davouft’3 erfter Anordnung gemäß follten die brauchbaren Bücher des Lagers an die Bibliothefen, Schulen und Behörden ver- theilt und der Ueberreft öffentlich verfteigert werden. Ein großer Theil des bedeutenden Landkartenlagers wurde auch wirklich dem topogra- phifchen Büreau und verfchiedenen Generalen überwiefen und man⸗ ches werthuolle Buch fam in die Hände einzelner Officiere; aber für dad Bücherlager im großen und ganzen ward die Ausführung jener Anordnung bintertrieben. Perthes-zwar hatte auf feinem Wander⸗ leben feine Sorge für das Gefchäft tragen können; aber Beffer, ob- gleich gleichfalls aus Hamburg geflüchtet, verlor dasfelbe nie aus den Augen. Mit raftlofer Thätigfeit und befonnener Aufmerffamfeit be- nugte er jeden Umftand, um zu retten, was zu retten war, und murde an Ort und Stelle durch die bewegliche Gewandtheit und den treuen Eifer eines fehr rührigen Dienerd, d’Hafpe mit Namen, unterftügt. Zunächſt gelang es, das große Commiſſionslager, weil e8 nicht Per- thed’, fondern fremder Buchhändler Eigenthum fei, von dem übrigen Lager zu trennen: es wurde der Handlung von Hoffmann und Campe

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zum treuen Berwahr übergeben. Sodann bezahlte der gewandte Die- ner Schlädhter, Bäder, Buchbinder und andere Handwerker, welche an Perthes zu fordern hatten, nicht mit baarem Gelde, fondern gab ihnen zum Eintreiben von den Handlungsſchuldnern Peine Rechnun- gen, bie er felbft bei der Auflöfung aller Ordnung ſchwerlich bezahlt erhalten hätte. Endlich wurde nicht ohne Erfolg der Verfuch gemacht, unter der Firma der Handlungen von Hammerich in Altona und Mi- helfen in Lübeck den Faden ded Geſchäfts fortzufpinnen und dur perfönliche Zufprache oder durch Freunde und Bekannte die Schuldner der Handlung in den benachbarten Gegenden zu bewegen, ihre Schuld ungeachtet des Verbotes der franzöfifchen Machthaber an Beſſer zu bezahlen, Die fehtwierigfte Aufgabe aber war geweſen, die befohlene Bertheilung und Berfteigerung des eigenen Lager? in Hamburg zu verhindern. Zu biefem Zwede waren bie Gläubiger der Handlung unter der Hand angeregt worden, ji an Davouft mit der-Behaup- tung zu wenden, daß, bevor zu einer Bertheilung der Bücher geſchrit⸗ ten werden könne, ihnen aus denfelben Befriedigung für ihre For« derungen werden müſſe. Da fie fi) zur Begründung diefer Behaup- tung auf beftimmte Gefeßeöftellen berufen Tonnten, fo gab Davouft, welcher der Angelegenheit wiederholt perfönliche Aufmerkfamteit zu⸗ wandte, nach, ordnete die Verſteigerung des ganzen Lagers an und befahl, daß von dem Erlöfe zunaͤchſt die Handlungsgläubiger befrie- digt werden jollten. Da nun, bevor zur Berfteigerung gefchritten werden konnte, ein Katalog aller vorhandenen Bücher angefertigt wer⸗ den mußte, fo machte Befler, in Erwartung einer baldigen Befreiung von der franzöfifchen Herrſchaft, den Verſuch, die Anfertigung des⸗ felben möglichft in die Länge zu ziehen. Der Verfuch gelang, obfchon Davouft einigemale drohte, die Bücher bei längerer Berfchleppung pfundweife verlaufen zu lafien. Die dreißigtaufend Bände, welche das Lager etwa zählte, waren, um Platz zu gewinnen, von den fran- zöfifchen Beamten auf Blockwagen in ein andere? Haus geſchafft und bei diefer Gelegenheit fämtlich durcheinander geworfen worden. Dem- ungeachtet wurde die Aufzeichnung fofort begonnen. Sie fullten da die Wirthſchaft fehen, mein wohlgeborner, hochgeehrtefter Herr, fchrieb im Auguft 1813 der an ftrenge faufmännifche Ordnung gewöhnte

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d’Hafpe: Landkarten, Kriegskunſt, Claſſiker, Campe's Robinfon, das Gebetbud für gute Chriften, Goethe's Werke, Band fieben, der dritte Theil einer Reife in die Südfee, die Anleitung einer erfahrenen Kö⸗ Hin, alles liegt wild durcheinander und fo wird es numeriert, und das Luftigfte ift, daß fie auf die Bücher nur die Einer und Zehner jeder Zahl feßen, aber nicht dazufügen, zu welchem Hundert oder Taufend diefelbe gehört. Wenn fie fertig find, müſſen fie natürlich wieder von vorne anfangen. Darum fünmern fie fih aber nicht, ſon⸗ dern fegen Tag für Tag ihre unfluge Arbeit fort; es ift unmöglich, daß ed vor Reujahr zur Verfteigerung fonımen fann. Als endlich der Katalog fertig war, hatten die Verbündeten bereitd den Rhein überfchritten und Davouft hütete fi forgfältig vor jedem Schritte, der nun unter veränderten Umftänden einen Anſpruch an fein Privat⸗ vermögen hätte begründen können. Die Bücher blieben ungeachtet des Kataloges unverfteigert und wohlverfchloffen aufbewahrt.

Diefe Lage ihres Geſchäftes fanden die beiden Freunde Beſſer und Perthes vor, als fie ſeit Ende Februar 1814 zuerft in Kiel, dann in Blanfenefe zufammentrafen und über dad, was zu thun fei, berie- then. Obſchon das ganze biöherige Publicum der Handlung zerfprengt war, hatten doch beide die Ueberzeugung, daß unter den gegebenen Umftänden die Wiederaufnahme des Gefchäftd ohne ftrafbaren Leicht⸗ finn gemagt werden könne und daß fie gewagt werden müffe, weil nur auf diefem Wege die Möglichkeit gegeben werde, die Gläubiger der Handlung vor Schaden zu bewahren. Bon diefer Anficht aus er- ließ Perthes im April 1814 ein Eircular, in welchem er den deutfchen Buchhandlungen die Abficht, fein Gefchäft wieder zu eröffnen, befannt machte. Mir würde, heist ed in demfelben, wohl niemand zumuthen wollen, meine Verpflichtungen ganz zu erfüllen, und ich weiß, daß ‚ein großer Theil meiner Collegen dem Anerbieten eined Accords ent» gegenfieht. Da mir aber durch die Stellung des Baterlandes geftattet wird, mein Haus wieder aufzurichten, fo habe ich die Hoffnung zu Gott, daß er mir die Kräfte fchenkfen werde, enden zu können, wie ich begonnen habe, und jedem gerecht zu werden. Kann ich auch jept nit mit fo jugendlihem Muthe wie vor achtzehn Jahren beginnen, babe ich auch jebt ein zahlreiches Haus zu ernähren, fo befike ich doch

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Erfahrungen, die manches Lehrgeld eriparen, befige die Gunft mei- ner Mitbürger, einen großen Kreid von Gönnern und Freunden und bedeutende Verbindungen im Audlande. Getroft und mit guter Hoffe nung und im Bertrauen auf die Freundfchaft meiner Collegen will ih aljo wieder anfangen und erfläre, daß ich entichloffen bin, alles Schuldige zu bezahlen und niemand etwas verlieren zu laffen. Das Wie und Wann der Zahlung muß ich bitten mir zu überlaflen, doc foU innerhalb dreier. Jahre alle berichtigt fein, Zugleich erflärte Merthes in demſelben Circular, daß von nun an Beſſer, welcher der That nach fchon lange Gefellfehafter der Handlung gewefen fei, ſich auch in der Firma nennen und derfelben dadurch eine noch größere Gemwährleiftung in der Handelöwelt geben werde.

Die großen Schwierigfeiten, welche fih dem Gelingen entgegen. freliten, verhehlten fich die beiden Freunde nicht und beide ftimmten darin völlig überein, daß es jetzt nicht an der Zeit jei, keck zu wagen, fondern bejonnen fih und andere vor Schaden zu bewahren. Wir hätten wohl noch den jugendlichen Muth, jchrieb Perthes am 5. März an Befler, und auch wohl noch die jugendliche Kraft, um im Ber« trauen auf unfer Glüdf wiederum ein Gefchäft im großen Umfange zu beginnen; aber befinnen wir und recht, fo muß dennoch bei unfe⸗ ren Fahren und in unferen Berhältniffen unfer zweites Etabliffement fich lediglich auf die Erfahrung, die wir befiten, gründen. Sieh, ganz jtill und einfach fangen wir unfer Wefen wieder an, legen immer nur einen Stein nach dem andern und halten und auch ftill und einfach. Das Publicum ift und günftig, viele Freunde find thätig für und, und die Menſchen, die und aus augenblidlicher Noth helfen, finden fi gewiß. Auf Hamburg und feine nächfte Umgebung ſchien damals für die Wiederbelebung des Gefchäfte® gar nicht, auf dad übrige Deutfchland nur wenig gerechnet werden zu können, meil zu erwarten ftand, daß die Folgen der langen Noth noch auf Jahre jede Kebendig- feit des literarifchen Berlehrd verhindern würden. Die Aufmerkſam⸗ feit beider Freunde wendete fi) daher nad England, wo in Folge der Freiheitskriege die Theilnahme an Deutfchland größer als feit Sahrhunderten geworden war. Der damalige Zeitpunkt ſchien über- aus geeignet, um durch fräftige und nachhaltige Thätigkeit eine all-

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gemeinere Verbreitung der deutſchen Riteratur in England hervorzü- rufen und namentlich die Blide der vielen und reichen Sammler mehr als bisher auf deutfche Philologie und claffifche Werke aller Art zu leiten. Die mangelhafte Einrichtung des englifchen Buchhandels fonnte fogar die Hoffnung eriweden, daß es möglich fein werde, die Gefamtvermittelung zwifchen England und der nicht englifchen Lite ratur in die Hand des deutichen Buchhandel® zu bringen. Beller war ſchon früher längere Zeit in England geweſen und war der Sprache völlig mächtig; Die beften Empfehlungen an einflußreiche Männer als ler Art ftanden zu Gebote. Beide Freunde befchlofien daher, daß Beſſer nad England gehen und verſuchen folle, das fchon immer dort- hin betriebene Gefchäft weiter und weiter auszudehnen. Bald waren die Vorbereitungen geendet und am 4. Mai ging Befler von Ritze⸗ büttel aus in See.

Perthes traf inzwijchen die nöthigen Anftalten, um möglichft bald nad) dem Abzuge der Franzoſen aus Hamburg die Handlung er- öffnen zu fönnen. Am 9. Mai zeigte ihm der Maire adjoint fchriftlich an, daß die Beichlagnahme feines Bücherlagerd aufgehoben fei und dag er dasfelbe gegen Erftattung der von den franzöfifchen Behörden für Inventur, Miethe u. |. w. aufgemendeten Koften in Empfang neh⸗ men könne. Geftern ließ mich der Herr Präfect einladen, fchrieb Per- thes an Billerd, in die Stadt zu fommen, weil der Herr. Marfchall beichloflen hätte, da® Sequefter von meiner Bücherfammlung zu neh- men; zugleich wollte man aber 700 Francs für einen angefertigten Katalog. Sie fehen daraus, daß diefe Leute auch unter der ‚weißen Cocarde ſich gleich bleiben. Dafür, daß fie mich bildlich an den Gal⸗ gen genagelt, mic) von Haus und Hof gejagt, meine Handlung ver- nichtet, meine Bücher um die Hälfte beftohlen, meine Möbeln ver- brannt haben, wollen die Kerld noch 700 Franes. Da indefjen Perthes kurz und beftimmt erflärte, daß er die Mühe, welche die Be- börden fih mit Aufbewahrung, Inventur u. f. w. gegeben hätten, durchaus nicht beanfprucht habe und deshalb aud nicht gefonnen fei, die Auslagen derjelben zu erfeßen, fo wurde das Lager am 19. Mai ohne weitere Bedingungen feinem Bevollmächtigten Runge überges ben. Nachdem die Franzofen abgezogen waren, traf Perthes am

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30. Mai in Hamburg ein. Aus unferem alten Wohnort biete ih Dir, ſchrieb er an Veſſer, die brüderlihe Hand. Der Worte, um auszudrücken, was mich bewegt, bedarf ed nicht; es ift eine völlige und förmliche Auferftehung von den Todten. Genug davon. Die Arbeiten zur Wiedereröffnung der Handlung wurden fofort begonnen und mit höchfter Anftrengung fortgefegt. Glauben wirft Du es, heißt ed in einem andern Briefe an Beſſer, aber vorftellen kannſt Du es Dir dennod nicht, was für eine Arbeit das ift, fo ein Wejen wieder her⸗ zuftellen und auseinander zu wirren; und wenn mir nur noch jemand helfen könnte, aber das geht nicht. Gottlob, daß ich gefund bin und

heiteren Geiftes dazu und dankbar gegen Gott und Menſchen. Ein ſchlimmes Ding freilich bleiben die augenblidlihen Geldzahlungen. Uns bezahlen nur wenige, aber Tag für Tag gehen größere und klei⸗ nere Rechnungen von Peter und Paul, von Buchbindern und Hand- werkern und von aller Welt ein; die armen Leute find in fchredlicher Noth und bitten und quälen, und das thut weh. Auch von außen laufen jett die größeren Anweifungen und Wechfel auf und ein. Durchhelfen will ich mir ſchon, aber e8 koſtet Angitichweiß. Dur Diefed Arbeiten, Mühen und Sorgen wurde indeffen Muth und Hoff. nung in Perthes nicht gebrochen und manches günftige Ereignis half ihm leichter über die böfen Stunden fort. Bor allem aber ift mir, heißt e3 in einem Briefe an Beſſer, das Jutrauen, die Liebe und Güte rührend, welche unfere Mitbürger in fo vielfältiger Weife ge- gen und äußern. Unſer Eredit ift nicht allein erhalten, fondern be- feftigter ald jemald. Auch auf unfer Circular find nun die Antwor- ten der Buchhändler eingelaufen. Sie find ſämtlich, nur.eine einzige Handlung ausgenommen, mit unferen Borfchlägen zufrieden und fpre- hen das größte Zutrauen aus. Feſt fannft Du Did darauf verlaf- fen, daß unfere Handlung fehr bald wieder in voller Blüte fein wird. Man fehnt fich ordentlich nach und. "Ende Juni eröffnete Perthes den Gefchäftöbetrieb in Hamburg felbft und wenige Tage fpäter konnte er fchon ſchreiben: Bier ift Gotted Segen mit und und alled, wirklich alles fchlägt zum Guten aus; aber ich kann allein nicht mehr durd)- fommen und es wird hochnöthig, dag Du wieber kommſt. Eined geht vor dem andern; allenthalben ift eben nichts in Ordnung; jeder will

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feine Freundfchaft bezeigen, Aufträge fommen von allen Seiten und die öffentliche Unruhe macht auch nit grade ruhig; kurz, ich bin ſehr im Gedränge und wünſche Dich herbei.

Beſſer's Aufenthalt in England war urfprünglid auf längere Zeit berechnet gewefen, aber Beſſer faßte die dortigen Gefchäftöver- bältnifje in einer Weife auf, welche ihm eine weitere Anweſenheit al® unndthig erfcheinen ließ. Der erfte Eindrud, welchen London und feine Bewegung in jenen Monaten unmittelbar nach dem Sturze Na- poleon's auf ihn gemacht hatte, war außerordentlich gewefen. Hier bin ih, heißt es in feinem erſten Briefe aus London, um in dieſer Niefenftadt, in diefem wunderlich ſchönen Rande eine Zeit zu durch⸗ leben, die ihres gleichen in der Gefchichte nicht bat; fchon in den nächften Tagen werden die gefrönten Häupter erwartet. Aber mehr als auf diefe ift alles auf General Blutscher gefpannt. Es ift nicht zu fagen, in welchen Maße diefed Ungeheuer des lebendigen und des mechaniſchen Leben? den Menfchen ergreift und überwältigt; aber bei dem Volke ift man troß aller feiner Unliebenswürdigfeiten wie zu Haufe, wenn man nur feine Sprache und fein Wefen verfteht. Mit Menfchen aller Art und jeden Standes nähere oder fernere Verbin— dung anzufmüpfen, Tag in Beſſer's Reifezwed, und feine ausgedehn- ten Empfehlungen öffneten ihm den Eingang in die verfchiedenften Kreife. Deutfche und Engländer, gentlemens und Matadore der city fah er; heute verkehrte er mit recht Elugen und brauchbaren Men- fhen, morgen mit guten und liebendwürdigen, bald mit Methopdiften und Quäfern, bald mit Leuten, die nicht? kannten als die ſchlechten Seiten des Lebend. Es iſt ein gefährliches Ding für ein ſchwaches Menſchenkind, rief er in einem feiner Briefe aus, Metier von dem Kennenlernen fo vieler anderer Menfchenkinder zu machen, mag man wollen oder nicht, man muß fich dabei mehr oder weniger über Die Perfonen ftellen, die zu beurtheilen man nicht laffen fann. Ich bin recht müde und mürbe davon und verlange Abends oftmald recht fehnlich nad) meinem Kämmerlein, um in Gedanken menigftend mit Euch dort drüben zu leben. Um audzuruhen und um fi zu er- frifchen,, wußte er nichts liebered ala den Bejudh in den großen Mu⸗ feen und den vielen Privatfammlungen Londons. Wie freue id) mich,

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ſchrieb er einmal, bei allen diefen herrlichen Dingen einen Mitgenof- fen an Hand Lappenberg zu haben. Ein junger Menfch ift Doch etwas herrliches, mit ihm wird man felbft wieder jung. Durch die freundliche Theilnahme fo vieler und verfchiedener Menſchen an der deutfchen Literatur glaubte Beffer fich zu den größten Hoffnungen be- rehtigt und entwarf umfaffende Pläne für die Zukunft. Durch Schwabe, fchrieb er, der ein durch und durch vortreffliher Mann ift und im größten Anfehn fteht,. durch einige andere Geiftliche und durch Graf Münfter, fobald er hier ankommt, will ich es zur Sprache zu bringen fuchen, daß auf den hiefigen Schulen die deutfche Sprache eben fv wie die franzöfifche gelehrt wird, das heißt die Sache, lache nur nicht, an der Wurzel angreifen und fol fchon gehen. Sodann müffen wir hier ein deutfched® Journal, nach Art der englifchen Mis⸗ cellen , zwar nicht felbft unternehmen, aber doch veranlaffen, deutfche Mizcellen mit einem literarifchen Anzeiger. Die rechten Männer, das innere und Aeupere diefed Unternehmen? zu betreiben, habe ich ſchon im Auge. In enger Berbindung mit diefem Journal ließe fih wohl die Gründung einer deutfchen Bibliothek auf Subfeription in London verfuchen, welche die Liebhaber der deutfchen Literatur miteinander - in Verbindung brächte und die Zahl derfelben vermehren würde. Be⸗ finden fi) doch gegenwärtig auf den zwanzig verfchiedenen Bibliothe- ten Orfords gar feine deutfchen Werke. Mit großer Wärme find meine Borfchläge von unferen Freunden und Bekannten aufgefaßt. Habe nur guten Muth, ih kann Dir mit Gewißheit jagen, daß meine Reife hierher von bedeutenden Folgen für und fein muß.

Nah einigen Wochen ftimmten fih jedod die anfänglichen Hoff- nungen Befler'd bedeutend herab. Man muß hier, äußerte er bedenk⸗ ih, oftmals auf einen Fleck fchlagen, bi? es Hilft. Am Schlagen laſſe ich ed nun zwar nicht fehlen, aber der Ausführung meiner Pläne bin ich noch nicht näher gerüdt. Beſſer hatte, wie es in der Natur der Sache lag, in der erften Zeit feined Aufenthalt vorzugsweiſe bervorragende-Deutfche und Eugländer, welche deutfche literariſche Bil- dung und Liebhaberei befagen, gefehen und die ‘Meinung befommen, daß dieſe Männer nur einzelne Spipen eines bedeutenden ftarf für deutſche Literatur angeregten Kreiſes ſeien. Bald aber mußte er durch

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diefe Männer felbit erfahren, daß fie eine vereinfamte Stellung eins nähmen. Leider äußern mir, fchrieb Beſſer, nicht nur die Deutfchen, fondern auch die Englänbder, welche mit der deutfchen Literatur gründ⸗ lich bekannt ſind, ihre Ueberzeugung unverhohlen, daß die Engländer als Volk nicht fähig ſeien, die deutſche Literatur aufzufaſſen. Goethe und Herder verſtehen fie nicht, Klopſtock misverſtehen fie völlig. Ich ſelbſt begreife es immer mehr, wie es dem Original⸗Engländer im- mer unmöglich bleiben wird, Sinn für Die deutſche Literatur zu bes fommen. Ich will gar nicht von den Männern der City reben, bie freilich nicht? weniger als Beſchützer der Literatur und wirflich quill- drivers, wie Robinfon fie nennt, find, ich will auch nicht von meinen Methodiftens Freunden reden, für die Goethe ein wicked fellow ift; aber der infularifche Charakter des Volkes bleibt auch geiftig abgefchloffen für fih, kann nicht aus fich heraus und kann nicht? Fremdes aufneh- men. Männer wie Robinfon werden ftetd eine fehr feltene Erſchei⸗ nung in, England bleiben. Einen befferen Vertreter ald diefen merk würdigen und anziehenden Mann kann Deutfchland nicht haben, und unwillfürlich fielle ich ihn in meinen Gedanken neben Billerd, und dann tritt die DVerfchiedenheit des Einfluſſes, welchen gründliche beutfche Bildung auf den Franzofen und auf den Engländer hat, mir in fehr fcharfen Zügen hervor. Wiederum einige Wochen fpäter erflärte Beifer an Perthes: Gründlich habe ich jet gelernt, dag veriprechen, wollen und können drei verfchiedene Dinge find, und daß mir des eriten und des zweiten von vielen Menſchen gewiß fein kön⸗ nen, ohne deshalb auf das dritte rechnen zu Dürfen. Mich quält der Gedanke, Dir im Anfange zu große Hoffnungen von den Ergebniffen meines hiefigen Aufenthaltes gemacht zu haben, Doch find die einzel- nen Bortheile desfelben in jedem Falle fehr groß. Wir willen nun be— ftimmt, was wir nicht thun dürfen, und wenn wir auch neue große Unternehmen auf England nicht gründen können, fo werden doch die einzelnen pofitiven Vortheile nicht unbedeutend fein. Auf eigentlich gelehrte Werke, namentlich naturhiftorifche und medicinifche, müffen wir unfer Augenmerk richten; dagegen wird der Gebrauch der deut⸗ [hen Ausgaben von Claſſikern abnehmen, wie es fcheint. Ein länge rer Aufenthalt in London ift unter diefen Umftänden unnöthig und

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Anfang Auguft hoffe ich wieder in Hamburg zu fein. Deine Kla- gen erfchreden mich nicht, antwortete Perthed. Sei nur zufrieden, auch von England her wird und der Eegen nicht ausbleiben. Wir ftehen dort in gutem Andenfen und die Ruhe, die nah und nad in der Welt wieder eintritt, wird auch jenfeit? des Kanald neue Quellen eröffnen. ,

Nach Beſſer's Rückkehr aus London, im Auguſt 1814, arbeiteten beide Freunde nun mit vereinten Kräften an der Belebung und Aus⸗ dehnung des Gefhäfte. Nähere und fernere Bekannte halfen ihnen gerne die immer noch wiederkehrenden Geldverlegenheiten überwinden. Kann ich Ihnen, fchrieb 3. B. der edle Jakob Oppenheimer an Per- thes, von Ihren Fleinen Sorgen, die Sie eigentlich gar nicht haben follten, um kräftig für alled Gute und Edle wirken zu können, etwas abnehmen, fo thue ich e8 fehr gerne. Beſonderen Papieres bedarf es dazu nicht, ein Billet von Ihnen genügt völlig, und ich bitte Sie, bei der Rüdzahlung feine andere Rüdficht als die Ihrer Convenienz zu nehmen. - Schon Oftern 1815 konnten Perthed und Beſſer an⸗ zeigen, dap die Handlung noch vor Ablauf der ausbedungenen drei« jährigen Friſt alle Verpflichtungen erfüllt haben werde. Sehr raſch nahm von jest an die Handlung die bedeutende Stellung ein, welche fie ſeitdem behauptet hat.

So dringend Perthes auch in dem erften Jahre nach der Wieder- befteiung Hamburgs durch die Lage des Geſchäfts genöthigt ward,

feine Kräfte zufammenzunehmen und auf die Ausfüllung ſeines näd- ften Berufs zu verwenden, jo war ed ihm in den heftigen Berwegun- gen jener Monate doch nicht möglich, theilnahmlod den Verſuchen zu⸗ zufehen, durch welche Berfaitung und Berwaltung der freien Stadt in die neue Zeit hinübergeleitet werden follten. Auch gab er niemals zu, daß in der lebendigen Theilnahme an den Öffentlichen Angelegen- heiten, fo fern fie nur nicht weit gefucht, fondern nahe gebracht fei, eine Geffahr für den tüchtigen und erniten Betrieb der eigenen Angc- kegenheiten liege. Lachen habe ich müſſen, fchrieb er einem Freunde, daß Sie Ihre Kräfte nicht verpuffen wollen. Sollten Sie wirklich fo wenig Munition haben? Hat nichts zu bedeuten: geiftig mehren ſich die Kräfte, je mehr man ihrer von ſich gibt.

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Die. von den großen Mächten vielfah zur Sprache gebrachte Frage, ob Hamburg künftig eine Feſtung werden follte oder nicht, fette damals zunächſt alled in Bewegung. Nach den verfchiedenften - Orten bin, an denen er Einfluß und ein empfängliches Ohr vermu⸗ thete, wendete fich Berthed, um die drohende Gefahr abwenden zu belfen. Für fich felbft, für Deutfchland, für die europäifchen Bölfer hat Hamburg die Beftimmung, fchrieb er einmal, einen Punkt der Communication, der Circulation, des Vertriebes, des Erwerbens und Verbreitens abzugeben. Kann man, will man einen ſolchen Punkt nicht haben, oder hält man Hamburg nicht für den rechten, oder weiß man einen beſſeren? Findet ſich ein anderer Ort als deutſch⸗europäi⸗ ſcher Communicationspunkt und erfordert es die Sicherheit Deutſch⸗ lands, daß gerade der Ort Hamburg ein feſter Ort ſein muß, ſo wird ſich das finden; befehlen läßt ſichs nicht. Das kann niemand meinen, daß ein ſolcher Handelsplatz und eine Feſtung zuſammen beſtehen würde. Trotz der Montalembert'ſchen Thürme würden unſere Waa⸗ renlager und Banken den Congreve'ſchen Raketen bald zum Raube werden. Was ſoll doc eigentlich Feſtung werden? ſchrieb Perthes ein anderesmal. Soll auch Altona, ſoll auch Harburg und ſollen die Elbinſeln befeftigt und demgemäp ihren bisherigen Herren entzogen und in das Hamburgifche Teltungdgebiet gezogen werden? Wer die großen Pläne gefehen hat, die unter Aufſicht des General® Bertrand entworfen und vom General Haro verbeifert find (einer derfelben be- findet ſich jept in Händen des Generald Wallmoden), der wird eine Borftelung von dem Niefenhaften des Unternehmens haben, Ham- burg in eine Feitung zu verwandeln. Hält Deutfchland etwas auf Hamburg, fieht ed in ihm wirklich den Berbindungspunft zwifchen Mitteleuropa und dem Norden, erfennt e3 in der Hamburger Banf das große Werkzeug eines freien gewaltigen Geldumlaufs, fo wird es dieſes Hamburg nicht zur Feftung machen wollen. Wie könnte Sicher: heit des Handelseigenthums fich mit der Herrfchaft militärifcher Noth- wendigkeit vertragen? Können Gefchäfte großer, lebendiger Art ge⸗ führt werden an einem Orte, mo Soldatenehre und Soldatenftrenge auch im Frieden das erfte fein muß? Hamburg fann die große Be- jagung ber Feſtung nicht ftellen, aljo muß e8 ein anderer. Zwar eine

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fremde Garnifon wird es nicht oder doch wenigſtens nicht lange ha= ben; denn dem Staate, der fie gibt, wird Hamburg nicht® weniger als fremd bleiben, fondern binnen wenigen Jahren fein Fleiſch und Blut fein. Kommt es zu einem Kriege, fo muß alled Eigenthum Ham- burgs und das ihm von Fremden anvertraute Gut dem wirklichen oder vermeintlichen Intereſſe der Bertheidigung dienen. Alle Gefchäfte werden augenblidlich ftoden; die fremden Kaufleute der ganzen Welt werden augenblidfich Gelder und Waaren der bedrohten Feftung ent- ‚ziehen, um fie niemal® wiederzubtingen. Hamburgs und feiner Schiwefterftäbte Stellung. wird um fo bedeutender für Europa fein, je ferner fie jedem nur politifchen Kriege bleiben fönnen. Gilt es einften? wieder dem deutfchen Baterlande, fo wird Gott. unfern Kin- dern Sinn und Kraft geben zu thun, was ihre Pflicht ift. Hat er doch auch und. nicht ganz ohne feine Gnade gelaſſen!

Die Gefahr, in eine Feſtung verwandelt’ zu werden, ging fchnell vorüber, aber im Innern der Stadt lagen Gefahren mancher Art verborgen, wohl geeignet, ſchwere Beſorgnis für die Zukunft zu er- mweden. Am 27. Mai 1814 hatte die Bürgerfchaft, als fie zum erften« male nach Befeitigung der franzöfifchen Herrfchaft wieder zufammen- trat, auf Antrag des Senates eine Deputation von zwanzig Mitglie- dern für einen Zeitraum von drei Monaten gewählt, welche gemein- ſchaftlich mit dem Senate die durch die franzöfifche Herrfchaft befeitigte Berfaffung und Verwaltung der Stadt zu neuem frifchen Leben er- wecken follte. Die anfangd gehegten großen Erwartungen auf eine großartige politifche Wiederbelebung wollten ſich aber nicht erfüllen. Der in den Verhältniſſen liegenden Schwierigkeiten waren fehr viele, der Senat und die bürgerfchaftlichen Collegien waren noch nicht wie-

ber vollftändig befebt und beftanden zum größten Theil aus alten wohlwollenden, noch zur Reichözeit gewählten Männern, welche fich in die neue Bewegung nicht finden konnten und vor jedem entichei- denden Schritte fcheu zurückwichen. Kaum vermochten fie die drin- genden Anforderungen, welche das tägliche Leben brachte, zu befriedi- gen, und für die Neugeftaltung der alten Berfaffung und Verwaltung war wenig geichehen, ald am 29. Auguft dad Mandat der Zwanziger- deputation ablief. Perthes, welcher glaubte, daß Monate, jo wie die

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gegenwärtigen, geeignet zur Herftellung eines frifchen politifchen Lebens, nicht wiederlehren würden, ſah diefelben mit Schreden ungenupt vor⸗ übergehen. Schon im Juli klagte er bitter über die Armfeligkeit und Erbärmlichleit der Männer, die zum Handeln und Schaffen berufen wären, und ald im September der Senat mit einer neuen Geldfordes rung vor der Bürgerfchaft erfihien, trat er als Mitglied derjelben auf und ſprach: Seit drei Monaten tft unfere Stadt wieder frei und noch ift der Senat nicht wieder vollftändig befebt und läßt, wie wir. foeben gehört haben, die wichtigften Gefchäfte liegen, weil er zu viele Ge Ihäfte hat. Das Oberaltencollegium tritt meiften® nur mit fünf Mitgliedern zufammen, die Kammer ift unvollfländig, die Hundert- undachtziger haben fich nicht wieder verfammelt und die Sechziger find gelähmt. Die Entfheidungen aber der Bürgerfihaft können nur dann wahr und richtig ausfallen, wenn die an fie gebrachten Propo⸗ fitionen von einem kräftigen, zuverläfligen Senate entworfen, von ers fahrenen Oberalten geprüft, von den Sechzigern zur Verhandlung vorbereitet und durch die Hundertundachtziger einer großen Zahl ein- zelner Bürger bereit® vor der eigentlichen Berathung bekannt gewor⸗ den find. Bon alledem aber gefchieht jebt nichts, und ob die verfam- melte Bürgerfchaft zu den ihr vorgelegten Propofitionen ja oder nein jagt, ift das wiſſen wir alle fo ungewiß wie dad Spiel in der Lotterie. Solch ein heillofer, unverantwortlicher Zuftand in dieſer tobenden Zeit muß und wird und alle ind VBerderben bringen. Es ift hohe Zeit, da wir un? felbft helfen; wo nicht, fo wird und von außen geholfen werden, und dann ift ed um unfere Stadt gefchehen. Schweigen hat feine Zeit, aber Sprechen bat auch feine Zeit, und jest fehiweigend zuzuſehen, iſt eine Sünde, die wir und unfere Radh- fommen ſchwer büßen würden. Ich erfläre, daß ich heute zum lepten- male auf einen Antrag ded Senats mich bei meiner Abſtimmung aus Gründen, die in der Sache liegen, beftimmen laſſe; künftig werde ich auf jede Propofition des Senated mit nein antworten, bi® der Senat ergänzt und dad Collegium der Oberalten durch vollftändige Beſetung in den Stand geſetzt iſt, ſeine Pflicht zu erfüllen.

Wie durch dieſe Worte in der Bürgerſchaft, ſuchte Perthes auch

unter einflußreichen Mitgliedern des Senates feiner eigenen Ueberzeu⸗ Pertheo' Leben. II. 4. Aufl. 2

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gung von der unbedingten Nothwendigfeit entichlofiener Schritte zur Belebung der Verfaſſung und der Bermaltung Geltung zu verfchaffen. In einer fehr offenen und unummwundenen Zufchrift wendete er fich an Abendroth, ohne Zweifel den muthigften und Fräftigften Mann im damaligen Eenat. in den erften Wochen nad der Befreiung, äußerte er in diefem Briefe, als ed noch möglich fhien, daß heftige Bewegungen von innen und von außen die Stadt erfehüttern könn⸗ ten, begehrte der Senat die Ernennung der Zwanziger-Deputation und gab zu verftehen, dag diejelbe den mejentlichften Einfluß auf die Er⸗ neuerung der öffentlichen Angelegenheiten haben follte. Unbewußt hatte der Senat damals wohl die Abjiht, fich hinter die Deputation zu verſtecken, wenn innere Unruhen audbrechen follten. Die Bürger: fchaft war einfältig genug, nicht auf beflimmte und umfaflende Voll- machten der Deputation zu dringen, und deshalb konnte diefelbe, weil feine inneren Unruhen entitanden, in |hmählicher Ohnmacht gehalten werden. Eben fo ordnete der Senat, fo lange er'noch Unruhen fürd- tete, eine Bürgerbewaffnung an, entzog ihr aber, da fi die Sicher- heit von Tage zu Tage erhöhte, Schritt für Schritt die Mittel ihres Beſtehens. Der Senat machte die vortrefflihe Propofition zur Um⸗ geftaltung unferer höchften Yinanzbehörde, fonnte aber den wichtigſten Theil derfelben, die Einfeßung des Generalcafjierer®, nicht durchbrin- gen, weil er die nötbigen Vorbereitungen verfäumt hatte. Die fehr gut audgearbeitete Ambildung der Baubehörde wurde vom Senate proponiert und wurde angenommen, aber auch bier wieder zeigte fich der Krebs, weil man krebsartig verfuhr. Die Kirchenbauten und Klofterbauten nemlih wurden dur die Bürgerfchaft von der Ober- aufficht der Baubehörde audgenommen und fo aufs neue der Staat im Staate gegründet, weil der Senat nicht den Muth hatte, gleich in den erften Wochen die Aufhebung diefer inneren Wechfelbälge bei der Bürgerfehaft zu beantragen. Dann fam es zur Berhandlung über die Handeläfamntern. Senat, Bürgerihaft, Publicum waren dafür und fie wären troß aller Gegenanftrengung der Advocaten eingeführt worden, wenn der Senat feinen Borfchlag nicht heimlich, fünftlich und unter der Hand hätte durchfegen wollen. Hierauf folgte das Reli- giondproject, bei welchem die Intoleranz des Senates, ber feine an⸗

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deren Chriften ald Qutheraner in feiner Mitte haben will, die Into— leranz der Bürger bei weiten übertrifft, die Feine Juden mit gleichen Rechten unter ſich dulden wollen. Doch diefed alles ift nur weniges von vielem. Hätte der. Senat in den erften Wochen die Gleichheit der hriftlichen Religionsparteien durchgeſetzt und fich ſelbſt vervollftän- digt, fo durfte er auf vollftändige Bürgerfchaften zu feiner Unterftü- gung rechnen. Statt deſſen aber blieb der Senat drei Monate hin- dur unvolljtändig befegt in überhäuften Gefchäften ftedten und ver- Ihmähte in ſtolzer Cinengung alle Hilfe in Rath und That. Ihm fehlt es an Freiheit des Geifted, an Kraft des Willend, an Weltum- figt. Die Gefchäfte beginnt er nicht aus einem Gefichtöpunft und nach einem Plan, fondern führt fie abgerijfen, tumultuarifch, und dies ſes Verfahren pflanzt fih dur alle Verwaltungen fort. Alles ſoll von allen gemacht und jo zu fagen aus der Tafche geipielt werden. Fruchtlos fcheint die Zeit an dem Senate vorübergegangen zu fein, und ift ein Mitglied in ihm, welches ſich befinnt und gründlich die Lage der Dinge anfieht, nun fo ergeht ed ihm, wie e8 ihnen. ergan- gen iſt. Daher it ea gefommen, daß alle Berbefferungen nur ftüdmweife, nur am letzten Ende beginnen fonnten, und wa? ift alles liegen ge- blieben die Juſtiz, das Hypothekenweſen, die Armenanftalten. Was mag in London und in Wien vom Senate verabfäumt fein, und was man angriff, geſchah im lebten Augenblid, in Haft und Unficherheit und mit der Angft, ſich nicht zu compromittieren. Zu allem Guten mußte der Senat erit dur das Publicum gendthigt werden. ch ahne Unglüd von außen und Berfall im Innern. . Ob diefe Worte, die Berthed bier fehrieb, dort ſprach, ob die pielen Aufſätze, die er in jenen Tagen über einzelne ftäbtifche Angele- genheiten ausarbeitete, eine Einwirkung auf den Gang der Dinge ge⸗ übt haben, ift nicht zu entfcheiden. Wie viele aud wahrem warmem Herzen gefchriebene und geredete Worte verwehen in der Luft, aber wie oft auch hat ein eingiged Wort, am rechten Tage und in der rech⸗ ten Stunde geredet, viel böſes verhindert und viel gutes gefördert!

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Die politiihen Stimmungen während des Wiener Con- greſſes nud des zweiten Befreinugsfrieges. Herbit 1814 bis Herbſt 1815.

Während zahliofe Menſchen aus allen Ständen und in allen heilen Deutfchlande ähnlih wie Perthed daran arbeiteten, nad den Stürmen des Krieges ein abgeriffened Leben wieder anzufnüpfen, ſollten fih die Könige und Fürften, die Minifter und Diplomaten Europa’3 in Wien verfammeln, um auf einem großen Congreß die europäifchen Verhältniſſe neu feftzuftellen und um indbefondere die deutfchen Staaten, welche feit Auflöfung des Reiches vereinzelt neben- einanderlagen,, wieder in einen Zufammenhang zu bringen.

Die unerhörten politifchen Widerfprühe, an denen Deutichland feit Jahrhunderten fchwer gelitten hatte, waren nothdürftig verdedt geblieben, fo lange die träge Macht einer langen Gewöhnung allen alle® erträglicher ald die Mühe politifcher Bewegung erfcheinen ließ. Ein politifches Leben. hatte Deutfchland freilih im vorigen Jahrhundert nicht gehabt, aber doch eine politifche Exiſtenz. Napo- leon löfte die altüberlieferten Widerfprüche nicht, aber er zerhieb den Knoten. Er zerftörte das deutfche Reich und nun konnten die. deut⸗ fhen Einzelftaaten widerfprudlod als fouveräne Staaten daſtehen; er machte Deftreich und Preußen ohnmächtig und nun war jede Ge- fahr bejeitigt, die aud deren Zuſammenſtoß hätte entitehen können: aber freilich Deutfchland entbehrte jegt nicht allein des politifchen Le- bens, fondern auch der politifchen Exiſtenz. Napoleon's Herrſchaft wurde vernichtet und in dem Augenblid der Vernichtung traten die alten politifhen Schwierigkeiten in unberechenbar erhöhten Grade aufd neue hervor. Deutſchland mußte ein Ganzes bilden und den- noch mußte eine Mehrzahl felbftändiger deutfcher Staaten auch fünfe tig fi finden, Deutſchlands Zukunft hatte das feite Zufammenhal- ten Deflreih® und Preußens zur Borausfegung und dennoch war der eiferfüchtige Gegenfag beider Mächte eine gegebene Thatſache. Keine Möglichkeit beftand, die harten Widerfprüche des Lebens wieder wie

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zu der Väter Zeit in die träge Gewohnheit des politifchen Begetierend zu begraben: eine Gewohnheit. ift oder wird, aber niemand Fann fie befehlen, niemand kann fie machen, und einmal befeitigt,. ift fie für - immer-befeitigt. Im grellen Lichte lagen die alten Schäden, die al» ten Schwierigkeiten vor: mer hätte die Augen gegen fie verfchließen, wer fie dahin geftellt fein Tafien Fönnen? Es gab feinen Ausweg; der Congreß konnte feine Aufgabe nicht verlennen und nicht umgeben; er mußte eine politifche Geftalt Deutfchland®, melche die im Leben vorhandenen Widerfprüche nicht ignorierte, aber erträglich machte, fuchen, mußte fie finden, mußte fie beftimmt und deutlich ausſprechen und bindend feftftellen. Wenn diefer Bau, deffen Errichtung in Wien verfucht werden follte, mislang, vielleicht ſchon während des Bauen? zuſammenbrach, fo wurde Deutichland, fo wurden alle jene einzelnen, die fih fo emfig um Herftellung ihrer befonderen Berhält- niffe bemühten, zugleich mit allen ihren Sorgen und Arbeiten unter den Trümmern begraben.

Ein Gefühl von der für Gegenwart und Zukunft unermeßlich großen Bedeutung ded Congreſſes ging zwar durch unfer ganzes Volt, aber während der erften Sommermonate 1814 hatte Die Hoffnung das " Uebergewicht, daß die Staatdmänner in Wien, fo bald fie nur zu- fammengetreten feien, der Nation eine große politifhe Zukunft ale fertiges Gefchen? überreichen würden. Bald jedoch nach Eröffnung des Congreſſes im Herbfte 1814 zeigte fich zuerft den Eingeweihten, dann auch den Außenftehenden, . daß die Kraft der verfammelten Di- ‚plomaten weniger im Wollen als im Nichtwollen beftand. Jede po- fitifhe Form, welche für die nationale Einheit und den Zuſammen⸗ bang der einzelnen Staaten in Vorſchlag fam, wurde eifrig befämpft, aber die ſachlichen Schwierigkeiten zu überwinden und eine Verfaſſung für Deutfchland mit fhöpferifchem Geifte zu zeugen, wollte nicht ge- lingen. Die Gewalt der Dinge imdeflen war ftärfer ald die Weisheit der Menfchen; immer von neuem warf fie die Bundesform, ald Form der nationalen Einheit, in das Gewirre der Meinungen hinein. In— dem nun die verneinenden Geiffer des Congreſſes an der Bundesein⸗ beit die Einheit möglichft befeitigten, kam es endlich dahin, dag am 8. Juni 1815 die deutfche Bundesacte unterzeichnet ward. Sie über-

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ließ ed den ausführenden Staatömännern des fünftigen Bundestages, die Einheit wirffih ind Leben zu führen, weldhe die feitftellenden Staatsmänner ded Congteſſes nur anzudeuten vermodht hatten.

Perthes war von Hamburg aus dem Gange der Verhandlungen mit lebhafter Iheilnahme gefolgt; unter den wiſſenden und aud uns ter den handelnden Perfonen befaß er nahe Freunde und viele Bes fannte, mit denen er in ſchriftlichem Verkehre ftand, und manche ver- traute, merkwürdige Nachricht über die Stellung der Perfönlichkeiten und über die wechfelnde Lage der Berhältniffe findet fi in den Briefen, die er während des Congreſſes aus Wien und während des Krieges aus Frankreich empfing.

Schon feit Mai und Juni 1814 wurde er mit den großen in den gegebenen Verhaͤltniſſen liegenden Schwierigkeiten befannt, welche fi der politifchen Geftaltung Deutſchlands entgegenftellten, ſchon früh erhielt er Kunde von dem Ringen Deftreichd und Preußens und fah das unruhige Arbeiten Baierns nach einer Stellung, die für voll nicht nur in Deutfchland, fondern auch in Europa gelte; er hörte von der Sorge Würtembergs, nicht hinter Batern zurüdzubleiben, und von dem Mistrauen Hannovers, welches fich vieles gefallen laf- fen wollte, nur nicht das Anſehen Preußens; er fannte die rathlofen Anftrengungen der minder mächtigen deutſchen Staaten, die ihren Fottbeſtand durch ein deutſches Kaiferthum Oeſtreichs gefichert glaub- ten, fofern dasjelbe nur ihrer Souveranetät nicht zu nahe trete; er erfuhr, wie Baden und Heflen ſchwankten, ob fie fi Baiern und Würtemberg oder den Meineren Fürften anfihliegen follten, und ex wurde von dem Widerwillen der europäifchen Mächte gegen jeden Schritt unterrichtet, welcher die Bedeutung Deutſchlands oder einer deutfhen Macht verftärfen könne

Lebendiger noch trat aber aus jenen Briefen die Gewißheit her- vor, daß die in den Verhältnitfen liegenden Gegenfäge durch die Lei- denfchaft der fich befämpfenden Parteien über alled Map hinaus ver- (härft und erweitert wurden. Grbittert griffen Belannte, welche Perthes auf dem Congreſſe beſaß, die Haltung Deftreihd an und eiferten in heftigen Worten gegen Metternich. Metternich will, fchrieb ihm ein Freund, nicht laſſen von den alten Künften böfer Politik,

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und um für Deftreih Gewinn zu ziehen, begünftigt er am Rhein und in Schwaben dad Drängen nad einer faiferthümlichen Republik, in Baiern die Eonveränetätöfucht ehrgeisiger Minifter und in ben Elei- neren Staaten dad Streben der Fürften nach einem patriarchalifchen Kaiferthbum, zugleich aber unterhält er mit Talleyrand Verbindun⸗ gen, welche Deutihland und Europa ind DBerderben ftürzen kön⸗ nen. Die öjtreichifchen Staatdmänner find, fchrieb ein anderer, dem fchlechteften Dienfte politifcher Bequemlichkeit verfallen und wol⸗ len mit abſcheulichem Haffe gegen alle®, was nicht hochgeboren iſt, ganz Oeſtreich nur ald Mittel für Die Zwede der Diplomaten gebrau⸗ hen. Das Wiener Cabinet hält, heißt ed in einem anderen Briefe, jede Gefahr für befeitigt, weil Napoleon befiegt ift, und ahnet nicht, was unten laut wird und von unten zur Entfcheidung drängt. Die- ſes Deftreih,, in fremder Meinung geſchwächt, an eigenem Geifte verarmt und jeden Geift, der fih ihm bingibt, unglaublich ſchnell verzehrend, Tann nie und nimmer an der Spike Deutſchlands fteben. Soll Deutichland dem Schickſale Italiens, eine große Entſchädigungs⸗ maſſe für die Nachbarn zu bilden, entgehen, fo müſſen fich alle ſchwä⸗ cheren deutichen Kräfte der ftärkiten deutfchen Kraft, alfo Preußen unterordnen, es bat in feiner neueften Heldenperiode wiederum ge- geigt, daB es alles daran ſetzen kann und will, um Deutſchland frei und felbftändig zu machen.

Nicht weniger heftig. ald die Angriffe gegen Deftreich waren die Angriffe gegen Preußen, welche andere Bekannte in ihren, damals aus Wien an Perthes geſchriebenen Briefen laut werden ließen. Wah—⸗ end Deftreich zwanzig Jahre hindurch, fagte einer derfelben,. unauf- hörlich für Deutſchland gefämpft hat, ohne je damit zu prahlen, während Deftreich® Kaifer, unfer eigentlicher Kaifer, mit allen jeinen Brüdern und feinem ganzen Cabinette deutſch gefinnt ijt durch und durch, lebt in ganz Preußen fein anderer Gedanke ald der des eige- nen Bortheil® und der eigenen Vergrößerung. Wie ein Keil hat Preußen fi in Deutfchland Bineingefhoben und die Splitter, welche es felbit hat abfallen machen, reißt e8 nun unter Dem Vorwande an ih, daß diefelben ihre Unfähigkeit zu leben ja längft gezeigt hätten. Die Preußen fonımen nicht 108 von der firen Idee, dag Preußen

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Deutſchland und jede Vergrößerung Preußens eine Verſtärkung Deutfch- lands fei; fie meinen, die Deutfchen könnten nur, wenn fie Pren- fen würden, zur rechten Deutfchheit kommen. Bon tiefer Un- redlichfeit ift der ganze preußifche Staatöförper durchzogen, fchrieb ein anderer; der Rath des Könige befteht zum großen Theil aus höchſt unmoraliſchen Menfchen und faft alle Beamte tragen etwas von der Politik des Staated an fi), nach welcher jedes Mittel „Staatsweis⸗ heit” heißt, fo bald ed nur geeignet ift, andere zu bintergehen. Des Franzoſenthums find wir, ſchloß ein Brief vom December 1814, ‚Herr geworden, Gott bewahre und vor dem Preußenthum. Selfen auch Sie, mein lieber Freund, Deutichland vor diefen Raubthieren ſchützen, die, um fich zu vergrößern, kalt und herzlos alles zerreißen wollen.

Die gehäflige Bitterfeit, welche in den Gemüthern der Menfchen zu dem thatfächlich begründeten Gegenfabe zwifchen Deftreih und Preußen binzugetreten war, blieb felbft den Verhandlungen der Ca- binette nicht fremd und wurde für Perthes fchon früh aus manchen brieflihen Andeutungen erfennbar. Das, was in Deftreich, und das, was in Preußen gährt, heißt es fchon in einem Briefe vom Auguft 1814, ift durchaus entgegengefepter Art und wird feindlich zuſam⸗ menftogen müffen. Noch freilich berühren ſich die entgegengefekten Strömungen nicht, oder: doch nur in den Köpfen einiger wenigen Menſchen; aber ereignisvoll wird die nächite Zeit fein. Fort⸗ während werden Noten gemechfelt, fchrieb im October ein Freund

aus Wien, und fie find abwechfelnd gelinde und heftig; daher glaubt

man einen Tag beftimmt an den Frieden, den anderen Tag an den Krieg. Alles ift gerüftet und die Allianzen find geſchloſſen; die Par- teien haffen fih genugfam, um loszufchlagen: aber noch hält die Furcht fie vor dem Beißen zurüd und geftattet nur das Bellen. Wie bei der überall hervortretenden Selbitfucht und Erbärmlichfeit irgend etwas würdiges und dauerndes zu Stande fommen foll, ift nicht ab- zufehen und leicht Fönnte der Krieg das einzige Mittel fein, durch welches der ewige Schöpfer eine neue Ordnung der Dinge hervor⸗ bringen will.

In den Briefen, die Verthes feit dem November 1814 empfing,

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trat der fortichreitende Zerfall der großen Congreßmächte immer deut- licher hervor. Neue Urſachen zum Groll und Haf zeigen fich täglich, heißt es in denſelben, aber neue Mittel, fie zu befeitigen, wollen nicht erjcheinen. Man weiß in der entfeglichen Lage weder Weg noch Ziel, und die großen Mächte gebrauchen in dem heftigen Rampfe, den fie gegeneinander führen, wieder. die alten Waffen: der früheren Unter- bandlungsfunft mit allen ihren Raͤnken, Meberliftungen, Borjpieges - lungen und Rüdhalten, welche durch die legte große Zeit für immer befeitigt fchienen. Wahrlic die Sachen find hier fo geftellt, daß man fih Ihämen muß, fie in einem anderen al in einem falfchen Lichte erſcheinen zu laſſen. Wehe dem, der feine Hoffnungen auf diefen Haufen Diplomaten febt, welche, der Wahrheit nach, nichts anderes wiffen ald die Schwierigkeiten hinaudzufchieben, zum Scheine aber doch, bevor fie audeinander gehen, eine Art von Schluß ded Congreſ⸗ ſes zuſammenſetzen werden, der mit dem Trugbilde einer Beendigung tröftet! Noch nie ift das Herrfchen und die Staatskunſt fo gänzlich aller Würde entblößt erfehienen, aber wahrſcheinlich wird fie auch nie fo erfolglo® gewefen fein. Die Beichlüffe, nad) zufälligen Launen und wechfelnden Bequemlichkeiten anmaßender Menſchen gefaßt, ſchrieb ein anderer, können und werden nicht? bleibendes erzeugen und eine fremde Gewalt, der revolutionäre Zeitgeift, wird über kurz oder lang den ganzen Plunder über den Haufen werfen, aber was dann? Einen Mann, der der bedeutenden Zeit gewachſen wäre, haben wir nicht. Im ſchroffen Gegenfage zu dem erfolglofen Abmühen de? Con- greſſes und zu den Aengften und Nöthen der Diplomaten wurde die Nation von einer bis zur Begeifterung erhobenen politifhen Stim- mung beherrſcht, welche aus dem Zufammenwirken verjchiedenartiger Kräfte langſam feit. einigen Menfchenaltern erwachſen war. Es ift nicht möglih, Männer richtig zu würdigen, welche, wie Perthes, Die auf die Freiheitöfriege folgenden Jahre mit lebendiger Theilnahme durchlebten, wenn man nicht die mächtige Bewegung ſich vergegen- wärtigt, von welcher die Nation damals geiftig ergriffen war. Nach langer Selbftvergefienheit hatten bereit? etwa ein halbes Jahrhundert früher die Deutfchen ſich plößlich in dem poetifchen Bilde erblickt, welches Klopftod und das ihm folgende jüngere Dichterge-

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fchledht von ihnen entwarf: Zu ihrer eigenen Bermunderung hatten fie durch die Dichter in Erfahrung gebracht, dag fie nicht nur ein Volk feien, fondern aud ein Voll, dem an Kraft und Herrlichkeit nicht leicht ein andered verglichen werden könnte. Der Glaube an das Dafein eines idealifirten deutfchen Volkes mar während der lebten Sahrzehende des vorigen Jahrhundert? ungehindert durch die Flein- liche Wirklichkeit tiefer und tiefer in. das geiftige Volksleben gefenkt und hatte eine neue Färbung durch jene in Schiller verkörperte Rich⸗ tung erhalten, welche für das Ideale eine Wirklichkeit zu fchaffen ftrebte. Dann hatte die Romantik, Werth und Wefen der Dinge und Verhaltniſſe faft ausfchlieglih in deren poetiſchem Gehalt erblidend, des Poetifhen gar viel im deutſchen Volke aufgefunden und eben um dieſes poetifchen Kerned wegen die nationale Herrlichkeit aufs neue hoch gepriefen. Als nun der Drud Napoleon'ſcher Herrichaft die Be- ften des Volkes in einer früher unbefannten Weife feft aneinander drängte, mußte wohl inmitten der politifchen Zerfplitterung deutfche Sitte und Spradhe, deutfche Wiffenfhaft und Kunft ald ein großes nationale® Gut in hellem Glanze leuchten und die außerordentlichen - Anftrengungen und Erfolge der Freiheitöfriege fügten diefem natio- nalen Schage eine große friegerifche That hinzu. Nicht mehr die Dich— tung allein, fondern das Leben ſelbſt lobte nun die Deutfchen und mit ftaunender Bewunderung fahen die Fremden auf die neu ſich er- bebende europäifche Kraft. Die Nation trat aus den Kampfe mit einem glühenden Glauben an die eigene Größe hervor, der aus der Dichter Poefie, aus Idealismus und Romantif, aud der Freude an deutfcher Wiffenfchaft und Kunft und aus dem Stolze auf das voll- brachte große friegerifche Werk erwachfen war. Unmöglich fonnte das mächtig überfchwellende Nationalgefühl wieder eingehäuft werden in die engen, Fleinlihen und nun in Scherben umberliegenden Formen des vorigen Jahrhunderts, aber eben jo wenig konnte es zertheilt werden in eine Bielheit vereinfamt nebeneinander liegender Staaten, wie zur Napoleon’fhen Zeit. Eine Form, welche die ſich ihrer aufs neue bewußt getvordene Ration ganz umſchloß und als politijcher Ausdrud für die nationale Einheit gelten konnte, war Nothiwendig- feit, und das Bewußtſein diefer Nothwendigkeit bemächtigte ſich der

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Gemüther fo ausſchließlich, daß alles Streben und Hoffen nur auf die deutſche Einheitdform gerichtet war. Wie ed fünftig in den ein- zelnen deutfchen Staaten audfehen werde, daran dachten zunächſt nur wenige und der mit der ganzen Kraft des Neuen hervorbrecdhende Ju⸗ belruf der Rationalität drängte ſchnell die Regungen des Selbftgefühld zurüd, die fi) hier und da, namentlich in Hannover, Baiern und Sachſen, dem Trieb nah Einheit entgegenftellen wollten. Darüber war die öffentliche Meinung völlig einig, daß dem deutfchen Bolfe in feiner Einheit eine herrliche Zukunft zu Theil werden müffe, über de- ven Ratur aber waren bekanntlich nicht grade die deutlichiten Vorftel- lungen verbreitet. Der Mangel derfelben machte indeffen nur wenigen Eorge; die, meiften hielten e8 für Fleinlih und der großen Zeit nicht würdig, ſich mit jo untergeordneten Fragen wie der nad) der Mög- - lichkeit oder Unmöglichkeit beftimmter Berfaffungdformen Deutſchlands zu befhäftigen oder dem Widerftande, welchen die wirklichen Berhält- niſſe und thatfächlichen Zuftände dem Wünfchen und Hoffen entge- genftellten, ein aufmerkfamed Auge zu leihen.

Indem das Streben nach einem der nationalen Einheit entfpre- enden politifchen Ausdrud fid) des Blickes auf die Wirklichkeit ent« ſchlug, trat durch ganz Deutichland ein dunkle, ungeoröneted und deshalb um fo heftigered® Drängen hervor nad einem. unbefannten Etwas, welches bald deutiche Einheit oder deutiche Ehre, bald deut. fche Freiheit oder deutiche Herrlichkeit, zumeilen auch wohl deutiches Kaijerthum genannt ward. Diefed Etwas wollten die Deutichen tm Fahre 1814 mit eben dem Eifer erftürmen, wie im Jahr 1813 die Befreiung von der franzöfifchen Herrſchaft; aber die Volksbewegung beider Jahre hatte durch die Verfchiedenheit des Zieles, auf welches fie gerichtet war, eine durchaus verfchiedene Natur angenommen. Im Jahr 1813 war fie auf ein einziges, feft beftimmtes Ziel: die Ber: nichtung der Herrſchaft Napoleon’d, gerichtet geweſen; jeder hatte ge- mwußt, was er wollte, und niemand befchäftigte fi mit den Dingen, die er etwa nicht wollte Im Jahre 1814 dagegen war allerdings das nationale Bedürfnis nach Einheit als ein wahres ıind wirkliches vorhanden, aber das Drängen und Arbeiten im Volke zur Befriedi— gung desfelben entbehrte jeded gemeinfamen Zieles; in taufend Rich⸗

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tungen, Hoffnungen, Beftrebungen war das vor wenigen Monaten noch in ſich feſt geſchloſſene Volk auseinander geſprengt; jeder wußte, was er nicht wollte, und machte dieſes Nichtwollen leidenſchaftlich geltend, aber was er wollte, wußte in einer beſtimmt gedachten und der Ausführung fähigen Form niemand. Denn das unter dem glän⸗ zenden Ramen: deutfche Freiheit oder deutfche Einheit oder deutfches Kaifertbum, von vielen ſcheinbar gemeinfam verfolgte Ziel gehörte nicht der Wirklichkeit an, fondern dem wogenden Meere eined unbe ftimmten Ahnen? und Sehnen; e3 glich einem Wolfenbilde, welches, jelbft geftaltlo8, feine Geftalt von dem befchauenden Auge empfängt und deshalb fo viele Geftalten befist, als es befchauende Augen gibt. Zwar verfuchte ed wohl diefer oder jener, das Gebilde feined Auges feftzuhalten und in Worte oder Paragraphen gebannt anderen vorzu⸗ legen; aber dur folche Verſuche ward dad Geitaltlofe nur fixiert, aber fo wenig geftaltet wie ein Wolfengebilde, wenn es zu Eis er-

ftarrt. |

Die auf ein Grenzenloſes hinarbeitende Bewegung im deutfchen Volksleben mußte nothiwendig mit jenem Congreſſe in Wien auf das heftigfte zufammenftoßen, der vor allem mit den Schwierigfeiten des Augenblid fi abmühte und das Ziel aud den Augen verlor, indem er um die Wege und Mittel ftritt. Der Congreß fah in den fpäteren Monaten feined Zufammenfeind auf die Bewegungen im Bolfe hin wie auf eine unheimliche, gefahrdrohende Macht, und die Gefchichte der Öffentlichen Meinung in Deutfchland beftand vom Frühfommer 1814 bis zum Frühſommer 1815 in dem Uebergange von der Hoff- nung zum Zweifel, vom’ Zweifel zur Midachtung, von der Misach— fung zum bitterften Haß gegen die Congrepthätigkeit der Regierungen und zum Theil ſchon gegen die Regierungen felbit.

In diefem großen, zwifhen Staat und Bolt, zwifchen Politik und Nationalität hervorgetretenen Gegenfage mußten die Männer, welche politifch fühlten, fi) ihre Stellung wählen, hier oder da., Per- thes neigte fich dem natürlichen Zuge feines Herzens nah auf Seiten der Nationalität. Bon Jugend auf hatte er mehr Sinn für Wefen und Werth des Nationalen als für Wefen und Werth des Staates gehabt, war mehr national als politifch entwidelt gewefen. Wie

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groß und bedeutend ihm damals die Macht der Nationalität vor ber Seele ftand, fpricht fih unter anderm in einem Briefe lebendig aus, den er an Fouque fchrieb, ald Chamiffo, befanntlich ein geborener Franzofe, in Hamburg gemwefen war. Es hat mit leid gethan, heißt es in diefem Briefe, dag Du über diefen wunderbaren und wunderlichen Mann mir nichts näheres gefagt haft. Ich babe ihn fehr Liebens- würdig, ſehr geiftreih, fehr verftandvoll gefunden; aber fehr unglüd- lich ift der Mann: er hat kein Vaterland. Seine Natur gehört ganz feinem franzöfifchen Mutterlande an; er kann fih davon nicht tren- nen und fann doch auch nicht zu den Menfchen gehören, die dort faft möchte ich fagen machen. Die Liebe zum Baterlande, das Gehören zu einer Nation und die Gemeinſchaft alles ihres Glüͤcks und Unglüds fcheint dem Menfchen fo tief eingefeelt zu fein, daß fein Ber- hältnis, feine Univerfalität, ja auch die Liebe und Gott nicht hienie- den über folchen Berluft un? tröften und ung denfelben erſetzen kann. Die Mafje der Menfchen ald einzelner, fchrieb er ein anderedmal, mag wohl zu allen Zeiten und in allen Ländern fo ziemlich gleich fein in Rüdficht auf gut und böfe, aber in den Nationalitäten bildet ſich Gottes Ebenbild verſchieden ab. In den Nationen und nicht in den einzelnen liegt der Unterſchied nach Zeit und Land, und je höher die Nation, um fo bloßer fteht der einzelne in feiner Sünde. Wer wollte richten zwifchen den Millionen Franzofen und den Millionen Englän- dern, ob diefe oder jene einzeln genommen zur Rechten Gottes fißen follen oder zu den Böden gehören? Gewiß niemand, aber da3 iſt feine Sünde, die Franzoſen als Volf zu verdammen und die Eng- länder hoch zu preifen. Waren die einzelnen, welche Serufalem zer ftörten, beffer al® die einzelnen Juden? Das weiß Gott, aber den» noch mußten die Römer Jeruſalem zerftören und die Juden in alle Welt zerftreut werden und das von Rechts wegen.

Für die Deutfchen insbefondere hatte Perthed immer einen un⸗ gleich größeren Werth auf die Nationalität ald auf die politifhe Ber- faffung gelegt. Richt nur Heffen, Würtemberg oder Medlenburg, fon- dern auch der preußifche und der öftreichifche Staat traten ihm im Vergleiche mit der deutfchen Nationalität fehr in den Hintergrund. ALS die deutfchen Staaten, einer nad) dem andern, Napoleon unter-

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legen waren, fchien ihm dennoch nicht alle8 verloren; ohne Wanken hoffte er auf Rettung der deutſchen Staaten durch das deutiche Volf, und die nationale Erhebung während des Freiheitöfrieged hatte fei- nen Glauben an die deutfche Nation noch geftählt. Nimm und Deut- hen, fehrieb er damals einem Freunde, unfere Nationalität, jo wer⸗ den alle unfere Staaten und Städte, alle unfere Bürger und Haus— väter das fein, was Zweig und Blatt der Eiche ift, wenn ihnen bie unfihtbare Kraft entzogen wird, die Gott in dem Stamm der (Eiche leben läßt. Unter allem Wechfel der Ereigniffe in den Jahren 1814 und 1815 bielt Perthed die Weberzeugung feſt, daß die den Deutfchen von Gott gegebene und von dem guten oder böfen Willen ber einzelnen unabhängige Nationalität groß und gut und eine ge⸗ waltige Kraft fei, der man vertrauen fönne und mülle, möchten die einzelnen Fürften oder Kaufleute, Minifter oder Handwerker, Solda⸗ ten oder Schriftgelehrten auch noch fo Selbftfüchtiges, Verfehrtes und Willfürlihes erftreben. Schon im Frühjahr 1814 hatte er geäußert: Was auch der große Kongreß, der in Wien zufaınmentreten fol, ge⸗ bäre, die deutfche Nation wirds fich ſchon bilden und fo lange ji) wenden und mwinden, bi das Rechte zu Tage gefördert if. Auf das entfchiedenfte wies er daher, fo hoch er auch Preußen ftellte, jede Aeußerung zurüd, die auf ein Preußifchwerden Deutfchlands oder ein- zelner feiner Theile hindeutete. Immer. lebendiger wird in mir die Freude an der herrlichen Entwidelung des preußifchen Volkes, hatte ein Freund ihm geihrieben, und immer lebhafter der Wunſch, fo viel vom übrigen Deutfchland, wie ohne Unrecht gefchehen kann, mit dem- jelben zu amalgamieren, damit ed mit ihm und in ihm entwidelt werde. Wad Sie mir fchreiben, antwortete Perthes, drüdt fehr genau die Stimmung und die Anficht der beiferen Preußen und derer, welche ihnen anhängen, aus, aber richtig ift es deshalb nit. Neh⸗ men Sie aus Ihrem Satze die Worte: „fo viel, wie ohne Unrecht ge- fchehen kann,“ heraus, fo ift Shre Behauptung dur und durch Na- poleonifeh und fie ift, auch wenn Sie jene Worte ftehen lafjen, durch und durch undeutich, denn der Grundzug unferer Nationalität ift: jeder Eigenthümlichkeit ihr freied Wachsthum zu lajfen. Warum foll- ten wir in diefem Augenblide, in welchem wir gezeigt haben, was

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wir einem fremden Unterjodher gegenüber vermögen, unfer eigenfted deutfches Selbſt aufopfern, indem wir die deutfche Nation einem ein- zelnen ihrer Staaten unterordnen? Alle die Männer, welche jest in gutem Glauben Deutfchland an einen oder an zwei Staaten hirizuge- ben arbeiten, find, ohne es zu wifjen oder zu wollen, Werkzeuge in der Hand fehlauer Diplomaten, von denen fie noch dazu ala Phanta- ften verlacht werden. Die Deutfchen werden auch diefer neuen ihnen drohenden Gefahr entgehen und fie werden auch fünftig ald Nation . eins fein, ohne deshalb zur preußifchen oder zur öftreichifchen Fahne ſchwören zu müflen.

Leider find die Briefe, welche Perthes während des Congreſſes

an feine Bekannten in Wien ſchrieb, bis jetzt nicht zugänglich gewor⸗ den, aber aus den Antworten läßt ſich mit Beſtimmtheit erkennen, daß er in feinem Vertrauen auf das deutſche Volk und deſſen politi⸗ ſche Zufunft auch durch den unfichern, fen vom gehbofften Ziele ab- fchweifenden Gang der Staatsmänner in Bien nicht irre gemacht und nicht entmuthigt ward. Nicht auf das beliebige Wollen einzelner Männer, fondern auf die gegebene nationale Kraft der Deutſchen war damals feine Hoffnung gebaut. Mit Freude begrüßte er daher, als im März 1815 Napoleon aufs neue Europa bedrohte, den heranna- henden gewaltigen Kampf, weil durch ihn die Entſcheidung der Dinge wiederum der Willfür der einzelnen entzogen und in die Erhebung der Nation und in das Walten Gottes gelegt zu werden ſchien. ebt gilt e8 wieder, Mann an Mann, Freund an Freund, fchrieb er im März, nun muß e8 fich zeigen, ob es Flackerfeuer ift oder ein wirk⸗ liche®, was in umferer Nation brennt. Unverantwortlich ſchien ihm daher die läffige Gleichgiltigkeit, mit welcher in den kleinern deut⸗ {hen Staaten die Rüftungen betrieben wurden. Kür Hamburg konnte er, da er zum Bewaffnungdcommiflär ber Bürgerichaft gemählt war, genau überfehen, was gefchah und mas nicht geſchah. Bitter grolite er auf die ftädtifche Obrigfett. Wir haben, fögrieb er im März, bis jebt weder aus Wien, noch von einem anderen Orte eine Marfch- oder Bewaffnungsordre erhalten und unfer Staat jcheint feine bes fannte Schläfrigfeit fortdauern laſſen zu wollen, und zwar jehr mit Abfiht. Hannover hat und angezeigt, daß die dortige Megierung es

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für nöthig finde, Mafregeln zu ergreifen, und es der Weisheit uns ferer Obrigkeit überlaffe, zu beurtheilen, ob ed nicht auch für fie ge- rathen fei, Mafregeln zu ergreifen. Nun diefesmal fann der Senat fein Schwanfen und feine Feigheit nicht mit der Unzulänglichkeit eines ruffifhen Oberften entfchuldigen.

Deforgter noch als auf das furchtſame Zögern der kleinen nord- deutfchen Staaten fahen in jenen Tagen viele auf Süddeutfchland hin; bie bedenkflichiten Gerüchte über die Unzuverläffigkeit der Regierungen - von Baiern, Baden und Würtemberg waren in Umlauf. ch fehe Unglüd, großed Unglüd aufd neue über und fommen, äußerte Per- - thes, und wer Unglüd fommen fieht, muß Hand anlegen, wo und wie er fann, um vorzubeugen, fo viel in feinen Kräften fteht. Das pofitiv Böfe tritt wiederum in fraftvolliter Einheit auf. Napoleon gebietet unumfchräntt über eine aus allen menfehlichen und rechtlichen Berhältniffen herausgetretene und in militärifche Verwilderung über- gegangene Nation. Ihm gegenüber fann fich. das jetzt freilich überall vorwiegende, aber ‘tief in die einzelne Menfchenbruft verfenfte Gute nur unbehilflih und nur vereinzelt Geltung verfhaffen. Milttärifche Streitkräfte hat Deutfchland allerdingd dieſesmal für den erften Kriegdanfang genug; es ift heute anders als vor zwei Jahren. Da- mals mußte, weil das Volk die Armeen erft bilden und den Fürften Muth und Vertrauen verfchaffen follte, das edelfte Blut voraus. Sept find die Armeen unter den Waffen, jebt fönnen die Regierungen ver- foffungsmäßig aufbieten, was aufgeboten werden muß. Darum dür- fen jetzt nicht wieder wie 1813 die edelften Kräfte, das freiefte, feftefte Wollen auf Borpoften und in Freicorps vergeudet werden, fondern müfjen aufgefpart werden für die eigentlich entfcheidende Stunde, und diefe kann uns in furchtbarer Schredlichkeit erfcheinen. Wer-fann da⸗ für einftehen, daß nicht ein Unglüd eintritt oder ein Fehler gemacht wird und Napoleon hier oder dort ald Sieger daftehbt? Iſt aber nur ar einer einzigen Stelle ein Damm gebrochen, dann wird fchnell ge- nug in diefem oder jenem Cabinette wir fernen ja die Gefinnung in manchen derfelben genau genug Feigheit oder Berrath die Oberhand gewinnen. Zuerft hier, dann dort, dann an vielen Orten wird das Gewehr geftrecdt werden und wir alle find zugleich mit Deutfchland

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verloren. Um ein-folched Unglück abzuwenden, muß fchon jept eine Macht gebildet werden, die ein Damm werden kann gegen den Durch« bruch des Feindes und ein Schreden für den treulojen Freund.

Nach verjchiedenen ‚Seiten hin, befonderd® aber im preußifchen Hauptquartier machte Perthes diefe Anficht geltend. Im Rüden des fämpfenden Heeres follten, fo war feine Meinung, die beften, edel- ften Kräfte aus ganz Deutſchland unter einem Führer erften Ranges gefammelt werden, um einen frifchen und guten Geift im Volke zu erhalten, die hinter fich blidenden ſchwachen Fürften zu flügen und fchnelle Rache zu nehmen an den Verräthern unter ihnen. Wenn fpä- tere‘ Greigniffe ein Aufgebot in Maije forderten, fo würde. dasfelbe durh Einreihung in diefe fehon gebildete Schar fofort Ordnung und Führer erhalten können. Schon dur ihr Dafein allein, äußerte Perthes, wird eine ſolche Neferve unter Preußens Leitung und Befehl die Gelüfte zum Abfall aus Feigheit oder Berrath auch bei den zwei⸗ deufigiten Regierungen zurüddrängen. Während Perthes außer- halb Hamburgs nicht? thun konnte als verfuchen, die Theilnahme für feine Anficht anzuregen, legte er in Hamburg felbit fofort Hand and Werk. . Eine Anzahl muthiger und fampfesluftiger junger Män- ner wählte einen Ausſchuß von zehn älteren Bürgern, welcher am 1. April in Perthes’ Wohnung zufammentrat. Die Vorbereitungen zur Bewaffnung wurden getroffen, Berbindungen in Lübed und: Bre⸗ men. angefnüpft und an den Landgrafen Ernft von Heſſen⸗Philipps⸗ thal« Barchfeld - der Antrag geftellt, den Befehl über ein in diefer Weiſe geſammeltes Banner zu übernehmen. br glüdlicher und be» deutender Gedanke ift zwar, fchrieb fpäter ein preußifcher Staat3- mann an Perthed, bei dem unglaublich fchnellen Gange ded Kriege? unauögeführt geblieben; aber ihn in der damaligen Lage der Dinge gehabt zu haben, wird Ihnen eine Freude bleiben, fo lange Sie leben. |

Inmitten der allgemeinen politifhen Aufregung reifte Perthes am 8. April nach Leipzig ab, um die Handlung auf der dortigen Meſſe nach . zweijähriger Unterbrechung wieder zu vertreten. Er fand alles in großer Spannung über die Zukunft Sachſens, die in jenen Tagen entfchieden wurde. Aber die Theilnahme an dem entfeglichen Schid-

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fal des auseinander geriffenen Landes wurde in allen nicht unmittel- bar Betheiligten ſchnell durch das Gewicht der großen europäifchen . Frage in den Hintergrund gedrängt. Was foll ich über die Weltbe- gebenheiten Dir fchreiben ? äußerte Perthes in einem Briefe an Garo- line auß ber zweiten Hälfte ded April; hier und überall ift es ſchreck⸗ (ich ftille wie vor einem fürdhterlihen Ausbruche. Ich habe Briefe aus Berlin und Wien: ein großer, gewaltiger Krieg beginnt und wir Deutjche fönnen und nur auf und und auf nicht? anderes in der Welt verlaffen. Bon manchen Berhältnijfen fehe ich jegt den Zuſammen⸗ hang, doch wer mag Gottes Willen erfennen? Kein Menſch, und kenne er die Vergangenheit auch noch fo gut und. fei fein Auge auch noch fo fcharf für den Blick in die Zukunft gebildet, fann ahnen, wie fi) Europa, wie ſich Deutfchland geitalten werde. Ja wohl, die fommende Zeit fieht ſchwarz und dunkel aus, antwortete Caroline, der liebe Gott wolle fie und fo helle machen, wie wir es vertragen fönnen. Eben hat mir Runge das lebte Stüd vom Rheinischen Mer- cur vorgeleſen; das redet gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten. 63 ift unmöglid, daß Die Rede ohne Folge bleibt; fie ift mir faft zu far, und dennoch fürchte ich, daß fie die Wahrheit fagt; und daß dem Manne, der fie fehrieb, nur die Wahrheit und dad Gute am Her- zen liegt, darüber fann fein Zweifel fein. Gewiß, lieber Perthes, ich wollte, diefer Auffag mwäre von Dir. Was auch darnad) fommen mag, ex ift beffer ald ein Feldzug. Aus Wien habe ich einen Brief von der Graͤfin B.; dort feinen die hohen Herrfchaften einen Fläglichen Glau⸗ ben zu haben und den Großen für noch größer als groß zu halten. Wie gewaltig Napoleon jet nad) allen vier Winden bin im Stillen arbeiten läßt, wird fich zwar bald genug öffentlich offenbaren, aber Mein muß der Große dennoch werden. Die Angjt, welche die Herrſchaften haben, entgegnete Perthes, kann nicht ſchaden; fie wollen ja felbft noch im alten Teflament leben, wo Gott nur als Herr der Heerfcharen im Donner und Wetter regierte; fie, die Fürften und Regierungen, verftehen es nicht, die öffentliche Meinung, die ihnen durch die Liebe der Völker fund gemacht wird, zu benugen, und müſ⸗ fen deshalb durch die Zuchtruthe ded Herrn dazu gendthigt werben. Bald nachdem Perthes aus Leipzig zurüdgefehrt war, näberten

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fih die feindlichen Heere einander und der Tag der großen Entſchei⸗ . dung ftand bevor. Ein friiher Kampfesmuth ging wieder durch die von dem langen politifchen Gezerre vertrodneten Gemüther. Zwei Tage vor der Schlacht bei Belle- Alliance ſchrieb Perthed an Fouque, der nach einem furzen Aufenthalt in Hamburg die Grafen Stolberg und Reventlom auf deren Gütern befuchte: Sie werden jept den ver- ehrten Grafen Stolberg und feine herrliche Gemahlin, Sie werden die fromme, edle Familie in Altenhof haben kennen lernen. Wie ‚gerne wäre ich dort einen Zag mit Ihnen! Wir wollten gemein« ihaftlih eine heitere Anficht der Gefchichte geltend machen und be- wahrheiten, wie eine mutbige, fräftige- Jugend, die durch Anftrengung und Belämpfung von Gefahren und Schwierigkeiten früh zum Auf- blid zu Gott und zur Demuth geführt ward, wie eine folhe Jugend dem deutichen Volke feine uralte freie Verfaſſung wieder herbeibrin- " gen wird, ausgeftattet mit der Ausbildung und Bollfommenheit, die die Erfahrung von Jahrhunderten mit fih führt. Nicht aufhören möchte ich zu predigen den Muth, das frohe Vorwärts, die liebende Hoffnung zu dem ewig jungen Menfchen. Lange gährt und brütet die Zeit, ehe fie einen Schritt thut, dann aber thut fie einen riefigen, wobei freilich vieles Gewürme jammernd und frümmend zu Grunde gebt. Das muß und nicht ftören im Glauben und Vertrauen thun wir doch den harten Schritt nicht im ftolzen Selbitvertrauen, fondern fehen tiefihauernd, wie Gott lang warnend und vorbereitend die Weltgeichichte den Schritt thun läßt. Wir aber haben ritterlich zu fämpfen mit denen, die, fich felbft verblendend, den Lauf der Gejchichte aufhalten wollen, um entweder despotiſch ihr Ich gelten zu laſſen ober bequem auf dem legten noch haltenden Polfter vergangener Zeiten ruhen und vergnüglich ſich darauf ergögen zu Tönnen.

Schneller, als irgend jemand hatte erwarten können, wurden die kühnſten auf Befiegung Napoleon's gerichteten Hoffnungen durch dic Schlacht bei Belle- Alliance erfüllt. Als die erften unbeitimmten Ge⸗ rüchte von einem großen, entjcheidenden Schlage nah Wandsbeck ge- fommen waren, wo Caroline ſich einige Wochen aufhielt, ſchrieb fie fogleih in höchfter Bewegung nad) Hamburg: Iſt es wahr, lieber Perthes? warum bift Du nicht hier oder ih bei Dir? Schreibe mir

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doch, ob ed wahr ift, oder fage mir, ob es wahr iſt; ich fann es nicht glauben und horche auf Töne in der Luft. Caroline hatte ihre Kinder auf der nah Hamburg führenden Landitrage aufgeftellt, um fhon von weiten den erwarteten Boten fehen zu können; endlich fprengte ein Reiter in geftredttem Galoppe heran, der aus der ferne fhon unter lautem Jubelrufe ein weißes Tuch hoch. in der Luft wehen ließ. E83 war ein Freund des Haufes, welcher von Perthes nebft dem Zeitungsblatte mit der Siegednadhricht die Worte überbrachte: Siebe die Wunderwerle Gotted und preife und danke. Das’ift ein Sieg, antwortete Caroline, Gott helfe weiter und, wenn es fein fann, ohne zu friegen und zu fiegen, wenn? nicht zu viel verlangt if. Hanbury, fhreibft Du, fei zufammengefchoffen? Die arme Mutter in Flottbeck! Sie muß aber doch Stand halten; fie fieht zu deutlich, für was es ift. In wunderbar rafchem Berlaufe rüdten nun die Begeben» heiten weiter vor. Der erfte große Act des europäifchen Schaufpield ift beendet, ſchrieb Perthes am 30. Juni an Caroline; Napoleon ift beihronifiert. Inliegendes Ertrablatt lehrt Dich da weitere. Wenn die Franzoſen Diefen ihren Götzen ausliefern, fo ſetzen fie fich die Krone ihrer Bertworfenheit felber auf. Sch erwarte ed, und dafür will ich illuminieren, nicht für den Sturz des Ungeheuerd, der mir längft als geftürzt erfehten. In Frankreich geht ed bunt über, fehrieb er mes nige Tage fpäter, und Died Höllenreich bricht ſchrecklich zuſammen. Welch eine Gerechtigkeit Gottes! Geſtern hat fih das Gerücht von Napoleon's Gefangennehmung verbreitet, heißt ed in einem Briefe an Caroline vom 26. Juli; ficher aber ift e8 noch nicht. Glaube mir, in den jepigen alled Maß und allen Gedanken überfteigenden Zeitläufen ift die Perfon, Ddiefed Ungeheuer nicht mehr in ſolchem Grade unferer Beachtung werth, wie ed Dir und der halben Welt erfeheint. Betrachte das Schickſal der Franzofen, ihren bisherigen Untergang, ihre fürdhterliche Zukunft! Die Zerftörung der Juden ift nicht? dagegen. |

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Berthes’ Thätigteit für die leidenden Stände und feine Erfahrungen in der Familie F 1814 und 1815.

Die Ereigniſſe, welche vom Spätſommer 1814 bis zum Spät- fommer 1815 Europa aufs neue erſchütterten, drängten zwar den einzelnen gewaltfam aus feinem Einzelleben heraus und in die Theil- nahme an den allgemeinen Angelegenheiten hinein; aber in der poli- tiſch bewegten Zeit bleibt doch der Menfch mit feinem ganzen rein menfchlihen Gefchid nicht weniger bedeutend und nicht weniger be- rechtigt als in den Jahren tiefer politifcher Ruhe. Weil Staaten miteinander fämpfen, fiegen oder untergehen, thut Hunger und Froft, leibliche und geiftliche Noth dem einzelnen Menfchenherzen und ein- zelnen DMenfchenleibe nicht weniger weh, und weil große Schlachten gefchlagen und große Congreſſe gehalten werden, foll der Antheil an dem Menfchen und feinen irdifchen und ewigen Bebürfniffen nicht ge- ringer jein; denn auch der arme, der verfommene Menſch fteht dein Staate in unvergleichbarer Hoheit gegenüber; er ift auch in ewigen, . der Staat nur in irdifchen Berhältniffen ein Dauernded. Es wäre nicht ein Zeichen politifcher Größe, fondern fittlicher Kleinheit geweſen, wenn in der gewaltigen Erhebung der Freiheitäfriege der Menfch ver- geflen worden wäre. Die menfchliche Noth trat überdies in den an- derthalb Fahren zmifchen dem erften und dem zweiten Barifer Frieden überall fo ſcharf und fehneidend hervor und hatte namentlich in Ham⸗ burg eine ſolche Höhe erreicht, daß fie auch inmitten der größten po- litifhen Eindrüde nur den ftumpfen Sinn unberührt laſſen konnte.

Lange Monate hindurch hatten in Hamburg die vielen Hände, die in täglicher Arbeit das tägliche Brot für- Frau und Kind verdie- nen, feiern müffen, weil da® ganze lebendige Getriebe, wie es der Handel und die Schiffahrt der Weltftadt hervorruft, einer Grabesftille Plap gemacht hatte. Mit dem Augenblide, in welchem der Verkehr im Hafen und in den Waarenlagern aufhörte, fing der Hunger an

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für viele thätige und Fräftige Menfchen. Taufende hatten Obdach

und Eigenthbum verloren, als Davouft die Vorftädte Hamburg? ab- brennen ließ; an fechsundzwanzigtauſend Greife, Frauen, Kinder und hilflofe Männer waren von ihm in harter Decemberfälte aus der Stadt getrieben. Schrecklich hatte zwar der Tod unter ihnen aufge: räumt; auf jener Wiefe hinter Ottenfen allein lagen elfhundert acht- unddreißig eingegraben:: aber dennod) fehrten Taufende, begleitet von Krankheit und Siehthum, zurüd, ohne irgend ein Befigthum als dad, was fie auf dem Leibe trugen. Brot und Obdach und ein Strob- lager mußte doc) wenigſtens jedem der vielen Hilflofen zu Theil wer⸗ - den. Fleißige Handwerker entbehrten, um ihr Handiwerf wieder be- ginnen zu fönnen, des nothwendigſten Werkzeug? ; die vielen Fleinen Verkäufer, durch welche der tägliche Bedarf der großen Stadt vermit- telt ward, mußten zur Beitreitung der erften Auslagen über ein Flei- ned Tapital verfügen fünnen; an allen Orten und Enden traten Be- dürfniffe hervor, die dringend Befriedigung verlangten. Die öffent- lichen Armenanftalten griffen zwar gleich nach der Befreiung der Stadt großartig ein; 148,000 Mark verwendeten fie jährlih an Almoſen und für Miethe und Bekleidung: aber die durch die außerordentlichen Umftände berbeigeführte maflenhafte Noth forderte außerordentliche Anftrengungen. Bedeutende Hilfgmittel wurden ducch Sammlungen unter den wohlhabenden Bürgern zufammengebraht und aus vielen europaͤiſchen Handeldpläßen liefen größere und Feinere Gaben ein: ſendete doch da3 entfernte Malta 1300 Gulden Augsburger Courant und in London wirkte von Heß mit unabläflichem Eifer, um feinen unglüdlihen Mitbürgern immer neue, reihliche Spenden zu verfchaf- fen. In die ſchwierige Verabreichung der Unterftüßungen hatte ſich eine Anzahl erfahrener Bürger getheilt; Perthes übernahm mit eini- gen anderen namentlid) die Berwendung der englifchen Gelder, und bie langen noch jegt erhaltenen Berzeichniffe der ausgetheilten Gaben legen em Zeugnid ab von der Eorafalt und Gewiflenhaftigfeit, mit welcher er fi dem Gejhäfte unterzog. Im bunten Wechfel finden fi angegeben: Bezahlung der Miethe für einen Blinden, Kleidung eines Mädchens, um wieder in Dienfte gehen zu können ; Handwerks⸗ zeug für einen Tifchler, Heilung eines bei der Vertreibung aus Ham-

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burg wahnjinnig gewordenen Mädchens; Erziehung mehrerer Kinder, deren Eltern und Verwandte fäntlich während der Vertreibung um- gelommen waren; Unterhalt einer Witwe, deren Mann die Franzoſen erichoffen hatten; Wiederaufrichtung eined von Davouft abgebrannten Hauſes, für zwei rechtliche Weiber zum Wiederanfang ihres Fiſchhan⸗ dels, Unterftüßung eined achtzigjährigen Schufter® , welcher mit aus⸗ getrieben gewefen war. |

Durch die Hilfe, welche er zu gewähren vermochte, war Perthes mit vielen in der äußerften Noth verfommenen Denfchen in nahe Be⸗ rührung getreten, und überall fand er, daß noch andere als Teibliche Bedürfniffe diefelben quälten und in tiefer Verkommenheit erhielten. Ich habe reiche Erfahrungen in den unterften Ständen gemacht, fehrieb ‘er im September 1814, und Gottlob, oft habe ich gefunden, daß die erduldeten Leiden und Schmerzen viele Menfchenherzen aus dem frü- heren ftumpfen Dahinleben in der verlahmten Zeit heraudgeführt und auf das Weberfinnliche und Göttliche hingewendet haben, hunderte von Familien möchten Troft und Hilfe bei Gott fuchen, aber fie fen- nen die Wege, diezu ihm führen, nicht und können fie nicht Tennen, fo wie unfere früheren Juftände waren. Was vermögen die wenigen Geiftlichen diefen vielen gegenüber, und auch Bibeln find nur in we- nigen $amilien befannt; felbit in Schulen habe’ich Mangel daran gefunden. lim eben diefe Zeit begann die 1804 gegründete Lon- doner Bibelgefellfehaft Fräftige Berfuche einer Einwirkung auf Deutſch⸗ land zu maden. Sie forderte durch die herübergefendeten Geiftlichen Steinfopf und Patterfon zunächſt den Senior Rambach, Perthed und Gilbert van der Smiſſen auf, auch in Hamburg und Altona einen Derein für Bibelvertheilung zu gründen, und verſprach einen foforti- gen Zuſchuß von mehreren hundert Pfund. Perthes und feine gleich⸗ gefinnten Freunde verbargen ſich nicht, daß bei der damals herrichen- den Richtung unter jedem DVerfuche, der ergangenen Aufforderung nachzufommen, ein myſtiſches oder pietiſtiſches oder mit irgend fonft einem vermwerfenden Namen bezeichnete Unternehmen geargwohnt werden würde.

Um fo viel wie möglich dem Verdacht des Heimlichen und Sec⸗ tiererifchen zuvorzufomnen, wendete ſich Berthes im Auftrage der ent-

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ftehenden Gefellfchaft an die Männer, welche die erften firchlihen und politifchen Yemter in Hamburg inne hatten, und bat fig, an dem be- ginnenden Werke perſönlichen Antheil zu nehmen. In einem Schrei- ben an den Bürgermeifter Barteld vom September 1814 bob er na⸗ mentlich. hervor, daß vor alleın unter den norddeutichen Proteftanten Vereine von Laien zur Berbreitung der heiligen Schrift ein dringendes Bedürfnis ſeien, weil der Einfluß der Geiſtlichen durch deren eigene Schuld in ſolchem Grade geſunken ſei, daß keine allein von ihnen ausgehende Thätigkeit durchgreifende Wirkung üben könne. Ham- burgs Obrigkeit möge überdies bedenken, daß ſich unter den leitenden Mitgliedern der engliſchen Bibelgeſellſchaft königliche Prinzen, Erz⸗ biſchöfe, Miniſter und viele Männer befänden, durch deren Bermitte- lung den Bürgern Hamburg? die reichen Gaben zur Abhilfe der leib- lichen Noth zugeflojjen wären. Wenn nun jept die dargebotene gei- flige Gabe kalt und troden zurüdgemiefen würde, fo werde auch ma- terieller Schaden für Hamburg nicht ausbleiben.

Am 6. und am 13. October 1814 wurden in Perthes’ Wohnung die erfien Berfammlungen zur näheren Berftändigung über die in Deutſchland fremdartige Angelegenheit gehalten und am 19; October trat die Hamburgifeh- Altonaifche Bibelgefellihaft ind Leben. Als diefelbe 1839 ihr Fünfundzwanzigjähriges Stiftungäfeft feierte, er- fannte fie danfend die Förderung an, welche fie von dem nun fohon lange au? Hamburg entfernten Perthes erhalten habe, und konnte die Mittheilung maden, daß 73,000 vollftändige Bibeln durch die Gefell- - [haft gedrudt und in nähere und weitere Kreife vertheilt fein. Auch in anderen Gegenden Deutfchlands regte ſich 1814 die Theilnahme für dad Unternehmen, welches als eriter Anfang einer geordneten, nicht ausſchließlich von den firchlichen Behörden geübten Thätigfeit zur Er- wedung und Erhaltung chriftlihen Lebens erfcheint. Mit Freuden will ich, fchrieb der Herzog von Holſtein⸗Beck an Perthes, die Auffor- derung jur Errichtung eines Vereins für Schleswig und Holftein er- gehen laffen und dann mit allen Kräften im Directorium arbeiten. Mander Chriftud- Freund wird fih, davon bin ich überzeugt, zur Theilnahme melden. Feſt aber mülfen wir daran halten, daß unter

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Proteftanten nur die Tutherifche Ueberfegung ohne jeden Commentar vertheilt werde.

Sch hatte mir oft den bevorftehenden Neujahrätag, heißt. es in einem Briefe, den Nicolovius im December 1814 aus Berlin an Per⸗ thes fchrieb, als unfer kirchliches Feft eines neuen Lebens gedacht. Aber die Wollen ftehen noch did am Horizonte, der Athem ift noch nicht frei. Meine Zuverfiht wankt deshalb nicht, daß der, der dad gute Merk einer neuen Belebung und Heiligung unfered Volkes angefangen bat, es auch herrlich vollenden und zu unferem Staunen ausführen werde; aber ich fehe noch fo vielen Krankheitäftoff in unferen Oberen und fo viel Böfes in der noch immer groß fi) dünkenden franzöfifchen Nation, daß große Peftbeulen mit heftigem Fieber zu befürchten oder vielmehr, da das Gift nun einmal noch im Inneren ftedt, zu hoffen find. Sie find in der Bibelgefellfhaft von ganzem Herzen thätig. Wunderbar lebt fie auch bier auf und mir ift oft, als hörte ich Bi- leam's Stimme, deilen Fluch fih in Segen verwandelte. Was erle- ben wir und wie fönnten wir nad folchen Erfahrungen an einer gu⸗ ten Zukunft zweifeln!

Es fehlte indeffen auch nicht an ernften Warnungen vor einer Ueberſchätzung des Einfluffed, welcher von der Bibelvertheilung zu er⸗ warten fei. Bibelvertheilung fei gut, fehrieb Keetmann aus Neuwied, aber e8 werde weniger auf die Menge der vertheilten Bibeln ankom⸗ men, ald auf den Sinn und den Geift, mit welchem fie vertheilt wür- den. In Hamburg zwar finde bei diefem Unternehmen der Ehrgeiz, der ja oft auch zu edler Thätigfeit die einzige Triebfeder fei, wenig Nahrung, aber dennoch möge fich ein jeder prüfen. Was künnen die Bibelvereine für ſich allein helfen, äußerte der Herzog von Hol- ſtein⸗Beck gegen Perthed, wenn nicht zugleich auch in anderer Weife das Werk angegriffen wird! Die preußifchen Kirchenreformen find wohl gut und werben auch nicht, wie dad Neligiondedict Friedrich Wilhelm's IT., das Kind mit dem Bade verfchütten; denn es fcheint jest in Preußen ein Geift innerer Frömmigkeit zu berrichen, welcher, von guter Liturgie und. guten Gebräuchen unterftüßt, viel gutes er- warten läßt. Gott gebe nur, daß wir nicht einem neuen Opferdienft ‚oder einem theatralifchen Gotteöbienft verfallen mögen! Aber was

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werden und auch im beften Falle neue Kirchenreformen und neue Li- turgien neben den Bibelvereinen helfen, wenn nicht Träftiger auf die Schulen und dur die Schulen auf die Jugend gewirkt wird, damit jie wieder Sinn für die Religion Chrifti, Liebe zu ihm und Begierde nah feinem Worte befomme und die Achtung vor den Diener der Kirche neu erwache! Es ift ein Sammer, auf dein Lande und in den fleinen Städten die Kinder den ganzen Sommer hindurch neben und bei dem Bieh herumlaufen zu fehen, wo fie das wenige in diefer oder jener Schule etwa Gelernte vergeffen. In den meilten Landfchulen lernen fie überdied wenig oder nichtd, und wo fie etwas lernen, find es Worte, felten Sachen. Kommen die Kinder aus der Schule, fo er- fahren fie nicht? mehr vom Worte Gottes; denn dad Landvolf nicht weniger ald der größte Theil der Städter hält Kirchengehen für un« nöthig, felbft für lächerlih. Da muß geholfen werden!

Perthes verbarg ſich nicht, day die Bibelvertheilung noch nicht Wiederbelebung des chriftlichen Lebens, fondern nur eine von mehre- ren Mitteln fei, um die Wiederbelebung möglich zu machen. Bereit⸗ willig erfannte er daher dad Bemühen anderer an, welche, wenn auch in fehr verfchiedener Weife, anregend und Träftigend auf das Bolf Einfluß zu gewinnen fuchten. Das Schaufpielhaus freilih, obſchon es Mailen von Menfchen, die jeder andern Einwirkung ich beharrlich entziehen, als bereitwillige Hörer verfammelt, zu einem Mittel reli- gidfer Belebung zu machen, fchien ihm doch mehr al® bedenklich zu fein. Sei mäßig, fchrieb er an Fouque, Deine religiöfen Gefühle oder vielmehr Deine Ueberzeugung von unferer heiligen Religion auf den Bretern mitzutheilen. In das Theater gehört Leben und Natur, d. h. das Schickſal, aber nicht der Troft darüber. Den fuche der Menſch in feinem Kämmerlein oder im Tempel, und Gott wird das Herz ihm erfchliegen. Bolköfchriften dagegen, die das tief ver- ſchüttete chriſtliche Bewußtſein aufs neue lebendig machen könnten, hielt Perthes für ein dringended Bedürfnis. Es ift, fhrieb er an Fouqué, unferen Bolköfchulen ein vaterländifcher hiftorifcher Katechis⸗ mus ndthig, welcher der Jugend einprägt, wie wir von Gott herkom⸗ men; wie dad Menfchengefchlecht fich durch Sünden zur Abhängigkeit zurüdgeführt hat, bis der Erlöfer kam; wie das Chriſtenthum über

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die Bölfer fih verbreitete und wie die Natur durch das Drängen ber germanifchen Völker dem Chriftenthum menſchlich Wege bereitete; wie wir Deutfche dann neu geboren aus der neuen Weltftellung bervor- drangen, und wie bei und der Same einer befieren Zukunft erhalten wurde und noch erhalten ift. ch verftehe es nicht fo anzugeben; Du aber wirft den Anklang gleich in Dir haben. Wenige Bogen müpten e3 fein, in Frag und Antwort oder doch in kurzen Sägen. Gelänge diefed, ein vor Gott und Menfchen unſchätzbares Berdienft würde der Geber fich erwerben. |

Auf die heranwachfende Tugend vor allem und auf ihre noch nicht geftörte Empfänglichkeit baute Perthes die Hoffnung einer neuen beſſeren Zukunft unfere® Volkslebens. Für fie und ihre Entwidelung forgen zu helfen, bot fi ihm in Hamburg eine günftige Gelegenheit dar, die er nicht ungenupt vorübergehen ließ. Die Gloden follen heute, mein lieber Perthed, Gedeihen auf die Sache Deutſchlands er- fliehen, hatte ihm Charles Parifh gefchrieben, als die Nachricht von der zweiten Entthronung Napoleon’3 in Hamburg eingetroffen war. Sollte das nicht der rechte Augenblid fein, um eine außerordentliche Cammlung für unfere Armen zu machen? Sie haben ſich fo oft un- ferer nothleidenden Mitbürger angenomnten, dag ih Sie unbedenklich auffordere, den erften Schritt zu tun. Perthes that den erften Schritt und nicht ohne Erfolg. Wir befamen, fehrieb er an Fouqué, gleich dreißigtaufend Mark zufammen zum Unterricht armer Kinder und wir hoffen noch viel mehr zu befommen. Nun haben wir denn unferer zwölf die Stadt durchſucht, und wie viel herrliche Kinder ha⸗ ben wir gefunden! Gotted Segen ift noch recht bei unferem Bolfe. Siebenhundert haben wir bereitd aufgenommen. Ein ſolches Geſchaͤft _ und Betreiben ift in diefer auf das Allgemeine hintreibenden Zeit, welche Menfchen wie Summen von Zahlen verrechnet, vecht heilfam. Man fühlt lebendig in ſich, was man eigentlich im natürlichen Zu- ftand, in der Sorge für die nächlte Erdfcholle fein follte hienieden. Wovon dad Herz voll ift, geht der Mund über, alfo die Kinder quel⸗ fen heraus. Das fpäter weit ausgedehnte Armenſchulweſen Ham- burgs hat in den damals unternommenen Sammlungen einen feiner wejentlichften Ausgangspunkte.

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Bei allen diefen und bei manden verwandten Unternehmen, welche in Hamburg wie in vielen deutfchen Städten begonnen wur⸗ den, gaben zwar viele gerne, aber nur wenige hatten Zeit, Neigung und Geſchick, ſelbſt Hand and Werk zu legen. Daß auch Männer zn gemeinfamer und geordneter Thätigkeit fih verbinden fönnten, um auf die an Leib und Seele verfommenen Theile unferes Volkes einen erregenden Einfluß zu üben, war ein Gedanke, welcher dem Jahre 1814 durchaus ferne lag; aber auf die vielen Frauenvereine, die überall in Deutfhland während des Krieges zur Pflege der Berwundeten und zur Fürforge für die hilflofen Weiber und Kinder der Krieger hervor⸗ getreten waren, feste Perthes große Hoffnung. In einer einzelnen Angelegenheit von dem Hamburger rauenverein um Rath gefragt, theilte er in der Antwort feine Anfichten näher mit. Die Bereine ent- fprangen, äußerte er, in der-höchften Nothzeit aus der richtigen An⸗ fiht, daß, wenn die Männer und Jünglinge dem Tode entgegen- gingen, ed Sache der Frauen fei, für Rettung und Pflege der hilflos Gewordenen zu forgen. Zweimal in kurzen Zeiträumen haben die Frauenvereine ihre Beftimmung herrlich erfüllt und dem innigen Ge- fühle und dem unverleiteten Wahrheitäjinne der Frauen darf man ficher vertrauen, daß fie nun aud in der Friedendgeit, Die und Gott lange erhalten wolle, ihren Beruf erkennen werden. Wir Deutfche nicht weniger ald die andern Völker haben lange und ſchwere Lehrjahre durchlebt, zuerft ein halbes Jahrhundert der Bernadläffigung, der Berflahung, des falfchen Strebens, dann fünfundzwanzig Jahre der Revolution, des Krieges, der Verwilderung. Während diefer Zeit find die legten Nefte frommer und milder Stiftungen unferer Vor⸗ eltern durch Aufhebung der Klöfter und durch Raub und Vernichtung ded den Kranfen-, Armen- und Waifenhäufern ‚gehörenden Eigen- thums verloren gegangen und feine neuen Gaben und Bermächtniffe haben einen Erſatz geliefert. Hier ift ein unendliches Feld der Thätig- feit für Die zarte Sorgfalt der an Pflege und an Beiftehen gemöhn- ten Srauen eröffnet, welche immer auf perfönliche Hilfe fehen und achten. Die Bereine derfelben- werden zunächft jeder an feinem Orte und in feiner Provinz wirken, bald aber werden fie fich einander an- fliegen und gemeinfam handeln und als ein großer Bund der deut-

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fhen Frauen Segen rund um ſich her verbreiten. Ihnen wird eine Fülle von Gaben zuftrömen, indem fromme Gemüther, wieder wie ehemals fie zu Ausführerinnen des eigenen Willend machen, und fiherer als durch die ftärffte Männerfraft werden die neuen Stif- tungen in Frauenhand behütet fein. Ob künftig zwei oder drei oder vier deutfche Staaten. brüderlich miteinander fein werden, Tann nie mand willen; aber durch allen Zwiefpalt und dur alle Kämpfe hin fönnen die Frauenvereine des ganzen Deutſchlands fich zu einem gro⸗ gen fegendreichen Ganzen zufammenfchliegen und. feft und einig blei- ben, wenn fie fich rein und frei erhalten von allem Einmifchen in die Berhältnifle der Staaten und in die vielen Streitfragen über Recht und Unrecht, welche die nächfte Friedendzeit erfüllen müffen.

Eine anhaltende, mit Eifer und Erfolg zur Rettung der Noth- leidenden und Verkommenen geübte Thätigkeit hat wohl ſchon man⸗ chen guten Mann verleitet, das Helfen ald die Hauptfache, die Hilfe als die Nebenſache zu behandeln oder über das gefchäftige Mitleid mit anderen das Leid über fich felbft zu vergeifen und ſich wie einen Gefunden unter den Kranken anzufehen. Perthes indeifen ward in jener Zeit nicht nur durch die vielen Mübhjfeligfeiten feined Berufes, fondern auch durch manche ernfte Erfahrung dringend genug daran erinnert, Daß er nicht wie durch eine Art Privilegium über. die Noth des Lebens emporgehoben fei. Die Folgen des in Angft und ſchwe⸗ ren Sorgen bingebrachten Fluchtjahres waren für Caroline in förper- lien Leiden hervorgetreten, von denen fie niemals völlig genefen follte. Bei der ihr bis zum Zode bleibenden Frifche und Lebendigkeit des Geiſtes drüdten die Feſſeln Doppelt ſchwer, welche ihrem Körper dur die NReizbarkeit der Nerven und ein langfam ſich ausbildendes Herzübel angelegt waren. Ich bin noch immer nicht wieder friſch und kräftig, fchrieb fie ihrer Freundin Peterfen in Schweden, und mir vergeht auch faft die Hoffnung, es wieder ganz zu werden. Mein Amt im Haufe zu verwalten, wird mir oft recht fehwer und manch⸗ mal bin ich verzagt. Weil fie fich frank und zu Zeiten auch wohl entmuthigt fühlte, war Caroline indeflen nicht falt oder gleichgiltig geworden gegen das viele Gute, was fie befaß. An jedem Morgen ift, fehrieb fie einmal, das alte Lied wieder neu, daß ich wo möglih

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Perthes noch lieber habe als den Tag zuvor. Wie ift doch aller Dank für das große Geſchenk, ihn behalten zu haben, fo klein! Unſere Kinder, heißt e8 in einem anderen Briefe, find meine Luft und meine Freude; fie machen und freilich Leid und Freud, aber, Gottlob, Leid nur durch Krankheit, und find natürlich artig und natürlich un⸗ artig und damit bin ich, wenn es nicht über die Schnur geht, noch zufrieden; mur wenn ich Gemachtes an Kindern fehe, werde ich bange und furdtfam. Oftmals fpricht fih in Carolinend Briefen aus diefer Zeit ihr lebendiges Fortleben mit den verftorbenen Kindern aus, Mein lieber feliger Bernhard fehlt mir, heißt ed einmal, jeden Mor- gen von neuem. Möchte auch ih ihm fehlen können, dod nicht um - feinetwillen, fondern um meinetwillen! Grade heute vor fieben Jahren war meine felige Dorothea geftorben, fchrieb Caroline einer jüngeren freundin, welche ihren Bruder durch den Tod verloren hatte, und ich bin fehr darnach zu Muthe, mich in Eure Stelle zu denfen. Diefes gänzliche Entferntfein ift unbegreiflich fehwer zu tragen, wenn man das fefte Anhängen und die volle Liebe im Herzen hat. Tröften fann ich nicht, fo wenig wie ich getröftet werden könnte. Sch habe mich feft daran gehalten, daß die Seelen meiner geliebten Kinder in Gottes Hand find und Feine Qual fie anrührt und ich nach Gottes Willen und Einrihtung die harte Entbehrung tragen muß, bis es ihm gefällt, und wieder zufammen zu bringen. Dabei bin ich fehr betrübt, aber nie verzagt geweſen. Ergib Dich ganz in Gottes Wil« len, wenn aud mit Thränen, liebe Fanny.

In nächte Nähe trat eben um diefe Zeit der ganze Ernſt des Strebens an Caroline heran, als fie ihren Vater dem großen Augen- blide entgegengehen fah, in welchem Zeit und Ewigkeit ſich begegnen. Hart war Claudins von den Jahren 1813 und 1814 getroffen wor⸗ den. Dreiundfiebenzig Jahre alt hatte er dad Haus und den Dit, mit welchen er feit faft einem halben Jahrhundert verwachſen gewe⸗ fen war, verlaffen müflen und bald hier bald dort in Holftein ein vorübergehendes Unterfommen gefunden, oftmald von der drüdend« fien Roth bedrängt. Wir find hier fo weit wohl, fchrieb er einmal aus Lübeck an Caroline, wir haben ein Meines Stübdhen, darinnen ein Bett und ein Kanapee ftehen, dann aber auch fo wenig Raum

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übrig ift, daß ein Menſch fih kaum ummenden kann. Wir kochen felbft Grüße und Kartoffeln, nur ift die Feuerung übertheuer. Aus der Zeitung werdet ihr erfahren haben, dag Wandsbeck in der Als liierten Hände ift. Fri ift dort und hält Haus und hat die Kuh ver: kauft. Im Keller fieht e8 aus, fchreibt er, wie vor der Echöpfung, wüfte und leer. Wir wohnen ipo, fchrieb er einige Wochen fpä- ter, in einem größeren und man fann jagen großen Zimmer, aber ed ift fehr falt und unfere Kräfte reichen nicht zu, ed warm zu machen und zu halten. Der äußeren Noth war viel, aber fie war nicht dad Schwerſte, was Claudius drüdte. Der noch aufrecht ftehende drei⸗ undfiebenzigjährige Mann hatte wohl die Kraft, fchrieb damals Per- thes, die perfönlichen Leiden und die Zerftreuung aller feiner Kinder zu ertragen, aber fein dankbares und treued Herz brach an der Unge⸗ wißheit ded Gefühld, an der Unficherheit ded Gedankens, als er fein deutſches Baterland im Kampfe ſah mit Dänemarf und fi fagen mußte: die Erhebung und der Sieg ber Deutfchen fei Die Befiegung ſeines eigenen Koͤnigs, den er ehrte und liebte und Urfache hatte zu - ehren und zu lieben. Diefen Zwiefpalt während der gewaltig aufge- regten Zeit im eigenen Inneren zu ertragen, war dem einfachen Sinn, dem liebenden Herzen des herrlichen Greifed zu viel. Er war und blieb gebrochen.

Im Mai 1814 war Claudius nad) Wandöber zurüdgefehrt, aber recht froh ward er des alten Wohnorts nicht wieder. Erſchöpft von der Laft der Jahre und vielfach geftört Durch körperliche Beſchwer⸗ den ſah er den Eommer und den Herbft vorübergehen. Endlich im Anfang December gab er den dringenden Bitten feiner Tochter nach und 309, um dem Arzte näher zu fein, zu ihr nah) Hamburg. Papa ift müde und matt, fchrieb Caroline einige Tage, nachdem fie ihren Bater und ihre Mutter aufgenommen hatte, doch können wir Gott nicht genug dafür danfen, daß er fo leidenzfrei if. Er ift fo ruhig und freundlich, ja man möchte fagen vergnüglich, daß ich aus Freude darüber den Schmerz, der in mir ift, nicht zu Worte kommen laffe. Bald wurde es gewiß, daß Auf Genefung nicht zu hoffen fei, aber fieben Wochen noch ließ die lebte Stunde auf ſich warten und dieſe fieben Wochen waren für Claudius eine Zeit ded Dankes und faft

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ununterbrochener Freundlichkeit und Liebe; er freute ſich des blauen Himmels, des Aufgangs der Sonne, erfreute fich des Anblicks feiner Rebekka, feiner Kinder und Enkel. Einmal rief er Carolinen Nachts an fein Bett und fagte: Ich muß die Nacht zu Hilfe nehmen, denn der Tag ift wahrlich zu kurz, um Dir zu danken, liebes Kind. Er ift, fchrieb Caroline wenige Tage vor feinem Tode, getroft, ruhig und, einzelne Augenblide abgerechnet, freudig. ALS er fich geftern von einer beflommenen halben Stunde erholt hatte, fagte er zu Per- thes: Ja, lieber Perthed, gut geht es, aber nicht angenehm; dann ſprach er von der fauern Arbeit, die ihm bevorftände, aber er habe einen ftarfen Helfer neben fich und verlafje fih auf Gott. Er ift er ftaunlih freundlich mit und allen und hat fehr gerne, daß unfere Mutter an feinem. Bette fist. Auch forgt er täglich dafür, daß Ihr Abweſenden Nachricht befommt, und grüßt Euch jedegmal. Ale Hände und Füße ſchon Tage lang ihren Dienft verfagt hatten, wirkte die Fräftige innere Organifation des Körpers in gefunder Arbeit fort und das eigentliche Weſen des förperlichen Menfchen blieb unverlept. Er behielt feinen fanften natürlihen Schlaf, hatte kein Fieber, feine Beängftigung,, und da er faft ununterbrochen volles, helle Bewußt⸗ fein bewahrte, fonnte er fein eigenes Sterben, die Löſung des großen Räaͤthſels der Trennung von Seele und Leib von Stufe zu Stufe ver⸗ folgen. Mein ganzes Leben hindurch, fagte er zu Perthes, habe ich an diefen Stunden ftudiert, nun find fie da, aber noch begreife ich fo wenig al® in den gefundeften Tagen, auf welchem Wege ed zum Ende gehen wird. In den legten Tagen betete er unabläplih, ſah e8 auch gerne, wenn Die Umftehenden beteten, aber lautes Beten und Zuſpruch mochte er nicht. Die Hoffnung, noch diesfeitd eines hellen Blickes in das Jenfeitd von Gott gewürdigt zu werden, gab er nicht auf; aber obſchon ihm das Schauen nicht zu Theil ward, blieb ihm der Glaube felfenfeft.

Am 21. Januar mar fein Todestag. Nachmittagd um zwei Uhr fühlte er mit größter Gewißheit die nächfte Nähe des legten Augen⸗ blicks; führe mich nicht in Berfuchung und erlöfe mich von dem Uebel, betete er; eine-Stunde fpäter fagte er einigemafe gute Nacht und im Augenblide des Todes ſchlug er hell und groß das Auge auf, Tiebe-

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voll ſeine Frau und die Kinder ſuchend, welche den letzten Blick der Liebe von ihm empfangen ſollten.

Die volle Kraft des Geiſtes, ſeine Eigenthümlichkeiten und Eigen⸗ heiten blieben ihm bis zur letzten Stunde, ſchrieb am Sterbetage Perthes. Er iſt ſorgenlos, ja wahrhaftig reich geſtorben, denn ihm ſtand wie immer das Füllhorn der Hoffnung auch im Zeitlichen zu Gebote. Sein Körper gewährt einen wunderbaren Anblick: ſo müde, ſo ſatt und befriedigt vom Irdiſchen und dabei noch am Obertheil des Kopfes die großen ſchönen Formen und um den Mund noch die Fülle der Liebe. Das Ende dieſes Mannes iſt groß und herrlich. Gott wird uns verzeihen, heißt es in einem Briefe von Nicolovius, wenn wir einen ſolchen Menſchen lieber der Erde als dem Himmel gönnen möchten.

Die Freudigkeit, die Kraft und Ruhe, welche Caroline von dem Sterbelager des Vaters mit ſich hinweggenommen hatte, ſpricht ſich in einem Briefe aus, den ſie im März 1815 an ihre Freundin Peter⸗ ſen ſchrieb. Am liebſten, heißt es in demſelben, ſchreibe ich Dir von meinem ſeligen Vater. Mit Augen habe ich es nun geſehen, daß der Glaube eine gewiſſe Zuverſicht iſt des, das man hoffet, und nicht zweifelt an dem, das man nicht ſieht, und daß dieſer blinde Glaube für ſich allein Kraft genug hat, uns über alle Noth und Angſt und Todesfurcht ruhig, freudig und gottergeben zu erhalten in dem grogen ernten Augenblick des Ueberganged bei hellem "und vollem Bewußtſein. Ich bin auch für mich überzeugt: wir müffen glau- ben, wir müflen wagen, denn die Götter leihen fein Pfand. Mein Bater hatte fih immer gefehnt, immer gehofft, ich möchte fagen in jedem Augenblid feines Lebens fich vorbereitet auf eine nähere oder lieber auf eine bewußte und willende Mittheilung Gotted, die ihm dieſen dunklen und für ihn fehr grauenvollen und gefürchteten Schritt erleichtern und heller machen follte. Er fügte mir noch den Tag, ehe er farb, dag man Erfahrungen hätte, nach welchen dem Dienfchen noch furz vor dem Sterben lichte Blicke in jene? Leben zu Theil wür- ‚den. Er hat darauf gewartet bi® and Ende und fie find ihm nad) unjerer aller Ueberzeugung nicht geworden. Er blieb aber im tiefen

Grunde der Seele vollfommen ruhig, freundlich und gottergeben und Dertbed’ Leben 11. 4. Aufl. 4

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fühlte das Loſsreißen des Lebens, das ihm ſehr ſchwer und ſauer wurde und über ſechs Stunden währte, von Stufe zu Stufe, fagte und, wie weit es fei, fhon einige Minuten bevor wir es an feinem Körper wahrnehmen fonnten, und rief’ zulegt: Nun ift ed aus, wendete feine Augen, die er fhon mehrere Minuten groß offen immer nach dem Himmel gerichtet hatte, noch einmal nad) der Seite hin, wo meine Mutter ftand, ſchloß fie und war todt. Es läßt fich hiervon wenig mittheifen, am wenigften fehriftlih. Er ift aber gewißlich wie ein großer Menſch und Dann geftorben und ich möchte e8 jedem Men» hen, der ernftlih über fih und feinen Zuftand nachdenkt, gönnen, an diefem Sterbebette geweſen zu fein. Schwer ift diefer Schritt, aber größer, al® man begreifen fann, ift ed, ihn in diefer Weife zu thun.

Die ernfte Erfahrung diefer gemeinfam mit Perthes durchlebten Mochen wirkte lange in Carolinen fort und bei der Lebhaftigkeit ihrer zur Mittheilung drängenden Phantafie fühlte fie ed oftmals ala eine wirklich ſchwere Prüfung, daß Perthes, beladen mit Gefchäften, Sor- nen und Intereſſen aller Art, nur wenige flüchtige Augenblide für da3 Zufammenleben mit ihr und den Kindern erübrigen fonnte. Wenn ich mich nicht zu Grunde fehnen und wuͤnſchen foll, fehrieb fie im Frühjahr 1815, fo muß ich einen Schritt, der mir ſchwer wird, zu- rückthun. Die Hoffnung nemlich ſchwindet je länger je mehr, daß Perthes eine Einrichtung feines Leben? machen fann, in welcher ei- nige ruhige Stunden für mid) und ihn übrig bleiben. Ich fann nichts anderes thun, als ihn auf meine eigene Hand lieb behalten und im Herzen tragen, bid es Gott gefällt, und an einem Orte zufammenzu- bringen, wo wir feine Bohnung und Rothdurft mehr brauchen und feine Wechfet und Bücher zu bezahlen find. Perthed hat es bitter ſchwer, bleibt aber guten Muthes, wofür ich Gott danke. In acht Tagen geht er nad) Leipzig und wird auch dort nicht viel Freude ha⸗ ben. Doch Freudenzeit iſts auch nicht, und allgemeiner Jammer und Noth kommt wieder an die Tagedordnnung. /

Als Perthed kurz darauf nach Leipzig abgereift war, fand Ca- roline für diefe und eine verwandte Stimmung, die fie fchon lange mit ſich umber getragen hatte, in ihren an Perthes gefchrichenen Brie-

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fen die rechten Worte. Ihre Liebe zu dem Manne hatte die jugend- liche Frifche durch alfe fehweren und wechfelvolfen Stunden einer acht zehnjährigen Ehe bewahrt; in ihrem Herzen war Leben und Liebe nit zur Gewohnheit getworden, fondern fo neu und urfprünglich ge- blieben, wie einftend in der Braut. Sie felbft fprach da®, was in ihr lebte, ſtets auch) in einer frifchen und urfprünglichen Weife aus und konnte e8 ſchmerzlich empfinden, wenn Perthes jebt ald Ehemann fih ihr gegenüber ander® auddrüdte, ald er ed ald Bräutigam ge= than. Während Perthed nun eine Reihe von Wochen in Leipzig fich aufhalten mußte, wurde diefes Verhältnis halb im Ernfte und halb im Scherze zwifchen beiden Ehegatten zur Sprache gebracht. Du haft Dir zwar, ſchrieb Caroline einige Tage nach Perthes' Abreife, alle Empfindung für diefed Jahr Deiner vielen Gefchäfte wegen verbeten, aber ih bin eine Perfon, die nicht ohne Empfindung fchreiben kann, wenn fie an Dich fhreibt; denn ich empfinde mein Alle®, wenn id) an Did) denke. Noch habe ich fein Wort von Dir. Sage mir, ift es nicht hart, daß Du mir aus Braunfchmweig nicht gefihrieben haft? Ich wenigftend habe es fehr weh gefühlt, daß G., der mit Dir reifte, feiner Braut gefchrieben hat und Du mir nit. Ich habe Dich doch nun achtzehn Jahre fo rein, allein und von Herzen lieb gehabt, wie jene e3 für die Zukunft erft vorhaben, und dennoch follte diefe Abnahme von Deiner Seite zur Sache gehören; es ift das erflemal, fo lange Du reifeft, daß Du es haft laſſen können, mir ſchon von ei⸗ nem Zwifchenorte zu fchreiben. Ich habe mir zur Gemüthdergögung Deine früheren Briefe hervorgenommen und leſe mich wohl und wehe dabei. Im vorigen Jahre verſprachſt Du mir aus Blankeneſe fehr ernfihaft viel Freudenflunden, wenigften® im Zufammenleben mit Dir; folche Freudenftunden find mir noch nicht viel geworden und Du bift fie mir wahr und wahrhaftig fhuldig. Du fehreibft, ant- wortete Perthes, ich hätte mir für dieſes Jahr alle Empfindung ver- beten. Das, mein liebe3 Herz, ift wohl nicht fo, wenigſtens etwas anderd: ich meine, wenn durch vieljährige® Miteinanderfein der Ge- fühle-, Empfindungs- und Gedanfenwechjel und Austaufch fo innig und vielfeitig gewefen und geworden ift, daß man fich vollfommen veriteht, kann von Zärtlichleitgäußerungen, die immer ein noch In⸗ 4 *

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texeflanted® und darum Fremdes gegenüber vorausfegen, nicht mehr die Rede fein. Sei Du nur zufrieden mit mir, mein liebe? Kind, wir verftehen und doch. Daß ich Dir nicht von Braunfchweig gefchrieben habe, hatte feinen Grund in unferer fehnellen Durchreife. Uebrigens ift Dein Vergleich zwifchen mir und dem mitreifenden Bräutigam auch nicht richtig. Die Jugend hat ihre Art und die fpäteren Jahre auch. Es würde doch wirklich lächerlich fein, wenn ich jet wie vor zwanzig Fahren im Mondfchein die Bäume und Wollen für Mädchen oder Die Mädchen für Engel anfehen wollte, und beſſer würde es jich auch nicht audnehmen, wenn Du Allemande tanzen oder auf Bäume flettern wolltefl. Hadern dürfen wir doch nicht darüber, daß wir älter wer- den; fei alfo nur zufrieden und gib Gott die Ehre, und mit mir babe Geduld und Nahfiht. Hätte ih Dich doch heute an Deis nem Geburtötage bier, entgegnete darauf Caroline am 21. April, und hätteft Du doch eine halbe Stunde Zeit, um ‘Dich mit mir zu freuen. Die Kinder thun, wa? fie fönnen, aber Du bift doch Du und behältft immer einen Borfprung. Gottlob, mein Perthes, feine Zeit und

feine Umftände fönnen meine Liebe zu Dir verändern, fie muß alfo .

wohl über alle Beränderung hinweg fein. Der liebe Gott laſſe mich) noch am Leben, wenn e3 fein fann, und mache mich wieder gefund und erhalte Did und die Kinder, und behalte Du mid) lieb und fo weiter, und fo weiter. Des Bittens und Wuͤnſchens ift fein Ende, doch auch nicht ded Erhörend, wenn auch nicht nach. unferer, fo doch nad Gotted Weife. Dein legter Brief übrigen? ift ein wunderlicher Brief. Bei mir bleibt es nun einmal dabei, daß mein Liebhaben fein Alter und feine Jugend hat und ewig if. ch fpüre feine Veränderung, als daß ih nun weiß, was ich früher hoffte und glaubte. Ich habe Dich früher für keinen Engel gehalten und halte Dich jetzt nicht für das Gegentheil, und auch ich habe Dich früher weder mit Engeld- geftalt noch mit Engelömanier getäufcht, nie Allemande getanzt, nie Bäume beflettert und bin noch ganz diefelbe wie früher, nur etwas älter, und das mußt Du vorlieb nehmen, mein Perthes; kurz und gut, hab mich Tieb und fag es mir zu Zeiten, dann bin ich ver« gnügt. Deine Antwort ift, wie fie fein foll, hieß es in Perthes nächſtem Briefe, nur vergiß nicht, Daß im Innern meine Liebe zu Dir

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ewig ift, wie Deine zu mir. Aber über fo vieles bin ich in Bewegung und Unruhe: was gehört der Erde und den Menfchen, was vom Menfchen gehört dem Himmel? ined ohne das andere hat man nicht. Hiermit wurden denn die Verhandlungen über diefen Ge- genftand, der wohl auch anderen Ehen nicht fremd fein mag, vor: läufig gefchloflen; denn der folgende vom 1. Mai datierte Brief, den Perthes kurz vor feiner Abreife aus Leipzig von Caroline erhielt, war ausfchlieglich unter dem Einfluß des Andenkens diefed ihres PVerlo- bungstages gefhrieben. So eben fomme ich, heißt es in demfelben, mit allen Kindern aus Wandsbeck zurüd, wohin wir zur Feier mei- _ ned lieben erften Mai gefahren waren. Ich danke Gott heute wie jeden erften Mai dafür, daß er Dich mir gegeben hat, und Dir danfe ich dafür, daß Du mich haft haben wollen. Wolle mich ferner haben und in Ewigfeit, wenn ed Gottes Wille ift! Wir wiſſen freilich nicht, wie wir und haben werden, aber fhlechter kann e8 dort doch nicht fein als hier; das ift mein Troft und ich bin doch ſchon hier fo glüd- lih im Liebhaben. In Wandebel fanden wir Schönborn und die Gräfin Katharina; die Gräfin hatte heute ihren geiftreichen Tag. Der Alte ift unbefchreiblih freundlih, und es ahnet mir, daß auch er in unfern Armen fterben wird. Er babe, fagte er mir, viele Borboten vom Schlage und ftände fchon Tange vor dem Schuſſe; Tag für Tag jiele der Tod auf ihn, ohne lodzudrüden.

Mitte Mai kehrte Perthes aus Leipzig nach Hamburg zurüd . und erlangte bald die Gewißheit, daß Carolinens Gefundheit ernfte Aufmerkfamkeit erfordere. Der Arzt, Dr. Schröder, ein alter Freund des Haufe, hatte gegen Caroline felbft geäußert, daß ihre Nerven, fo weit fie mehr vom Geifte ald vom Körper beftimmt würden, in feltener Kraft, Gefundheit und Lebendigkeit thätig feien; dagegen äu- Berft ſchwach .und angegriffen den Dienft verfagten, fo weit fie den Körper mehr als den Geift zum Herrn hätten. Das geiftige Nerven- leben muthe daher dem förperlichen größere Anftrengungen zu, al? ed zu ertragen vermöge, und müſſe hierdurch) wohl franfhafte Zu- ftände herbeiführen. Dies ift nun recht gut, bemerkte Garoline dazu, daß er es weiß, und mir auch lieb; aber wenn er nur auch helfen könnte! Um der Unruhe und dem Treiben, welches mit

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dem großen Haushalte in Hamburg unzertrennlich verbunden mar, für einige Zeit entzogen zu fein, brachte Caroline mit ihren jüngeren Kin« dern den Sommer 1815 in dem Haufe ihrer Mutter in Wandsbeck zu und faft täglich maurden während diefer Jeit zwifchen ihr und Perthes Fleinere Briefe gewechfelt, welche die Etelle des Geſprächs vertraten und die mannigfaltigften Berhältniffe berührten. Perthes war wäh- rend diefer Monate durch das Gewirre feiner Arbeiten und Gefühle, durch ein hartnädiges Erfältungsleiden und dureh die tiefe Sorge um die Gefundheit Carolinens matt und niedergedrüdt. Da er überdies non jedem lebendigen Worte, welches er ſchrieb oder bei feiner häufi- gen Unmwefenheit in Wandsbech fprach, neue Aufregung für Caroline fürchten zu müſſen glaubte, fo enthalten feine Briefe aus jener Zeit vor allem nur dringende, bi? in das Kleinfte eingehende Bitten, feine Sorge für den Körper zu verfäumen, oder immer wiederkehrende Er⸗ innerungen, ſich geiftig ruhig zu erhalten.

Mannigfache Umftände trafen: zufammen, welche damals, auch abgejehen von den fi) dDrängenden gewaltigen Weltereigniflen, im⸗ mer neue Aufregung für Caroline herbeiführten. Die Corge um die Gefundheit ihre® Mannes, der Ahſchied von ihrem Bruder Frig, der al? Fäger ins Feld zog, der Schmerz ihrer Mutter um den in den Kampf gehenden Sohn, das Hinfterben einer vor kurzem noch blühen- den Tochter in der nahe befreundeten Familie des Predigerd Schrö— der in Wandsbeck, der Anblid fo vieler in Krankheit und Außerfter Roth lebenden armen Familien ließen Carolinen nicht zur Ruhe kom⸗ men und forderten Perthes faft täglich auf, fie an Aufmerkſamkeit auf ſich felbft zu erinnern. Du haft jegt feine andere Pflicht, liebe Ca⸗ toline, ſchrieb er einmal, ald Dich aufrecht zu erhalten; entweder muß der Menfch die Dinge natürlich nehmen und. fie, wie Millionen ed thun, mit keichtem und gutem Muthe abwarten, oder er muß al⸗ led, auch da8 Härtefte, in ftiller Ergebung in Gottes Fürforge ruhig und demüthig ertragen. Nur diefe beiden Wege find möglih, wenn nicht der Menſch wenigſtens dem Körper nach. untergehen fol. Du nennft Briefe wie diefen Amtsbriefe. Das müffen fie aud) fein, denn mein Amt ift jest, dafür zu forgen, daß Du und erhalten werdeft.

Schließe, heißt e8 ein anderedömal, aud meiner Sorge um Did)

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nicht auf eine bedenkliche Lage Deiner Gefundheit; mich quält nur, dag Dein frischer, lebendiger Geift fo von körperlicher Laft niederge- drückt wird. Nicht Arznei ifld, mas. Dir hilft; Ruhe Deinem Geifte und Gemüthe. Leicht gejagt und fehmer gethan, wirft Du antwor⸗ ten. Wohl wahr, und doch iſts möglich unter Gottes Beiſtand. Du weißt, daß ich Feine ftarfen und tiefen Gefühle und Empfindungen tadele und aud ihrem Ausbruche großes Recht einräume; aber über dad Gegengewicht hinaus dürfen fie nicht gehen. Wer mächtige Ge- fühle in fich hegen will, ınuß auch dad Material dazu haben, fie aus» zubalten und den wechjelnden Eindrud des Lebens zu tragen, oder er vergeht füch eben fo jehr an Gott und Natur, ald der Leichtjinnige und Oberflächliche. Herzlich habe ich mich gefreut, fehrieb er ein andereamal, Dich geftern fo wohl gejehen zu haben; jo wohl warſt Du noch nicht einmal in dDiefem Jahre. Um jo mehr fei aufmerk⸗ fam auf Did und halte diefen Gleichmuth feft umd diefe gute, frohe Hoffnung für diefe Welt. Roc find unfere Tage nicht zu Ende und noch haben wir mand Freud und Leid miteinander zu durchleben, wozu Kraft, Kaflung und Bertrauen gehört. Während Perthes' Briefe vor allem Amtöbriefe, um Carolinens Ausdrud zu gebrauchen, waren, erfüllt mit Bitten und Erinnerungen, ſprach fich in allen aud) noch fo kurzen Zeilen Carolinens ihr von Liebe und Wehmuth tief bewegtes Gemüth aus. Hier fipe ich ſchon um Garten, fehrieb fie ein- mal, und meine kieben fröbtichen Bögel rund um mich her; ich laſſe mich von der lieben warmen Sonne befcheinen und gefund machen, werm fie will. Gott gebe ed, wenn auch nur fo weit, daß ich mein Amt im Haufe und über die Kinder wieber antreten kann; als Null fühle ih mich gar zu unglüdlih. Ich hoffe, mein lieber Perthes, beißt es ein anderegmal, Du follft, wills Gott, noch wieder Freude an mir haben. Der Brunnen fiheint mir wirklich gut zu thun. Kom⸗ me doch morgen nicht zu ſpät; meine Seele verlangt nach Dir. Du follft Dank haben, fehrieb fie nach einer kurzen Anwefenheit in Hamburg, für die vergnügten Stunden, die ich geftern bei Dir und mit Dir gehabt habe, und für Dein liebes freundliches Geſicht, ale ih aus dem Wagen fieg. Ich bin nicht, wenn Dur nicht bei mir bift, heißt es einige Tage fpäter; heute aber werde ih wohl umſonſt

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bangen und verlangen, und befinne ich mich recht, fo kann es nicht anders fein: Weg und Wetter find zu fehleht. Verſäumt Matthias nichts im Lernen, fo laß ihn doch bald heraus kommen; wenn ich den Bater nicht haben kann, nehme ich mit dem Sohne vorlieb. Heute babe ich, fchrieb fie in einem anderen Briefe, den Brunnen in vollem Regen getrunfen, bin aber doch meine Zeit unter den Bäumen gegan- gen und babe mein Theil gedacht. Meine Hühner - und Bögelbetrach« tung habe ich aber nicht anftellen können, weil e8 zu naß war für das liebe Bieh. Die Kinder genießen fröhlich ihre Freiheit und find mein Glück und meine Freude, fügte fie dann der Erzählung einiger kleinen Kinderbegebenheiten hinzu. Die armen Menſchen, die feine haben! Du alter lieber Bater, Du bift aber auch mein Glüf und meine Freude. Laß mic) einen Heinen Brief befommen; ich kann es nicht laffen, darnach audzufehen, und will ihn auch zehnmal leſen. Ich bitte Dich, vergiß Doch den Armen in der Erdhütte zu Hamm nicht; die Frau ift alle Morgen fo freundlich in Hoffnung und der Mann läßt es fi) fauer werden. Seine Wohnung ift leicht zu finden, fie liegt in der Allee, irgend etwa® Befonderem gegenüber; was ed aber für ein Befonderes ift, darauf kann ih mich nicht mehr befinnen. Unter manchem Wechfel des förperlichen Befinden? war der Aus guft herangefommen; am erften Tage desfelben trat wieder einmal die mit Perthed durchlebte reiche Bergangenheit recht lebendig vor Ca⸗ rolinen® Seele. Heute vor achtzehn Jahren fehrieb ich Dir den letz⸗ ten Brief vor unferer Hochzeit und that die erſte Bitte um das Feine ſchwarze Kreuz. Seitdem habe ich viel gebeten in den achtzehn Jah: ren, mein lieber Perthed. Um was foll ich Dich heute bitten? Du weißt ed, denn Du fennft mic) ganz und fein unmwahres Wort habe . ih Dir gefagt. Nur mein unbefchreibliched Liebhaben kannſt Du nicht ganz kennen, weil es feine Grenze hat. Perthes, mir ift das Herz fo voll Freude und Wehmuth; hätte ich Dich doch hier. Ich habe mich heute vor achtzehn Jahren nicht lebendiger und inniger nah Dir ge- fehnt als jest. Gott fei Dank und abermals Dank für alles! Ich bin und bleibe Dein in Zeit und auch, obſchon ich nicht weiß wie, in Ewigkeit. Sei aud ein bischen vergnügt, wenn Du morgen fommft. Das Liebhaben ift gewiß das größte Wunder im Himmel und auf Er:

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den und dad einzige, von dem ich mir vorftellen kann, daß ich es in Ewigfeit nicht fatt befommen werde.

In der zweiten Hälfte des Auguft kehrte Caroline nah Ham» burg zurüd, und obſchon ihr volle Gefundheit nicht wieder zu Theil wurde, fo Eonnte fie doch, wenn gleich mit manchen Unterbredhun- gen, noch Fahre hindurch dem großen Haushalte vorftehen und ift auch in dieſer Zeit ihres Lebens fehr vielen Menfchen verfchiedenen Standes und Alters Troft und Freude, Stüge und Förderung ge- wefen. ' Ä

Die politifchen Ausſichten nach dem zweiten Pariſer Frieden. Herbſt 1815 bis Herbſt 1816.

Am 20. November 1815 wurde der zweite Parifer Frieden un⸗ terzeichnet ; das blutige Kriegsvierteljahrhundert war geſchloſſen; Deutfchland konnte für längere Zeit auf Ruhe nach außen rechnen und mußte nun da® Auge wieder auf fi und feine inneren Zuftände wenden. Nothdürftig hatte das gemeinfame Triegerifche Auftreten in dem jetzt beendeten zweiten Freiheitskriege den tiefen Riß zugededt, welcher theils zwiſchen den einzelnen deutfchen Staaten, theild zwi⸗ ſchen den deutfchen Regierungen und der öffentlichen Meinung ent⸗ ftanden war. Aber auch unter der Dede Triegerifcher Einigkeit war das Midtrauen der Regierungen gegen die Bewegungen im Volke und dad Midtrauen im Volke gegen die Regierungen tiefer und tiefer ein« gedrungen. Der -gefamte geiftig regfame Theil der Nation war in eine wildflutende Unruhe gerathben und von den verjchiedenften Standpunften aus fahen erfahrene und wadere Männer mit tiefer Beforgnis auf die Zukunft Deutfchlandd und meidfagten eine Zeit großer innerer Noth und Zerrüttung. Perthe erwartete zwar auch Jahre ſchweren Ringens und Kämpfen®, aber Die Hoffnung auf ein fröhliches Ende hielt er feft und machte, neu belebt durch Belle-Alliance, die eigene frifehe Stimmung nad allen Seiten geltend. Seit Ihrem legten Briefe hat der Krieg, bemerkte er einem bedenklichen diploma⸗

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tifchen Bekannten, die Phyfiognomie erhalten, welche Sie bi dahin vermißten; die große Schlacht ift gewonnen. Wollen Sie auch nun noch fih abmühen, um aus Licht und Weißgrau Finfternid zu ma⸗ hen? Doch was vermöchten Schwarzkünftler nicht, zu deren Zunft Sie ja gehören! Ya wohl, fchrieb Perthed einige Wochen jpäter an Poel, ift alled durch den ungeheuer rafchen Gang der Begebenhei⸗ ten zu einem Chaos geworden; aber eben weil die Nemeſis, d.h. die waltende Gerechtigkeit Gottes, allein zu Gerichte fipt, eben well den fühnften, klügſten und entwurfreichſten Menfchen aller Parteien nicht® nah ihrem Willen geht, und Wahrheit und Recht dennoch fiegend da⸗ ftehen, habe ih das Vertrauen. zum Schickſal, d.h. zur Datergüte Gottes: er werde lenken und leiten zu feiner Ehre. Wie groß ift unfere Zeit, heißt e8 in einem Briefe an Fouque, wie groß und herr- lich ift fie! Die Tiefe des Ganges der Begebenheiten läßt den den- fenden Menfchen faum zu der Empfindung fommen, die man Freude nennt. Du nicht, aber. mandje andere werden meine gute Hoffnung „eine Ausſicht auf die Ewigkeit” nennen. Wer aber find diefe an« dern? Anhänger des franzöfifchen Unweſens find die einen; fie tadeln alles, mas jebt gefchieht, fchelten Yürften und Regierungen und wür- den Tyrannei und Gemeinheit gerne fehen, um nur fagen zu können: . Iſt es denn nun beijer als unter den Franzoſen? Dann aber gibt - e3 unter den Hoffnungdlofen auch Schwarzfeher der Zukunft, die ib- ren Gurfus in den Cabinetten und Antihambern gemacht haben und dort freilich viel Schwaches und Schlechtes gefunden haben. Da diefe Herren nun glauben, dag von dem Theater aud, auf welchen fie wandeln, die Welt regieit werde, fo halten fte die ganze Weltgefchichte für ein Uhrwerk mit einem Glodenfpiele, welches immer wieder feine Erbärmlichkeit von der Walze abfpielt: Sie fehen daher auf jede frobe und freie Ausficht fein und vornehm wie auf leichtblüttge, leicht⸗ herzige und leichtfügige Unerfahrenheit herab. Wir Menfhen au dem Volke können diefen erfahrenen Berdorbenen (roues) ihre Erha⸗ benheit gönnen; fie fennen die Federkraft diefer Zeit nicht, die ihr Uhrwerk fprengt. Keine Cabinetöberechnung trifft zu; jeden Tag und alle Tage muß neu und aus dem Stegreif gehandelt werden, und jo gewinnen felbftändige und fräftige Männer unmer mehr Thätigkeits⸗

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rgum. Allen unferen Schwarzfehern aber theile ich noch eine That⸗ fache aud meiner Erfahrung mit: Wie man den Menfchen nimmt, fo ift er mit fehr wenigen Ausnahmen. Tritt ein Mann einem Zweideu⸗ tigen oder Jämmerlichen gegenüber und nimmt ihn als brav und tüch— tig, gleich bemüht fich diefer, brav zu fein oder doch zu fcheinen, und wenn auch nur lebteres ift, fo ift viel gewonnen und Gott fchiebt nad). Hätten unter und Deutjchen recht viele der Befleren den Muth, Gutes zu ſehen und zu hoffen und ihre Hoffnung an den rechten Mann zu . bringen, fo würde dad Gute und Rechte | don fommen. Laß und un« fere Gouvernements und Minifter edel und groß nehmen, wa? gilts, fie werden es.

Die politifche Aufregung der Gemüther war in Deutfchland zwar um die Zeit des zweiten Parifer Friedens nicht geringer, als fie es um die des erften gewejen war; aber der Gegenfland ded Fürchtens und Hoffen? war ein anderer geworden. Im Jahr 1814 hatte die Einheit Deutfchlande, die. Heritellung des Reiched und des Kaifer- thums die politiiche Phantafie der Deutfchen erregt; im Jahr 1815 trat allerding3 der Mismuth über den profaifchen Bundestag, wel⸗ hen Deutfchland ftatt des poetifhen Kaiſers erhalten follte, an mans hen Orten offen genug hervor: aber da der Bund nun doch einmal al® Form der deutfchen Einheit feititand und eine Befeitigung desſel⸗ ben für die nächſte Zukunft außer aller Wahrfcheinlichkeit Tag, fo wen- dete ſich Die im Volke arbeitende Bewegung auf einige Jahre vorwie⸗ gend dem Geſchicke der einzelnen deutfchen Staaten zu und erftrebte für diejelben unter den Namen Eonftitution, Berfaffung, Stände, Freiheit ein Etwas, welches nicht weniger berechtigt, aber auch nicht weniger unbeitimmt war ald die einige Monate früher für Deutich- land erftrebte Ginheit. Dur) ihr yeränderted Ziel erfchien die poli= tiiche Bewegung den Regierungen nicht weniger gefährlich, fondern rief erhöhte Beforgnis und Wachfamkeit hervor. Als nun im Som- mer 1815 Schmalz in jener Flugſchrift über politifche Bereine die Bes wegungen im Volke, deren Ziel und Mittel auf das bitterfte ange- griffen und dadurd eine Reihe nicht weniger bitterer Gegenfchriften: hervorgerufen hatte, trat allen erfennbar der Kampf im Innern uns jerer Nation hervor, welcher wohl durch Waffenftilfflände unterbro-

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hen, aber durch feinen Frieden beendet worden ift bis zum heuti- gen Tag.

Dad Drängen nach politifcher Berechtigung der Unterthanen hatte fi) damald noch nicht mit dem felbftfüchtigen Fanatismus für eine Reihe trodener Lehrſätze vermengt, fondern ftellte fich ald poe- tifche Sehnfucht nach einer märchenhaften Herrlichkeit dar. Die for- genvolle Arbeit der Regierungen, um die beftehenden Zuftände und Gemwalten zu confervieren, war noch nicht zu Falter Negation und ro⸗ her Verfolgungsſucht entartet, fondern erſchien noch als die Profa einer audfchlieglichen Beichäftigung mit den politifchen Einzelaufgaben des täglichen Lebens und als zagende Furcht, fih an Großes zu ma- gen. Der Stachel verjährter gegenfeitiger Erbitterung fehlte daher 1815 allerding3 dem Kampfe, der Kampf felbft aber lag aller Welt vor Augen, und jeder Deutfche mußte 1815 Partei ergreifen zwifchen Obrigfeiten und Unterthanen, wie er 1814 hatte Partei ergreifen. müſſen zwifchen Nationalität und Staatsberechtigung. Der erite Ge- genfag, in welchem die Parteien auseinander gingen, entftand aus der Trage, ob die politifhe Zukunft Deutfchlands herbeigeführt wer- den follte durch die Negierungen und deren Polizeimaht, Geldmacht und Kriegsmacht, oder durch jenes Drängen und Arbeiten in den Ge— müthern der Unterthanen, welches vorläufig nur als öffentliche Mei- nung erfeheinen und wirken konnte.

Perthes fühlte fih in vielen Beziehungen von der herrfchenden Richtung und deren Kundgebungen zurüdgeftoßen und ſprach feine Bedenken unummwunden mündlich und fehriftlih aus. Er kannte das Triebwerk der Zeitfchriften und Tageblätter zu genau, um deren Rich- tungen und Anfichten als Ausflug der öffentlihen Meinung gelten lafien zu können. Herr B. fehreibt wohl, äußerte er einmal, auch jebt wieder politifhe Zournale? und warum auch nit? Zwar die Politik ift gegenwärtig etwad über das Gemeine erhaben, aber wa? ſchadet das? Gin fo gewandter politifcher Schriftfteller wie Herr 2. wird fich bei einiger Anftrengung felbft in das Nichtgemeine zu ſchicken und Zeit und Umftände zu berüdfichtigen willen, fo gut wie der fran- zöfifche Senat. Den Theoretifern und Schriftgelehrten traute Perthes jo wenig, daß er fie fämtlih womöglich aus allen ftändifchen

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Derfammlungen ausgefchloffen fehen wollte. Geheime Berbindun- gen widerftrebten feiner ganzen Natur. Weber geheime Verbindungen haben wir ung, ſchrieb er an Fouque, bei Deinem Hierfein audgefpro- hen; ich theile gänzlih Deine Anjiht und Deinen Widermillen ge⸗ gen fie. Bedenklich ſah er auf das Teidenfchaftliche Fortftürmen der öffentlihen Meinung und auf deren Anſpruch, volle und alleinige Geltung zu haben. Wer dürfte hoffen, heißt e3 in einem feiner Briefe, dap die Wahrheit nun im Volke und in feinem Wollen und Begehren rein und ganz erfhienen ſei? Irrthum und Sünde bleibt unfer Erbtheil nach wie vor, und vergeſſen dürfen wir nicht, daß, weil ber Kampf für Freiheit und Recht nicht von den Regierungen, fondern vom Bolfe ausging, die phyſiſche Kraft und die Leidenfhaft Lodge bunden werden mußte. Werden fie nun ſich wieder in gefeßliche Ord⸗ nung und gefellihaftliche Einrichtung fügen wollen und können? Mit ernften Worten warnte er vor dem blinden Eifer, der fich des eigenen Urtheild entichlägt und dem Zuge der öffentlichen Dleinung folgt. Die Zeit ift vorbei, fhrieb er einem ungeftümen Freunde, in welcher man ind Zeug gehen mußte für Gott und Vaterland. Glaube mir, Recht und Wahrheit find jegt nicht wie vor einem Jahre auf Einer Seite, fondern gar fehr vertheilt. Sept gilt ed vor allem die Augen aufthun und gebrauchen und ſich nicht von Blinden leiten laffen. Sei vorfihtig, fonft bift Du ungerecht. Uns drohen die 1813 Iodge- bundenen Kräfte und Leidenfchaften mit ſchwerer Gefahr. Wer wird ihnen entgegentreten? Wir find fo wenig ausgebildet für öffentliche Angelegenheiten, wir bejigen fo wenig Talent und Anftelligfeit zu Geſchäften, daß un? eine feite, monarhifch ftrenge Regierung Bedürf« nid bleiben wird.

Blickte Perthed aber auf die vorhandenen deutichen Regierungen und auf ihr Thun und Laffen in jenen Jahren, fo konnte er weder glauben noch wünfchen, daß die Zufunft Deutfchlands von deren Hand gebildet werde. Das alte Räderwerk, äußerte er einmal, ift verroftet und ſtockt an allen Orten und Enden; fein Uhrmacher hat auf folche Tederkraft gerechnet, wie fie jeßt fich zeigt. Mit Sorge und Un« muth fprachen fi) Briefe, welche Perthes in diefer Zeit von fehr ver- [hiedenartigen Männern empfing, über die von den Regierungen ein⸗

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genommene Haltung aus. Ich habe, lieber Perthes, ſchrieb ihm Frie- drich Heinrich Jacobi aud Münden, einen Briefaudzug von Ihnen gedruckt unter der Ueberſchrift: „Aus dem Briefe eined Norddeutfchen, der gute Hoffnung hat,” gelefen. Das hat mich zwar erbaut und aufs gerichtet, aber meinen Muth doch nicht fo geftärft, wie ich es bedurfte. Wäre ich nicht fo gar Frank, ich fehriebe ein Seitenftüd dazu: „Aus dem Briefe eined Süddeutfchen, der große Sorgen hat.” In diefen (egten Tagen wieder, welche Erſcheinung, die tüdifche Schrift von Schmalz und ihre gleichzeitige Anpreifung, fo ſchnell in allen öffent- fihen Blättern! Und das kommt doch aud dem Preußenreiche, Ihrem deutfcheften der deutichen Staaten! Wenn das in Preußen gefchieht, dann kann die bairifche Alemannia jebt ihre Hände in den Schoß le⸗ gen und thut e3 wirklich. Sollten die abfoluten Royaliften in Frank⸗ reich die Oberhand befommen, fo werden die unferen aus der verhei⸗ Genen Bolkävertretung etwas machen, dad nur ald ein Spott der Völ⸗ fer daftehen wird. Sch wünfche von Herzen, „daß die Federkraft der Zeit diefed Uhrwerk fprenge.” Was Sie an diefer Stelle und fpäter fagen, bat Tiefe und Wahrheit; aber e8 läßt ſich manches dabei und hinzu erinnern, was auch Tiefe hat und leider jehr wahr if. Warum muß die Stimme mir verfagen zu einer Zeit, wo ich fo gerne laut re- den möchte! Laſſen Sie, lieber Perthes, von Zeit zu Zeit ein freund⸗ liches, erquickendes Wort an den alten Dann gelangen, ber ein fo ſchweres Ende nimmt. Ich faffe Euch alle in einem Grufe, in einer Umarmung zufammen mit einer Liebe, mit einem Danke, die feine Worte audfprechen. Du hatteft immer freudigen Muth, fehrieb ihm im Herbft 1816 ein anderer, lange ſchon weit entfernter Freund; hältſt Du ihn auch jetzt noch feit? Wie jammervoli fieht Deutfchland aus, vom fremden Lande betrachtet! Das edle, hochherzige, betro⸗ gene Volk, betrogen durch diejenigen, die von ihm aus der ſklaviſchen Knechtſchaft des tyrannifchen Napoleon mit Aufopferung von Gut und Blut gerettet find! Was wird aus Deutfchland werden, wenn die Fürften fortfahren, fo zu macchiavellieren? Statt Stände und Brepfreiheit habt Ihr Cenſur, Polizei, Militär und Berfolgungen gegen alle das Beſſere Wollende und ſchon den Anfang einer politi- ſchen Inauifition. Tief hat mich der fchreektiche Zuftand des füdlichen

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Deutſchlands, vor allem die Lage der Bauern in Würtemberg, Ba- den und Baiern erfhüttert. Das hatte ich nicht gewußt, dab deut- ſche Fürften ihre Unterthanen fo ausfaugen und quälen könnten, um ein Luſtſchloß mehr zu befigen oder einige Hirfche und wilde Schweine oder taufend Gardiften, durch welche fie ſich gegen die zur Verzweif lung gebrachten Unterthanen fhüpen wollen. Es wird und muß an ders werden; denn unferem Volke ift in den legten Kriegen das Bes wußtjein feiner Kraft und Größe geworden: aber wie lange noch foll ed mit der Erfenntni® allein fi} begnügen und dem Tantalus glei« hen, während England, Amerika und felbft Frankreich in den Früch— ten der Erkenntnis ſchwelgen? Weinen möchte ich bei dem Gedanken, daß der Engel der Auferftehung nur über die Leichenhügel der Revo» Iution fich erheben ſoll; und nun die hungrigen Geier im Often und Weiten meined geliebten, theuren VBaterlanded, wie werden fie ſich freuen unter dem Borwande, die Ordnung herftellen zu müffen, Deutichland mit ihren wilden Horden zu überſchwemmen und fich in den Raub zu theilen! Mein Beritand fieht feine Rettung, aber mein - Bertrauen bleibt, dab da® Gute und Große in einem Bolfe auch unter dem ftärkften Drude von außen und innen nicht untergehen kann. Sie Hagen mid an, fehrieb ein Mann, der mitten in großen Gefchäf- ten ftand, im Mai 1816 an Perthed, daß ich alles ſchwarz und nur immer ſchwaͤrzer fehe? Alfo von allem, wa3 id) am Rhein neuerdings erfahren, hier gefehen und aus Berlin, Parid, der Schweiz u. ſ. w. geichrieben befommen, will ich Ihnen lieber nicht? jagen. Lieber Perthes, wer den Aasgeruch fpürt, foll der fich nicht die Nafe zuhal- ten? Ich fehe dad Gute, was diefe Zeit entwidelt, vielleicht in dem blendenditen Schimmer, in unruhiger Begeijterung , ih bin der An⸗ fiht und Betrachtung, die Sie mir in freundliden Worten jo wohl- wollend und tröftend mittheilen,, keineswegs fremd wer möchte, ja wer könnte ohne folchen Glauben, was fag’ ih Glauben? ohne folche beftändig zuftrömende Anſchauung die weltlichen Tage nod ertragen! aber diefe Anficht führt mich weiter, ald Sie ed ausdrüden. Was über die Gegenwart erhebt, ändert die Gegenwart nicht. Sept ift grade nicht ein günftiger Gefchichtemoment auf der Erde; alles todt und faul, Neues erft im Keime. Und mad von dem Alten noch jteht,

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das wird fallen; ich ſehe ed, wie die es umſtürzen, die e8 halten wol- len. Sie find älter ala ich, Tieber Perthed, und an Lebens⸗ und Welterfahrung reicher, aber ich fehe andere Dinge, als Sie fie in dem bei mittelmäßigem Winde wieder ziemlih in Gang gekommenen guten Hamburg aufgedrungen erhalten! Es ziemt mir nicht, Ihnen

alles einzelne fehriftlich mitzutheilen; auch wäre e8 ſchwer: aber das kann ich Ihnen verfihern, bei vielem fehlügen Sie die Hände über dem Kopf zufammen. Wenn id) alled zufammenfaffe, fo muß ich ala ſchwarzer Unglücksvogel Sturm verfünden, wo foll ed bin? Les peuples existent, jagt Mirabeau, mais malgré les gouvernemens. Diefe letzteren arbeiten aber jebt an ihrem eigenen Untergange mit einem Eifer, einer Thätigkeit, einer Geſchicklichkeit, daß man bie Frucht ihres Schweißes bald wird genießen fünnen. In Deutfch- land kommt es fo weit, wie ed in Frankreich war, aber das fann noch eine Weile hin fein. Erft werden jept überall hübſche Ariftofra- tien eingerichtet, damit der Adel nicht milde vergehe, wie die Natur ed einem Sterbenden erlauben will, fondern noch jo viel Kraft ein- athme, um den Gang zum Schaffot auszuhalten. Raſend find die Menfchen, verrüdt. Hörten Sie doch, was ſelbſt die Beiferen im Ver⸗ trauen zu äußern wagen; fehen Sie doch neben einander, was z.B. Gent in feinem Innern erkennt und denkt und was er einem ver- ehrungdwürdigen Publicum kecklich mit Salbung vorlügt! Ich nenne das allereinzelfte: es foll nicht beweifen, am wenigften erfchöpfen, nur durch etwas Farbe beleben, was fonft ala ein afchgraues, geſichts⸗ loſes Phantaama gelten möchte. Seit meinem legten Briefe, heißt e8 vier Wochen fpäter, hat ſich manches näher gezeigt, was mich da- mals befchäftigte, aber fchöner ift e8 nicht geworden. In Würtem⸗ berg nimmt die Sache eine recht fchlechte Wendung; daran kann kein Wohldenkender noch Gefallen finden! Im übrigen Deutfchland dag fih Gott erbarm! Es mag gut fein, dag die Völker mit ihrer frifchen Naturkraft wie rohe Kinder wild aufwachfen, aber Erziehung foll man das denn doch nicht nennen. ch ftehe an einer Stelle, von welcher man in diefem Augenblide vielleicht noch mehr als in Wien und in Berlin das gegenwärtige deutſche Staatenweſen, die gegen-

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wärtig herrſchenden Gefinnungen und Abfichten ertennen kann und in ihrer Erbärmlichfeit verachten muß.

Es konnte für niemand verborgen bleiben, daß die Haltung det preußifchen Regierung beftimmend für die meiften anderen deutfchen Negierungen fein würde, Um fo größer mar daher die Sorge und die Erbitterung über das Herporfreten der Richtung , welche durch die Schrift des Geheimenrathd Schmalz ihren Ausdruck erhalten und in den Gegenfchriften von Niebuhr, Schleiermacher, Koppe und anderen heftige Bekämpfung erfahren hatte. Wohl drohen Gefahren von mehr als einer Seite, fehrieb Perthed an Jacobi nach München. Der Streit in Preußen ift ein Zeichen der Zeit; dort greift die Regierung in ihrer Angft den Tugendbund an, fpürt geheime Verbindungen auf, möchte die Öffentliche Meinung und den Volksgeiſt bannen und den Volkswillen nah Berfaffung, Landwehr u. f. w. hemmen. Weil fie unfere Zeit nicht begreift, möchte fie ſich aus derfelben heraus und in eine andere, vergangene hineinfegen. Du erwähnft ded Streites zwifchen Schmalz und Niebuhr, heißt es in einem gleichzeitigen Briefe von Perthed an Fouqué. Ach betrachte diefe beiden nur als Tirail- leurs; gejchlofjene Colonnen ftehen hinter den Bergen. Genau ge- nommen follen die Ausdrüde: Jugend und geheime Verbindung, ge- gen welche Schmalz feine Angriffe richtet, den Volksgeiſt, die öffent: liche Meinung diefer Zeit, Verfaſſung, Landwehr, u. f. w. bezeichnen. Und welche Mittel wendet man an, um diefen Angriffen größere Stärke zu verfchaffen! Lobende Anzeigen der Schrift von Schmalz werden officiell durch alle Zeitungen verbreitet; die Beurtheilung im Hamburger Eorrefpondenten z. B. war von ®. v. K. dagegen wur⸗ den die Gegenſchriften, namentlich die von Koppe, ſchon verdächtigt, bevor ſie erſchienen waren. Wer ſchlecht iſt, iſt doch immer auch dumm. Für fo verderblich hielt Perthes das damalige Auftreten der Regierungen, daß er fich der ſſhwierigen, unſicheren Lage freuen konnte, in welcher ſich dieſelben nach allen Seiten hin befanden. Ueber den zweiten Pariſer Frieden, wenn er auch ſchlecht' genannt wird, Mage ich nicht, fehrieb er an Fouque. Gefahren von außen müffen auch künftig die Regierungen noch bedrohen, damit fie des Volkes bedürftig bleiben. Wären die Staatöverhältniffe auch nur

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auf ein halbe Jahrhundert dermaßen ins Gleichgewicht geftellt, daß Ruhe und Friede überall in Europa wäre, fo würde auf feinen Wunſch, auf fein Recht des Volkes geachtet werden und alles in dem alten verfaffungslofen Zuftand bleiben. Conftitutionen laffen ſich frei⸗ ih nicht machen; die Zeit, die Gefchichte macht fie, und Thoren find ed, die nur gleich alle8 mit der Schneiderfchere einrichten wollen. - Aber anfangen mug man doch, und diefer Anfang ad! das ift ſo fehwer für die Herren, die regieren und verwalten, - ſich darein re⸗ den zu laſſen.

Den Regierungen, wie ſie beſtanden, die Zukunft Deutſchlands in blinder Hingabe anzuvertrauen, ſchien ſo wenig zuläſſig, wie dem Fortſtürmen der oͤffentlichen Meinung zu folgen, und vor der Anma⸗ Kung, fih und fein Einzelurtheil über beide zu feßen, mußte der be⸗ fonnene Mann zurüdichreden; aber in Perthes war der alte Glaube an die Macht, an die Wahrheit und das Recht des den Deutfchen ald ein Gefchen? von oben gegebenen nationalen Geifted unerfchüttert ge⸗ bfieben. In dem nationalen Geifte, den die Menfchen fo wenig zer. ftören wie ſchaffen könnten, fah er den Richter in dem Kampfe ziwi- fhen den Regierungen und der öffentlichen Meinung; denn ſchon da» mals trug er ald Ahnung feine fpätere Ueberzeugung in fi, daß in einem ſolchen Kampfe der nationale Geift nicht nothwendig mit der öffentlihen Meinung zufammenfallen und nicht nothwendig von der politiihen Richtung der Regierungen ſich unterfcheiden müfle. Für jeden einzelnen Yall begehrte er die Unterfuhung, ob mehr auf diefer oder mehr auf jener Seite der nationale Geift wirfe und malte, und obſchon er auch in fpäterer Zeit bereitwillig zugeftand, daß diefe Un- terfuchung nicht jedermannd Sade und oftmald unendlich fchwierig fei, fo betrachtete er diefelbe Do immer ald die weſentlichſte Aufgabe des deutfchen Staatdmanne® und gab niemals die Meberzeugung auf, daß Deutſchlands Stellung von der Verwirklichung deifen, was der nationale Geift erftrebe, abhängig und jedes Anfämpfen gegen deniel- ben nicht nur verderblih, fondern auch vergeblich fei. Gegen gleich fiimmiges Gefühl, ſchrieb er im December 1815 in mehreren Briefen, gegen gleichmäßige Erfahrung und darauf fi) gründende Ueberzeu-

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gung, gegen ein in der Tiefe der Natur wurzelndes Verlangen richtet keine Macht der Erde etwas aus.

Die Frage nach der Stellung der Regierungen zu der öffentlichen Meinung war nur eine der Streitfragen jener Zeit; neben ihr ward mit gleicher Heftigkeit, wenn auch nicht in ſo weiten Kreiſen, die künftige Stellung Preußens und Oeſtreichs zu einander und in Deutſch⸗ land zur Sprache gebracht. Der deutſche Bund war allerdings ſchon im Juni 1815 vertragsmäßig gegründet, aber der deutſche Bundes⸗ tag, das einzige Organ, durch welches ſich der Bund äußern ſollte, iſt erſt am 5. November 1816 eröffnet worden. Um die Zeit des zweiten Pariſer Friedens lagen daher die Artikel der Bundesacte nur als todte Buchſtaben vor und kein Menſch konnte ahnen, wie die zwanzig geſchriebenen Sätze ſich ausnehmen würden, wenn ſie zu Thaten im Leben werden ſollten. Nur ſo viel ließ ſich ſchon damals erkennen, daß ungeachtet der angeordneten Entſcheidung nach Stim⸗ menmehrheit die deutſchen Regierungen in ihrem Gange und Verhal⸗ ten durch Oeſtreich und Preußen beſtimmt werden würden. Preußen und Oeſtreich alſo ſollten gemeinſam Deutſchland leiten, wie wenn ſie durch die ſtärkſten gemeinſamen Intereſſen und durch das innigſte ges genſeitige Vertrauen unauflöslich miteinander verbunden wären. Be⸗ vor indefjen durch dad Jufammentreten ded Bundestages den beiden Mächten wenigftend der Verſuch möglich gemacht 'war, fih Deutid- land gegenüber wie eine einzige Macht zu bewegen, mußte die gemeine jame Leitung ded ganzen Deutichland® durch zwei Cabinette, welche um eben dieſes Deutjchland fich ſchon lange angefeindet und argwöh⸗ nifch bewacht hatten, wie ein luftiger Traum erfcheinen. Der Wirk—⸗ lichkeit nach ftellte fich Deftreich ald der Leiter der füddeutichen, Preußen als der Leiter der norddeutfchen Staaten für die nächte Zukunft dar.

Auch Perthes, obſchon feinem gefamten Entmwidelungsgange nad) mehr deutfch ala norddeutich oder füddeutfch, als öftreichifch oder preu- ßiſch, konnte ſich diefem durch die Lage der Dinge hervorgerufenen Standpunkt der Betrachtung nicht entziehen. Welch ein großes, wah- res Glück verheißt der herrliche Sieg bei Belle-Alliance! fchrieb er in einem jpäter etwas verändert im Niederelbifchen Mercur abgedrud- ten Briefe. Daß er von Preußen und Niederland im fehönen Berein

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erfochten ift, gibt ihm eine nicht auszurechnende Bedeutung. Das Niederland, aus ungleihartigen Theilen und Stüden eben nur durch ftaatsanfichtlihen Entwurf zufammengefeht, hat durch den muthig be- ftandenen Kampf, deifen Ehre nicht zu theilen ift, Einheit der öffent» lichen Meinung und des Nationalwillend für alle feine Bewohner ge⸗ wonnen. Hannover, gleiche Ehre theilend mit dem Niederland, muß nun zu allgemein vaterländifchen Anfichten und Gefühlen übergehen . aus dem gewohnten Provincialigmusd. Preußen, feines Kranzed zu feinem Heldenruhm mehr bedürftig, bedurfte es doch noch, in braver Waffengenoffenfchaft den Sieg vom ſchönen Bündnid zu erfechten, damit man fagen dürfe: Ganz Niederdeutfchland hat gefochten und gefiegt wer will ed trennen? Keine Macht kann ed, wenn es ſich ſelbſt nicht trennt. Bor folcher Trennung bemahre und Gott! Was entfremdet doch das norddeutiche Nicht» Preußen von dem Preußen- reiche, dieſem deutfcheften der deutfchen Staaten, der in den Jahren der Dienftbarkeit und Vorbild geweſen in Fortbildung vaterländifcher Cultur und in guter Haushaltung, der dann emporftieg, eine leitende Feuerfäule zur Erfämpfung der Freiheit, ald die Stunde gefchlagen hatte? Was fteht noch zwijchen dem Deutfchen.und dem Preußen, in defien Adern doch fo reiches vaterländifched Leben quilit? Du, mein freimüthiger Freund, wirft mir erlauben, freimüthig zu antworten. Eines Gegengewicht? in Norddeutfchland bedürfen wir, durch welches auch in Zufunft jedes preußifche Cabinet vor der politifchen Verſuchung behütet werde, alle Meineren Nebenftaaten mit fich zu verſchmelzen vereinigen iſt etwas anderes —; wir bedürfen eines Gegenſtaates, damit Preußen vor dem Gedanken bewahrt werde, alle deutſchen Staaten müßten in dem preußiſchen untergehen, auf daß Deutſchland aus Preußen neu geboren werde, neu erſtehe wie ein Phönix aus der Aſche. Iſt dem Mangel eines ſolchen Strebepfeilerd gegen folches Uebel abgeholfen, fo wird Deutfchland dem preußifchen Staate alles gönnen, was er nur münfchen mag. Wer wollte verfennen, daß Preußen groß und ftarf fein müffe, nad) Weften und nah Often hin in voller Mannesfraft ſtets bereit haltend das gute Schwert! Das Gegengewicht aber zur Erhaltung der Freiheit Norddeutſchlands ift jegt wirklich gewährt dur dad Reich der Niederlande mit Hannover ;

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die Meineren Staaten, Oldenburg, Braunfchweig, Medlenburg, die freien Städte, befonderd aber Holftein-Schledwig,. ſchweben gleich dem Zünglein in der Wage und geben Ausfhlag. Die politifhe innere Annäherung und Vereinigung Englands und Preußens, die in des Natur ihres ganzen Verhältniſſes begründet liegt, wird Deutfchland von der Achtung überzeugen, die Preußen vor der Bundesverfaffung unſeres Baterlandes hegt, da Hannovers, aljo des britifchen Cabi⸗ nets, ganzes Streben auf die Verfaffung Deutfchlands hingerichtet if. Geht meine Hoffnung in Erfüllung, fo ftehen Nord⸗ und Süd⸗ deutſchland als zwei Hälften eines ganzen Deutſchlands da zur Wehr gegen jeden Feind, gegen jeden Fremden, und im Innern wird der alte Streit zu einem Wettkampf darüber werden, wo Berfaflung, Freiheit, Ordnung, Liebe und Treue zum Fürften, wo geiftige Aus- bildung zur Ehre Gotted und zu Nub und Frommen des Volfed am. beften gedeihe, und wir in Norddeutfchland werden wahrlich zu thun haben, um uns nicht von dem Süden überbieten zu laffen; denn vie- les läßt fi erwarten für den Aufſchwung Süddeutſchlands von Deft- reichs redlihem Kaifer, den wir fo gerne wieder den unfrigen haben nennen wollen, und von den gründlich gebildeten Prinzen diefed Hau- fes, und vieles Große läßt fich hoffen von Baierns und Wüurtembergs Thronfolgern. | Daß Preußen ein durch und durch deutſcher Staat ſei, war für Perthes damals wie fpäter gewiß; aber eben ſo gewiß war ihm, daß das national Deuiſche ſich im preußiſchen Staate durch deſſen große Geſchichte beſonders und eigenthuͤmlich, gleichſam zu einem Dialekte des Deutſchen, dem preußiſchen Dialekte, ausgebildet habe. Dieſes unterſcheidend Preußiſche wollte Perthes in keiner Weiſe den übrigen norddeutſchen Ländern aufgedrängt wiſſen; fie ſollten nicht preußiſch in dieſem Sinne des Wortes werden. Noch weniger war feine Mei- nung, daß die damals in Preußen einflupreiche Partei, welche die Art des Regiments, wie e8 vor 1806 geführt worden war, den Grundla- gen nach wieder herftellen wollte, Einfluß auf dad übrige Norddeutſch⸗ land gemänne. In beiden Beziehungen fah er nicht ohne Sorge umd Mistrauen auf Preußen hin. Preußen wird die Braut heimführen, fchrieb er im Sommer 1815, aber nicht eher, bis Gott feinen Segen

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dazu gefprochen hat; denn Deutjchland ift eine Feufche Braut. Als ihm ein Freund aud Preußen die Worte gefchrieben hatte: „Es ift eine unglaubliche Verblendung, ſich nicht vertrauensvoll an Preu- fen anfchliegen zu wollen; welches Preußen ich meine, wifjen Sie,” antwortete Berthed: Zu Preußen, zu dem Preußen, welche? Sie mei- nen, haben wir Zutrauen; ob aber unfer fleiner Staat zu dem Preu- Ben, was Sie nicht meinen, Zutrauen haben und fi) ihm hingeben darf, das ift eine Frage, die ih Ihnen in Ihrem Cabinette fich zu beantworten überlaffe. Aber ich möchte fo gerne im Bertrauen ein- mal hören: Was will denn eigentlih das Preußen, dad Sie meinen, und dad, dad Sie nicht meinen, und was ift e8 eigentlich, dag wir nichtpreußifche Deutfche thun follen, um nit „unglaublich verblen- det” zu fein. Vielleicht wäte es fogar recht gut, wenn alles dieſes einmal wahr und treu, wie ed Deutichen geziemt, Öffentlich beantwor⸗ tet würde. Möglich, daß wir alle nicht fo weit auseinander find, wie die Gefpenfter, die jebt im Dunfeln fohleichen, und glauben machen möchten. Mit Niebuhr war Perthed fchon im Jahre 1814 zer- fallen, weil er in ihm nur ein Herz für den preußifchen Staat und nicht für das deutfche Bolt, fo weit dasſelbe ein politifches Volt fein follte, zu erkennen glaubte; bitter griff er 1815 defien Schrift gegen Schmalz an, weil fie ihm au? einem nur preußifchen Geifte hervorge- gangen jhien. Bei diefem fcharfen politifchen Gegenfag zwiſchen den beiden alten Freunden ſchien wenig Ausfiht auf Wiederherftellung ihres früheren nahen Berhältniffes zu fein. Mit um fo tieferer Rüh— rung und Freude empfing Perthes im Frühjahr 1816 nicht lange vor Niebuhr's Abreife nah Rom folgende Zeilen von dem großen, edlen Mann: Liebſter Perthes, es ift für mich ein Bedürfnis, nicht ärmer zu werden und nicht ärmer zu fcheinen, als das Schickſal es unab- wendbar will. Das Schickſal hat mich in den nächſten Verhältniffen bettelarn gemacht, wo ich nod vor einem Jahre fo überſchwenglich reich war. Erſt vor drei Zagen ift der Todestag meined Vaters, wo⸗ mit die Zerftörung meined Reihthums anfing. Wenn die Vers traulichkeit mit Sreunden durch vorübergehende Leidenfchaftlichkeit und Neigungen gelitten hat, fo fei died nun auch vorübergehend und ein

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jedes Misverfländnid verfchwinde, ehe ich vom väterlichen Boden fheide. Wollen Sie das annehmen? |

Fahre politifher Gemädhlichkeit konnte Perthes für die Deutfchen nicht erwarten, mochte er auf Preußens und Oeſtreichs Stellung oder auf die Haltung der Regierungen und auf das Drängen ber öffent- lichen Meinung fehen. Die Friedenszeit, fohrieb er, der wir jept ent- gegengehen, wird zugleich eine Kampfeszeit fondergleichen fein. Denn noch ift auf feiner Seite die Wahrheit und das Recht, und nad fo ges waltigen Zeiten fann Unwahrbeit und Unrecht nicht ohne Gegner und Angriffe daftehen. Einzelne Männer und Vereine, Stände und Städte, Staaten und Kirchen werden im wilden Gewirre gegen einan⸗ der auftreten; heftige Reibungen und leidenfchaftliche Parteien werden überall entſtehen; jeder wird nur feine Anficht für die wahre halten und jeder jeglichen Anhang zu gewinnen fuchen. Wer Tann es wiſſen, rief er, von Sorge ergriffen, einmal aus, ob die Zufunft Deutſchlands au nur zwei Staaten oder zwei Stämme fehen wird, die brüderlih zu einander halten! Doch war eine folde Stim- mung banger Sorge nur vorübergehend bei Perthes; Hoffriung und Vertrauen war das Herrfchende in ihm. Wie er den deutfchen natio- nalen Geift ald endlichen Richter und Sieger in dem Kampfe zwifchen Regierungen und öffentlider Meinung anerkannte, fo glaubte er feft, dag auch der Kampf zwifchen Deftreich und Preußen endlich erledigt werden würde, indem Deutfchland zu feinem Rechte gelange und den beiden ftreitenden Mächten die ihnen in Deutſchlands Intereſſe gebüb- rende Stelle anweiſe. Glauben Sie nicht, fehrieb er, daß ich ohne große Sorgen bin; ich weiß viel ſchlimmes und vielleicht genauer und beitimmter, ald Sie es willen fönnen: aber Deutihland ſchläft nicht und fein Bolt wacht; überall ziehen die Vögel und man adıte auf ihren Flug. Die Elemente zu einer großen Zeit find vorhanden und e8 fehlt, um fie zu fammeln, nur an einem von Gott begabten Manne, und den wird Gott verleihen. Mir fteht heute fo feit wie vor einem Jahre, dag Europa noch nicht dem Untergange beftimmt it, und daß Gott ſich Deutichland aufgehoben hat, um Europa zu retten. Das ift meine Meberzeugung und durch fie habe ich ſchon manchen, der in Sorge und Furcht erftorben war, wieder lebendig ge-

72 ſprochen. Wir freilich werden alt werben in dem Gange ber Zeit und und fohlafen Iegen, bevor ein gutes Ende erfcheint; aber wer wollte verzagen, weil er auf hohen Berg geftiegen, neue Berge und Thäler in großer Zahl überfehaut und nun ſich fagen muß, daß es nicht eines Tages Sache fei, die letzte Höhe zu erreichen! |

Perthes' Anfihten über die Bedeutung des Buchhandels fir Deutſchland.

Perthes hatte den Buchhandel von den erſten Jahren an, in de⸗ nen er denfelben als feinen Lebensberuf erfannte und ergriff, nie aus⸗ ſchließlich als ein Mittel des Erwerben? ,, fondern immer zugleich als ein Glied in dem großen Zuſammenhange der Einrihtungen und Ver- anftaltungen aufgefaßt, durch welche eine Nation fich geiftiges Leben möglich macht. Weil fein Gefchäft ihm ein felbftändigesd Hausweſen und eine unabhängige Stellung verfchaffen und erhalten follte, ver- gaß er nicht, daß es zugleich die Aufgabe habe, in Gemeinfchaft mit dem gefamten deutſchen Buchhandel das Titerarifche Bedürfnis der Nation und. deren einzelnen Beftandtheile möglichft ſchnell zu erfen« nen und möglichft leicht zu befriedigen. In diefem fteten, Tebendigen Bewußtſein von der Einheit des befondern und des allgemeinen In⸗ tereſſes Tiegt recht eigentlich da8 Geheimnis der Erfolge, die, fo lange Perthes Tebte, feine Unternehmungen begleiteten. Bon diefem feinen Standpunfte au glaubte er im Jahre 1816, daß der deutfche Buch- handel einer neuen Belebung und theilweifen Umgeftaltung bedürfe.

Unter den vielen Gefahren, von welchen Deutfchland dur die Menge der fcheinbar mwenigftend unauflößlichen inneren Gegenfähe bedroht ward, fürchtete er am meiften die Möglichkeit, daß die Schei- dung in Süd und Nord, in Eatholifch und proteftantifh, in öftrei- chiſch und preußifch nicht nur politiſch, fondern auch national ſich aus- prägen könne. Wenn die Nation in zwei Völker, Süddeutſche und Norddeutfche, fich fpalte, fo erfhien ihm jede fernere Hoffnung auf

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eine bedeutende Zukunft Deutſchlands ala Thorheit. Mit Unwillen und Beforgnis fah er daher auf die vielen Norddeutichen hin, welche begeiftert von der-politifchen Einheit Deutfchlands zu fprechen wußten und dennoch deren nothwendige Vorausfegung, die nationale Einheit, jerftören halfen. Der Norden, äußerte Berthes einmal, hat fi daran - gewöhnt, den Süden anzuflagen, daß ſich derfelbe gegen das nord⸗ deutfche Wefen ängftlih und engherzig abichliepe, und dennoch macht der Norden ed.nicht anders, fondern ignoriert mit vornehmer Selbft- gefälligfeit das geiftige Leben des Süden? und weiß nicht und will nicht wilfen, was dort die Menfchen treibt und bewegt. Er liebt e8, Bildung, Berftand, Wiſſenſchaft und Kunft für fih und für den Pro- teſtantismus allein in Anfpruch zu nehmen, und will dem Fatholifchen Süden nur eine gewilfe treuherzige Gemüthlichkeit und ungebildete Gradheit zugeftehen. In Wahrheit find ihm die Süddeutfchen ein Stamm anderer Gattung und Geltung ald die Norddeutfchen. Wie aber ift politifche Einheit des Süden? und Nordend möglich, fo lange die nationale Einheit beider noch nicht lebendig in das Bewußtſein aller getreten ift!

Bedeutende Gegenfäpe Wwiſchen Süd und Nord waren im Le— ben begründet; fie fonnten weder überfehen, noch durften fie. ver- wifcht werden: aber mit vollem Recht betrachtete es Perthes ala Prlicht der Nation, ihre ungeachtet aller Mannigfaltigkeit der Stämme vorhandene nationale Einheit lebendiger als bieher zu erfennen und kräftiger zu entwideln. Bei der trocknen Starrheit, mit welcher ſich die Berfchiedenheiten in Religion und in Sitten wie in biftorifchen und politifhen Erinnerungen feitgeftellt hatten, glaubte Perthes in der Literatur für die nächfte Zeit das einzige große Gut zu finden, an deſſen gemeinſamem Befis der Norddeutfche und Süddeutiche, der Proteftant und Katholif, der Preuße und der Deftreicher mehr und mehr lernen könne, fich als eins zu fühlen. Aber aud in Beziehung auf die Literatur fand Deutfchland ſcharf getrennt da. Süddeutfch- land, insbeſondere Deftreihh und das eigentliche Baiern, wurde tes nig von berfelben berührt und Norddeutfchland war fo unbefannt mit den irgendwie fatholifch gefärbten literarifchen Erſcheinungen Deft- reih® und Baiernd, daß man nach Perthes' Anficht nicht wiſſen konnte,

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ob fie niht Schaͤtze enthielten, beftimmt, ein allgemein deutfches Gut zu fein. Diefe unnatürlihe Scheidung der deutfchen Literatur zu überwinden, faßte Perthes als die große und eigenthümliche Auf- gabe ded Buchhandel? auf. Eine Geftalt follte derfelbe geminnen, die e8 für die Verbreitung einer Schrift als gleichgiltig erfcheinen lieg, ob fie in Hamburg oder Wien, in Königdberg oder Trier gedrudt und verlegt war. Bon der Löſung diefer Aufgabe wußte Perthes aber den Buchhandel noch weit entfernt. Nur in geringem Grade wirfte derfelbe auf Baiern und auf manches Fleinere Land, und für Deftreih war er fo gut wie nicht vorhanden. Mit Ausnahme Wür- tembergd war noch vor wenigen. Jahren, fehrieb Perthes damals, das füdliche Deutſchland bis Nürnberg und Dresden, das weftliche bis Heidelberg und Kranffurt todt für die Literatur. Seitdem die Rheinlande preußifch geworden find und Deftreih und Baiern mehr und mehr in da8 deutfche wiſſenſchaftliche Leben eintreten, ändert fih das alles und die Beziehungen nad) diefen Ländern mehren ich, aber noch wird der gegenfeitige Verkehr nur auf gut Glück unter- nommen und unfundig und unbehilflich betrieben.

Jedem Verſuche, die Scheidung in dem deutfchen literarijchen Leben zu überwinden, ftellte fi) ein Umftand hindernd entgegen, def- fen Befeitigung nicht ohne Eingreifen der Regierungen möglich war. Der Buchhandel einer und derfelben Sprache, Literatur und Nation mußte in einer Mehrheit völlig getrennter Staaten betrieben werden. Diefe Thatjache hatte in ihren äußerften Kolgen dahin geführt, daß das von dem Buchhändler ded einen deutfchen Staates ermorbene Recht zum Drud und Vertrieb eined Werkes von den anderen deut: Then Staaten nicht ala ein Recht anerfannt ward, und der Nachdrud als erlaubtes und felbft als begünftigte® Gewerbe galt. Das Ber: derbliche eines ſolchen Kriegszuſtandes fuchte Perthes um diefe Zeit in einer eigenen kleinen Schrift auch den ferner Stehenden anſchaulich zu machen. - Wenn der Schriftfteller, heißt e8 in derfelben, etwas nie- dergefchrieben hat, fo wendet er ſich behufs des Drudes an den Buch⸗ händler, da er felbft weder Zeit noch Geld noch Geſchick zur Beſor⸗ gung dieſes Gefchäfted hat. Hält der Buchhändler dad Dargebotene für gut und glaubt wiffen fann er ed nicht —, daß dad Publicum

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eben fo urtheilen werde, fo gibt er dem Schriftfteller Honorar und bes zahlt Drud und Papier für fo viele Eremplare, als er abfeßen zu fönnen meint. Der Buchhändler hatte ſich aber vielleicht geirrt und behält mehrere hundert Eremplare übrig, wodurd ihm nicht allein der gehoffte Gewinn, fondern auch ein Theil des audgelegten Capitals entgeht. Diefelbe Erfahrung macht der Buchhändler mehreremale und vielleicht erft im fechdten Falle glüctt ein Unternehmen und fönnte Erſatz für den vorhin erlittenen Verluft gewähren. Da findet ſich aber ein Nachdruder, welcher die fehlgefehlagenen Unternehmungen nicht beachtete, die geglüdte aber fogleich bemerkt und von dem Buche eine neue Auflage macht, welche wohlfeiler fein fann, da der Nach⸗ druder feinen früheren Verluft zu deden und fein Honorar zu zahlen hat. Durch diefed Verfahren bleibt dem Buchhändler die Hälfte der Auflage liegen und er wird abgefchredt, ferner etwas zu unterneh- men. Der Cchriftfteller findet folglich fünftig feinen Abnehmer fei- ner Arbeit, der Nachdrucker aber, der Qaurer, zieht feinen ficheren Gewinn. Mlerdingd hat das Publicum durch den wohlfeileren Preis in diefem einen Falle Vortheil; ift e8 aber ein guter Haudhalter, der fein Saatforn aufjehrt? 3. B. Profeffor Ebeling zu Hamburg gibt von feiner durch die Zeitläufe unterbrochenen Erdbeichreibung Ame⸗ rika's einen neuen Band heraus. Er bat für Bücher, Landkarten, Gorrefpondenz und Beiträge achthundert Thaler Unkoſten gehabt, eigene Arbeit und Zeitverluft nicht gerechnet. Das Buch findet Käu- fer. Ein Hamburger Buchdruderherr findet es nun dem Intereſſe fei- ner Officin gemäß, diefen Band der Erdbefchreibung nadhzudruden, und fann denfelben um die Hälfte wohlfeiler geben als der rechtmä⸗ ßige Verleger, dem dadurd ein großer Theil feiner Auflage Macula- tur wird. Wenn nım künftig ein neuer Band desfelben Werkes er- fheinen foll, fo wird der vorige Verleger ihn gewiß nicht drucken, der Nachdruder auch nicht; und das Publicum muß ein ſchätzenswerthes Werk entbehren. |

Die zunächſt bei diefer Angelegenheit betheiligten Schriftftelle und Verleger hatten freilich den Nahdrud immer ald ein verderbli- ches Nebel anerkannt und gleich nach dem erſten Parifer Frieden ſchon Berfuche zu deſſen Befeitigung gemadt. Ein und achtzig angefehene

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Handlungen waren im Sommer 1814 zufammengetreten und hatten eine Commifjion erwählt, welche bei den einzelnen Regierungen und bei dem damals bevorftehenden Congreffe die geeigneten Schritte thun follte, um für dad Eigenthumsrecht der Schriftfteller und Verleger geſetzlichen Schuß in ganz Deutfchland zu erwirken. Cotta und Ber- tuch hatten ſich als Abgeordnete der Commiffion mit einer von Kotze⸗ bue verfaßten Denkihrift nah Wien begeben und geneigte® Gehör bei Metternih und Weflenberg, Hardenberg und Humboldt gefunden. Der deutfchen Bundesacte waren demgemäß die Worte einverleibt worden: Die Bundedverfammlung wird fi bei ihrer erften Zufam- menfunft mit Abfafjung gleihförmiger Verfügungen über die Sicher- ftellung der Rechte der Schriftfteller und Verleger gegen den Rachdrud befhäftigen. Als nun die Zeit der Eröffnung ded Bundestages in Frankfurt herannahte, fehien es, um.diefen Worten ihre zweckgemaͤße Ausführung zu fihern, vor allem darauf anzufommen, den Staats⸗ männern, aus welchen die Bundesverfammlung beftehen follte, be⸗ ſtimmte und deutliche Einfiht in da8 ihnen fremde, halb faufmänni- ſche, halb Titerarifche Verhältnis zu verfchaffen. Bon verfchiedenen Seiten aufgefordert, entwarf Perthes im Eommer 1816 eine Denke ſchrift: „Der deutfche Buchhandel ald Bedingung des Dafeind einer deutfchen Literatur”, welche vor allem darauf berechnet war, das in literarifcher Beziehung Deutfchland entfremdete Deftreich zu gewinnen.

Es ift, beißt e8 in derjelben, ein Zeichen für Unzerftörbarfeit der deutichen Nationalität, daß die Liebe zu vaterländifcher Sprache und Literatur in demfelben Maße, ald der Verfall der früheren poli« tifchen Verfaſſung ſich offenbarte, flärfer germorden und bi? zur Be- geifterung geftiegen ift, als das deutfche Reich durch franzöfifche Ueber- macht zerftört ward. Seitdem ift unfere Literatur ald der Gefamt- ausdruck des geiftigen Lebend aller deutfchen Völker und unfere ge- meinfame Sprache ald das .unverleglihe Bildungsmittel deuticher Stämme in Ehren gehalten und die Bundesacte hat verfprochen, daß das fo herrlich bewährte und fo ſtark befundene innere Bildungsmit- tel: deutfche Sprache und Literatur, geichirmt und gefchügt werden folle. Das wollen Fürften und Stände, Adel und Boll. Der Beſitz aber einer gemeinſamen Literatur für Deutſchland iſt ar die Erfuͤl⸗

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fung dreier äußerer Bedingungen. gefnüpft: die Koften zum Drud der Schriften müffen aufgebracht, die Schriftfteller müſſen wenigften® für Zeit und Arbeit entihädigt und die gedrudten Werke müffen über alle Länder deutfher Sprache gleichmäßig ‚verbreitet werden. Seine: Negierung, fein Gönner, feine Afademie, fein Inftitut trägt in Deutfchland zur Erfüllung diefer Bedingungen bei ; der Buchhandel al- lein bringt die Koften des Drudes auf; er allein hat e8 durch dad ger zahlte Honorar einer Reihe unferer bedeutendften Schriftiteller mög⸗ lich gemacht, fich frei, felbftändig. und unabhängig fo lange zu beive- gen, bis allgemeinered Anerkenntnis ihnen eine-geficherte Lebenslage verfchaffte. Seine Auslagen kann der Buchhandel nicht wie in Eng- land und frankreich durch den Abfak an einzelnen Orten oder in ein« zelnen Provinzen deden und ift daher durch die Noth dahin geführt, in den Gegenden, für die er überhaupt thätig fein kann, keinen Ort und feinen Stand unbeachtet zu lafjen, jondern feine Wirkſamkeit bis in die verftedteften Winkel auszudehnen. Hierdurch ift ed möglich ge- worden, daß wir Deutfche auch in der Heinften Stadt mit der Litera- tur der ganzen gebildeten Welt im Zufammenhange ftehen und aus hunderten von Orten die bedeutenditen literarifchen Erfcheinungen her⸗ portreten, während in England und Frankreich Bücher, die nicht in London oder Paris gedrudt wurden, nur ſchwer zu erlangen find und außerhalb diefer beiden Hauptftädte fein großer Schriftfteller gedeiht. Der Engländer und Franzofe hat nur eine Londoner und Pariſer Li- teratur, wir aber haben eine deutfche Literatur und würden fie nicht haben fönnen ohne die großen gemeinfamen Anftalten, welche der ‚Buchhandel für Deutſchland in® Leben geführt hat. In Leipzig ift ein großer Stapelort entitanden, wo alljährlih alle Buchhändler Deutihlands zufammentommen; halbjährlich erfcheint ein allgemeines Berzeichnid aller in Deutfchland neu: herausgekommenen Schriften ; allgemein deutfche gute und richtige Bücherkataloge machen es nebft. anderen literarifchen Hilfsmitteln und den allgemeinen, die ganze deut- he Literatur umfafjenden Fritifchen Anftalten möglich, daß die Litera- tur der verſchiedenen deutſchen Länder ald ein einziged Ganze erſchei⸗ nen fann. Dieſe in ihrer Art einzigen Borzüge und Eigenthüm- lichfeiten des deutfchen Buchhandels find nicht durch Gefepe, nicht

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von Staat? wegen durch die Regierungen gegründet, fondern von feldft wie durch einen nationalen Naturjinn entftanden und auch ges genwärtig bedarf der Buchhandel wie jeder andere Handel nur Frei- beit, und feine befondere Begünftigung,, aber fordern kann derfelbe, daf er wie ein Nationalgut und Nationalinftitut geachtet werde und im ganzen Bereiche des deutichen Bundes gleichen Schug und gleiche gefegliche Ordnung für feine Berhältniffe finde. Das nächte und drin- gendfte Bedürfnis. ift gefeliche Hilfe gegen den. Nachdruck. In Deft- reich, Baiern, Würtemberg, Baden, Darmitadt und den Ländern am Rhein wird derfelbe ald öffentliche, geſetzlich anerkanntes Ge- werbe und in vielen andern Ländern unter der Hand und gelegent- lich getrieben. Privilegien gegen denfelben können zwar für ſchweres Geld erfauft werden, aber es ift dem Buchhändler gradezu unmög- ih, fi für jedes einzelne Werk achtunddreißig Privilegien von den achtunddreigig Bundeoftaaten zu verfehaffen. Hier muß von Bundes» wegen geholfen werden durch ein Gefep über dad Eigenthumsrecht der Schriftfteller und Berleger mit fefter Beftimmung des Umfanged und der Dauer desfelben und durch die Einfegung einer Behörde, vor welcher das gewährte Necht geltend gemacht werden kann.

Nach diefer Auseinanderfegung ſuchte Perthed die mit dem Ber- falle der Reichöverfaffung zunehmende Verbreitung des Nachdrudes in wenigen Worten darzulegen und die oft geltend gemachte Behauptung zurückzuweiſen, nad) welcher Oeſtreich durch das Verbot ded Nadh- drud? einen bedeutenden Geldnachtheil deshalb erleiden werde, weil es für die au dem übrigen Deutfchland gekauften Bücher feine Gegen- gabe zu bieten, der Büchereinfuhr feine Bücherausfuhr entgegenzufe- ken habe. Schließlich befämpfte er die Anficht, welche in dem Nach⸗ druck das unentbehrliche Mittel finden wollte, die Schriftiteller und Ber- leger von einem unbilligen und übermäßigen Gewinn zum Nachtheil der. Leſer abzuhalten, febte die aus der Fortdauer ded Nachdrucks für die deutſche Literatur hervorgehenden Nachtheile auseinander und fuchte diejelben in einem benannten Qufterempel, wie er fi) ausdrüdte, an- fhaulih zu machen.

Perthed theilte die niedergefchriebenen Bemerkungen zunächft handſchriftlich Friedrich Schlegel mit, welcher ſich als öftreichifcher

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Legationsrath bereit? in Frankfurt aufhielt, um ficher zu fein, daß diefelben in Deftreih, welches zu gewinnen die Aufgabe war, keinen Anftoß erregten. Sie werden, mein verehrter Freund, fchrieb er, vielleicht über da3 Vorhaben lächeln, dem Bundestage, der noch nicht eröffnet ift, den allerlegten Artikel der Bundedacte zur fchleunigiten Erledigung an da Herz zu legen; indeffen e8 werden ja bei Ihrem Bundedtage jo wenig wie bei andern Berfammlungen diefer Art Pau⸗ fen in den eigentlich politifchen Verhandlungen fehlen, die entftanden find, weil Irrungen und Spannungen bervortraten, und nun ihre Zeit bedürfen, um wieder zu verfchwinden. In folchen Paufen wird man vielleicht gerne nad) einem allgemeinen und doch die Leidenfchafe ten nicht herausfordernden Gegenftand fuchen, um die Zeit hinzubrin- gen, und für diefen Fall müſſen unfere Materialien bereit fein. Als Schlegel auf dad dringendfte die fofortige Belanntmachung der feinen Schrift angerathen und fich zu deren möglichfter Verbreitung unter den Staatdmännern erboten hatte, ließ Perthes diefelbe dru- den und vertheilen. | Perthes hatte indeffen nie verfannt, daß durch gefepliche Be— flimmungen über den Nachdrud zwar manches aber nicht alle ge- . wonnen fei. Sollte der deutfche Buchhandel wirklich ein geeigneted Werkzeug fein, un die Einheit der deutichen Literatur zu vermitteln, fo mußte die perfönliche Verbindung derer, die ihn betrieben, näher und lebendiger ſich geitalten ala bisher, und alled mußte verfucht werden, um die vielen Hinderniffe zu befeitigen, welche nicht nur in Deftreih, fondern aud in den meiften andern deutfchen Staaten durch politifche Einrichtungen und polizeiliche Aengſtlichkeit den literarijchen Verkehr und den lebendigen Zufammenhang desfelben faft unmöglich machten. Um die literarifchen Bedürfniffe, die vorhandenen Webel- ftände und die Mittel und Wege zu deren Befeitigung beurtheilen zu können, ward eine genaue Kenntnis der einflußreichen Staatdmänner, jo wie der Lebenszuſtände, Richtungen und Ziele in den verfchiedenen deutfchen Staaten vorausgeſetzt, und ohne eigene und perfönliche An- ſchauung an Ort und Stelle ließ fich diefelbe ſchwerlich gewinnen. Perthes durfte fich bei feiner fehr audgebreiteten Bekanntſchaft und bei dem Vertrauen, welches er nicht nur unter Berufögenojjen und

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Schriftftellern, fondern auch unter politifhen Perſonen der verfchie- denften deutfchen Staaten genoß, für befonderd geeignet halten, zu erfahren und zu betreiben, was erfahren und betrieben werden mußte. Seit dem Frühjahr 1816 befchäftigte ihn bereit der Gedanke, eine. laͤngere Reife durch Süddeutfchland zu unternehmen, um mit eigenen Augen nad) den Mitteln zu forfhen, welche die Einheit des geiftigen Lebens in dem politifch vielfach zertheilten Deutfchland erhalten und fördern könnten. Er glaubte die für feine damaligen Verhältniſſe nicht geringen Koften einer ſolchen Reife wohl aufwenden zu dürfen, weil er für feine eigene Handlung bedeutende Geſchäftsverbindungen von dem Unternehmen erwarten konnte und überdies durch eine neue wohlfeile Ausgabe von Stolberg’3 Religiondgefchichte, welche er in und für Deftreidh zu veranftalten gedachte, einen unmittelbaren kauf⸗ männifchen Gewinn fich verſprach. Bon vielen Seiten ward er drin- gend aufgefordert, fein Borhaben auszuführen, und in manchen Brie- fen bedeutender und einflußreicher Männer ſprach fih mit einer nur damals möglichen Unbefangenheit die Hoffnung aus, daf feine Reife einen fegensreichen Einfluß üben werde auf die herzliche und menfch- liche Verknüpfung ber vielfach getrennten füdlichen und nördlichen En- den Deutfchlande. Im Auguft hatte Perthes feine Vorbereitungen beendet und ſchickte ſich zur Abreife an.

Berthes’ Reife nad Frankfurt am Main 19. Juli bis 4, Auguft 1816.

Am Freitag den 19. Juli verließ Perthed in Begleitung feine? fechjehnjährigen Sohnes Matthiad, welcher die Reife mit ihm machen follte, Hamburg und gedachte über Köln, Frankfurt und München nach Wien zu gehen. Glüdlich find wir heute Morgen hier angelom- men, beißt es in feinen erften Zeilen aus Bremen. Die Naht war hell und warm, der Weg fahrbar, die Poftillond gut. Mein Wagen ift bequem und grade geräumig genug, um mich und den Jungen zu

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faſſen. Ich babe diefe Nacht den fihlafenden Knaben nicht ohne Aengftlichfeit angefehen, wie ein mirvon Dir anvertrauted Gut, wel⸗ ches ich auf der weiten Reife treu für Dich zu bewahren habe. Ich felbft fühle mich in Gebein und Geift müde; die Arbeiten und An—⸗ firengungen der beiden Jahre, welche auf die Schredengzeit gefolgt find, haben mich wirklich mürbe gemacht. Dir, meine geliebte Caro- line, weiß ich bei unferer Trennung nicht? zu fagen, als daß ih auf Gotted Wegen gehe. Du bift unter feinem Schuge und unfere Kin- der mit Dir. Ohne Aufenthalt fuhr Perthes bis Münfter, wo er fih einige Tage aufhalten wollte. Verdrießlich ift es, zu fehen, heißt es in feinen Briefen, daß die von den Franzoſen mit deutfchem Gelde und deutfhem Schweiße erbaute Chauſſee jetzt von der hannö⸗ verifchen Regierung gänzlich vernachläffigt iſt; feine Hand wird an⸗ gelegt, um die umberliegenden Steine zufammenzubringen;, an meh⸗ teren Stellen, 3.8. zwijchen Bremen und Brinfum, fann man Nachts nicht fahren, aber Wegegelder werden aller Orten eingefordert. Bis nahe vor Osnabrück ift die Gegend öde und langweilig; gegen Bohmte hin wird e8 angenehmer. Hier liegen wir und zu der taufendjährigen Eiche führen, die an der Wurzel einen Umfang von zwanzig meiner Schritte hat. Himmelhoch fteht diefer Rieſe da, aber ohne Rinde, ohne Aeſte und Zweige, nur an einer Seite läuft eine noch faftpolle Ader den Baum hinauf, an deren ganzen Länge bin jugendliche Eprößlinge im zarteflen Grün fpielen, ein rührender Anblick an die- fen entäfteten und entblätterten Greife, der wie ein alter Bartthurm augfieht, an welchem eine Epheuranke fih hinaufzieht. Gar artig ift hier die Sitte, allen Pferden Eigennamen zu geben. Pferde find edel und verftändig und verdienen dieſe Auszeichnung fo gut wie die Hunde; hat fol ein Thier feinen Namen, fo fteht es der Perſön⸗ lichleit näher. Hier find wir, beißt es in einem anderen Briefe; ich habe mein alte® Münfter wieder gefunden, andäcdhtig und leben?- luſtig. Geftern Mittag (22. Juli) famen wir an. Im Ausſteigen ſah ich Graf Zofeph Weftphalen über den Platz reiten; leider war er eben im Begriffe abzureifen; eine Biertelftunde herzlicher Mittheilung wurde und aber doch. Dann fuchte ich unfere alten Freunde auf und machte

mehrere Befuche. Der Bifchof Drofte ift verreift, wird aber morgen Derthes’ Leben. 11. 4. Aufl. 6:

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zurüd erwartet. An dem Dechanten ... fand ich den guten, herz- fihen Mann wieder, aber fein Aeußeres ſchon lieg in ſchwammiger Aufgedunfenheit übeled vermuthen. Er gab mir geftern ein Abend- effen bei einem Traiteur und hatte mehrere geiftliche Herren dazu ein« geladen. Es wurde, ich kann es nicht anders nennen, gefoffen bis Morgen? zwei Uhr. Merfwürdig war mir in der Gefellfchaft ein ehe- maliger Benedictiner, den ich vor fiebenzehn Jahren in feiner Zelle tennen gelernt hatte. Damals war er faft noch Jüngling, finnig, zart und inbrünftig fromm; jebt fein gefchnittener Weltmann, befannt mit allem , was die deutfche fehöne Literatur enthält. Anfänglich gab er ih nur mit Feinheit und Gewandtheit, aber fo wie die Flafchen leerer wurden, fam die Unfauberfeit heraus, die bis zur Gemeinheit flieg. Diefes nächtliche Bacchanal hat mich freifich fehr intereffiert, aber auch fehr betrübt. In welchen Schlamm können gutmüthige Menfchen verfinfen, wenn fie fich gehen lafjen, und bier faßen Männer vor mir, welche Funken des Göttlichen in fih aufgenommen hatten und Geift- fiche find! Mit ihnen allen haben die Drofte jeden Umgang abge- brochen. Unſeren Matthias hatte ih, um ihn nicht allein, zu Laffen, zu dem Gelage mitnehmen müſſen; ich fonnte nicht willen, daß es fo ‚arg hergeben würde. Zu meinem Troſte fchlief er ein, ald ed am tollften wurde. Heute Mittag war ich zu dem Oberpräfidenten von Vinde eingeladen und fand eine große Zahl Regierungsräthe aus Münfter und auch mehrere aus Minden vor. Die Unterhaltung war lebhaft und freimüthig und die Männer fchienen mir guter deutfcher Art, einfach, verftändig und wohlgefinnt; aber nur Binde trägt das Gepräge eines genialen Mannes, der durch fraftvolle, raſche Thätig- feit großer Gefchäfte mächtig iſt. In feinen Bewegungen und in der Art ih zu halten erinnerte ex oft an Niebuhr und an Scharfblid, . Gründlichkeit und echt deutfcher Natur ift er wohl Möfer zu verglei« hen. Obſchon man über feine durchgreifende Heftigkeit flagt, wird er dennoch in Münfter geehrt; überhaupt feheint e3, wie wenn man fi hier recht gut mit den Preußen zu verjtändigen und einzuleben wife. Heute früh, heißt es in einem Briefe vom 24. Juli an Caroline, holte mich der liebe Bifchof nach feiner Wohnung ab, die zwar ſtandesgemäß, aber in allem höchft einfach eingerichtet ift; wir

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waren zwei Stunden allein und fprachen und gegeneinander mit vol- ler Sreimüthigkeit aus. Wir verftehen und, fünnen und aud) ver- ftändigen, aber dennoch) in fehr wichtigen Punkten nicht auf eine Linie tommen. Cr ift überall ruhig, feſt, beſtimmt und liberal im beften Sinne; denn der Grund bei ihm iſt Liebe. Mit ihm ging ich zu ſei⸗ nem Bruder Clemens, wohin auch der dritte Bruder, Domherr Franz, fo wie Katerkamp und der alte wadere Bicar Conrad, der jebt Geift- licher auf dem Lande tft, gelommen waren. Den ehrwürdigen Dver- berg fah ich leider nicht, er war verreift. Die mit diefen Männern verlebten Stunden werden mir immer im Gedächtnis bleiben; es war wahrhaft ftärfend und wohlthuend, die dret Brüder zu betrachten. Clemens ift zur inneren Würde herangereift, ift voll Kraft und Feuer, einfach und fiher; Franz ift geiftreich, feharf und voll Leben. Bei alten dreien tritt redliche Gefinnung und Reinheit des Herzens hervor und das Juñnere prägt ſich in den männlichen Geftalten aus. Es bleibt doch ein Borzug der fatholifchen Kirche, daß fie auch Vornehme als Geiftliche hat, aber freilich echt vornehm müſſen fie fein. Cle— men? ift kürzlich aus Rom zurüdgefehrt und arbeitet mit Eifer für die Freiheit der Kirche, damit, wie er fagt, das Streben nad) oben, das höhere geiftige Xeben und defien freie Bewegung im Menfchen nicht auch unter Aufficht des Staated und unter Controle der Polizei foınme. Auf hohe kirchliche Stelle gebracht, möchte er zu abhängig von Rom fein, um frei wirken zu fönnen. "

Am 24. Juli Mittag fuhren wir aus Münfter fort, erzählen Perthes' Briefe weiter. Bon Hagen aus, wo wir am folgenden Mor: gen anlangten, beginnt eine in Deutfchland gewiß einzige Gegend. In dem eine halbe Stunde breiten Thale, in welche? unzählige enge Nebenthäler münden, liegen gedrängt aneinander Fabrifgebäude, Mühlen, Schmieden, von zierlihen Gärten umgeben. Die nicht ho- ben Berge find mit Getreidefeldern und auf der Höhe mit Laubholz bededt. Bier Stunden fuhren wir in foldem Reichthum bis Schwelm und blidten dann bald von der Höhe hinab in dad Wupperthal und auf eine zufammenhängende ſchmale Stadt: eigentlich find es zehn verfehiedene Orte, welche in Summa Barmen heigen. Barmen eris fttert fo wenig wie dad Hamburger Bankgeld, hat aber dennoch wie

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dieſes eine große Wirklichkeit. An den legten diefer Eollectivorte ſchließt

jich Elberfeld felbft an. Bon der Höhe herab, das Thal entlang ift der Anblick ftaunenerregend, die Gipfel der Berge waldig, ihr Ab- hang oben mit Getreidefeldern, dann mit grünen Wiefen bedeckt, bald weiß wie Schnee, bald in Purpur glänzend, bald in bunten Farben fchillernd,, je nachdem die auf ihnen audgebreiteten Zeuge und Garne wechfeln; tief unten an der Wupper ftehen die palaftähnlichen Ge- bäude mit ihren prächtigen Blumengärten, alle® in übermüthiger Ueppigkeit audgeziert und alle® aus der unglaublichen Fabrifthätigkeit hervorgegangen, die ein Grab unfere® Charakters, unferer Sitten und unferer Kraft werden wird. Vom achten, ja vom fechdten Jahre an arbeiten ſchon die Kinder, werden Krüppel und zeugen Krüppel, und die fogenannten Frommen fönnen das fo wenig ändern, wie bie Bemühungen der Regierung. Nur im Durchfahren konnten wir Tei- - der das wunderbare Thal ſehen; doch haben wir zu unferer Freude 3. Keetmann aufgefucht und gefunden; auch die Männer, die ich mir für die verfchiedenen Orte aufgezeichnet hatte, habe ich geiprochen. Mir ſcheint, als ob fich im Bergifchen weit mehr Unzufriedenheit mit Preußen äußere ald im Münfterlande. Reibungen zwifchen den Ka⸗ tholifen und Proteftanten find in der gemifchten Bevölkerung entftan- den und haben der Regierung Vorwürfe von beiden Seiten zugezogen ; manche Gewerbszweige leiden durch die Abtrennung von Franfreich und niemand will auf’ beffere Zeiten warten; der preußifche Ge- Häftdgang wird langfam und altoäterifh gefunden und das Recht auf Herftellung der Stände wird ungeflüm geltend gemacht. Doch habe ich freilich ein eigentliche® Urtheil nicht, weil wir und, um bald nach Düffeldorf zu fommen, nirgends aufhielten.

In Düffeldorf fah Perthes bei einem fehönen Sonnenuntergang zuerft den Rhein. Der Eindrud des herrlichen Strome® ift groß, ſchrieb er. Zwar geht er hier wie die Elbe bei Hamburg in der Ebene, aber er fließt nicht, fondern ftrömt, ift mächtig und drängend, und der Unterfchied zwifchen Fluß und Strom ift groß; doch wird der Rhein nie einen fo wunderbar fhönen Spiegel‘, wie ihn die Elbe zu Zeiten bildet, gewähren fönnen. Uns trennt nun, meine geliebte Caroline, die Elbe, die Wefer, die Emd, die Ruhr; bald wird auch der Rhein

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zwifchen ung fließen: aber für die Liebe und für die Treue gibt es fein Diesfeitd und enfeit®. Habe getroften Muth! Dein Rüdwärts- [hauen und Borwärtsahnen und Hoffen ift Gewährleiftung für das .Jenſeits; aber das lebendige Tefthalten der Gegenwart iſt unfere Pflicht, fo lange wir auf diefer Erde find. Der dafeiende Augenblid ift ed, der den Muth und den Entfchluß für das Leben gibt. Nüd- blide erregen Wehmuth, die dunkle Zukunft erregt Grauen, und ge- lähmt werden wir gar leiht ohne den greifbaren Punft der Gegen⸗ wart. In Düfleldorf brachte Perthes einige Tage in der Fami- lie feine Schwager® May Jacobi zu, welcher nicht lange zuvor die Stelle des Directord an dem großen Krantenhaufe in Salzburg mit der eine? Regierungsrathes in Düffeldorf vertaufeht hatte. Seit 1808 hatten fich beide nahe verbundene Männer nicht gefehen und in der Erinnerung an manchen bedeutenden Augenblid, den beide feitdem verlebt hatten, gingen rafch die Stunden vorüber. Tief gerührt blidte Perthes in Pempelfort auf die äußeren Umgebungen bin, in denen Friedrich Heinrich Sacobi vor den Stürmen des erften Revolutiondfrie- ge3 in einer nun lange, lange vergangenen Zeit den Mittelpunft einer geiftoollen Gefelligfeit gebildet und in mancher heiteren und ernten Stunde Goethe, Herder, Lavater, Hamann, Schloffer, Heinze, die Fürftin Galligin und fo viele andere gaftlih aufgenommen hatte. Das Andenken an die vergangenen Zeiten ließ für Perthed wenig Raum, ſich mit der Gegenwart Düffeldorfd befannt zu machen. Der allgemeine Eindrud, den die Bevölkerung einer Stadt dem Reifenden auch bei kurzem Aufenthalte faft unwiderftehlich aufdrängt, war hier wenig günftig. Geftalt, Geficht und Haltung der Leute hat etwas Unruhiges und Unftetes, fchrieb er; ihren Zügen fehlt die fefte Form. In Zeiten der Gefahr würde man fi) diefe Menfchen nicht zu Ge⸗ fährten ausfuchen. Flüchtig nur begrüßte Perthes die damals noch in Düſſeldorf wohnenden Gelehrten: Kohlraufh, Kortüm und Del- brüd, und traf einigemale länger mit dem Kaufmann Friedrich Hoff- mann zufammen, welcher auf feinen früheren Handeldreifen aller Or- ten den Männern von lebhaften religiöfen Intereſſe nachgefpürt und dadurch einen weit und breit zerftreuten Kreis höchſt verfchiedenartiger Bekannten gewonnen hatte. linferen alten Freund Hoffmann habe

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ich aufgefucht, heißt e3 in einem Briefe an Caroline. Das Befondere und Eigenthümliche des alten frommen und fehr Eugen Mannes liegt wohl in feiner Feindſchaft gegen jede Kirche und firchliche Geftaltung.. Er behauptet, daß die Ausgießung des heiligen Geiftes, durch welche allein das Beftehen einer Kirche möglich werde, nicht über das dritte Sahrhundert hinaus fortgewirkt habe. Alle menfchlichen Anftrengun- _ gen zur Wiederherftellung der untergegangenen fihtbaren Kirche. twä- ren vergebend; aber den Verheißungen der heiligen Schrift gemäß ftehe in näherer oder fernerer Zukunft eine neue gewaltigere Audgie- fung des heiligen Geifted zu erwarten, und fobald dieſe eingetreten fei, werde die Kirche neu erjtehen und das biäherige Leben in Staa- ten fein Ende erreichen. Ich konnte nicht umhin, ihm darauf zu erw wiedern: Die Juden hätten den Erlöfer, ald er gefommen fei, ver- kannt, weil fie einen weltlichen Herrfcher und einen glänzenden König erwartet hätten; auch wir würden und zu hüten haben, das auf in- nere Erneuerung fchon jegt hinarbeitende Balten Gottes nicht deshalb zu überfehen und gering zu achten, weil wir eine herrliche, glanzvolle, alles befiegende Erſcheinung der Kirche als nothwendige Forderung zu ftellen und berechtigt glaubten. Hoffmann und Keetmanı begleiteten und nach Benrath, einem Luſtſchloß mit weiter prachtvoller Ausficht, auf weldem Murat ald Großherzog von Berg ſich oftmald aufgehal« ten bat; dann fuhren wir allein durch ein Uebermaß von Frucht⸗ barkeit über Mülheim-und Deus nah Köln.

Bon hier, liebe Caroline, Dir zu berichten, wird ſchwer fein, heißt e8 in Perthes’ Briefen aus Köln; denn alles ift und neu, Mens fhen, Sitten und Gewohnheiten, Stadt, Häufer und Einrichtungen. - Wir haben ded Großen und Schönen und auch ded Komiſchen gar viel ſchon gefehen. Erſchrick auch nicht, wenn wir etwas katholiſch gewor⸗ den find. Im Dom ward Gottesdienit gehalten gegen den Regen, in der Nacht gingen Proceffionen mit Laternen und lauten Gebeten: Toll ten wir Reifende und da nicht anfchfießen? Gleich nach unferer Ans funft durdhgingen wir die Stadt, deren Gaſſen und Gäßchen, ſehr bezeichnend Spar⸗Gaſſen genannt, wunderlid durcheinander gewuns den find. Häufer aud den verichiedenften Jahrhunderten, Alterthü- mer aus allen Zeiträumen ftehen dicht nebeneinander; man durch

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wandelt mit einigen Schritten die alte Gefchichte von der Römer Zei⸗ ten an; auf Trümmern und Steinen von anderthalb Sahrtaufend .. wohnt der Kölner, der an Mundart, Haltung, Sitte ſich ſogleich als ein Eigenthümliches darſtellt. Nach der Gafle zu haben die meiften Häufer unten ein Gefchäftdlocal und nur ein dunkles Stübchen; oben find Waarenfpeicher und große Räume ohne Fenfter, jebt oft Wirth» ſchaft für Fledermäufe und Eulen. Geht man aber über die Haus⸗ flur nach hinten zu, fo findet man hübſch ausgebaute geräumige Zim⸗ mer, in welchen die Familie ftill Tändlih wohnt und aus denen fie gewöhnlich in große Gärten treten kann, die oft zwifchen altem mit Epheu und anderen Rankengewächfen überzogenen Gemäuer angelegt find. Eine Menge Häuslein fahen wir gleich den Neftern der Mauer⸗ ſchwalbe mitten hinein in die alte, angeblich aus Römerzeit herſtam⸗ mende Stadtmauer gebaut. Wie manches Geſchlecht mag in ihnen ſchon dahin gegangen fein, nachdem ed Freud und Leid getragen hatte! Gar artig aber wurden wir unter den Trümmern vergangener Zeit an die Gegenwart erinnert, al® uns im Borbeigehen aus einem Fen⸗ fter ein Glasfaften entgegengefchoben ward, mit Draht wie ein Pa- pageienkäfig umflochten; darinnen ſaßen drei Iuftige Kinder. Diele ſchwebenden Kinderftübchen lockt Sonnenfchein heraus, oder wenns was zu fihauen gibt. Am erften Tage noch gingen wir halb im Dun- teln in den Dom, unfer Lohnbediente Hopfte unverfchämt einem fehr alten Priefter, der Mniend eifrig betete, auf die Schulter, der Alte ftand auf, um und zu führen, der Bediente niete auf derfelben Stelle und betete weiter. Heute waren wir zum brittenmale im Dom. Wer in das Chor eintritt, der wird die Arme finken laffen; einer wunder⸗ . baren Größe ift ber Menfch gewürdigt, daß er das Werkzeug fein darf, durch welches der Geift Gottes foldhe Werke ſchafft. Schreiben läßt fi) darüber nichts; wenn einft Boifjeree'3 Werk vor und liegt, fo will ih erzählen. Die Peteröfirche hat die von den Franzoſen geraubte und nah Paris gefchleppte Kreuzigung Petri, welche Ruben? felbft der Kirche, in der er getauft ward, ſchenkte, jet zurüd erhalten und bereit3 wieder anfgeftellt; die franzöfifhe Roheit aber, welche fi nicht ſcheute, am Altar der Kirche Hand an diefed Vermächtnis zu legen, wird, fürchte ich, bald vergefien fein. Nachdem wir heute

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die Wallraf ſche Sammlung Kölnifcher Alterthümer, aus welcher ich jehr vieles gelernt haben würde, wenn ich mehr gewußt hätte, be- fihtigt hatten, waren wir zu Mittag mit Profefior Wallraf, Regie⸗ rungsrath von Harthaufen, Rittmeifter Bärfch und einem Herrn de Groot bei dem Buchhändler Du Mont Schauberg, einem fehr unter- richteten und vielfach gebildeten Mann. Schnell gingen einige Stuns den in lebhafter Unterhaltung hin; auch Katholicismus und Prote- ſtantismus famen zur Sprache. Als ich das Unfchonende des Lohn⸗ bebienten gegen den betenden Priefter im Dome und ähnliches Unge- ziemende, was fih täglich in katholifhen Kirchen bemerfen läßt, er- wähnte, wurde mir die Antwort: Dieſes Priefterd Amt fei, die Re liquien zu zeigen; bete er, fo müfle er fi) der Natur der Sache nad jederzeit gefallen laffen, aus dem Gebete ind Amt zu treten; der Ka⸗ tholiten Gewohnheit fei ed überhaupt, mit Gott häuslich umzugehen, fie tönnten ihn daher erforderlichen Falles mit Kamilienvertraulichfeit bei Seite fegen; die Proteftanten dagegen nähmen jedesmal einen Anlauf, wenn fie Gott eine Bifite machen wollten, müßten alfo mit ihm auch wie mit einem vornehmen Fremden Umftände machen. Mir fielen hierbei die betrunfenen fatholifchen Bauern ein, die, ebe fie an» fangen fich zu prügeln, das Herr-Gott3- Bild vertraulih unter den Tiſch fteden, um daß er den Scandal nicht fehe.

Am 31. Juli fuhr Perthed Mittags aus Köln, um in Gobde3- berg zu übernachten. Während des Pferdemechfeld in Bonn, fchrieb er, beſuchte ich den alten Stegmann, der fogleich bei meinem Eintritte des Todes feiner Tochter, unferer lieben Hersfeld, gedachte, bitterlich weinte, ihr Andenfen mit emem Glafe alten Rheinwein feierte und fo fih wieder zu freudigem Muthe ſtärkte. O Menfchennatur! Bon _ Bonn au empfing und der Weinbau: das helle Grün ded Weinlau- bes verbreitet über Die Gegend eine Färbung, die wir im Rorden nieht fennen; die ganze Pflanzenwelt trägt einen üppigeren Charafter als bei und; durch die Getreidefelder hin ftehen reihenweife Obft« bäume, der Kirſchbaum fteigt im Stamme tannenartig in die Höhe, der Birnbaum und der Apfelbaum breitet fih aus wie die Linde. Hier in Godesberg ift ein Feines Stahlbad. Alles ift verdrießlich über den unaufhörlichen Regen; ich will heiter bleiben, ift doc) meine

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Reife nicht auf Raturgenuß berechnet. Aber der Bauer hat nur zu große Urfache, traurig zu fein: alles misräth, Getreide, Wein, Obft; düfter fieht er der Zukunft entgegen. Glauben Sie mir, fagte ein verftän- diger Mann, der Winter von 1816 auf 1817 gibt Hungerdnoth. Am 1. Auguft ſpät Abends langte Perthed in Koblenz an und am folgenden Morgen, feinem Hochzeitstage, ſchrieb er in aller Frühe an Garoline: Gewiß ſchon bift Du wach und fiehft nach mir aus wie ih nah Dir. Wir haben der Freuden in Fülle gehabt in unferer neun« zehnjährigen Ehe, aber auch der Leiden, der Schmerzen viele. Dank an Gott für die Freuden und auch für die Leiden! Die Hand reiche ih Dir, geliebte Caroline, hinüber in die Jahre, die und noch zuge⸗ meſſen find; gebe ihnen mit Muth entgegen! Matthias erwacht, auch er reicht der Mutter die Hand. Es will nicht Tag werben; der fhwarze majeftätifche Feld des Chrenbreitenftein liegt vor mir im Oſten und die Sonne noch hinter ihm, doch wirft fie freundliche Strah⸗ len in das Thal, dag zwifchen den Höhen fich hinwindet, und auf dem braufenden Rhein .dicht unter mir liegt noch grauer Nebel. Heute Morgen ging ich, heißt e8 in einem Briefe vom Abende desfelben Ta- . ge8, zu Görres. Er ift ein langer, wohlgebildeter Dann, fräftig und derb, leßtered aber etiwa® manieriert. Das Geninle ded Geifted, dad Rache der Phantafie tritt aldbald hervor. In der Geftalt hat er etwas von Benzenberg, doch Fräftiger,; im Gefpräh, im Vortrage ähnelt er Steffend. Ich traf ihn allein; feine Frau war auf der Bleiche mit großer Wäfche. Sie kam fpäter, eine herzliche, einfache, gar liebe rau von klarem Verſtande; mit ihr famen die Kinder: ein auf blühendes fünfzehnjährige® Mädchen, fehr hübfch, ein flinfer, zutrau⸗ licher Knabe von zwölf Jahren, den ich gerne gleich mitgenommen hätte, und noch ein kleines wildes Mädchen; die ganze Familie gar liebendwürdig, das Hausweſen recht bürgerlich ordentlich, einfach und überall reinlih. Das alles fpricht für den moralifchen Sinn von Görres; nicht bei allen geiftreihen Menfchen iſts jo. Mittag? waren wir mit Görred, dem Präfidenten Meujebah und einem früheren Lützower bei dem Generalprocurator Eichhorn. Görres und der Prä-. fident von Meuſebach geleiteten und dann auf den Ehrenbreitenftein und ließen ald fundige Führer und zwifchen den Trümmern der zer⸗

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iprengten Feſtung unausſprechlich ſchöne Blide hinab in das Thal thun. Meuſebach hatte ſeine große Freude an Matthias und jagte ihn von einem Felſen zum andern; das ſei nichts weiter, meinte Gör⸗ red, als eine Titerarifche Liebhaberei an dem Enkel von Claudius, welchen Meuſebach übrigend nicht recht zu würdigen willen würde, bis ihm deflen Werke ftatt in Octavbänden in einem mächtigen Folioband oder gar auf Pergament gejchrieben vorgelegt würden; das Alter- thümliche des Formats, des Drudes und Einbandes enticheide be- fanntlih bei den Herren Antiquaren über den Werth eines Buches. Den Abend brachten wir in belebter Gefellfehaft bei Görres zu.

An politifchen Geſprächen konnte ed in Goͤrres' Nähe und. in der damaligen Zeit am Rhein nicht fehlen. Kaum fünf Bierteljahre wa- ren feit der Befibergreifung des Landes und jenem Aufrufe des Königs an deſſen Bewohner verfloſſen; alle war noch im erften Werden und Einrihten, und ſchon trat unverkennbar ein tiefer Riß zwiſchen der Bevölkerung und der Regierung hervor. Die Regierung wollte dad Land nicht als ein eroberted, fondern als ein befreite® behandeln, wollte die Deutfchland lange entfremdeten Gemüther ſchonen, ziehen und gewinnen, aber im Großen zaghaft, war fie im Kleinen oftmals kleinlich durchgreifend und verlekend. Die Bevölkerung dagegen zeigte fih nicht abgeneigt, es Preußen ala eine ihm von der neuen Provinz erwiefene Gunft anzurechnen, daß ſich diefelbe die Verſchmelzung mit dem großen und ruhmvollen Staat gefallen laffe, und betrachtete es wie eine Art Undankbarkeit, wenn die Regierung ihre Stellung zur Mheinprovinz nicht wie eine von den Bewohnern empfangene Gabe, fondern wie ihr gutes, durch eigene Kraft ermorbened Recht behandelte. Schon in Köln war Perthes jehr aufmerkſam auf die hervortretenden Gegenfäbe geweſen und theilte feine Bemerkungen dem Präfidenten, Grafen zu Solms⸗Laubach, mit. Ich fand in ihm, fehrieb er, ei- nen eimfachen, biederen, offenen Mann, welcher mancher Klage über Hemmungen ded Guten Luft machte. Doch böten fih in Köln, fagte er mir, der Regierung viele Mittel dar, um Liebe zu gewinnen; An⸗ - ftalten für Willenfhaft und Kunft würden bier gedeihen; die Kölner hätten Sinn für die große Gefchichte ihrer Stadt und deren Dent- mäler und erfennten e8 mit Danf, wenn die Regierung auf biefel-

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ben aufmerffam würde. Noch fei großer innerer Reichthum in der Stadt und viel Gewerbthätigkeit. In Koblenz aber blickte Perthes tiefer in das ſchon leidenfchaftliche Getriebe. Görres, defien rheini- cher Mercur bereit? im Anfange ded Jahres unterdrüdt worden mar, ſprach von der Denkichrift, die er einige Wochen zuvor dem Könige und dem Fürften: Hardenberg eingereicht hatte. Die Regierung habe die Berheigungen gebrochen, fagte er, welche fie bei der Befigergreifung gegeben. Bon allen höheren Regierungsämtern würden die „Einge- borenen”, namentlich die des linken Uferd ausgeſchloſſen; unter den neunzehn Mitgliedern und Beifigern der Regierung in Koblenz befänden fich nur zwei Katholiken und Rheinländer. In Köln und Aachen fei dad Verhältnis ähnlich. Die weitfchweifigen, lähmenden, geifttödtenden Formen der Preußen würden dem frifchen Bolfe des Rhein? aufge- zwaͤngt; das Gericht durch Gefchworene und bie öffentliche Rechtsver⸗ handlung wolle man befeitigen und Stände führe man nicht ein. Uns» ter ſolchen Umftänden fei ed fein Wunder, wenn dad Volk den gegen- wärtigen Zuftand mit dem unter franzöfifcher Herrfehaft zu: vergleichen beginne und eine trübe, dDumpfe Stimmung und allgemeine Unzufrie- denheit die Gemüther ergriffen habe. Der heutige Mittag war jehr lebhaft und intereffant, heißt es in Bertbes’ folgendem Briefe aus Ko⸗ blenz; Meuſebach und ein eiferner Kreuzritter, welche die Preußenpar⸗ tei gegen den Rhein-Görres bildeten, nannten alle aus der Revolution bervorgegangenen liberalen Ideen und Inftitute Napoleonismus, und ber fei es eigentlich, den die Rheinländer liebten und den fie nicht fah- ren laffen wollten. Lithauer feid Ihr, rief ihnen dagegen Gorres zu, Lithauer, denen die Keibeigenfchaft noch an der Ferſe klebt. Diele wechfelfeitige gute Meinung haben Rheinländer und Preußen nicht blog dann, wie mir feheint, wenn fie miteinander zu Tifche fipen. Echte deutfche Kleinhändler find doch diefe Nheinländer, und zwar in demfelben Sinne, in welchem man die Krähminfler Kleinftädter nennt. An Sprache, Sitte und Art find fie wunderbarer Weife ungeachtet der zwangigjährigen franzöfifchen Herrfchaft durchaus deutfch geblieben, aber Deutfhland kennen fie über Frankfurt hinaus nicht; für wich» tig halten fie nur ihre Verhältniffe, für fehön nur ihr Land, für libe- ral nur ihre Anfichten ; jenfeitd® Frankfurt fängt ihnen die Barbarei

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an, von welcher fie nur gelegentlich einmal mit mitleidigem Herab⸗ fehen Kenntnid nehmen. Die Kölner find mir am Tiebften; in ihnen ift neben dem Kleinländifchen etwas Großſtädtiſches geblieben aus der alten Zeit, in welcher auch Städte Fürften waren; fie haben und fie allein haben eine Gefchichte und deshalb Reſpect vor fi und können ihn haben. Koblenz und Düffeldorf ſich durch Liebe anzueignen wird den Preußen ſchwer werden; es liegt in dem Volke etwas fo Zerſtreu⸗ - te3, über alles leichthin Räſonnierendes, was auch in der Religion fih ausſpricht. Nach Münfter und Weftfalen hin: paßt der Katholi- cismus; dort ift er wie zu Haufe, wie dort gewachſen; am Rhein ift ex wie ein von außen zufällig Gebrachted, mie ein Auf- oder Angefeh- te8 und daher fehnörkelhaft. Mitten in dieſes Wefen hinein fangen nun unfere proteftantifchen Bibelgefellfehaften an zu arbeiten, um den Katholiten Bibeln „beizubringen“, und zwar oft durch Mittel, die wir, wenn Katholiken fie aniwendeten, jefuitifche Profelgtenmacherei nennen würden. Unendlich viel wird für die Zukunft deö ganzen Landes und für feine Stellung zu Preußen von der Perfönlichfeit der Biſchöfe ab- hängen, die nun eingefept werden follen. Dan fpricht von Kaspar Drofte und von Sailer. Wie vieled an Arbeit, Einfluß und Förde- rung werden fie dem Gouvernement abnehmen fönnen, wenn fie wol- In! Bon Görres habe ich heute Abend Abfchied genommen. Das Mebergewicht feined Geifted wird jeder, der ihn reden hört, bald ge: wahr werden, aber auch viel Unfichered in feinen Anfichten. Nach feinen Schriften und Briefen hatte ich zwar Geiftesfprünge, gewagte Behauptungen, zudende Blitze der Phantafie und des Witzes erwar- tet, aber nicht das fich felbit oft widerfprechende , recht eigentlich revo⸗ Iutionäre Räfonnieren. Görred weiß gewiß nicht, was er will. In ihm ift etwas Poſitives, aber feine Zeit und fein Land und jeine Stadt haben ihm eine leidenfchaftliche, nicht würdige Oppofition ein⸗ gepflanzt. Bon unferem Vaterlande kennt auch er über Frankfurt und Heidelberg hinaus nichts.

Um in Naffau den Freiherrn von Stein zu fprechen, wählte Per- thes den Weg nach Yrankfurt nicht über Bingen und Mainz, fondern über Emd und Wiedbaden. Bon Emd aus fommend erblidt man, heißt e8 in Perthes ferneren Briefen, auf einem vorfpringenden Berge

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die Ruine ded Stammfchloffed der Naffauer, unter ihr, aber auch noch hoch auf einem Felſen die Trümmer der Burg Stein; unten im Thal windet ſich die Lahn durch reizende Wiefengründe; eng im Grunde liegt das alte Städtchen Naſſau und nahe daran Stein’d jetziges Schloß. Ich lieg mich bei ihm melden und er empfing mid) fehr freundlih, wie einen alten Belannten von unferem „Zufammentref- fen im December 1813 ber, und commandierte zum Sitzen. Sie wollen nah Wien, was wolleh Sie dort, was wollen Ste bei mir? Sicher fommt der, welcher nicht beftimmt weiß, was er.bei Stein will, baldigft wieder zum Zimmer hinaus. Ich legte ihm in weni⸗ gen Worten meine Abfichten dar; mit Geift und Herz ging er ſo⸗ gleih auf das ganze Berhältnid ein. Dann fragte er mich nad) dern Zuftande unferer Städte und ob in den Hamburger Eenat fri- fche® neue? Blut gefommen fei; die Perüden, die er fonft von dort gefehen babe, ‚hätten ihm kein Vergnügen gemacht. Meine Bemer- Tungen über die Rheinprovinzen billigte er, aber er hege die befte Hoffnung, daß fich diefelben dennoch mit der Zeit in den preußifchen Staat verwachſen würden. Allerdingd wären dur Unentſchloſſen⸗ heit und Beränderlichfeit große Midgriffe von den preußifchen oberften Behörden gemacht, aber auf das Gute hinwirkend fei die Regierung, und die oberen Beamten in der Provinz wären ohne Ausnahme ver- ftändige, brave, deutfche Männer und der Mehrheit nah aud kraft⸗ voll und thätig. So vieles fei noch nicht geordnet und fo viele Stellen für eingeborene Rheinländer feien noch vorhanden, daß die Klagen über Zurüdfekung wenigſtens fehr voreilig feien. In Koblenz würde am allermeiften geflagt und gelärmt, und dod) fei die ganze Stadt nur Bagage, die ohne Beamte und Garnifon verhungern müßte. Görres fei ein Genie, ein gelehrter und rechtfchaffener Mann, aber er habe fich nicht rathen laffen, und der Staatskanzler habe feine Möglichkeit gehabt, ihn zu halten. Uebrigens würden in und außer Preußen noch Dummbeiten und Schlehtigkeiten genug begangen wer- den, aber ed wäre in der Welt nie anderd geweſen und werde auch nie ander? fein. Doch auch in Frankfurt werden Sie fehen, fügte er binzu, daß fich auch Gutes vorbereitet in Deutfchland, und das ift ein Slüd für Europa; denn die bißherigen Erhalter der Freiheit, die

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Engländer, werden es ſchwerlich Tange noch fein. Stein bat mich zu Mittag zu bleiben und begleitete mich, als ich e8 ablehnen mußte, auf den Hof, um mir einen im Bau begriffenen fteinernen Thurm zu zeigen. Als ich ihm fagte: Dad wird wohl ein Zwing - Uri, aber nicht gegen das Volk, fondern für das Volk, lachte er herzlich, fehüt- telte mir die Hand und ich verließ freudig den Dann, der nach fo gro Ben Erfahrungen noch fo friſch für alle Eindrüde it und hohen Muth für die Zukunft befigt, obſchon ihm fo vieled, was er erftrebte, ſchei⸗ terte und er jo oft vor Fürftenwillen oder vor der Mehrheit im Ra⸗ the der Staatömänner zurüdtreten mußte mit dem Guten, was er durchfegen wollte. Geftern fuhren wir noch bis Wiesbaden und find heute Morgen, den A. Auguft, bier in Frankfurt angelommen.

Perthes' Anfenthalt in Frankfurt, Heidelberg und Stuttgart. 4. Auguſt bis 20. Auguſt 1816.

In Frankfurt fand Perthed Briefe vor, die ihm die Nachricht einer plöglichen und heftigen Erkrankung Carolinens brachten. Schon war er zur fehleunigen Rüdkeife entſchloſſen, als Caroline felbit ihm mittheilte, daß die Gefahr worüber fei. Wie foll ih Dir danfen, fhrieb fie, für Deine Briefe und für den lebendigen Genuß, den ich durch fie habe? Wenn Du mich noch nicht ganz hätteft, fo wollte ich mich jegt Dir ganz geben und fihenfen. Du glaubft nicht, wie er füllt von Dank ih bin. Heute habe ich fhon wieder Nachricht von Dir und bin noch fo voll Luft und Freude über Deine Briefe aus Köln und Koblenz. Sie find mir lebendige Bilder Deines inneren Leben? und Weben? für den Augenblid und mir unaudfprechlich Tieb. Bon manden Sachen fann ich wirklih gar nicht glauben, daß Du fie nur erzählft und ich fie nicht felbft gefehen habe. Ruben?’ Bild des Petrus wankt und weicht Tag und Nacht nicht von mir, und doch iſt ed zu gräßlich ſchön, um es immer vor Augen haben zu Fönnen. Auch gegen Gott bin ich dankbar, dag er ed Dir jo wohl werben läßt, nahdem "Du Jahre hindurch Dich müde gearbeitet haft.

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Beruhigt und erfreut durch diefe Briefe, konnte Perthes fih un« geirrt den mannigfadhen Eindrüden Frankfurts hingeben. Bei meiner Ankunft fand ich, fchrieb er, nicht Einen meiner perfönlichen Belann- ten und mußte mir felbjt meine Wege bahnen. Zuerſt fuchte ih Friedrih Schlegel auf, den ich ungeachtet unſeres langjährigen Brief wechfeld nie gefehen hatte: ein fetter, runder Mann mit feurigen Augen, die dennoch kalt aus ihm heraudfchauen ; derb in der Manier, welches man für eine Art Gradheit halten fann, wenn man will. Er nahm mich fehr freundlih auf und dennoch fühlte ich mich nicht gedrungen, ihm da8 Herz zu erſchließen. Mit Buchholz, Du erin« nerft Dich dieſes geiftreichen, Tiebendwürdigen Sonderling® au dem Jahre 1813, brachte ich den Abend bei. Schlegel zu. Frau von Schlegel machte auf mich einen fehr guten Emdrud. Schwere Lehr⸗ jahre mag fie überftanden haben; jest aber hat fie, wie mir vor- fommt, mit Geift und Kraft überwunden und erfcheint als eine ein» fache und verftändige Hausfrau. Canonicus Helfrih, der befannte Drator ded Pabfted auf dem Wiener Congreß, war in der Gefellichaft, ein lebhafter, geiftreicher, offefiherziger Dann, der mir Vertrauen abgewann. Bald wendete ſich das Gefpräch den gegenwärtig vorlic- genden großen Fragen zu und ich lernte an diefem Abend ſchon die fa- tholifhe Auffaffung derfelben fennen , die mir in den folgenden Ta- gen noch deutlicher wurde, als ich wiederholt mit diefen Männern und mit den beiden Brüdern Chriftian und Friedrich Schloſſer, die mich mit alter Herzlichfeit aufnahmen, zufammen gewefen war. Schlegel, welcher wohl eine bedeutende perfönliche Wirkſamkeit in ben Bundes» verhältniifen zu erhalten denkt, äußerte, daß der erfte Act am Bun- dedtage ein Act der Gerechtigkeit für die katholiſche Geiftlichfeit des linfen Rheinufers fein müffe, welche unter der franzöfifchen Herr⸗ [haft in Armuth faft verfhmachtet fei. Helfrich bemerkte hierzu, daß auch von Seiten Roms an Hilfe für Die darbenden Geiftlichen gedacht werde. In jeder Diöcefe nemlich folle nach dem Willen des Pabftes eine Bibliothet namentlich) firchenhiftorifcher Werke und Predigten al⸗ ler Gonfeffionen angelegt werden, weil nach Zerflreuung der Klofter- bibliothefen die armen Bfarrer ohne ein ſolches Hilfsmittel jede Mög- lichkeit kirchlich⸗ wiffenfchaftlicher Ausbildung entbehren würden. Um

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fo dringender fei jebt, meinten die anderen, eine foldhe äußere und innere Kräftigung des Clerus nothwendig, als unter den fatholifchen Prieſtern felbft Neuerer verfchiedener Art hervorgetreten wären. Einers ſeits wolle Sailer und feine Anhänger zugleich. mit von Meyer, Schu⸗ bert und anderen verfuchen, für die Gemeinfchaft der Heiligen aller Confeffionen eine fihtbare Geftalt herzuftellen; anderſeits arbeite von Konftanz aus der Generalvicar Weſſenberg eifrig an der Bereini- gung aller deutfchen Bifchöfe unter einem deutfchen Patriarchen. Würde in Deutſchland dieſes Patriarchat hergeftellt, fo könne eine Losreißung von Rom, alfo ein Ausfcheiden Deutſchlands aud dem feften Zufammenhange mit der katholiſchen Kirche und eine Herrſchaft der Zandesherren über die Bifchöfe nicht außbleiben. Um die Kirche frei von den Fürften zu erhalten, müßten die Bisthümer Rom unmit⸗ telbar untergeordnet bleiben und ohne Rüdficht auf die Grenzen der Staaten angeordnet werden, jo daß ein Territorium zu drei, - vier verichiedenen Bisthümern gehören und ein Bisthum in drei, vier verfchiedenen Territorien liegen könne. Nicht Landesbiſchöfe dürften die Bifchöfe fein und nicht von einem Staatdgehalt, fondern von eige- nem, wenn auch geringem, Vermögen leben. Arm foll die Kirche fein, äußerte Helfrich, die Kirche hat ein Recht auf Armuth, und dies ſes ihr gutes Recht ift auch von den deutſchen Prälaten nicht geachtet, welche, reich geworden, Die freiheit der Kirche gebrochen haben. Co weit ift e8 gefommen, daß die öffentlichen Stimmen der proteftanti« hen Geiftlichen fich jept richtiger und ficherer über die kirchlichen Ber- bältniffe auöfprechen, ala die katholiſchen; er habe, fügte Helfrich hinzu, die Acten gefammelt und nach Rom gefendet. Nun wohl be» komms! Auf meine. Frage, wie einer folchen unabhängigen Ein- heit der katholiſchen Kirche gegenüber die Stellung der Proteftanten in Deutſchland zu denken fei, merkte ich wohl, daß die Herftelung eined corpus evangelicorum fchon vielfach verhandelt iſt. Die fatho- liſchen Politiker feheinen gegen ein ſolches politifche® corpus an fich fein Bedenken zu haben; aber fie wollen, daß es wie zur Reichszeit unter Sachſens Vorſitz beftehe, und da fie willen, daß das jekt unmög⸗ ih ift und daß Preußen an die Spike treten werde, fo find fie aus diefem Grunde gegen die Herftellung. Weberhaupt fcheinen fie das

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Recht der Proteftanten ganz ähnlich wie da® der Juden anzufehen; auch den letzteren will Schlegel alle Rechte im Staate mit Ausnahme der ftändifchen eingeräumt wiſſen. Ihr Proteftanten fteht außerhalb der Kirche wie die Juden, fagte er mir, und habt daher gar fein Recht, gegen fie zu reden. Wie verfchieden ift doch troß aller äußeren -Ein- heit der Katholicismus, den ich in Münftet, in Koblenz und nun in Frankfurt gefehen habe! Hier in diefem geiftreichen Sreife tritt die Furcht vor dem Einfluffe des Proteſtantismus am meiften hervor.

Perthes war in großes Erftaunen über die Urtheile gefept, die er in diefen Kreifen über Sailer gehört hatte, und wendete ſich, um nähere Ausfunft zu erhalten, an den Grafen Friedrich Leopold: Stol- berg. Ich weiß wohl, antwortete diefer, daß und warum Gai«- fer bei einigen ſtrengen Katholiten im Verdacht ſteht. Zum Theil macht der Verdacht ihm Ehre, zum Theil hat er fich ihn felbft durch eine gewifle angenommene Manier zugezogen, dieſe aber legt er ſchon feit einigen Jahren mehr und mehr ab. Er hat fid um Er- haltung lebendiger Religiofität in Baiern wie früher in Schwaben in hohem Grade verdient gemacht; angefochten von Zeloten und verfolgt von Illuminaten, iſt er, fichtbar von Gott gefegnet, den graben Weg fortgegangen.

Eben fo fehr beinahe wie in den tatholiſchen Kreiſen Frankfurts ſah ſich Perthes unter den Männern, die als die eifrigſten Proteſtan⸗ | ten angefehen wurden, zum Widerfpruche gereizt. Ich nenne vor al- len, fchrieb er, den Senator Johann Friedrich von Meyer, denfelben, der unter dem Zeichen imo die Recenfionen über Jacobi, Goethe und Claudius in den Heidelberger Jahrbüchern gefchrieben hat, an denen wir fo große Freude hatten. Mit achtungsvoller Erwartung trat ih ihm entgegen, fühlte mic) aber entfchieden abgeftoßen und war nad) wenigen Minuten ſchon in heftigem Streite mit ihm. Cr macht fo- gleih den Eindruck eines bedeutenden, geiftvollen Mannes, aber eben fo bald reizt er im Gefpräche durch die Anwendung Fleinlicher Fecht⸗ fünfte, zu deren Unterftügung er ſtets eine Menge Bibelftellen bei der Hand hat. Er ift gewiß ein wirklich frommer Menfc und voll wah- rer Demuth gegen Gott, aber was er fpricht, fpricht er im Namen Gottes und mit Stolz gegen Menſchen. Rom ift ihm der Antichrift,

Deribed! Eben 1. 4. Aufl. 7

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Stolberg ein Abgefallener, der nicht weiß, was die Gnade Gotte? ift, aber auch jede andere chriftfiche Kirche ift ein nur Aeußerliches und nur gut im Vergleiche mit Rom. Innerhalb dieſes Verderbniffes alfer Kirchen haben die Erwedten nur danach zu trachten, fich felbit und die Ihrigen zu bewahren und untereinander in Verbindung zu blei- ben, bis der Herr erjcheint und feine Kirche fichtbar herſtellt. Den Bauer Adam Müller, deſſen politifche Prophezeiungen wir vor einie gen Monaten lafen, hält Meyer für einen Seher, der ſich aber in der Auslegung feiner Gefichte und über die Zeit ihres Eintretend irren könne. Meyer jelbft fieht im Geifte, wie er fagt, einer großen Re- volution der Menfchheit, noch bevor die jegige Generation vergangen ift, entgegen; am Euphrat werde ihr Ausgang entichieden werden. Meyer ift aud einer reichen Frankfurter. Familie, ift Jurift und hat einen fehr wunderlichen Lebendgang hinter fih. Allgemein wird er als durchaus rechtſchaffener Mann, als tüchtiger Gelehrter und fehr thätiger und erfahrener Beamter geichäpt. Mit Meyer brachte ich einen Mittag bei dem Hauptmitgliede der hiefigen Bibelgefellichaft zu; ich mag fein Urtheil äugem; mir find diefe peinlihen Pedanten der Frömmigkeit fo wenig angenehm, daß ed mir ſchwer wird, ge⸗ recht gegen fie zu fein. Wie kann man, antwortete Caroline auf biefe Mittheilungen, den Bauer Adam Müller für einen Erwählten Gottes halten und zugleich auch wieder Irrthümer in deflen Of⸗ fenbarungen annehmen, wenn diefelben nicht recht paſſen wollen? Warum follte Gott, wenn er wollte, nicht auch jest noch durch Men- ſcheimund und Dinge zu unferem Heile fund werben laſſen ‚können? Aber fo ein dunkler Miſchmaſch von Offenbarungen und Irrthümern läpt fi) unmöglich annehmen. Auch ift die Bibel viel zu groß und viel zu heilig, um ein Rechenbuch zu fein für äußere Begebenheiten, die bier auf diefer Erde mit und vorgehen. Doch muß man freilich Euer Geſpräch felbft mit angehört haben, um richtig urtheilen zu fönnen.

- Nicht minder mannigfaltig als die kirchlichen waren die politi⸗ ſchen Eindrücke, welche Perthes während ſeines Aufenthalts in Frank⸗ furt empfing. Frankfurt war ſeit dem Herbſte 1815 der Sammelplatz vieler und verſchiedenartiger politiſcher Perſonen geweſen. Nach dem

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Frieden hatte der ganze Zug der aus Parid nad Oeſtreich, Preußen und Rußland heimfehrenden Generale, Diplomaten und Prinzen fei- nen Weg über Frankfurt genommen. Seit Ausgang ded Jahres 1815 war die aud den Gefandten der europäilchen Großmächte zur Aus- gleichung der noch ftreitigen Gebietäverhältniffe gebildete Territorial- commiſſion zufammengetreten und hielt für Deftreich den Freiherrn von Weilenberg, für Preußen Wilhelm von Humboldt in Rranffurt feſt. Eine Menge Menfchen, Männer und. Frauen, die eigene oder fremde Angelegenheiten politiſcher Natur zu betreiben hatten, wählten Frankfurt zu ihrem Anfenthalt, wo fie ficher waren, einflußreiche Männer aller deutſchen Staaten zu treffen. Der Bundestag zwar, für welchen Frankfurt der Sip werden follte, war nicht, wie urfprüng- lich beftimmt, am 1. September 1815 zufammengetreten ; ein Schreiben Metternich‘ 8 hatte vielmehr im December die Eröffnung desfelben auf unbeftimmte Zeit hinausgeſchoben: aber die Bevollmächtigten für den Bundestag, welche von den meiften deutfchen Regierungen bereits Ende 1815 nah Frankfurt gefendet waren, behielten dort ungeachtet jened Schreibens ihren Wohnfig und warteten die weitere Entwidelung der Dinge ab. Ald nun Monat auf Monat verlief und dennoch fein Zeitpunkt für die Eröffnung ded Bundestages beſtimmt ward, ließen fih die Zweifel darüber nicht länger unterdrüden, ob es den beiden deutfchen Großmächten auch wirklich Ernft mit der Bundesverfaſfung ſei. Der Bundestag fommt noch nicht zu Stande, hatte am 28. Juni ein fehr unterrihteter Mann an Perthed nad) Hamburg geſchrieben; die großen deutfchen Mächte wolten ihn im Grunde nicht und unfere vater» ländifchen Sachen liegen fo.eingerichtet, daß fie ihn nicht wollen können. Ob man ihn aus Berlegenheit dennoch anfangen wird, Das it.die Frage; aber bald gefchieht es gewiß nicht: niemand weiß feine Rolle Dazu, auch Graf Buol hat noch feinen Schatten von Inftruetion. Zudem können Die ſchwebenden Territorialfragen noch ein Jahr und länger ſchweben; eẽ braucht nur irgend ein Bevollmädhtigter, wie feit Monaten der ruſſiſche thut, nähere Weifungen feined Hofes abwarten zu wollen, um alles fill zu ftellen. Auf Deftreich zwar glaubten die meiften rechnen zu fünnen hatte der Wiener Hof doch ſchon kurz nach dem ziveiten Pariſer

Frieden den Freiherrn von Albini und: nach deſſen Tode den Grafen von 7*

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Buol- Schauenftein als Bevollmächtigten für den Bundestag nad Frankfurt gefendet. Preußen? Haltung dagegen fehien nicht grade auf den beften Willen für Durchführung der Bundesacte zu deuten. Zwar befand fi Wilhelm von Humboldt ald Mitglied der Zerritorialcom- miffion und Herr von Dtterftädt ald Gefchäftdträger bei der Stadt Frankfurt an Ort und Stelle; aber für den Bundestag war bis zur Mitte ded Sommers 1816 Fein Bepollmächtigter ernannt, und als Anfang Juli Herr von Hänlein in diefer Eigenſchaft erſchien, verbreie tete fich zugleich da8 Gerücht, daß derfelbe binnen kurzem wieder zu⸗ rüdgernfen werden würde. Manche, die Preupen mit Argmohn zu betrachten lange ſchon gewohnt waren, glaubten nun, daß dasfelbe fi) mit Deftreich über die fünftige Stellung im Bunde nicht verftän- gen fönne und befondere Ziele verfolge, ihnen ſchien die Zukunft Deutfchlands jetzt ungewiffer ala je. In diefes Fürchten und Meinen hinein traf den meiften unerwartet in der zweiten Hälfte des Juli die als amtlich angefehene Erklärung der Frankfurter Zeitungen, welche die feierliche Eröffnung des Bundestages ald nahe bevorftehend verfün- beten. Lebhafte Bewegung bemädhtigte ſich Togleich der zunächft Be- theiligten,; von allen Seiten eilten die Bevollmächtigten aus den be- nachbarten Bädern und von Fleinen Reifen zurüd. Die erften Tage ded Auguſt waren für Frankfurt Tage der größten Spannung, und grade in diefen Tagen traf Perthes ein und brachte eine vielfach be= wegte Woche in Frankfurt zu. | Die einheimifche Bevölkerung machte in der aufgeregten Zeit feinen günfligen Eindrud. Frankfurt ift, ſchrieb Perthes, in feiner Gefamtheit wie unfer Senat. Sie wollen unthätig den Ausgang der Dinge abwarten, um nur ihr Jh ohne Opfer zu retten. Diefe Selbft- ſucht führt zur Kleinlichfeit und gräbt fih in unferen Tagen felbft ihr Grab. E83 war indeflen nicht die Franffurter Bürgerfchaft, welche damals in Frankfurt die Aufmerffamleit erregte; die ftädtifchen Ver⸗ hältniffe traten vielmehr den deutfchen Fragen gegenüber gänzlih in den Hintergrund, welche jebt zur Verhandlung gebracht werden foll- ten. Aus dem Öfteren Zufammenfein mit den Hannoveranern von Martend und von Strahlenheim, den Medlenburgern von Derzen "und von Plefien, dem oldenburgifchen Gefandten von Berg, dem fädh-

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ſiſchen Regationdrath Gebhard, dem luxemburgiſchen Bevollmächtig⸗ ten Freiherrn von Gagern, welche ihm zum größten Theil ſchon aus früherer Zeit näher befannt waren, erhielt Perthed, fo wie aus den Mittheilungen feines Freundes Smidt ein lebendiged Bild der zahl. lofen fich Durchfreuzgenden Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtun- gen jener Tage; aber es wurde ihm auch gewiß, daß die Bevollmäd- tigten der kleineren Staaten fih in völliger Unkenntnis über die ges genwärtige Lage der Dinge befanden. Selbſt damald noch mußten fie nicht, ob der Bundestag in Tagen oder in Monaten eröffnet wer⸗ den würde. Wilhelm von Humboldt, den Perthes fchon aus frühe- rer Zeit perfönlich fannte, nahm ihn fehr freundlich auf und ging mit ‚großem Ernte und Eifer auf feine Abfichten für den Buchhandel ein. Nach einem Mittage, den Perthed in deilen Familie mit den Lega- tionsſecretären Graf Flemming und von Bülow zugebracht hatte, fhrieb er: Es ift doch ein gewaltig Ding um einen Mann von wah- rer, großer, menfchlicher Bedeutung; nirgends fühlt man fich fo frei, nirgends fo angenehm; durch allen Wis, durch alle geiftreichen Ein« fälle hindurch, in denen Humboldt nicht weniger als feine Frau fpricht, tritt dennod immer wirkliche und wahre menfchliche Größe hervor und mein alter, oft verlachter Glaube, daß diefer Mann hinter der eifigen Kälte und den beifenden Sarkasmen ein tiefe, warmed® Ge müth, einen ernſten guten Willen und ein lebendiged Gefühl für

Deutfchland trägt, ift mir befeftigt worden. Weber Preußens fünf tige Stellung im Bunde äußerte er ſich nicht und es ift mir nicht ganz unwahrfcheinlich, daß auch ihm die nächften Schritte, die Preußen thun wird, unbelannt find. Ütterftedt fpricht zwar viel, weiß aber wenig. Die meiften find der, Meinung, daß nur dad Ausbleiben des preugifchen Gejandten die Eröffnung ded Bundestages fo lange ver- zögert habe. Nun ift zwar Herr von Hänlein eingetroffen, foll aber, wie es heißt, durch Graf Golg oder Humboldt noch vor der Eröff- nung erfeßt werden. So wenig die anmwelenden Preußen über die An⸗ fihten und Abſichten ihrer Regierung reden, fo viel und fo abfichtlich, wie e3 fcheint, fprechen die Deftreicher. Die öftreichifche Gefandtfchaft tritt im Aeußeren großartig und würdevoll auf; an der Spige Graf Buol» Schauenftein; unter ihm vier Legationsräthe von Rang und

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mehrere Zugeordnete; außerdem befindet ſich noch Herr von Weflen- berg ald Mitglied der Territorialcommiffion bier. Merkwürdig waren mir ſchon Schlegel’d Aeuperungen über Görres, deſſen Zerfall mit der preußifchen Regierung er fehr gut kennt; er rühmte ihn laut in größerer Geſellſchaft wegen feiner Anfichten über Kaifer und Reich: unter alten Stimmführern ded Tages fei er der einzige, bei welchem Wahrheit und Freiheit zu finden ſei. Graf Buol⸗Schauenſtein, zu welchem Smidt mich führte, ging fogleih auf die deutichen Berhält- niffe ein. Lange fei ed in Wien ſchmerzlich empfunden, fagte er, daß man von der deutfchen Nation übel angefehen fei, und man fönne ſich nicht fogleih in die jebt günftig veränderte Stimmung finden. Oeſtreichs Abficht gehe auf ein geſamtes Deutfchland; aber in dem- felben follte jeder Stamm, jeder Staat und jede Provinz feine Stimme laut werden laffen fünnen; deshalb habe Oeſtreich die öftreichifchen Stände wieder belebt, fie in Tirol wieder hergeftellt und. auch das feine Salzburg mit feiner andern Provinz vereinigt. Aus dieſer Viel- heit in Deftreich und in den anderen deutfhen Staaten müffe aber die Einheit für die Deutfchen gebildet werden; deshalb dürften die Trup- pen der deutfchen Staaten nicht, wie Preußen wolle, den Truppen Deftreih® und Preußen? angefchlofien, fondern müßten, mit diefen vereint, zu einem felbftändigen "deutfchen Heere aufgeftellt werden. Der Bundestag werde, fobald er zufammengetreten fei, die Einheit nad allen Seiten hin ſchon ausmitteln, und wenn Preußen, fagte Graf Buol, jenen Geſandten nicht bald ernennt, fo eröffne ich den Bundedtag auch ohne Preußen. Es fei ein großer Srrthum, zu glau- _ ben, dag Oeſtreichs eigentliche Macht und eigentliched Interefle außer- halb Deutfchland liege. Oeſtreich habe, zehn Millionen Seelen , alfo mehr ald Preußen, im Bunde; die Böhmen hätten ſich originell und gediegen zu einem deutichen Volksſtamm audgebildet; zwei Mil- lionen Deutſche und eine durchaus deutfche Bildung befäße Ungarn und man \verde doch nicht eiferfüchtig fein wollen auf Norditalien, deilen Befig zur Sicherung Deutſchlands durchaus nothwendig gewor⸗ den fei. Wie hoch Deftreich das Deutfche achte, habe es wiederholt gezeigt. Das Interefle der Monarchie fordere die Verlegung der Refi« denz nad) Ofen; ftatt defien aber habe man das deutfche Wien noch

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durch Die Gründung der Nationalbant aufs neue gefräftigt; mit pro- ‚teftantifchen Prinzeffinnen hätten ſich die Erzherzoge vermählt, ohne fie zur fatholifchen Kirche hinüber zu ziehen. So viel ift gewiß, bemerfte Perthes, daß fich die Deflreiher mit Abficht in dieſer Weife ausfprechen und daß fie in Frankfurt ihren Worten eine andere Yär- bung geben, al? in Wien. Aber ſchon das ift gut, dag man wünfcht, eine folhe Meinung von fi in Deutfchland zu erweden, und die Per⸗

fönlihkeit jo manches Bundestagdgefandten macht e8 gewiß, daß ‘Dinge zur Sprache fommen werden, die, einmal ausgeſprochen, nicht wies der untergehen können und Deutichland immer neuen Odem einhau- chen müflen.

Al Perthes eine Woche in Frankfurt zugebracht hatte, entſchloß er: fih zur Abreife. Ich bin, fhrieb er, de3 Sprechen? und Hörens, des vielen Eſſens und Trinfend und des Ueberfchuffed an Geift und Wis herzlih müde, und obſchon ich noch manchen bedeutenden Mann gerne fehen möchte, will ich fort. Nach Wien habe ich Briefe aller Art hier erhalten. Schlegel, den ich heute frühftüdend bei Smidt traf, fragte mi), nachdem er Smidt fämtliche aus Bremen. erhaltene neue Heringe aufgefpeift hatte, aufs Gewiſſen, ob ich Maurer oder Mitglied einer anderen geheimen Gefellihaft fei, und empfahl mic, al® ich Die Frage verneinen konnte, dem Director der Polizei in Wien, Hofrath von Ohms. Nun geht es zu den Vierfürften im Süden, nad Darmftadt, Baden, Würtemberg und Baiern.

ALS Perthed Montag den 12. Auguft Mittags Frankfurt ver- laſſen hatte, fchaute er am Sadfenhäufer Thurm noch einmal zu- rück auf die weite, von dem filberglänzenden Fluffe durchzogene Ebene, die fich mit ihren zahllofen Orten und Städten in üppiger Fruchtbar⸗ feit vor dem Taunus binftredt. Bon hier aus wird man erft ge⸗ wahr, fhrieb er, wie pracdhtooll die Lage Frankfurts if. Wunder- lich durchkreuzten fih bei dem Blid auf die ausgebreitet daliegende Stadt Erinnerungen an ihre alte große Hiftorie und an dad Durch einandes der Beitrebungen, die ſich jebt für Deutichland und Europa wirbeld dort umdrehen und reiben. Unmittelbar hinter dem Sachfen- häufer Thurm beginnt das Darmftädter Gebiet, welches rechtes Flick⸗ und Stückwerk ift: bier die Hauptftadt mit dem alten landgräflichen

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Beſitzthum, dort das abgefonderte Gießen, und jenſeits des Rheines das kurfürſtliche Mainz mit Theilen des erzbiſchöflichen Territoriums. Die kleine Reſidenz ſcheint auf gewaltige Größe angelegt zu ſein: die Thore ſtehen eine halbe Stunde vor der Stadt. Da es indeſſen mit der Größe der Stadt noch nicht recht gelingen zu wollen ſcheint, ſo wird vor der Hand wenigſtens viel regiert und exerciert und man⸗ ches für die Wiſſenſchaft und Literatur gethan. Ich ging zu dem Buch⸗ händler Leske und fragte, ob er nicht wiſſe, wo ehedem Claudius gewohnt habe. Hier in diefem Zimmer, antivortete er. Mein Haus war die Druderei für die Zeitung, die damals zum Beften der Inva- liden unter Claudius' Leitung begonnen ward. Spät Abends ſah ich noch einmal dad Haus; der Mond fchien heil auf die Claudiuswoh- nung und ich gedachte der Fleinen Caroline, bie hier vor vielen Jah⸗ ren fpielte. Auf der Bergſtraße zwifchen Darmftadt und Heidelberg begegneten und lange Züge Auswanderer, die aus diefer paradiefi- fshen Gegend in Die öden Steppen Rußlands von einer ihnen eigen- thümlichen Unruhe getrieben werden. Wunderlicher Weile wandern Dagegen große Scharen aus dem Breidgau in der Erntezeit zur Arbeit hierher; eine Menge folcher Schnitter und Schnitterinnen trafen wir am Wege und hörten Hebel's Sprache fprechen, die Mädchen, leicht geſchürzt an Röden und an Sitten und fehr hübſch, lebten und ſchä⸗ ferten höchſt natürlih. mit den Burſchen wie im alten Teftamente. Heidelberger Studenten, wenn fie in dieſes Kanaan kommen, mögen einen harten Stand haben.

In Heidelberg brachte Perthes drei an verfchiedenartigen Ein- drüden wiederum fehr reiche Tage zu. Sein erfter Gang war zu dem ihm von Kiel her befreundeten Profeflor Thibaut. Unter feiner Lei« tung fah er dad Echloß und den Königaftuhl und erfreute fein Auge an den reizenden formen der Berge und ihrem üppigen Grün. Die Trauerweide beſonders in ihrer unbefchreiblihen Wehmuth und Zärte lichkeit feßte ihn durch die in Norddeutfchland unbekannte Mächtigleit des Wuchfes in Erftaunen und das allbefannte Faß ergößte ihn ale eine wackere echtdeutfche Narrheit. Mit Daub und Creuzer, die er früher perfönlich nicht gefannt hatte, brachte er einen belebten Abend bei dem Buchhändler Mohr zu und begegnete zu feiner großen Freude

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dem Prediger Zimmer, der vor Sahren in Perthes' Handlung gear- beitet, dann in Heidelberg ein eigene? Gefchäft gegründet und mitten im Gefchäftsleben unter den ungünftigften Umftänden die alten Spra- hen gelernt, Theologie fludiert und das Eramen beftanden hatte. Nun bekleidete er dad Pfarramt in Wormd. Bei meinem lieben alten Zimmer fönnte man flol; werden auf die Menſchenkraft, äußerte Per⸗ thes; man fieht, was fie fann, wenn fie nur will.

Damals hielten ſich noch die Brüder Boifferee und Bertram in Heidelberg auf. Sie hatten in der Zeit, in welcher Deutfchland unter Rapoleonifcher Herrſchaft für immer verloren fehien, die Hoffnung auf eine befiere Zukunft bewahrt und alle ihre Kräfte daran gefept, um der Nation die Werke ihrer großen Meifter vergangener Jahrhunderte zu bewahren, als fie nach Plünderung der Kirchen und Klöfter zer- freut und verfchleudert zu werden drohten. Dürer ımd Holbein, Hemmling und van Eyd follten zugleich mit unferer- Literatur den nationalen Sinn der Deutfchen erhalten, kräftigen und bilden helfen. Nun nad errungener Freiheit harrte die von den Brüdern gleihfam ad depositum genommene Sammlung einer föniglihen Hand, dur welche fie in entjprechender Aufftellung vielen zugänglih gemacht werde. Perthes war’ gleich am erften Tage feines Aufenthaltes zu den beiden Brüdern gegangen. Sulpice Boifjeree kenne ich, ſchrieb er an feinen funftverfländigen Freund Spedter, ſchon feit feinen Jüng⸗ lingsjahren, die er in Hamburg bei Reimarus zubrachte; feit jener Zeit Habe ich ihn öfter gefehen und jedesmal ift er mir lieber gewor- den; beide Brüder find nicht nur geiftvolle und kenntnisreiche, ſon⸗ dern auch edle und liebenswürdige Männer. Die Sammlung ift jest aus Mangel an einem geeigneten Raum faft unzugänglich; ein Bild lehnt über das andere und ich kann für die Freundlichkeit nicht danf- bar genug fein, mit welcher die Eigenthümer ſich der Anftrengung, fie mir zu zeigen, unterzogen haben. Euch Kennern gegenüber behaupte ih hartnädig mein Recht ald Beſchauer; Meifter, Schule, Zeichnung, Pinfelftrih, Colorit legt fih Euch gar oft ald dicker Nebel über den Geift und die Schönheit des Bildes, und der wirklich dDichterifche Ma⸗ ler wird, mit Deiner Erlaubnis fei e8 gefagt, lieber für und malen als für Euch. Jene flach und ohne Perfpective auf Goldgrund ger

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malten Bilder menigften® werden fi vor Eurem „kaum gemalt” fcheu zurückziehen, aber bingegeben aus dem Herzen, wie fie find, werden fie in ihrer Kindlichkeit, Bildlichfeit und Andacht und Laien gerne zur Freude werden wollen. “Damit foll übrigend nicht gefagt fein, daß wir die wunderbare Größe nicht fpürten, welche in den Werfen der großen Meifter lebt. Mir wird Hemmling's heiliger Ehriftoph nie wieder aus dem Sinne fommen und ich kann mir fehr wohl eine Vorſtel⸗ lung von der Art des Eindrud® machen, der Goethe bei dem Anblice des Bildes zu dem Ausrufe drängte: Wäre ich nicht ein fo alter Heide, das Bild würde mich befehren. Boiſſerée's gefchichtliche Belehrungen und treffende allgemeine Bemerkungen waren fehr unterrichtend und find mir oft auch tief ind Herz gegangen. ie mit Thibaut und Boifferee war PBerthed mit Voß ſchon aus früheren Verhältniffen näher und perfönlich befannt. Am Tage nad feiner Ankunft in Heidelberg ging er zu ihm, gefpannt auf die Hal- ‚tung des Manne3 in den neuen Umgebungen und unter den neuen Verhaͤltniſſen. Voß fieht gefund aus, heißt es in feinen Briefen, das Morfche in ihm ift in das Zähe übergegangen. ‚Erneftine aber ift müde geworden; es feheint mir nicht, al® ob fie noch viele Fahre zu leben habe. Beide nahmen mich freundfih und freundſchaftlich auf und laſſen Dich herzlich grüßen. Der Alte führte mich in feinen Gar- ten und war bei den Blumen hoͤchſt Tiebenswürdig. Ich mußte zu Mittag bleiben. Anfangs ſprach er mit patriarchalifcher Luifenhaftig- feit von Gottes ſchöner Natur, von Blumen und Gewächlen, von al- ten Zeiten und einfachen Menfchen; plöglich aber fuhr, ala Fouqué's Name genannt ward., ein Geift des Haſſes, der mich erſchreckte, in ben alten Mann: auch diefen Fouqué, rief er aus, hat die Buben- totte von Pfaffen und Adelsknechten verführt und wird ihn fatholifeh machen, wie fie Stolberg katholiſch gemacht hat. Dann ſchalt er hef⸗ tig auf die Kartoffel- und Grügnatur der Medlenburger und Holftei- ner, dann fprang er über auf Claudius und fagte, daß er vorhabe, von dem Wandsbecker Boten eine Ausgabe zu veranftalten, in wel- her er alle Pfaffenmärcden tilgen wolle, die der finftere Geiſt des Aberglaubens dem Wandsbecker eingeraunt habe. ch ſchwieg lange; auf die legte Aeußerung aber entgegnete ich, ich Dagegen fei im Be-

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griffe, eine neue Ausgabe von Stolberg’3 Religiondgefchichte in vie len taufend Eremplaren zu machen, und freute mich. darüber nicht als lein als Verleger, fondern auch weil ich glaubte, daß Stolberg’8Werf einen großen und guten Einfluß im ganzen Fatholifhen Deutichland üben werde. Des Alten Antwort war, daß er von Stolberg nicht? feit deffen Abfall gelefen habe. Ich fuchte abzubrechen; denn über dad Katholifche und die fatholifche Kirche mag ich nur mit dem in ein Ge⸗ fpräch mich einlaffen, der fih in Demuth dem Glauben an Chriſtus zugerwendet hat. Mit ihm fann man von feftem Standpunkte aus die auf das innere des Chriſtenthums gebauten Formen deöfelben in ihrer Berfchiedenheit betrachten, aber mit dem, der in einem felbft- verfertigten Religiondfyftem fid herumdreht, gibt es nur ein müßiges oder heftiges Hin= und Herreden. Nach Tifche ging Voß mit mir alfein in den Garten; fehnell nacheinander befpradh er eine Reihe von Männern und nannte fie einen nach dem andern Schleicher, heim- tücifche Betrüger, Schurken. Ich ftand auf und floh. Dem verdien- ten und dem, alten Mann wollte ich nicht nach Gebühr antworten und ſchweigen durfte ich nicht. Glaube mir, in dieſem Haufe waltet troß aller Familienhaftigfeit und Blumenfreude ein Haß, der mich tief ergriffen und erfchüttert hat.

Richt allein aus Voß’ Haufe, fondern auch aus andern mit die fem nahe verbundenen Kreifen nahm Perthe3 den Eindrud einer dort waltenden feindfeligen Bitterfeit mit fort, - der ihn, da fie vor allem auf dem politifchen Gebiete hervortrat, beftürzt und beforgt für die Zukunft machte. Mir fällt e8 Bier, fchrieb er, wie Schuppen von den Augen; das hatte ich nicht erwartet und gewußt. Grade bier, wo der pofitifche Haß zu einer Zeit, in welcher er vollkommen berech⸗ tigt gewefen wäre, nur von wenigen gekannt ward, bricht er jetzt nad Befreiung von Napoleon's Herrfchaft in ungezähmter Wuth ge- gen die eigene Regierung hervor. Run erft werden mir manche bejorgte Aeußerungen, die ich in Frankfurt hörte und überhörte, ver- ftändlih. Die badifche Regierung hat gewiß den beften Willen für das Wohl des Landes und will auch, obfchon es ihr fehr ſchwer wer- den foll, der Luft entfagen, freiwillig und willfürlih dad Gute, was fie thut, zu thun. Es liegt, wie Thibaut verfichert, ein völlig aud-

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gearbeiteter Verfaſſungsentwurf bei der Regierung, den fie nur noch zurüdhält, um die Verhandlungen am Bundedtage und die nädhiten Schritte Würtembergs abzuwarten. Aber um noch ganz andere Dinge handelt es fich hier, wie mir fcheint. Thibaut, Der nad) feiner Ueber: zeugung feft an allem Monarchifchen, an dem Adel und dem Unter- ſchied der Stände überhaupt hält, wird fo fehr angefeindet und ift fo beunruhigt über den Zuftand des Landes, daß er davon ſprach, ſich zurüdzuziehen und nur der Mufif zu leben. Auf der entgegenge- festen Seite ftand damald Martin und übte als Meifter vom Stuhl einen großen Einfluß aud. Durch die Maurerei waren Männer der _ verfchiedenften Lebensftellungen und Bildungsftufen nun auch zum po- litiſchen Widerftreben miteinander in eine früher unbelannte Berbin- dung gebracht. Gemeinfhaftlid mit Martin hatten Heidelberger Handwerker und Gewerbtreibende, hatte ein Apotheker, ein Strumpf- wirfer und ein Handſchuhmacher die Minifter um SHerftellung von Ständen mit den ausgedehnteften Rechten gedrängt. Martin's Stel« lung war hierdurch in Baden fo unhaltbar geworden, daß er einem Rufe nad) Jena zu folgen ſich entf&hloffen hatte. Martin .iftein Mann, ſchrieb Perthed, der ed weiß, worauf e8 bei dem Handeln im Leben ankommt, und fich ſcharf und beftimmt ausdrückt; wäre er nicht doch zu fehr Gelehrter, fo könnte ex gefährlich werden. Er hat mir wohl gefallen, aber andere Männer diefer Partei find mir widerlich gewor- den. Schwarz fehend und felbftfüchtig haffen fie alle Fürften und Mi⸗ nifter und. da® Bolf, von dem fie viel fprechen, fennen fie nicht. Geiftvoll und ſcharfſinnig können fie wohl reden, aber nur in allge- meinen, unbeflimmten Ausdrüden; die meiften von ihnen find Ge- genſtuͤcke zu den Räfonneurs, wie fie der Hennings'ſche Geniud der . Zeit vor zehn und zwanzig Jahren lieferte, wenn man fie fragt, was fie eigentlih wollen, und fi dur vornehme und witzige Redens⸗ arten nicht abmweifen läßt, fo fommt man auf das Hohle und Schlechte. Der Buchhändler Winter ift ein -Fluger Mann, Haudfreund bei Voß und Paulus und in fehr viele VBerhältniffe eingeweiht. Aus Heil- bronn gebürtig, fteht er mit Würternberg in engem Zuſammenhange und vermittelt den Zufammenhang zwifchen der dortigen und hiefigen Oppofition. Paulus hatte ich der Briefe wegen, die ich ihm früher

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- fehreiben mußte, nicht befuchen wollen, ging aber, da er e8 wünfchte, zu ihm. ch fand ein altes Männlein von trodnem und verzagtem Ausfehen, im Gefpräche aber von vielem Feuer in den großen ſchwar⸗ zen Augen. Was ich ihm aus Frankfurt erzählte, gefiel ihm nicht; er möchte alle recht fehlecht haben, um recht räfonnieren zu fünnen. Sch peinigte ihn mit ragen, um feine innerfte Weisheit zu Tage zu bringen. In zwei große Theile müffe Deutfchland zerfallen, fagte er, in Süddeutfchland und in Norddeutfehland; die Meinen Staaten feien nur Spielbälle Fleiner Tyrannen und würden nie etwas taugen, und Phantafterei fei ed, von einem ganzen Deutfhland zu fprechen. Auf meine Frage, wie folch eine Theilung gemacht werden folle, wo die Grenze zwifhen Süd und Nord fei, antwortete er ohne Verlegenheit und zerfchnitt alles mit dem großen Vorlegemefler; als ich ihm aber fagte, daß man, wenn man folch eine Anficht habe, fie auch frei aud- fprechen und nicht in öffentlichen Blättern mit halben Redensarten zu deutſcher Volfdthümlichkeit anregen und das Volt zu dem Glauben an eine ganze Nationalität bringen dürfe, ward er fehr verdrießlich. Mer Fürften und Minifter fo ſchwarz macht, wie. diefe Männer bier, der muß doch auch fagen, was er will, und wer dad nicht kann, der ſoll ſich befcheiden und befcheiden fein. Auch im Politifchen fann nur Liebe und Vertrauen helfen; auch hier ift der Haß als Stimmung der Seele vom Satan. In einer Stunde fahren wir nach Stuttgart wei⸗ ter. Ich hätte wohl noch einige Tage bleiben follen, denn ſchwerlich ift an einem anderen Orte diefen Menfchen fo in ihre Karten zu fehen; mir aber ift mitten in diefer Schönheit und reichen Fülle der Natur beflommen und berbe zu Muthe. Nur wenige erfennen im Weltleben und noch wenigere im Wortleben das Geheimnis der Liebe und ihrer einigenden und rettenden Kraft, obſchon Gotted unerfchöpfliche Güte und immer wieder auf fie zurüdweift. Verſchlemmt wird-der Sim, verftodt wird der Geift; aus der Sinnlichkeit retten ſich manche, aus dem Hochmuthe wenige. In diefem Paradiefe hier hat mid) Betrüb- nid und Wehmuth ergriffen. Heute Nacht werden wir in beilbronn bleiben.

Von Stuttgart aus, wo Perthes ſich vom 18. bis zum 20. Au⸗ guft aufhielt, gab er weiteren Bericht von feiner Neife. In Heilbronn

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brachte ich, fehrieb er, die Nacht in wilden Kieberphantafien zu. Durch koͤrperliche Anftrengungen, durch Reden und Hören war Leib und Geift fehr angefpannt und die Erfahrungen in Heidelberg hatten mich tief ergriffen; aber der herrliche, frifche Morgen des folgenden Tages hat die Gefpenfter der Nacht verjagt und frifh an Geift fuhren wir durch das Nedarthal, in welchem dad Land fo angebaut ift, daß der Handwerksburſche fein Pläplein findet, auf den er ungeftraft fich la« gern kann. Parcellieren und Auswandern hörte ich innmer vor meinen Ohren. In Stuttgart langten wir Mittags an. Cotta fuhr uns in . der fehönen Umgebung umher und den Abend brachte ich bei diefem merfwürdigen Manne zu, in deſſen Charakter die ſeltſamſten Wider- fprüche fi vereinigen. Geftern, Sonntag Morgen, ging ih zum Mebdicinalrath Jäger verreift, dann zum ruffifchen Gejandten von Struve in der Kirche, dann zu von Wangenheim nicht zu Haufe, dann zur Wachtparade die war zu Haufe. Mittags war ich bei Gotta mit einigen wenigen aber interejlanten Männern, unter ihnen Wangenheim, den ich ſchon vor vielen Jahren als wilden ungen in Gotha gefannt. Die vornehme, befternte Geftalt fteht in feltfamem Widerfpruche mit der rüdfichtlofen Art feines Auftretens. Geiftreih durch und durch, wird er im Neden von liegender Phan- tafie ergriffen und führt den Hörer mit fi fort über Berg und Thal binauf in die Wolfen oder hinab in die dunfelften Tiefen der ‘Men- fjennatur. Weber die öffentlichen Berhältniffe hätte ih an Wangen- heim's Stelle nicht alles fo öffentlich ausgeſprochen, wie er ed that. Geftern Nachmittag und heute habe ich noch eine Reihe anderer Män- ner aufgefuht. Das ift ein wunderlicher und gefährlicher Zuſtand, in welchem ſich grade jetzt das Land. befindet. Ein Herrfchergeichlecht hat Würtemberg, heidnifch groß, 658 und gewaltig, recht ein Gefchlecht, wie die Menfchen e8 zu alten Zeiten begehrt haben, um zufrieden zu fein, wenn fie ſich ed auch nicht geftehen. Bon Liebe zu dem Könige fann nicht Die Rede fein, aber mit fihtbarem Stolze fagte mir ein Stuttgarter: Unfere Fürften find immer böfe Kerls gemwefen und hät- ten wohl verdient, auf größeren Thronen zu fipen. Die Würtember- ger freuen fih an der Größe der Schlöffer, an den herrlichen Gärten, an dem fchönen Schaufpielhaufe, an den mufterhaften Landſtraßen;

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fie find. ftolz darauf, daß ihr König Hunde und Pferde hat, wie fein anderer Fürft, daß er der befte Schäße ift weit und breit und daß er alles durchführt, was er anfängt, mag er auch noch fo vielen Wi« derftand bei den Untertbanen finden. Das wildefte Thier in der gro- Ben königlichen Menagerie weiß jeder Stuttgarter anzugeben ohne Hehl. Sprechfreiheit ift fo ungemeſſen, daß ich nicht die Hälfte von dem fchreiben kann, was ich dicht neben dem Schloffe mir habe laut erzählen laſſen. Ordnung berrfcht überall und die Minifter follen Eh⸗ renmänner fein und find fo geitellt, daß fie frei bleiben vom Volks⸗ haß, deſſen Laft der König bei harten und tyrannifchen Maßregeln mit Luft allein auf fih nimmt. Diefem bedeutenden Fürſten ftehen nun mit eben. fo hartnädiger Kraft Die Stände gegenüber, : welche, ohne rechts und links zu fehen, an dem Landeswort halten wie an Gottes⸗ wort, und.zwifchen beiden treibt dag Weltweſen mit feiner Selbit- ſucht, feinen verkehrten Meinungen und eigennüßigen Abfichten ein arged Spiel.

Der König hatte bekanntlich ſchon 1805 die ftändifche Berfaffung ganz aufgehoben, die neu erworbenen Länder mit Altwürternberg zu einem Staat vereinigt und unumfchräntt über denfelben regiert. Im Jahre 1815 aber gab er, um fpäter nicht den Aerger zu haben, Stände nad einem Beſchluſſe ded Bundestages einrichten zu müſſen, plöglich eine Berfaffung für ganz Würtemberg. Die demgemäß beru- fene ftändifche Repräfentation verwarf diefelbe aber einftimmig und behauptete, dap die alte ftändifche Berfaffung nit nur für. Altwür⸗ temberg, fondern auch für die neu hinzugelommenen Landestheile zu Recht befiehe. Der König vertagte die hartnädige ftändifche Reprä— fentation und legte ihr, als er fie einige Monate fpäter wieder zufam- menberufen hatte, vierzehn Berfafjungsartifel vor, die für ganz Wür⸗ temberg gelten follten; wenn die ftändifche Repräfentatton über die- felben nicht verhamdeln wollte, fo werde der König für Altwürtem- berg die alten Stände wieder beritellen, den neuerworbenen Ländern aber die vierzehn Artikel als Verfaſſung geben. , Die ftändifche Reprä- fentation, welche eine folche Zertheilung Würtembergs nicht wollte, erflärte, über die vierzehn Artikel verhandeln zu wollen. Eine aus königlichen Beamten und ftändilchen. Abgeordneten gebildete Com⸗

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miffion follte auf Grund der vierzehn Artikel die Verfaffung entwer- fen, aber die Beamten und die Abgeordneten fonnten ſich nicht ver- ftändigen, geriethen feit Oftern 1816 in heftigen Streit miteinander und jede der beiden Parteien arbeitete ohne Rückſicht auf die andere an einem Berfaffungsentwurf. -

In dem gegenwärtigen heftigen Streit ſchrieb Perthes, fpielt Wangenheim die Hauptrolle auf der königlichen, Cotta auf der ftän- difchen Seite; beide find gute Freunde, beide benugen einander, jeder den andern zu feinen Zwecken; welcher den andern am meiften, ift fehmer zu entſcheiden. Wangenheim ift unbefcholtenen Rufes, geift- reich, vielwilfend und fehr thätig, aber nicht Herr feiner Phantafie; für ſich ſucht er nichts als Ehre bei deutfcher Nation, Würtembergs Wohl möchte ihm nur in zweiter Linie ftehen. Er hat eine Berfaf« fung audgearbeitet, die nad) feiner Anfiht alled enthält, was ein freier Menſch und ein freied Volk verlangen fann. Sie foll ein Vor⸗ bild für alle deutfche Staaten werden und ihrem Urheber Namen und Ehre bei dem deutfchen Bolfe für alle Zeiten geben. Wangenheim bat durch Geift und Rafchheit von dem Könige das Berfprechen er- langt, diefe Verfaffung anzunehmen, fall? die Stände gewilfe Zuges ftändnifje machen, namentlid) auf das nach der alten Verfaſſung ih- nen zuftehende Recht bei der Verwaltung der Landescaſſe Verzicht lei⸗ ften und diefelbe einem königlichen Beamten unterordnen wollten. Cotta hatte nun an Wangenheim, wie e8 fcheint, "die Zufage gege- ben, diefe Zugefländniffe von Seiten der Stände auswirken zu wol- len und zu fönnen. Da er aber nun nicht vermochte, feine Zufage zu erfüllen, fo ift Wangenheim in Ungnade bei dem Könige und Gotta bei den Ständen gefallen. Lebterer wird im Publicum grade- zu ded Verraths und der niedrigften Beweggründe befchuldigt. Bei den Vertrauen. welches Cotta feit Jahren mir erwieſen hat, hielt ich es für meine Pfliht, ihn auf die böfen Gerüchte aufmerkſam zu ma⸗ hen; er ftellte mir hierauf das Sachverhaͤltnis dar, zeigte mir die betreffenden Actenftüde und fteht vor meinen Augen als ein volllom- men redlicher Dann in diefem ganzen Berhältnid da. Was aber wird unter folhen Umftänden aus Würtemberg und feiner Berfaflung were den? Die Menfchen mifchen die Karten und fpielen bier wie überall;

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aber die Dinge gehen ihren Weg. eine andere größere Hand leitet ihren Gang.

Perthes Reiſe von Stuttgart nach Wien und ſeine Rüdlehr nach Hamburg. 30. Auguft bis 8. October 1816.

Am 20. Auguft verließ Perthes Stuttgart und fuhr über Eßlin⸗ gen, Geidlingen und Ulm nah Augsburg. Ungeachtet der rafchen Reife hatte er reichen Stoff zu Bemerkungen über Land und Leute in diefer dem Norddeutfchen fremdartigen Gegend gefunden, und wollte nun in Augsburg wiederum einen Halt von einigen Tagen machen, angezogen von dem Leben diefer alten funftgefinnten Reicheftadt. Am 21. Mittags fuhren wir in den prächtigen Gafthof zu den drei Moh— ten ein, fchrieb Perthes an Caroline. Noch am Nachmittage befuchte ich mehrere Buch⸗ und Landfartenhandlungen und habe geftern und ‚heute mid recht müde gelaufen und gehört. Augsburg ift eine fhöne und große Stadt, macht aber nicht den Eindrud ded Alten, man fieht fein einziges öffentliche® Gebäude, welches aus der Zeit unferer großen Baufımft herſtammt, und nur wenige alterthümliche Häufer; der bi® in die neueften Zeiten fortdauernde Wohlftand hat den Bürgern erlaubt, ihre Wohnungen ftet? nach dem herrfchenden Ge⸗ fhmad des Jahrhunderts zu erneuern. Im Innern der Häufer da- gegen, in ber Familien Art und Sitte, im Geſchäftsgetriebe tritt das, alte kunſtſinnige und kunftreiche Augsburg hervor. Es lebt hier, wenn ih mich nicht fehr täuſche, ein Fraftvolles und entfchloffened Volt, das fo leicht nicht zu beugen und brechen ift; dazu haben fich die Originale zum Theil der tollften Art in großer Auswahl erhalten. Noch jebt werden große Gefchäfte in Geld, Waaren und Spedition gemacht, mancherlei Fabriken find in Thätigfeit, Silberarbeiten und Künfte leten aller Art gehören auch jebt noch zu den Liebhabereien der Bür- ger; dennoch läßt ſich bald bemerken, daß Augsburg im Sinten ift: ein an Fleiß, Erfindung und Betriebſamkeit ſo gewaltiges Weſen

Perthes Leben. II. 4. Aufl. 8

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fann nun einmal nicht ohne bürgerliche, ohne freiftädtifche Freiheit beftehen. Die guten Augsburger haben den Glauben, der Kronprinz werde ald König Augsburg und Nürnberg wieder zu freien Städten erflären. -— Die Geftaltung des literarifchen Verkehrs am hiefigen Orte, heipt ed in einem anderen Briefe, ift gar wunderlich und es bat Mühe und Arbeit gefoftet, einen Ueberblid zu gewinnen. Dar- über werde ich dag Nähere an Beſſer fohreiben.

Die Fahrt von Augsburg nah München bot in Beziehung auf die Natur wenig Anziehendes dar; der Sonntag aber hatte zu Perthes' Freude auf den Straßen, in den Dörfern und Schenken da® Land- volf in Bewegung gebracht, in höchit eigenthümlicher, aber unförm- licher Volkstracht, veih behangen mit jilbernen Schnüren , Knöpfen und Münzen. Auf den erſten Anblid ſchon unterfcheiden fie ſich fehr, bemerkte Perthed, von den Schwaben; bier find derbe, luftige Men⸗

hen, fleifchig und fräftig, dort ift etwas Trübfinniged und Gedrück te8, die Geftalten oft gelb und hager, und formlos. Am 25. Aus guft gegen Abend langte Perthed in München an. Wir gingen fo- gleich zu Jacobi, ſchrieb er einige. Tage fpäter, wie Kinder nahm er uns auf und wie ein Kind umfing ich den lieben alten Dann. Im Aeußeren bat er wenig gealtert, er ift fo gefund, wie ein Mann von diefen Jahren erwarten fann, befonders ein fo zart organifierter und reizbarer. Im Gefpräcde unter Zweien und Dreien zeigt ſich noch der⸗ felbe reiche Geift, die Klarheit und Gewandtheit, für die größere Ge- ſellſchaft aber ift er abgeftorben; er hört etwas ſchwer, verfteht lang⸗ fam und fann einer rafchen Unterhaltung nicht folgen. An Liebe und aHerzlichleit ift er wo möglich noch reger und inniger als früher. Die Zurüdfegung und die Befchränktheit feiner Lage trägt er mit der Faſ⸗ fung eine? Weifen. Nur als er der Penfion erwähnte, die er vom Kö- nige bei feiner jegigen Lage für feine Schweitern erbitten müfle, brach ihm die Stimme und Thränen traten ihm ind Auge. An den öffentli« hen Begebenheiten nimmt er noch lebhaften Antheil und folgt den Dingen mit feharfem Auge. Biel ließ er ſich von mir über den Tod fei- ner Freunde in Hamburg erzählen und fcheint fich gern und ernft mit der legten Angelegenheit des Menfchen zu befchäftigen, ohne jedoch we» fentlih ander? zum Chriftentbume zu ſtehen als vor zehn Jahren.

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Unter den vielen Menfchen, die ich in München aufſuchte oder auf einem Sprechthee der Akademiker traf, find mir die eindrüdlichiten Sömmering, Roth und der geheime Rath Neumeyer gewefen, ein der- ber, tüchtiger, vornehmer Baier von Verſtand und Phantafie, mit dem fi gewiß fehr gut arbeiten läßt. Sachen habe ich wenig in München gefehen, weil meine Zeit Jacobi gehörte, doch hat die Ge- mäldegallerie mich feftgehalten. Lange fand ich mich hier beängftigt, bi® ih) in der Mafje des Gewaltigen und Schönen mich für einzel« nes zu beftimmen vermochte, die Gegenfäte find übergroß. Mit un- geheurer Kraft hat Ruben? die Nachtfeite der Dienfchennatur durch drungen und in unübertrefflicher Abfcheulichfeit bildlich wiedergegeben. Gein trunfener Silen hat Teufel und Schwein entjeplich zum Men- ſchen in fich vereint; das Weib im Sturze der Verdammten, das noch dampfend vor Luft und Gier ſchon die Angft der Hölle im Gefichte trägt, ift nicht minder grauenhaft ald die Hauptfigur auf diefem Bil⸗ de, ein feifter Schlemmer, noch Schmedluft im Geſicht und doch auch ſchon große Furt vor fünftigem Hunger neben einiger Beruhigung durch die Gemwißheit, eine gute Weile vom eignen Fette zehren zu koͤn⸗ nen. In Ruben?’ Darftellungen menfchliher Niedrigkeit ift volle Wahrheit und volle Wahrheit ift in Guido Reni's und Raphael's bimmlifcher Hoheit und reiner Liebe. Hier wie dort ift der Menſch. Man weiß und fühlt die entgegengefegten Endpunlte, die man in ſich trägt, auch wohl zu andern Zeiten und an andern Orten, aber bier fieht man fie in Bildern, befieht fie fih und geht weiter!! Selt- fam war dad Wiedererbliden der Bilder aus der früheren Düffeldor- fer Gallerie, die ich einft auf ihrer Flucht in einer Scheune zu Glüd- ſtadt, jedes einzeln aus der Kifte nehmend, mit Zifchbein ſah. Matthias foll heute, antwortete Caroline auf diefen Brief, noch ei- nen ganz befondern Dank für feine Befchreibung der Natur haben, die mir fehr wohlgethan hat, nachdem Du mit Rubens’ gräßlichem Bilde mich wirklich fürchterlich zu Muthe gemacht Hatteft. Ich halte es für ſündlich und für Unrecht, ein fo großed, von Gott gegebene? Talent, wie Rubens es hatte, in fo verruchten und ungeheuren Gegenftänden zu misbrauchen. ch preife jeden glüdlich, der feine Seele durch die Welt getragen hat, ohne die Ungeheure gefannt, gefehen, gedacht g *

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und empfunden zu haben. Wie darf ein Dann dazu beitragen, dieſe Sachen, welche die Echande und dad Brandmal der Menfchheit find, durch Bilder in die Empfindungen befferer und reinerer Seelen, die fo glücklich find, fie nicht zu fenmen, übergehen zu laffen! Kurz, ich haſſe diefe Bilder, mag die Kunft auch noch fo groß fein: Es ift eine ſchwarze Kunſt. Matthias follte ſolche Bilder nicht malen, wenn er es auch könnte. Ich lobe mir Gottes Arbeit: die Natur; fie kommt von Ihm und führt zu Ihm, und glüdjelig, wer fie fhauen kann, wie Ihr fie geihaut habt. Lieber Matthias, fülle Deine Seele mit ihren Bildern und laß fie in Dir lebendig bleiben, bid Du auch auf anderem Wege ihrem Schöpfer näher kommſt, und bringe mir mit, was Du faſſen und mir geben kannſt; id) hungere darnadı.

Völlig dunkel blieb für Perthes bei feiner Anmefenheit in Mün- hen die Stellung Baiernd ald Staat. Wie Baiern fid) politifch ge- ftalten werde, ſchrieb er, Darüber hat, wie es jheint, niemand hier eine Meinung. Das Gefühl für gemeinfchaftlich Deutfches, für den Zufammenhang unferer Nation liegt den Baiern ganz ferne und fremd; aber gewiß ließe fich ein deutfher Sinn in ihnen erwecken und dann würden fie einen unferer bravften, kräftigſten und .treuften Stämme bilden. Die inneren Berhältniffe find noch völlig im linge- willen. Der König wird ald ein herzendguter Bürgerdmann allge- mein geliebt, aber von’ Berfaffung und von Ständen will er nichts wiflen: wer davon fpräche, hat er geäußert, griffe ihm an die Krone. Montgelad foll ein fehr gebildeter und kenntnisreicher Mann fein. Er weiß mit der liberalften Freimüthigfeit vortrefflih über Freiheit und über das Recht der Völker zu reden; er foll Europa, die Höfe und die Menichen in feltnem Grade kennen: .aber alled und alle nur von der ſchwachen und von der fchlechten Seite, ohne die Gotteskraft zu ahnen, die auch in der Menfchenbruft walten fann und woaltet. Eben deshalb hat er ſich aber auch in unferer Zeit verrechnet und ſteht jept am Ende feiner Wirkſamkeit. Dad Fürſtenhaus ift ihm Dank für große Dienfte ſchuldig, aber dad Land ift Durd) ihn in mehr

als einer Beziehung ind Berderben geführt. Ohne für fih, wie man | fagt, etwas ‘zu nehmen, hat er ungeheure Summen vergeudet und fieht fih außer Stand, Rechnung abzulegen und Rechenichaft zu ge-

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ben. Seinen politifchen Anfichten nach würde er nicht gegen Stände - fein, aber weil diefe eine Nechenfchaft über die biöherige Staatöwirth- ſchaft verlangen würden, ift er ded Königs eifriger Bundesgenoſſe in dem Widerwillen gegen alle Verfaffung und die Haupturjache zu dem leidenfchaftlichen Widerftand geworden, den Baiern auf dem Wiener Congreß gegen den Artikel in der Bundedacte über die Stände übte. Montgelas muß abtreten, das fagen alle, fobald eine Berfallung ein» - geführt wird, und diefer Zeitpunkt kann nicht mehr ferne fein, da die Berwirrung in den Gefchäften bis auf den Grad geftiegen ift, daß die gänzliche Auflöfung nur noch durch eine Feine Zahl guter Beamten und durch die Treue ded Volkes verhindert wird. Ich bin noch einige Stunden bei Jacobi geweſen, fchrieb Perthes unmittelbar vor feiner Abreife aus Münden. Er nahm mich allein in fein Zimmer ; wir fpra- chen über vieled; oft wurde feine Stimme weich; er. fahte das Ge- präch immer von neuem auf und ich konnte deutlich bemerken, wie fehr ihn vor dem Augenblide des Abfchied® graute. Er fühlte, wie ih, dag wir und in diefem Leben nicht wieder fehen würden. Als Perthes fih nun mit dem Emtritte in die Alpen einer ihm durchaus fremder Welt zumendete, vergaß er Staat, Literatur und Buchhandel und gab fih mit der ganzen ihm eigenthümlichen Frifche "und freude den überwältigenden Eindrüden hin, welche die große Natur ihm brachte. Einige Tage verweilte er in Salzburg und befuchte von bier aus Berchtoldögaden, den Königäfee, die Eidcapelle und fuhr ein in die Salzwerfe von Hallein. Ungeachtet der ftarken förperlichen An- firengungen während diefer Tage behielt er dennoch Friſche genug, um-fpät Abends in den Briefen an Caroline febendige und anfchau- liche Bilder der gefehenen gewaltigen Alpenwelt zu entwerfen. Nur das rein Menfchliche in den Menfchen verlor auch neben diefer Natur feine anziehende und feflelnde Kraft für Perthes nicht. Ich habe, f&hrieb er, viele Menfchen und Menfchen vielerlei Art auf der meiten Strede von Hamburg bis hierher gefehen, vielen habe ih und viele haben mir Rede geftanden, aber meine Liebhaberei zu den Menfchen iſt nicht weniger geroorden. Ich habe weit mehr Einfiht, Tüchtigkeit und Rechtlichkeit und meit weniger ‘äußere Unfittlichfeit gefunden, ale ih erwartet hatte. Läßt man fih nur auf die Dienfchen ein und weicht

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nicht ſcheu vor fremdartigen Formen und eigenthümlichen Auffaffun- gen zurüd, jo fühlt man überall, wie nahe der Menfch dem Men- fchen ſteht. Unheimlich ift mir auch in den ftodfatholifchen Ländern nicht geworden und aud in ihnen habe ich des Anziehenden viel gefun- den. Wie anfprechend ift doch der kindliche Gedanke, welcher in einer und derfelben Kirche zu Augsburg eine ganze Reihe Kleiner Capellen, jede zum befonderen Gebrauche in befonderen Lebenslagen, erbauen ließ. Hier eine Ehecapelle, wo unter Blumen .und Orangenblüten getraut wird; dort eine andere, der Mutter Gotted geweiht, um von ihr den Ehefegen zu erbitten; daneben eine dritte, in welcher Jung⸗ frauen um gute Männer bitten, und eine vierte für Eltern, deren Lieblinge frank oder fterbend find. Hier im Salzburgifchen fteht an jedem Felſenabhang, an jeder Brüde ein Crucifir oder eine Mutter Gotted, und der Fuhrınann oder Führer geht niemal® vorbei, ohne danfend zu grüßen und freundlich hinaufzufehen. Die Kölner hatten am Ende doch nicht fo ganz Unrecht, ald fie von dem Sonntagdgott der - Proteftanten und dem Familiengott der Katholifen ſprachen, an den fie fi wie an einen vertrauten Freund auch Werfeltaged und in al» len Lebenslagen wenden könnten. Die fleinen Betcapellen haben mich gerührt und erfreut, antwortete Caroline; indeſſen thuft Du ung Proteftanten Unrecht, lieber Perthes. Ich fann ed Dir vor Gott fagen, daß ich in mir gar manche Meine Capelle trage und hinein gehe, wenn ich Hilfe bedarf, obſchon nicht jo rein und inbrünftig, wie ich follte und auch gern wollte. In diefer Zeit nehmen mir die Dantcapellen den meiften Pla fort und Du mußt nothwendig zuruͤck⸗ nehmen, daß die Katholifen mit: Gott vertrauter wären ald wir, und daß wir nur Sonntags einmal einen Anlauf nähmen, um zu ihm zu fommen. | Recht Iebendig fah Perthes namentlich in Salzburg die jüddent-

Ihe Natur an fich herantreten. Anden Wirthötafeln traf ich, fehrieb er, meiſtens Officiere und Beamte. Faft ohne Ausnahme fah ich tüchtigen Saudverftand , der ſich über alle Lebensverhältnifje far und ſicher äußert, fich nicht verfteigt, nicht allgemein ind große Blaue hin- einfpricht. Angelernte, nachgeiprochene, aus Büchern aufgehobene Redensarten hört man nicht; fröhlicher Muth, frifche Lufligfeit wal⸗

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tet vor unverhalten. Dazu paflen nun die vielartigen Sprachformen mit ihrem treuberzigen Anklingen jehr wohl. Das alles kommt man⸗ chem Reiſenden furzweilig, ungebildet, abgefchmadt vor; manche hal- ten fi in ihrer Abgefchliffenheit für berechtigt, ſich an diefer natür- lihen Menfchenart zu reiben, werden aber meiftend derb und nad Berdienft abgeführt. Wohl habe ich bemerkt, daß die Süddeutfchen den Norddeutichen oft mistrauifch ausweichen, fie links Liegen laſſen, wie wenn fie fämtlid den das Land durchziehenden Probereitern an- gehörten, die freilich oft genug unmiffend und im Reden unverfchämt fittenlo3 find. Sch aber bin überall leicht mit den Süddeutfchen in Gang gefommen. Fragft Du, wie ed um die tieferen Seiten des Menfchengeiftes ftehe, fo antworte ih: Hier wie überall ift Selbft- verlaß und Hochmuth und hier wie überall muß man voll Bewunde- rung vor der Weisheit der Welteinrihtung ftehen, die immer aufs neue Kinder und Sinderliebe kommen läßt und den Menſchen, wenn in ihm die Eigenweisheit recht in die Stärke kommen will, wieder ſchwach und dem Kinde gleich macht und da3 Freien und ſich Freien- laflen in die Mitte legt. Hier auf dem Kirchhofe gingen wir lange umber und lafen die Infchriften. Sie find freilich meift fonderbar und reizen oft zum Lächeln; aber nirgends blumige, phantaftifche oder fentimentale Redensarten, nirgends philofophifch - heidnifche Sen- tenzen, überall Innigfeit und ein fefter Glaube an die Gnade Gottes. Es ift der Liebe und des guten Willen? viel in unferem Volke, und wo dad Material noch fo gut oder fihon fo gut ift ald bei und, da wird fih die rechte politifche Geftalt fchon aufbauen, wenn wir und auch längere Zeit noch fo ungefhidt in den Formen bewegen, und wir wollen uns ja nicht? machen laffen, es foll und wird fich ſchon aus fich jelbft ergeben.

Mit ſchwerem Herzen trennte ſich Perthes am 3. September von den Alpen. Wir fuhren, ſchrieb er, durch fehöne, anmuthige Gegen- den, aber Sinn und Herz war und verfchloffen. Wie wenn wir Heim- weh hätten, blickten wir zurüd nach der Erdenpracht, die wir ver- lafjen hatten, bis auch die legten Berge Salzburg? unferen Augen ver- ſchwunden waren. Abends famen wir über Neumark nah Vöckla⸗ brud und Nachts an die öftreichifche Mauthgrenze. Hart wurden wir

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von einem Militärpoften aus fanftem Schlafe gewedt. Der Grenz beamte, in feiner Ruhe geftört, fragte barfh: Sind denn die Ge- Ihäfte jo gar eilig, dag man Nachts reift? Als ich ihm höflich er⸗ wiedert hatte, daB eine Audeinanderfegung meiner Gefhäfte den Herm nur noch länger vom Schlafe abhalten würde, bejah er die Päſſe und brummte dann: Fahrens zu, aber in Lambach foll den Herren das Nachtfahren fehon vergehen. Beforglich über den bevorftehenden Em- pfang fuhren wir meiter und hielten in Lambach vor einem großen Gebäude. Der Poftillon fpannte aus, fagte: das ift die Mauth, und ritt fort. Nun war die Frage, ob wir in Geduld den Tagesan- bruch abwarten oder die Mauth alabald in Bewegung feten follten. - Endlich faßte ih Muth und klopfte an. Ein alter Soldat mit der Laterne erſchien und ſprach: Folgens. Er brachte mich nad) einem großen Saal, wo wohl für zwanzig Schreiber Tifche ftanden, ging in ein Nebenzimmer und kam augenblidlih mit zwei Wachskerzen wieder, ihm folgte ein vornehm ausfehender Herr in ſchneeweißen Unterkleidern, der ſehr hoͤflich ſagte: Erlauben Sie mir Ihre Pa— piere. Der Soldat ſprach abermals: Folgens. Er ging zum Wa⸗ gen, deſſen Taſchen er unterſuchte. Da habens Stricke, habens Land- karten, habens auch Schnaps das andere iſt ſchwarze Wäſche. Zum drittenmale ſprach der Alte: Folgens. Auf dem Büreau refe⸗ rierte er: Die Herren haben alles ſchön beiſammen. Damit war der Beamte zufrieden, gab mir meine Papiere, ſagte: Richtig, verbeugte ſich und ging. Der Alte beſorgte uns Pferde, nahm einen Zweigulden⸗ zettel und nach einer Stunde Aufenthalt fuhren wir aus dieſer Fahr— lichkeit frank und frei davon.

Ohne weiteren Aufenthalt reiſte Perthes nun über Wels, Amftet- ten, Mölt nah Wien, wo er am 5. September anlangte.

Schnell bin ich hier ganz heimifch geworden, heißt e8 in Perthes' erftem Briefe aus Wien; in diefer Fülle und Regſamkeit der Men⸗ ſchen gewinnt man fogleich Freiheit des Lebens und der. Bewegung für ſich ſelbſt. Unbehaglich und befangen fühle ich mich überhaupt nur an dem Orte, mo ich mid) bemerft weiß und wo mir viele eigenthümliche und fremdartige Menfchenindividuen entgegentreten, Die noch nicht ge⸗ zeigt haben, ob fie Freund find oder Feind. Bon dein allem aber ift

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in Wien nicht die Rede. Hier ſieht der Fremde auf den Straßen und Spaziergängen, an den Wirthstafeln und in den Schauſpielhäuſern keine Officiere, keine Orden, keine Standesabzeichnungen, keine Amts⸗ trachten, überhaupt feine Individuen, ſondern nur Wiener, von de- nen ber. eine eben fo berechtigt wie der andere erfcheint und ſich in fei- nem Sein und Genießen durch feinen Dritten flören läßt, aber auch feinerfeitd von feinem Dritten Notiz nimmt. Der Fremde bemerft nur dad Sein und das Genieen in Wien, aber nicht die Seienden- und die Geniefenden; es ift eben Freiheit und Gleichheit, wie fie nur in einer fo wahrhaft großen Stadt wie Wien möglich wird. Perthes ſah fo viele neue Sachen, Berhältniffe und Perfonen und hatte jede Tagesſtunde bis fpät in die Naht fo ausgefüllt, da es ihm, auch abgejehen von dem Bedenken, die in Wien empfange- nen Eindrüde in Wien dem Papiere anzuvertrauen, nicht möglich

feine Reifeberichte an Caroline in der bisherigen Weife fortzu- —* kurze Namendverzeichniffe traten mit Ausnahme einzelner. Tage an die Stelle der früheren Briefe. Selbſt über eine Audienz bei dem Erzherzog Johann, über ein Mittagseſſen bei Gentz, über einen Bes ſuch bei Collin, wo er den jungen Napoleon ſah, und über das öf- tere Zufammenfein mit Hammer, Baron Stahel, Stift und manchem anderen bedeutenden Mann finden fich nur flüchtige Angaben; aber der große Eindrud, ben das Leben Wiend machte, tritt faft in allen Briefen hervor. Jede Stunde meines Hierſeins gibt mir, ſchrieb er, Neues, zieht mir einen Vorhang nach dem andern auf. Es ſind jetzt nicht nur meine alten Bekannten, mit denen ich verkehre, oder die Männer, an welche ich Briefe mitbrachte; ein Fremder zieht den an⸗ dern nach fih. Faſt wird es des Menfchenthums zu viel und dazu nun das Deutfchthum, dad Ungarthbum, dad Slaventhum, dad Gtie- henthum, wenn aud) unter einen Hut gebracht, der fein Tyrannen⸗ but if. Welche Anzahl einfichtsvoller und gebildeter Männer, wie viel Geift und Tüchtigfeit habe ich getroffen und überall ftarf anges regte Baterlandsliebe, das heißt Liebe zur Gefamtheit der öſtreichi⸗ ſchen Monardie, deren Idee im Kaifer ruht! Hier gewefen zu fein, ift durchaus nöthig; ſchon nad) kurzer Zeit erhält man die Antvande- lung ded Eigenthümlichen einer Kaifermonardhie, die nicht auf: der

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Grundlage der Nationalität, fondern nur in der politifchen Bereini- gung im Staate und deilen Ruhepunfte, dem Kaifer, ruht. In die fem Berfhwinden der Nationalität liegt eigentlich der Gegenſatz Oeſt— reichs zu Preußen, und dieſer große Gegenfab foll in dem einen Deutfchland zufammenpaffen und von Deutichland aus Europa Yeftig- feit und Ruhe geben und gebieten. Das ift nicht leicht. Weberall in Wien ift Ungewißheit über die Maßregeln, Ungewißheit in den An- fihten und Hoffnungen; kurz, überall ift hier wie im Norden die Aus- bildung der öffentlichen Meinung noch in der Arbeit und erft auf der eriten Stufe ded Werdend. Den Widerftreit und die Reibung der po» litifhen Anfihten, die hier hervortreten, hatte ich nicht erwartet und am wenigften die Offenheit, mit welcher fie fich darlegen. An den Wirthstafeln, wo jet viele Beamte und reiche Leute fpeifen, deren Familien den Sommer auf dem Lande zubringen, hört man die freie- fte Unterhaltung; ja der Inländer erlaubt ſich die keiten Aeußerun⸗ gen, wenn auch der Fremde einige Vorſicht nöthig haben mag. Geftern Mittag war ich, heißt es in einem anderen Briefe, bei N. N. Es war große Gefellfchaft, der Mehrzahl nach aus höheren Beamten beſtehend; unter ihnen führte beſonders ein alter Major aus der Jo⸗ fepbinifchen Zeit dad Wort. An groben, harten Ausdrüden fchmähte er in diefer Umgebung die jepige Regierung und that ohne Scheu feine fanatifche Begeifterung für die Aufklärung des vorigen Jahr: hundert? fund. Hätte nicht, fagte er, das Pfaffenvolf den edlen Kai⸗ fer durch feine Ränke um das Reben gebracht, fo würde dieſer bei Ita- liänern, Ungarn und Slaven deutiche Sprache und Aufklärung mit Gewalt eingeführt haben und Bernunft würde jet in diefen ver- dummten Ländern herrfchen. In politifches Hoffen und Fürchten anderer Art blidte Perthes bei wiederholtem Zufammentreffen mit Hormayr und deſſen Befanntenfreid hinein. Diefer Hormayr iſt, ſchrieb er, ein heftiger, unruhiger Geift; die hohe Polizei hat ihm wegen ſeines früheren Auftretens in Tirol jegt aus Wien nach Klo— fter Neuburg verwieſen; demungeachtet aber hält er fich, wie jedermann weiß, heimlih in Wien auf und befucht öffentlich alle Gefellfchaften. Als er das erftemal zu mir fam, faßte er mich bei meinen Thaten im. Hamburger Aufftand. Ich vergalt feine Höflichkeit mit Hervorheben

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der Tiroler Begebenheiten und fo thaten wir einander weidlih mit unferer patriotifchen Tapferkeit zu Gute und ih lernte bei ihm und feinen viefen Belannten, daß im Kaiferreich ein Ziel verfolgt wird und ein Haß verbreitet ift, von dem ich ohne Hormayr nie etwas geahnet hätte.

Auch mit manden einzelnen Fragen, melde damals ; zur Enticei- dung vorbereitet werden follten, wurde Perthe8 genau bekannt, aber ttefer und perfönlicher berührte ihn die religiöfe Bewegung eine? zwar kleinen aber entſchieden katholiſchen Kreiſes in Wien.

Pilat iſt, ſchrieb Perthes an Caroline, ein geiſt⸗ und phantaſie⸗ reicher, aber leidenſchaftliche Mann. Sein Benehmen und feine Le- bensart ift wunderlih, iſt das, was man genial zu nenmen pflegt. Täglich arbeitet er mit Fürft Metternich, welcher ihm für feine Dienfte den öftreihifchen Beobachter als Eigenthu übergeben hat. Schlau ift er gewiß, aber ich glaube, er ift redlich und mit der Religion und mit dem, was er ald römifher Katholik dazu gehörig hält, meint er e3 gewiß herzlich und ernft. Gegen mich ift er wahrhaft freundfchaft- ih. Auch unfern alten Bekannten von Klinkowſtröm halte ich unge achtet des Urtheild anderer für redlih und brav. Er ift ein phans - taftifcher Bommeraner und diefe Zufammenfegung gibt immer Män- ner wunderlicher, unbehilflicher, etwas verfehrter Art, auf die gar leicht ein übler Schein, der aber doch nur Schein ift, fällt. Klinkow⸗ ſtroͤm eift arm im eigentlihen Sinne ded Wortd und hat außer einer Heinen Einnahme ald Mitarbeiter am öftreihifhen Beobachter nichts. Aeußerer Bortheil wurde ihm alfo durd feinen Uebertritt zur katholi⸗ hen Kirche nicht zu Theil, wie mir denn überhaupt die von Prote- ftanten fo oft gemachte Anfhuldigung , daß die in neuerer Zeit katho⸗ lifch Gewordenen durch äußeren Bortheil zu folhem Schritte geführt feien, nicht allein unedel, fondern auch unwahr zu fein ſcheint. Män⸗ ner, wie Schlegel, Werner, A. Müller u. ſ. w., würden mit ihrem Geifte und ihren Kenntniffen den Rang und Stand, den fie jebt ein⸗ nehmen, auch als Proteftanten leicht geivonnen haben. Auf Per⸗ thes’ Wunſch, einen guten echt fatholifchen Prediger zu hören, wurde ihm von PBilat und Klinfowftröm der Pater Pascal bei den Francis⸗

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canern empfohlen. Es war, fchrieb Perthes, da heute der himmlifche Gruß gefeiert ward, hoher Fefttag für diefe mit einem Gnadenbilde der Jungfrau Maria begabte Kirche. Der Hochaltar war prachtvoll erleuchtet, die Kirche gedrüdt voll; hinter der Kanzel befindet ſich eine mehrere Schritte ange Gallerie, auf welcher der Pater herumfpasierte, Sadtuch und anderes Geräthe von ſich legte, überhaupt ſich es be— quem machte. Stimme und Gefticulation war heftig und kraͤftig, die. Ausfprache der gemein öftreichifche Volksdialekt; man ward an Abraham a Sancta Clara erinnert, mochte man wollen oder nidt. Zum Gegenftande feiner Predigt hatte der Pater die Macht und die Gnade der Jungfrau genonimen. Zwei Drittheile derfelben waren durchaus gegen dad Sittenverderbnid, ein Drittheil gegen die Ketzer gerichtet, aber gegen Die Ketzer in der Kirche, denn mit den Kebern außer der Kirche habe er ed an diefem Orte nicht zu thun, fagte der Pater. Die Bergleihung der Jungfrau, welche die geiftige Welt in fi getragen, mit der Are Noah, die alles Gethier umbergefahren, war finnreih, aber in der Ausführung wenig delicat. Die Schilde> rung einer Hungerdnoth und ihrer Trabunten: der Seuchen und Bers brechen, und der Vergleich derfelben mit einem: verhungerten ungläu- bigen Herzen war fehr gut, das Schlußgebet vortrefflih. Wenn der: Pater bei jedem neuen Flehen mit aufgehobenen Händen, nach den Gnabdenbilde fi) wendend, inbrünftig Maria ausſprach, fo wurde: man ergriffen und vergaß das Barode der ganzen Erfcheinungg kurz, e8 war eine tüchtige Predigt, die ihre Wirkung that. - . Anziehender indeſſen als Pater Pascal war für Perthes die Be- kanntſchaft mit dem Redemptoriftenoberen Pater Hoffbauer, auf wel- hen er von verfchiedenen Seiten lange ſchon aufmerffam gemacht war. Heute gegen Mittag traf ich, ſchrieb er am 18. September, nach mehreren vergeblichen Berfuchen den Pater Hoffbauer. Ich fand ihn in einem großen düfteren Saal, an deffen Fenfter Gitterfämmer- hen angebracht waren, mo junge Geiftliche theils leſend theils ſchrei⸗ bend faßen. Einer derfelben trat während meiner Anweſenheit ber- aus und nahm fich aus einem an den Pfeilern gebauten Fliegen⸗ ſchranke einen derben Butterfladen. Hoffbauer ſetzte ſich mit mir in

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die Mitte des Saales; er ift über fiebenzig Jahre, klein von Geftalt, aber rüftig und kräftig. Das Auge ohne den gewöhnlichen Aufichlag fatholifcher Priefter ift voll Feuer, ſcharf und feft anblidend, die Ge- ſichtszüge find fehr beweglich und dennoch iſt dad ganze Antlig in einer Ruhe, die man himmliſch nennen muß. Hoffbauer begann das Gefpräch mit gebildeter Feinheit über gemeinfchaftliche Freunde, über meine Jugend und meinen Bildungsgang, leitete von Claudius zu Friedrich Leopold Stolberg und deffen Uebertritt über und hatte bald mein Herz völlig gewonnen. Ich redete mit ganzer Offenheit über Stolberg und defien Verhältnis zur Fürftin Gallisin, die ich meine mrütterliche Freundin nannte, und fagte, daß ich bei Stolberg's eigen« thümlicher Natur und bei dem damaligen Zuſtande der. proteftanti- ſchen Kirche, ihrer Lehre und ihres Lebend den Webertritt deöfelben nicht nur für natürlich und erklärlich, fondern faft auch für nothwen⸗ dig hielte. Da ich aber an dem Eindrud‘, den diefe Worte machten, bemerkte, daß fie in unmittelbarer Beziehung zu meiner eigenen Stel-

lung aufgefaßt worden waren, fügte ich, um dem ehrwürdigen Greife gegenüber frei und wahr zu ftehen, fogleich hinzu: Wäre ich in der Tatholifchen Kirche geboren und erzogen, fo würde ich Katholik fein und bleiben. Würde ich jet in ein Land verfeßt, wo feine proteftan- tifchen Gemeinden, fondern nur Katholiken wären, jo würde ich, falld ih dafelbft bleiben müßte, Katholit werden; ja auch für den Fall,

‚daß die jegige Richtung proteftantifch - neologifcher Theologie den vol« len Sieg davon tragen und in den Gemeinden allgemeine Geltung gewinnen follte, würde ich, um meinen Kindern die Gemeinfchaft mit Ehriften zu fihern, Stolberg’ Beifpiel folgen. Aber diefer Fall werde niemals eintreten und meiner eigenen Seele Seligfeit wegen hätte ih den Uebertritt unter feinen Umftänden nöthig; denn Grfenntnis meiner Sündhaftigfeit,, Bedürfnid und Gewißheit der Erlöfung dur Jeſum Chriftum, Demuth und Glaube und Umgang mit Gott: fei völlig unabhängig von der Zugehörigkeit zur Fatholifchen Kirche umd der Uebertritt einzelner gläubiger Ehriften von einer Kirche zur an⸗ deren möchte überhaupt wohl, wenn nicht ganz individuelle Gründe fih fänden, als ein Borgriff in die Wege des Herrn und als ein Hin-

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dernis der künftigen Vereinigung aller Chriſten zu einer Herde an⸗ zuſehen ſein. Schon jetzt hätten die Formen der katholiſchen Kirche vieles nachgegeben und vieles würden die Proteſtanten wieder aufzu⸗ nehmen haben und der Verlauf der Zeiten werde und müſſe die Ein⸗ heit beider wieder herbeiführen. Hoffbauer ſah mich, während ich ſprach, feſt, aber ruhig an, faßte mich dann an der Hand und ſagte: Auch ich nehme eine unſichtbare Kirche an, ich werde für Sie beten, daß Sie nicht in Verſuchung fallen. Laſſen Sie uns jetzt nur fortreden, ohne uns durch die Erklärung, welche Sie ſo eben gaben, flören zu laſſen. Wir ſprachen nun über die Reformation und Hoff⸗ bauer fagte: Seitdem ich ala päbftlicher Abgefandter in Polen die religiöfen Zuftände der Katholifen und in Deutfchland die der Prote- ftonten habe vergleichen-Fönnen, ift e8 mir gewiß geworden, daß der Abfall von der Kirche eingetreten ift, weil die Deutfchen das Bebürf- nid hatten und haben, fromm zu fein. Nicht durch Keper und Phi- fofophen, fondern duch Menfchen, die wirklich nach einer Religion für da3 Herz verlangten, ift die Reformation verbreitet und erhalten. Sch habe das in Rom dem Pabjte und den Cardindlen gejagt, aber fie haben mir nicht geglaubt und halten feft daran, daß Feindichaft gegen die Religion es fei, welche die Reformation bewirkt habe. Viel ließ fi Hoffbauer danıı von mir über die religiöfen und firchlichen Zuftände Norddeutſchlands erzählen und fegnend reichte der fromme und milde Greid mir bei dem Abfchiede die Hand.

Einen zwar verfchiedenartigen, aber nicht minder ſtarken Ein- drud als Hoffbauer machte auf Perthes ein junger fatholifcher Prie- fer, Horni, welcher fi) nach Claudius’ Tode mit einem Briefe voll warmer Verehrung und herzlicher Theilnahme an ihn gewendet hatte. Heute trat, fehrieb Perthes an Caroline, ein junger Mann in geift- licher Kleidung in meine Stube und nahte fih mir mit großem An- ftande. Es war Horni, deſſen Briefe nad) Deines Paterd Tode Du Did erinnern wirft. Mit liebendwürdiger, geiftvoller Offen- heit erzählte er mir von feinen Familienverhältnifien, von feiner per- fönlihen Lage und feinem Bildungdgange. Auch ich bin, fagte er, wie faft alle meine Standeögenofien, von der feit Joſeph UI.

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Deftreich verheerenden religiöfen Aufflärerei ergriffen geweſen; aber mein irre gewordener Geift hat den Weg zur Wahrheit und Gnade durch Claudius’ Echriften wieder gefunden. Wie fteht diefer Diann fo wunderbar groß da! Ye heftiger in ganz Deutfchland unter Katholiken wie unter Proteftanten Sturm gelaufen ward gegen alle geoffenbarte Religion, um fo inniger hatte er fih an Jeſum Chriftum angefchlof- fen, und al® alle fogenannten Philofophen Deutfchland® wahnfinnig, verrüdt geworden waren, blieb er unerjehüttert und erfannte den blen- denden Zauber feiner Zeit im Momente der höchſten Blendungsfraft al® dad, was er war, das heipt, ald ein blendendes Nichts. Seine Weisheit freilich war zu wenig von diefer Welt, um den Kindern die. fer Welt zugänglich zu fein. Die Zeitgenoffen verftanden die hohe Einfalt nicht und ſchätzten fie gering, „fie fpannen Luftgefpinnfte und fuchten viele Künfte und famen weiter von dem Ziele.” ch werde dankbar dafür bleiben, fo lange ich lebe, daß mir die Weisheit des einfältigen Boten aus Wandsbeck in ihrer Höhe und Tiefe erkennbar wurde. Horni bat mich dann um nähere Nachricht von Deined Ba- ters legten Stunden ; denn obwohl es möglich wäre, fagte er, daß Claudius’ Körper in der Entkräftung des Todeskampfes nicht mehr hätte verfinnlichen können, was die nun bald mit ihrem Freunde und Erlöfer vereinte Seele fühlte, fo glaube ich doch, daß Claudius nah einem fo felten vollendeten chriſtlichen Leben auch eines fchönen chriſtlichen Todes geftorben fein wird, und daß der Troft,. den fein Erlöfer in der legten fchweren Stunde ihm in? Herz geflößt, den glüd- lichen Zeugen de3 Weberganged „in das Land des Wefend und der Wahrheit‘ bemerklih geworden if. Bei dem Abichiede bat Horni mich um ein Bild von Claudius. Es thut, fagte er, einem ringen- den Menfchen wohl, fi) von bewährten Kämpfern befländig umge- ben zu fehen; böfe Gedanken fliehen, wenn der Blick plöblich auf ein Bildnis fällt, vor deſſen Original man in diefem Augenblid erröthen müßte. Alles, was Homi fagte, trug das Gepräge innerer Wahr⸗ heit und frommer Ueberzeugung ; die Einficht, mit welcher er ſprach, ruht gewiß auf einem bedeutenden Wiſſen; feine Ausfprache ift geläu- fig und rein, wa? ſich bier felbft bei Gelehrten und Bornehmen nur

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felten findet. Neben den Droſte's in Münſter ift er mir als der tieffte und fiherfte Katholik, den ich ſah, erfchienen,, tiefer und ficherer ge— wiß als alle die. geiftreichen Verfechter des Katholicismus, die ich fenne. | |

Gegen Ende September hatte Perthed die Vorbereitungen zu feinen auf Deftreich berechneten literarifhen Unternehmungen beendet. Erfreut über die reihen Wochen, die er durchlebt, und über das Ver⸗ trauen, welches ihm von vielen Seiten zu Theil geworden war, ver- ließ Perthes am 22. September Wien und befand fi) nach einer ra- hen Reife und einem viertägigen Aufenthalt in Nürnberg am Mors gen des 2. October nahe bei Blankenburg im Thüringer Walde, wes nige Stunden nur von feiner alten Kinderheimat Schwarzburg. Die gewaltigen Regengüffe der letzten Monate hatten die Brüde, welche in der Mitte etwa zwiſchen dem Dorfe Schmwarza und dem Städtchen Blankenburg über den Waldbach ging, hinmweggeriflen. Perthes, noch wohlbefannt mit allen Fußwegen, ließ den Poſtillon nach der entfern⸗ teren ſteinernen Brücke fahren und wanderte mit ſeinem Sohne der Papiermühle zu, wo ein hoher Steg, wie er wußte, über das Waſſer führte; aber auch dieſer war fortgeſchlemmt und ftatt feiner ein paar Baumſtämme von einem Ufer zum anderen gelegt. Ein in der Nähe ftehender Mann fragte warnend, ob die Reifenden auf dem ſchmalen Holze hinüber zu gehen wagen wollten. Diefe aber gingen unbe denklich; hatten doch beide im Salzburgifchen mandyen weit gefähr- licheren Weg gemacht. In reißender Schnelle ſchoß tief unter ihnen die zu einem Strom angefchwollene Schwarza hin. Nur zwei Schritte noch waren fi: vom jenfeitigen Ufer, als der voranfchreitende Sohn ausrief: Halte mich, ich falle. Perthes ergriff den fallenden Knaben feft an dem Mantelfragen und wurde zugleich mit ihm hinab in das Waſſer gezogen, er fam zum Stehen, ward wieder umgeriffen,; das Waſſer wälzte den Knaben über ihn, dann ihn über den Knaben; noch einmal tauchte Perthed mit Kopf und Schulter auf, rief laut: Halt Dich befonnen! und fan? aufs neue in die Tiefe. Wie ein Blig traten Frau und Kinder vor feine Seele, dann wurde er bewußtlos und das Waſſer trieb beide in unaufhaltfamer Eile den Rädern einer

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zweihundert Schritte abwärts Tiegenden Sägemühle zu. Unmittelbar vor diefer ward Perthed ſtark und feft am linken Arme ergriffen und langſam durch das Waſſer an das Ufer gezogen. Mit feiner rech⸗ ten Hand hatte er im Todeskampfe den Sohn frampfhaft feitgehalten und führte nun, felbft bewußtlos, auch diefen dem Ufer zu. Jener fremde Diann, der ihnen warnend zugerufen hatte, war der Papier- müller Stahl gewefen; er eilte, als er die Fremden fallen fah, über den gefährlichen Balken und längs ded Wafferd hin bis zur Säge: müble, wo ihm eine Untiefe befannt war, die weit hinein in die Schwarza reichte; bis in die Mitte des Leibes im Waſſer harrte er hier, griff zu, glaubte nur einen Menſchen vom ficheren Tode zu retten und rettete zwei. In der warmen Trodenftube der nahen Papiermühle er- holten fich Die Geretteten fchnell unter der Behandlung eines zufällig aus Rudolſtadt anweſenden Wundarzted und eilten Schwarzburg zu, wo fie, vom jchnellen Lauf erwärmt, gegen Abend anlangten. Nabe war der Zod an ihnen vorübergegangen, aber nicht einmal eine Erfäl- tung hatte er ald Folge feiner Nähe zurückgelaſſen.

Zwei Tage ruhte Perthed in den Erinnerungen feiner Jugend von der Unruhe der lebten Donate aus, wie ein Kind von dem alten Oberftlieutenant,, dein alten Oheim Stallmeifter und der alten Tante Caroline gehegt und gepflegt. Dann eilte er nach kurzem Aufenthalte in Gotha über Göttingen und Hannover nad) Hamburg, wo er am Morgen ded 8. October eintraf und Caroline, deren Gefundheit ihm während feiner Abwefenheit mehreremale ernfte Sorge erwedt hatte, kräftiger fand, als er fie verlaffen hatte. |

Perthed’ Leben. 11. 4. Aufl. j 9

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Berthes’ Bemerkungen über den literarifchen Verlehr während feiner Reiſe durch Dentichland.

Perthes war durch die mannigfaltigen und bedeutenden Ver⸗ hältniffe, in welche er hineinzubliden Gelegenheit gehabt hatte, nicht verleitet worden, feinen eigentlichen Reiſezweck zu vernadhläffigen. Die Lage ded Buchhandel® und die Mittel zur Begründung eines fefteren Zufammenhanges desfelben hatten ihn überall beichäftigt. In ges nauen, bis in die kleinſten Einzelheiten gehenden Berichten theilte er an Beſſer feine Beobachtungen mit. Fremd waren ihm die literari« hen Verhältniffe Baiernd geblieben, die wenigen Tage in München gehörten, fehrieb er, dem lieben alten Jacobi. Meber den Bers fehr in Deftreich dagegen hatte er fich nach allen Seiten hin unterrich- tet. Weberull in Wien fand er bei den Männern der verfchiedenften Stellung und Richtung wohlmwollende Zuftimmung, wenn er auf die Nothmwendigfeit, Deftreih dem deutfchen literarifchen Verkehr zugäng- lich zu machen, hinwied. Der Erzherzog Johann verfprach, das ver- dienftlihe aber fchwierige Unternehmen mit allen feinen Kräften zu unterftügen. Der Director im Polizeidepartement, Herr von Ohms, ein geborner Erfurter von ftrengem Ausſehen, aber großer Nedlichkeit, verficherte ihm: Deutfche Sprache könne und folle freilich den verfchie- denen Völkern der öftreichifhen Monarchie nicht aufgedrungen wers den, aber ald Hauptaufgabe habe e3 fich die höchfte Stelle geſetzt, in allen Theilen des Reiches deutfche Bildung, alfo auch deutſche Li⸗ teratur zu verbreiten; dahin zielten alle Diaßregeln, aber fehr viele Borurtheile nach unten und nad) oben wären zu überwinden und viel Menfchliches falle bei der Ausführung vor, Dem Chef ded Handels- Departements, Herrn von Stahel, legte Perthes vorzüglich die Ab- hilfe gegen den Nachdrud and Herz. Es gibt, antwortete diefer, nur einen Weg zu dem Ziele, welches ich mit Ihnen zu erreichen lebhaft wünſche: bewirken Sie eine Eingabe des Wiener Buchhändler- Gre-

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miumd, worin gejagt wird, daß ed nad) dem jehigen Stande der Literatur für dad Ganze des Büchergewerbed in Deftreich fördernd fei, künftig auf den Nachdruck ausländifcher Werke zu verzichten; einzelne Buchhändler würden zwar zeitweife Schaden erleiden, aber für den gefamten Buchhandel Oeſtreichs ein dDauernder Gewinn eriwachfen und die Handeldbilance auch dieſes Erwerbszweiges fih zum Bortheile Deitreich3 ftellen. Gelingt es Ihnen, eine ſolche Eingabe hervorzu⸗ rufen, fo haben wir gewonnen; aber täufchen Sie fich nicht über Ihre hiefigen Gollegen. Die öftreichifchen und indbefondere die Wiener Buchhändler befinden fi) in ihrer gegenwärtigen Lage zu behaglich; fie werden eine Stellung freiwillig nie verlajfen wollen, in welcher fie mit wenig Thätigfeit, mit wenig Kenntni® und Aufmerkſamkeit wohlhabende Leute werden. Wider den Willen der Buchhändler aber wird die Regierung fich ſchwerlich entichliegen, Schritte gegen den Nahdrud zu thun.

Perthes hatte aus perfönlihen Berührungen und aus Mittheis fungen Gerold’3, deffen befonnene und ehrenwerthe Leitung eines großen Gefchäftd er mehrfach hervorhob, zwar ein eigene® Urtheil über die Stimmung der Wiener Buchhändler gewonnen, er hatte die fiterarifhen Bedürfniſſe Oeſtreichs und die Mittel zu deren Befriedi- gung genau beobachtet, aber er fand in dem Gewirre ded Wiener Leben? keine Zeit zu fchriftlichen Aufzeichnungen. Die Berichte da- gegen, welche er über das bis Wien Gefehene an Beiler fendete, Taf» jen manchen Blid in einen jegt längft vergeffenen Zuftand des lite- rarifchen Verkehrs thun. |

Zunächſt war ihm Weftfalen ald ein in fich abgefchloffened Ge- biet für den Buchhandel enigegengetreten. Sinn für Wiſſenſchaft, namentlich für Gefchichte, hat hier, heißt es in Perthes’ Briefen, lange Ihon beftanden ; gelehrte Sammler und gebildete Liebhaber find von Alters her durch das ganze Land zerftreut. Sie waren biöher nur in jehr geringer Verbindung mit dem literarifchen Getreibe Deutfchlands; das aber wird unter den neuen politifchen Verhältniſſen bald ander? werden; ſchon jet ift ein neuer Geift erwacht und Binde’3 Perfönlich- feit regt fräftig an. Weſtfalen erfcheint in jeder Beziehung als eine

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für den Buchhandel höchft wichtige Gegend. Um den Betrieb fämpf- ten feit einer Reihe von Jahren Bremen und Hannover; jebt ift Bre= men befiegt und die Berforgung des ganzen Landes liegt fait aus- fhlieglih in einer einzigen Hand. Die Wirkfamkeit der Hahn'ſchen Handlung in Hannover reicht durch Oftfriesland bis nach Holland, duch Weftfalen bis zum Rhein, füdlih bis Kaflel, nördlich big Bremen. Man muß die Einfiht, Ordnung und Thätigfeit derfelben bewundern ; aber fehädlich für den Buchhandel ift eine ſolche Eentra- lifation und auf die Auswahl der an Schulen aller Art gebrauchten Lehrbüchern üben Hahn's durch die Einrichtung ihres Geſchäfts gewiß einen nadhtheiligen Einfluß. Sechs bis zehn tüchtige Handlungen fönnten in dem Umkreiſe, in welchen: jet fie allein thätig find, bes - ftehen und würden den literarifchen Verkehr. in weit eindringenderer Weife beleben. In Barmen, Duisburg, Lemgo, Detmold, Pader- born, Hamm fönnen fi) gegenwärtig Buchhandlungen gar nicht hal⸗ ten oder doch nur mit großer Mühe und geringer Lebendigkeit. In Osnabrück iſt die einzige ordentlihe Handlung eingegangen; nur Buchbinder pfufhen noch im Bücherverfehr, und dennoch muß hier der literariſche Sinn groß geweſen fein, wie die vielen guten Biblio- theken beweiſen, die aus dem Nachlaſſe verſtorbener Gelehrten und Geſchaͤftsmaäͤnner zur Verſteigerung kommen. Münſter iſt feine lite- rariſche Stadt; die früheren guten Handlungen find ſchon vor dreißig Jahren ſchwach geworden oder untergegangen. Einzelne Gelehrte und gebildete Sammler, wie Domdechant von Spiegel, die Herren von Drofte, Dr. Herold, Kiftemafer, Katerfamp, finden fi und das neue Berhältnis zu Preußen wird den wiffenfchaftlihen Sinn ſchon wecken. Einige junge tüchtige Buchhändler regen ſich auch bereits, aber ihre Verbindung mit Leipzig ift fehr erfchwert, da der Fracht⸗

verkehr gänzlich fehlt und die Koften der durch die heffiihen, hannd« . veriſchen und fächfifchen Anftalten zugleich vermittelten Poftfendungen unerfchwinglich find. Bom Buchhandel allein können fie daher nicht leben und müflen nebenbei den fogenannten Kunfthandel treiben, Bil der, Landkarten, Farben und Zeichenmaterial aller Art verkaufen und ſtehen dadurch mit den italiänifchen Colporteurs in Verbindung.

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Sonderbar ift ed, daß das katholifche Weftfalen gar feinen Zufam- menbang mit dem fatholifchen Süden hat; höchften® werden die hier erfcheinenden Gebetbücher, Gefchichten der Heiligen u. ſ. w. dort nach⸗ gedrudt. Ich bin mehrfach gebeten worden, für die weftfälifchen Handlungen Verbindungen in Ulm, München, Salzburg, Augsburg, Deftreih anzufnüpfen. Geſtützt auf die gemachten Erfahrungen, glaubte Perthed, daß die Hamburger Handlung einen größeren An- theil ala bisher an dem literarifchen Verkehr Weftfalend gewinnen fönne, und theilte in feinen Briefen an Beffer die Mittel und Wege mit, welche er mit Rückſicht auf die Eigenthümlichkeit der einzelnen . Perfonen und auf die befonderften Berhältniffe der einzelnen Orte für geeignet zur Erreichung feines Zieles hielt.

Im Bergifchen, eingeflemmt zmifchen Weftfalen Und dem

Rhein, lernte Perthes eine ihm bisher unbekannte Art des Vertriebes

von Büchern kennen. Die mandherlei gefonderten Religionagefellfchaf- “ten, fchrieb er, die fich hier aufhalten, haben eine abgefchloffene, re- ligiöfe Literatur für fih, von der wir gar nichts wiſſen. Ohne ir- gend eine Bermittelung ded Buchhandel® wird fie durch eigene Anftal- ten und Colporteurs verbreitet und fteht in einem nahen Zufammen- hange mit den verwandten Religiondgenofjen in den entfernteften Ge genden in und außerhalb Deutfchland®, ja felbft jenfeit3 des Meeres. Wer das Bertrauen diefer Gefellfchaften gewonnen hätte, würde im Stande fein, deutjche Literatur nach Gegenden und Orten zu bringen, wohin der Arm ded Buchhandels nicht reicht.

Der Rhein von Düffeldorf bis Mainz mit der Eifel, der Mofel- gegend und dem Hundsrück, mit dem Siegenfchen, dem Weſterwald und dem Taunus war biöher ein für den deutfchen Gefamtbuchhan- del unbelannted Land .gemwefen. Hier war, ſchrieb Perthes, das li- terarifche Bedürfnis bis vor kurzem auf das Engfte befhränft: die großen Klofterbibliothefen kauften kirchliche Werke, die fogenannten Gebildeten fannten nicht? ald die franzöfifche Literatur. Kür die Bedürfniffe beider forgten die Frankfurter, denen allein das Land zu- gänglih war; fie betrachteten es wie ihre Colonie und überwachten es ängftlih und eiferfüchtig, mie Spanien die feinigen. Seht aber

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wird alles anderd: die Klofterbibliothefen find verſchwunden, das Intereſſe an der franzöfifchen Literatur tritt in den Hintergrund; neues Leben und neues literarifches Bedürfnis wird überall durch die preußifche Negierung und dur die preußifchen Beamten entftehen. Die hergebrachte Herrichaft der Frankfurter reicht nirgend® mehr bin, und doch liegt in den meiften Rheinftädten der eigne Betrieb nod) völ- lig’ danieder. In Düfleldorf fieht e8 ganz elend aus: die Gejchäftd- männer und Gymnafiallehrer müffen fich felbft jedes Buch, das fie be- dürfen, aus Frankfurt verfchreiben oder von Bädeder in Eſſen, der einen fehr guten Namen hat. In Bonn ift gar feine Buchhandlung, wohl aber der große mufifalifche Verlag Simrocks, der ein alter, ver- ftändiger Ehrenmann if. In Koblenz treibt nur ein waderer Buch binder nebenbei einigen Bücherverfauf. An diefen Orten und eben ſo in Aachen, Trier, Wiesbaden und allenthalben ift ein großes Feld für thätige und tüchtige Buchhändler, und fie werden nicht ausbleiben. Köln wird ohne Zweifel der Mittelpunkt des deutfchen Buchhandel? für das linke Rheinufer werden; es ift ein gar reges Leben unter den fünfzigtaufend Menfchen, und der bier herrfchende Sinn für Alter- thümer und Kunft wird bald auch der deutfchen Literatur Raum ver- ſchaffen: Männer wie Wallraf, de Groote, Harthaufen und aud Graf Solms⸗Laubach üben einen guten Einfluß und die Errichtung der neuen Univerfität, mag fie nun nad Bonn oder Köln fommen, wird von großer Bedeutung fein. Es find fchon jetzt Handlungen bier, die vajch aufblühen werden. Du Mont Schauberg ift ein un- terrichteter, verfländiger und angefehener Mann, bekannt und be- freundet mit vielen Gelehrten und Beamten; Imhof und Heberle ha- ben ein bedeutendes antiquarifches Gefchäft. Nachdrud wird hier wie in ganz Weftfalen und Elberfeld viel vertrieben und dem einzelnen Buchhändler ift es faft unmöglich, eine Ausnahme von der Regel zu maden. Kurz vor meiner Ankunft hatte Spig einen Nahdrud von Goethe’? und Schiller's Werken angefündigt, welchen Graf Solms⸗ Laubach, auf das preußifche Landrecht fich frükend , fofort unterfagte. Ich bemerkte dem Grafen, um ihn auf die Nothwendigkeit allgemein deutfcher Maßregeln aufmerkfam zu machen, daß er durd fein Ber:

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bot das Eigenthum eined Würtemberger Buchhändlers ſchütze, wäh- rend der König von Würtemberg die Plünderung aller nicht würtem« bergifchen Buchhändler nad) Kräften begünftige. Ei mas, antwortete er; bier handelt es fih niht um Würtemberg und Preußen, fondern um eine Nationalfache, ich werde dem Staatskanzler fchreiben, ich hätte würtembergiſch Eigenthum geſchützt und er möge nun dafür for« gen, daß ein Gleiches in jedem deutfchen Staate gegen jeden anderen deutfhen Staat geſchehe. Das Wort erfreute mein Herz.

Lebhafter noch ald Graf Solms ging Stein in Naffau auf Per: the3’ Anfichten ein. Das fei, fagte er mir, heißt es in Perthes’ Brie- fen, eine große und gute Anfiht, den Buchhandel zu einem Natios nalinftitut erheben zu wollen, gut für die Literatur und gut für die Rationalität. Ich folle mich durch keinen Widerfpruch und feine Träg⸗ heit irre machen laſſen, fondern tapfer vorwärts gehen. Preußen werde nicht? in den Weg legen und ed fei wichtig, daß ich mit Binde und Graf Solms, der ein fehr braver, ehrenwerther Mann wäre, gefprochen hätte. Deftreich freilich werde ſchwer zu gewinnen fein; dort lege dad Normalfyftem im Erziehungs - und Unterrichtöwefen je- dem Fortichritt große Hinderniffe in den Weg. Ich folle mich mit Bertrauen an den Erzherzog Johann wenden, der geiftvoll und theil- nehmend fei; auch Erzherzog Karl fei ein würdiger Herr, aber weni ger zugänglih. Bor allem aber müffe ich auf die Buchhändler felbft zu wirken ſuchen; in diefen liege das eigentliche Uebel: fie wären zu träge und zu kleinlich, um bedeutende Unternehmungen von nationa= ler Bedeutung zu übernehmen. Cr ſelbſt habe grade jest den Plan, einen Verein für die Herausgabe der Quellenfchriftiteller unferer Ge⸗ Ihichte zu gründen, und wolle mir denfelben nächften® mitteilen.

Frankfurt mit feinem fehr lebhaften, auf einen weiten Umkreis ausgedehnten Verkehr, mit feinen großen Lagern alter und neuer Bü⸗ cher und feinen betriebfamen, klugen und zum Theil jehr' gebildeten Geſchäftsmännern machte einen bedeutenden Eindrud auf Perthes, aber nicht ohne Beſorgnis fah er auf die Form des dortigen Gefchäfts. Alle hiefigen Handlungen, mit Ausnahme Barrentrapp'®, nehmen, Ihrieb er, lebhaften Antheil am Nachdruck; fie vertreiben nicht nur

136 den Nachdrud fremder Buchhändler, fondern die meiften von ihnen druden auch ſelbſt nad) und alle fegen von ihrem rechtmäßigen Verlag wohl das meifte durch Verbindungen mit fremden Nachdrudern ab, fo daß ihr gefamter Gejhäftdgang auf dad engite mit dem Nachdrud verflochten iſt. Faſt alle find daher meinen Anfichten entgegen. Uebri⸗

gens aber find e8 der großen Mehrzahl nach rechtliche ehrenwerthe

Männer und. über ihren Handel muß man, wenn man nicht ungerecht fein will, fagen: Laͤndlich, fittlih. |

Die Wärme und der Eifer, mit welchem die damals in Franf- furt verfammelten Staatdmänner die Angelegenheiten des Buchhan- dels auffaßten, ift fehr bezeichnend für die in jenen Monaten politis fcher Unſchuld noch unter ihnen herrſchende Theilnahme an der deut- ſchen Nationalität und Einheit. Gegen den Nahdrud erflärten fi alle Bevollmächtigten an dem künftigen Bundestage auf das eifrigfte, perfönlich jelbft der bairifche und der würtembergifche Gefandte Graf Rechberg und Baron von Linden. Bedenklichkeiten wurden allerdings darüber laut, inwiefern es gerathen für die Regierungen fei, den Zu- fammenhang der deutfchen Literatur zu verftärfen und deren fchnelle und fichere Verbreitung über alte deutfchen Staaten zu fördern. Mir war, fchrieb Perthed, vor allem das Gefpräh mit Buchholz merf- würdig, weil e8 mich einen Blick in die Anfichten thun ließ, die mir ‚in Wien entgegentreten.werden. Die von mir erftrebte Einheit des deutfchen Buchhandel® würde, meinte er, eine fehr gefährliche Waffe in der Hand der verderblichen Parteien werden und den fchädlichften Meinungen eine allgemeine Berbreitung auch in den Ländern fichern, wohin ‚fie bisher noch nicht gedrungen fein. Ganz ähnlich ſprach Ehriftian Schloifer au, dag er jede enge literarifche Verbindung des füdlih » fatholifchen mit dem nördlich- proteftantifchen Deutfchland für ein Unglüd halten müſſe; denn die Folge derfelben würde verftärf- ter Einfluß der fanatifch- proteftantifch-demofratifchen Partei auf da? ſüdliche Deutfchland fein. Schlegel dagegen flimmte meinen Anfid ten bei, fürchtete aber, daß ich in Deftreih auf großen Widerftand, weniger bei der Regierung als bei der Mehrzahl der Buchhändler, ftogen würde. In Deftreih, fagte er, lefe man nur wenige Bücher

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und ein fefterer Gefchmad fei davon die Folge. Die Nachdruder hät- ten daher einen fiheren Anhalt für ihrd Unternehmungeu und würden ſich den großen Gewinn, den fie aus ihrer ifolierten Lage zögen, nicht durch eine enge Verbindung mit dem deutfchen Gejamtbuchhandel entziehen lafjen wollen. Sehr .begierig war ich nach diefen Vorgän⸗ gen, fehrieb Perthes weiter, auf die Aufnahme, die ich bei dem öftrei- chiſchen Gefandten felbft finden würde. Graf Buol hörte mich auf- merffam an und antwortete nach einer kleinen Paufe: Wenn die von Ihnen angegebenen Thatſachen ihre innere Richtigkeit haben ind Sie in Wien vermögen, die ganze Angelegenheit fo Flar wie jept mir dar» zuftellen,,. jo kann Ihnen vieles gelingen. In jeden alle thun Sie fehr gut, nad Wien zu gehen; denn was aud hier der Bundestag audfprechen mag, Wien .ift doch allein der Ort, wo es zur Wirklich feit gebracht werden fann. Sie werden in Wien gut aufgenommen werden und ich felbjt werde mir eine Freude daraus machen, dazu beizutragen. Da wir in Deftreidh doch glauben, da8 Wahre und Rich tige zu bejigen, fo müſſen wir fünftig auch mehr als bisher Gelegen- heit geben, daß es aus unferem Lande herausgefprochen und gefchrie- ben werden fünne, und dürfen und nicht allzu fehr vor den SIrrthümern ſcheuen, die etwa hineingeſchrieben werden könnten. Bon Frankfurt bis Ulm durchreifte Perthes ein ihm ald Budh- händler ſehr wohl bekanntes Land. Die bedeutenden und mit ein- ſichtsvoller Thätigkeit geleiteten Handlungen von Leske in Darmitadt, Mohr und Winter in Heidelberg und Cotta in Stuttgart hielten Hefe jen, Baden und Würtemberg mit dem übrigen Deutichland in fo engem literarifchen Zufammenhang, daß felbit der räuberifch betrie- bene Nachdruck Würtembergs ihn nicht zu zerftören vermochte. Cotta’? Geſchäft vor allem ſetzte Perthes durch feinen Umfang in Erftaunen. Cotta übt, fehrieb er, einen unglaublichen Einfluß, einen Einfluß, deifen ganze Größe wenige ahnen. Wie die Allgemeine Zeitung die politifchen Stimmungen in Deutſchland und die europäifchen Anfich- ten über Deutjchland jehr wefentlich mit beftimmt, fo foll jebt das Morgenblatt alle nicht politifchen Geijtesintereffen in feinen Bereich. ziehen; die ganze geiftige Welt möchte Cotta buchhändlerifch umhalſen.

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In feiner perfönlichen Bedeutung, in feiner Zähigfeit, feinem großen Reichthum und politifchen Einfluß liegt wohl die Möglichkeit gegeben, daß der Buchhandel des füdmeftlichen Deutſchlands in eine einzige . Hand fommen und dadurch die Unbefangenheit des literarifchen Urs theils, die Rebendigfeit des Verkehrs und die Wirkſamkeit des Bertrie- bed geſtört werden könnte.

In Augsburg traf Perthes überall auf durchaus fremdartige Ders bältniffe. Hier fieht es, fchrieb er, wunderfam und abenteuerlich bei unfern Collegen aus: Augsburg ift eine Büchermelt für ſich und ift es fchon feit vielen Jahren geweſen; ich hatte viel Abfonderliches er- wartet, aber alle meine Erwartungen find weit übertroffen. Schon die Geichäftdabgrenzung der vielen und großen Handlungen gegen- einander ift überaus eigenthümlih. Da gibt ed „lateinifche Hand- lungen“, die nur kirchliche, urfprünglih wohl nur in lateinifcher Sprache gefchriebene Werfe, und „proteftantifhe Handlungen“, die auch Werfe verlaufen, welche außerhalb Augsburg gedrudt find, es gibt Handlungen, die nur außerhalb Augsburg verfaufen oder, wie e3 bier heißt, den Landhandel treiben, dann hört man von Bücher- ejeln, d. h. Antiquaren, reden, von Apoftelhandlungen und von vie len Heiligen» und Apoftelfabricanten. Der Abſatz aller diefer Hand⸗ lungen ift fo unglaublich groß, daß, wenn man nur die Bändezahl in Betracht zieht, nicht im entfernteften irgend eine andere Stadt Deutfch- lands mit Augsburg verglichen werden kann. Laß Dir den Gefchäftd- betrieb einer einzelnen Handlung erzählen. An der Spike der gro- gen Handlung: Matthias Rieger's Erben, fteht ein fehr kluger, ein- fiht3voller, braver Mann; fie verkaufen in Augsburg gar nicht, ha- ben daher auch feinen Laden; ftille hinter großen eifernen Gittern ars beiten fieben Gehilfen, in Augsburg geboren und erzogen, geblieben und verheirathet, zwei Reifende aber durchziehen Winter und Som⸗ mer Oberjchwaben, die Rheingegenden bis Köln, ganz Baiern, die Schweiz und Tirol bis Bogen. An diefe Reifenden hat fi ihr Pu- blicum fo gewöhnt, daß alle Beftellungen nicht allein auf Bücher, fondern auch auf Kunftfahen, Bilder, Papier, Leinen, Schmud, kurz auf alles mögliche Augsburger Gut bi zu deren Ankunft aufge-

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hoben werben. Sährli im September oder October wird ein Katar log neuer und älterer Bücher gedrudt und in dritthalbtaufend Erem- plaren verbreitet. Die beftellten Bücher werden den Beſtellern frei ind Haus geſchickt. Früher hatte die Handlung einen fehr bedeuten- den Verkehr mit Jtalien, namentlih mit Venedig, wo fie ihre Bücher gegen Ausgaben der Kirchenväter und ähnlicher Schriften vertaufchten. est können fie Werke diefer Art nicht mehr gebrauchen, mit Geld aber wollen die Staliäner nicht bezahlen, und fo hat der Berfehr faft ganz aufgehört. Bid zu den franzöfifhen Kriegen konnte die Hand⸗ lung feſt darauf rechnen, von jedem Buche, welches fie drudte, mochte ed zwei oder fünfzig Gulden foften, fünfhundert Eremplare an die Klöfter und an die Geiftlihen zu verfaufen. Die zweite Handlung, die ich mir befah, war die von Joſeph Wolf: fie befteht weit über hundert Jahre und hat einen fehr bedeutenden Verlag theild größer rer katholiſcher Werke, theild allgemein verbreiteter Volksſchriften; der Himmeldweg für rechtfchaffene Weibsleute z. B. wird jedes Jahr in dritthalbtaufend Eremplaren, manche andere Schrift der Art in tau⸗ fend und in achthundert Gremplaren neu gedrudt. Mit Leipzig fteht der Beſitzer bis jegt in gar feiner Verbindung. Schon aus der Be- kanntſchaft mit diefen beiden Häufern konnte ich lernen, wie die Sache jest in Augsburg fteht, und ich habe meine Anficht durch die Gefprä- Ge mit andern Augsburger Buchhaͤndlern beftätigt gefunden. Die Augsburger Handlungen hatten bi? in die neuefte Zeit nicht nöthig, ih an dem Buchhandel des übrigen Deutfchlands zu betheiligen und die hiermit verbundenen Gefahren und Unbequemlichfeiten zu über« nehmen. Sie wurden fo mohlhabend wie feiner unter und, indem fie größere kirchliche Werke an die Klöfter und hohe Geiftlichkeit, fleinere religiöfe Schriften an Bauern und Bürger in einem weiten Umfreife abfesten. Das alles ift nun vergangen: die Klöfter find _ aufgehoben, die Geiftlichen verarmt, Bürger und Bauer wollen nicht mehr, wie früher, die dargebotenen Schriften lefen; hier und da ift ein eigentlich literariſches Bedürfnis erwacht. Alle Handlungen, auch die größten, fühlen Die Nothwendigfeit, in den allgemeinen deutfchen Buchhandel einzugehen, „proteftantifhe Handlungen” zu werden ;

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aber fie können ſich noch nicht entfchließen, von der alten Gemaͤchlich⸗ feit zu ſcheiden. Daher haben die Handlungen in Ulm, Nürnberg und Erlangen vorläufig bedeutende Gefchäftsverbindungen in diefer Gegend, da® aber wird bald.anderd werden. Binnen kurzer Zeit gehört Augsburg gewiß dem deutfchen Buchhandel an und wird dann von großer Bedentung fein; feit langer Zeit ift.man weit umher ge- wöhnt, viel Geld für Bücher auszugeben, wenn auch nicht für die rechten. |

Nachdem Perthed während feines Aufenthaltes i in Wien aud ein Bild der öſtreichiſchen Zuftände gewonnen hatte, fchloß er feine Be- richte an Beller mit den Worten: Für mich habe ich vieles, fehr vieles gelernt und mandes Samentorn habe ich hier in Wien und aud an andern Orten audgeftreut ; ob und wann aber daraus eine Saat auf- gehen wird; weiß Gott.

Biertes Bub.

Perthes' brieflicher Verkehr über die politiſchen

und religiöſen Fragen

von der Zeit des Wartburgsfeſtes bis zur Zeit der europäis ſchen Congrefie in Troppau und Laibach.

1817 1822.

Die Bewegungen im Bolte bis zn den Karlsbader Beſchlüſſen im Spätfommer 1819.

Kurz vor Perthes’ Rückkehr nach Hamburg hatte Beſſer ihm die Worte gefehrieben: Du bift ausgezogen, Deutfchland zu fuchen, und Du haft es, fcheint mir, nicht gefunden. Ungefähr fo war ed wirklich. Am Rhein, in Würtemberg, in Baiern und in Oeſtreich hatte Perthes zwar an Sinnedart und Sitte viel Deutſches und auch den Wunfch nach einem mächtigen und glänzenden Deutfchland getrof- fen, aber zugleich fehr deutlich bemerken können, daß der Süddeutfche die Unabhängigkeit und Abgefchloffenheit Badend und Würtembergß, Baierns und Oeſtreichs nicht gefehmälert, die fouveränen Staaten, in denen er fich bewegte, nicht aus felbjtändigen Ganzen zu Gliedern eine® Ganzen gemacht, nicht dem einigen Deutfhland eingeordnet und einer deutfchen Gewalt untergeordnet wiffen wollte.

Obgleich felbit in den kleineren Ländern die Norddeutfchen eben fo feft wie die Süddeutfchen an ihren Einzelftaaten hingen, fo waren fie doch damals diefer Anhänglichkeit fi) weniger bewußt und gingen, aud wohl ohne ed zu willen, von der Vorausſetzung aud, daß ihnen, jelbjt bei der engften Verbindung mit den Süddeutfhen, da8 Ueber: gewicht nicht fehlen könne. Sie wollten ein glänzendes, feſtgeſchloſſe⸗ ned deutſches Neich und dachten mwenigftend vorläufig nicht daran, daß die Erreichung diefed Zieled den Einzelftaaten die Staatsnatur for fien werde. Heftiger und unruhiger noch als im Jahr 1814 trat feit 1816 auf? neue in vielen Theilen des nördlichen Deutſchlands das Drängen nad) einem deutfchen Reiche unter denen hervor, die Damals jung waren oder ſich jung fühlten.

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Perthes mußte zwar die Herftellung von Kaifer und Reich nad Rage der Dinge für eine Unmöglichkeit halten, aber er lebte der Meberzeugung,, daß.der Bundestag politifch verpflichtet fei, die Ein- heit Deutfchlands trog alles Widerftrebend der einzelnen Regierungen darzuftellen und zu verkörpern. Verwundern muß ich mich, fchrieb er um diefe Zeit an einen Freund in Preußen, daß Du in Deinen Be- trachtungen über die Deutfhen und deren Gefchichte nie das Wort Kaifer und Reich ausſprichſt. Worin hat dies feinen Grund? Ant- worte, die Hand auf? Herz, mein Freund! Einen ungeheuren Riß hat unfere Hiftorie erhalten, feitdem der Kaifer und verloren iſt. Als lerdings foll man, wie Du fohreibft, an den Verfaſſungen nicht brö- deln, fo wenig am Königsthron wie am Bauerngehöft. Aber an dem alten Kaiferthron, am heiligen Altar, daran ift fo lange gebrö- delt worden, bis der Thron zerbrochen und der Altar hörig geworden if. Das habt Ihr Ritter. nicht allein gelitten, fondern mit voll- draht. Soll nun das Bolt nicht zufehen, welche Majeftät für feine Ger famtheit man wieder aufbaue! Wir werden fünftig weder mora- liſch und hiſtoriſch, noch politifch ein Vaterland haben, wenn nicht die dee des Kaiferd auf den Bundestag und die Kraft des Kaifers auf das Bundeöheer übergeht. Als Perthes in ähnlicher Weife ſich gegen Graf Friedrich Leopold Stolberg audgefprochen hatte, antwor- tete diefer: Die vaterländifchen fehönen Hoffnungen, die Sie auch jest noch feithalten, erfreuen mein Herz; Gott wolle fie erfüllen! Auf dem Bundedtage ruht mein Auge ınit mehr Wunfh ald Ber- trauen. Daß Deftreich die Kaiferfrone in dem Augenblick verſchmähte, in welchem ganz Europa, fo zu fagen, ihm diefelbe anbot, dafür wird e8 felbft, dafür wird ganz Deutfchland, ja ganz Europa büßen.

Gleich ſtark wie die Einheit Dentſchlands befchäftigte die Frage nach der Form für die politifche Berechtigung der Unterthanen in den einzelnen Staaten die Gemüther der jungen und auch der alten Men- fhen jener Jahre. Heftiger und heftiger ertönte der Ruf nach der ſtändiſchen Vertretung, welche die Bundesacte verheigen hatte. Es iſt im Werfe, fchrieb Görred im Sommer 1817 an Perthes, den Bundes tag, wenn er wieder zufammenfommt, aus allen Theilen Deutich- lands mit Adreffen um endliche Ausführung des Artikels 13 zu befchi-

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den. Der 18. October fol der Tag der Unterzeichnung gleichzeitig an allen Orten jein und bis dahin die Sache verſchwiegen bleiben. Ich weiß nicht, was aus unferem Baterlande werden foll; es ift alle® in⸗ nerlih gar zu wurmftidig, faul und feig und verträgt feine Kritif und weiß fein freied Wort zu achten und zu ſchätzen. Es kann nicht fcha- den, wenn die Maffe fih einmal rührt und ruft und ftampft und ei- nige Ungeduld laut werden läßt, damit die Regierungen erfahren, es jei den Leuten Ernft um die Sache. Auch dürfen wir den Bundestag, fo wenig er auch ift, nicht fallen laſſen; feine fchwächlichen Elemente bedürfen vor allem einen Rüdhalt gegen die Höfe und einen Rechtfer- tigungsgrund für Fräftigered Hervortreten. In Hamburg fönnten Sie die Unterzeichnungen wohl leiten und in Lübeck und Bremen anre⸗ gen. ch habe nun, fehrieb Görres einige Monate fpäter, meinen anfänglichen Plan geändert; um feine Behörde zu übergehen, habe ich zunächft eine Adreffe an den König entiworfen. Sie ift hier in der Stadt allgemein unterfchrieben worden; dann habe ich fie Durch das ganze Land getrieben, und Dorf für Dorf bis auf zwanzig Stunden Entfernung ift beigetreten. In wenigen Tagen wird der Staatskanz⸗ ler hier anlangen; dann will ich fie ihm zuftellen und demnädhft die Adreſſe an den Bundestag in Umlauf fegen, Mir ift vor allem daran “gelegen, die Leute einmal einftimmig zu einem politifchen Werke zu- jammen zu bringen. |

Bis zu den deutfchen Oftfeeprovinzen Rußlands reichten die Wel- len, welche die Bewegung in Deutfchland aufgeregt hatte, und riefen auch dort verwandte Stimmungen, wenn auch in anderer Geftalt, hervor. Bom Adel felbit find die wichtigen Verhandlungen über die - Aufhebung der Leibeigenfchaft ausgegangen, heißt e8 in einem Briefe, den Perthes im März 1817 aus Livland erhielt; fie befchäftigen alle Gemüther; auch die Widerwilligen unter meinen Standedgenoffen werden, wie ich hoffe, in nicht langer Zeit bemerken, daß der freie Mann in allen bürgerlichen Verhältniffen ein beflerer ift als der leib- eigene Sklave. Ich felbft bin bei der Sache in fehr hohem Mape be» theiligt, aber ich glaube feinen Berluft in meinen Einnahmen zu erlei- den, im ganzen wurde unfer Bauer immer gut behandelt und hatte

ein eben fo reichliche® Leben, ald er ed in feinem neuen fünftigen Ber- perthed’ Leben. Tl. 4. Aufl. 10

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haltni® nur haben kann. Für mein Einfommen kann es daher feinen Unterfchied machen, ob derfelbe Bauer als Leibeigener oder ald Pach- ter meine Güter bearbeitet.

. Binnen wenigen Tagen erwartet man die Problication d der neuen Bauernverfaſſung, ſchrieb im Februar 1818 derſelbe Mann, und dann ift die Aufhebung der hiefigen Leibeigenfchaft mein erfted Ge- fhäft. Manches Jahr wird freilich noch verftreichen, bevor auch die Aufhebung der Seelenleibeigenfchaft erfolgen fann. Die Bauern- verfaffung ift zwar, beißt e8 im Juni 1818, vom Kaifer beftätigt, _ aber wohl deshalb noch nicht publiciert, damit diefelbe in Livland wie in Efthland zugleich zur Anwendung kommen fann. Sn jeder der drei Oftfeepropinzen ift auf faiferlichen Befehl eine Commiſſion er- nannt, um die Provincialgefege zu fammeln und möglichit überein- fimmend zu bearbeiten. Wir leben bier in der freundlichen Hoff- nung, daß aus diefer Gefepgebung vielleicht eine conftitutionelle und fefte Beſtimmung der Rechte aller Stände hervorgehen werde.

Das Kämpfen und Streiten jener Jahre fah Perthes ala die noth⸗ wendige Folge ded Ganges an, den die Geſchichte Deutſchlands ge nommen hatte. Cinnigdenfende und tüchtig rührfame Menfchen wer- den ſich, fehrieb er an Jacobi, gewiß immer wieder zufammenfinden; aber je unmittelbarer die Geſchichte das Aufeinanderfolgende zufam- mendrängt, um fo heftiger und allgemeiner wird der Streit fein. In anderen Epochen liegt die Verſchiedenheit der geiftigen Richtungen, des gefamten Denkens und Wollen? getrennt durch Jahrhunderte aus» einander; unfere Zeit aber hat das völlig Unvereinbare in den drei jebt gleichzeitig febenden Generationen vereinigt. Die ungeheuren Ges genfähe der Jahre 1750, 1789 und 1815 entbehren aller lebergänge und erfcheinen nicht ald ein Nacheinander , fondern als ein Nebenein- ander in den jet lebenden Menfchen, je nachdem diefelben Großväter, Väter oder Enkel find. Das muß wohl heftigen, fihroffen Streit geben, und wie würde es erft fein, wenn in unferer, mit unglaub» ficher Schnelligkeit alled Denken und Wollen umgejtaltenden Zeit mit ung zugleich Die zwei oder drei Generationen, welche zunaͤchſt auf und folgen werden, leben und kämpfen könnten! Perthes fand das Daſein des Kampfes nicht nur erflärlich, fondern freute fich auch des

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eifrigen Drängen? und Strebend. Du erwähnt, fehrieb er an You- que, wie ich Dir 1815 gejagt hätte: „Nun der äußere Kanıpf beftan- den ift, wird es erſt recht faure, ja auch bittere Arbeit geben; denn der Streit der Geifter wird beginnen.” Nun, glaubft Du, würde «8 mir leid fein, Necht behalten zu haben. Keinesweges ift ed mir leid. Sieh, lieber Fouqué, hienieden foll der Menfch arbeiten, viel arbei- ten, in welcher Arbeit ed auch ſei; das ift Gottes Wille. Der Menſch bat mehr Zeit, ald er in bloßer Liebe und innerer Befchauung ver- brauchen fann. Darum: bete und arbeite; und Kampf und Streit ift auch eine Arbeit. Es reicht nicht aud, dag wir freunde und in Liebe die Hand geben; wollen wir und in Cchrift oder Ihat über Sein, . Leben, Treiben und Verhältniffe der Menfchen verftändigen, fo ftehen wir gegen einander, find verfchieden, müſſen ftreiten, kämpfen, bi® ein Ziel errungen. Auch. Du liebft ja nicht das ftille ſtehende Waſſer der Gleichgiltigkeit, den Sumpf der Rachgiebigfeit und Fügfamteit. Warum alfo betrübt fein über den Streit in diefer Zeit, wäre er au unter Freunden? Nie aber muß eine fchlechte oder unedle Waffe ge- braucht werden und immer fege man bei dem Gegner gerechte Waffe voraus und glaube, daß aud er dad Rechte und Gute wolle Nur dann erft, wenn man nad ruhiger Prüfung das Gegentheil weiß, ift der gerechte Eifer, der mit Schwert und Peitfche in offener Fehde die Lügner aud dem Heiligen treibt, Gott wohlgefällig. Das ift des rechtlichen Mannes rechtlicher Sinn. Unſer Volk ift feinem Inneren nad) ein noch fehr junges, in langen Zeiträumen erft zur Reife ge- deihended Volk, welches nach Stolberg's herrlihem Ausfpruch ala Herz Europa's die Erfüllung eines hohen und ſchweren Berufes zu feinem Ziele hat. Und eben deshalb ift unfere Gefchichte nicht ein Abge- ſchloſſenes, fondern fegt fih fort, und nichts Weltlich- Zeitliches aus unferer Urzeit oder Borzeit oder legtvergangenen Zeit darf mit flarrer Beharrlichkeit verhölzert, verfnöchert oder verfteinert werden; nur das Ehriftlih-Sittlihe beftehe und bleibe, weil es über aller Gefchichte fteht. Durch ernfte und befonnene Männer ward Perthes indeflen auch daran erinnert, daß der Kampf nicht deshalb fehon, weil er Kampf fei, als lebendiged LXeben gelten könne, und dag nicht noth- wendig jeder Kampf zum Siege führe. 10 *

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Mag der Gang der Dinge noch fo glüdlich werden, fchrieb ihm im Sommer 1817 ein Freund, fo wird doch mancher heiße Wunfch der Zeit unerfüllt bleiben. Darüber kann ich mich ſchon deshalb trö- ften, weil nicht alle, was heftig erjtrebt wird, deshalb fchon das Befte oder auch nur das Gute if. Trogdem aber bleibt ed gewiß, daß, wenn wir in unferer Zeit nicht mehr wollten und wünfchten, als zu erreichen und beftimmt ift, auch das Erreichbare und vorenthalten bleiben würde. Auch ift die Kraft deshalb, weil ihr der Erfolg. fehlt, nicht nethiwendig verſchwendet; in anderen Richtungen als in den beabfichtigten kann fie gewirkt haben und am Ende doch noch den Punkt treffen, auf den es abgejehen war. Im Leben der einzelnen wie in den Schidfalen der Völker wird fich Leſſing's Spruch häufig bewähren, daß die grade Linie nicht immer die fürzefte iſt. Gleich den Juden wandern wir durch die Wüfte, um zu dem gelobten Lande zu gelangen, und bedürfen wie die Juden noch vieler Vorbereitungen und Reinigungen, damit die Freiheit auf der rechten Grundfäule ge- baut werde und in Züchtigfeit ded Sinned, in Liebe ded Gemüthes und in Klarheit der Einficht die Gewährleiftung ihrer Dauer erhalte.

Wunſch und Streben war in jenen erften heftig bewegten Jah⸗ ren nach den Freiheitäfriegen nicht auf Verneinen und Zerftören,, fon- dern auf Schaffen und Herftellen gerichtet, und darin lag das Edle und Anziehende diefer Zeit. Ich Fenne, fehrieb Perthes, Fein de- mofratifched Streben in Deutfchland, aber wohl ein Drängen und Treiben nad) einer Ordnung für da8 Gefamtvaterland; man will den Erfag fehen und haben für die zerbrochenen alten Majeftäten: Kaifer und Kirche, man vertraut wohl den Anordnungen der Negenten, aber auch dem beften Negenten will man doch nicht ohne Necht gegenüber: ftehen. Dbfchon jene Zeit nicht zerftören, fondern fchaffen wollte, wußte fie doch nicht, was gefchaffen und bergeftellt werden follte. Weil man die wirklichen Berhältniffe mehr unabfihtlih als ab- ſichtlich überſah, trug die ganze Richtung einen phantaftifchen und bei der Heftigfeit, mit welcher da® Unbeftimmte und deshalb Unerreich- bare gewollt wurde, und bei dem Hochmuthe, mit welchem viele auf ihre eigene politifche Einfiht und PVortrefflichkeit fahen, oft genug einen verrüdten Charakter. Das erfte Hervortreten der Burſchenſchaft

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und das phantaftifche Wartburgsfeſt von 1817, welches die Schlacht bei Leipzig und die Reformation in wunderlichfter Weife zu einer Feier verſchmolz, gab diefer Stimmung mit allen ihren edeln und allen ihren verkehrten Seiten einen treffenden Gefamtausdrud und mußte - wohl harte Beurtheilungen hervorrufen. Sch würde, heißt es in ei- nem Briefe an Perthes aus Berlin vom 29. November 1817, Ihnen fein Wort von dem Unfuge auf der Wartburg fagen, wenn ich Shnen nicht, was Sie nicht wiſſen können, mittheilen wollte, daß Richelieu bereit3 deshalb eine Note an unferem Hofe hat übergehen laſſen, und daß in jeder Stunde aud Moskau eine ähnliche mit voller Salbung Sie feinen ja die Sprache dorther erwartet Mird und daß Deftreich die vollfte Strenge gegen die Preſſe angelegt willen will. Auch von dem Beifte, durch. welchen Weimar in diefer Sache bis zum Schwindel und bis zum Schügen und Schäben der Frechheit getrie- ben ift, können Sie fich feine Vorftellung machen. Mir fällt Leſſing's Ausſpruch von dem Wirthe ein, der in feiner Kneipe die Leute fich ruhig prügeln und morden läßt. Sie loben den Emft der Jugend, fchrieb um diefelbe Zeit Friedrich Leopold Stolberg an Perthes; ich möchte mich darüber, wie über fo vieled, mündlich mit Ihnen au?- Iprechen können. Lieber wünfchte ich an unferen Jünglingen fräftige Freudigfeit zu fehen; diefer frühe Ernft feheint mir eine wenig ver. heipende Nothreife. Wohl weiß ih, daß in einem Theile unjerer deutfchen Jugend von jenen herrlichen Zahren der Behauptung unfe- ter Yreiheit her ein guter, fehr edler Geift fich regt. Aber es ift doch nicht der natürliche Weg, daf ein Bolt von unten her, von der Jugend au? fol erleuchtet werden, und dag die Männer ſich wie Kin« ber begeifern. Auch die beften Sünglinge bedürfen des Rüdhaltes, des Beifpield, der Leitung. Und jept hören fie fo viel von ihrer Treff- lichkeit, daß ihnen die Köpfe leicht umgehen mögen. Wo e8 an Xelteften fehlt, da fehlt e8 der Jugend an Schuß gegen den Wind, wie jungen Bäumen, wo feine alten Stämme find. Perthes indeſſen blieb. der Meinung, daß nach) Rage der Dinge dad Ziellofe, Unſichere und Phantaftifche nicht nur erflärlich , fondern wenigftend bei Jünglingen . und jungen Männern aud) verzeiblich ſei. Selbit an dem damaligen preußifchen Hauptinann von Plehwe, jenem tief aus dem Innern

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aufgeregten Burfchenfchafter in Gardeuniform, fah er über die zu Tage liegenden Berfehrtheiten hinweg und nur in das ehrliche und warme Herz hinein. Daß Plehwe Eindrud auf Dich machen mußte, fhrieb er im October 1817, wußte ich wohl. Der innige unmittel- bare Bezug auf den Höchften, die einfache Anficht deffen, was hie- nieden ift, das ernfte, große Maß, mit welchem er die Menfchen mit, und die große Redlichkeit ded Innern, Died alles ift eine feltene Er- ſcheinung. Sch hatte ihn ſcharf in Prüfung genommen; ih weiß wohl, an welchen Seiten die Berfuhung zum Böfen fi ihm nahen fann, aber dennoch ift er mir wie ein wirklich Begeifterter vorge fommen.

Die Stimmung, wie fie in mandhen bedeutenden Männern ge= gen das Ende des Jahres 1818 lebte, drückt fich in einem Briefe auß, den Görres im December an Berthes fchrieb: Sie haben, mein lie ber hanfeatifcher Freund, gejehen, heißt es in demfelben, wie fi feit Ihrer lebten Zufchrift der feigfte und plumpefte Despotismus in meiner Adreßgefchichte benommen. So ſchwächlich und erregbar find diefe Leute! Der geringite Reiz, den man an fie bringt, erregt De- lirium und Krämpfe, und reizt man nit, fo verfallen fie gleich in Stumpffinn und Lethargie. Darum eben war der rheinifhe Mercur eine fo diätetifche Disciplin; jeden zweiten Tag reicht er ihnen eine Salbe, die nach Umftänden aus bitteren, erregenden, calmierenden, gelind eröffnenden oder Efel machenden Subftanzen zufammengefeßt war. Dadurch wurde das Gleichgewicht ziemlich erhalten, eine ge linde Trandfpiration befördert, Die zu große Erregbarkeit abgeftumpft und die Rebendgeifter wieder in einer beftändigen Uebung umgetrieben. Nach dreijährigem Stillfhweigen wollte id) wieder einmal durch Die Adrefie eine Leuchtlugel unter die Parteien werfen und ich fann nicht fügen, daß fie viel Erfreuliches beleuchtet hatte: Fürften, die in der Unglücksſchule ftudiert, aber gar nicht? begriffen haben, nicht ein- mal fo viel, daß fie ihre Würde in Acht zu nehmen wiflen, Minifter von gutem Willen, aber ohne Kraft, ohne Entſchiedenheit und Muth, eine höfiſche Oppofition, fchlecht weniger durch Anweſenheit von pofitiver Bosheit als durch die gänzliche Abweſenheit alles Gu- ten, dumm bis zur Beftialität, plump wie ein Rhinoceros, feig und

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erbärmlich und unter aller Kritit von oben bis unten; eine demokra⸗ tifche Partei ohne Einheit und Zufammenwirken, ohne Standpunkt und Baſis, unthätig, jeder Jllufion nachlaufend, immer boffend, es werde alles über Nacht fih von felber machen, ohne Tact in den Führern, ohne Grundſatz, ohne Weltanficht, hochmüthig, eitel, Teicht- finnig, zerftreut und vergeplich, verworren und ewig ohne Refultat, fich felber widerfprechend , zugleich feig und anmaßend, ohne Haltung, NRahdrud und Ruhe. Das find die Herrlichkeiten diefer häflichen Zeit, wie man fie eben von einer Generation erwarten kann, die jede Eitelkeit und jede Demüthigung verfucht, die auf der Zinne ded Tem» pels geitanden und durch jeden Koth ſich hat durchichleifen laffen, die nur im Zerftören Talent gezeigt, im Bauen aber gänzliche Impotenz. Sie wird nichts fertig bringen als den Anfangspunkt von etwas Beflerem, wie die Juden, die, aus Aegypten audgezogen, vierzig Jahre in der Wüfte gelebt und das gelobte Land nicht gefehen. Es er- wächlt wirklich ein beſſeres Gefchlecht, von dem man ohne Leichtfinn und Selbſttäuſchung viel Gutes erwarten fann. Unter Zittern und Zagen ift nun, fügte Görred noch hinzu, die Univerfität in Bonn aufgethban. Sie kann viel Gutes bringen, wenn der Unfegen fie nicht trifft, der auf alles, was ſich von heute oder geftern her datiert, zu fallen pflegt. Arndt mit feinem Geifte der Zeit hätte beinahe einen Fluch auf fie noch im Mutterleibe herabgezogen; inzwifchen iſt die . Arme dem Unglüd doch glüdlich entgangen und liegt, ein ſchwaches Kindlein, in Baumwolle eingepadt. Mich haben fie zu groß oder zu klein in Geiftedlänge für fie gehalten, dagegen aber fonft allerlei mir angetragen, was ich audgefchlagen , weil ich auf eigenen Füßen ftehen und mich den Winden nicht Preis geben will, von denen man nicht weiß, von wannen fie fommen und wohin fie ziehen.

Mit Recht gilt dad Yahr 1819 ala ein Wendepunkt in der Ge ſchichte Deutſchlands. Es offenbarte nicht nur den feindlichen Gegen- ſatz zwiſchen Obrigkeit und Untertbanen, fondern gab demfelben auch eine neue und gefährlichere Geſtalt. In wachjender Stärke trat die Meinung hervor, es fei das erftrebte Reue nur deshalb nicht erreicht, weil man dad beitehende Alte noch nicht vernichtet habe; eine große Zulunft werde ſchon von felbft fommen, fobald nur erft das Be⸗

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ftehende nicht mehr beftehe. Es gewann fomit da8 Streben, Beftehen- des au zerftören, mehr und mehr dad Uebergemicht über das Streben, Neues zu Schaffen; das innerfte Wefen der herrichenden Richtung wurde aus einem Pofitiven zu einem Negativen. Die Romantik der Freiheitd- friege verſchwand aus der politifchen Stimmung und machte dem Haſſe gegen die politifche Gefamtordnung, gegen die einzelnen Regierungen und gegen die Bundedverfammlung Pla. Die Zuneigung zu Ruß⸗ land und dem Kaifer Alerander verwandelte fich in Groll, das eben noch bitter angefeindete Frankreich wurde bald feiner Kammeroppofition wegen bewundert umd geliebt. Durd) die Preſſe, auf den Zurnplägen, in der Burfchenfchaft und in den Verhandlungen der neu eingeführten Stände machte fid) die veränderte Stimmung Luft und mehr ald eine Flugfchrift und mehr als. eine Berfammlung vertheidigte die Anwen- dung auch verbrecherifcher Mittel, fofern fie zur Befeitigung des Bes ftehenden geſchickt ſeien. Im füdmeftlihen Deutfchland wurden von den politifchen Führern bereits Berfuche gemacht, fich mit Handwerkern und Bauern in Verbindung zu ſetzen, um fie zu geeigneten Werkzeugen heranzuziehen. Man feheint im nördlichen Deutfchland nicht recht zu wiſſen und nicht recht zu glauben, fehrieb ein nahe befreundeter und fehr gut unterrichteter Mann im April 1819 an Perthes, daß im Großherzogthum Heilen, welches unter feinen 600,000 Einwohnern 60,000 bewaffnete Landſturmleute hat, die fih ihre Waffen nicht mehr nehmen laffen, die Zügel nur noch formaliter in den Händen der Re- gierung find, deren Schwäche täglich fundbarer wird. Volksſchriften von entfchieden revolutionärer Tendenz circulieren in allen Dorfichaf- ten von Haus zu Haus und werden ſchon nach Kurheſſen, Naffau, Baden u. f. w. verbreitet.

Mit ſchwerer Sorge für die Zukunft ftand mancher edle und be- deutende Mann diefen neuen, damals Liberalismus genannten, po- litifchen Bewegungen gegenüber. Sept werden aud Sie wohl zuge. ſtehen, fchrieb Graf Cajus Neventlow an Perthes, daß ich in den Jahren der ausgedehnteften Hoffnungen feine ganz fehl fehende Kaf« fandra gewefen bin. Welche unglüdlihe Misgeburt oder welche eini- germaßen leidliche Lage der Dinge aus dem Streite hervorgehen wird, weiß ich nicht und weiß wohl niemand. : Da mir nun aber einmal,

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wie Sie fihreiben, etwas von der Tendenz, Echlimmes für die Zu- funft zu fehen, innewohnt, fo will ih Ihnen denn auch fagen, daß ich etwas früher oder etwas fpäter eine Revolution fürchte, welche fchlim- mer ift als alled, was wir bisher erlebt haben. Die in jo manchen Schriften zur Schau getragenen Robederhebungen der erbmonardifchen Form täufchen mich nicht; fie find wie die Ummidelungen in der Me- dicin, durch welche efelhafte Stoffe genießbar gemacht werden. Gleich ‚heit ift der Hebel des Zeitalterd und Gleichheit wird alles verzehren über kurz oder lang. Das ganze Streben dieſer Zeit, heißt es in einem Briefe von Friedrich Leopold Stolberg, it bemußt oder unbe- wußt auf politifche und religiöfe Zerrüttung gerichtet. Lange waren wir gedemüthigt. Da gedachten wir im Kriege an Gott und er er- barmte ſich unfer: fehnell aber vergaßen wir ihn, alles Dichten und Trachten war ohne Gott. Die Verhandlungen der Kammern in Mün⸗ hen, in Stuttgart, in Darmftadt tragen alle denfelben Charalter und erftreben ala höchites und letztes Ziel eine Verfaſſung, durch wel⸗ he Frankreich in Anardhie und Dedpotie gebracht worden if. Aus Teigheit laffen die Regierungen diefen Kobold der Zeit walten und wir werden, fürchte ich, aufs neue ein verzehrendes Läuterungsfeuer beftehen müſſen, bevor nach Jahren und wieder beijere Befinnung tommt. In Frankreich ift der Teufel nur mit ſchwachen Striden ges

bunden ;— wird, wenn er ſich losreißt, Deutfchland ihm zujauchzen oder _

ihn bannen? Die gräßliche Möglichkeit liegt vor, daß und aus der = allgemeinen Verwirrung eine vollkommene Barbarei entſtehe. Auch Perthes war von tiefem Mistrauen gegen die lauten Wort⸗ führer des Jahres 1819 erfüllt. Den Weg, den Sie wählen, kann ich nicht für den richtigen halten, ſchrieb er einem Freunde, fondern glaube, daß bürgerliche Freiheit nur dann zu erlangen ift, wenn die Glieder ded Staat? weniger an fi als an das Ganze denken. Eine ſolche Gefinnung aber fann in der hriftlichen Welt nur aus der Des muth vor Gott hervorgehen. Berhält es fich in diefer Weife mit dem Streben, dem Leben und Treiben unferer Liheralen? Ich fage: Nein. In den jebigen Volksmännern waltet Unfrieden und Zwietracht, meil fie dem Geifte der Selbftfucht dienen, und biefer Geiſt ift, wie ich fürdte, der r Geift, welcher dem Liberalismus eigenthümlich ift.

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Würden Sie, fragte Perthes einen heftigen Oppofitiondmann, nicht eben fo giftig räfonnieren, wenn die Regierung dad Gegentheil von dem, was Sie jeßt angreifen, gethan hätte? Ohne Zweifel, antwor- tete mit größter Ruhe der Gefragte, und Perthes wußte nun freilich nicht? weiter zu fagen.

Nicht in Verboten und Berfolgungen durch die Polizei, fondern nur in dem Streben, auf die Gefinnung tief im Innern unfered Vol⸗ kes zu wirken, fah Perthed den Meg zur Rettung uud wollte deshalb die beften geiftigen Kräfte der Nation zu einem Ringen mit dem Bö- fen. und Berkehrten verfammelt fehen. Der Boden, auf dem wir ſtehen, ift bi® zur oberften Rinde voll Feuers, fehrieb er im Sommer 1819; wer fharfe Sinne hat, wittert den Dampf und fieht die Jun fen fprühen. Sept dürfen die Männer, die im Leben ftehen, die Gott fürchten und feine Ordnung ehren,. nicht zufehen, wie der Schaden täglich größer wird, als er fehon if. Sehr zu ihrem Nachtheile un⸗ terfcheidet fich unfere politifche Literatur von der Englands und Frank⸗ reichs dadurch, daß fie bei uns ausſchließlich in den Händen der Stu- bengelehrten if. Ein Damm ift hierdurch gezogen zwiſchen Schrift und Leben, zwiſchen Worten und Thaten, welcher, wenn nicht bald Abhilfe fommt, gewaltfam zerfprengt werden wird. Und dennod ſchweigen fo viele, die reden könnten und follten, oder jammern über die böfe Zeit nur, wenn niemand als Frau und Kind es hört, und fagen zu ihrer Entfchuldigung, daß die politifche Schriftftellerei über- haupt nicht wire; ungeachtet aller Schreiberei bleibe falt oder warın, wer einmal kalt oder warm fei. So reden nicht allein alte banfe- rotte Revolutionäre und bequeme und überfatte Diplomaten, die mit dem gemeinen Federvieh fich einzulaifen Furcht haben, fondern auch Männer von warmem Herzen und politifcher Erfahrung. Staatszei⸗ tungen und Staatöflugfchriften und Staatszeitungsartikel helfen frei» lich wenig und gießen, weil fie für beftellte und bezahlte Arbeit gelten, nur Del ind Feuer. Sollte e8 aber felbft in dieſen Augenbliden größ- ter Gefahr nicht möglich fein, die redlichen und tüchtigen Geſchäftsmän⸗ ner aus allen Ländern Deutfchlands zur Herausgabe einer politifchen Zeitfchrift zu vereinen, damit die bisher in der Literatur unvertretene Wirklichkeit zur Geltung gebracht werde? Noch etwas anderes frei-

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lich müßten die Theilnehmer fehreiben koͤnnen, als den Noten⸗ und Protokollſtil, und weder ihrer Gefinnung noch ihren äußeren Berhält- niffen nach dürften fie nur Diener der Fürften und Minifter fein. Etwas der Art ift, wie ih höre, in Frankfurt im Werke; unter dem Namen „des Lootſen“ bereiten ſehr ehrenmwerthe und erfahrne Staats⸗ männer die Herausgabe einer politifchen Zeitfchrift vor, die bei Cotta erfcheinen fol. Kommt das Unternehmen zu Stande, fo haben alle, die es mit Deutfchland gut meinen, die Pflicht, dasſelbe in jeder Weiſe zu unterftägen und nicht nach der gewöhnlichen Weife den, der auf ihr Gefchrei das ſchwere und undanfbare Werk begonnen, gleich) nach dem Beginn allein zu laffen oder fich felbft durch Tadeln und Na» fenrümpfen den Schein noch größerer Weidheit zu geben. Gewinnen wir neben den Machwerken der Marktfchreier und der Stubengelchr- ten eine periodifche politifche Literatur redlicher, im Leben ftehender Männer, fo wird ein Kampf möglich, der nicht ohne Ausficht auf Sieg iſt.

In der Ermordung Kotzebue's durch Sand am 23. März 1819 trat allen erfennbar die Geftalt hervor, welche die Stimmung der Zeit in erhigten Köpfen anzunehmen vermöge. Heute ift, ſchrieb Per- thes, die Nachricht von Kotzebue's Ermordung eingetroffen und macht erftaunliche Bewegung in den Gemüthern. So wibderlich e8 ift, eine fo fhauderhafte Begebenheit mit der gemifchten Empfindung, welde - das Ende eined Scaramuz hervorruft, in ſich aufnehmen zu müllen, fo bedeutungsvoll ift fie als ſchwarzes Zeichen einer entfeplich aufge⸗ regten Zeit. Parteien, in Leidenfhaft bis zum Mord erregt, treten auf; große Misverſtändniſſe von beiden Seiten verfchleiern die Wahr- heit und Die geregelte Ordnung, die in Freiheit errungen werden fol. Kotzebue ftand da als Repräfentant einer Partei und als ein fehr ta- lentvoller; von der Furzfichtigen Jugend ward die Geftalt für Die Sache genommen und das Verbrechen war begangen. Thue die Aus gen auf und bleibe befonnen: bedenfe, wenn Arndt von einem Höf- ling oder einem Soldaten ermordet worden wäre, was hätte die wü⸗ thende Deutfchheit gefagt! Das Grauenvolle der entjeglichen Be- gebenheit liegt mir darin, fehrieb er etwas fpäter, daß der Ausbruch eines frevelnden und felbft verfäguldeten Wahnſinns faft wie ein Durch

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den Gang der Gefhhichte nothwendig gewordenes Ereignis erfcheint. Nicht der Abſcheu gegen den Mörder ift e8, den wir der vollbracdhten That gegenüber zuerft und vor allem fühlen folfen; darauf vielmehr fommt es an, daß wir alle, mögen Wir zur Obrigfeit oder zu den Unterthanen gehören, mit demüthigem Herzen in dem von Gott zu⸗ gelaffenen Morde eine lebte, mit gewaltiger Schrift gefchriebene War: nung Gottes erfennen, die und, nachdem alle milderen Mahnungen vergeblich gewefen find, die Augen aufthun foll über den gefamten Zuftand unfered Xebend, der eine folche Blutthat möglich machte, und über die Zukunft, der wir entgegengehen, wenn nicht eine volle und wahre politifche Wiedergeburt eintritt.. Die Keime zu neuen furdht: baren. Ereigniffen liegen in diefer That, die nur fheinbar Schuld ei⸗ ned einzelnen ift. Der einmal mit dem Dolche bewaffnete Fanatis- mus wird nicht bei dem Komödienſchreiber Halt machen.

Nach ihren verfchiedenen Seiten bin faßten Briefe, welche Per⸗ the® im Sommer 1819 von mithandelnden Staatdmännern erhielt, die in der herrfchenden Stimmung liegenden Gefahren ind Auge. Mir fehen bier, beißt es in denfelben, von Monat zu Monat mit größerer Sorge auf die politifhen Richtungen hin, welche im Volke bervortreten. Der Haß gegen die eigenen Regierungen ift furchtbar gewachfen, wir find bereit in einem Zuftande, in welchem die ein- . ander gegenüberftehenden Parteien nicht nur fi nicht verftehen kön⸗ nen, ſondern auch fich nicht verftchen wollen. Ein finftere® Brüten über Gegenftände, welche dem nächſten Kreife ihres Thund und Trei⸗ bens ferne liegen, hat fi der Deutfchen bemädhtigt. Kotzebue's Er- mordung ift wie eine aus vulcanifhem Boden bervorgeichlagene Flamme; die Flamme ift zu löfchen, aber das Feuermeer tief im In⸗ nern bleibt. Die Urtheile über die furchtbare That find entfeglicher ald die That, und machen die Hoffnung zu Schanden, daf die Stim- mung, welde das Ereignid möglich werden ließ, nur in einem klei⸗ nen eraltierten Studentenkreife zu Haufe fei. Die einzelnen Schuldigen kann man und foll man nach der vollen Strenge des Geſetzes ſtrafen; wollte man aber ein Schreckensſyſtem durchzuführen verfuchen, fo würden die Gefahren der drohenden Revolution nur vervielfältigt werden; an der Stelle jedes abgehauenen Schlangenfopfes würden

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zwei neue Köpfe hervorwachſen. Die Deutfchen haben das tiefſte Des dürfnis nach Gegenftänden gemeinfamer Liebe, gemeinfamer Achtung und gemeinfamer Hoffnung, und dieſes Bedürfnid hat auch nach dem Siege über Frankreich feine Befriedigung erhalten. Der Sieger viel- mehr fieht den Befiegten im Befiß großer nationaler Güter, fieht ihn als Volt geachtet und geehrt und fich felbft alled lebendigen politifchen Zuſammenhanges und aller politifchen Bedeutung beraubt. So find die Deutfchen zu dem Glauben gelangt, ſtatt Gegenftände gemeinja- mer Liebe nur Gegenftände gemeinfamen Haſſes zu haben. Keine Anftrengung und feine Gewalt der Regierung ift im Stande, einer folhen Stimmung gegenüber den politifchen Zuftand für die Dauer zu erhalten. Wir find verloren oder ed muß gelingen, die Nation dahin zu ‚bringen, ſich des Beftehenden zu freuen. | Während die Deutfchen in Deutſchland fih in Unzufriedenheit verzehrten, langen von Deutfchen aus fernen Ländern mande Rufe tiefer Sehnſucht nach dem lieben Vaterland hinüber. Obſchon ich, Ichrieb aus Kurland ein Deutfcher an Perthed, mit allen meinen per- ſoͤnlichen Berhältniffen alle Urfache habe fehr zufrieden zu fein, zieht mich die Sehnfurht doch ‚oft recht fehmerzlich nach meiner geiftigen Hei- mat. Wohl befteht manches höchſt Schöne und Würdige hier bei und und felbft im falten Petersburg; es fehlt und wirklich nicht? als war⸗ me Luft und warmes Leben: aber, ah, Wärme ift fo ſchön! Hier auf meinern am Oftfeeftrande belegenen Gute, heißt es ein andereö- mal, wo id) zum Seebade ein paar Wochen verweile und täglich eine Menge Schiffe vorüberziehen fehe, hier am weiten freien Meere ift der rechte Ort, um meine Klagen auszuſprechen, daß felbft das gei- ftige Gut des lieben deutfchen Lahdes, welches die See auf ihrem Rücken herüber trägt, in unferen Häfen zur Waare wird. Zollwär- ter benagen es und die Civilverwaltung durchräuchert es, wie wenn das gelbe Fieber in den Bücherpaden wäre; Bücher follen und nichts bringen ald Lobfprüche und Dankfagungen für Rußland. Ihre letzte Sendung ift wohl glüdlich gelandet, aber was hilft dad! Die eine Hälfte habe ich glüdlich in meine Gewalt befommen, aber die andere ‚Hälfte ift nah Mitau zum Eivilgouvernement abgegangen, fo daß 3. B. vom Converfationdlerifon ich die legte Hälfte habe und das Ci⸗

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vilgouvernement die erſte Hälfte; dieſe nun muß ich von den Beamten zu negotiieren, d. h. hier: zu erkaufen ſuchen. Unſere Cenſuredicte ſind ſchon gut in der Ferne, aber in der Nähe fieht man die Wunden, welche das böfe Leben jchlägt. Wenn ih vom Auslande her die Fort- fhritte der Eultur, die unfer Rorden macht, warm preifen höre, freut fi) mein Herz; aber fehe ich an Drt und Stelle meine zerfplitterten Bücher, fo erfältet fih an der falten Wirklichkeit meine freude. An unferem Staate fann jeder e8 lernen, daß der Civildienft nicht weni- ‚ger ald der Militärdienft des Principes der Ehre bedarf; ohne Ehre in den Beamten geht alled zu Grunde, und Recht und Geſetz wird zur Kabel. Celbft mit dem beiten und ftärfften Willen kann die höchfte Staatögewalt das nicht-fchaffen, was mit Ehre in der Bruft fih von felbft macht. Der Schreiber diefer Zeilen hatte feinem Briefe die Entfchuldigung ded Beamten, welcher das Bücherweſen be- forgte, im Original beigelegt. Euer .... find die Schwierigkeiten binlänglich befannt, heißt es in demfelben, welchen das Einbringen von Büchern unterworfen ift, bemerken muß ich aber, daß Eure... felbft daran ſchuld find, wenn ed nicht beifer mit der legten Sendung gegangen ift. Hätten mic) Diefelben früher dDiefermegen benachrichtigt, um die gehörigen Einleitungen treffen zu können, fo würde jede Un⸗ annehmlichkeit zu vermeiden gewefen fein. Unter fo bewandten Um- ftänden aber ift da®, was ich gethan habe, alle®, was mir zu leiften möglich war, und wenn die Herren des Civilgouvernements für ihre Gefälligkeit ſich ald Gegengefälligfeit das Durchlefen einiger Bücher vorbehielten, fo halte ich das nicht für unbillig. Die gehabten Aus- gaben berechne ich gelegentlih. Nun habe ich mich mit dem Zoll arrangiert, ſchrieb Perthes’ Freud etwas fpäter, und werde fünftig die gefendeten Bücher fchon unverfehrt herausholen.

Je länger ich hier bin, um fo mehr Sehne ich mich nad) der Hei- mat, fhrieb eine in dem erften Kreife London? lebende Frau an Per⸗ thed. An der Seite meined Mannes, bei meinem Kinde, in meinem Haufe fühle ich mich wohl, aber England ift und bleibt" mir fremd. Merkwürdig ift dad Land, aber liebendwärdig nicht: die Frauen find fo wenig oder doch fo einfeitig gebildet, daß man feine Freude an ihrem Umgange hat, und mitten in dem Gewühle der großen Welt

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fühle ich mich einfam. Wie fehr England in allem, was Bildung und Erziehung betrifft, zurüditeht, glaubt niemand, der es nicht felbft gefehen hat. Biel körmten die Engländer von und lernen, und die deutfche Mutter, die gezwungen ift, bier ihre Kinder zu erziehen, ift fehr zu bedauern. Im Volke fehlt ungeachtet des vielen Redend vom Ehriftenthume das religiöfe Clement in erfehredendem Grade; von den Geiftlichen lebt eine große Zahl gar nicht in ihren Gemeinden, fondern läßt fih durch Vicare vertreten, die Sonntags ihre Gebete halten und fonft fi) um wenig fümmern. Es ift faft unbegreiflich, wie man in manchen Dingen fo weit und in anderen fo zurüd fein fann, wie die Engländer. Wenn ich in das liebe Vaterland zurüd- fehre, fo werde ich mehr deutfch fein ald vor meinem Aufenthalte in London darauf verlaffen Sie fih. Geſetzliche Freiheit und politifche Sicherheit genießen wir vielleicht in höherem Grade ale Deutſchland, heißt e8 in einem Briefe an Perthed aus Schweden. Der König ift geliebt, will wahrhaft das Befte und befept oft gegen den ganzen Staatsrath die erledigten Aemter mit den tüchtigften Män- nern. Der Kronprinz gibt große Hoffnungen und ift fo allgemein geehrt, daß der Vater felbft zumeilen darüber eiferfüchtig wird, ob- gleich er nicht ohne ihn leben kann, weil er ihn außerordentlich Tiebt. Das Land arbeitet fih nach allen Seiten bin allmählih in die Höhe und namentlich der Aderbau hat feit einigen Jahren große Fortfchritte gemacht; große Streden werden jedes Jahr in urbared Land umge- wandelt. Nur der Geldmangel ift außerordentlich drüdend und die Cireulation bei dem Fehlen großer Städte fehr befchräntt. Diefes und das auffallende Misverhältnis zwifchen Confumenten und Pros ducenten hindert das fchnelle Aufwachfen des Landes; denn geiftig erweckt ift e8, aber die vorhandenen alten ftaatswirthfchaftlichen Feh⸗ ler ſchnell zu verbeffern, geht nicht Teicht unter der beftehenden Staate- berfaffung. Denn jede Veränderung muß nothwendig gegen das In- terefle de® einen oder des andern der vier Stände anftoßgen, durch welche das Land repräfentiert wird; der bedrohte Stand bietet dann alles auf, um noch einen zweiten auf feine Seite zu ztehen und Stim⸗ mengleichheit, die eine Aenderung unmöglih macht, hervorzurufen. Da indeffen die Nation ald Ganzes wirklich das Beflere will und der.

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Preife wenig in den Weg gelegt wird, fo arbeitet ſich das Gute ben- noch langfam aber fiher durch. Mir ift, wie Sie fehen, Schweden fieb und werth, aber wer auf deutfchem Boden und in deuticher Luft groß gezogen ift, kann Deutfchland nie vergeffen; überall wird er ein Fremder fein und fich überall nach lebendigem Zufammenhang mit der irdifchen Heimat feines Geifted fehnen. Hier aber erfahren wir von dem, was Deutfchland und die Welt bewegt, wenig oder nichts. Der Schwede hat nur ein Intereſſe für dad, was fein Vaterland be⸗ trifft; die wenigen auswärtigen Zeitungen, die zu und gelangen, kön⸗ nen fein Bild der Zeit geben, und deutfche, franzöjifche oder englifche Bücher ſich anzufhaffen, überfteigt bei unferem höchſt nachtheiligen Courſe und bei der Schwierigkeit ded Verkehrs alle Kräfte des Pri- vatmanned. Die deutfche Nation, Regierungen ſowohl wie Bolf, ift Sypochonder geworden, heißt es in dem Briefe eined andern ent⸗ fernten Freundes. Ihr redet da drüben fo viel von Gefahr und Un⸗ tergang, daß Ihr aus Furcht vor dem Sterben wirklich fterben wer- det; fchafft Ihr Euch aber die Todesangft vom Leibe, fo feid Ihr ge- fund, fo weit der Menfch auf Erden e8 eben ift. Ihr habt fehr viel eingebildete Uebel und viel wirkliches Gute; weil Ihr aber Hypochon⸗ der feid, werdet Ihr Argerlih, wenn Euch jemand fagt: Lieber Freund, es fteht wirklich nicht fo fhlimm mit Dir. Seht nur ein- mal Franfreih an: dort ift viel wirkliches Webel und viel eingebilde- tes Gute, aber alle Welt ift doch fröhlih und guter Dinge in dem Iuftigen Bewußtfein, die große Nation zu fein. Könnte das deutfche Volk einmal die große Tour durch Europa machen, fo würde fie es nach ihrer Rückkehr doch ganz erträglich in den vier Pfählen finden.

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Die Haltung der Regiernugen um die Zeit der Karlsbader Beſchlüſſe.

Die größeren deutſchen Regierungen batten unmittelbar nad dem Kriege die Nothwendigkeit politifhen Schaffen? vielleicht nicht weniger lebhaft gefühlt, ala das junge, heftig erregte Gefchlecht. Mande Stellen aus den erften Reden am Bundedtage würden auch auf der Wartburg mit Subel aufgenommen worden fein. Die Re gierungen aber follten nicht reden, fondern handeln, und da dennoch auch fie nur die Nothwendigkeit, nicht den Gegenftand ded Schaffens erfannten, alfo zu handeln felbft bei dem beften Willen nicht vermoch⸗ ten, fo ließen fie bald auch dad Reden und erfchienen nım wie gleich giltig und theilnahmlo® mitten in der wilden Bewegung. Perthes theilte den allgemeinen Unmillen über die Thatlofigfeit der Regierun- gen und konnte ihn zu Zeiten in herben Worten ausfprechen. Bon oben muß gehandelt werben, fehrieb er einmal, wenn nicht die Ideen, die unten umberturnen, das Webergewicht erhalten follen, und den- noch wird von oben ohne einen neuen ftarfen Anſtoß ficher nicht? ge- fchehen. Das Erfcheinen der consideralions sur la revolution von Frau von Stael hat wirflih fein Guted. Die Fürſten werden das geiftreiche Wert lefen, weil e8 in ihrer Salonfpradde und Salonmanier gefchrieben ift. Wenn fie fehen, wie dad Mordbeil der Revolution über dem Haupt des Königs hing, fo werden fie, weil fie die Gut⸗ berzigfeit der Deutfchen nicht fennen, mit Angft und Zittern den Sturm auch gegen ihre Throne braufen hören. Nun vielleicht drängt, wo fein anderer Beweggrund hilft, die Angft zum Handeln. Auch Stef- fens' Schrift über die gegenwärtige Zeit fol gut und tüchtig fein; ih aber fann fie nicht leſen: fie ift mir zu wortreich und abſatzlos. So eine unendliche Wendeltreppe ohne Ausruher läßt den geiftigen Athem mir bald audgehen.

Auch für die Haltung der Regierungen war das Jahr 1819 ein Wendepuntt. Hatten fie unmittelbar nad) dem Kriege nicht? gefchaf-

erthed’ Leben. 11. 4. Aufl. , 11

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fen, weil fie nicht? zu fchaffen wußten, fo fehufen fie nun auch des⸗ halb nichts, weil fie nicht fchaffen wollten. Ihr früheres Nichtkön⸗ nen war zugleich ein Richtiwollen geworden. Conſerviert follten nicht nur die Zuftände und Einrichtungen werden, welche Die innere Trieb- fraft unferer Nationalität und unferer Gefchichte hervorgerufen, ſon⸗ dern auch alle jene Zufälligfeiten und Willfürlichkeiten, welche der. matte Strom der lebten inhaltlofen Sahrhunderte an feinen Ufern abgejeßt hatte. Der ſchon durch das Wartburgöfeft gegen jeden politi⸗ ſchen Gegner heftig aufgeregte Argwohn der Regierungen ſah ſich nicht ungern zum fehroffen Handeln gedrängt, nachdem die’ europäiichen Mächte im Herbfte 1818 in Aachen zufammengetreten waren. Sehr allgemeine Anerkennung fand zwar der Aachener Congreß, als er die baierifhen Verſuche, einen Theil Baden? an fich zu bringen, vereitelte und dad Zuſammenbleiben ded Großherzogthums, jo wie die Erb» folge der Grafen Hochberg feſtſtellte. Wir haben hier im kleinen ein ganzes Geſchichtsſchauſpiel durchgemacht, fchrieb an Perthes ein Staatsmann in bedeutender Stellung Anfang 1819. Baden und die Nuhe von Süddeutſchland ftand auf dem Spiele. Dem Audgange : dankt Baden feine Berfaffungdurfunde und Deutfchland hat erlangt, daß wenigſtens Einer feiner Staaten fich ganz dem Bundesverhältnifie bingibt, Bortrefflih benahm fih der König von Würtemberg, Hug und fräftig als edelgefinnter Nachbar; fein Auftreten und Baden? Landesbewaffnung hieft Batern von dem beabfichtigten Gewaltſchritte ab und auf dem Eongrefje in Yachen wurde man bereitwillig, denen zu helfen, die fich ſelbſt zu helfen befchloffen hatten. Die Sache naht jebt ihrem völligen Ende und Baden wird nichts verlieren. Der Tod des Großherzogs, wäre er früher erfolgt, hätte ohne allen Zweifel den Ausgang fehr geändert; fein Leben erftredte ſich grade fo weit, um fein Land während der gefährlichen Conjuncturen mit feinem Rechte, feinem Namen und felbft mit feiner Krankheit und deren tie- fem Eindrude auf die Gemüther der Monarchen zu deden. Den Ge- rüchten, daß er vergiftet worden, feheint fchon diefer Umſtand zu wi⸗ derfprechen ; folch ſchwarzes Verbrechen, unferer Zeit und Sitte fremd, . wäre beffer berechnet worden. Der jebige Großherzog wird das ge⸗ rettete Land unfehlbar zu großem Gedeihen fördern und friſches Leben

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wird ſich in der fländifchen Verfaffung entwiceln. Deutfchland ift den Mächten, die in Aachen verfammelt waren, zu großem Danfe verpflichtet. |

Adgefehen aber von diefem einzelnen VBerhältniffe, wurden Die fehr geheim gehaltenen Verhandlungen des Congreſſes mit großem Mistrauen betrachtet. Vereinigt ftellen ſich, fchrieb damals Perthes, die europäifchen Fürften den noch zwifchen Schlafen und Wachen lie genden Nationen gegenüber und wollen ald Großfchneidermeifter den- felben das Kleid anmeffen, das fie tragen follen. Regiert freilich müf- fen wir werden und Monarchen und Fürften müffen wir haben, aber leibeigen brauchen wir deshalb doch nicht zu fein. Lebhaft Tpricht ſich das Gereiste der Stimmung jener Monate in einem Briefe aus, den Perthed Ende December 1818 empfing. In Weimar kam ich, heißt es in demſelben, diefegmal mit Kaifer Alerander wie vor zwölf Fahren mit Kaifer Napoleon in Collifion. Ich fand alle Gemüther faft eben fo wie damald in Unruhe und Aufregung ; felbft Goethe redete von nichts als von. der Madferade, in welcher er den hohen Herrfchaften feine eigenen vorzüglichften Dichtungen perfonificiert vor- führen wollte. Bor zwölf Jahren hatte Napoleon große Eile, aber er fam von Parid, ging, ich weiß nicht wohin, und hatte in feinem Gefolge Anige hundert Kanonen. Große Eile hatte jet auch Ale gander, aber er fam von Aachen, ging nad) Peterdburg und hatte als Gefolge einige zwanzig Wagen voll fimpler und vornehmer Lakaien theild mit fpigen theil® mit ftumpfen Nafen. Es ſcheint doch wirklich felbft zwiſchen Kaifern noch ein Unterfchied zu fein. Das willen die Herren Lieutenants auch; über alle Maßen habe ih in Er- furt von den Officieren auf Napoleon fehimpfen hören. Solches fommt mir, nachdem derfelbe auf St. Helena refidiert, vor wie Blu» menbach's zornige Ereiferung über die ſchändliche Gefinnung der Skor⸗ pione, wenn er felbige in Spiritus eingemadht feinen Zuhörern vor⸗ zeigt. Unleugbar hat der Hachener Eongreß, fehrieb im Frühjahr 1819 ein feharfblidender Staatemann an Perthed, die früher allge- mein verbreiteten Anfichten über Frankreich und über Rußland grade- zu umgekehrt. Jedermann ift der Meinung, daß man in Aachen viel Verkehrtes ziemlich einträchtig gewollt und vorbereitet habe, und jeder-

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mann glaubt, daß das in Aachen Vorbereitete innerhalb und außer- bald Deutfchland ſchon jept zur Ausführung gelommen fein würde, wenn die gleich nachher beabfichtigte Minifterialveränderung in Frank⸗ veich geglüdt wäre. Weit und breit hat ſich daher im Bolfe die Mei- nung verbreitet, daß Deutfchland durch die liberale Partei Frankreichs. gegen feine eigenen Fürften gefchüpt und Frankreich dafür zu großem Danke verpflichtet fei. Wohin folher Glaube, wenn Begebenheiten zum Handeln drängen, füßren fann, ift leicht zu fehen. Dagegen bat dad Gewicht, welches Kaifer Alerander auf die von Stourdja dem Aachener Congreß überreichte Schrift legte, eine antiruffifhe Stim- mung auffeimen lajfen. Man beginnt Gefahr für die höchften geifti- gen und natienalen Intereſſen von diefer Seite her zu fürchten und glaubt zugleih, Rußlands zur Sicherung des deutſchen Territorial« beftande® gegen Frankreich für lange Zeit entbehren zu fünnen. Wenige Wochen fchon nad) beendetem Congreſſe traten die deut- ſchen Regierungen mit den Gewaltwaffen ded Staates? gegen die Zer⸗ ftörungdangriffe auf, welche im Volke zunächſt noch mit geiftigen Waffen verfucht worden waren. Im Yrühjahr 1819 wurden Die Zurnpläße gefchlofien, im Laufe. ded Sommerd viele Berhaftungen vorgenommen und in noch weiteren Kreifen Hausfuchungen angeftellt. Bor acht Tagen hat Beſſer feine Reife angetreten, ſchrieb Perthes am 17. Juli. Als er nad) Berlin fam, wurden grade Reimer's Papiere verfiegelt und die Polizet unterfuchte zwei Tage hindurch deffen Haus. Die preußifche Regierung meinte in den Briefen einiger kurz zuvor Arretierten Berdächtiged gegen Reimer gefunden zu haben. Ich mei- neötheild kann überhaupt nit glauben, daß man finden wird, was man fucht, dad Project nemlich einer allgemeinen deutfchen Republik, und fände man wirklich folch Vorhaben, fo follte man die Menfchen, die jo etwas wollen, ind Narrenhaus fperren, ftatt fie zu richten. Unfere Deutfchen und unfere Berhältniffe in einer Republif! Es hat gewiß niemand folch einen tollen Plan gehabt; ich kanns nicht glau- ben. Reimer indbefondere ift abgefehen von allem anderem zu fehr Stodpreuge, um fo an Deutfchland fich zu fegen, und ift geiftig viel zu abhängig von Schleiermacdher, um an wahnfinnigen Unternehmen fih zu betheiligen. Was aber auch aus dem Einfchreiten der Regie

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rungen fich ergeben mag, immer wird e8 da8 Gegentheil von dem fein, was diefe zu erreichen gedachten, und fo treibt das Rad des Schickſals fi) immer weiter; Gott aber lenkt zur rechten Zeit. Es wird wie- der bunt audfehen in Deutfchland, fehrieb Perthed in einem anderen Briefe. Eine neue Welt will fich geftalten, aber es fcheint nicht, daß ein heiterer Morgen unferer wartet: femeidende Winde der Kälte ge- ben dem Sonnenaufgang voraus. Wenn ich auf Deutichland im ganzen blide, heißt es zu Anfang 1819 in dem Briefe eine® po- Titifch fehr unterrichteten Mannes, fo fließen die allerlei bunten und fogar heiteren Farben, die da8 einzelne zeigen mag, mir in ein ziem⸗ liches Grau, man könnte e8 auch wohl Schwarz nennen, zuſammen. Auch Sie finden den jegigen Zuftand langweilig; Langeweile ift die dunfelfte Farbe. Für die Gegenwart foll nicht® geſchehen, damit zu einem politifchen Gebäude für die ferne Zukunft die erften Baufteine zufammengefucht werden können. Unſer jett lebendes Volksgeſchlecht gilt gleichfam wie nicht berechtigt den Nachlommen gegenüber, wie wenn wir Jetztlebenden feinen Anſpruch machen könnten, das Beifere, das fich bereiten läßt, auch felbft noch) zu genießen. Haben wir denn nicht dasfelbe Recht, wie unfere Nachkommen, und ift es nicht Schmadh und Echande und Unglüd, wenn die Entwidelungen eined ganzen Volkes fo wie bei und fich immer weiter verfpäten und am Ende die allgemeinen Naturfräfte mehr dabei thun als die fittlich befonnenen ? Langſam fchleppen fih unfere allgemeinen Angelegenheiten weiter; die ungehenerften Zufchülfe von Eifer und Talent der einzelnen halten das fchlecht beftellte Triebwerk nicht im Gange. Der Bundestag bringt alled nur zu einem gewiſſen Punkt; da bleibt es liegen. LUnfere Ständefachen fhleihen mühſam und trübfelig aus ſchwerem Ringen hervor: überall find die Schwingen fhon im voraus zerichnitten, der Muth gekühlt; am manchen Orten wagt man es troß diefer Vorfeh- rungen doch noch nicht mit ihnen. Alles Gemwonnene fteht jeden Au- genblid immer noch ganz auf dem Spiele; nichts haben wir in Si⸗ herheit gebracht, nicht einmal unfere Grenzen und unfer Bertheidi- gungsweſen. Und dennoch ftehen wir nicht ftill; es ift zum Erftaur nen, wie alled fortfchreitet, aber nur als Begebenheit, die mächtiger ift -ald die Menfchen, und der die Menſchen daher jeden Augenblid

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erliegen können. ft das nicht Revolution und können Cie es leug- nen, daß wir und inmitten der Revolution beivegen, obſchon wir es, getäufcht durch die polizeiliche Ruhe, nicht ahnen? Wie ragt Franf- reich mit feinem ſtarken Geifte freien Lebens über und in diefer Be⸗ jiehung hervor! |

Die beiden großen deutfchen Staaten mußten fehr wohl, daß mit allen polizeilichen Berfolgungen wenig geholfen fei. Mochte in dem einen deutfchen Lande auch) noch fo viel gefhehen, fo war es ver- gebend, wenn in andern deutfchen Ländern wenig oder nicht® geichah. Preſſe, geheime Verbindungen, Univerfitäten konnten auf alle deut- ſchen Staaten einen tiefen und erfchütternden Einfluß üben, fo lange fie auch nur in einem einzigen deutfchen Staate eine Stätte fanden, um ihre Angriffe zu bereiten. Die Regierungen hatten in den weni- gen feit dem Wiener Congreß verlaufenen Jahren erkennen gelernt, daß auch fie, um die Außerlichfte Ordnung erhalten zu fönnen, der Einheit Deutſchlands bedürften. Der Bundestag aber ſchien den bei- den Großmächten nicht geeignet, ſtarke einheitliche Maßregeln herbei- zuführen. Es war nicht nur die Verhandlung mit fo vielen Gefand- ten, fondern auch der Widerfprud von Männern wie Wangenheim, Gagern, Lepel und mancher anderer zu fürchten. Fürft Metternich forderte daher eine. Feine Anzahl größerer deuticher Höfe auf, Be- vollmächtigte zu Conferenzen nach Karlsbad zu fenden, welche im Juli und Auguft 1819 gehalten werden follten. Jedem politifih lebendi⸗ gen Mann mußte fofort die Frage nach den Geſichtspunkten fih auf: drängen, von denen aus in Karlsbad die ſchwierigen Verhältniſſe be- handelt werden könnten und würden.

Berthed hatte während der Jahre 1818 und 1819 mit meh⸗ | veren Bundestagsgefandten in einem lebhaften Briefwechſel gejtanden. Zunächft waren in demfelben die Maßregeln gegen den Rachdrud, die Einrihtung ded Oberappellationdgericht® in Lübeck, die für die Hanfe- fädte damals fehr wichtige Barbaresfenfrage und die Geftaltung der Dundeshriegdeinrichtungen in Hamburg zur Sprache gebracht worden. Zugleich aber verfchaffte Perthes fich durch dieſen fchriftlicden Verkehr Einfiht in die Pläne, welche mithandelnde Männer für die Kortbil- dung der Bundeöverfaffung begten. Die Anfichten, welche er fich

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dutch diefe Briefe, durch mebrere ihm mitgetheilte Denffchriften und durch Geſpräche mit Mänmern alter Art feftgeftellt hatte, theilte Per⸗ thes hierhin und dorthin mit. Etwa in Folgenden lafjen fie fih zu- fammenfafien. |

Ehrlich. und redlich müſſen die Regierungen, nıeimte er, dem all» gemeinen Streben nah etwas Gemeinſamem die Hand bieten; es macht fich fonft ohne fie und früher, als fie denken, Luft, und ein kleines euer kann den großen Bald in Brand ſetzen. Es genügt nicht, daß jede Regierung nur innerhalb der Grenzen ihre® Landes handele, und es ift nicht möglich, da® gemeinfame Deutfche fo lange zu verſchieben, bi® in allen einzelnen Staaten alled geordnet tft. We⸗ nigftend etwad Gemeinfame? muß dem Ganzen zu thun gegeben wer⸗ den, woran ſich die Hoffnung auf ein mehreres halten und die Geduld ſich ſtärken kann, und dieſes Etwas muß dad Wichtigfte menigften® berühren. Das wichtigfte aber ift, daß Deutſchland ald Deutichland nicht weniger felbftändig ald frankreich oder England in Europa da- ftehe. Die Verhandlungen der baieriſch⸗badiſchen Streitigfeit vor. einem europäiſchen Tribunal, die rufjifchen, franzöfifchen und engli- ſchen hortatoria und debortatoria an den Kurfürften von Heilen, die außerhalb des Bundes geführten Berhandlungen über die Bundes⸗ feftungen und viele andere der Art find ein Aergernis und eine Schmach für die deutiche Nation und haben den Glauben verftärkt, dag Deftreidh und Preußen den Bund nicht ald Zweck, fondern ala Mittel anfehen und, weil fie lieber im Verein mit den europäifchen Mächten ald im Verein mit der Bundedverfammlung über die deut- hen Angelegenheiten verfügen wollen, das gänzliche Stoden des Ge- ſchäftsganges in Frankfurt hervorgerufen haben. Nicht bloß der baie- rifhe Gefandte wird bei feinem Hof Dank verdienen, wenn er berich tet, es ſei Gottlob in der Bundesverfammlung nicht? bemerkenswer⸗ thes vorgefallen; man finde fich vielmehr altmählich darein, die Si⸗ gungen auf eine in der Woche zu beſchränken; es fei wieder glüdlich gelungen, Ferien auf drei Wochen anzufegen, und die Zeit der gro- Ben Ferien werde ſchon berechnet. Für manche Gegenden Deutſch⸗ lands ift, heißt es weiter, bereit? die Zuverſicht verſchwunden, auf immer zu Deutſchland zu gehören, mit Deutſchland zu ſtehen und zu

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fallen. Im Norden und im Welten lebt man. fih in den Glauben hinein, gelegentlih von Deutfchland aufgegeben und einem europäi- chen Staate überlaffen zu werden. Wahrlich der Schmerz und der Zorn über das Entbehren jeglicher Nationalehre ift nur zu gerecht und ſchreit um Abhilfe. Abhilfe aber kann nur gefchaffen werden, wenn eine felbftändige Politit des Bundes zum eigentlichen Kern desfelben wird. Die Bewohner Deftreichd und Preußen? freilich fühlen bei der europäifchen Geltung ihrer Regierungen da® Bedürfnis, Deutfchland als europäifche Macht in der Reihe der Nationen genannt und geach⸗ tet zu fehen, weniger lebhaft al® jeder andere Deutfche, aber grade wegen diefed Bewußtſeins der Ungleichheit fpricht fich im nichtöftrei- chiſchen und nichtpreußifchen Deutfhland der Ingrimm nur um fo ftärfer aud, bald ald Neid der Entbehrenden gegen die Genießenden, bald als Furcht vor einer früheren oder fpäteren völligen Unterord- nung. Man will in Europa nicht durch Deftreih und Preußen ge- ſchützt, ſondern man will in Europa ald Deutfcher wirklich repräfen- tiert fein. Alles auf einmal kann freilich nicht gefchehen, aber ein er- fter Schritt darf doch nicht aufgehalten werden, und ein folcher erfter Schritt wäre ed, wenn in der Bundedverfammlung eine in mannig⸗ facher Weife denkbare Commiffion für die auswärtigen Angelegenhei- ten niedergefegt würde, welche die Angelegenheiten des Bundes als einer europäifchen Macht zu führen und fofort Gefandte bei den euro- päiſchen Mächten zu beglaubigen hätte. Sehr bald würde fih als Folge dieſes erften Schritte ergeben, daß die Gefandtfchaften der ein- zelnen deutfchen Staaten mit Ausnahme Oeſtreichs und Preußens von felbft verfehwänden, und dann wäre die Zeit gefommen, auch das ſchwierige Verhältnid der Gefandten des Bundes zu denen der beiden Großmächte ind Auge zu faflen.

Mit der wachſenden Einheit nad außen follte die wachfende Ein- heit im Innern Hand in Hand gehen. Gemeinfchaft der Kriegsmacht aller einzelnen Staaten hat durch Einfegung der Bundesmilitärcom- miffion wenigftend begonnen, heißt e3 in den vielen während des Sommers 1819 zwiſchen Perthes und feinen politifchen Freunden ge« wechjelten Briefen, aber Gemeinihaft des Handeld und Verkehr?, gemeinfame Anordnungen über Zoll, Buchhandel, Nachdruck, Poſt⸗

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weien, Münze, Maß, Gewicht und viele andere Gegenftände find eben fo wie ein Bundesgericht ein fehnfüchtig erftrebtes Bedürfnis, deflen Befriedigung zwar mit großen Schwierigfeiten zu fämpfen hat, aber möglich wird, wenn man nur nicht alled auf einmal und alles auf einem und demfelben Wege erreichen will. Wollte man Deftreich® eigenthümliche Lage, die ihm die enge Gemeinſchaft mit den Bundes⸗ ftaaten für viele Berhältniffe unmöglich macht, wollte man die befon- deren Bedürfniffe und Intereſſen der einzelnen Staaten nicht anerken⸗ nen, wollte man ſchonungslos gegen eingebildete Befürchtungen und verjährte Borurtheile verfahren, fo würde man, weil man alles er⸗ reichen will, nicht8 erreichen. Mögen daher immerhin einzelne Staa⸗ ten anfangen, fich über einzelne Berhältniffe durch befondere Verträge ju einigen, und den anderen den fpäteren Zutritt offen halten und

felbft einen verfuchdmweifen Zutritt auf zwei, auf vier, auf fünf Jahre

geftatten. Der Zug der Dinge, wenn ihm nur der Weg eröffnet ift, wird ſchon nachdrängen und mehr bewirken, als es bei den beftehen- den eiferfüchtigen Borurtheilen eine allgemeine Anordnung vermöchte. Anomalien find nicht einmal in einem Staate, viel weniger alfo im Bunde ein Unglüd, und die Bundedverfammlung ift da, um die Jer- fprengung der Einheit durch die Einzelverträge zu verhüten und die möglichfte Gemeinfchaftlichfeit herbeizuführen. Sie bedarf aber, da- mit fie auch nur die Möglichkeit zur Löſung diefer Aufgabe erhalte, einer Ergänzung, für deren nähere Einrichtung bereit3 ein Borbild in der dem Bundedtage zugefellten technifchen Militärcommiffion ge geben iſt. Sachverftändige aus allen Bundesftaaten müßten für die verfchiedenen Gefchäftökreife in Frankfurt verfammelt und in verfchie- dene Commiſſionen vertheilt werden; jie würden eine Art zweiten, aud dem Bolfe genommenen Rath bilden und beffer ald die Negie- rungdmänner willen, wo und der Schuh drüdt. Mit ihnen in Ge meinfhaft wäre die Bundesverfammlung im Stande, eine reelle Zhätigfeit zu üben, und nur wenn fie reelle Thätigfeit übt, fann fie eine Macht in Deutfchland fein, und nur wenn fie eine Macht ifl, fann fie hoffen, dem drohenden Umſturze Deutſchlands mit Erfolg entgegen zu treten. -

Die Briefe, welche Perthes im Sommer 1819 aus Frankfurt er-

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bielt,, Tonnten indeflen feine Hoffnung erweden, daß in Karlsbad wirklich kräftige Berfuche zur Ausbildung des Bundes gemacht wür⸗ den. Wir wollten, ſchrieb ihm ein Freund, die Karlsbader Confe⸗ renz jegnen, wenn fie auch nur einen erften Schritt, um Deutfchfand 018 Deutihland zur Geltung zu.bringen, thäte, aber meine Befürdy- tungen find ftärfer al8 mein Vertrauen. Männer, die zu den polis tiſchen Detailliften, nicht zu den Großhändlern gehören, haben jetzt das Regiment, Gegenftänden von nationaler Bedeutung find fie nicht gewachſen. Die Leute in Karldbad hat offenbar die Angft zuſammen⸗ getrieben und von manchem derjelben möchte man, wenn fie fi) in ihrer Angſt ſelbſt überlaffen bleiben, wenig Gutes erwarten, fo 3. 2.

von Graf Münfter und Graf Rechberg, die den früheren beijeren Er- wartungen nicht entfprochen haben. Preußen ift vor allem berufen, die Leitung zu übernehmen; aber wer glaubt an feine Ehrlichkeit ? Richt duch ſchöne Worte, fondern nur durch) die That wäre das Mis— trauen zu befeitigen, daß es Deutfchland durch allmählich anfchlie- Bende Kunftallifationen an dad Preußenthum zu einer nationalen Ein⸗ beit erheben wolle; aber die Preußen feheinen in allen Beziehungen von Gott verlajien und immer nur auf dad Widerfinnigfte audzuge- ben; ich hoffe vom Grafen Bernflorff in Karlsbad nichts. Oeſtreich fühlt fih in feinen eigenen Landen ficher und würde fich daher eine gewiſſe Praxis liberaler Grundfäge bei anderen wohl gefallen laifen, wenn ed nur mit Ruhe und Ordnung zugehen könnte. Metternich ift perfönlich der Bundeseinheit gemeigt, mehr als die anderen öftrei« chiſchen Mintfter, aber Ruhe ift ihm das erfte. Als er vom Aachener Congreß zurüdfam, war er voll findlicher Freude über das feiner Meinung nach dort gelungene Werk der volllommenen Beruhigung Europa's. Nun könne, fagte er, jeder hingehen und lange Zeit hin- durch ruhig feinen Kohl bauen, und wenn den Gefandten verboten würde, an ihre Höfe zu berichten, fo würde die einzige Urfache zu Differenzen entfernt fein. Die Richtung des Königs von Würtemberg iſt deutfh, und ich habe Urfache zu glauben, daß des Grafen Win- gingerode Inftructionen nicht die fchlechteften find. Don Raflau wird Herr von Marfchall hingehen; er ift der Uebelfte nicht, weil er Flug ift und daher bei aller perfönlichen Neigung zu durchgreifenden Map-

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regeln dennoch im rechten Augenblide einzulenken verfieht. Die durch ſolche Mittheilungen hervorgerufene Unruhe zu befehwichtigen, waren die Briefe, welche Perthes aus Karlsbad empfing, wenig geeig- net. Was die Freiheit der Preſſe betrifft, fehrieb ihm Adam Müller, jo bin ih nicht bezahlt, ihr entgegen zu arbeiten. Paffieren doch meine Schriften vielfach die Genfur in Wien nicht! Aber zuwörderft diene ich nicht einer Staatächimäre, die ich nach meiner Einficht deuten fönnte, fondern einem leibhaftigen Kaifer von Fleiſch und Blut, defien Wille mein Geſetz iſt; dann bin ich Katholik, alfo von der Partei derer, weiche glauben, dag die Wahrheit bereit? vorhanden und nicht erft unter dein Schirme der Preßfreiheit zu entdeden fei; endlich halte ich dafür, da die vorhandene weltliche Autorität um jeden Preis gerettet werden muß, wenn auch nur ald Unterbau und nicht um ihrer Selbit- heit wegen. Daher fage ih: „Keine Cenfur, feine Obrigfeit‘, wie die Epifcopalen des 17. Jahrhunderts: „no bishop ne king‘‘, aber ich ſage es mit blutendem Herzen und mit tiefem Granı darüber, daß wir fo weit gefunfen find, den Beamtenklauen unfered Jahrhunderts die geiftige Obhut überlaffen zu mülfen.

Am 31. Auguft 1819 war die lebte Sigung der in Karldbad verfammelten Minifter; die gefaßten Befchlüffe wurden den in Karls⸗ bad nicht vertreten gemefenen Regierungen mitgetheilt und ihnen quf⸗ gegeben, ihre Gefandten am Bundestage fofort mit der nöthigen In⸗ ftruction zu verfehen, damit die Karlöbader Schlülfe zu Bundesſchlüſ⸗ jen erhoben und dadurch bindend für ganz Deutfchland gemacht wer- den fönnten. Da den einzelnen Regierungen feine Zeit gelaffen war, fi unter einander zu bereden, nnd feine derfelben für fich allein dem - Willen der beiden Großmächte entgegenzutreten wagte, fo wurden am 20. September fchon die Karldbader Beſchlüſſe einstimmig von der Bundeöverfamnilung anerkannt. Sie legten befanntlich allen ein- zelnen Staaten die Pflicht auf, für Schriften unter zwanzig Bogen Genfur und für jede Univerfität die Beauffichtigung durch einen befon- beren landeöherrlichen Bevollmächtigten anzuordnen. Bon Bundes wegen follte außerdem eine Gentralbehörde in Mainz zur weiteren Unterfuchung der in mehreren Bundesftaaten entdeckten revolutionä- ven Umtriebe eingefebt, eine proviforifche Erecutiondordnung zur An⸗

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wendung gebracht und eine Commiffion zur Unterdrückung gefähr- licher Schriften eingefeßt werden.

Der folgenreiche und lange nachwirkende Eindrud, den die Karls⸗ bader Schlüffe in faft ganz Deutfchland machten, ſprach fich auch in den Briefen an Perthes bald ald Schmerz und Trauer, bald ald Zorn und Ingrimm aus. Ich habe Sie nicht -gefehen, ſchrieb Sartorius aus Göttingen, feit Ihrer Durchreife ind Hauptquartier im Winter 1813; damals in militärifcher Kleidung, fprudelnd von Hoffnung und nun welche lange, lange Zeit, erfüllt von getäufchten Erwar⸗ tungen, Herabftimmungen und Ausfichten ind Leere, Tiegt zwifchen damals und jetzt! Bildet fich nicht bald in der Mitte der beiden PBarteien, die fih einander den Tod gefchmoren haben, eine fefte Macht, die, ſelbſt Maß Haltend, dad Maßloſe der einen wie der an⸗ dern zu überwältigen vermag, fo verfallen wir der Revolution, die freilich nur ein Durchgangspunkt ift, aber der Durchgangspunkt ent- weder zur Despotie oder zur Anarchie. Wie im wilden Fieber radte Görres' fliegende Phantafie in einem Briefe, den er am 2. October 1819 an Perthes fihrieb. Sie werden, heißt e8 in demjelben, Die Karlsbader Beichlüffe erhalten haben. Man muß geftehen, daß die- fen Leuten ein fchäbbared Talent innewohnt, immer dad Gegentheil von dem hervorzubringen, was fie besweden, und daß es feine är⸗ geren Unrubftifter gibt, als diefe Waffermänner, die dad Schmiede- feuer mit ihren naſſen Haderlumpen imıner nur zu größeren Zorned« gluten anjchüren. Ich kann mir? gar nicht anders Elar machen, als dag fie Würmer in den Hirnfammern fiten haben; dann befommen: die Hammel bekanntlich die Drehkrankheit und werden wüthend in ih. rer Art, freilich nicht in blutdürftiger Weife, aber fie ftampfen, trom- meln, blafen und fauchen und ihre Sanftmuth fcheint fehr zornig. Man follte glauben, Leute, die durch ihre Stellung die Sachen von oben her betrachten, müßten fehon deswegen eine ruhige, feite Anficht gewinnen; aber weit das Gegentheil. Weil fie ſchwache Köpfe haben, werden fie gleich ſchwindlig auf ihrer Höhe; fo wie fich etwas regt, geht die Welt um fie her im Kreife herum; fie fürchten, die Häufer ſchlügen ihnen die Köpfe ein und die Bäume fehritten einher und fpieß- ten fie. Dan kann fich eben nicht verhehlen, daß, fo lange Died Ge⸗

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ſchlecht befchränkter, verzagter, jämmerlicher Menfchen, die mit lachen» dem Muthe einmal im tiefften Abgrunde ded Schimpfed, der Schande und der Nieberträchtigkeit gelegen haben und dann vom umfreifenden Nade gefaßt und auf die Höhe geführt find und dort oben nichts als Kleinmuth, Angft und Todesfchreden mitten in kläglichem Hochmuth empfinden, daß, fo lange diefe Schächer an der Spipe der Geſchäfte ftehen, kein Heil zu erwarten ift und fein Glüddftern über Deutfch- land leuchten wird. Inzwiſchen hat ihnen die Roth die Vollziehung des 13. Artikels abgedrungen. Wie fie ihn zu vollziehen gedenken, ha⸗ ben fie freilich deutlich genug ausgeſprochen; aber das hat wohl alles gute Wege. Was fie. geben, ift gegeben, was fie vom Rechte nicht ge- geben, wird ihnen abgenommen, und fo fommt die Sache, freilich unter Streit und Stößen, doch ind rechte Gleis. Am allerlächerlich ften ift, was fie über Preßfreiheit verfügt; fie könnten wohl leichter ein Sieb mit Flöhen hüten, als das Gedanfenreih in ihre Pferche Iperren. Sch möchte gleich Idyllen diefer neuen diplomatifhen Schä- fer fchreiben und die Noth und Angft fhildern, in der diefe Jammer⸗ bilder fih die faure Laft aufgeladen haben, Ure, Einhörner und fonftige® ungebändigte® Vieh zu meiden; fie werden fich in diefem Garten die faftigften und fhmadhafteften Stechäpfel zum Deffert zie- ben. Als ich mein Buch ſchrieb, habe ich felbit nicht geahnet, daß e3 beftimmt fei, als die Declaration ded gefunden Menfchenverftan- . des gegen eine Staatsweisheit aufzutreten, die nun in den Karlöba- der Beichlüffen auf dem Culminationspunft der Verrüdtheit angelom- men ift. Ein wunderlicher Gegenfag zu diefen wilden Worten war ed, wenn das Mitglied eines Eleineren deutfchen Fürftenhaufes an Perthes ſchrieb: Was fagen denn Sie zu den fogenannten politifchen Umtrieben? Biel Freigeifterei, Anfprüce und Forderungen werden freilich laut und Schwindelföpfe find genug da; aber die Sache wird do fo ſchlimm nicht fein. Auf Perthes' Antwort folgte dann im December die Entgegnung: Wie Sie fo fihreiben können, wie Sie es gethan haben, begreife ich bei Ihrem fonftigen Vertrauen auf die Borjehung und bei Ihrer Freude an politifcher Reibung nicht. Warum follte die Freiheit verloren fein? Ich hoffe, es. findet fi) alles, und wenn die Auswüchſe und Misbräuche ein wenig eingefchränft wer⸗

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den, ſchadet e8 wohl nit. Etwas wahrhaft Wiſſenswurdiges wird gewiß nicht unterdrüdt, das Gute arbeitet ſich ſchon durch und die engliſche Preßzügellofigkeit fheint mir wahrlih auf feinen Fall wün- ſchenswerth. Nachdem der erfte Unmuth vorüber ift, wird man ſich ſchon zufrieden geben und wird ohngefähr eben fo viel Gutes fagen fönnen, wie vorher, wenn man nur Anftand und Schonung zu beob⸗ achten weiß.

Die Größe der Aufregung, weldhe die Karlöbader Beichlüffe hervorriefen,, hatte ihren Grund wohl weniger in deren Strenge als in der durch dieſelben rückſichtslos audgefprochenen Verneinung alles deſſen, mas damald das Bolt bewegte. Nicht in dem, was die Con⸗ ferenzen gethan, fchrieb Perthed im Herbft 1819, fondern in dem, was fie nit gethan haben, liegt das Böfe und liegt die Gefahr. Wollen die Beichlüffe wirklich nicht? weiter al® dad, was fie fagen, fo thun fie feinen Schaden und unterdrüden manches Böfe; wollen fie aber ein andered oder ein mehreres, fo werden fie es nicht durchfegen. Daß dagegen in diefen Augenbliden unermeßlicher Gefahr die Staats» männer der größten deutichen Regierungen fich zur Berathung über die Rettungdmittel verfammeln und nichts, gar nicht? thun, um für das Bedürfnis der Nation nah Freiheit und nad) Einheit Befrie- digung zu ſchaffen, das ift entfeglih. Mit einigen Verboten iſt noch nie ein wahres und wirkliches nationales Verlangen erſtickt und nie der Meg zu den fchredlichiten Abirrungen verfperrt worden. Sie haben nur zu Recht, heißt e8 in der Antwort auf diefen Brief; mit ſolchen nur Nein fagenden Mitteln wird der unbändige Geift nicht gebändigt. D daß diefer Geift aufhörte, nur Geift zu fein, und, angethan mit Fleifh und Bein, in verzerrter wirklicher Geftalt das graufenvolle Reich einer alled auflöfenden Berwirrung vor unſeren Augen entfal- tete! Dann würden die Regierungen wohl verftehen lernen, daß das pofitio Böfe ſich nur dur das pofitiv Gute befiegen läßt.

Welches Anfehen und welche Ehre die Bundedverfammlung um jene Zeit noch in der Nation befaß, läßt fih aus dem fehr allgemei- nen fehmerzlichen Erjtaunen über die Wiltfährigkeit abnehmen, mit welcher fich diejelbe die Befchlüffe der Gonferenzen gefallen lief. Es ift entfeßlich, fchrieb ein fehr conjervativer Mann an Perthed, daß

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der. Bundestag, flatt in ſtolzer Kraft aufzuftehen, ſich ſtumm zum Diener eines, ich darf es wohl fagen, fchlechten Principe und einer illiberal⸗ terroriftifhen Faction erniedrigt hat. Die Folgen für den einzelnen wie für da® Ganze find unberechenbar und der Revolus tionsteufel , jo fange ald Mittel zum Schreden von den Regierungen ° gebraucht, wird in leibhaftiger Geftalt ſich ihnen wirklich und riefen- groß gegenüber flellen. Noch ſchwebt ein Dunkel über den ganzen Hergang: man weiß nicht, ob die größeren Mächte gemaltfam die übrigen zum Schweigen gebracht, oder dem deutichen Volke Einftimmig- feit vorgelogen haben, während ed an Widerfpruch nicht fehlte. Bid heute hört man noch nicht, daß auch nur ein einziges Mitglied der Bundesverfammlung feine Entlajfung eingereiht hat, um nicht länger unter dem Echeine der Selbftändigfeit todtes Werkzeug in der Hand der Böfen fein zu müjfen. |

Als Perthes diefen Brief erhielt, war er bereitd durch ausführ⸗ liche Mittheilungen politifcher Freunde näher über die Stimmung un⸗ terrichtet, mit welcher die von Karlebad dem Bundedtage aufge: drängten Beſchlüſſe in Frankfurt und von einer nicht Kleinen Zahl deutfcher Regierungen aufgenommen worden waren. Mein Bedürf- nis, Ihre Anfichten über die gegenwärtige Lage unſeres Baterlandes mit den meinigen audzutaufchen, ift jo groß, heißt ed in einem Briefe an Perthed vom 23. October 1819, daß ich die fichere Gelegenheit, die fich mir in diefen Tagen darbietet, Ihnen zu fehreiben, nicht un- benugt vorübergehen lafjen will. Sie fünnen, wenn fie wollen, mei» nen Brief als eine Predigt über das erfte Buch Mofe, Capitel 50, Berd 20 betrachten, wo es heipt: „Ihr gedachtet ed böfe mit mir zu machen, aber Gott gedachte e8 gut zu machen.” Mit den Glauben, den diefe Worte audfprechen, ftehen wir wirklich den Karldbadern gegenüber. Zwei Wege, den der. Klugheit und den der Gewalt, gab ed, auf de- nen ſich das, was die Karldbader Conferenzen wollten, hätte durdh- jepen laſſen. Wenn weniger Angft, welche den erften beiten Rohr: ftod frampfhaft ergreift, und mehr kalter, überlegender Berftand in Karlabad gewefen wäre, fo würde Dad panem et circenses nicht ver« geilen fein, und dann würden die Dinge fehr gefährlich Tiegen. Hätte man auch nur gegenfeitige Aufhebung aller Mauthen in ganz Deutfch-

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land und völlige Freiheit des Verkehrs Ted durchgreifend beſchloſſen⸗ fo würden höchſt wahrſcheinlich diefelben Schlüffe, welche jekt das Innerſte aller Gemüther ergreifen, nur von wenigen beachtet fein und die Maflen felbft hätten den Regierungen ‚willig den Holzſtoß zum Aubotafe Tiberaler Schreiber und Sprecher zufammengetragen. Wollte oder konnte man aber in Karlabad nicht Flug verfahren, fo mußte man, um durchzudringen, mit kalter Entfchtoffenheit gewalt- fam das Verfügte fofort ausführen. Schlag auf Schlag mußten die Opfer fallen, niemand durfte zur Befinnung fommen. Wäre das Revolutionstribunal in Mainz am Publicationstäge der Karlsbader Befchlüffe in Wirkſamkeit getreten, wären Berhaftungen und Unter- drüdung eine? Dutzend liberaler Journale zugleich erfolgt, wurden bon vier zu vier Wochen einige Todedurtheile vollzogen, fo hätte ein Napoleonifcher Terrorismus noch einmal in Deutfchland feften Fuß fafjen können, aber zu einem ſolchen Auftreten hätten Männer aus anderem Holze ald die gutmüthigen Bonvivand in Karldbad gehört, die gewiß feinem Menfchen.auf der Welt pofitived Leid zufügen wol⸗ len, fondern nit? ald Ruhe in der Welt und Sicherheit auf ihrem Poften begehren. Nur weil fie, um diefe matterfehnten Ziele zu er- reichen, feine anderen Wege wußten, find fie zu den fcheinfräftigen Beichlüffen gefommen und mühen fich auch jetzt noch ab, fich gegen- feitig von deren Trefflichkeit zu überreden.

Weil man in Karlsbad, heißt es weiter, weder Flug noch ge⸗ waltfam zu fein ſich entſchließen konnte, werden die ergriffenen Maß⸗ regeln nur weniges, vielleicht gar nichts bewirken, denn ihrer Durch⸗ führung fteht eigentlich alles entgegen. In Karlabad haben aller- dings eine Anzahl Staatemänner berathen und beichloffen, aber die Richtungen der Staatdmänner und die Richtungen der von ihnen ver- tretenen Staaten find nicht immer identifh und waren e3 in Karldbad fo wenig, daß die dortige Berfammlung faft wie der Club einer Mi⸗ nifterfaction erfcheint. Schon jebt mußten ſich mehrere der aus Karls⸗ bad Zurüdfehrenden in dem Minifterrathe der Staaten, in denen ber Minifter des Auswärtigen nicht allmächtig ift, Tadel und lebhaften Widerfpruch gefallen laſſen; Hardenberg und Bernftorff namentlich find auf das heftigfte von Humboldt angegriffen. Sodann werden

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für die nächſte Zufunft die größeren deutſchen Staaten, vielleiht mit Ausnahme Oeſtreichs, ſämtlich eine innere Kriſis zu überſtehen ha- ben, welche entweder die Haltung der gegenwärtigen Minifter än- dern oder neue Minifter an die Stelle der gegenwärtigen führen muß. In dem einen wie in dem andern Kalle werden bald genug felbft die Minifter der in Karlabad vertretenen Staaten gegen die wirkliche Durchführung der dort gefaßten Befchlüffe fein. Einige ſelbſtdenkende und felbftregierende Yürften find, wie ich weiß, durch die Refultate der Conferenzen fehr unangenehm überrafcht und faft alle möchten wenigftend den Schein retten, nur gezwungen in diefelben eingemilligt zu haben. Die Bundesverfammlung endlich ift in ihren meiften Mit- gliedern empört über eine Behandlung, durch welche fie zu einem wil⸗ lenlofen Inftrumente der Karlabader Eonferenzen gemacht ward, und ‚wird wenig willfährig fein, die Beichlüffe durch großen Eifer bei de- ren Durchführung zu Anfehen und Ehren zu bringen. Wenn nun zu diefem allem das beleidigte Selbitgefühl der kleineren Fürften, welche fich wie Mediatifierte behandelt glauben, und der wilde Ingrümn der Öffentlichen Meinung fommt, die jegt wie immer durch Beichrän- fung ihrer Aeußerung an intenfiver Kraft gewinnt, fo kann dau- ernder Beitand und wirkliche Durchführung deifen gewiß nicht eriwar- tet werden, was ſchon jest den beabfichtigten Effect eine? allgemeinen Schreden® gänzlich verfehlt und deshalb eigentlich aufgehört hat zu beftehen,, bevor es noch ind Xeben getreten war.

Während die Karlsbader Befchlüffe, heißt es in ben weiteren Mittheilungen, das, was fie erreichen wollen‘, nicht erreichen, könnte es leicht gejchehen, daß fie etwas bewirften, was fie nicht bewirken wollten. Im Jahre 1815 war die Bundsacte ald ein durch Napoleon's furchtbares Wiedererfcheinen hervorgerufener Niederfchlag aus den ſich bald anziehenden bald abftoßenden verfchiedenartigen Elementen des Wiener Congreſſes feftgeftellt; aber die feindlichen Gegenfähe der deut- (hen Staaten gegen. die Gefamtheit Deutfchlands blieben nad wie vor beſtehen. Der alte Kampf indeffen mußte von einem neuen Bo⸗ den aus geführt werden; denn das föderaliſtiſche Princip des Bundes faßte als Befriedigung eines in unferer Gefchichte und unferer Natio⸗

nalität begründeten Bedürfniffes alabald fo fefte Wurzel, daß es be- ‚perthes' Lehen II. 4. Aufl. 12

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ftimmend für die Geftalt aller ferneren politifchen Kämpfe in Deutich- fand ward. Oeſtreich und Preußen haben ihr alted Streben, Deutfch- land zu beherrfchen,, in die Form einer Leitung der Föderation gießen müflen und glaubten in Karlabad, ohne weitered Herren der deut- ſchen Staaten zu fein. Sie irrten ſich und der Widerftand, den fie finden, wird fie für längere Zeit nöthigen, die Gemeinfchaft mit dem ganzen übrigen Deutfchland zu fuchen, fo oft fie für Deutfchland po- litifh handeln wollen. Daß den Duumpiralgelüften der beiden Groß⸗ mächte gegenüber die Gleichberechtigung der anderen deutfchen Staa⸗ ten, alfo das Föderationdprincip von. neuem ficher geftellt iſt, wird der eine Segen fein, den und die Karlöbader Conferenzen wider Wil- fen bringen; aber es ift nicht das einzige. Die einzelnen deutfchen - Regierungen nemlich wollten bisher ihrer Souveränetät zu Liebe auf feine Unterordnung unter die deutfche Gefamtheit, d.h. unter den Bund, eingehen. Nun aber haben fie, um die Karlöbader Zwede zu erreichen, fein andered Mittel finden können al? die Uebertragung der politifchen Polizei, des politifchen Gerichts, der Aufjicht über die Preffe und über die Lehranitalten auf die Gemeinfchaftsanftalt, d. b. auf die Bundesverfammlung. Der gewollte Zweck wird freilich micht erreicht werden, aber die angewendeten Mittel erkennen in über: aus wichtigen Verhältniſſen die deutiche Gemeinfchaft als eine über den einzelnen Staaten ftehende Macht an und die Sonfequenzen dies fed Anerfenntniffes werden fich fehr bald auch in anderen Berhältniften, 3. B. in denen des Handeld, zeigen. Die Unterordnung der einzel» nen Staaten unter die Gemeinfchaft des Bundes tft fomit der zweite Segen, den und die Karlabader Eonferenzen bringen können, wenn und die Öffentliche Meinung nicht durch eine ſchlimme Abirrung um denfelben bringt. So lange nemlich das böfe Princip vorwiegend bei den Einzelregierungen gefucht ward, ſchrie alles nach. Eentralifation und Einheit Deutfchlande. Set, nachdem einzelne Bundesftaaten liberalere Verfaſſungen erhalten haben, und der erfte Verſuch der Gen- tralifation auflinterdrüdung der politifhen VBeftrebungen im Volke ge- richtet ift, wird, fürchte ih, alles Die Souveränetät der einzelnen Staaten verfechten und und vielleicht um die möglich gewordene Einheit Deutſch⸗ lands bringen. Don der nunmehrigen Haltung der Bundedverfamm-

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(ung hängt es vor allem ab, welchen weiteren Gang unjere Geſchichte nehmen wird. Die Bundedverfammlung ift freilich durch die ihr in revolutionärer Weife von Karldbad aufgezwungenen Beſchlüſſe tief herabgewürdigt, aber die meiften Mitglieder fühlen die tiefe Herab⸗ würdigung tief, und da ihr Doch wieder Gefchäfte, wenn auch zunächſt nur widerwärtige, übertragen find, fo wird fie auch wieder in Deutſch⸗ land beachtet, gelobt oder getadelt werden. Weil man wieder etwas von ihr erwartet, wird fie au) im Stande fein, etwa? zu leiften, und ich hoffe bei ihrer gegenwärtigen Stimmung Gutes von ihr und ver- zweifele nicht. Die außerordentliche Zufammenfunft in Wien ift freilich zu laut angefündigt, als daß man davon zurüdgehen könnte. Aber die größeren Staaten fühlen fchon, daß ed unheimlich fei, allein im Finftern zu wandeln, und begehren größere Gefellfchaft, und durch diefe kann vielleicht fchon jebt die Sache eine andere Wendung nehmen.

Zum November 1819 war eine Verfammlung von Bevollmäd- tigten aller deutſchen Etaaten zur weiteren Ausbildung der Bunde3- verfaffung nah Wien berufen worden. Das tiefe Midtrauen, mit welchem auch die Berfammlung felbft in den Kreifen fehr befonmener Märnmer betrachtet ward, fpricht ſich in einem Briefe, den Perthes im December 1819 erhielt, lebhaft aus. Was und der Wiener Congreß bringen wird? heißt es in demfelben. Bielleicht find Doch die Macht« baber nicht einig genug, um ihre Pläne durchzuführen, und Hum- boldt wird das feinige thun, Bernftorff aus dem Sattel zu heben. Dahin find wir gefommen, daß wir von der Eiferfucht und dem Arg- wohn der Höfe und Minifter unter einander das meifte hoffen müffen; denn allen den edlen Gefinnungen und fraftvollen Beftrebungen, an denen ed trop des vielen Böfen und Berkehrten im deutichen Volke nicht mangelt, fehlt zum gedeihlichen Wirken der Mittelpunkt umd die geregelte Richtung, und wenn alle edlen Kräfte vereinzelt, ohne Zus fammenbang und Leitung wirken, fo können fie eben fo leicht zum Ehaotifchen führen, wie zur Ordnung und zum Recht. Sekt ſol⸗ len wir wieder, heißt e8 in einem anderen Briefe, das Schidfal un⸗ fere® Baterlandes von der Weisheit der in Wien verfammelten Herren erwarten, dort ift es jegt eben fo ſtill und ſchwuͤl ald im vorigen Jahr zu Karlebad. Kür Minifter gibt e8 feine Gefchichte, feine Er⸗

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fahrungen , feine politifhen Fdeen, fondern nur Sacobiner, die ein- gefperrt werden müflen. Die unter heftigen Kämpfen der Höfe zu Stande gebrachte Schlußacte der Wiener Minifterialeonferenzen änderte in der That wenig an dem Bundeszuftande Deutichlands, wie ex fich feit den Karlsbader Schlüffen geftaltet hatte; fchärfer und aus⸗ führlicher aber wurde das vorher ſchon Beftandene feftgeftellt. Während die deutfhen Regierungen mit den ihnen zu Gebote fiehenden Waffen der Gewalt die aus dem Volke gegen fie gerichte- ten Angriffe zu unterdrüden fuchten, ftand ein Kämpfer auf, der mit dem Schwerte ded Geifted den heftigften Krieg gegen die gefamte politifche Zeitrihtung eröffnete. Seit 1816 hatte K. 2. von Haller angefangen, fein umfangreiches Werk „die Reftauration der Staats⸗ wiſſenſchaft“ herauszugeben, und die Mitglieder mander deutjchen Regierungen fahen in ihn fofort einen Bundedgenoffen, weil er mit ihnen denfelben Gegner befämpfte, und bedacdhten nicht, daß Haller feinem Principe nah ſich in kürzerer oder längerer Zeit mit demfel- ben Ingrimm gegen den von den Regierungen vertretenen Staat wen- den müffe, wie jebt gegen den von den Volksbewegungen erftrebten. Adam Müller, einer der geiftreichften Anhänger der neuen politifchen Lehre, lebte damals als öftreichifcher Generalconful in Leipzig und ftand in lebhaftem mündlichen und fehriftlichen Verfehr mit Perthes. Eine Einigung indeſſen zwifchen beiden Männern war fo wenig in’ politifher wie in veligiöfer. Beziehung möglih. Scharf und beftimmt vielmehr trat Perthed dem Standpunkte Haller’d und Müller'd ent» gegen, wenn er fchrieb: Auch darin ftimme ih ih Ihnen und Herrn von Haller völlig bei, daß wir nur zu retten find, wenn wir dem von Gott au in der äußeren Weltordnung pofitiv Gegebenen und unterordnen und ihm gehorchen. Wo aber ift dieſes poſitiv von Gott Gegebene? Es ſprach ſich einftmald aud in der Theofratie unter Mo- ſes ald Borbild, und von ihr war das Pabſtthum in feiner beften Zeit ein Schatten. Wo aber ift jetzt Mofed, wo dad Pabſtthum? Sept haben wir die Kirche neben dem Staate, im Weltlichen unter, im Geiftlihen über ihm. Diefe Scheidung des urfprünglih Emmen: ift das für unfere Zeit pofitio von Gott Gegebene, und diefe Ccheidung follen wir nicht aufheben; wir follen die Kirche nicht menſchlich ma⸗

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chen und den Staat nicht göttlich. Was aber thut Herr von Haller? Sie ſchreiben freilich: Haller hat nur den ſtrengen Rechtsbegriff re ftauriert und den naturrechtlihen und ftaatörechtlichen Träumereien des Jahrhundert? einen Damm entgegengefebt, den ed zu durchbre⸗ hen vergeblich unternehmen wird. Darauf antworte ih: Gut, aber Haller erweiſt diefem reftaurierten Rechtöbegriff, einem weltlichen, von der Kirche gefchiedenen Geſetz, göttliche Ehre. Diefen feinen Rechtsbegriff follen wir über alle Dinge fürchten, lieben und ihm ver- trauen. Heißt das nicht ein goldene? Kalb aufrichten, während doch Mofed noch auf Sinai weilt? Steinerne Tafeln, die nicht? mit denen des Mofed gemein haben ald den Stein, ftellen Sie auf ald Gottes Geſetz, und Gottes Geſetz felbft wird darüber verfpottet werben.

Geftern war, heißt ed in einem Briefe Garolinend, der Haupt- mann von Gerlach bid Nachts zwei Uhr bei und. Cr ift ein ernfter und gewiß grundguter und überaus lebendiger und origineller Mann. Das Gefpräh war intereffant und bald fehr heftig, da Perthes mit feiner Anficht nicht Hinter dem Berge hielt. Sonderlich von Könige thum und freier Verfaſſung, von Leibeigenfhaft und Adel war die . Rede. Gerlah hat ungeheured zu Gunften der Könige gefagt und ich habe wieder einmal gefehen, was der Menfch doch alles aus der Bibel beweifen kann und will, wenn es ihm darauf anlommt, Be weife für feine eigene Anficht zu finden. ZZ

Das Hervortreten einzelner politifcher Kragen.

Eindringende Unterfuchungen über dad Weſen und die form wirklicher, beftimmt abgegrenzter politifher Verhaͤltniſſe lagen nicht in der Richtung jener für das Allgemeinfte heftig bewegten Jahre. Die ſchweren und wichtigen Zweifel über die Geftaltung des Stante- dienfte®, der Steuern, der Gerichte, der Polizei fanden wenig Theil nahme; hin und wieder nur erregten faft wie zufällig einzelne Kragen allgerneine Aufmerkffamfeit. Die faufmännifche Welt namentlich be-

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fhäftigte fi) feit dem Aufhören des franzöjifchen Drudes lebhaft mit dem Berhältniffe des Geldes zu den da® Geld vertretenden Papieren und mit der Zuläffigfeit der Zölle neben einem lebendigen Handels⸗ verkehr.

Um für fi) und wo möglich auch für weitere Kreife eine Auf- Märung über die dunfle Natur des Geldverkehrs zu erhalten, hatte Perthes ſich fhon 1817 an Gens nach Wien gewendet, für den die Frage lange ein Gegenftand ſcharfer Unterfuhung geweſen war. Eine Anfrage, die von Ihnen fommt, antwortete Gens, findet ſicher alle- mal eine gute Aufnahme bei mir, aber in diefem Falle ift es fehr ihmwer, Ihrem Wunfche zu genügen. Das Geldwefen ift feiner au- perordentlihen Berwidelung und Schwierigkeit wegen fein populärer Gegenftand und Klarheit der Darftellung ijt deshalb das erjte Ver⸗ dienft, wonach jeder ftreben muß, der dasfelbe behandelt. Weber Geld- verhältniffe zu fehreiben habe ich deshalb immer für die fchwierigite aller fchriftftellerifchen Aufgaben gehalten und bin der Meinung, daß fie in Deutfchland noch niemand gelöft hat. Solche phantaftifche und myſtiſche Schreibereien, wie unfer Freund Adam Müller fie kürzlich unter dem Titel einer Theorie ded Geldes and Licht gefördert hat, die- nen nur dazu, die ohnehin ſchon arge Berwirrung der Begriffe vol- lends unbeilbar zu machen, und ein einziged Capitel fo fehreiben zu tönnen, wie Adam Smith gefchrieben hat, ift rühmlicher als die Ver fertigung von hundert Bänden folder metaphyſiſchen Phantafien. Als in den Jahren 1810 und 1811 die interejjante Frage, ob der dama⸗ lige hohe Prei® des Goldes feinen Grund in einer wirklichen Herab- würdigung der englifhen Noten habe, im Parlament verhandelt wurde, gelang ed mir, mid) in den Bejig fämtlicher Acten zu ſetzen, und mit Begierde verfolgte ich eine Verhandlung, welche großes Licht auf mehr ald eine der wichtigiten fragen der Geldtheorie: Papiergeld, Bankweſen, Wechfelcourd, Handelöbilance, werfen fonnte. Zugleich hatte es einen befonderen Reiz für mich, in meiner Einfamfeit denn in Wien war kein Menſch, mit welchem ich über Gegenjtände diefer Art nur ein Gefpräch hätte anknüpfen können mich über jo fehwierige und verwidelte fragen in eine ftille aber lebhafte Dis⸗ cuffion mit den beiten Köpfen und größten Autoritäten Englands ein⸗

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zulaſſen. Hieraus erwuchd eine Arbeit, die ih im Monat Juni 1812 “über Eicilien nah England fchidte, wo fie aber erft fpät im Jahre 1813, alfo in einem Zeitpunfte anlangte, in welchem der allgemeine Krieg bereit? ausgebrochen war. Dad Manufceript könnte dem Ken⸗ ner vielleicht die Antwort auf manche ſchwere Frage erleichtern, aber fo wie e8 ift, ift ed für dad Bublicum unbraudhbar; es würde zmei ftarfe Octapbände füllen und hat die Form eines fortlaufenden Com- mentard über den Bericht ded Parlamentdcomited. Sch habe eine geheime Neigung, die mühfame Arbeit in veränderter Geftalt wieder von den Todten zu erweden und fie bei einem Werke über das Papier- geld, mit deffen Idee ich mich unabläffig befchäftige, früher oder ſpä⸗ ter in Umlauf zu bringen. Sollte ich diefen Plan nicht ausführen fönnen, fo bin ich jehr bereit, Ihnen meine fämtlichen Materialien zut weiteren Benugung mitzutheilen. In weſſen Hände die in jedem Falle höchſt unterrichtende Schrift, deren Gentz in diefen Briefe erwähnt, ſpäter gekommen ift, läßt fi) aus Perthes' Papieren nicht erſehen.

Die Zollfrage wurde bald nach beendetem Kriege auf das leb⸗ haftefte angeregt, al® Deutſchland mit Aufhebung der Eontinental- ſperre plöglich von englifhen Waaren überſchwemmt, die Einfuhr deutfchen Kornd nad) England dagegen fo gut wie verboten und in Frankreich und Holland dad Prohibitivfyftem neu verfchärft ward.

Wenn alle fremden Waaren frei nach Deutfchland und feine deut- ſchen Erzeugniſſe in fremde Länder gebracht werden konnten, fo ſchien Deutſchland nicht beftehen zu köͤnnen. Das 1818 feftgeftellte neue Zollſyſtem Preußens wurde ald eine Abfperrung gegen Deutichland aufgefapt und man hielt, wenn diefer Zuftand dauernd würde, den auf die Fleineren Staaten beſchränkten deutfchen Handel für vernichtet. An vielen Orten wurden Wünfche und Pläne zur Abhilfe laut. In Frankfurt trat 1819 der Handeld- und Gewerbverein ind Xeben, wel⸗ her unter Liſt's Führung eine allgemeine deutfche Zollabſchließung zum Echuß deutſcher Fabriken und Gewerbe erftrebte. Die Hanje ftädte dürfen fih von dem neuen und fehr thätigen Verein nicht ferne balten, heißt es in einem Briefe aus Frankfurt an Perthes; denn nur durch ihre Theilnahme fann der Verein vor einer durchaus ein-

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feitigen Richtung bewahrt werden. Ziehen ſich die Städte vornehm und ftolz zurüd, fo wird fehr bald eine ihnen feindfelige Richtung fich geltend machen. Schon jegt ift der Verein geneigt, in dem Stre- ben der Städte nad) voller Handelsfreiheit nichts ala Selbſtſucht zu fehen, während das Intereſſe der Städte in Wahrheit doch mit dem Intereſſe von ganz Deutfchland zufammenfällt. Auf das beftigfte ward die Leidenfchaft in den Hanfeftädten erregt, als 1820 die be- kannte Schrift Lindner'd: Manufeript aus Süddeutſchland, erfhien. Ihre eigentliche Abficht war, die Nothwendigkeit nachzumeifen , daß Baiern auf Koften feiner ſchwächeren Nachbarn zu einer großen Macht erhoben werden müſſe; aber auch auf Norddeutichland waren Blicke geworfen und unter anderem gefagt: Was jollen die deutfchen Bar- bareöfen, die Hanfeftädte, deren Intereſſe als englifcher Factoreien auf Plünderung des übrigen Deutfchlands und auf Vernichtung fei- ner Induftrie gerichtet ift? Deutfchland muß felbft im Beſitze feiner wichtigften Häfen fein und fie nicht einer privilegierten Kafte von Kaufleuten anvertrauen, melde durch ihren Eigennuß an England gebunden find. Diefe Republifen find in jeder Beziehung ein hors d’oeuvre im Vaterlande; der Wiener Congreß wußte nicht, was er that, als er ihre Abfonderung anerkannte.

- Unmittelbar nachdem diefe Schrift befannt geworden war, fchrieb ein in Eüddeutfchland lebender Freund an Perthed: Jetzt wird es Zeit, daß das phlegmatifche Eis der norddeutichen Handelsftädte ge- brochen werde. Da Sie nit täglih mit Süddeutſchen verkehren, fo haben Sie feine Vorftellung davon, in welchem Maße die Borurtheile gegen den freien Handel und indbefondere gegen die Hanfeftädte im füdlihen Deutfchland verbreitet find. Dazu kommt, da gegenmwär- tig die Verbindung der füddeutfchen Staaten zu einem gemeinfchaft- lihen, dem preugifchen Zolliyftem gegenüberftehenden Berein mit Ernft und Eifer betrieben wird. In Deutfchland leben jetzt nicht viele Män- ner, die etwas wollen und ſchaffen fönnen, und unter diefen wenigen arbeiten einige mit raftlofer Thätigkeit an Herftellung eines Zollfy- ftemd, welches den Handel Deutſchlands vernichten kann. In die- jeın Augenblide find in aller Stille Bevollmädhtigte in Darmitadt verfammelt und fie haben fämtlich eine ihnen überreichte Denkfchrift

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vortrefflich gefunden, welche durch möglichfte Beichräntung ded Han» dels die Induſtrie zu heben vorfchlägt. Bielfah war damals die Anſicht verbreitet, daß auch die neue preußifche Zollgefeßgebung die Bedeutung des deutfchen Handels verfenne und im vermeintlihen In⸗ tereife der Fabriken fehr leicht zu den verderblichften Beſtimmungen für den Handel verleitet werden könne. Perthes war von der Größe der Gefahr überzeugt und glaubte, daß diefelbe nur durch eine Fräf- tige Einwirfung auf die öffentliche Meinung befeitigt werden koönne. Die große Gefahr, fehrieb er einem einflußreihen Manne, welche dem deutichen Handel durch das beftehende preußifche und das beabfichtigte füddeutfche Zollfuftem droht, iſt durch das Manufcript aus Sübd- beutichland fehr erhöht. Es wird bald in Mittel» und Süddeutfch- land ald Autorität bei dem Theile ded Publicums gelten, welcher ſchon jebt die Hanfeftädte als Schmarogerpflanzen betrachtet. Aus Berlin böre ih, daß hohe Beamte die Behauptungen des Manuferiptd als richtig betrachten oder wenigſtens ſich fo ftellen, um anderweitige Ab- ſichten zu erreichen. Gegenbücder werden wenig helfen, aber für viele Gegenartifel in den am meiften gelefenen Zeitungen muß geforgt wer⸗ den. Das Sprichwort fagt, von einer böfen Nachrede bleibe immer etwas hängen, aber aud von der Wahrheit bleibt etwas hängen, wenn fie nur immer und immer wieder gefagt wird: erft wird einer bier, dann einer dort gewonnen, aus einigen werden viele und die Meinung der vielen hat oft, wenn fie unwahr, und zuweilen auch, wenn fie wahr ift, großen Einfluß auf die Handlungen der Regierun- gen. Perthes felbft regte eine Anzahl erfahrener Kaufleute an, größere und Fleinere Artikel für die am meiften verbreiteten Zeitungen zu fehreiben. Die Allgemeine Zeitung nahm eine Reihe bedeutender Auffäge auf und von Heß kämpfte in einem befonderen Werke: „Aus Norddeutfchland”, für Handelöfreiheit und für die Hanfeftädte. Ganz ohne Einfluß mögen diefe Bemühungen auf den fpäteren Gang der Handelögefeßgebung nicht gewefen fein.

Weit allgemeiner ald durch diefe Handelöftagen wurden in der damaligen Zeit die Köpfe und die Herzen der Menfshen durch die Frage nad) der Stellung der Ständeverfammlung und nad der Stellung des Adels befhäftig.. |

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Stände wurden freilich leidenfchaftlich begehrt, aber nur Stände ganz im allgemeinen. Alle die unermeßlichen Schwierigkeiten, welche entftehen mußten, fobald nicht von Ständen überhaupt, fondern von Ständen in den wirklich vorhandenen deutfchen Verhältniffen die Rede war, erregten nur in überaus wenigen Kreifen Aufmerkſamkeit und Iheilnahme. Auch in den vielen Briefen politiichen Inhalts, melche Perthes in jenen Jahren empfing, heißt es wohl einmal ganz allge: mein: Die jegigen Kammern werden fcheitern , neue Berfuche werden . gemacht werden; man wird vielleiht auf die allgemeinen Bolkövers fammlungen germanifcher Urmwälder zurüdtommen, aber bald bemer- fen, daß diefelben für unfere Zeiten ihre Schwierigkeiten haben. Oder es ſchrieb eben fo allgemein ein anderer: Kaum kann ein Zwei⸗ fel darüber fein, daß bei jeder deutfchen oder europäifchen Jufammen- funft der Gabinette Hemmungen des conftitutionellen Lebens immer aufs neue an den Tag treten werden. Gebr felten aber finden ſich die großen Fragen nad) der Berechtigung und Zuſammenſetzung, nad der Gliederung und Gefchäftdordnnung der begehrten Stände auch nur erwähnt. Weber einen einzelnen, freilich überaus wichtigen Punkt ge⸗ langte indefien Perthes ſchon früh zum vollen Berftändnid. Vielfach nemlicd war die Behauptung geltend gemacht worden, daß die Mehr⸗ heit der Stimmen letzte und höchſte Quelle ded Recht? fei. Bereit? 1817 hatte Falk aus Kiel in einem Briefe an Perthes hiergegen den entfchiedenften Widerfpruch erhoben. Nichts ift verderblicher al® der Wahn, äußerte er, nach welchem die Menichen fein höhere® Gefek anerkennen wollen als ihren eigenen Willen, und jede Thorheit für gerechtfertigt halten, fobald ein Concluſum der Majorität vorgelegt werden fann. Major pars meliorem vicit, fagt Liviud und der alte Sprud hat aud) heute noch feine Wahrheit. Wenn wirklich fein hö⸗ berer Beftimmungsgrund ald der Wille der einzelnen in deren Majo- rität vorhanden wäre, fo müßte ed das erfte Streben jeded Zuſam⸗ menlebens fein, dur die Schöpfung eined hoch über allen Willen der einzelnen ftehenden Gefebed den eigenen Willen zu bändigen.

Perthes felbit hegte darüber feinen Zweifel, daß, wenn die Mehr- beit der Köpfe zu gebieten und zu verbieten habe, die Herrfchaft des Staates in Die Hände derer kommen mülfe, denen das Gehordhen bef-

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fer gezieme als das Herrfchen. Sehr beitimmt ſprach er feine Anficht in einem Briefe vom 4. März 1821 aus, in welchem er fehrieb: Zu einer verfaſſungsmäßigen Ordnung werden wir noch lange nicht fom- men und das Hindernis liegt mehr in der liberalen als in der monar⸗ chiſchen Partei. Noch einmal werden wir durd) die Despotie hindurch müffen, aber diefegmal wird der Name ded Tyrannen fein: Majoris tät der Stimmen. Wenn Kammern fih wie in Frankreich geftalten, oder Corted wie in Spanien und ausfchmeifender noch in Portugal auftreten, fo ift der Staat und alled, was mit ihm zufammenhängt, den Parteihäuptern preidgegeben, deren Gefchrei ſich Volksmeinung ‚nennt. Schon find die Leidenfchaften wieder wie früher in der fran⸗ zöfifchen Revolution auf das wüthendfte entflammt und die Repräfen- tativverfaſſung jener Länder bietet, um der gräßlichiten Verwirrung zu entfliehen, nur einen einzigen Weg: die einzelnen Stimmen wer-

ben abgegeben, gezählt und die größere Zahl hat Recht. Oder glaubft

Du vielleicht, dag Menfchen, die von entgegengefeßten politifchen Lei⸗ denfchaften beſeſſen find, fi durch Gründe und Gegengründe einan« der belehren, befehren und anderen Einned mahen? Nimmermehr; jeder nagelt fi nur immer fefter auf feiner Seite und in feiner Par- tei. Die Volfövertreter werden alfo wie Rechenpfennige anzujehen fein; je nachdem fie durch Cabale, Geld, Furcht fo oder anderd ges wonnen find, fann man fchon im voraus willen, wie fie ftimmen, und alle Worte für das Wohl des Staates ſchweben in leeren Lüften und verhallen, ohne eine Spur zu binterlaffen. Unfere Vorfahren in Hamburg kannten den ſcheußlichſten Tyrannen: Majorität der Stimmen, fehr gut und haben feine Macht zu brechen gefucht, indem fie nicht nad) Köpfen, fondern nach den fünf Kirchfpielen ftimmen lie gen. Abhilfen diefer Art zu finden, iſt die erfte und wichtigfte Auf« gabe jeder deutfchen Verfaſſung; wo nicht, fo werden wir Knechte der Matten oder vielmehr der fchlechten Kerle, die fie führen und betrügen. Veberall ift Sucht nach größerem Wohlleben,‘ überall Neid gegen Rechte anderer und gegen höhere Gewalt; überall vermeint man Drud zu fühlen und will ihn durch Berfaifungsurfunden befeitigen, und wo wirklicher Drud ſich findet, erfennen nur wenige die wirfli- hen Wege zur Abhilfe. Wo es aber fo fteht, da find die Maſſen

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leicht auf die Beine gebraht. Die Männer, die dad Wahre kennen und dad Gute lieben, könnten freilih kühn und thätig die Sache in die Hand nehmen, aber fie hüllen fich überall in den Mantel der Tu⸗ gend und fehmweigen. Die Maffen fallen daher nothiwendig in die Ge⸗ walt der Schreier, der Schlechten, der Böfen, und alled wird darun- ter und darüber gehen. Daß der Liberalismus im Bordringen zum enticheidenden, wenn auch nur vorläufigen, Siege über den Monar- chismus ift, kann ich nicht - bezweifeln; darum möge immerhin das Unvermeidliche raſch gefchehen und den Völkern ihr Wille gewährt ‚werden. Bald genug werden fie erfahren, daß politifch frei fein und feinen oder einen ſchwachen König haben, zwei fehr verjchiedene Dinge find. Hat der Liberalismus erreiht, was er erftrebt: einen König, der unter dem Namen König eine Null, und eine Majorität, die unter dem Namen Kammern ein Despot ift, fo wird der Kampf kommen und mit dem Kampfe Blut und Tod und entfegliched Elend unter den Menſchen, aud denen die Demuth verſchwunden if. Das Ende aber wird fein, daß, weil jeder viel haben und nichts geben, alles fein und nicht? anerkennen will, jeder unterdrüdt wird, damit er die an« dern nicht unterdrüde.

Obſchon Perthes die Gefahr einer unheilvollen Abirrung erkannte, verfolgte er dennoch mit lebhafter Theilnahme den Gang, melden die Ausbildung der Stände in den einzelnen deutſchen Ländern nahm. Sm Großherzogthum Heilen waren die Abgeordneten zum Mai 1820 einberufen, fie wollten aber das Edict des Großherzogs nicht ald Ber- faffung anerkennen, bevor ed auf dem Wege des Vertraged abgeän- dert und feftgefeßt jei. Der Großherzog dagegen wollte zuerſt Aner- fennung, und dann Revifion. Der Darmftädter Hof ift jebt beſonders im Gedränge, fehrieb ein Mitglied der Bundesverfammlung am 30. Mai 1820; die Stände benehmen ſich dort fo mäßig und bejonnen, dag man ihnen wenig anhaben fann. Deshalb behauptet man nun, daß Die Regierung, um einen Borwand zum gewaltſamen Einfchrei- ten zu gewinnen, den Umtrieben der Demagogen im Geheimen Bor- (hub leiſte. Dazu aber ift fie viel zu flug ; fie fieht fehr gut, daß fie fih aus ihren Finanznöthen nur zu retten vermag, wenn fie den bil⸗ ligen Anforderungen der Stände im Vertragswege entfpriht. Wenn

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man von außen her nicht flörend eingreift, fo werden fich die Dinge im Großherzogthum Heflen gewiß ruhig geftalten und ordnen; das aber ift e8 eben, was diejenigen fo in Harniſch feßt, welche befürchten, es könne, wenn das fo fortgeht, mit der Zeit auch an fie die Reihe kommen, Verſprochenes präftieren zu müffen. In befonderd.ho- hem Grade zog damald Würtemberg die Augen auf fi. Der im Dcto- ber 1816 zur Regierung gelommene König Wilhelm hatte ſchon al® Kronpring große Erwartungen erregt und ſelbſt während feine® Kam- pfes mit den Ständen um die neue Berfaffung allgemeined Vertrauen gewonnen. Bon Würtemberg erwarte ich viel, ſchrieb Nicolovius 1817 an Perthes; dahin fehen meine Augen jest. Ich glaube, daß jene Fürften, Mann und rau, die Zeit begriffen haben und Sinn für dad Nechte und Perftand für die Ausführung befigen. In der Bundesverfammlung nahm der würtembergifche Benollmächtigte, Herr von Wangenheim, welcher zuvor ald Minifter in dem Verfaſ⸗ fung2ftreit des Königreich® die Hauptrolle gefpielt hatte, fehr bald eine hervorragende Stellung ein. Diefen vielgefcholtenen Wangen- beim halte ich, fchrieb ein Frankfurter Freund an Perthes, für das tüchtigfte Mitglied der ganzen Bundesverfammlung. Alle, mas er macht, trägt den Charakter der Tüchtigkeit. Als nun die Karldba- der Befchlüffe befannt wurden, verbreitete fich die Meinung, daß fie recht eigentlich auf die Wiederaufhebung der würtembergifchen Ber- faffung binzielten. Die Haltung des Königs erfchien daher entfchei- dend für Deutfchland. Man wähnte in Karlsbad, heißt es in einem Briefe aus Frankfurt an Perthed, den König von Würtemberg zu fhhreden und den würtembergifhen Berfaffungsverhandlungen eine andere Wendung zu geben. Der König läßt ſich aber nicht fchreden und wird, was er befchlofien hat, aufrecht zu erhalten willen. In der Stuttgarter Hofzeitung ift, fchrieb Graf Moltke, der fi da- mals in Heidelberg aufhielt, an Perthed, eine jehr verftändliche Ge- generflärung gegen die Karlsbader Befchlüffe erfchienen. Der König hat überdies feine beftimmte Abneigung erflärt, Mitglied derjenigen Commiffion zu fein, welche Delegierte zu dem beliebten Inquiſitions⸗ tribunal zu fenden hat. In ganz Süddeutichland wird der König enthufiaftifch geliebt.

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Sn Baiern hatte man erwartet, daß der dur Ertheilung der Berfaffung 1818 hervorgerufene Freudenrauſch auch die Verhandlun⸗ gen des erften 1819 berufenen Landtages erfüllen werde. Auch Cie werden, ſchrieb Cchlichtegroll am 31. Januar 1819 aus München an Perthes, Ihre Gedanken jetzt doppelt oft und theilnehmend nad) Mün- hen und nad) unfern Landtagsvorbereitungen fenden. Es ift eine jehr intereffante Zeit für und; alles läßt fih auf das beſte an; unter den Deputierten find viele fehr mwürdige Männer; der König, treu feiner herrlichen Natur, lebt und webt in freundlichen Landtagdgedanten und geftern fagte er einem Deputierten mit feiner befannten Herzlichkeit, der Tag der Eröffnung des Landtages werde einer der glüdlichften feined Lebens fein. Die Geiftlichfeit, aufgeregt durh Nom, hatte Schwierigkeiten über den Schwur auf die Eonftitution gemadht, ſcheint fih jebt aber zum Ziel zu legen. So viel mwenigften® ift gewiß, daß der König feft in feinem Entſchluſſe bleibt und nicht nachgibt. Un- mittelbar indeffen nah Zufammentreten des Landtages brach der Zwieſpalt zwifchen der erften und zweiten Kamıner aus. Die Reich räthe ftellten ſich und den König ald eine Einheit, die Deputierten- fammer aber als einen gemeinfamen, vereint zu befämpfenden Feind dar und die legtere fchritt fofort auch zum Gebraud der in ihrer Hand fich befindenden Waffen. Schöner als das Berhältnid zwifchen unfe- rem König und feinen Ständen bei der Eröffnung ded Landtages war, heißt e3 in einem Briefe an Perthed von 28. Februar, fann es auf der Welt nicht fein. Der vierte Kebruar bot das erhabenfte Schau- fpiel dar, das ein deutſches Auge fehen kann. Auch jetzt noch hoffe ich, daß der grade Sinn unſeres herrlichen Königs Stand halten wird gegen die Machinationen, welche Zwietracht zwiſchen ihm und der Deputiertenkammer zu ſäen trachten; alle die bubenhaften Angriffe innerhalb und außerhalb der Verſammlung werden der Deputierten⸗ kammer nicht ſchaden, wenn ſie ſich ſelbſt keine Blößen gibt und ſich vor müßigem Geſchwätz zu hüten weiß. Die Motion wegen des Mili⸗ taͤreides auf die Verfaſſung ſcheint mir aber eine ſolche müßige Schwä⸗ tzerei geweſen zu ſein, die ein entſchloſſenes Benehmen des Praͤſidenten ſogleich hätte unterdrücken müſſen. Trotz ſolcher einzelnen Misgriffe der Deputierten werden aber die, welche durch boshafte Verleumdungen

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und Ecurrilitäten das fo fhön begonnene Werk verderben, eine furcht- bare Berantwortung vor Gott und ganz Deutfchland zu tragen ha— ben. Als nun wenige Wochen fpäter zu dem Zwiefpalte zwifchen Ariftofratie und Demagogie der Zwiefpalt zwifchen Regierung und. Ständen über die Geldfragen hinzutrat, fanden fich bald Land und Obrigkeit eben jo ergrimmt und argwoͤhniſch gegenüber wie überall. Lebhafter als das ſtändiſche Verhältnis nahm eine andere die Zeit beſchäftigende Frage Perthes’ perfönliche Theilnahme i in Anſpruch. Schon während des Wiener Congrefjed hatte ſich der alte, in den beiden großen Kriegsjahren zurüdgedrängte Streit über die Bedeutung des nie- deren Adels wieder geregt. Privilegienfucht, Hochmuth und Argwohn auf der einen, Egalitätsſucht, Misgunſt und Aerger auf der andern Seite ſchärften den in thatfächlichen Berhältniffen wurzelnden Gegen» fa. Wunderliche Erwartungen einer neuen phantaftifch » glänzenden Zufunft für den niederen Adel, wie fie fih 3.8. in der damals viel beiprochenen Adelskette fund thaten, riefen in den Gegnern des Adele eine noch wunderlichere Angft vor der Möglichkeit der Erfüllung diefer Erwartungen hervor. Wie allgemein die Abneigung gegen den Adel verbreitet war, trat fehr erfennbar hervor, als Voß den Grafen Friedrich Leopold Etolberg mit den unwürdigften Waffen angegriffen batte. Die öffentliche Meinung war entfchieden für Voß, zwar auch weil diefer den Katholicismus, vielmehr aber noch, weil er den Adel in Stolberg leidenfchaftlih angefeindet hatte. Es ift wahr, heißt es _ in einem Briefe aus Berlin, Voß hat ſich inhuman und Fleinlich gegen Stolberg benommen, aber volled Recht hat er in feinen Beichuldigun- gen de? Adeld. Täglich drängen ſich hier in Berlin, wie überall in Deutfchland, die Belege zu feinen Behauptungen auf. Voß hat fich, fhrieb ein Freund aus Franken, großes Verdienft um die gute Sache erworben, indem er dad dunkle, fchleichende Treiben der Adelspar⸗ tei offen gelegt hat. Wenn es unfere geiftige und bürgerliche Freiheit gilt, muß jede Rüdjicht auf die Schonung des einzelnen fehweigen. Unfere edelften Güter werden von der Adelskette bedroht und deshalb freue ih mich fehr darüber, daß hier in Franken Voß nur wenige Gegner und Stolberg feinen einzigen Vertheidiger findet. Matt und zmweideutig erfchienen jelbft einem fo edlen, mäßigen und gerech⸗

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ten Mann wie Graf Cajus Reventlow die einzelnen Stimmen, welche fich gegen den allgemeinen Angriff auf den Adel hier und da erhoben. Höchſtens will man, fehrieb er 1820 an Perthed, den Adel, weil er nun einmal da ift, nicht todtfchlagen, aber ein bloßer Dunftadel ift fein Adel. Auch ift der Streit über ihn, wie er jebt geführt wird, fein Streit zwifchen folchen, die verfchiedene Anfichten und verichiedene Erkenntnis, fondern zwifchen folchen, die verfchiedene Gelinnung ha⸗ ben, und deshalb wird er durch Gründe und "Gegengründe nie erle- digt werden. Die Gefhhichte wird wohl ald Schiedörichter angerufen, aber doch nur ſcheinbar; denn in Wahrheit gebraucht jeder die hiſto⸗ rifhen Thatfachen nur als Mittel, um feine bereitd vorhandene un- umftöglihe Meinung in rabuliftifcher Weife zu begründen und zu rechtfertigen. Gleichmüthiger betrachtet man den Kampf und feine wechjelnden Erfolge, wenn man zu der Ueberzeugung gelangt ift, daß ed weniger auf die Vollkommenheit des gefellihaftlihen Zuſtandes al? darauf anfommt, dag die einzelnen Geifter, welche fich hier nicht wohl fühlen, zu Gott zurüdgeführt werden. Dann erfcheint dad nie endende Spiel mit dem umgebenden natürlichen und geiftigen Ele mente wie eine förderlihde Schule, und man ift beruhigt.

Während im Volke die beftehende Stellung ded Adeld allgemein als unhaltbar betrachtet ward, zwängten ſich große und kleine Regie- rungen mehr und mehr in die Anficht hinein, daß nur Edelleute be- fähigt und befugt feien, die Öffentlichen Angelegenheiten zu leiten. Sie machten hierdurch eine Frage, die für viele Gegner des Adeld nur eine perfönliche oder fociale war, zugleich zu einer Frage von durchgreifender politifcher Bedeutung und riefen Kämpfer in die Schranken, die nicht nur fich felbft, fondern aud den Staat gegen die Edelleute vertheidi- gen zu müffen glaubten. Der poetifch - Hiftorifche Adel früherer Jahr⸗ hunderte ift längft untergegangen, heißt es in einem Briefe aud dem Sabre 1819 an Perthed; nicht nur die allgemeine Umwandlung aller Zuftände, fondern auch die gänzlich veränderte Lebensſtellung jedes ein- zelnen Mitgliedes diefed Stande? hat ihn unmöglih gemadt. Er fann fo wenig zurüdfehren, mie ein Todter aud dem Grabe, mögen auch die diplomatifhen Aerzte verordnen, was fie wollen. Dennoch möchten felbft unfere edeliten Edelleute am liebften ſchnurſtracks zurüd

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in die fehönen Zeiten Kaifer Friedrih’3 IH. Nun wohlan, der. Verfuch werde gemaht! Die Edelleute follen alfo wieder wie damals nichts fein ala Ritter, und nur die Ritter; nicht aud Bürger und Bauer, find friegspflichtig und bilden, das Gewehr auf der Schulter, unfere Negimenter; jeder Ritter weiſt ftolz jeden Sold zurüd. Wenn aber unfere Edelleut? das nicht wollen und nicht fönnen, fo find fie der alte ritterfiche Adel nicht mehr, und Rechte und Anſpruͤche eines Stan- des leben nicht länger ald der Stand felbit. Neue, früher nicht ge- kannte Rechte muß alfo der Adel in Anfpruch nehmen, um eine bevor- zugte Stellung zu behaupten. Weil der Hunger ihn von den zjerbro- chenen Burgen feiner Väter herabgetrieben hat, will er von der Tafel der Bürger ſchmauſen; weil er früher außer dem Staate ſtand, will er jetzt über den Staat herrſchen, und weil früher nur Ritter Krie— ger waren, follen jest nur Edelleute Minifter und geheime Näthe fein. Ich weiß wohl, daß mir eines Adels bedürfen, aber ich weiß auch, daß nicht der Vortheil der Edelleute, fondern das Bedürfnis des Staates es ift, welches die Stellung des Adel? zu beftimmen hat.

Die in diefen und in manchen ähnlichen Mittheilungen allge- mein audgefprochenen Anfchuldigungen fanden fi in anderen Briefen: an Perthes für das bejondere Verhältnis einzelner Länder wiederholt. Das Gelingen der guten Sache, heißt ed in einem Briefe aus Hol- ftein, findet. hier dasſelbe Hindernid wie überall in Deutfchland. Die der Ariftofratie angeborne und neuerdings künſtlich vermehrte Furcht, an eigenem Nechte zu verlieren, wenn andere Menfihen auch Rechte erhalten, treibt den Adel dahin, fich allein auf die Gnade des Kö— nigs, als einzige Erhalterin aller Borrechte, zu verlaffen und darüber das gute Recht des Landes und alle Die vielen, welche e8 vertheidigen wollen, bei Seite liegen zu laſſen. Für die nächite Zeit wird das Zreiben gelingen, aber auf die Dauer nicht. Es ſcheint, fehrieb ein preußifcher Staatsmann gleichfalld 1819 an Perthes, noch für lange Zeit das Befte in Deutfchland der Dienftbarkeit des Schlechten untergeben bleiben zu follen. Alles liegt in den Feſſeln der Ariftofra- tie und der Verſuch, fie zu löfen, welcher in den niederen Lebens⸗ und Staatöverhälinifien mit Erfolg gemacht ift, hat auf die höheren Kreife gar keinen Einfluß geäußert. In fleinlihen Privatrüdfihten

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geht das öffentliche Xeben hin und Staat, Regierung, Aemter, Ein- richtungen dienen zunächſt und vor allem zum Pug einer verhältnis- mäßig Meinen Zahl von Kamilien. Das ift eine Thatſache, die Sie aber in Ihrem Freiftaate unmöglich fo fühlen, alfo auch nicht in fol- chem Umfange ermeſſen fönnen, als wir, wenn wir unfere Augen nicht zumachen. Ich weiß wohl, das wahre Leben drängt dennod immer über Abfiht und Willfür hinaus und geht in wrfprüngli- her Kraft auf feine Weife fort, was aud einzelne ſich einbilden mö- gen; aber welche Berfümmerung doch für dad ganze jept lebende Ge- ſchlecht! Ich habe feine Hoffnung, fo lange das Dogma befteht, daB die Minifterien nur unter den Mitgliedern einiger wenigen Familien Begenftand des Kampfes fein können. Friſcher Wind wird erſt dann in die Segel wehen, wenn ein nicht in den Borurtheilen der Ariftofra- tie geborener und auferzogener Geift Einfluß auf die Leitung des Staa- te8 befommt.

Selbſt ein fo alter und bewährter Kenner des Adel? wie Reh- berg äußerte fich beforgt über den Wahn der Regierungen, nach wel- chem nur Edelleute befähigt zum politifhen Herrſchen und alle ande- ven nur beftimmt zum politifchen Gehorchen fein ſollten. Es freut mich fehr, fchrieb er an Perthed, daß Sie meine Darftellung der Ver⸗ bältniffe des Adels einer Berüdfichtigung auch für die jetzige Zeit werth halten. Ich wüßte auch wirklich nicht? an meiner früheren Veberzeugung zu ändern und möchte fie heute mit verdoppelter Kraft geltend machen können; denn es ift faft erftaunendwürdig, wie weit und wie geſchwind die Regierungen und mit ihnen der Adel zurüd» fpringen, nachdem fie fih von dem Schreden erholt haben, der Die Eiegenden 1813 ergriff, ald fie vor den eigenen Erfolgen zurüd- bebten. Weil ich den Abel liebe und ihn für nothwendig halte, fhrieb in einer ähnlichen Stimmung Graf Adam Moltfe, empfinde ih e8 um fo fehmerzlicher, daß man ihn mit Borurtheilen feſtzuhal⸗ ten ftrebt. Um den Adel, fo wie e3 jest mit ihm beftellt ift, bleibt es ein übled Ding. Für die Gegenwart fteht er da wie ein hiftori« ſches gewaltfam aufbewahrted Unrecht. Wird er nicht nad dem Geifte und nach dem Bedürfniffe der Zeit geftaltet, fo bleibt nicht einmal eine Ruine von ihm übrig.

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Ungeachtet aller der leidenichaftlichen Kämpfe über, für und ge gen den Adel wurden in jenen Jahren nur felten Berfuche gemacht, eine ſichere Einficht in da3 innere Wefen und in die äußere Bedeu- tung des vielbefprochenen Standes zu gewinnen. Auch innerhalb des deutfchen Adel® dachten gewiß fehr viele ganz ähnlich, wieder furländifche Edelmann, welcher 1820 an Perthed fchrieb: Gerne will ih Ihnen meine und meiner Freunde Anfichten über den Adel mit theilen,, jo bald ich ed vermag. Bid jetzt aber habe ich eine Unter- fuchung über den Grund des Adels fo wenig angeftellt, wie darüber, ob die Mutter dad Kind zu fäugen hat oder nicht, mich konnte der Gegenftand bisher nicht beichäftigen, eben weil ich Edelmann bin ‚und in unjeren Berhältniffen durchaus feine Aufforderung zur -Prüs fung deöfelben liegt. Daß Ritterfinn und Militärehre bier zu Lande gedeiht wie heimiſch Korn, hat Rußland bewiefen. Europa nahm ja alle die Saat nur von und, mit der ed die Felder feines Ruhmes beftreute und von der ed jegt jo viel Frucht geemtet zu haben glaubt, dag die Erntefränge kein Ende nehmen. Unſer Adel denkt dabei fehr liberal. Wir freuen und wohl, wenn ein edler Ritter fiegt, aber wir freuen und auch, wenn ein plumper Junker fällt; der Gelehrte und wer fich einigermaßen durch Bildung erhebt, wird und nad ruffifchen Gefegen gleichgeftellt.. Wir kennen daher feine Midgunft und feinen Streit und find wahrfcheinlich für das nächfte Jahrhundert auf fiche- rem Berge. Grade deöhalb aber, weil wir aud der Ferne ald linbe- theiligte Dem Kampfe der Meinungen um den Ritterhelm zufehen, wird unfere Anficht vielleicht eine richtigere fein. Wer felbft in der Schlacht ringt, fieht nicht? ala den nahen Feind, aber weder Schlachtfeld noch Poſition.

Perthes hatte, um ſich eine feſtere Anſicht zu bilden, Männer der verſchiedenſten Stellung gebeten, ihm ihre Meinung über die Grundlage des Adels mitzutheilen. Von vielen Seiten wurde ſeinem Wunſche entſprochen. Das Weſen des Adels, ſchrieb Graf Friedrich Leopold Stolberg, kann nicht ausſchließlich im Grundbeſitze oder im Berufe oder-in dieſer oder jener Lebensſtellung liegen. Das Zufäl- lige der Geburt würde nicht lange und nicht allenthalben in befon- derer Achtung fteben können. Dem Adel muß eine dee innewoh-

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nen, von welcher feine gefamte äußere Stellung nur die Folge ifl. Es liegt etwas Poetiſches, die Empfindung Anfprechended im Adel. Wie der Kriegerftand ein fihtbarer Nepräfentant ded Muthes, der geiftlihe Stand Repräfentant der Frömmigkeit ift, fo foll der Stand des Adels fichtbarer Repräfentant edler Gefinnung fein. Und- wenn diefe Idee nicht immer auf eine bedeutende Zahl der Mitglieder des Standes gewirkt hätte, fo würde troß Grundbeſitz und fonftiger äufe- ren Stellung ſchon lange nicht mehr vom Adel die Rede fein. Die Kraft des Adel liegt, heißt ed in einem anderen Briefe, in der öffentlichen Meinung: . er ift und bedeutet fo viel, al®d die Stimme der Nation ihn gelten läßt; feine eigene Anftrengung wird ihn auf die Dauer ein mehrere®, aber auch fein Lärmen der Echreier ein we⸗ nigereö fein laffen. In einer Reihe von Briefen an Perthes ſprach Kouque über dad Weſen de? Adels fih aud. Der Adel ift freilich, fhrieb er, in England und in Deutichland ein und dasfelbe, aber die Geftalt, in der er in beiden Ländern erfcheint, ift eine ganz ver⸗ ſchiedene, und auch in dieſer Verfchiedenheit fol man die Gefchichte . ehren und nicht ‚die Geftaltung des Adeld in dem einen Lande auf das andere übertragen wollen. Auch in England aber ift Grundbe- fi nicht Adel, fondern kommt zum Adel hinzu, und in Deutfchland bleibt doch gewiß der Edelmann ein Edelmann, wenn er aud) feine einzige Hufe befigt. Wenn aber der Adel auch ohne Grundbefiß et- was ift, fo muß in ihm etwas liegen, was fich nicht durch großen Güterbefip ausmitteln und darftellen läßt. Der ihm eigenthümliche und wefentliche Ritterfinn, die Seele gleihfam des Adels, ift ein zar- tes Wefen, faft eben fo zart, wie die jungfräuliche Unfchuld, und will gleich ihr nicht definiert, fondern in lebendigen Perjonen dargeftellt fein. Ich kann Dir nicht fagen: Das ift der Nitterfinn, aber ich fann Dir fagen: In diefem Manne lebt der Ritterfinn. Wenn aber in dem Adel ald Stand eine folhe Seele wohnt, fo kann diefer oder jener einzelne zwar ein Ritter werden und in den Stand hinein wachſen; damit fich aber eine gefamte Ritterfhaft darftelle, wird vorauögefept, daß das Inſtitut von Jahrhundert zu Jahrhundert fortlebe und die Flamme des Nittergeifted bewahrt werde vom Ba- ter auf den Sohn. Jedes Glied des Standed muß von Kindesbei-

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nen an willen, daß ed zu diefem Stande gehört, und Die englifdhe Einrichtung, nad) welcher ein jüngerer Sohn ober ein jüngerer Zmeig der Familie unvorbereitet plöglich durch den Tod des älteren zum Adli⸗ hen gemacht wird, verträgt ſich nicht mit dem Geifte des Adels. Ungeachtet diefer und vieler anderen entgegenftehenden Anfichten blieb Perthes dennoch im ganzen der Auffaffung treu, welche Reh: berg ſchon 1803 in feiner Schrift „über den deutichen Adel” ausge fprochen hatte. In einer Reihe von Briefen, die in veränderter Ge- ftalt unter dem Titel „Etwas über den deutfchen Adel’ gedrudt wor: den find; fuchte Perthes das ganze Verhältnis fich felbft deutlicher zu machen. Dir ift, heißt es in denfelben, Ritterthum gleichbedeutend mit Adelftand. Das zünftige Rittertpum aber ift doch nicht der Adel, fon- dern nur eine einzelne vorübergehende Geftalt des Adels geweien und läpt jich nicht deshalb, weil es ehrmürdig und herrlich war, für unfere Zeit wiederherfiellen. Ritterthum, aus dem Mittelalterlichen ind Reudeutfche überfept, ift Militäradel; wie aber kann, ſeitdem ſich 1813 das ganze Volk den Sporn verdient hat, heute ein Militäradel befteben? Dem Nitterfinne, wie Du ihn poetifch auffaffeft, fehlen für unfere Tage die Ritterburgen, die Ritterherrfchaften und die Rit- ter felbft. Der Nitterfinn müßte doch ein Sinn fein, der nur oder doch vorzugäweife nar im Adel lebte. Wenn Dir nun Ritterthum und Militäradel zufammenfällt, fo muß Dir auch NRitterfinn und Officier- ehre ein und. dasfelbe fein. Das Wefen aber der Officierchre Tiegt barin, daß fie feinen Zweifel an perfönlihem Muth duldet und au den entfernteften Schein der Feigheit fchon mit Blut abwäſcht. Das ift Officierehre, fo weit reicht fie,. weiter aber auch feinen Schritt; denn Frömmigkeit, Rechtfchaffenheit, Treue, Muth, Ehrerbietung gegen das weibliche Geſchlecht, das alles ift nie und nimmermehr Eigenthum eined Standes, ſondern ift etwas, was der Menſch ald Menfch haben oder doch gewinnen foll ohne irgend eine Rüdjicht auf feinen Stand. Wenn Du daher nicht die Officierehre zur Seele des Adels machen willft, fo muß unfer heutiger Adel eine andere Grundlage haben, al? den von Dir behaupteten Ritterfinn, und dieſe andere Grundlage kann ich nirgends finden, als in dem großen, an beftinimte Familien feſtge⸗ bundenen Grundbeſitz. Adelsgeſchlechter und grundherrliche Geſchlechter

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fheinen nur ein und dasſelbe und der grundherrliche Erbadel fcheint mir ein nothwendiges und natürliches Element des deutichen Landes und des deutſchen Volkes. Iſt dieſe Anficht richtig, fo fann aber auch der Mdel eben fo wie das Grundeigenthum nur auf den älteften Sohn übergehen und die Nachgeborenen müflen in die anderen Etände des Volkes zurüdtreten, wenn nicht ganz Deutfchland mit unberedhtigten Candidaten für alle einflupreihen Stellen überſchwemmt werben foll. Perthes konnte feine Anfichten über die Unhaltbarkeit der gegen- wärtigen Stellung des Adeld den dieſem Stande angehörenden Freun⸗ den unter Umftänden fehr fcharf hervorheben, aber anderen gegenüber verhehlte er Die große Beſorgnis nicht, mit welcher er die wilden An- griffe auf Die nad) Herlommen und Geſetz beftehenden Rechte des Adels betrachtete. Ich fige nicht auf der ariftofratifchen Bank, fchrieb er im Frühjahr 1821, und mein Auge fchielt auch nicht zu dem Adel hin- über, Als freier Bürger einer deutichen Stadt auf meinen Beinen feft zu ftehen, das ift mein Wunfh und Wille; aber das fchlieht nicht aus, daß auch andere in anderen Berhältniffen feft auf eigenen Bei⸗ nen ftehen. So viel freilich ift mir gewiß: Der Adel, fo wie er ift, kann nicht fortbeftehen und wird nicht fortbeftehen ; aber fehr ungewiß und undeutlich bleibt mir die Antwort auf die Frage: Warum find Vermögensrechte unantaftbar, wenn PBerfonenrechte entzogen werden fönnen? warum fann id dem Wohlhabenden nicht mit demfelben Rechte fein Vermögen wie dem Edelmann feine Adelsrechte nehmen? Soll dad Boll, wie Ihr Liberalen wollt, wirklich nur aus Gleichen beftehen,, fo bleibt es zwar demungeachtet möglich, daß ich mit mei« nem eriworbenem Vermögen fchalten und walten fann, wie ich will; aber wie wird Gleichheit herrfchen Fönnen, wenn der Sohn, der zu- fällig einen reihen Vater hat, Schon deshalb mitten unter Darbenden ein bequemes, träges Leben führt? was hat mein Sohn für ein Recht auf mein faner erworbene Gut? Sollen die Kinder nicht eben jo thätig fein als die Eltern ? ift die gefellfchaftliche Ordnung zum Nutzen fauler Bäuche gemacht? Nein! Eollen wirklich alle gleich fein, fo muß das Eigenthum, wenn fein Befiger ftirbt, an den gefellichaft- lichen Berein, der es neu vertheilt, zurüdfallen. Aber damit ift es noch lange nicht genug, um die Gleichheit wirklich herzuftellen. Die

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Berichiedenheit in der Erziehung der Kinder wird au, wenn dad Erbrecht aufgehoben ift, immer wieder Ungleichheit heroorrufen. Wes⸗ bald jollten die Kinder der Armen deshalb, weil ihre Eltern weniger arbeiteten, weniger gebildet, weniger unterrichtet, weniger fittlich ala die Kinder der Wohlhabenden erzogen werden? Alſo werden wohl allgemeine Bolfderziehungshäufer gebaut und alle Kinder in ihnen untergebracht werden müjjen. Das ift Die Gonfequenz der Forderung, dag dem Adel feine befonderen Nechte entzogen werden müßten. Nun weiß ich zwar, daß alle Gonfequenz vom Zeufel-ift; aber derer we⸗ gen, die ſich heutzutage fo viel auf die Gonfequenz berufen, ift e8 doch recht gut, theoretiich zumeilen ganz conjequent zu fein. Manche fehen dann vielleicht, Daß ed um die Conſequenz ein gefährliches Ding ift, und werden anderer Meinung.

Oeftreih und Preußen während ber erften Jahre nad den Karlebader Beſchlüſſen 1819 1822.

. Die Karlebader Schlüffe und die Wiener Schlußacte erhielten für eine Neihe von Jahren Ruhe und äußere Ordnung in Deutichland. Eine neue Frift hatten die Regierungen gewonnen, um, ungeirrt durch unberufene Schreier und tumultuarifche Auftritte, fich politifch fchd- pferifch zu bewähren. Wenn aber in jener Zeit viele einen erften Schritt, einen neuen Anftoß von der Bundesverfammlung erwarteten, jo vergaßen fie, daß diefe Bundesverfammlung aus Bevollmächtigten beftand, welche nicht nach eigener Einficht und Ueberzeugung, fondern nach dem Willen ihrer Höfe zu reden und zu ſtimmen hatten. Bon den Regierungen der einzelnen deutfchen Staaten, vor allem alfo von Deftreidh) und Preußen hing es ab, ob die Zeit der wiederum ver- gönnten Ruhe zur Yusbildung der politiihen Verhältniſſe benupt werden würde, oder nicht.

Die Erwartung gut unterrichteter Männer über den Weg, den Oeſtreich einichlagen werde, findet fich fehr deutlich in einer Mitthei—

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lung audgefprochen, welche Perihes aus Wien erhielt. Sie haben ohne Zweifel, heißt es in derſelben, den Brief des Fürften Metternich gefehen. Mit Recht hält der Fürft die Rückkehr zum Alten für eben fo. gefährlich, wie den Uebergang zu Neuem. Das eine wie dad an-

dere fann den Ausbrud ‚von Unruhen herbeiführen, und Unruhen

müſſen in der'gegenwärtigen Epoche um jeden Preis vermieden wer⸗ den. Es darf daher von der politifchen Ordnung, wie fie nun einmal befteht, nicht abgewichen werden, weder um rüdwärt® noch um vor- wärts zu kommen. Die unbedingte Aufrehthaltung ded Vorhande⸗ nen, mag ed entftanden fein Durch Die Revolution oder gegen die Re⸗ bolution, ift das einzige Rettungsmittel und vielleicht auch ein Mit- tel, um wieder zu gewinnen, was bereit3 verloren fcheint. Hm Die- fen Grundſatz der Fürſten nicht nur für die öftreihhiichen Staaten, fondern auch für Deutfchland in feiner ganzen Strenge durchzuführen, wird ed Oeſtreich an Macht nicht fehlen; ift doch da® ganze Bundes⸗ verhältnis fo eigenthümlicher und wunderlicher Natur, daß, es feine Theilnehmer ſchwach im Schaffen, aber ftarf im Berhindern macht. Oeſtreich konnte, wenn es fein Ziel erreichen wollte, unmöglich das Gewicht der zu einer großen politifchen Macht herangewachfenen öf- fentlihen Meinung überfehen und lieg mancherlei Berfuche anftellen, dieſelbe feinen Anfichten geneigt oder doch weniger abgeneigt zu maden. . .

WVon 1817 bid 1819 gab Freiherr von Hormayr, damald noch Hiſtoriograph des Neiched und noch nicht mit Metternich zerfallen, die allgemeine Gefchichte der neueften Zeit im öftreichifchen Sinne heraus. Hormayr'd Buch habe ich mit Intereſſe gelefen, fchrieb im Juni 1819 ein Freund an Perthed. Es ift immer merkwürdig, gedrudt zu fehen, was man fonft nur in mündlicher Rede hörte. Aber freimüthig möchte ich das Buch nicht nennen, wie ed wohl mandje thun. Wer wie Hor« mayr Metternich gradezu unter die Götter feht, kann leicht etwas ftarfe Urtheile über die Sofephinifche Regierung wagen, die nota bene in Wien jegt nicht beliebt if. Die Anfichten über Preußen? . Politik im Revolutionskrieg und 1805 unterfchreiben wir alle, aber Oeſtreichs Sache ift doch überalt fo advocatoriſch geführt, 3.8. ın der Bertau- hung von Mainz gegen Benedig, in der angedeuteten Heirath der

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Marie zuiſe u. ſ. w., daß man bald mertt, zu welchem Zwecke das Buch gefchrieben ift,. und alles Zutrauen zu einem ſolchen viſtoriker verliert.

Seit dem Fruühzahr 1820 befämpfte ſodann Friedrih Schlegel in feiner Zeitfchrift Concordia alle Abftufungen und Geftaltungen der Feindſchaft gegen das Beftehende mit der ganzen Kraft feines großen Talented. Perthes wurde vor allem durch den Auffag „Signatur des . Zeitalterd” Tebhaft angeregt und fuchte im Briefwechfel mit verſchiede⸗ nen Freunden ſich ein ſicheres Urtheil über denſelben zu bilden. Grade der große Eindruck, den der bis jetzt vorliegende erſte Theil der Ab⸗ handlung auf mich macht, ſchrieb ihm ein Freund, heißt mich vor- fihtig fein. Wie viel dunkel Gefühltes und unvollkommen Erkanntes ift hier Mar und finnig audgefprochen! Aber im Ganzen finde ich eine Abfichtlichkeit der Anordnung. und eine Künftlichkeit der Haltung, die mid) noch zu feinem feiten Urtheil fommen läßt. Die hiftorifch- phi- loſophiſchen Unterfuchungen find mit fo vieldeutigen Worten geführt, daß fie fi) auf der Zunge umdrehen laffen und den Sinn verwirren. Ach bin überzeugt, daß Schlegel bei der Herausgabe diefer Zeitfchrift nicht die unbefangenie Erforfhung der Wahrheit, fondern die Befefti- gung der päbftlichen Kirche im Auge hat. Es wäre nicht das erſte⸗ mal, daß große Gaben, tiefer Blick, umfaffende Gelehrfamfeit, ja die Elemente wahrer Weisheit felbit ſolchen äußeren Zwecken dienft- bar fein müßten. Daß e3 ihm um eine für gut gehaltene Sache Ernſt fei, bezweifle ih nicht; nur glaube ih, daß er, was den lebten Grundbegriff betrifft, in einer völligen Täufchung befangen iſt, und daß er vom erften Worte an alles auf den letzten Hauptfchlag berech⸗ net hat. Bevor dad Ende der Abhandlung erjehienen ift, ein feites Urtheil andzufprechen, möchte daher nicht gerathen fein. Eine Be— merfung aber mill ich doch jetzt fehon äußern. Es ift ein gefährliches Ding, Gutes und Böfes an Maffen und in Maffen beobashten und richten zu wollen. Wer ein ganzes Zeitalter ſchmäht oder lobt, trifft freilich fo gewiß irgend etwas, wie der, welcher einen Stein in einen biden Haufen wirft, aber etwas ift nicht alles. Nur allgemein be» trachtet fheinen Die Dinge immer ſchlimmer oder. beffer, als fie find, weil ein Unendliches vor den engen Focus unferes ſchwachen Auges

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gebracht wird. Wir wählen aus dem Geſchehenen, wir reducieren, wir abftrahieren, und in dem allgemein audgefprochenen Urtheil feh- len meiften® grade die Schattierungen, durch welche die Thaten und die Zeiten doch erft ihre rechte Wahrheit und ihren rechten Charakter erhalten. Das Zeitalter vor der Revolution wird 3.2. jebt ald all- gemein erfchlafft, kleinlich und frivol bezeichnet. Sagte man das von den höheren Ständen und von der Literatur, jo könnte ich einitim- men und wohl noch härter al® Schlegel urtheilen. Aber wird ein ganze? Zeitalter durch die Literatur und durch die geringe Minder- zahl der fogenannten Gebildeten zu dem, was e3 ift? Ich möchte behaupten, daß, während die da oben in den lesten Sahrzehnden vor der Revolution den Thurm zu Babel bauten, unten noch ein- fältiger Sinn, Genügfamleit und ftomme Sitte zu Haufe war. Nur langfam theilt fi von oben die Richtung nad unten mit und erft in heutiger Zeit, in welcher oben wieder eine Umkehr zum Befleren be- merkbar wird, bemächtigt ſich Verderbnis, Leichtfinn und Gottver- geffenheit der unteren Stände. Da lobe oder ſchmähe mir nun jemand auf einigen gedrudten Seiten frifchweg ein ganzes Zeitalter! Und nun gar das vielgeitaltige Wefen, das zwifchen gut und böfe ge- .theilte Herz des einzelnen! Wer findet da den Faden, wer fann aus der That den Gedanken richten? Sollten nicht oft die verborgenen Tugenden der einzelnen da® Verderbnis der Völker audgleihen? Das gefährlichfte aber ift ed, die Zeit, in deren Strom wir felbft ſchwim⸗ men, meiftern und troftlo® verurtheilen zu wollen. Seiner Zeit einen haltenden Damm entgegenzumerfen vermag niemand ; aber unfer In⸗ neres iſt Gottlob zu jeder Zeit unfer eigen, und fo ſchlimm ift feine Zeit, dag ich für mich nicht den Weg zum Heile finden könnte. Von innen heraus muß die befjere Zeit fommen. Sie wird lommen, aber fie will und wird ſich anders geftalten ald die vergangene. Was leben- dig ift von den alten. Formen, wird ſich in den Berfaffungen erhalten, aber das Bergängliche darf deshalb nicht, wie man in Deftreih zu wollen fcheint, als unvergänglich verehrt und dad Todte nicht ale lebendig behandelt werden. Roc mancher haftig gemachte Verſuch wird fehlfchlagen, aber vor einem gänzlichen Berfinten und Zerfallen der europäifchen Menfchheit ift mir nicht bange. Ihr ift durd den

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chriſtlichen Glauben ein Princip des inneren Lebens, ein Unterpfand der Wiedergeburt gegeben, welches feine geiftige Kraft in allen Ber- wirrungen des äußeren Leben? bewähren wird.

Auch den Wiener Jahrbüchern fuchte die öftreichifche Regierung, wie mancher Brief an Perthes nachweift, eine allgemeine Berbreitung in Deutſchland zu verichaffen und ftrebte eifrig, politifhe Kräfte für biefelben unter den hervorragenden Männern zu gewinnen; aber alle diefe Verſuche blieben ohne Erfolg. Die Abfishten Deftreichd für Deutfchland und für Europa fanden in zu ſtarkem Widerfpruche mit allem, was die Zeit bewegte, und blieben für niemand ein Geheim- nie. Sehr allgemein war feit 1819 dad Midtrauen gegen die Regie rung Oeſtreichs verbreitet, welches ein Brief an Perthes in folgenden Worten andeutet: Das jebt fehr erfichtlich hervortretende Streben dee Wiener Hofe® hat feine Wurzel nicht in einzelnen Männern und nicht in den vorübergehenden Greigniffen des Tages, fondern in der ge ſamten Natur und Gefihichte des Reiched. Eeitdem Deftreich in den Jahren der Reformation den großen Bewegungen der Geifter nicht hatte folgen wollen ober fönnen, fah es fich ſelbſt wie eine fremdar- tige Erfcheinung in der neuen Welt ftehen und begehrte, um dieſer unheimlichen Lage zu entgehen, dag, da Deftreich fich nicht in die Zeit fhiden fönne, die Zeit ſich in Deftreich ſchicken folle. Seitdem fpäter das türfifche Reich aufgehört hatte, eine Gefahr für Europa zu fein, war das Band weggefallen, welches die unvereinbaren Gegenfäge der öftreihifhen Staaten zufammengebunden hatte, damit fie vereinigt eine Bormauer für die Chriftenheit bilden könnten. Die nicht gemeine Herricherfeele Joſeph's II. ahnete bereits’ die künftige Zerfegung ber öftreichifchen Herrlichfeit, und feit Joſeph ift Diefe Ahnung die beiwe- gende Kraft in der öftreichifcehen Regierungspolitif geworden. Damit das Aggregat der Faiferlihen Länder nicht durch Ausbildung diver- gierender Richtungen audeinanderfalle, erfchien feit dem Ausbruche der franzöfifhen Revolution die Hemmung der geiftigen Entwidelung und da® Zurüddrängen der vorfchreitenden einzelnen Landestheile ald das Lebensprincip der Gefamtheit Deftreihd und als die conftante Regie⸗ rung3praris für da8 Innere. Ceitdem nun Deftreich nah Napoleon’? Befiegung auch nach außen wieder Einfluß übt, muß ed, wenn es

204 nicht mit fich felbft in Widerfpruch gerathen will, alle Kräfte daran feben, um diefelbe Tendenz, die ed im eigenen Innern verfolgt, auch in jedem anderen Staate verfolgt zu fehen. Es ift daher durchaus dem politifhen Bedürfniffe Oeſtreichs entfprechend, wenn deſſen Ne- gierung nicht nur die revolutionären Principien, fondern auch jede politifche Idee, welche im Kaiferreiche gar nicht oder doch nur in ei- nem einzelnen Rande desfelben verwirklicht werden kann, überall in Europa befämpft und zu unterdrüden ftrebt. Wie Deftreih in Aas hen, in Karlabad, in Wien aufgetreten ift, fo wird es fortan in der Bundesverfammlung und bei jedem fünftigen europäifchen Congreß auftreten. Das darf niemand vergeffen, der in deutfchen Staatd- verhältniffen urtheilen oder handeln will. | Während Deftreihd Gegenfab gegen die gefamte politifche Zeit- rihtung faft wie eine unabänderliche Naturnothwendigkeit betrachtet und allenfall® bedauert ward, ſah man in Preußeng ganzer Haltung nur eine fehwere Berfchuldung und verfolgte Preußens Regierung mit grimmigem Haſſe. Zwar hat der fpätere Gang der Gefchichte außer Zweifel geftellt, dag auch in dem Thun und Laffen der Männer, welche damal® Preußen leiteten, die Urſachen großen Unglüdes zu juchen find; aber Berblendung war es, die unermeßlichen Schwierig- feiten, die nicht minder in Preußens als in Oeſtreichs politifcher Stel⸗ lung begründet waren, zu leugnen und in Preußen, weil es Schat- ten hatte, das Licht nicht zu fehen. Nur wenige hatten damals ein Berftändnis davon, was ein großartig ausgebildetes Kriegäheer und eine redliche .und wohlwollende Verwaltung für dad Zufammenleben der Menfchen zu bedeuten hat; nur wenige danften Gott dafür, daß in der verworrenen Zeit ein König über Preußen herrfähte, welcher an ftrenger Rechtlichfeit und maßhaltender Billigkeit, an Ehrfurcht vor Gott und an gutem Willen. für das Land und für das Volk feinem feiner Unterthanen nachſtand; nur wenige machten ſich dad Unheil in jeiner ganzen Größe lebendig, welches Deutſchland treffen mußte, wenn in jenen Jahren Frivolität und Bosheit, launifche Willkür und despotiſches Gelüfte, wie es oft genug auch auf Thronen erfchienen ift, die Leitung Preußens in der Hand gehabt hätte. Anerkennender Danf für das gemährte Gute war der Zeit fremd; nur das, was fie

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nicht befaß, ftellte fich vor ihre ergrimmmte Seele und wenig fehlte, fo hätte man mit Gott gegrollt, wie wenn er den Preußen ein gute? Hecht, in jedem Zeitabfchnitte einen außerordentlihen König zu ha⸗ ben, vorenthalte. |

Die Anfichten über Preußens Stellung, welche während der er⸗ ften Jahre nach den Karlsbader Schlüffen in bedeutenden Kreifen ver breitet waren, fpricht der Brief eines einflußreihen Manned an. Per- thes aud. Preußen kennt fchon feit einem Jahrhundert nur ein ein« ziges Ziel, heißt es in demfelben; ed will um jeden Preis zu den großen europäifchen Mächten gehören, durch alle feine Staatsmän⸗ ner, durch feine Beamten, fein Heer, feine Bevölkerung geht. das Streben nad diefem Ziele inftinctiv hindurch. Seine reelle Macht und Größe fteht mit demfelben in fchneidendem Widerfpruch; aber die’ hohe Ausbildung feiner Verwaltung und vieler feiner politifchen In» ftitutionen legt eben fo wie die geijtige Entwidelungäftufe feiner Be⸗ wohner ein unberechenbares Gewicht in die Wagſchale und führt ihm Deftreich gegenüber die anderen beutfchen Staaten ald natürliche und bis auf einen gewiffen Grad abhängige Bundedgenoifen zu; Preußens Macht hat eine andere Grundlage als jeder andere Staat der Welt, und diefe Grundlage fordert die zarteſte Nüdjicht und. die forgfamfte Pflege. Unmittelbar aber nach den Freiheitskriegen ift Preußen mit feinen eigenen feit 1808 bervorgetretenen Inftitutionen und mit der geiftigen Bedeutung feiner eigenen Bevölferung in ſchrof⸗ fen Widerfpruch getreten. Seitdem es dem eigenen Lande die Vers faffung verweigerte und jeder liberalen Maßregel im übrigen Deutfch- land entgegentrat, hat es die einzige Grundlage feiner europäifchen Stellung untergraben; e3 hat die eigene Bevölkerung zum Gegner und bat fich die übrigen deutfchen Staaten entfremdet. Diefen in fein eigened Innere aufgenommenen Widerfpruch büßt es fehwer, indem es troß ded Namen? einer europäifchen Macht eine durchaus unter geordnete Stellung gegen Rußland und Oeſtreich einnimmt. Es weiß fehr wohl, daß feine felbitändig geäußerte Stimme in dem europäi- fhen Rathe überhört werden würde, und fagt daher ftet3 nur das, was eine andere wirklich in Europa zählende Macht gefagt hat oder fagen will; in den erften Jahren nah dem Kriege warf es fih Ruß⸗

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land, jebt Deftreich. in die Arme. Die Regierung hat eine unüber- windliche Abneigung vor jeder politifchen Maßregel, welche die unter den gegebenen Berhältniffen einzig mögliche Grundlage der Kraft Preußens ftärfen kann; in dem Staate jelbft aber liegt der Trieb, ſich mit fich felbit zu verfühnen. Niemand kann fagen, ob der Wille der Regierung oder die Triebfraft ded Staated den Sieg davon tragen wird. Gewiß aber ift ed, daß Preußen die Möglichkeit eines felbftän- digen Willen? und die Kraft, denfelben in Europa geltend zu machen, ‚nur gewinnen kann, wenn. e8 im Inneren eine liberale Berfaffung ausbildet und durch Entfagung jelbitfüchtiger Anmaßungen die Kräfte der minder mächtigen Bundesftaaten mit feiner eigenen Macht ver- ſchmilzt. Bis dahin wird ed auch in den deutſchen Verhältniffen nur al8 Mittel dienen, den Geboten Deftreihd größeren Nachdruck zu geben. -

Viele Briefe politifhen Inhalts erhielt Perthed in jenen Zahs ren aus den verfchiedenartigften Streifen, aber auch nicht in einem ein- zigen findet ſich Bertrauen auf die an der Spike der Gefchäfte ftehen- den Männer audgefprochen, niemand glaubte, daß fie die Aufgaben zu erkennen vermöchten, welche in der Gefchichte und in der Stellung Preußen? zu Deutjchland und zu Europa gegeben wären. Schon im Frühjahr 1817, als zuerft der Gegenfag zwifchen den höchften preußis ſchen Staatdmännern ſich ſchärfer zu geftalten begann und der alternde ° Staatsfanzler, obſchon er das Steuer noch führte, unficher zwiſchen den ftreitenden Parteien und deren Führern bin und ber ſchwankte, hatte Nicolovius an Perthes gefchrieden: Mir ift das Herz gepreßt, mein lieber, verehrter alter Freund; nicht daß ich an der Zeit verza- ‚gen oder irre werden follte; im Gegentheil täglich tritt Die Wiederge- burt des. Bolfed mir Harer vor die Augen und die herrliche Läuterung des nachwachlenden Geſchlechts. Das aber ift mein Gram, daß die Oberen von der Zeit nicht Durchdrungen find, fondern fih nur be- läftigt und angefochten von ihr fühlen und daher Stimmen wie der Schmalziſchen Ohr und Herz leihen und gern im alten Sünden- fchlafe ungeftört fortträumten. Sieht man, was gejchehen follte und leicht geichehen könnte, wenn Gottes Geijt die Führer des Volkes triebe und aus ihnen fpräcdhe, umd fieht man dann, was wirklich geſchieht:

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Nichts oder Halbe oder Verkehrtes, jo muß man freilich ſich grämen, daß die Zeit des Heild fo verfcherzt wird. Dennoch wankt mein Glaube nit. Was Taufenden und aber Taufenden die Bruft bewegt, wird doch am Ende That und wir erleben noch beſſere Tage; Gott wird fich feine Zeit erfehen, troß den. blöden, dumpfen oder leichtfinnigen Machthabern, die ihm und feinen Wundern zu widerftreben gedenken. Plutarch erzählt, daß man die Palmen mit Steinen erſchwere, weil diefer Baum alddann defto Fräftiger und grader in Die Luft ſteige. So kommt mir jept der Zuftand Preußens vor und in diefem Glauben bin ich felig. In feiner Sprache drüdte Görred diefelbe Sache aus, wenn er 1817 über Hardenberg und defien Gehilfen an Perthes ſchtieb: Dad ift ein Haufe alter, furchtfamer, verfchüchterter Leute; ‚halb aus boͤſem Gewiſſen, halb aus undiäter Lebensart und Nerven- zufällen fahren fie bei jeden Geräufch zufammen und vertragen gar feine Quft, ohne daß ihnen Kopf und Geſicht aufſchwellen und die paar Zähne fehmerzen. So lange der Franzofenfchreden als heilfa- med Gegengift wirkte, ging es leidlich; nun ift die alte Hpfterie zus rüdgefehtt.

Im März 1817 war der Staatdrath eingeführt und aus deſſen Mitte die Commiffion zur Ausarbeitung einer Verfaſſungsurkunde er- nannt. Weber die Geftaltung der Landesrepräfentation und über den von dem Finanzminifter Grafen Bülow vorgelegten Entwurf einer neuen Steuerverfaffung entbrannte ein heftiger Kampf unter den Füh- rern der fich entgegenftehenden Parteien. Wilhelm von. Humboldt galt feit diefer Zeit ald Haupt der Oppofition. Ueber unfere öffent liche Lage kann ic) Ihnen nicht mit wenigen Zeilen und überhaupt nicht fchriftlih Auskunft geben, fchrieb im November 1817 ein mit bandelnder Mann an Perthes; wir fchlafen nicht, aber das ftarfe Le- ben ift noch geftaltlod und daher noch nicht unbedingt erfreulich. Der Saatöfanzler feheint audgelebt zu haben und um feinen künftigen po- litiſchen Nachlaß zanfen fich jest ſchon lachende Erben. Wichtige Tage ftehen un® bevor, in denen der Ernjte wohl die Hände zum Himmel aufheben mag. Das Ergebnid des Parteifampfed war vorläufig, daß Die Steuerfrage wie die Verfaſſungsfrage zur Erledigung an die Zukunft verwiefen, Wilhelm von Humboldt dur feine Ernennung

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zum Gefandten in London von dem Kampfplage entfernt und tm Som⸗ mer 1818 nicht er fondern der biöherige dänifche Gefandte in Berlin, Graf Ehriftian von Bernftorff, zum Minifter ded Auswärtigen er- nannt ward; im Januar 1819 aber erhielt wiederum Humboldt einen Ruf nah Berlin und gleih darauf das halbe Minifterium des Innern, während die andere Hälfte dem Herm von Schudmann verblieb und das Minifterium des königlichen Haufe dem Fürften Wittgenftein ftatt feines bisherigen Polizeiminifteriumd übertragen ward. Im _ Sommer 1819 begannen hierauf die Verfolgungen der Demagogen in Berlin. Kommen Sie do auf einige Wochen zu und berüber, ſchrieb im Juni ein Freund. aus Berlin an Perthes; Ihre Reife würde eine Reife auf den Veſuv fein, wenn auch feine malerifhe. Wir fhiffen hier jet, heißt e8 in einem Briefe aus dein Auguft 1819 an Perthed, auf einem wunderſamen Meere, dad, von entgegengefeßten Strömungen bewegt, in ſturmhohen Wellen geht. Bei diefem Kampfe der Geifter und der Dämonen, äußerte ein anderer Freund, werden, wie Quther gefagt, nach Kriegslauf einige fallen, Die Siegen- den aber gefrönt. Und das macht mir Luft; denn ich bin fiher, dag die unreblichen und nur dem eigenen Sch Iebenden Klugen fallen und die auf den Feld der Wahrheit Geftemmten endlich beftehen werden. Zunädjft freilich ging die Hoffnung des Schreibers diefer Zeilen nicht in Erfüllung. Auf Beranlafjung der Karlsbader Beihlüffe war es im Herbfte 1819 zu einem faft offenen Kampfe im Staatdminiftertum gefommen. Wilhelm von Humboldt, Beyme, Boyen ftanden auf der einen, Fürft Hardenberg und Graf Bernftorff auf der anderen Seite und Fürft Wittgenftein arbeitete mit einem ſtarken Anhange im Stillen. Der Ausgang des Kampfes blieb-nicht lange zweifelhaft: am Ende de? Jahres wurden Humboldt und Beyme aus dem Minijtes rim entfernt, nachdem kurz zuvor die Generale Boyen und Groll- mann den geforderten Abfchied erhalten hatten. Friede und Zeftig- feit herrſchte zwar auch jeßt nicht im Staatsminiſterium, aber die fort⸗ dauernden Spaltungen hatten fortan ihren Grund nicht in einem Kampfe der politifchen Principien, fondern in Streitigkeiten der Per- fonen. Es ift unmöglich, ſchrieb ein tief in das Getriebe des Har⸗ benberger Kreifed eingeweihter Mann an Perthes, ſich ein Bild von

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der allgemeinen Verwirrung innerhalb der höchften Regierung zu ma⸗ hen, ohne unmittelbar in diefelbe hineingefehen zu haben. Partei⸗ gegenfäbe liegen wohl auch den Kämpfen zum Grunde, welche in dem Minifterium, wie es nun zufammengefebt ift, geführt werden; aber die jebt noch auf dem Kampfplate ftehenden Parteimänner ha⸗ ben Sahre hindurch über fo viele Kleinigkeiten, Perjönlichkeiten und vorübergehende, nur dem Tage angehörende Dinge miteinander ge⸗ fämpft, daß fie eigentlich fämtlich nergelfen haben, was fie urfprüng- ih wollten; eine Menge kleiner, meift aus perfönlichen Intereſſen hervorgegangener Cotterien ängftigen und heben einander und bekäm⸗ pfen fich erbost um leeres Stroh. Selbſtſucht, Frivolität, Kleinlich feit haben den rechten Exrnft verdrängt. Die einen frohnen dem’ Zeit- geift, um den Zeitgeift zu betrügen, reden überall vom Licht, mwäh- rend fie fi um feinen Preis von der Finfternid trennen möchten, und wollen den Schein ftatt der Wahrheit geben. Die anderen wol« len Stellung und Borrechte bewahren oder wieder erwerben und hän- gen unter dem Namen „höhere Anficht”, „tiefere Gefinnung” einen Prunflappen um die nadte Selbftfudt. Wie kann bei einer folchen Regierung irgend etwas fich geftalten! Difformitäten und Inconſe⸗ quenzen find die Miögeburten, welche täglich zu Tage gefördert wer⸗ den. Unter den Männern, die an zweiter und dritter Stelle flehen, meinen manche es gut und arbeiten ehrlich und fleipig, aber bei der Berwirrung nad) oben müflen fie fehl greifen und können troß aller Anftrengung dad Rad nicht aufhalten. Schon oft habe ich und nicht von den fehlechteften Leuten fagen hören, man müfle den gangen be⸗ ftehenden Plunder wegwerfen, damit dann aus dem Chaos ſich etwas neue? gebäre. Die großen Fragen der Zeit fangen endlih an, auch unfere Regierung in Bewegung zu feben, beißt es höhnifch in einem anderen Briefe. Seit mehreren Wochen befhäftigt fih das Staatminifterium ununterbrochen mit dem Schnitte der Nöde, die von den jungen Leuten getragen werden, aber bis heute ift es noch zu feiner Bereinigung darüber gefommen, ob die deutichen Röde gänz- lich verboten oder unter der Bedingung, daß fie nicht unter einer be-

ftimmten Länge feien, erlaubt werden follen. Der Bang des öfe fentlihen Lebens hatte eine Zeitlang meinen Muth gebeugt, fchrieb Perthes' Leben. 11. 4. Aufl, 14

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Nicolovius anı 21. Zuli 1820 an Perthed. Zu keiner Zeit freilich bin ich ſo befangen geweſen, daß ich nicht geieben hätte, wie viel Gefähr- liches in den Bewegungen der letzten Jahre liegt und. wie viel ein Gott oder gotterfüllter Prophet zu ftrafen und zu beffern hätte; aber die Menfchen, die nun ald Sieger ftrafend auftreten, die find nicht Gotterfüllte, nicht Höhere und Beſſere. Ihr Gott ift ein Teufel, der in niederen Leidenschaften verftedt liegt, ihre Einficht eine feichte, bes fhränfte, ihr Glaube eine Lüge und ein wahrhaft irreligiöfer Hang am Gewohnten, Gemeinen, Bequemen. Manches, was geichab, traf mich in meinen edelften Theilen zu fehmerzlih, als daß ich mit ge- wohnter Hoffnung auf die Zufunft hätte bliden Tönnen. Nun aber fehe ich nach Beobachtung des Beginnend, Fortführens und Endens der gegenwärtigen Machthaber, daß auch fie Werkzeuge in der Hand der ewigen Weidheit gewejen. Nicht das, wa? fie wollten, nicht Tod des neuen Reben? und Ermwedung ded Alten und Abgeftorbenen, fon- dern Räuterung bed Neuen, Lenkung des Strebend auf das Richtige, ernftere Befonnenheit und heilige Scheu werden fie bewirken. Der Schaden wird zu Gewinn, dad Gift zur Arznei fich verwandeln. Laffen Sie und alfo muthig weiter wandeln in der Welt, die wir un- fern Kindern hinterlaffen müffen,, nicht verzweifeln und dem verborges nen Gotte in feftem Glauben ergeben bleiben.

Mit Humboldt's Rüdtritt war es entfchieden, dag Preußen für längere Zeit nicht nach den Anforderungen feined eigenen Lebens, fondern nad den Bedürfniffen, die aus der eigenthümlichen Lage Oeſtreichs herborgingen, geleitet werden würde. Cine Aenderung dieſes Verhältniffed trat auch dann nicht ein, ald der Staatskanzler im Jahre 1822 ftarb. Die Stellung Preußen? war verfhoben und die Meinungen über Preußen in Deutfchland verwirrt. Nur ein fefter, ſicherer, mit fih und Gott einiger Mann könnte, fehrieb ein preußi⸗ fher Staatdmann 1822 an Perthed, die Wogen ftillen, von denen Preußen umhergeworfen wird, und den haben wir nicht. Preußens hiſtoriſches Dafein und politifches Recht wird für nähere oder fernere Zeit die Quelle fürdhterlicher Kriege werden, und dann wird die jet hervorgerufene Verwirrung der Meinungen über Preußen ein uner⸗ meßliches Unglüd für Preußen fein.

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Die öffentliche Meinung über bie beutfchen Angelegenheiten während der erften Jahre nach den Karlsbader Beſchlüfſen. 1819 182,

Bei der Stellung, welche Oeftreich und Preußen einnahmen, war ed freilich für Die Bundeöverfammlung nicht möglich, eine irgend er⸗ bebliche Thätigkeit zu üben. Bid auf die Kriegsverfaſſung und den Schus der Mediatifierten blieb alles liegen. Kaum wird man fi) wundern dürfen, wenn die in den gegebenen Verhältniffen und in dem Auftreten revolutionärer Demagogen liegenden Hinderungen und Gefahren ſehr allgemein überfehen und die eigentlichen Gründe des unbeilvollen Zuftandes fat ausfchließlich in der Schlechtigkeit der Re⸗ gierungen gefucht wurden. Weder in Öffentlihen Berfammlungen noch in der Preije durfte fih die durd) ganz Deutfchland herrfchende Stimmung Luft maden, aber fie durchzog als verbaltener Ingrimm die innerfte Sefinnung ded Volkes. In einem, wern auch nur Fleinen, Kreiſe tauchten ſchon feit 1820 Berfchwörungen aüf, welche den Um⸗ fturz des gefamten politifchen Zuftandes zum Ziele hatten, und auch Männer, welche das im Berborgenen wachjende Verbrechen nicht ab- neten, gaben der Stimmung ihred® Inneren in mündlichem und ſchriftlichem Berkehr einen entfprechenden Ausdrud. Angriffspunfte boten die Regierungen freilich. mehr als einen dar.

Innerhalb mancher regierenden Familie und unter deren Unge- bungen und Anhängern wurde damald mit dem Begriffe der Obrig- feit bald mehr bald weniger bewußt die Vorftellung verbunden, daß die Krone ihren Träger aud einem Menſchen zu etwas Uebermenſch⸗ lichem umwandle und ihn durch die Verleihung eine® neuen politiſchen Vermögens innerlich hoch über alle nicht gefrönten Menfchen empor- hebe. Ein König follte, mochte er als Menſch fein, was und wie er wollte, ala Infpirierter gelten, das im PBolitifchen fein, was der Pabſt im Kirchlichen zu fein beanſprucht. Diefer mit unferer ganzen Geſchichte und der gefamten nationalen Anfchauungdweife in Wider. ſpruch ftehende Aberglaube mußte wohl die Deutfchen reizen, welche

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in ihren Fürften nie ein halbdämonifches, fpufhaftes Wefen, fondern immer und zu allen Zeiten den fernigen, männlishen Mann gefucht hatten, der das Recht und die Pflicht, fein Land zu regieren, von den Vorfahren ererbt hatte, wie jeder Unterthan fein Recht und feine Pflicht. Die Großen fühlen mehr und mehr, heißt e8 in einem Briefe an Perthes, daß fie nicht durch ihre Kraft, fondern durch die Kraft anderer über Napoleon gefiegt hatten; aber weil fie um feinen Preid dem Bolfe dankbar fein wollen, durch deifen mannhafte? Auftreten im legten Kriege fie zu dem, was fie jebt find, gemacht wurden, greifen fie zu einem bequemen Ausweg und reden ſich ein, fpecielle Gegen- ftände der göttlichen Gnade, politiihe Propheten, Bevollmächtigte und Stellvertreter Gottes, Abbilder feiner Weisheit, Untrüglichkeit und Unantaftbarkeit zu fein, und glauben an allerlei dämonifche Mitt- fer. Liſtige Menſchen willen diefen Glauben zu benugen und die gro- gen Herren an diefer ſchwachen Stelle und an noch fchmächeren zu faf- fen. In demfelben Augenblide, heißt es in einem Briefe aus Ber- lin vom Juli 1820, in welchem verblendete Anhänger der Regierun- gen durch ganz Europa dad Wefen des monardhifchen Princips in einer politifhden Menſchwerdung Gottes gefunden haben wollen, wird das⸗ felbe monardifche Princip zur Caricatur durch Begebenheiten wie in Spanien und durd Skandale wie.in England.

Weit allgemeiner ald der Widermwille gegen den hier und da ex hobenen Anſpruch auf Göttlichkeit nicht nur des Herrfcheramtes, fon- dern auch der Herricherperfon, war der Grimm verbreitet gegen die Neigung der Regierungen zu Schranfenlofigfeit des Rechts und zu Maplofigkeit des Handelnd. Ich weiß nicht, heißt es in einem Briefe an Perthes, ob ed Wahrheit oder Dichtung ift, wenn am Bundedtage gefagt wird, daß wir einer großen politifchen Gefahr in den letzten Fahren entgangen feien; wenn ed aber Wahrheit ift, fo bin ich fehr ungewiß, ob ic) mich darüber freuen foll oder betrüben. Eine Kata- ſtrophe überftanden zu haben, ift für viele eine größere Gefahr ale die überftandene Gefahr felbfl. Die Klugen befpiegeln fih, obſchon doch fat immer ein günftiges Gefchid die Rettung brachte, rückwaͤrts als Lenker und Leiter der Begebenheiten und trogen um fo mehr auf ihre Kräfte und Mittel, die Dummen verlaflen fih um fo mehr auf

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ihr Glüd und beide blähen fich auf und werden blinder und deöhalb auch dreifter ald zuvor. Den einen wie den anderen ift ein gegen- wärtiged Elend wohlthuend, ein überftandenes ſchädlich. Das gilt nicht weniger von Regierungen ald von einzelnen. Nur wer wirklich mit fih und mit den Dingen abrechnet, und weife genug ift, zu er⸗ fennen, wie prefär alle die klugen Maßregeln waren, die von hinten herein jo gut fi audnehmen, und wie ſchmal die Grenze ift zwifchen einem guten und fchlechten Ausgang, nur der wird durch eine glüd- lic) überftandene Gefahr fehonender,, milder oder, wie Sie ed nennen würden, demüthiger. In diefer Weife mit ſich abzurechnen, fcheint aber die Meinung der deutfchen Regierungen nicht zu fein.

Mit vulcanifher Beredfamkeit hatte Görres 1819 in feiner be- fannten Cchrift: Deutfehland und die Revolution, die Regierungen angegriffen. Perthes, um fein Urtheil über das Werk befragt, fehrieb Ende Septeinber 1819 an Görred: Gegen Staat, Religion und Sitte ift nichts im Buche; von diefer Seite aus fönnen Sie nicht an- gegriffen werden, aber die Gefinnungen und Abfichten, welche Sie den Regierungen zufchreiben, werden Sie eben fo wenig zu beweifen im Stande fein, wie die preußifche Polizei ihren Verdacht umd ihre Behauptungen republicanifcher Verſchwörungen bemeifen kann. Sie fhrieben mir zulekt, entgegnete der inzwifchen nach Straßburg geflohene Görres im December 1820, ed möge mir jchiver werden, die von mir voraudgefegten Abfichten‘ der Regierungen zu bemeifen. Sept haben diefe felbft den mangelnden Beweis geliefert. Schon ein- mal ift e8 mir ähnlich gegangen, als ich im Widerfpruche mit allen Leuten vor zwanzig Jahren Napoleon ald einen Suetonifhen Tyrdn- nen bezeichnete. Heute wie damals ift freilich der Gang der Sachen nit abſichtlich, mit flarem Bewußtfein calculiert, fondern vielmehr inftinctartig durch dunkle Ideen hervorgetrieben. In diefen habe ih aber etwa® früher ald andere gelefen und der Welt die dunklen Ideen in deutliche Rede jebt ſchon feit fünf Jahren umgeſetzt; dafür haben die Herren den unbequemen Seher zum Lande hinaudgejagt. Das ift eben in der Kürze die ganze Gefchichte. Dad dumme Bolt wird noch eine Zeit hindurch in der Verwirrung umhertappen, aber Männer wie Sie müſſen fi ind Klare ſetzen, und müſſen willen, daß

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deutfch jept wieder, wie vor 1813, ehrlos heißt. Webrigend wird es den heutigen Machthabern noch weniger ald Napoleon gelingen, zum Ziele zu gelangen; ift der Wolf in der Grube gefangen, fo werden Köther nicht da8 Regiment behaupten. Gegen dad Karlöbader Er- periment babe ich gar nichts; denn läßt Deutfchland das ſich bieten, fo zeigt fich eben die Leerheit ded ganzen Treiben? und wir find des Geſchnatters überhoben. Was ih von dem Liberalismus diefer Zeit halte, babe ich deutlich genug audgefprochen, aber e3 gilt Tyrannei gegen Tyrannei. Daß ich mit den Franzofen meinen Frieden auf eh⸗ tenvolle Bedingungen gefchloffen habe, werden Sie in den Zeitungen gelefen haben. Hier können fich die Leute nod) nicht von der Bewun⸗ derung erholen, in die fie über einen Liberalismus gerathen find, der fi wie der meinige mit dem Adel und dem Pabfte verträgt. Ich ſehe dem ruhig zu und erde ficher nicht? erhebliches in meinen Grundfäben ändern. Wie in Deutfchland ift auch in Frankreich das Gute in der Mafje tief vom Böſen verfchladt; im Innern fhäumen die fchlechteften Keidenichaften, während der Mund weile Reden hält; hölzerne Andachtshände heben fich betend zum Himmel auf, während unter dem Mantel die wirklichen Diebeshände den Nachbar beftehlen und bemaufen. Welche Partei auch fiegen mag, man wird fi zu« gleich freuen und betrüben müſſen. Die Jugend wählt gegen dad Alte in einem Haffe auf, den die Schufte und Thoren, die in deffen

Bertheidigung ſich theilen, jeden Tag mehr rechtfertigen, und fo wird por Ablauf der erften Hälfte diejes Jahrhunderts fein Stein mehr auf dem anderen bleiben. Bevor ich auf eine nähere Neußerung über Ihre Schrift eingehen könnte, beißt es in Perthes’ Antwort, müßte ich wiſſen, was Sie eigentlich mit Herausgabe derfelben bezweck⸗ ten. Wollten Sie, wie Sie fchreiben, zur Auflöfung der vielen er- ftarrten Ideen beitragen, Die fih feit Jahren in den Maſſen ange- feßt haben, fo mußten Sie mit derfelben bewundernswürdigen, in Deutichland noch nicht gehörten Beredfamfeit, mit welcher Sie die Enden der Regierungen darftellen, auch die Sünden derer, von de- nen die Regierungen angegriffen werden, und vor die Augen führen, und zwar dieſe letzteren zuerſt. Was -gilt e8? fie fähen noch ruhig in Koblenz; man hätte Ihnen das eine um das andere verziehen.

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In Ihrem Briefe, den Sie mir im December 1818, aljo wenige Monate vor dem Erfcheinen Ihres Buches fchrieben, haben Sie die deutfche demokratiſche Partei in deren ganzer Fülle von Confufion, Unwiffenheit, Roheit und volllommener Richtigkeit Dargeftellt warum thaten Sie nicht ein gleiches in Ihrem Revolutionsbuche? Dieje de mofratifche Partei hat ihre Nichtigkeit feit den Karlsbader Beichlüffen bewiefen, aber nicht dadurch, daß fie nur von den Regierungen vor⸗ audgefegt würde und in Wirklichkeit nicht da wäre, fondern dadurch, dag fie wirklich da ift und doch nichts if. Das Abfonderliche bleibt nur, daß die Regierungen fich jet nicht an dad unmwürdige, lumpige Dafein zu halten: verfiehen, fondern nach noch ärgeren Qumpen in has fliger Angft fuchen. Der zweite Theil Ihres Buches ift gradezu ums» fonft gefehrieben. Die Fürnehmen haben ſich am erften Theil in Wuth gelefen und halten, was nadhfolgt, für Spott; die Liberalen haben fi in Jubel gelefen und halten, weil fie die Sntoleranteften find, den Schluß für Ironie oder für verrüdt. Was ich. eigentlich ge- wollt, heißt e8 in Görre®’ Erwiederung, das werden Ihnen meine gedrudten Epifteln nun wohl verftändlid gemadjt haben. Die Ge⸗ ſchichte hat meine Vorherſagungen fo fehr gerechtfertigt, da ſcharfſin⸗ nige Leute wohl auf ein geheimes Einverftändnis zwifchen mir und den Machthabern ſchließen werden, kraft deſſen ich freilich Teicht die Nummern, welche im nächiten Sabre aus der Ziehung kommen, zum voraus verrathen könnte. Nichtödeitorweniger ift mein Wahrfagungd- beruf doch ein ziemlich unnüges Gefchäft; denn die Herren rufen mir zu: Wenn wir nun die verfluchte Wahrheit nicht wollen, wie wiltf du fie und aufzjwingen? Wir fpeien fie aud, denn die Lüge ift und nun einmal zur anderen Natur geworden, und wir würden gewiß ſterbenskrank, wenn wir auf Deine verdriepliche Art gefund werden follten. Das läßt ſich nun freilich hören. ch kann die Arznei dem Kranken nicht eingiepen, dispenfiere aber fort und nehme meine Tro⸗ pfen für mid) felbft, wenn andere fie nicht dulden wollen, und fie ge deihen mir nicht ſchlecht. Jetzt habe ich den politifhen Plunder wie der auf eine gute Zeit von mir gethan und bin zu dem Treiben zurüd- gelehrt, das mic) ſeit Jahren befchäftigt: die Sagengeſchichte der al» ten Welt, an welcher ich wieder arbeite, foll alled, was der fogenann-

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ten eracten Gefchichte bei allen Völkern vorhergegangen ift, in einem großen Blid zufammenfaffen. Wo möglich ſchon im nächften Jahre denke ich ald Anfang ein Altdeutfchland druden zu laffen, damit ich die Maſſe des lange aufgehäuften Stoffe? 108 werde. Unſere Vorzeit wird, wie ich denke, in einem ganz anderen Lichte erfcheinen, als bei dem armfeligen Lampenlicht unferer ftarren ‚Stubengelehrfamteit. Im Gegenfage zu diefer gegen die Regierungen gerichteten Stim- mung fanden jich zerftreut durch ganz Deutfchland Männer, welche fih der Obrigkeit und deren Recht mit Herz und Sinn hingegeben hat- ten. Manche unter ihnen aber hielten in der damaligen Zeit das Recht der Obrigkeit in einem höheren Grade durch die Handlungsweiſe der Fürften und Minijter ald durch. die Angriffe der Demagogen gefährdet und wollten in jenem Augenblide nicht für die Obrigfeit ges redet und gehandelt wiſſen, weil ed nicht gefchehen könnte, ohne zu- gleich die zeitigen Regierungen zu fügen und zu ſtärken, Die Doch im Intereſſe des obrigfeitlichen Rechtes nicht gefördert, fondern befeitigt werden müßten. So richtig es ift, heißt ed in einem Briefe an Ber- thed, was unfer Freund über die Stellung der Obrigfeit im Staate fagt, fo unrichtig ift es doch, alles, was richtig ift, zu jeder Zeit fa- gen zu wollen. Unfer Freund würde und im unrechten Augenblicke in einen behaglichen Schlummer einfchläfern und mit feinen Klagelie- dern über da3 revolutionäre Princip die Meinung fördern, dag nur der braufende Strom und nit aud) das willfürlich ihm gebaute enge und morfche Ufer den Unfegen der Gegenwart verfchuldet habe. Dem Principe nach, heißt es in einem anderen Briefe, ftehe ich heute . wie immer auf Seiten der Obrigkeit; daß man aber dennoch Gegner unferer Regierungen fein muß, das ift das Allertraurigfte in unferm Zuftande. In Welthändeln wird nun einmal unfer Verhalten weniger duch das Princip der Dinge als dur die Richtungen der Perfo- nen beſtimmt, welche dasſelbe augenblicklich zu vertreten haben. Anderen unter den Anhängern der Obrigkeit ſchien dagegen jede Gefahr gering im Vergleiche mit dem Unheil, welches aus der Ge fährdung der Regierungen erfolgen müßte. Mit unverhaltenem Zorne wendeten fie fir) gegen die Demagogen jener Zeit. Weberall began- nen die Anfänge der Freiheit zu treiben, heißt in einem Briefe an

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Perthes aus dem Jahre 1821, und überall liegen nun die jungen Triebe verwelkt danieder, weil fie gewaltfam mit künſtlicher Hitze großgezogen werden follten. D, diefe Buben, deren Neid und Eigen- fucht fi gegen jede Herrfchaft auflehnt und die dennoch die Tyrannei fieben, wie fie nur je geliebt worden ift! Sie allein tragen bie Schuld, wenn auf lange Zeit Deutfchland unter dem Despotismus fih beugen muß, um dem Untergang zu entgehen. Die Sadıe der Freiheit, fehrieb 1821 ein Edelmann von altem Schrot und Korn an Perthes, wird durch niemand mehr gefährdet ald durch jene Men- fhen, die und zwingen wollen, Nationalcocarden und Freiheitämü- pen: zu tragen. Obſchon fie, wenn fie Freiheit rufen, Herrſchaft mei» nen, nehmen fie e8 dennoch denen, die Beruf und Kraft zum Herr⸗ jhen haben, übel, wenn fie wirklich herrfchen. Wie oft habe ich mic über die Könige geärgert, welche die eigenen und die fremden Böl- fer zwingen wollen, fo und nicht anders zu leben und zu denten! Aber thun dieſe Zaunfönige nicht dasſelbe? Wie in meiner Dorf firche die Orgelpfeife mit der verdorbenen Klappe greifen fie in jede Melodie mit ihrem einen fchneidenden Tone ein, und möchten jede andere Meinungsäußerung überfchreien und zum Schweigen brin- gen. WWiedergeboren, fagen die Herren, wäre dad Bolf, heißt es ein anderedmal, und müfle deshalb aud in einen neuen Schlaud) gethan werden. Ich glaube auch nicht, daß ed gut war, un? die al- ten Röcke wieder anzuziehen, aber jene Schreier fühlen ſich gedrückt, nicht weil die Nöde zu eng, fondern weil fie zu aufgeblafen find. Wie ein Meer voll ſchmutzigen Waſſers hat die Eitelkeit ganz Deutſch⸗ land übergoffen, und wir alle mögen und hüten, daß wir nicht darin erfaufen.

Bor allem in den Briefen, melde Pertheö in den Jahren 1820 und 1821 aus Livland und Kurland erhielt, fprach fich der Wider- wille gegen das Treiben der Demagogen in Deutfchland aus. Da? Lärmen und Toben in Deutfchland, weil das Unerreishbare noch nicht erreicht ift, heißt es in denfelben, hat feinen Hauptgrund in der Wichtigkeit, welche die deutfchen Schriftfteller fi andichten. So ein alter Profeffor auf feinem Lehnftuhle ſitzend und mit Medicinflafhen für feine Unterleibsbeſchwerden umgeben, glaubt, daß feine Schreib-

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feder eigentlich die Uhrfeder fei, welche die Weltgefchichte im Gange halte, und doch hätten die Schreibfedern von ganz Deutichland den Rost bis zur heutigen Stunde nicht von den deutſchen Schwertern ab- gekratzt, wenn das ruffiihe Jahr 1812 nicht gelommen wäre. In Rußland ftachen die Spieße der Kofaden und Bauern tiefer als die Federn in Deutfchland, und der Bolfägeift war fehr echt, ohne dag ihn erft ein alter Profeffor auf feiner Studierftube in der Retorte deftil- liert hätte. Das politifh Gute, das durch Schriften fabriciert werden foll, ift wie Runfelrübenzuder künſtliches Product, ſchmeckt wohl ähn- lih, bat aber feine Kraft. Schidfale und Zeiten, aber nicht Reden bilden ein Bolt, und nicht der Schriftfteller fol den Volksgeiſt, ſon⸗

dern der Volksgeiſt den Schriftiteller fehaffen. Die -Fürften und Herren der deutfchen Nation.fehen den Grünfpan nicht, heißt es in einem anderen Briefe, der, von der Volksſäure gebildet, ſich an ihre Scepter anfebt, oder fie fchlagen, wenn fie ihn fehen, mit ihrem Re- gierungsſtäbchen höchſt gewaltiglich um ſich in die blaue Luft. Das freifich wird den Gifthauch fehwerlich fortfchaffen, aber der tobende Parteigeift wird dennoch Deutichland fo wenig zeriprengen, als ein gährendes Gebräu troß alles Brauſens und Ziſchens das gut ver- wahrte Faß auseinander brechen kann. Deutfchland ift dur ein paar recht derbe eiferne Reife zufammengehalten; die beiden Nachbar⸗ flaaten Rußland und Deftreich find fejt genug, um dem gährenden Volksgeiſt zu widerftehen, und das bifchen Schaun, das bier und da aus dem Zapfen dringt, hat nicht viel zu jagen. Der Wein frei- lich, der gähren will, fehimpft recht arg auf die Bänder, die ihn auf: zubraufen hindern, und doch find ed nur diefe, die ed möglich ma— hen, dab der Moft zum Wein und ald Wein Par und ftark wird. Sch gebe die Hoffnung nicht auf, dag auch in Deutfchland fih alles gehörig fepen und die gährenden Hefen dorthin fommen werden, wo—⸗ bin fie gehören, das heißt auf den Kehricht. Hefen, nicht? ald Hefen iſt diefer illiberale, fich liberal nennende Geift, der alles zerftören will, um felbft als Blafe auffteigen zu förmen. Wir werben ed noch erleben, daß alle diefe Revolutionshelden am Ende ihrer Laufbahn ftehen, ohne irgend etwas ausgerichtet zu haben. In Deutfchland . gibt es nun einmal feine Nation im politifehen,, fondern nur im li

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terarifchen Sinne und es ftehen, wie gejagt, ein paar Schildhafter da, die das Wappen der Ordnung fchon halten werden, und was man nicht wegichlagen kann, wird man weder wegfchreien noch weg⸗ fhimpfen. Im politifchen Leben wie im Privatleben ift der ein roher Thor, der dad, was er mit dem Degen nicht ausmachen kann, mit groben Worten, die allenthalben überflüffig find, auszumachen gedenkt. |

Bon und und unferem Leben begehrt in Deutichland niemand etwas zu willen, chrieb ein anderer. Will man etwa deshalb Ruß⸗ lands Oſtſeeprovinzen auch geiftig von der deutfchen Mutterbruft ent- fernen und als unebenbürtig behandeln, weil Alerander ihr Kaifer iſt? Ich glaube, jede deutfche Monarchie könnte, ohne zu verlieren, einen Herrfchertaufch mit Rußland eingehen, felbft wenn ihr Fürft fo eben eine ganz frifche Konftitution aus dem Ei der Zeit losgeklopft hätte. Blinde Zuneigung und blinde Abneigung, eine Einfeitigfeit, welche wie der Pallatwind nur einen Strih hält und Steuer und Ruder wirkungslos macht, ift der Fluch, der jebt auf Deutfchland laftet. Wirklich fonderbar ift die Mode, alles, was ruffifch heißt, zu haften, Es geht Rußland wie dem Knechte Ruprecht: Ruprecht bat den Deutfchen als fchöne Weihnachtsgabe Freiheit und Wieber- geburt gebracht, und doch nennen die Befchenkten den Geber nicht gerne und fprechen nicht von ihm ald Wohlthäter, weil er unter Um⸗ ftänden auch einmal mit der Ruthe kommen fönnte. Wir haben frei« lih von den Deutſchen nichts, gar nichts zu fürchten, ala literari⸗ ſchen Tadel; aber ich fühle e3 tief, daß wir Deutfchland nicht lange mehr ald die Wiege unferer Bildung verehren und ala den Eip der Biederkeit, der Nedlichfeit und der Ehre in allen Ständen lieben fön- nen. Doch laffen fie mich abbrechen, denn Recht geben Sie mir doch nicht. Thut auch nichts: wir jehen hier vom feften Lande aus auf die ‚armen Seefahrer hin, die feefrant in ihren von Wetterflürmen ge= peitfchten kleinen Fahrzeugen haltlos umhertaumeln. Perthes theilte eine Anzahl diefer Briefe, die er aus den ruffifchen Oftfeepro- vinzen erhalten hatte, einem Freunde mit und fügte die Worte hinzu: Wahres und falfche®, deutſches und ruffifche® geht freilich wunder» lich in diefen Briefen durcheinander, aber böfe kann ich denen, die

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fie fchrieben, nicht fein. Aus allem bitteren Grolle fieht Doch immer die tiefe Sehnfuht und Liebe einer verlegten und zurüdgeftoßenen Braut hervor, und ich weiß gewiß, daß diefelben Männer, die uns fo ſtolz auf Rußland entgegentreten, ſich den Ruſſen noch ſtolzer als Deutfche gegenüberftellen und das Uebergewicht deutfcher Bildung und deutfchen Ehrgefühl® muthig geltend machen in der Nation, wel⸗ cher ſie politiſch untergeordnet ſind.

Es gab zu jener Zeit Männer in Deutſchland, welche den gan⸗ zen Haß dieſer Edelleute gegen die Demagogen und Görred’ ganzen Haß gegen die beſtehenden Regierungen zugleich in ihrem Herzen tru⸗ gen. Wie die Sturmwinde ſich heulend um die Zeit der Sonnen⸗ wende befämpfen, ſchrieb ein ſolcher Mann an Perthes, fo ertönt jetzt alles rings umher in ganz Europa von dem Zufammentreffen teufli- ſcher Parteien. Unſer Zuftand, heißt es in einem anderen Briefe, ift der gefahrvollfte, welcher überhaupt in der Gefchichte eined Volkes vorfommen kann; mitten inne fehweben wir zwifchen Anarchie und Despotie; die Frage, ob man fich auf die eine oder die andere Seite ftellen wolle, wäre die frage an dad zwilchen Bär und Wolf gefal- lene Lamm, ob es lieber von diefem oder von jenem verzehrt werden wolle. Eine ähnliche Anſicht, wie die hier ausgeſprochene, fand ſich bei vielen geiſtig bedeutenden Maͤnnern wieder; ſie ſahen völlig ab von jedem politiſchen Princip, von der Obrigkeit, wie ſie ſein könnte, und von den Unterthanen, wie ſie ſein könnten; ſie faßten lediglich die damaligen deutſchen Regierungen und Liberalen ins Auge und gelangten zu dem Schluſſe, daß beide gleich unberechtigt und gleich verderblich für Deutſchland ſeien. Der Kampf beider Parteien erſchien ihnen wie ein großer biftorifcher Proceß, in welchem jede Par- tei zwar für ihre Zwecke zu handeln glaubte, in Wirflichfeit aber nur als Werkzeug diente, um für die Zukunft einen von feiner Partei ge- wollten politifchen Zuftand herbeizuführen. Vielleicht von jedem wich⸗ "tigen Stüde unſeres geiftigen Dafeind kann man fagen, heißt es in einem Briefe an Perthes, daß ed in unferer Zeit zugleich in frucht« barer Entwidelung fteht und von drohenden Gefahren umringt iſt. Es wäre thöricht,, fich über diefen großen Gang der Zeit abgrämen zu wollen, und ed wäre anmaßend, zu glauben, daß von einem oder

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von mehreren einzelnen darin bedeutend eingegriffen werden koͤnne. Das befte ift wohl, das eigene Herz fo viel möglich friſch und kräftig zu erhalten, um mit dem ganzen, ungetheilten Dienfchen bereit zu jein, wenn Gott und zu einer Arbeit beruft; und das wollen wir nah Kräften thun. Wir beide, lieber Perthed, haben eine fehr denfwürdige Zeit durchlebt, fhrieb ein Freund aus Schweden; aber die vergangenen dreißig Jahre ſcheinen doch nur ein Borfpiel der kom⸗ ‚menden gewefen zu fein. Deutfchland und Europa jteht am Vor⸗ abend einer neuen Geburt; die Wehen werden fürchterlich fein und ich bebe zuſammen, wenn ich mir fagen muß, daß Mutter und Kind leicht in ihnen zu Grunde gehen künnen. Handeln muß freilich in diefer Zeit auch ein jeder in feinem Kreife und nach feiner Ueberzeu- gung, aber weniger vielleicht, als zu’ irgend einer andern Zeit, wird die Zufunft durch das Wollen und Laufen der Menfchen beftimmt werden. Go verzweiflungdvoll erfchien für Gen das Durchein- ander in Deutichland, daß er gegen Perthes äußerte: Gewiß ift, daß, wenn ich je wieder für dad Publicum fehreibe, ed nur über ſtaats⸗ wirthichaftliche Gegenftände ift; denn die Divergenz oder vielmehr die abfolute Verwirrung und Anarchie der Meinungen, die heute in An- febung aller legislativen, politifchen und religiöfen Fragen obwaltet, und der Ton, in welchem die deutſchen Schriftfteller einander wechſel⸗ feitig behandeln, ſchreckt mich von aller Einmiſchung in diefe Händel, auf immer zurüd. Die Gefahr der Revolution ift vorüber, rief verzweiflungsvoll ein anderer aus; das für und Deutfche untrügliche Symptom der Rettung ift eingetreten; der wie die fliegende Gicht umberziehende Giftjtoff hat fich von den. Fäuften auf die Federn ge⸗ worfen; an allen Orten und Enden blüht das literarifche Gezänke wieder auf; die Fürften und Minifter athmen tief, reiben fich ver- gnüglich die Hände, rufen: Das wäre vorüber! und fegen fich zu Tiſch.

In dem unerhörten Gewirre der Meinungen gelang es wohl nie⸗ mand, der jene Jahre geiſtig friſch und regſam durchlebte, zu einem feſten Abſchluſſe ſeines politiſchen Urtheils zu kommen. Auch im ein⸗ zelnen ſpiegelte ſich der Kampf und das Ringen der Zeit wieder. Be⸗ rührung und Verkehr mit Männern anderer politiſchen Ueberzeugung

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zu meiden, wäre damals franfhafte Zaghaftigkeit geweien. Perthes erfannte zwar faſt immer fehr fohnell eigentlich gemeine Naturen und brach dann raſch und entichteden mit denfelben. Wo er aber nicht Gemeinheit, fondern nur einen verfchiedenen wenn auch jehr ver fhiedenen Standpunkt fah, war er der Meinung, daß irgend ein ge meinfamer Boden nicht fehlen könne. Diefen fehnell ausfindig zu machen, befaß er eine befondere Gabe und fonnte deshalb auch mit fehr entgegengelegten und ſchroffen Menfchen in nahe Verbindung tre- ten; aber indem er das Gemeinfame gleihfam nur ahnen ließ, ftellte er fih in allen einzelnen ragen auch Männern, die feheinbar völlig mit ihm übereinftimmten, faft immer entgegen, griff fie an, reizte fie und erweckte dadurch ihr Intereſſe. In feinen Briefen findet fi der Regel nach die Anficht vertreten, welche der Anficht defien, an den er fchrieb, entgegengefebt war. Nicht ald ob er aus Widerfpruchd- luft die Wahrheit verleugnet hätte, aber auch die Wahrheit hat meb- rere Seiten, unter denen der, welcher fie ‚betrachtet, wähten kann und wird. Nur felten wurde Perthes durch den Kampf um politifche Anfihten zu einem völligen Bruch mit dem Gegner geführt, und wenn in einzelnen Fällen die unbedingte Unvereinbarfeit der politis ſchen Gefinnung jeden weiteren politifhen Verkehr mit diefem oder jenem Manne unmöglich machte, fo fuchte er fich Doch den Menfchen zu erhalten, indem er den SPolitifer aufgab. Weber unfern N. bift Du im Irrthum, fchrieb er 1820 an einen Freund, der fi) mit war⸗ mem, phantaftifhem Herzen der damaligen Richtung des preußifchen Hofes hingegeben hatte. N. liebt und ehrt Dich nach wie vor; da er aber über die öffentlichen Verhältniffe jebt nicht mit Dir verkehren will, vermag er überhaupt nicht mit Dir zu verkehren. Ich bin an- derer Art und taufche auch jebt gerne mit Dir die Anfichten aus über alles Menſchliche und über alled, was die Liebe erregt; was aber das Baterländifche und die gefellfehaftliche Ordnung betrifft, darüber werde auch ich künftig fehweigen. Die alte franzöſiſche Ja⸗ cobinerei regt fi) zwar noch, aber bald wird fie in fich felbft verfom- men. hr werdet für jetzt den Sieg über fie davon tragen, aber auch über und, und aud Du wirft zu Deinem tiefen Schmerze erfah- ren, daß politifhe Phantafien und Theorien in der wirklichen An⸗

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wendung auf das Leben fehr ſchwarze Farben annehmen können. Jetzt bift Du im Siegesrauſche; Fein Reden kann zu etwas führen; darum ſchweigen Deine alten Freunde. Du wirft mir antiworten und Freude haben an meinem Yamilienglüd; das andere laß gut fein. Du befigeit ja neue Freunde, die jetzt mit Dir dad Himmelreich er- warten; an denen belebe Dich.

Biel weniger noch ald die Aeußerungen einzelner Männer er⸗ fannte Perthes die öffentliche Meinung als den vollen Ausdrud und die Erſcheinung politifher Wahrheit an. Dem Grafen Bernftorff hatte er 1819 nah Karldbad gefchrieben: Die öffentliche Meinung ift freiih nur eine Meinung, aber fie ift doch au eine Meinung, welche wie jede Meinung ihre Wahrheit hat und Rüdjicht verdient. Ein Recht aber, die Meberzeugung und das Handeln der einzelnen zu beftimmen, wollte er derfelben unter feinen Umftänden eingeräumt wiſſen. Können wir denn wirklich jagen, fehrieb er im Frühjahr 1820, daß in Deutichland eine öffentlihe Meinung if. Das wunderliche Ding bat dod nur dann feinen Grund und ift doch nur dann eine über den einzelnen ftehenden Macht, wenn ed aud dem unmwillkürli- Shen Zuſammenwirken von Ereigniſſen und Berhältniffen erwachfen, nicht wenn ed gemacht ift durch Diefe oder jene begabten Menfchen, welche den Neigungen und Schwächen, Die der Tag gebiert, zu ſchmei⸗ heln verftehen. In einem auf Frömmigkeit ficher ruhenden und in einfachen, überjehbaren Berhältniffen lebenden Volke liegt in der Hebereinftimmung der Unfichten, des Begehrend und Bermwerfend ge- wiß eine höhere Autorität; aber find wir fo? Unſere Schreier ficher- lich nicht, und wie häufig haben wir erlebt, daß ein paar gewandt gefchriebene Zeitungsartikel Wiederhall in allen anderen Blättern her: vorriefen und die Stimmung um» und nochmals umdrehten. Es hören wohl nur wenige, fchrieb er ein anderedmal, Die Stimmen von fo verfhiedenartigen Männern aller politischen Richtungen, wie ich, und dennoch weiß ich auch nicht für ein einzige® Verhältnis zu fagen, . wie die öffentliche Meinung über dasſelbe denkt. Will man fich aber aus den Zeitungen Rath? erholen über die Stimmung der Nation, fo wird man erfahren, daß grade .die bedeutendften und edelften Män- ner dort niemals vernommen werden. Die unterrichteten, die guten,

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die rechtlichen hülfen fich bei und in ihre Tugend und fchweigen, jei es aus Bequemlichkeit oder aus fittlicher Vornehmheit oder aus ari- ſtokratiſchem Ekel; aber e8 Klagen, lärmen und fchreien alle, die es beffer und behaglicher haben wollen und dennod) jede Anftrengung ſcheuen, um Einſicht in die wirklichen Verhältniffe zu erlangen. Wie oft ftehen eigentlich böfe und fchlechte Kerle an der Spike der ſchreien⸗ den Schreiber! Wo ift nun die öffentliche Meinung? Um zu ir- gend einem Verſtändnis der üffentlihen Stimmung zu gelangen, wird _ man nie vergeflen dürfen, heißt es in einem Briefe, den Perthes an Hormayr fehrieb, daß zu jeder Zeit immer drei Generationen neben- einander leben, von denen die eine aus der immer erfahrungslofen, oft bimmelftürmenden Jugend, die andere aus dem immer erfahrungs- fatten, oft ſchwachen, deiperaten oder banferotten Alter befteht. Der zwifchen beiden liegende mannhafte Kern der Nation follte freilich eine felbftändige Kraft fein; aber in unferer Zeit ift er ed nicht, fondern gehört halb dem findifchen und halb dem alterfchwachen Alter an. Das muß freilich ſchlimme Folgen haben, aber Gott wird ſich feine Zeit erfehen. Wenn die himmelftürmenden Jungen oder die banle- rotten Alten wirklich das Uebergewicht errungen haben werden, dann werden die Männer Männer werden müſſen.

Die Eindrüde der ſüdeuropäiſchen Nevolntionen anf die Stimmung in Deutſchland. 1220 —1822. -

Es war wenig Ausſicht vorhanden, daß die deutſchen Regierun⸗ gen den ſeit Karlsbad eingeſchlagenen Weg freiwillig verlaſſen wür⸗ den, und die Demagogen kannten ihre eigene Schwäche und Zuſam⸗ menhangslofigfeit zu gut, um von Anwendung der Gewalt Erfolg zu hoffen. Nicht durch eine deutſche, wohl aber durch eine europäf« Ihe Bewegung ließ fich Aenderung der beftehenden Ordnung erwar« ten. Wenn im übrigen Europa die Oppofitiondpartei den Sieg da»

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von getragen hatte, konnten die deutfchen Regierungen dein allgemei⸗ nen Zuge der Dinge auf die Dauer nicht widerftehen. Mit gefpann- ter Aufmerkſamkeit richteten. ſich daher die Blide in Deutichland ſtets dorthin, mo Bewegungen gegen die beftehende Ordnung audbrachen. Bald genug entbrannte der Kampf im ganzen füdlichen Europa: wäh- rend der Jahre 1820, 1821 und 1822 trug die Revolution in Spa- nien und Portugal, in Stalien und in Griechenland: zumächft wenig⸗ ſtens den Steg davon, hielt die ohnehin heftig erregten Deutfchen in außerordentliher Spannung und gewöhnte fie, den Waffenfampf der Unterthanen gegen die Obrigfeit als etwas nicht unmögliches zu be⸗ trachten. |

Die Spanier wurden feit ihrem zähen Widerſtand gegen Napo- leon mit beiwundernder Liebe in Dentichland betrachtet. In ihren Regimentern hatten manche Männer gefochten, die zu den Beften Deutfchlands gehörten; die englifch- deutſche Legion war Jahre hin- dureh ihr Waffenbruder geweſen. Weil Spanien fi Napoleon und dem von ihm eingefeßten König Jofeph nicht unterwarf, warb der allgemeine Zerfall ded Landes überjehen; meil die Berfaffung von 1812 im Gegenfag zu Napoleon gegeben war, wurde aud von Roya- fiften nur wenig beachtet, daß fie für einen wirklichen König feinen Raum hatte, mit den durch Nationalität und Gefchichte begründeten Zuftänden Spaniend in Widerfprud ftand und jede Regierung un- möglich machte. Als nun Ferdinand VII. bei feiner Rüdkehr im Jahre 1814 die Berfaffung aufhob und, ftatt eine andere zu geben, die Möndhdorden und die Inauifition berftellte, die Joſefinos ver- bannte, aber auch manchen, der im Kampfe gegen Napoleon fi) den Namen eined Helden erworben hatte, einferkerte, wurde er nicht nur als elender Shwähling, fondern auch als ein Ungeheuer angefehen, der jedes geiftige Gut, jede freie menfchlihe Bewegung mit rohen Fü- hen niederzutreten die Abficht habe. Seine Gewaltſamkeiten und Will- fürlichfeiten wurden bis in das Märchenhafte übertrieben und die vielen ſchon feit 1814 verfuchten Verfchwörungen erfchienen ala hei. denmüthige Regungen des menfchlihen Gefühled gegen einen nichte- würdigen. Unterdrüder.

Perthes hatte durch feinen in Cadir wohnenden Freund Böhl Perthes“ Leben 11. 4. Aufl, | 15

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von Faber die damals in Deutfchland fehr feltene Gelegenheit er- halten, auch die Kehrfeite der fpanifchen Zuftände kennen zu lernen. Hier haben fih Hölle und Teufel verſchworen, fehrieb Böhl ſchon im Juni 1815 an Perthed, die jepige ſpaniſche Regierung verhaßt zu machen und: das vorige Chaos wieder herjuftellen. Da der Spanier feine eigenthümliche Beharrlichkeit leider aud) im Böfen behauptet, fo find die hiefigen Aufklärer (liberales) jept Anhänger Bonaparte's und Bertheidiger der mulattiihen Republicaner in Amerika gewor- den. Die gänzliche Zerrüttung der Finanzen bringt eine Stodtung in dem gefellfchaftlichen Getriebe hervor, heißt ed in einem Briefe von 1816, die fich auf alle Zweige des Verkehrs erftredt, und den- noch ißt die ganze Schar der königlichen Diener, ohne auch nur einen Heller Beſoldung einzunehmen. Wie ſich das Ganze noch zuſammen⸗ hält, iſt unerklaͤrlich; denmoch ſcheint ein Umſturz unvermeidlich, nicht falſcher Regierungsgrundſätze wegen, ſondern aus Noth, die aber des—⸗ halb nicht weniger eine Regierung des Poͤbels nach ſich ziehen wird. Die Ausfichten find ſehr trübe. Ihre Furcht, ausführliche Briefe von Ihnen an mich könnten in unrechte Hände kommen und mir Un⸗ annehmlichfeiten bereiten, hat durchaus feinen Grund. Diefe Furcht gehört zu dem Lügengewebe, welches von den Aufklärern verbreitet wird, um den Katholicismus und mittelbar das ganze hriftliche Sy» ftem verhaßt zu maden. Kein Brief wird jept in Spanien geöffnet, ein jeder fagt frei, was er denkt, und neben einem Bertheidiger des herrfchenden Syſtems finden fih hundert Anfläger; es gehört zum guten Ton, auf den König und die Geiftlihen zu fehimpfen, und ei- ner meines Schlages ift rara avis. Alle Häufer wimmeln von ver- botenen Büchern, aber noch iſt feined von der Inquiſition weggenom- men. Was von tyrannifchen Machtfprüchen, von Einkerferungen und Zortur in Madrid verbreitet wird, find Märchen, die nur beweifen, wie tief der Haß gegen Monarchie und Religion gewurzelt bat. Daß nicht völlig das Alte wiederlehren kann, fehe ich wohl, aber ih möchte doch etwas dem Alten Berwandted und in feinem Falle da® Neue von 1812. Wenn ich felbft, lediglich weil ich dad Neue kennen lernte, wie es wirklich ift, zum Wunfche nach dem Alten geführt worden bin, warum follten nicht auch die anderen denfelben Weg gehen, und

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mwenn alles einmal bat zeitgemäß fein fönnen, warum follte nicht auch das Ehriftenthum zeitgemäß werden? Laſſen doch die Grenzen des Katholicismus einen fehr weiten Spielraum zu. Bon Boli- tit mag ich nichts mehr fehen und hören, fchrieb Böhl einige Monate fpäter; ich werde immer unduldfamer, wenn ich ſehen muß, daß aller Haß, der in des Menfchen Bruft Plag findet, fi in dem Auftreten gegen die Regierung erichöpft und der Abfcheu gegen Unrecht und Laſter fchlaffer ift al je. Für unfer entartete® Geſchlecht ift Bonaparte wahrfcheinlich zu früh aus der Gefchichte abgetreten. Meine Kunde von der Handlungsweife der Regierung, heißt es in einem Briefe vom October 1817, erftrect fich indbefondere über Cadix und Andalufien, aber aud über ganz Spanien, und demzufolge verfihere ih Ihnen abermal3, daß die Inquifition nur dem Namen nad) eriftiert. Die meiften Inquiſitoren find Liberale, die fich ihred Amtes fchämen. Alle verbotenen Bücher können von jedermann gelefen und befefien werden, alle Reden find in jeglicher Geſellſchaft zuläffig, nur nicht - folhe, welche die Mönche, die Inquifition, den Roſenkranz u. f. m. vertheidigen. Kurz die Tendenz zur Aufklärung ift fo allgemein und entfchieden, daß die wenigen Anhänger de Alten ſchweigen und fidh verfteden. Es fteht Ihnen nun natürlich völlig frei, ob Sie mir glau- . ben wollen oder dem politifchen Journal und den Schiffscapitänen und fpanifchen Beamten, welche unter dem Vorwande, Menfchen und Waaren vor der Ingquifition ſchützen zu wollen, ſich mande ſchöne Summe erpreffen. Im October 1818 waren die Beforgniffe be- reitd fehr geftiegen. Ueber die biefigen inneren Berhältniife kann ich Ahnen leider nichts tröftliches jagen; es ift ein wahres Wunder, wie das Gebäude noch fo zufammenhält und wie bei Dem gänzlichen Man- gel an Sold den Truppen der Geduldsfaden nicht reißt. Der König wird am Ende nothgedrungen thun müllen, was er vielleicht anfäng- lich hätte freiwillig thun follen. Unter einer anderen politifchen Form wird man willig Die Opfer bringen, gegen die ſich jet nicht das Volk, aber jeder „Aufgellärte” empört. Den Schreiern und Leitern iſt nun einmal die Aufflärung tnoculiert und die Krankheit muß ihre Stufen durchlaufen. Ob der Kranke fterben oder wieder genefen wird, bleibt die Frage. 15 *

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In den erften Tagen des Jahres 1820 brach die Revolution in Andalufien, etwas fpäter in Galicien, in Neucaftilien und an allen Drten und Enden aus. erdinand VII. nahm: im März die Conſti⸗ tution des Jahres 1812 an, hob die Inquifition auf, ließ die Ein- gekerkerten frei, ftellte die Preßfreiheit her und berief bald darauf Die Sorte der wieder eingeführten Berfaffung. Sie werden natürlich erwarten, fehrieb Böhl von Faber am A. April 1820, daß ih Ihnen etwa3 von unferer neueften Staatsumwälzung fage. Wäre ich ge- ftimmt wie die Weifen diefer Welt, fo würde ich lauter Unheil: pro« phezeien, weil es in Frankreich damit fo übel ablief, weil die Jaco⸗ binerbrut auch hier im Finftern fchleicht, weil dad Volk fo gar unreif ift, und aus hundert andern Gründen. ch erinnere mich aber, wie fich die Weifen befonders in Beziehung auf Spanien ftet3 fo arg ver rechnet haben, und nehme alfo grade das Gegentheil von dem allem an. Eben weil die Franzofen die Freiheit misbraucht haben, glaube ih, daß die Epanier im ganzen die Grenzen der Mäßigung nicht überfchreiten werden; eben weil man in Frankreich die Sacobiner an⸗ geſtaunt hat, wird man fie hier verachten und haften, fobald fie ji in ihrer wahren Geftalt zeigen; eben weil das Bolf in politifcher Hinfiht fo gar roh ift, wird es nicht. eine Regierungsſucht fühlen, welche alle Regierung vernichtet. Es ift unglaublih, welche Sinn- lofigfeit für bürgerliche Freiheit fogar bei den Aufgeklärt⸗ſein⸗-wollen⸗ den herrſcht. Unter Conftitution verfteht ein jeder die Befreiung von dem, was ihn beläfligte. Mit eigenen Ohren habe ich gehört, wie der eine meinte, er. brauche nun nicht mehr zu faften; der andere; er fönne jeht ohne Geld Tabak rauchen; der dritte, ed würden nun die alten Eilberflotien wieder fommen. Wa die Prefien jebt täglich Bogen für Bogen and Licht fördern, ift das elendeite, feichtefte Ge- rede, ein Echwall tönender Worte ohne beftimmten Sinn, aber aud ohne Ruchlofigfeit und mit der audgezeichnetften Achtung für den Charakter und die Perſon des Könige. Die Monarchifchen fügen fi jest willig in die Eonftitution, da ihr geliebter, ſchändlich verleum- deter König fie angenommen und befhworen hat, und die Liberalen lieben den König jetzt herzlich, weil er ihnen ihr Schoßkind wieder- gegeben. Die Sacobiner bleiben, will® Gott, die Heine Minderzahl.

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Der König hat ihnen durch Annahme der Conftitution einen Strich durch die Rechnung gemadt. In Cadir genießen wir der vollkom⸗ menften Sicherheit und Ruhe. | Sobald die erfte Kunde von dem Siege der Revolution nad) Deutfchland gelangte, wendeten alle Blide ſich dorthin, wo der große politiſche Zwiefpalt nicht, wie in Deutfhland, mit Worten, fondern mit Waffen, und zwar mit fiegreichen Waffen ausgefochten war. Die ſpaniſchen Nachrichten haben gewaltig überrafcht und große Freude erregt, vielleicht zu große, fchrieb Falk aus Kiel am 26. März 1820 an Perthed. Wie es geht, wenn ein Bolf reif zur Conftitution ift und fie ihm dennoch vorenthalten wird, fann man freilich an diefem Beifpiel lernen; aber bedenkt man, wie fehr die Eonftitution der Cor⸗ tes ein Product der ultraliberalen Grundfäge ift, jo läßt ſich mit Si⸗ cherheit dad Prognoftiton für Spanien ftellen, daß entweder das Kö- nigthum oder die Eonftitution zu Grunde gehen wird. In Spa- nien trägt augenblidlich alled eine fo herrliche, ideale Farbe, fchrieb in denfelben Tagen ein Freund aus Franken an Perthed, daß ed ſchwer wird, die Hoffnung auf lange Dauer in ſich zu erhalten. Doc vielleicht ſoll das edle, heldenmüthige VBolf ein Beifpiel für Europa werden! Die Liebe zum König, die große Mäfigung auf allen Sei- ten, der Umftand, daß man nicht in das Ungemeffene ftrebt, fondern ein bereit8 feftgeftelltes Ziel in der Verfaſſing von 1812 befigt, ma- hen mir einigen Muth; für Europa find die Folgen unbereihenbar. In uns beiden ift gewiß, fehrieb Nehberg aus Hannover am 27. Mai an PBerthes, ein gleich Tebhaftes Intereſſe durch die unerwartetfte und größte Begebenheit erregt, welche den denkenden Beobachter jebt be- (häftigt. Die Gährung in Spanien, der Ausgang diefes faft unbe: _ greiflichen Ereigniſſes, die fhleunige Entwidelung politifcher Kräfte und Leidenfchaften in einem fo fräftigen Bolfe, welches uns biäher nur durd) feine militärifche Energie intereffierte,, das alles ift an ſich felbft und vieleicht auch in feinen entfernten Folgen fo wichtig, daß ich diefe neuen Auftritte, die alles Große, was mir feit dreißig Jah: ren geſehen haben, in gewiſſer Rüdficht übertreffen, nicht vorüber- gehen laflen fann, ohne mich darüber, fo viel ald möglich ift, zu un- terrichten. Ich kann mir wohl von niemand befferen Rath erbitten,

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wie ich diefed zu machen habe, ald von Ihnen. Sie leben im Mit. telpunft der Verbindungen Deutfchlande mit Spanien, haben den jeßigen Minifter Perez de Caſtro perfönlich gefannt und wiſſen gewiß von allem, was die Sache angeht, mehr ala ih. Mich erfüllt die Art und Weife des Herganged mit Erftaunen, da fie alled, was man von dem Charakter füdlicher Nationen im Kalle revolutionärer Be- megungen erivarten mußte, zu Schanden madt. Wie unbegreiflich groß iſt Doch die IImwandlung, welche in dem Gefamtcharafter aller Nationen während unferer Lebenszeit eingetreten ift!

Im Juli 1820 famen die neuen Corted in Madrid zufammen und blieben bi8 zum November verfammelt. Schon jetzt begann ber Kampf, welchen die Anhänger der Berfaflung einerfeitd gegen den König und den Klerus, anderfeit® gegen die jacobinifhen Decami- fado3 zu führen hatten. Das Volk ift froh, fehrieb ein um dieſe Zeit aus Spanien zurüdkehrender Befannter, und liebt die Unruhe nicht; der König, ein gewöhnlicher Wüſtling, ift felbft für den Aberglauben zu gering; die Elubbiften werden verachtet, die oftenfiblen Häupter der Revolution gelten ald unbedeutend, namentlih Quiroga; nur Riego foll ein Mann von Kopf fein; die geheimen Häupter, denen man viel Talent zufchreibt, wollen die Republif, aber ſchwerlich werden fie da8 Bolf hinreipen. Ye nad der eigenen politifhen Anficht wünfchten in Deutfchland die einen Diefer, die anderen jener Partei den Sieg. Der Grundirrthbum des mir von Shnen mitgetheilten Aufſatzes über Spanien, heißt e8 in einem Briefe an Perthes, liegt darin, daß dad, was innere Nothwendigkeit ift, ald Zufall und Mie- griff Dargeftellt wird. In Spanien iſt das Uebergewicht wirklich dort, wo es ſich jeßt zeigt, nemlich im Bürgerftande. Adel und Kirche ha- ben feit Karl V. ihre frühere Stellung zum Staate verloren. Warum haben fie in der großen Bewegung feit 1808 keine Hand erhoben und feine Stimme geführt? Weil Erzbifchöfe und Ordendgenerale in dem .. Borzimmer Manuel Godoy's, des Friedendfürften, um einen gnädi« gen Blick, um Beneficien und Einfluß gebuhlt, weil von allen den Hunderten der Granden keiner bei Mishandlung der Perfon und des Standes Selbftgefühl genug befeffen hatte, um mit eigener Gefahr den elenden Günftling vor die Klinge zu fordern, und weil die Beften

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ſchon viel zu thun glaubten, wenn fie ſchweigend fchmollten. Wa⸗ rum baben dagegen die Bürger in den Städten nicht verlernt, die Laft des Krieged und der politifchen Berathung auf fi zu nehmen? Weil fie felbft durch Arbeit frifch und Träftig, durch ihre Gemeinde- verfaffung wach und fich fühlend erhalten wurden, und weil ihre Borfteher den Muth bewahrt hatten, unerfchroden und einfichtdvoll das Recht der Gemeinde zu vertheidigen. „Wollen Sie wiſſen,“ fagte Fivre zu Napoleon, „wie gut die Inftitutionen find, die-Sie gefchafe fen haben, fo verfuchen Sie diefelben umzuftoßen; die, welche Teinen Widerftand leiften, taugen nicht.” In Spanien haben Adel und Kirche alles dem Winke ded König? preisgegeben, die Städte aber nicht. Auf welcher Seite ift nun „das große Drgan der Lebenskraft des Staates?” Was wahres Leben hat, das erhält ſich felbit leben- dig; was Gelehrte erft mit Mühe und nad) der Theorie aufpuben und reftaurieren müffen, das ift in fich tobt. Gewiß, e8 gab eine Zeit, in welcher das Leben der Staaten in dem Adel und in ber Kirche lebte; aber au in Ihrem Hamburg haben einftmal® Grafen regiert, und dennoch hat der Geift fich jebt auch dort andere Organe gebildet: Daß ſich da8 bürgerliche Element Spanien? in einem mis- verftandenen Streben nach föderierter Provincialverfaffung ausfpridht, leugne ich nicht, finde ed aber fehr erflärlih. Die Beitandtheile, aus denen die fpanifche Monarchie fich durch Erbichaft und Eroberung ge- bildet hat, find nach Abftammung, Sitte, Gemüthsart, Berfaffung ſcharf genug gefhieden, um zu dem Berfuche zu reisen, ſich von der caftilifchen Herrſchaft zu befreien, die ihnen nie zu Sinn gemwefen ift und jest weniger als je, weil Eaftilien und Madrid ſich bei faft allen großen Nationalangelegenheiten der legten vierzehn Jahre nur leidend verhalten haben. Wenn Sie ſich nun noch daran erinnern, daß die ganze Richtung der Zeit unmiderftehlih und aller Erfahrung zum Trotz auf die Republif hingemwendet tft, fo werden Sie ſich nicht wun⸗ dern, Daß viele Spanier der Weberzeugung find, eine neue Verfaſſung und eine alte Dynaftie würden ſchwerlich zufammen beftehen fönnen. Sch weiß mit Gewißheit, daß viele der Heftigften die Conſtitution von 1812 nicht anders beurtheilen ald wir; aber jenfeit® der Confti- tution meinen fie die Republif zu fehen, ein Licht nach vorübergehen-

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der Finfternie. Völlig unrichtig ift die Behauptung, daß das ganze jebige Streben der Spanier nur in den Städten fi) finde. Für den Süden mag es fo fein, aber in den nördlichen und öftlihen Provin⸗ zen, wo dad Eigenthum. meiftend theilbar. und frei iſt, fpricht fi auch auf dem Lande die politifhe Bewegung lebhaft aus, obſchon fie auch hier in: den Städten am früheften und ftärfften zum Ausbruch kommen mußte, weil in ihnen die Menfchen fich am meiften berüh- ren und am leichteften die Mittel und Wege zum Reden, Schreiben und Handeln finden. Eben fo wie Du babe ich den wärmiten Antheil an Spanien® Umwandlung genommen, fehrieb Perthes ei- nem Freunde. Iſt je eine Revolution ald Rothiwendigfeit eingetreten, fo ift e8 diefe. Daß Soldaten fie bewirkten, ftörte mich nicht, weil ih die fpanifhen Soldaten für enger mit dem Bolfe verfchmolzen hielt ald in irgend einem anderen Lande. Ich traute der Nation, die fo herrlich fih bewährt-hatte, und baute auf ihr tiefes religiöfes Gefühl. Auch heute noch halte ich die Hoffnung feit, daß fie ſich durdharbeiten werde aber es ficht fehr, fehr fehlimm aus. Was ic laͤngſt fehon hörte, aber nicht glauben wollte, ift nur zu-wahr. Die - höheren Stände, ein großer Theil der Geiftlichen nicht audgefchloffen, fennen feine andere Lehre als die der franzöfifhen Eneyklopädiſten und der feineren Sacobiner. Ganze Schiffeladungen der Schriften von Rouffeau, Voltaire, d’Alembert, Diderot gehen nach Spanien, werden vertheilt und werden verfchlungen. Die unüberlegte Aufbe- bung der Klöfter hat die Mönche, die Aufhebung der Kirchenzehnten - die Weltgeiftlichen zu Feinden des neuen Zuftande® gemacht, und ein Bürgerkrieg fcheint unabiwendbar. Dazu nun die unglüdfelige Con- ftitution von 1812! Ohne fefte und Fräftige Regierung iſt politifche Freiheit nicht gedenkbar; in Spanien aber follen die Cortes und mehr noch ihr permanenter: Ausfchuß mit und über der Regierung regieren. Ein Miniſter nad dem andern wird fallen und die Leitung. Spaniens Schritt vor Schritt in fchlechtere Hände fommen müflen. Perez de Caſtro, der feiner Zeit felbit den -Entrourf der Berfaffung hatte ma- chen helfen, äußerte kurz bevor er von hier ald Minifter des Aus- wärtigen nach Madrid berufen ward, daß, um Spanien zu reiten,

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die Abänderung einiger Hauptfähe der Conftitution unerläßliche Bor- bedingung ſei.

Während in Spanien der Barteienfampf fih einrichtete, fiegte die Revolution in Portugal und erhob fi in Stalien. Der nördliche Theil der apenninifchen Halbinfel war nach Vertreibung ber Franzo⸗ jen zu. Heineren Bruchtheilen unter Oeſtreich, öftreichifche Erzherzöge und den König von Sardinien vertheilt, der Kirchenftant aber und Neapel den alten Herrjchern wieder gegeben worden. Im Gegenjag zu diefer Zerfplitterung, zu der öftreichifehen Regierung und zu der armfeligen päbftlihen und neapolitanifchen Verwaltung hatte der ſchon zur franzöfifchen Zeit Beroorgetretene Bund der Garbonari von Neapel aud Kraft und. Verbreitung gewonnen. Am 8. Juli 1820 mußte Serdinand- IV. die fpanifhe Conftitution von 1812 ald Orund- lage der Berfaffung für da® Königreich beider Sicilien anerkennen, und von nun an wurden in Piemont und in der Lombardei die Pläne weiter geführt, ‚welche den Prinzen Karl Albert von Savoyen zum König von ganz Italien erheben follten.

Ich geftehe Dir gerne, mein Italien liegt mir fehr am Herzen, fchrieb Graf Moltfe an Perthed, und wäre ich Staliäner, ich märe unter den Carbonari. Kann einer Nation verargt werden, wenn fie von fremden Einflug und fremder Herrſchaft frei fein will und, em⸗ pört über eine Behandlung, wie Jtalien fie nad) der Bertreibung der Franzoſen erfuhr, fich gegen ihre Dränger erhebt? Die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Revolution ſcheint mir ziemlich gleichbedeutend zu fein mit der nad) der Rechtmäßigkeit des Sturmes oder des Erd: bebend. Das bleibt gewiß, fein Bolt revolutioniert, weil e8 will, fondern weil es muß, und dad Muß liegt für Italien erlennbar vor. Jahrhunderte hatten die Italiäner wie dad Murmelthier den Winter verichlafen und die ihnen übrig gebliebene kränkelnde Kraft in kraft⸗ loſen Sonetten verbraudht; man muß fich freuen, wenn fie aufftehen, in dem Wunſche, wieder etwas zu fein in der Gefchichte. Die Ent- widelung des Prologd zu einem neuen, großen Trauerfpiel beginnt, ſchrieb Perthes um diefelbe Zeit; welche Wendung und Richtung dad merfwürdige Greignid nehmen wird, weiß niemand. Betrachte ich bie neapolitanifhe Revolution nicht ald einzelnen Act eines größeren

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Drama, fondern ald ein Stüd für fi, fo erfeheint fie mir als halb» wahnſinnig. Ein Staat, der nur ein fehr befchränftes Territorium, aber eine Hauptftadt von etwa 400,000 Einwohnern hat, von denen ein fehr großer Theil müßig auf den Straßen liegt; dann Galabrien, voll wilder Bewohner, faft im Urftand Nimrod's; dann Sicilien mit feinem nad altem Herkommen feit vertheilten Lande, fo wichtig ald das ganze übrige Königreich und doch durch Sitte und See von die fem ſcharf getrennt: wie follten da die verfchiedenen Raturen, Ge wohnheiten, Berhältniffe und Anfprüche zu einem gemeinfamen Volls⸗ und Staatdintereffe vereinigt werden fönnen! Eine gefeßgebende Ber fammlung follte das bewirfen? Nimmermehr. Die neue Gewalt, Majorität der Stimmen genannt, würde als furchtbarer Tyrann al- led Recht, alle Freiheit, alles Heilige vertilgen, und nun dazu bie fremde fpanifche Eonftitution von 1812! Aber die neapolitanifche . Revolution iſt auch gewiß nicht für Neapel gemacht, fie ift ein erfter Schlag an die Sturmglode, welche die Garbonari für ganz Italien ziehen wollen, und das verändert die Sache. Nur Gott kann Richter fein über die Männer, die vielleicht Großes und Gutes für ihr ge- ſamtes DBaterland wenigftend wollten. Wer unter und, der 1813 bis 1815 lebte und den Geift und das Streben feit 1806 in ſich auf- nahm, wollte einen Stein aufheben! Der Staliäner-hat fo gut wie der Deutfche fein Nationalreht und hat den Anſpruch, auf eigene Hand nad) eigener Art zu leben. Sind aud die öſtreichiſchen Fürften fhon jeit Jahrhunderten feine Fremden für Oberitalien, fo fcheint es doch, ald ob Deftreich verfäumt habe, nad) italiänifcher Lebensart zu regieren. Diefe Verfäumnis ift, nachdem einmal die eiferne Krone den.Staliänern wieder ind Gedächtnid gerufen war, um fo unverzeih- licher, als die öftreichifche Monarchie nicht durch eine gemeinfame Na- tionalität, fondern durch einen gemeinfamen Monarchen zufammenge- halten wird, alſo feinen Grund hat, Staliänern, Ungarn und Sla⸗ ven ihr nationales Leben zu verfümmern. Sept aber, nachdem Nea⸗ pel den erften Schritt für ganz Italien gethan bat, bleibt für Deft- reich nichts übrig ald die traurige Nothwendigkeit, mit den Waffen entgegen zu treten. Denn fo gutmüthig ift wohl niemand, zu glau- ben, daß fi die Carbonari durch irgend eine der Lombardei ge-

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währte Berfaffung in der Verfolgung ihrer Pläne aufhalten Taten würden.

Auch in Italien machte die von Weiten nad Diten Südeuropa durchziehende Nevolutionebewegung nicht Halt. Im Frühjahr 1821 brachte das Zufammentreffen verfchiedenartiger Umftände den ſchon feit Jahrzehenden vorbereiteten Aufftand der Griechen gegen das bru- tale türfifche Joch zum Ausbruche. Unter Alerander Ypſilanti's Füh⸗ rung fam die Moldau und Walachei in Bewegung, und im Pelopon⸗ ned, in Attika, auf den Infeln des Archipelagos begann der furcht⸗ bare Vernichtungskampf zwifchen Griehen und Türken. Dur ganz Europa ging der Ruf von den Kriegsthaten der Griechen und von den barbarifhen Qualen, die der Sultan, wo erfonnte, über fie vers hängte. Die Erhebung der Griechen wurde von allen freudig be- grüßt, welche jede Revolution, ſchon weil fie Revolution war, für Glück und Gewinn hielten; aber weil in Griechenland zugleich der Nachkomme der Hellenen gegen den Osmanen und die wenigften® vor⸗ audgejebte Bildung gegen die völlige Barbarei, weil der gequälte Menſch gegen feinen Peiniger und der mishandelte Ehrift gegen den brutalen Mohammedaner aufftand, vergaßen auch die entſchiedenſten Gegner der Revolution, daß die Griechen gegen ihren hergebrachten Herriher die Waffen fehrten, und. wünfchten ihnen Glüd und Er- folg. Bei dem erften Beginne ded Kampfes war überdies die Mei⸗ nung, daß Kaifer Ulerander denfelben hervorgerufen habe, ſehr all⸗ gemein verbreitet und führte den Griechen manchen Lobredner zu, der ihnen außerdem wohl fern geblieben wäre. Regte doch ſelbſt in den ruffifchen Oftfeeprovinzen die Theilnahme ſich mit aufflammender Be- geifterung.

Ich habe es nie für möglich gehalten, einen Krieg mit Inbrunft zu wünſchen, fchrieb ein Eurländifcher Edelmann im Mai 1821 an Perthes; jept aber ift ed der Kal. Nun darf die heilige Allianz wohl rufen: Hic Rhodus, bic salta! Weh über die Engländer, welche in Neapel der liberalen Partei fo viel zu Gute hielten und jeßt die armen Griechen der Barbarei wilder Horden preisgeben! Wo find nun die lauten liberalen Stimmen, warum werden fie jebt nicht laut? Sie ſchweigen, weil, mag Griechenland fiegen oder unterges

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ben, für fie fein Gewinn daraus hervorgeht, weil in Hellad nicht der Sacobiner kämpft, um die Herrichaft zu gewinnen, Sondern die Menfch- heit, um den Drud eines furchtbaren Tyrannen abzufchütteln. Egoid- mus treibt die feigen Seelen. der Deutfchen: wie der europäifchen Li⸗ beralen überhaupt. Die Zeit ift groß und zugleih wie Mein! Sie fliegt und friecht zugleich; fie ift ein Heimchen, das Schwingen hat, um binter dem Ofen Lärm zu machen. So Gott will, wird es un- fer herrlicher Alerander fein, der zum zmeitenmale den Knoten, wel⸗ her die Bande gequälter Völker zufammenhält, mit dem gerechten Schwerte zerhaut. Wäre nicht das Alter in jedem meiner Glieder, fo ging ich mit in den heiligen Kampf.

Der Borwurf der Zheilnahmlofigfeit, welcher den Deutſchen in diefem Briefe gemacht ward, entbehrte jede Grunded. Obſchon Deft- reich bald feine Häfen für alle, die den Griechen zu Hilfe ziehen woll⸗ ten, verſchloß, und in Preußen, Baiern, Sachfen jede öffentliche Kundgebung polizeilich ſtreng unterfagt ward, fo bildeten ſich dennod für ganz Deutfchland Vereine, welche Geld fammeln, Waffen ankau— fen und Krieger augrüften und nad Griechenland fenden mollten. Perthes hatte, noch bevor er von diefen Bereinen die dringende Auf- forderung erhielt, Hand and Werk zu legen, zwar feinen Berein für Hamburg und Norddeutfchland zu gründen verfucht, aber nicht unbe- deutende Summen zufammengebracdht und manchen ehrenwerthen Of feier, unter andern einen Oberften mit feinen drei Söhnen, nad Marfeille und Livorno oder wenigftend bi8 München fortgehoffen. Die Angelegenheit der Griechen befchäftigt Sie, wie es fcheint, fehr lebhaft, fchrieb im Juli 1821 ein den Widerfpruch liebender Freund an Perthes; mid gar nicht. Ich kann die gefchichtlih beglaubigte Anfiht nicht 108 werden, die einzige, die mir nicht ganz fremd iſt. Von dem erften Auftreten an in der alten Geſchichte hat dieſes geift- reiche, hochbegabte Volk gezeigt, daß ed, ähnlich wie die Franzoſen ber neuen Zeit, alles befigt, was einem ehrlichen Manne zu wün- hen wäre, aber nicht? von den, was einen Mann ehrlich macht. Den Griechen ift nicht erft in ihrem jegigen Zuſtande der Erniedrigung und Berwilderung, fondern ſchon in der Zeit ihres höchſten Glanzes und Ruhmes der Sinn für Treue und Recht, für Dankbarkeit und

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Biltigfeit fremd, ja lächerlich getwefen. Für die alte Zeit übernimmt Thucydides ftatt meiner die Beweisführung; die Zeit des muthwillig berbeigeführten Römereinjluffe®, die Greuel des byzantinischen Kai⸗ ſerthums find an fich felbft Beweifed genug, und nun die griechifchen Kichenverfammlungen! Kirchenverf ammlungen finden überhaupt kei⸗ nen Robredner an mir, aber die des Abendlandes, befonder® die der hochherzigen Gothen und Spanier tragen doch da® Gepräge der Ma- jeftät. und des Ernfte®, mitunter fogar des Wohlwollend und der Billigfeit. Die Männer, die ſich hier verfammelten, eiferten zwar auch und irrten mehr als billig, fie eiferten aber aus Unverftand und beriethen fich Doch wie Männer, die vor Gott ftehen und nach ihrem Gewiften handeln. Wie ganz ander? dagegen waren die griechifchen Kirchenverfammlungen! Welch ein Misbrauch der Berwünfchungen und Berfluchungen bei den gleichgiltigften Ketzereien, welch Gefchrei, welche Ungebuld , welcher fchnelle Wechfel des Berdammend und des Billigend, und unter Patriarchen, Erabifhöfen und Bifchöfen welh ein wechſelſeitiges Mishandeln, welch ein Trampeln, Treten und Balgen, welches an feinen ungezogenen Buben mit ſchimpflicher Züch- tigung zu beftrafen, jeder Dorfichulmeifter für Pflicht halten würde! Und nun die Zeit der Türkenherrfhaft! Kommen denn etwa die Leis den der Moldau und Walachei von den Türken? Nein, fie lommen von der nichtswürdigen Erpreffung der griechifchen Fürften, von den unerfättlihen Yanarioten, die nun einmal verfaffungsmäßig in dem Befige find, dad arme Land audzufaugen. Große Rechte hatte der Eroberer Konftantinopeld, Mahommed II., dem griechifhen Patriar- hen für fih und feine Kirche bewilligt und die Türken haben Treu und Glauben gehalten, aber die ſchmutzigen Griechen, treulos unter fih wie gegen andere, haben einer den andern überboten, um zur Patriarhenwürde zu gelangen, und die Türken überredet und ge- zwungen, fie zum Gegenftande des Wucherd zu machen. Die Grie- hen haben viel gelitten, aber gewiß nicht mehr, als fie verdient ha- ben; nun werden fie frei werden, etwas früher oder fpäter, aber fie werden diefe Freiheit ſchaͤndlich misbrauchen, oder zweimal zwei ift nicht mehr vier. Weder für folche Ehriften noch für ſolche Menſchen fann ich mich begeiftern.

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Diefe damals fehr vereinzelt flehende Stimme hattte freilich auch ihre Wahrheit, aber fie fonnte Perthes nicht veranlaflen, in feiner Thaͤtigkeit nachzulaſſen, welche bald genug ihn auch mit der Schat- tenfeite jener damal3 allgemein in Deutjchland herrfchenden Griechen- begeifterung befannt machte. Abenteurer hohen und niederen Stan- de, Männer, die beinahe ſchon Greiſe, und Jünglinge, die beinahe noch Kinder waren, wollten ihr Glück in Griechenland verſuchen und drängten fi. in unglaublicher Menge auch an Perthed heran; der eine wollte Rod und Stiefel, der andere Geld und Empfehlungen, und leider nur zu bald zeigte fih, daß ein ganz anderer Grund als Begeifterung für Griechenland die meiften trieb. Die größte Vorſicht ward zur Pflicht; Betrüger mußten erfannt und junge leichtfinnige Leute vom frühen Untergange gerettet werden. Da Eure Hochgeboren fo außerordentlichen Einfluß auf hohe und höchfte Perſonen befiten, ſchrieb Perthes einem vomehmen Bagabunden, fo wäre mein Rath, daß Sie fih an den Kaifer von Oeftreich oder Kronprinzen von Baiern, bei denen fie immer freieften Zutritt haben, oder an ihren vorzügli- hen Gönner Grafen Wrbna oder an ihren intimen Freund Minifter Wangenheim oder an die anderen Könige, Minifter und Generale, die Sie nennen, wenden möchten, und nit an mi, der ich Bür- ger und Buchhändler zu Hamburg bin. Die Griechen begehren, fchrieb er einem anderen, feine Soldaten, fondern nur erfahrene Dfficiere von der Artillerie oder vom Geniecorps; das fagen alle Briefe, die ich von unterrichteten Männern habe. Sie aber, junger Freund, find nicht von der Artillerie und auch wohl nicht von Genie; bleiben Sie ruhig zu Haufe, rathe ich Ihnen, und fuhen Sie etwas Tüchtiges zu lernen. Als eine für die Griechen begeifterte wackere Frau, deren gutmüthiger aber unbedeutender und unbefonnener Sohn nad) Griechenland ziehen wollte, fih um Rath an Perthes wendete, antwortete Diefer: Sie feheinen die Sache der Griechen für eine fo große und heilige zu halten, daß ihr gegenüber jedes nähere Verhältnis, jede nähere Verpflichtung alles Necht verliere; ih aber muß Ihnen fagen, daß die Pflicht der Mutter, ihren Sohn vor dem fittlihen Untergang zu bewahren, und die Pflicht des Soh⸗ ned, für feine verwitwete Mutter, und die des Bruders, für feine

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paterlofen Schweitern zu forgen, größer und heiliger ift felbft ala die Pflicht gegen das deutfche Vaterland, und nicht von diefem, fon- dern von Griechenland ift hier die Rede. So weit find wir doch noch nicht in der allgemeinen Verbrüderung gekommen, daß und jeder ent- fernte Punkt Europa's als vaterländiih gelten könnte. Verſuchen - ie e8 einmal, dem Mutterherzen das wahrfcheinliche Gefchi des Sohnes, wenn Cie ihn ziehen laffen, deutlich zu machen. Zu den Griechen foll er. Gelangte er wirklich bis dahin, fo würde er ohne binlängliche Geldmittel, ohne Kenntnid der Sprache und Landesart, ohne militärifche Kenntniſſe in dem fremden Lande eintreffen. Ich will aber von den Dfficieren und Kameraden, mit denen er dort zu thun hätte, ich will von Schlachten und Gefechten, von Verſtüm⸗ melung und Sklaverei nicht reden; denn ich glaube, daß er, au wenn Sie ihn geben lafien, fo wenig zum Kampfe mit den Türken ala zur Kameradfchaft mit den Griechen fommen wird. Geſetzt, wir befördern ihn wirklich nah Marſeille, fo wird er dort im heißen Lande vielleicht no Menate lang müßig und ohne Familienhalt in- mitten von Berlodungen aller Art auf die Abfahrt eines Schiffs war⸗ ten müflen; gebt er zu Schiff, fo wird feine Gefellfchaft aus alten und jungen Glüdßrittern beftehen, die ganz Europa nad) Griechenland fendet, und er wird geiftig und Törperlich untergegangen fein, bevor er einen Griechen oder Türken zu Geficht befommt. Diefem allem die» fen jungen Menfchen ausſetzen beißt ihn ind Feuer werfen oder in den Schlamm treten, und nimmermehr fann ed, wie Sie fchreiben, die heiligfte Pflicht für eine Mutter fein, ihren einzigen Sohn nach Griechenland zu fohiden.

Während unter denen, die für Griechenland redeten und ſchrie⸗ ben, fammelten und verfammelten, vielen dad Mittel wichtiger war al® der Zweck, die vergrößerte Aufregung in Deutſchland wichtiger al® die verftärkte Hilfe für Griechenland, geriethen gegen Ende des Sommers 1821 auch die deutfchen Regierungen dem lärmenden Trei« ben gegenüber in größere Unruhe. Da demzufolge die Polizei mit ängftlicher Strenge die Bewegung zu überwaden begann, ftieg der Reiz, diefelbe ihr zum Trotz fortzuſetzen. Sehr viele Griechenfreunde geftelen fih darin, als Demagogen zu gelten, und die Bewe—⸗

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gung für die Griechen ward eine Bewegung gegen die eigene Obrig- feit; immer unreinere Elemente miſchten ſich ein, die in feiger Heim- fichfeit fich freuten, "die Behörden zu hintergehen und das Volk auf zureizen. Bon nun an liefen Briefe bei Perthed ein, in denen bald um Unterftügung , aber unter Verſchweigung ded Namens, bald um Beförderung von Briefen, aber mit größter Vorſicht gegen die Behör- den, bald fogar um Beforgung falfher Päfle, die ja in Hamburg nicht ſchwer halten fönne, gebeten wurde. Zumuthungen diefer Art ftanden mit Perthed’ Charakter in ſchroffem Widerfpruh und wur⸗ den von ihm mit derben Worten zurüdgewiefen. Mir ift, antwor⸗ tete er einmal, Die Angelegenheit der Griechen nad wie vor wichtig und werth, aber ich weiß auch, was ich dem eigenen Baterlande und feiner Ordnung fchuldig bin. Jetzt wird aufgerufen, ‚angefeuert und in Bewegung gefebt, was nur irgend aufzurühren ift, ob diefer oder jener von guten oder fchlechten Beweggründen geleitet ward, darauf wird. wenig oder gar feine Nüdficht genommen. So ftehe ich aber nit. Nie werde ich über Bedenflichkeiten gegen Perſonen und Mittel binwegfehen; finde ich einen rechtlichen und erfahrenen Officier, der nad Griechenland will, und fann id ihm mit Rath und That bebilf- lich fein, fo foll e8 mid) freuen, aber an dem allgemeinen Lärm fann und will ich feinen Theil nehmen.

Die Heilige Allianz in ihrem Verhältniſſe zu den füb- europäiſchen Revolutionen. 1820 und 1822.

Nachdem die Revolution das ſüdliche Europa ergriffen und das nördliche zum größten Theil ald Anhänger und Bewunderer gewonnen hatte, wurde ein gemeinfames Auftreten der europäifchen Großmächte gegen den gemeinfamen Feind von den einen gefürdtet, von den anderen gehofft, von allen aber mit Sicherheit erwartet. Alle Ber- gleiche unferer Zeit mit den Wendepunften in der Gefchichte einzelner

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Voͤlker und einzelner Jahrhunderte find viel zu Meinlich; ſchrieb da- mals Perthes; nur dann wird man die unermeßliche Bedeutung die- fer Jahre ahnen können, wenn man erkennt, daß unfer ganzer Welt- theil fi in einer Uebergangszeit befindet, im welcher die Gegenfähe eine? vergehenden und eines fommenden halben Jahrtauſends zufam- menſtoßen. Alle romanifchen Völker in Europa, Portugiejen, Spa⸗ niet, Franzoſen, Staliäner, find in wilder Bewegung; alle flavifchen Völker dagegen ftehen ald ein einziges. Ganzes regungslos da wie ein eherner Koloß. In der Mitte zwiſchen beiden find bie -germani- fchen Völker, geiftig wild bewegt wie die Romanen, politifch regung3- 108 wie die Slaven. Während die drei großen Völferfarnilien fcharf gezeichnet. und gefchieden einander gegenüber ftehen, find dennoch alle - Grenzen der Nationalitäten durchbrochen wie in feiner früheren Zeit - der neueren Gefhichte. Die Staatögrenzen umſchließen verſchiedene und zerſchneiden diefelben Nationalitäten; die Eolonien reißen ſich 108, außerenropäifche Völker treten ein in den Staatenverkehr und

alle Länder und Nationen der Erde find ſich durch die Beſchleunigungs -

mittel der Communication, durch den Austauſch merhanifcher Fertig. feiten und durch die Gemeinfamleit der wiſſenſchaftlichen und literari- - fchen Thätigfeit unglaublih nahe gebracht. Alles Bedenkliche und Gefährliche greift durch ganz Europa immig ineinander, überall tau- hen die unberechtigten Meinungen und Strebungen in gleicher Weiſe auf, überall find die Leidenfehaften gleich wild entflammt. Während das Ausdeinanderwollen der ſcharf gefchiedenen Nationalitäten und das Zueinanderwollen der gleichen Intereifen und Leidenfchaften aller Na- tionen fih wie zwei gewaltige entgegengefebte Strömungen braufend und: wirbeind begegnen, während alle politifchen Kräfte der Erde durcheinander wühlen und arbeiten wie nie zuvor, fehlt jede gemein- fam orönende und leitende Macht in der Geichichte. Die Weltherr- {haft des alten Roms, das geiftlihe und meltliche Doppelregiment des Mittelalterd, das Syſtem des Gleichgewichts der legten Jahr⸗ hunderte, das alles iſt verſchwunden und unſere Zeit ſoll den Erſatz für das Verſchwundene finden. Wir aber, mein lieber Freund, wer⸗ den die Löſung der Aufgabe nicht mehr ſehen; denn futhle an Dein

Haupt, es iſt Abend für uns geworden. Perthes' Lehen, 11. 4. Aufl. 16

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Nach dem Sturze Napoleon’? war die Nothwendigkeit einer ein» beitlihen Macht, welche von Europa als Lenfer und Ordner der europäifchen Berhältniffe anerfannt ward, fehr allgemein gefühlt wor⸗ den. Geleitet von diefem Gefühle, hatten Rußland, Oeſtreich und Preußen im September 1815 die heilige Allianz gefchloffen; jie wollte für die Beherrfchung der einzelnen Staaten und für den Verkehr der Staaten untereinander feine andere Borfchrift als die der chriftlichen Religion angewendet willen; Gerechtigkeit, Liebe und Frieden follte auf der Erde fein, Gott al® der einzige Souverän, alle Menfchen ald Brüder und die Könige al? die von Gott zur Leitung der großen Hriftlihen Familie auderlefenen Bäter gelten. Rußland, Oeſtreich und Preußen glaubten das Necht und die Pflicht in ſich zu tragen, diefe neue Ordnung der Dinge berbeisuführen, und forderten die ührigen europätfchen Staaten zur Theilnahme auf. Fünf Jahre ſpä—⸗ ter ſahen freilich nur wenige in der heiligen Allianz die politifche In⸗ ftitution, welche das ſchwer bedrohte Europa vor dem Untergang be» wahren fönne. Wohl tritt mir die dee der heiligen Allianz vor Augen, fehrieb Perthes 1821; aber obſchon aus dem fuchenden Geift der Zeit entfprungen, iſt fie dennoch allen wirklichen Verhältniſſen weit vorausgeeilt und deshalb ohne Wahrheit und.ohne Kraft. Ein Rath der europäifhen Könige, der in freier Verftändigung die gro- pen Geſchicke berathet und die auftauchenden Störungen audgleicht oder befeitigt, ift ein vor Gott und vor den Menſchen wohlgefälliger Gedanke, aber diefer Rath darf nicht ein Nath der Fürften zur Er haltung und Vergrößerung der fürftlihen Rechte fein, fondern fept Fürften voraus, die nicht fih, fondern ihre Staaten vertreten und in feſter, verfaſſungsmäßiger Weife ihren Völkern eine Obrigfeit find. Weil wir ſolche Fürften noch nicht haben, fönnen wir auch einen fols hen Fürftenrath nicht haben, und es werden noch viele große politi- fhe Fragen aufgeworfen werden, welche dur Zufall, Willtür und Gewalt ihre Antwort erhalten, bald von den Kürften und bald von den Völkern.

Die religiöfe Färbung der heiligen Allianz war wenige Jahre ſchon nach ihrer Gründung in den Hintergrund getreten, aber auf dem Aachener Congreß fchloifen am 15. November 1818 die fünf

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Großmaͤchte eine-Union, welche fünftig mit Audſchluß jedes eimjeiti- tigen Eingreifen der einzelnen Regierungen alle Angelegenheiten ord» nen follte, von denen eine Gefährdung des europäifchen Friedend und der europäifchen Ordnung gefürchtet werden fonnte. Es Tragte fi nun, ob die heilige Allianz in diefer neuen Geftalt den Beruf und die Kraft befibe, die Verwidelungen zu löfen, in die Europa durch die Revolutionen des Südens gerathen war. Ein fehr unterrichteter mithandelnder Freund ſprach feine Unfichten hierüber in folgender Weiſe gegen Perthes aus: Als Rußland, Preußen, England und Deftreih durch ihre engere Verbindung die Weltherrſchaft Napoleon's beendet hatten, gedachten fie gemeinfhaftlich diefelbe Gewalt über Europa zu üben, welche biöher von Napoleon beſeſſen war. Sie be- tradhteten fich ala Erben feines Schwertes, und wenn fie in der erften religiöfen Dankbarkeit einander gelobten, dasſelbe nicht‘ als Gottes⸗ geifel, fondern als Hirtenftab zu gebrauchen, fo blieb das Echwert dennoch ein Schwert, deſſen Midbraud das übrige Europa zu fürdh- ten hatte. Auch die mehr republicanifche Form des neuen Weltregi- ments ließ die Befahren der Oligarchie nicht Überfehen, und wenn in allen politifhen Berhältniffen die Zeit auf repräfentative Formen hindrängte, fo mußten die Staaten zweiten und dritten Ranges auch wohl begehrten, bei der Leitung Europa’3 repräfentiert zu fein. Nur fehr wenige Regierungen haben fich zu irgend einer Zeit das neue Regiment der vier Mächte ald ein dauernded gedacht und an deſſen DBefeftigung mit Neigung und Bertrauen gearbeitet. Zufanmenge- halten wurde die Quadrupelallianz wefentlih nur durch die Roth- wendigfeit, mit vereinten Kräften jeden neuen Berfuch Frankreichs, fi) zum Gebieter Europa's zu machen, fofort vereiteln zu fönnen; Frankreich aber wurde nicht nur von Monat zu Monat weniger ge- fährlih, fondern trat auch auf dem Aachener Bongreß in die Berbin- dung ein, woelche dadurch ein ganz fremdartiged Element in ſich auf- nahm, deffen Verſchmelzung um fo fehwieriger war, als die übrigen Kräfte bisher feindlich gegen dasſelbe gewirkt hatten und eine feipd⸗ lihe Richtung praktiſch auch dann nod längere Zeit fortzudauern pflegt, wenn fie theoretifch aufgegeben if. Um die Allianz nach dem Zutritte Frankreichs gleich einig und ftarf zu erhalten, hätte es eines 16 *

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gemeinfamen Zweckes bedurft, welcher an die Stelle des bisherigen Ankämpfens gegen das gefürchtete Uebergewicht Frankreichs treten konnte. Da nun ein ſolcher neuer gemeinſamer Zweck ſich nicht fand, fo mußte die Verbindung aus Mangel an gemeinſamem Nahrungs ftoff fi) lockern und jedes Glied derfelben fuchte fein Einzelinterefle zu dem Lebendprincipe der Gemeinfchaft zu machen. Die befonderen Intereſſen der einzelnen großen Mächte aber gingen weit auseinander. Oeſtreich will und muß bei der Lage feines eigenen Innern die große Allianz als ein Mittel gebrauchen, um überall die Dinge auf dem- felben Punkte zu erhalten, auf welchem fie feit 1815 fich befinden. Preußen ſucht in der Allianz dag Mittel, in Europa ald Großmacht zu zählen, wird aber, fo lange es den Zwiefpalt in feinem eigenen Innern nicht befeitigt, nur als ein Anhang Deftreichd und. Rußlands in Betracht kommen. Rußland Hat wohl von allen Theilnehmern dag größte Intereffe an der. Kortdauer der Allianz. Dad Eultur- bedürfnid feiner ungeheuren Maſſen drängt zur engiten Verbindung mit Europa, aber Rußlands Verbindung mit Europa fann nur ala Einfluß, nur ald Macht über Europa fi äußern; den Mangel gei- fliger Ueberlegenheit und geiftigen Einfluffes will es durch die Größe feiner materiellen Macht aufiwiegen. Die unmittelbare und augen blickliche Theilnahme an den Reibungen, welche das gebildete Europa in feinen Tleineren Beftandtheilen fortwährend veranlaßt, wird aber für Rußland durch die geographifche Entfernung erfhwert ; feine An- fiht und fein Rath fann in der Regel erft dann vernommen werden, wenn die Umftände ſich ſchon wieder verändert haben. Rußland fucht daher die ihm unmögliche unmittelbare Theilnahme durch einen mit- telbaren Einfluß zu ergänzen und fieht in der großen Allianz vor al lem den Weg zu diefem Ziele. Fortwährend hat es geftrebt, auf die eine oder die andere der Mächte einen näheren und beftimmteren Einfluß zu gewinnen, damit dieje ſich nicht ohne Anfrage entfcheide und jeden definitiven Entſchluß einftweilen aufhalte. Welchen Gang die Sachen in Europa nehmen, ift für Rupland bei feiner noch im- mer abgeſchloſſenen Lage in den meiften Fällen verhältnismäßig gleich giltig; ob z.B. in diefem oder jenem Lande eine repräfentative Ber: faffung befteht oder nicht, ift für Deftreich von großer, für Rußland

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dagegen von fehr geringer Bedeutung ; aber alled kommt ihm darauf an, daß es bei allem mit dabei-fei. Daraus erflärt ſich wohl die oft- . malige-fheinbare Inconfequenz der ruffifchen Bevollmächtigten, wenn es ſich um Seftftellung von Einzelheiten in den europäifchen Angele- genheiten handelt. Ganz anders ift Englands Lage. England hat von Anfang an die Allianz nur ala Mittel zu einem fcharf beftimmten einzelnen Zmed betrachtet: der Alleinherrfcher über den Gontinent follte niedergeworfen und eine Garantie gegeben werden, daß Frank. reich nicht wieder einen ähnlichen Berfuch wie 1815 mache, Die euro» pätfche Gewalt an fich zu bringen. In demfelben Grabe, in welchem das Bedürfnis nach der Kortdauer einer folhen Garantie ſich vermin- derte, ift für England die große Allianz, deren e8 zu feinem anderen Zwecke bedarf, gleichgiltig gervorden. So lange fie befteht, wird Eng- land die Nothwendigkeit erkennen, fi. an ihr zu beteiligen, aber es wird fich ihrer Auflöfung nicht miderfegen, ja vielleicht dieſelbe be- günftigen, um freiere Hand zu haben, die eigenen, zu allem aus» reichenden Kräfte für fein eigenes Intereſſe, welches nicht immer mit dem ded Continents zufammenfällt, zu verwenden. Franfreich end- fich fah fi) anfang? gendthigt, fehr leife und nachgiebig in der Al- lianz aufzutreten, um die hiftorifch gewordene ihm feindliche Richtung der anderen Großmächte allmählich untergehen zu laffen. Obfchon Frankreichs europäifcher Einfluß nach Beſiegung Rapoleon’3 einige Jahre ruhte, ift es Dennoch feiner ganzen “hiftorifhen Stellung nach eine Macht, welche, um einen Pla unter den Großmächten zu be haupten, nicht wie Preußen zu fortwährender Nachgiebigfeit genöthigt if. Frankreich betrachtete die Allianz al® eine Handhabe, die eigene Stellung wieder aufjurichten, und wie der Kranke feine. Krüde fort- wirft, fobald er auf eigenen Füßen ftehen fann, zeigt fih Frankreich geneigt, ſich einer Allianz zu entledigen, die ihred Urfprunge® wegen allen Parteien Frankreichs widerwärtig iſt. Faßt man alle dieſe fehr bedeutenden Veränderungen ind Auge, welche feit der Befiegung Na- poleon’3 in der. Stellung der großen europäifchen Mächte eingetreten find, fo wird man nicht glauben’ fönnen, daß die heilige Allianz oder deren Aachener Fortfegung berufen und befähigt fei, den Er- eigniffen in Südeuropa entgegen zu treten. |

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Deftreih hegte darüber feinen Zweifel, daß die Revolution in Neapel mit den Waffen niedergervorfen werden müſſe und könne. Es war entichloffen , feine Truppen einrüden zu laſſen, aber es wünſchte diefen Schritt mo möglich in Folge eined gemeinfamen Beſchluſſes der Grogmädhte thun zu können. Die heilige Allianz diente ihm bierzu ald Handhabe. Mit ausdrüdlicher Bezugnahme auf dad Schlußpro- tofoll der Aachener Berathungen erließ Fürft Metternich im Spätſom⸗ mer 1820 die Einladung zu europäifchen Berathungen an Die großen Höfe und verſuchte auf dem Congreſſe zu Zroppau im October und November 1820 ganz Europa zum Kampfe gegen die Revolution, wo und wie fie fich auch zeige, in ähnlicher Weife wie früher gegen Ra» poleon unter die Waffen zu ‚bringen; aber fein Borhaben fcheiterte an dem Widerftande Englands, melches jede fremde Einmifchung in die inneren Angelegenheiten unabhängiger Staaten für unzuläffig er» flärte und dadurch namentlich auch die deutfchen Regierungen zweiten Ranges von der Furcht befreite, Durch die Truppen Oeſtreichs und Preußen? unter dem Borgeben des Kampfed gegen die Revolution bejeßt zu werden. In Troppau fcheint, ſchrieb am 20. November 1820 ein unterrichteter Mann an Perthes, fchon Waller ind Feuer gegoflen zu fein, vorzüglich von Seiten England® und Frankreich. Wenigſtens ift man, wie ich ficher weiß, in München, Stuttgart und Karlsruhe fo weit beruhigt, daß die beabfichtigte Gegenzufammen- funft in Würzburg jest für überflüffig gehalten wird. Vielleicht war die Entwerfung dieſes Project? doch nöthig, grade um deifen Ausfüh- rung überflüffig zu machen. Ungeachtet ded Widerftrebend Eng- land? unterzeichneten aber die Bevollmächtigten von Deftreich, Preu- Sen und Rußland die Erflärung, mit vereinten Kräften die in ihrer Entwidelung begriffene revolutionäre Gewalt befämpfen zu wollen.

Einige Monate fpäter, im Januar 1821, trat in Laibach ein neuer Gongreß der fünf Großmächte zufammen. Zu diefem war auch der König von Reapel befchieden. Er flellte fih ein und ward mit Eh ren überhäuft, aber fein Minifter ded Auswärtigen, Herzog di Gallo, ward von den öftreichifchen Behärden in Görz zurüdgehalten und un- ter polizeiliche Aufficht geftellt. Weber Neapel und Laibach kann id Ihnen, heißt ed in einem Briefe an Perthed vom 17. Januar 1821,

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nur wenig gewiſſes mitiheilen. Es fcheint, als wollte man dieſe Sache grade fo wie 1815 die franzöfifche Angelegenheit behandeln. Man zieht zwiſchen Bonaparte'd Militärrevolution und der Revolu⸗ tion der Minichini und Pepe, zwifchen Ludwig XVII. und Ferdi⸗ nand IV., zwiſchen Gent und Laibach eine Parallele und möchte hier- aus Wiedereinführung des Könige mit gewafneter Hand, Verban- nung, Gefangenfegung und. Hinrichtung der Rädeldführer und militä- rifhe Occupation des Landes folgern. Aber die Parallele paßt nicht; denn Ludwig XVII. ward zurüdgeführt, um die von ihn befchwo- rene Berfaffung gegen die Anhänger Napoleon’? , die fie umgeftoßen hatten, aufrecht zu halten, Ferdinand IV. aber foll militärifche Un- terftügung erhalten, um die-befchworene Verfaſſung, welche feine Un- terthanen feftgehalten haben, brechen zu fünnen. Wir werden nun bald fehen, ob der König Ferdinand erklärt, daß er zu dem Eide ge- zwungen fei, und fich felbft deshalb von deinfelben entbindet, oder ob der Pabft mit dem Schlüſſel Petri aushelfen muß. Dad Schlimmfte in der ganzen Angelegenheit fheint mir zu fein, dag der überall in Europa vorhandene Gegenfat der politifhen Anfichten bei einem mi- Litärifchen Berfahren gegen Neapel eine fchroffere und feindlichere Aus⸗ bildung erhalten muß, als es bei einer friedlichen Beilegung der Yall geweſen fein würde. Im Jahre 1815 waren die Männer aller Par« teien mit der Nüdführung Ludwig's XVIH. einverftanden, weil alle die Bernichtung Napoleon’3 wollten; jegt dagegen möchten ungeadhtet des Widerwillens gegen die Ipanifche Eonftitution die Meinungen au verſtaͤndiger Männer fehr auseinander gehen. Noch immer nicht? fichere® aus Laibach, heißt ed in einem acht Tage fpäter gefchriebe- nen Briefe dedfelben Manned; nur das ift gewiß, daß die großen Mächte unter ſich nicht einig find; fortwährend fteht Deftreich nebſt dem ſich ihm ganz bingebenden Preußen auf der einen, England und Frankreich aber auf der anderen Seite, während Rupland ſich wed- telnd bald dieſem bald jenem nähert. Daß man den alten König von Neapel fagen und erflären lafien fann, was man Luft hat, bes zweifeln wenige und man hält die Zurüdweifung des Marquis di Gallo, den der König felbft bei fi) zu haben wünfchte, allgemein für einen Midgriff, durch welchen die Idee der Krone und ded Nönig-

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thums ſchwer verlegt ift. Ich bin überzeugt, daß die Neapolitaner, wenn fie nur. noch ein Jahr fich felbit überlaifen find, unſchädlich für Guropa fein werden; ein Kreuzzug gegen fie dürfte aber, wie id fürchte, eine große Zahl bejonnener Männer auf ihre Seite führen; es hat etwas fehr verlegended, einer Berfaflung den Krieg zu erflären, welche der eigene König beſchworen und wiederholt anerkannt hat.

Der Schreiber diefer Zeilen hatte richtig geſehen; wirflich beftritt England unter Frankreichs Beiftimmung in Laibach aufs neue den Grundfag, daß eine fremde Macht fi in die inneren Angelegenhei- ten eines anderen felbftändigen Staated zu mifchen deshalb das Recht habe, weil Europa verpflichtet fei, überall die Revolution zu befäm- pfen. Zugleich aber erflärte England, nicht entgegen treten zu wol⸗ ien, wenn Deftreich8 eigenes Intereſſe ihm ein bewaffnetes Einſchrei⸗ ten in Neapel nöthig mache. Bereits in der Mitte ded Monats Ye bruar 1821 befand ſich ein öſtreichiſches Heer nahe der neapolitani- ſchen Grenze und ganz Europa erwartete gefpannt den Zufammen- ftoß der Waffen.

Die entfeplihen Ereigniffe, welche wir nun erleben werden, ichrieb ein freund an Perthed, mögen die verantworten, welche die armen Fürften, die nicht willen, was fie thun, zu diefem graufen- haften Abweg verführten. Neapel mit feiner terra di Lavoro wird leicht bezwungen fein, aber zugleich mit Neapel fällt dem Sieger die ungeheure, immer wirbeinde Volksmaſſe der Hauptftadt zu, die ſich nicht fo leicht wie im Norden in die Häufer einfäfigen läßt, und wie will man die Abruzzen, wie Galabrien und das zweite Gibraltar, Gaeta, bezwingen, defien Feſtungswerke in den fenkrecht auffteigen- den Fels eingehauen find und vom Waffer aud immer verproviantiert werden fünnen? Deftreich kann fich in diefem Kampfe verbluten, und verliert e3 eine einzige Schlacht, fo ftehen im Rüden feines Heeres hundert Städte im Aufruhr. Durch feine materielle Uebermacht wird Deftreich nicht gegen die Begeifterung eines ganzen Volkes gefichert fein. War Deftreich nicht auch übermächtig, ald es Die Schweizer, war Spanien nicht übermächtig, ald es Holland befämpfte? hat England nicht Nordamerika frei erklären müflen? wird Spanien über Süd- amerifa weiter herrſchen? Die Ueberzeugung, daß ein Boll, welches

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von dem Willen, eine Eriftenz in der Gefchichte zu erringen, wirklich durchdrungen ift, unbefiegbar dafteht, hat für mich die Gewißheit eined mathematifchen Satzes. in folched Volt wagt alled an alles, - ut und Blut, Seele und Leib. Das kann und darf feine andere Macht der Erde aufbieten,; denn jede andere Macht will nur diefen oder jenen Zweck erreichen, aber nicht die Exiſtenz. Die Truppen ber - Reapolitaner mögen wenig geübt fein, aber ein fhlagmuthige® Heer wird binnen kurzem ein fehlagfertigeö fein und die legten kriegathmen⸗ den dreißig Jahre haben doch auch gewiß Neapel berührt; an fran- zöfifchen, englifchen, fpanifchen Officieren wird es ihnen nicht feh- len. So wenig wie der Schreiber dieſes Briefed ahnete Anfang März 1821 wohl irgend ein Menſch, daß die Deftreicher nicht zu Schlachten mit einem wild erregten füdlichen Volke, fondern zu einem großen Treibjagen feiger, elender Haufen ausgezogen feien. Binnen wenigen Wochen war in Neapel von den revolutionären Gewalten nicht mehr die Rede und die Willfür einer Null war zum ſchranken⸗ loſen Alleinherrſcher gemacht. Dieſe ſchnelle Wendung der Dinge erſchien damals ſehr vielen als eine Folge des feſten Zuſammenhaltens der fünf Großmaͤchte und fehr viele erwarteten, baß die heilige Allianz, neu- geftärkt und in« niger verbunden durch diefen erften Sieg, bald auch in Portugal, in Spanien, in Griechenland und überall den Kampf mit der Revolution aufnehmen und fiegreidh durchführen werde. Näher unterrichtete Män- ner aber mußten wohl, daß. die Congreſſe in Troppau und Laibah die heilige Allianz nicht geftärft, fondern der völligen Auflöfung fehr nahe geführt hatten. Die äftreichifche Regierung ift an Widerſpruch im Innern nicht gewöhnt, fchrieb ein mithandelnder Freund im Soms mer 1821 an Perthes; fie hatte es feit Jahren in Deutfchland fehr leicht gefunden, für ihre fo bequem fcheinenden Anfichten die an mie - nifterielle Verantwortlichkeit praktifch nicht gewöhnten Minifter zu ges winnen, und zweifelte daher nicht daran, auch auf den Gongreffen Einftimmigfeit zu bewirken und die Evenemens creieren zu koͤnnen, nach welchen fi die Welt geftalten ſolle. Statt defien aber hat Deftreich die Erfahrung gemacht, daß die. Minifter der Staaten mit repräfentativer Verfaffung fih auf ihre Verantwortlichfeit gegen die

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Kammern berufen, um ihren Wideripruch zu begründen, und aud) das wirklich Zugefagte oft gar nicht oder nur halb zu erfüllen im Stande waren. Doppelt und dreifad) widerwärtig find alle NReprä- fentativverfaffungen für Deftreich geworden, und mit dem neu befe- - figten flarren Willen, nirgend® diefelben neu entſtehen zu laſſen, bat Fürſt Metternich die Congreife verlaffen. Zugleih bat Deftreid den engeren Zufammenhang mit England, auf welches ed feiner geo- graphifchen Lage nach und bei feiner durch Rußland bedrohten Stel- lung angewiefen ift, mit einer Art Protection von Seiten Rußlands vertaufcht, indem e3 fih von diefem Kriegähilfe für den Fall eines Unglüds in Reapel verfprechen ließ; es hat fich die Berufung Frank⸗ reichs auf einen ihm gebührenden Einfluß in Stalien gefallen laſſen müfjen und ift zu Preußen in ein gefpannted Berhältnid gekommen, weil der Berliner Hof aller Wahrfcheinlichkeit nach abgelehnt hat, die begehrte reelle Hilfleiftung eventualiter zu übernehmen. Das ift auch wohl der Grund, aus welchem der König nicht in Laibach erfchienen ft. Rußland hat fi in manchen Punkten den Wünjchen Deftreichd ge fügt, aber doch vor allenı fein eigene® Jnterefje gewahrt. Ohne auf Deftreih8 Plan, alles in dem Zuſtande von 1815 zu erhalten, einzus gehen, hat ed den Standpunkt der heiligen Allianz feftgehalten und deshalb ausgeſprochen, daß Deflreih, wenn bei Annäherung feinee Heeres in Neapel eine friedliche Ausgleichung gelärge, feine Zahlung ber Kriegäfoften begehren dürfe; ed hat Preußen, indem ed dasfelbe in diefer frage auf feine Ceite zog, von Deftreich entfernt und näher mit Rußland verbunden, Kaifer Alerander wird, wie ich Grund habe zu vermuthen, wenn Deftreich die neapolitanifche Angelegenheit been- bet hat, noch anderweitige Forderungen für Reapel machen, die mit Oeſtreichs Abficht, alled bei dem Alten zu erhalten, wenig überein- fimmen. England und Frankreich haben in Laibad) gewonnen ; in dem fie entfchieden gegen die Anforderungen Deftreich3 auftraten, hau⸗ beiten fie der europäiſchen Volksſtimmung völlig entſprechend und ha⸗ ben ihren geifligen Einflug auf Guropa unberechenbar verflärft; Frankreich hat ſich überdied die Bahn zur Wiedererlangung feines gänzlich verlorenen Einfluffed auf Italien eröffnet, die ed weiter zu verfolgen feine Gelegenheit verfäumen wird. Einjichtdvolle Staate-

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männer batten ſchon während der Perhandlungen über den zweiten Parifer Frieden und während ded Congreſſes zu Aachen audgefpro« hen, daß jede neue Zufammenkunft der großen Mächte das diejelben umfchließende Band lodern werde. Mir ſcheint es unftreitbar, daß diefe Vorherfagung in Troppau und Laibach fich erfüllt bat. Der Mangel eine? gemeinſamen Intereſſes für die Allianz und die Gegen- fäge in den Intereſſen ihrer Mitglieder find fehr feharf hervorgetreten. Die Rückſichtsloſigkeit, mit welcher Oeſtreich feine Abſicht, die Als lianz im eigenen Sonderinterefje zu benugen, verfolgte, hat die Auf⸗ merffamfeit der übrigen Großmächte in folchem Grade erregt, daß die ganze Verbindung mit völliger Auflöfung bedroht iſt. Der Verſuch, Europa ald eine Einheit unter Leitung der fünf Großmächte darzu- ftellen, kann als bereit® gefcheitert angefehen werden; die große Als lianz ift dem Wefen nad) nicht mehr vorhanden; jedes ihrer Mitglie- ber geht lediglich feinen eigenen Weg und fucht fich wie in früherer Zeit fo viel Berbündete wie möglich unter den größeren und fleineren Staaten zu gewinnen. Die Form der Allianz befteht zwar vorläufig noch, aber auch fie wird, wenn nicht alled trügt, bald genug ver ſchwinden. Statt der Uniondtage des durch feine Großmächte repräs fentierten Europa werden wir Einzelcongreffe, je nach) den Umftänden zwifchen drei oder vier oder jedh8 oder acht Mächten, ſehen und Eu— ropa wird jich Glück wünfchen können, wenn die gegenwärtige Span« nung nicht ind Ungemeffene fteigt und ftatt der europäifchen Union den europäifchen Krieg hervorruft.

Die religiöſen Gegenſätze der Zeit.

Die Männer, zu denen Perthes als Jüngling mit kindlicher Ver- ehrung hinaufgeſehen, an deren Glauben und Ueberzeugung er ſich angelehnt, in deren Ringen und Kämpfen er einen Wegweiſer durch das Gewirre des eigenen inneren Lebens gefunden hatte, ſtanden nicht mehr auf dem Kampfplatze, auf welchem die großen religiöſen Gegen⸗

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fäße jener Zeit audgefochten werden follten. Wie mancher der Aelteren war ſchon heimgegangen oder doch müde von ber Länge des Lebens, und auch der Greis, der Friſche und Kraft fih bewahrt, kann und foll doch das Webergewicht nicht behaupten, mit welchem er einft die Sünglinge beftimmte und führte; denn die Sünglinge felbft find Män- ner geworden, die mitten im Leben ftehen und rüftig .wirfen und fhaffen. Der Mann, auf deffen Wort fie einft wie auf einen höhe- ren Ausspruch bewundernd horchten,, ift ihnen nun ein liebevoll ver» ehrter und zart gefehonter Greid. Daß Perthes längft den Wende punkt des Lebens überfchritten hatte, von welchem ab die vielen vä- terlihen Freunde, die Gott ihm zugeführt, nicht länger einen beftim- menden Einfluß auf ihn üben konnten, fpricht fih vielfach in dem brieflihen Verkehr mit ihnen aus.

Meine Schwefter hat durch den beiliegenden Brief das Ihrige gethan, um Nachricht von uns zu geben, ſchrieb im December 1818 der ſechsundſiebenzigjaͤhrige Friedrich Heinrich Jacobi; nun möchte ih jehr gerne auch noch das Meinige thun, wenn ich nur noch hätte, womit ſich etwas thun läßt. Der alte Herr ift aber gar zu verfchlif- fen, ſieht nicht mehr recht, hört nicht mehr recht, behält nicht mehr recht und muß fih vor allen Dingen hüten, noch für dad gelten zu wollen, was er einftmal war und nicht mehr iſt. Schön iſt ed an mir und ih muß ed an mir loben, daß ich mich in Alter und Ge brechlichkeit noch fo finde, wie ich wirklich thue, fo daß es Leute gibt, die wohl einmal über mich ungeduldiger find, als ich felbft, was doch nicht recht ift. Es ift wirklich merkwürdig, wie dem Menfchen ‚oft im hohen Alter Dinge zu Theil werden, die er früher vergeben? erftrebte, mir 3. B. immer zunehmende Heiterfeit. ch danfe Ih— nen herzlich, mein innig geliebter väterliher Freund, für Ihre Zei- len, antwortete Perthes. Sie haben gewiß alle Urſache, heiter zu ſein; ein hohes Alter erreicht zu haben, iſt kein Unglück, und auch den erſten und ausgezeichnetſten Männern blieb ſelten eine größere Geiſtesthätigkeit und Geiſtesſchärfe als Ihnen. Muthen Sie ſich nur nicht länger Producieren zu; das hiſtoriſche Erzählen iſt des Alten Sache. Sehr wünſche ih, Sie liegen den vierten Theil Ihrer Werke liegen und begäben ſich ftatt deffen an da8 Sammeln und Ordnen

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der Erfahrungen Ihres feit fünfundfiebzig Jahren durchlebten Lebens; dad wird Sie angenehm aufheitern, indem e8 hiftorifch den ganzen Ideenkreis und Fdeengang einer großen Zeit Ihnen vorführt und wieder lebendig macht. Welche Gnade Gottes ift ed für Sie, daß Ihnen auf Ihrem Lebenswege noch vergönnt war, die falfchen Gö— gen alle fallen zu fehen und zu erfahren, daß die Krüden .eben nur Krüden find! Iſt Ihnen nun auch hienieden nicht das Findliche Feſt⸗ halten der göttlichen uns geoffenbarten Wahrheit zu Theil geworden, weil Sie zu ſtark vom Baume der Erfenntnis genoffen und zu lange gearbeitet haben, allein durch „den intellectuellen Höheſinn“ fih Ruhe zu gewinnen, fo ift das freilih ein Berluft für Ihr Seelenwohlbefin- den; aber wer fo. wie Sie in Ihrem letzten Briefe fragen kann: wo und wie ift Wahrheit?. der hat eine Demuth vor Gott, wie wenige ‚fie erlangten, die fo forfchten wie Sie, und Demuth vor Gott, ift der Kern des Menjchen und ift der Weg, zu Gott.

Aehnlich wie in dem Verhältniffe zu Jacobi war auch in. dem Berhältniffe zu anderen älteren Freunden die Autorität zurüdgetreten, welche diefelben früher ſchon vermöge ihres. reiferen Alter® geübt hat⸗ ten. Es galt jetzt für Perthes, nicht allein im äußeren, ſondern auch im inneren Leben auf eigenen Füßen zu ſtehen und ſich in dem neuen Gewirre religiöfer Gegenſätze als ein Kämpfer zu bewegen, für den da8 höhere Alter anderer aufgehört hatte ein reifered Alter zu fein.

.. Weit und breit im proteftantifhen Deutfchland. übte in der Menge und über die Menge noch der aus dem achtzehnten Jahrhundert über- lieferte Rationaliamus, wie er durch Röhr, Bretfchneider, Paulus und andere vertreten war, die Herrfchaft aus, aber nach zwei ver- fhiedenen Eeiten hin fah er fih ſchon in einen Kampf.um fein ferne- res Dafein verwidelt. Die tiefere wiffenfchaftliche Theologie war in Berbindung mit der neueren Philoſophie hervorgetreten und hatte nor allem in Schleiermacher,, der damals auf dem Höhepunfte feines Ein- fluſſes fland, einen gewaltigen Borkämpfer gefunden. Sie entzog dem Nationalismus die bedeutendften Geifter, fehränkte denfelben auf die Kreife der Mittelmäpigen ein und drohte daher, deſſen abgelebtes Leben völlig auszulöfchen. In ihrem Beginne konnte fich die wiſſen⸗ ſchaftliche Theologie wohl dem Laienauge entziehen, oder au, ob⸗

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ſchon ihr fpäteres Zerrbild noch nicht hervorgetreten war, den Ber- dacht erwecken, daß fie nichts thue, als mit beſſeren Waffen den alten Itrweg des Nationalismus vertheidigen, und die Erkenntnis der Mahrheit für das erfte, die Heiligung in der Wahrheit aber noch lange nicht für da8 zweite halte. Bedenken diefer Art mochte Per- the3 in dem Briefe geäußert haben, auf welchen ein theologifcher Freund ihm erwiederte: Man darf doch wahrlich nicht vergeifen, daß die meiften und bedeutendften Männer unferer Zeit nur durch Wiffen- (haft zum Chriſtenthum zurüdgeführt werden können, wie fie durch bie Wiſſenſchaft von demfelben abgeführt worden find. Nur fie ver mag die Wunden zu heilen, die fie gefehlagen bat. Damit fage ich wahrlich nicht® neues; Feiner der Kirchenväter hat ander? gedacht; obichon fie gewiß fo freudig wie unfere heutigen Eiferer bereit waren, Gut und Blut für ihre Meberzeugung zu opfern, jo haben fie doch immer anerkannt, daß das in Chriftus geoffenbarte Wort des Lebens feinen Widerfchein auch in der Philofophie des Morgenlanded und des Abendlanded hatte glänzen laſſen, um die Heiden durd dieſe Bhilofophie wie die Juden durch das Geſetz auf Chriftum vorzube- reiten, Perthes' Zmeifel an den Erfolgen der willenfchaftlichen Theologie wurden durch diefe und manche ähnliche Worte nicht bejei- tigt; ihm blieb die Furcht, dag die Theologen, erfreut über neu ge- fundene oder neu feftgeftellte wiffenfchaftliche Begriffe, der Berfuchung nicht widerftehen würden, diefelben nun auch frifehmeg in die Kirche einzuführen, welche, da fie weder wiflenfchaftlich fei noch fein könne, hierdurch ein neue? Element der Zerfegung erhalten werde. Mit gro- ßer Wärme wendete er fi dagegen den Bewegungen zu, die von ei« ner anderen Seite Die Herrfchaft ded Nationaliamus bedrohten.

- Angeregt durch die fehweren Leiden zur Zeit des franzöfiichen Drudes und durch die fraftvolle Erhebung zur Zeit der Freiheitäfriege, hatte da8 tiefere geiftige Reben begonnen, mit neuer Stärke im Inne ten der Nation zu arbeiten und zu drängen. In vielen einzelnen, in manchen Gemeinden und hier und da im Pfarramte war, ganz abgeſehen von aller. wiffenfchaftlihen Theologie, dad Bedürfnis nach Erlöfung von der Sünde und nach einem frommen, chriſtlichen Leben erwacht. Da c8 feine Befriedigung in dem herrfchenden Rationalis-

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mus nicht finden fonnte, wandte es fich einem neuen oder viehnehr fehr alten Wege zu. In den verfchiedenften Gegenden Deutichlands entftanden größere und Eleinere Gemeinfchaften von Menfchen, welche Hilfe für ihre Seele fuchten und dieſe Hilfe in dem alten Kirchenglau- ben fanden; der frühere, das ganze proteftantifche Deutichland um⸗ faffende Zufammenhang de8 Rationaliamus ward zerriffen und deſſen Geltung ald allgemein proteftantifcher Kirchenglaube war tief erfchüts tert. Aufmerkſam verfolgte Perthed die neuen Bewegungen. Zwar verfannte er die mit denfelben verbundenen Gefahren, die mancherlei Abirrungen und Wunderlichfeiten nicht, aber dennoch freute er fich der ganzen Erſcheinung, fofern fie nur nicht unwahr oder trübfelig, fondern ernft und frifch fich geltend machte. Harms ft nun Paſtor in Kiel, fchrieb er einem Freunde, und ganz Holftein geht, fährt und reitet zu ihm in die Kirche, fogar die Profefloren, und wenn Voß diefen Sommer nad) Holftein fommt, fo laufen wir Gefahr, auch ihn zu einem plattdeutfchen Chriften werden zu fehen. Ich gebe zwar nimmermehr zu, daß das Chriftenthum nur im Lutherthum fich finde, aber jehen fann man an Harms, was hinter dem Zaune aufwächft, oder vielmehr, daß Gotted Sonne überall jcheint und nicht bloß auf den Katheder. Harms hat, wie ich höre, fein Aeußeres und einen unvortbeilhaften Bortrag, aber fein Ernft und ein fiherer Glaube an die Offenbarung ded Herrn reißt, vielleicht unterftügt durch feine provincielle Derbheit, alle hin, Das hat Harmd bereits erreicht, fhreibt mir Kalt, dag unfere Prediger in der Verbreitung ihrer ratio naliftiichen Weisheit etwas vorfichtiger zu Werke gehen und wenig- ften® nicht pofitiv zerflören, was eine frömmere Zeit gebaut hat. Man würde dem braven, ernften und frommen N. dem Führer einer andern religiöfen Bewegung Unrecht thun, fehrieb Perthes um diefelbe Zeit, wenn man ihn an Worten, Sägen, Redensarten fefthalten wollte, unter denen man fich Died und das und noch allerlei anderes denken und vorftellen fann; aber fehr leid ift mir fein will kuͤrlicher Gebrauch von Bibelftellen. Wie er die Bibelftellen gebraucht, fo werden fie au von den Männern, die er befämpft, zum Beweiſe für entgegengefepte Behauptungen verrenft, und darüber müßte er felbft, meine ih, erfchreden. Aus Berlin hatte ein Freund an

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Perthes gefchrieben: Seit einigen Jahren ſchon hat ſich hier ein Kreis vortrefflicher und meift auch durch äußere Stellung hervorragender junger Männer zufammengefunden, denen es Ernft mit. ihrer Selig- feit ift, aber ein düfterer und bei einigen felbft finfterer Zug durchzieht ihr Leben: alles Weltliche und indbefondere alle weltlihe Kunſt er- fheint ihnen ald Sünde und mit warmem Eifer fuchen fie Profelyten zu gewinnen. Ich habe äußerlich und deshalb auch in meinem eige- nen Innern mit ihnen und ihrer Anficht zu ringen gehabt. Gott hat mir aus dem Kampfe berauögeholfen und ich ftehe frei für mid. Wenn volle Wahrheit in dem Ernſte der jungen Männer liegt, fo la Dich, antwortete Perthes, durch das Düftere nicht abſchrecken. Hei⸗ ter und düſter fein, ift Sache des Blutes; derſelbe Emft, derſelbe fefte Glaube erfcheint nach Verſchiedenheit der förperlihen Stimmung bei dem einen heiter, bei Dem anderen düfter, und- das irdifche Kleid darf und den ewigen Kern nicht verleiden. Eine höchſt eigenthüm- ‚liche Auffaffung des Chriſtenthums fcheint fich jept, ſchrieb ihm. ein theologifher Freund, hier und da innerhalb der Brüdergemeinde zu verbreiten. Fries nemlich hat, ich weiß nicht warum, vielleicht aus feinem ‚anderen Grunde, als weil er unter ihnen erzogen iſt, Ein- gang bei den Herrnhutern gefunden. Mit diefem fpalten nun mande unter ihnen den Menſchen in einen Verftändigen, der als folcher nad Kantifcher Weife vom Unendlihen und Göttlichen nichts weiß, fon- dern alled nur in feiner. endlichen und weltlichen Beziehung verfteht, und in einen Ahnenden und Fühlenden, für welchen Gott und Ewig— feit überall if. Das verfländige Sch in mir muß nun z. B. die Wun⸗ der.und alled Uebernatürliche leugnen, während zugleich das fühlende Ich in mir überall Wunder und Webernatürliches fieht. So zerreißen fie den Menfchen in zwei Stüde, von denen das eine nothwendig un- gläubig, das andere abergläubifh, das Ganze aber frank werden muß. Daß zwei Menfchen, die ſich ohne Unterlap befehden, in dem. einen Menſchen fieden, antwortete Perthes, ſcheint mir feine große Entdedung zu ſein; ſchon der Apoftel Paulus hat e8 gewußt und in feinem NRömerbrief deutlich genug ausgeſprochen. Es mag recht gut fein, die alte Wahrheit heutzutage neu einzufchärfen, aber die Aufgabe des Chriſtenthums iſt nicht, die beiden Gegner in uns

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durch theoretifches Ausfpinnen für alle Zeit wie gleich berechtigt zu verewigen, fondern fie Durch Lebendigmachung ded Glaubens zu einem einzigen neuen Menſchen heranzuziehen.

Um die Stimmung.jener Jahre in den religidd angeregten Volks⸗ kreiſen zu verftehen, wird man.nie vergeflen dürfen, daß fie ald Ges genſatz zu der Herrichaft des hergebrachten Nationalismus entitan- den war und daher die Bedürfniffe fait ausſchließlich hervorhob, für welche der Rationalismus, weil er fie nicht fannte, auch keine. Beftie« digung gewährte. Gut und böfe waren für den Rationaliamus nur den Grade nad) verfchieden; böfe war ihm gleichbedeutend mit weni- ger gut, gut mit weniger böfe. Weil er den größten aller Gegenſätze leugnete und nicht erfennen wollte, daß gut und böfe nicht als ver fhiedene Stufen demfelben Reiche, fondern als ewig unvereinbarer Widerſpruch zweien, unbedingt einander ausſchließenden Reichen: dem Neiche des Lebens und des Todes, des Lichtes und der Finfter- nid, angehören, wußte er auch nicht? von dem Bedürfniffe de? Men- ſchen nad einem Helfer, der ihn hinüberbringe über die tiefe, beide Meiche fcheidende Kluft, welche niit eigenen Kräften zu überfchreiten niemand vermag. Das entichloffene Hervorheben diefed Bedürfnif- fed mußte daher für die damalige Zeit der Ausgangspunkt jeder wah⸗ ren religiöfen Bewegung im Bolfdleben fein.

Wer nicht in fich gefühlt hat, fehrieb Perthes, daß ein ungeheu- res Geheimnis obwaltet, weiches un® auf immer von Gott entferte, wird auch nicht zu der Demuth gelangen, ohne welche dad Gna- denmittel der Berföhnung dur Jeſum Ehriftum unzugänglid) ift. Nicht das Fleifh, nicht Die Sinnlichkeit iſt das Grundübel; Hochs muth und Stolz, das ift der Teufel. Die Sinnlichkeit ift nur das Straf» und Heilmittel, durch ‘welches auch der hochmüthigfte Chrift immer wieder an feine Aermlichkeit und Berlaffenheit erinnert wird Nur wenig Pofitives ift und geoffenbart, aber dieſes wenige ift alles. Die Geftaltung des Geoffenbarten ift der Freiheit des Menfchen an- heim gegeben. Nach der Denkform, nad) dem Geifte und der Phan- tafie der Zeiten und der einzelnen bricht fich die Wahrheit in Strah⸗ len buntefter Art; der Menſch arbeitet ſich ab und foll ſich abarbei- ten, um für die Wahrheit eine Form zu gewinnen. Wenn Sie aber

Perthes“ Leben. II. 4. Xufl. 17

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ſchreiben, daß die chriftliche Offenbarung, fobald fie ald wahr ange nommen würde, Gejchichte und Philofophie in ein Halbdunkel Hülle, in welchem der Menſch halbträumend umher dufele, fo entgegne ih Ihnen, daß für jeden, der dad Erlöfungdmerf ausſtreicht, Die Ge- fchichte zu einem unentwirrbaren, ungeheuren Weichſelzopf und jedes philofophifhe Syftem zu einen Rechenerempel wird, deſſen Richtig⸗ keit, weil alle Möglichfeit der Probe fehlt, nie feftuftellen if. Das Forfchen übrigen? über das Weſen der Dreieinigkeit, über die Ratur des Herrn, über Erlöfung und Berföhnung it, wenn es ernſt ge⸗ (hieht, eine große und herrliche Sache, aber das Bedürfnis, aus welchen e& hervorgeht, ift ein wiflenfchaftliches, nicht ein chriftlichee. Werden wir doch auch von den Strahlen der Sonne erleuchtet: und er- wärmt, mögen wir die Gefehe ded Lichts und der Wärme verftehen oder nicht. Ihren Ausdrud: „die [hmeinifche Menge freilich bedarf einen Glauben, der über dad Willen hinausgeht”, werde ich mir merken; der Ausdrud und die hochmüthige Volksverachtung, aus der er hervorgeht, ift fehr bezeichnend für einen fo eingefleifchten Libera⸗ len wie Sie. Zum Schluffe bemerfe ich nur noch, dag ein Mann, der wie Sie niemals den Reizungen der Sinnenluft unterlag, nie in Hochmuth ſich überhoben und daher immer fich felbft genügte und feinen andern Helfer bedurfte ala fich felbft, dag ein folder Dann nur feine Zeit verlieren würde, ‚wenn er ferner auf mich achtete; er möge den Prediger bier in der Nähe, welcher im vorigen Jahre bei feinem eigenen Kinde zwei Juden zu Gevatter bat, ſich ald Seelfor- ger erwählen und möge fortfahren, fih, bis aud feine Stunde ſchlägt, täglich. zu wiederholen, daß alle Menfchen Recht haben und auch wieder nicht. | Sn fehr ausführlichen Mittheilungen fuchte ein braver und gei« ftig bedeutender Mann, welcher durchaus innerhalb des Rationalid» mus ftand, feine Stellung zu der hriftlichen Offenbarung zu rechtfer- tigen. Meine Worte werden Ihnen nicht gemundet haben, heißt e8 am Schluffe derfelben, aber ich fann nun einmal nicht anders und Sie haben Gleihmuth und Faſſung genug, um von einem alten ver- dorrten Stamme nicht zu begehren, daß ihm eine friſche Rinde wach⸗ fen folle. I glaube nur wenig das fan ich nicht leugnen aber

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ich habe die. fefle Meberzeugung, daß jedermann hächft berechtigt ift, unendlich viel mehr-zu glauben ala ich, und daß e8 feinem fogenann- ten Beifen oder Gelehrten zufommt, ihn dedhalb hinabzufeken. Dian braucht kein Heuchler, fein Augendiener, fein Feind der Geiſtesfrei⸗ heit zu fein, um die Schreier zu verachten, die ihre Freiheit nur da- durch bewähren, daß fie die ganze Welt zwingen wollen, nad) ihren Geſetzen zu leben. Das den Heidelbergern, Paulus und Voß, zu ſa⸗ gen, würde ich mich nicht feheuen: beide ſtehen auf Felſengrund, den ich felbft erprobt habe, aber beide können fich nicht darein finden, daß auch der Grund der anderen ein feiter fein fan. Gottlob, meine Anficht verträgt ſich mit der unbedingten Achtung wor jedem das Sittengejeß wicht übertretenden Religions - und Offenbarungsglauben. Ih bin fo billig gegen dad. Ehriftenthbum, wie ein eingewurzelter Heide nur zu fein vermag, und die fhlichten EChriften werden nun und nimmer meine Gegner fein, fo wenig als ich der ihrige; fie find vielmehr meine natürlihen Bundedgenoffen und geben nur weiter als ih. An ihren befonderen Geheimniſſen hört freilich, wie gefagt, meine Religion auf, ich fann ihnen dorthin nicht folgen und bleibe ohne Neid und Vorwurf im Lager der Heiden ruhig zurüd. Site kön⸗ nen mid höchſtens bedauern, denn id würde ja glauben, wenn e3 Gottes Wille geweſen wäre; es war aber fein Wille nicht, und ich bin zu ehrlich zum Heuchen. Was könnte ed meiner Seligkeit. nüpen, Menſchen zu hintergehen und Gott durch eine Rüge nicht zu belügen, aber zu beleidigen; denn Menſchen kann man wohl belügen, Gott aber nicht. ch gehe einer ewigen Zukunft entgegen, die nicht ſchlim⸗ mer fein fann, als mein fehöpferifcher Vater fie beftimmte. Was ich nicht ändern kann, will ich auch nicht ändern. Daß nichts befonderes an mir ift, meiß ich befier ald jemand, ‚aber ich verlange auch nicht, etwas beſonderes zu werden; meine Anfichten und Anſprüche können Gott nicht flören und find feinem Menfchen im Wege. Ein Plas im Borhofe Eured Tempels ift alles, worauf id Anſpruch mache, . und verweigert Ihr mir auch den, fo ift auch die Wüfte meines Herrn; aber ich denke, einen friedlihen Nachbar meiner Art fünnt Ihr in dem Borhofe der Heiden, an der Schwelle Eures Tempels ſchon dulden. nn J 17 *

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Sie fagen, antwortete Perthed, daß bei dem Gebeimniffe, wel⸗ ches dad Chriftenthum-zu haben behaupte, Ihre Religion unabwend⸗ bar. aufhören müſſe. ch erwiedere Ihnen darauf, daß der Gott, welchen der Rationalismus haben und beweiſen zu fönnen meint, die Denkkraft mehr noch ind Stoden bringt als jedes Geheimnis des Chriſtenthums. Sie fönnen, wie Sie jagen, nicht bei der Lehre je⸗ ner achtungswerthen Schule ſtehen bleiben, nach welcher die Welt die Gottheit ſei, aus ihr herfließe, zu ihr zurückfließe und ſich nicht von ihr unterſcheide. Mir iſt es ſchon recht, wenn Sie die Gottheit nicht anſehen wie das Waſſer, welches bald als Dunſt aufſteigt, bald als Regen niederfällt, bald als Wolke über det Erde, bald als Fluß und . Eee auf der Erde iſt und eben nichts anders iſt als Dunſt und Re gen, Wolfe und See und fish.nicht von dem altem unterfcheidet, als durch die jejeitige Geflalt, in der es erfcheint. Wenn Sie aber nun behaupten, durch ſcharfes Denken von der Gottheit-ded Pantheismus zu dem Gotte ded Rationalismus gelangen zu können, fo.fpricht alle Grfahrung wider Sie. Alle wahren und ſcharfen Denker der Bergan- genheit und der Gegenwart find, wenn fie von Chriftus nichts wuß⸗ ten oder nicht? willen wollten, zum Pantheismus gefommen, und nicht zu einem perfönlichen Gott; das brauche ich Ahnen ja nicht zu fagen. Ohne dad Chriſtenthum hätte der Rationalismus gar nicht bervortreten Tönnen und er kann fi nur deshalb mit fich begnügen, weil er fi bequem auf dad Faulbett firedt. Mit den Worten: der Ewige, der über Zeit und Raum Erhabene, meint der Rationalift ſich und andere zufrieden ftellen zu können, aber was diefe Worte heißen, das fagt er nicht und weiß es nicht. Der Menfh kann fih den perfönlichen Gott nicht. denfen ohne ein menfchliches Kleid; jede Religion ift eine Vermenſchlichung Gotted und infofern ein trübes Vor⸗ ahnen der Erjcheinung Gottes im Fleiſche. Daß die Menſchen aus ſich nicht bi® zur Menfchwerdung Gottes, fondern nur bi® zu deren Garicatur gelangten, ift freilich gewiß, und Sie haben volles Recht, zu fagen, daß feine menfchliche Denkkraft Menfchwerdung Gotteß, Berföhnung und Erlöfung zu finden im Stande fei; aber was folgt daraus für die ald Thatfache in der Geſchichte daftehende Wahrheit? Nichts. Kann doch die jchärffte Denkkraft nicht einmal das Dafein des

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romiſchen Reiches finden, und ift ed etwa deshalb nicht vorhanden geweſen? Wo Sie ftehen, mein lieber Freund, da ftehen Sie ziwi- fchen Thür und Angel und müflen vorwärtd oder rückwärts; denn Sie vermögen es nicht wie andere die Augen Ihres Geiſtes gemalt- fam zuzumachen.

Aufgeswängt würde das Chriftenthbum dem Menfchen, meinen Sie, ſchrieb Perthed einem anderen Freunde, und find gleichfam un- willig über diefe dem freien Manne angethane Gewalt. Nun ich we⸗ nigftend habe über Zwang nicht zu lagen. Mir wie allen meinen Alterögenofien hat keine Schule und kein Pfarrer, Tein Befehl zum Kirchengehen oder Bihbellefen jemald die ewige Wahrheit in Geftalt von Lehrfäpen aufgenöthigt oder auch nur nahe gebradht. Als mir aber mit jedem Jahre meines Lebens gewiſſer wurde, daß der in- nerfte Kern meines Seins göttlichen Gefchlechtes fer, fühlte ih um fo tiefer die Erniedrigung der ſchmählichen Knechtſchaft durch Fleiſch und Geifl. Jeden Tag meu verfhuldet, jeden Tag bald Gtolz, bald Staub. Die Angft um meine Selbftfucht und um meine Unrein- beit ließ mich nach einer Verföhnung fuchen mit dem Gotte, vor dem ich zitterte, und wurde mir dadurch der Weg, der zum Erkennen und Ergreifen der Offenbarung führte. Mir ift nicht das Chriften- thum, fondern ich bin dem Chriftentbum aufgezwängt, von innen heraus ihm in die Arme gejagt, und ich denke, fo ift ed auch man« chem anderen ergangen. Unſer Sein und Weſen ift das der ge- fallenen Geifter, ſchrieb Perthes ein anderesmal; aber die Sehnjudht nach der Reinheit des göttlichen Urſprungs ift geblieben und treibt alle aufwärts; überall werden wir ein Abmühen gewahr, fidh- aufju- ſchwingen oder aufwärts zu fleigen oder aufwärts zu friechen, und bis zum Kampfe gegen das Böſe bringt ed mandjer, bis zum Siege über das Böfe feiner; die flüchtigfte wie. die fhwerfälligfte Natur bedarf, um ſich zu beben, eines Helferd und Bermittlerd, und mer diefed Bedürfnis nicht kennt, der flattert ſich zu Tode im vergeblühhen Be- mühen, aufmärt3 zu fommen. Für den aber, der in der Roth fei- ned Herzens ausruft: Sch bin ein armer Sünder! -und die Arme ausſtreckt nach einem Helfer, für den ift Chriftus geftorben. Wie ‚nahe fällt doc) der Glaube an den Erldfer zufammen mit der Erfennt:

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nis der eigenen Sünde! Wie mancher, der Ehriftud fo wenig wie die Jünger von Emmaus kannte, mag ſchon zu Chriſtus gebetet und deshalb in der Verworrenheit der Angft ſich einen Göpen zum Mitt- fer gemacht haben! Ihn wird Ehriftus feiner Zeit zur Wahrheit, die nicht weniger Ruhe ift als Xicht, führen und mancher wird zur Rechten Gottes figen, der in diefem Leben nie den Namen Chrifti audgefprochen hat. Lieber, liebfter Moltke, heißt e8 in einem Briefe_an den alten Jugendfreund, unfer Dafein bier iſt ein dunkles Geheimnis, von welchen wir Anfang und Ende nicht wiſſen. Siehe Deine Jugend an, fiehe Dein Alter an was findeft Du bleibend in Dir, worin findet Du Dein Ich? Phantaſie und Berftand, Gefühl und Empfindung ift mandelbar, heute jo und morgen andere. Schäle fie ab von Deinem Sein, waß bleibt Dir, ald die Sehnſucht und als die Ahnung der Liebe? Die Liebe, beißt e8 in einem anderen Briefe, und ihr im gefchaffenen Wefen unzertrennlicher Be- gleiter, die Demuth, ift das Weſen der Seele, aber die Seele iſt ein- gefleiſcht in Sinnlichkeit und eingegeiftet in Hochmuth. Mir wird, je mehr ich in das Räthſel meined Selbſt hineinſchaue, immer deut- licher, daß meine Seele d. h. das ch der Demuth und der Liebe zu dem Menichen, als welcher ich umhergehe, gemorden ift, indem fie nicht mit Einer irdiſchen Form, fondern mit zweien: dem Körper und Geifte, zu einem Ganzen verbunden ward. Sie follte Durch bie von ihr audgehende Gottesfraft den Körper wie den Geift regieren, aber beide lehnten ſich auf und die Seele ift zum Knecht der Sinn⸗ lichleit und zum Knecht ded Hochmuths geworden und ift wie ein Scheintodter, den von dem wirklich Todten nur die Ahnung des Les bend unterfcheidet. Das Menſchenherz fehreit nach Demuth und Liebe, wie der Hirfch nach frifchen Wafler, aber e3 findet außerhalb des Ehriftentbumd feinen Gegenftand,, vor dem es fich beugen, feinen Gegenftand, den. es lieben fann. Der Araber fist finnend in feinem Zelte, der Hindu Brütet unheimlich in der einfamen Nacht und beide gehen im Grübeln unter, weil fie nicht finden fönnen, was fie fu- then; aber der Chrift hat den menſchgewordenen Gott, den er Lieben und vor dem feine Seele ſich beugen kann. Auch des Chriften Seele bleibt mit den Gründen ihrer Einferferung unbekannt, aber fie fehnt

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fih nicht nur fort aus der Erniedrigung, fondern ift zu unbegreifli- hen Ehren, zu dem nädhften, vertrauteften Umgang mit Gott ge- langt, mag aud) ihr Beten flet® nur Bitten fein, weil doch auch der Dank nichts ift ald die andere Seite der Bitte.

Wohl Dir, mein lieber, theurer Freund, antwortete Graf Adam Moltke an Perthes auf einen Brief religiöfen Inhalts, wohl Dir, dag Deinem Wefen, Deinem Dichten und Trachten. eine Sicherheit und Gewißheit geworden ift, die nur fehr wenige fich gewinnen umd die mancher rebliche, von Eigendünkel wirklich freie Menfch nie ge winnen kann; derm Gotted Wege find verfehieden und verfchieben auch die Organe, mit Denen fie aufgefaßt. werden. ‘Deine fichere Zu⸗ verficht drückt fich in jedem Deiner Worte aus; Gott erhalte fie Dir, und wie fie bieher eine tief empfundene und viel bedachte war, fo werde fie immermehr eine hell erlannte. Beten Sie, daß Ihnen erhalten bleibe, was Ihnen gegeben ward, fchrieb Friedrich Leopold ‚Stolberg, und daß die gute. Gabe mehr und mehr audgetheilt werde über unfer ganzes Vaterland. Es ift fehr wahr, wenn Sie jagen: Das göttliche Licht hat alled Geiſtige, alle Bildung fo fehr in und Durchdrungen, dag die Bildung nicht zu retten tft, wenn das göttliche Sicht erlifcht. Die Philofophie der Heiden hatte Haltung, meil fie aus dem Sehnen nad) dem Licht hervorgegangen war; aber die After weisheit unferer Tage entipringt aus Stumpfheit,; Frechheit, Glanz⸗ fucht, welches alles kein Sehnen ift nach Lit und nah Wahrheit, Das göttliche Licht. wird freilich nie verlöfchen, aber der Leuchter, auf dem es flammt, kann aus einem Lande, das feiner unwerth wird, in ein anderes verfeßt werden, wovon die Geſchichte uns furchtbare Beifpiele gezeigt.

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Die kirchlichen Gegenſätze der Zeit. 1817 1822.

So ficher Perthes feiner Sache in Beziehung auf den chriftlichen Glauben war, fo unficher fühlte er fih in Beziehung auf die chriſt⸗ liche Kirche. Die eigene Seligkeit aber bielt er fo wenig wie die Se ligkeit anderer durch eine folche Unficherheit gefährdet. Sollte nicht, äußerte er einmal, Einigkeit und Sicherheit. ded Glauben? neben Un- einigfeit und Unficherheit über die Kirche beftehen können? Wiſſen Doch auch fo ziemlich alle, was Recht. ift, ungeachtet fo ziemlich alle auseinandergehen in den Anfichten über die angemefjene Einridh- tung der Anftalten, welche das Recht ſchützen, erhalten und ausbrei⸗ ten jollen. Obſchon Perthes die Meinungsverfcjiedenheit über die Kirche nicht für gleichbedeutend mit Verfchiedenheit ded Glaubens und das Stehen auferhalb einer beitimmten Kirche nicht für gleichbe⸗ deutend mit dem Unglauben hielt, erfchien ihm dennoch aud die äußere Kirche ald Trägerin des chriftlihen Glauben? wie eine uner- meßlich hohe Anftalt. Gott hat uns in den heiligen Schriften, fchrieb er einem Freunde, Kunde gegeben von dem Wege, auf welchem er die Menfchen aus ihrer Selbftfflaverei erretten will. Die Bibel, obſchon fie nit da8 Wort ift, enthält Worte vom Wort, aber der Menſch ift fo ftarf in der Hartnädigkeit de3 Eigenwillens, daß er zu ſchwach ift, um die gegebene Kunde aufzufaffen; er vergißt und verfchleu- dert oder verfchiebt und verdreht die Worte nur zu leicht oder ſtarrt . ftumpf in fie hinein. Um die dargebotene Hilfe ergreifen zu können, bedarf er wiederum eines Helferd. Wer.aber führt ihn in die Tiefe des Verſtändniſſes, mer löft ihm den Sinn der Worte, wer bewahrt die Worte und breitet fie aus? Das ift die große und ſchwere Frage. Die Schrift bedarf eines Schutzes gegen Menſchenwillkür und der Menſch eines Auslegers der Schrift. Die Anſtalt, welche dieſes Dop- pelbedürfnis befriedigen ſoll, iſt die äußere Kirche, aber wo iſt ſie,

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wer hat fie? Im einfahen Grundlinien hat zwar der Herr: felbfi bei feiner Erfcheinung fie angedeutet; hat er aber nicht der menſch⸗ lichen Einfiht gläubiger Männer die nähere Geftaltung überwieſen? Wohl hat das Pabſtthum dort, wo göttliche Autorität fehlte, den⸗ noch göttliche Autorität ald vorhanden angenommen und durch Men» fchenwerf die Kirche verzerrt und verfchnörfelt, wohl hat die Reforma⸗ tion den Unrath aufgededt: aber darüber bin ich dennoch im Zweifel, ob die Reformation felbft eine Kirche zu gründen oder auch nur die Anfiht zu widerlegen vermocht bat, daß in der päbftlihen Kirche, obſchon entftellt,, die katholiſche, d. h. die allgemeine hriftfiche Kirche verborgen fei. Wo ift in der proteftantifchen Kirche als folcher die Kraft, fchrieb Perthes an Merle D’Aubiguy, welche die in den Worten der Echrift gebumdene Wahrheit frei macht und fefthält? Die Laien folten ſich, heißt e8, belehren laſſen durch die Geiftlichen. Schon gut, aber wer belehrt die Geiftlihen, wer unter den Gläubigen‘ glaubt, dag mit der Ordination zugleich die Wahrheit auf den Dr- Dinterten ſich ſenke oder daß die im Drange ded Augenblida zur Ab- wehr vorübergehender Irrthümer und Angriffe feftgeftellten proteftan» tifhen Belenntnisfchriften nicht nur Wahrheit, fondern auch nichts als Wahrheit und die ganze Wahrheit enthielten? Belehrt nicht je der Geiftliche fich auf eigene Hand aud den Lehren, wie fie wiſſen⸗ ſchaftlich auf den Univerfitäten vorgetragen werden, hier fo, dort an- ders? Gin jeber fängt immer wieder von vorne an und es kommt auf die gute Natur, auf den poetifchen Sinn, auf die philofophifche Schärfe oder auf das gläubige Herz des einzelnen an, ob und wad.er aus fih macht. Wäre nicht die Scham und die Scheu vor der fatho- liſchen Kirche; wie laut, wie verzweiflungsvoll würden wir den Ruf oläubiger Proteſtanten nad) der Bit und ber Autorität einer Kirche ertönen hören!

Unter den Proteftanten führte die Frage nach) dem Wefen und nah dem Rechte der Kirche leidenfchaftlihe Aufregung herbei, als 1817 auf Beranlaffung der dreihundertjährigen Feier der Neforma- tion in Preußen und in einigen. anderen deutfchen Staaten der Berfuch

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gemacht ward, die Lutheraner und Reformierten in fo weit zu ver. ſchmelzen, daß fie al® eine einzige Kirchengemeinfchaft, als ewangeli- ſche oder unierte Kiche erfcheinen konnten. Um diefelbe Zeit aber ver- öffentlihte Harmd in Kiel eine Reihe Thefed, in welchen er eined- theild den Rationalismus angriff, anderentheild aber auch gegen die Reformierten und gegen die Union auftrat und der lutheriſchen Kirche ein ſelbſtandiges Daſein ſichern wollte.

Ueber den kirchlichen Streit in Holflein und über Harms' Auf— treten in demfelben denke ich nicht wie Sie, fihrieb ein Freund aus Berlin an Perthed im Juli 1818, fondern glaube, daß durch den Eifer des Streited die Wahrheit mehr verdunfelt, ald an das Licht gezogen ift big jeßt, meine ich, denn für die Folge fan auch daraus tiefere Begründung entfliehen. Dem Inhalte des Glauben? nad fiehe ich auf Harms' Seite, ‚aber ich fürchte, in .diefer lebten Zeit iſt ihm diefer Glaube unter den Händen etwas zum todten Buchftaben geworden. In demfelben Maße aber, als er diefed wird, muß er feinen Werth verlieren, da Gott ein andered und geringeres Opfer, ald unfer innerfled Selbft, nicht annehmen will. Das eben ift die große Gefahr bei aller Befeftigung des reinen Glauben? durch Schu wehr einer äußeren Kirche, daß und nun durch Ertödtung des geifti- gen Lebens derfelbe wejentlihe Schade wie durch die Berführung zum Unglauben zugefügt werden kann. Es liegt überdied ein eifer- ner Unfegen auf dem meiften Streite und grade bei dieſem Streite babe ih von Anfang an ein fchmerzlihes Gefühl gehabt. Daß Harms den Streit mit den Uingläubigen und den Streit mit den Re formierten und den Unierten fo vermengt, ſcheint mir eben ſo untheo- logiſch ala undriftlih. Ich bin gar miht für dad, was zur Bereini- gung der beiden Confefjionen gefchehen ift, aber dennoch bleibt die Zrennung der Confeffionen die ſchwächſte und die am meiften irdifche Seite der Reformatim, und wer fie von diefem Uebel dur Die in- nere Kraft ihres. urfprünglichen Lebens gründlich heilen, nicht etwa. nur dad Uebel verdedien könnte, der hätte etwas. fehr großes gethan Richt abjondernder Partei- und Sertengeift, fondern nur: frifche Le⸗

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benswarme kann dieſes Ziel anerkennen. Weit ſchaärfer und ſchnei⸗ dender trat ein anderer Freund auf, wenn er an Perthes ſchrieb: Harms' Ankämpfen gegen die Union und feine Abſicht, ſich und die Seinigen in einer lutherifehen Kirche ftreng einzufchließen und abzu⸗ fliegen, rubt auf einer unwahren und deshalb auch unchriſtlichen Grundlage. Der fatholifchen Kirche ift ed, wie wir alle willen, nur darum zu thun, die Form der Kirche, den Schein der Einheit zu retten: fo. lange nur der tiefe innere Zwiefpalt nicht äußerlich erfcheint, ift fie zufrieden; fo weit der Unglaube ihrer Mitglieder nicht. die Meilen und Proceffionen verfäumt, gelten fie ihr als gute Katholiken. Einen ähnlichen Zuftand werden auch für und, freilich fehr mider ihren Willen, diejenigen herbeiführen, die vor allen Dingen dad An⸗ ſehen der fombolifchen Bücher aufrecht erhalten wollen. Auch wir wer: den dann eine Kirche befommen, in welcher Rationalidmus im Herzen und Orthodorie auf Zunge und Kanzel Hand in Hand gehen können. Schon deshalb, meil fie dieſe Gefahr befämpft, preife ich die Union. Laſſen Sie und muthig und entichloffen den Schein der Einheit auf- geben, um der Wahrheit und der wirklichen Einheit den Weg nicht zu verſperren, wenn ſie uns nahen wollen!

Neben dieſen und manchen ähnlichen Aeußerungen für die Union wurden aber auch in den Briefen an Perthes viele Stimmen laut, welche in der äuperlichen Vereinigung der beiden proteftantifchen Kir hen Gefahr für den Glauben in jeder derfelben fürchteten. Aeußere Bereinigung der Kirchen, heißt es einmal, wenn fie nicht aus voll- fommener Ueberzeugung hervorgeht, frommt nichts; darin flimmen wir gewiß überein. Aus Gefälligkeit kann ich nicht glauben, und wenn auch dad Heil der ganzen Welt von meinem Glauben abhinge. Bevor ich nicht fehe, das Gott Bevollmächtigte erweckt, glaube ich nicht an große Erneuerung und Bereinigung ; aber zu feiner Zeit wird er fie erwecken und dann wird Eine Herde und Ein-Hirte fein. Bis dahin wird er jeden, der in Lauterfeit des Herzens ihn fucht, mit Bnaden anjehen. Die an fo manden Orten gelungene Bereini« gung der beiden proteftantifchen Parteien, ſchrieb ein anderer, zeigt,

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wie wenig Ernft ed den meiften um den Glauben ift, felbft wenn fie meinen, es wohl zu meinen. Harms hat ein guted Feuer angezün- det, und wenn auch unredlihe Männer, die fih an der Kirche näh— ven, um fie zu untergraben, gegen ihn wirken, fo wird er doch vor Gott wie vor Menfchen mit Ehren beftehen. Wie jemand im Ernſte behaupten kann, heißt e8 in einem anderen Briefe an Perthes, daß eine nad) Harms' Grundfägen errichtete Kirche fich ihrem Principe nach nicht Yon der römifchen Kirche unterfcheiden würde, begreife ic in der That nit; denn nicht? würde eine ſolche Kirche im Principe ‚mit ber römifchen gemeinfam haben. Hundert oder taufend oder zehntaufend Menjchen find in ihrer innerften Seele überzeugt, daß eine beftimmte Audlegung der heiligen Schrift die wahre fei; fie ver fihern fih einer gemeinfhaftlichen Formel ihrer Uebereinftimmung: fombolifche® Buch, und ftellen Pfarrer derfelben Weberzeugung zur Verkündigung ded Wortes und zur Verwaltung der Sacramente an. Eine folde Gemeinſchaft ift eine kirchliche Gemeinſchaft; wer deren. ſymboliſches Buch nicht anerfennt, gehört nicht zu ihr, der Pfarrer, ‚der nicht ihm entfprechend lehrt, kann nicht ihr Pfarrer bleiben : aber fie hat deshalb nicht das Prineip der römifchen Kirche, denn fie wird nie wie diefe den Anderdglaubenden dadurch zu nichte machen wollen, daß fie ihm fagt: Du weichſt von der Kirhenlehre ab, fondern fie wird. aud Gründen der heiligen Schrift, wie e8 in der Augsburger Confeſſion heißt, mit ihm freiten und wird jeden Zwang, der Kir chenlehre beizutreten, für undriftlih halten.

Die Katholiken fahen auf das Ringen der Proteftanten nach Ge winnung fefterer Kirchenformen mit fehr getheilten Empfindungen bin. Manche fürdteten dad Emporlommen einer neu verftärtten Macht, wenn der Proteſtantismus nicht mehr durch Scheidung in Rutheraner und Reformierte auseinander gehalten werde. Andere dagegen fahen nicht ohne inneres, an Schadenfreude grenzendes Behagen, wie der alte gefährliche Gegner ſich abmühete, um, wie fie meinten, eine Ta tholifche Kirche ohne katholiſchen Glauben, römifche Hierarchie ohne Rom, Pabſtthum ohne Pabſt zu erringen. Perthes katholiſche Freunde

269 meinten e3 zu ernſt mit der Sade, um eine Stimmung diefer Art zu theilen; fie fahen mit Freuden das in neuer Stärke hervortretende Be⸗ dürfnis der Proteftanten, für den hriftlihen Glauben au eine hrift- liche Kirche zu gewinnen, weil fie hofften, daß, wenn, wie voraus⸗ zufehen, alle Berfuhe, Kirchen neu zu ſchaffen, gefcheitert fein wür⸗ den, die Broteftanten endlich in der katholiſchen Kirche die allgemein hriftliche Kirche erkennen müßten. Mit befonderem Ernſte warnten fie daher vor der Anficht mancher Proteftanten, fih mit einem nur inneren, in feinen Kirchenformen ausgeprägten Chriſtenthum begnü- gen zu fönnen. Das ftärkfte und ſchrecklichſte Blendwerk des böfen Geifted, fchrieb Klinkowſtröm an Perthes, it der angeblich innere Glaube, der jept von einer zahlreichen Partei gepredigt wird. Diefe muftifche Reformation, die einzige, welche wir noch zu fürdten ha- ben, bietet den gemüthlichen Menſchen fchon hier auf Erden ein Sein in Gott, welches gegen alle Ordnung und ohne alle Wahrheit if. Wo ift Einigkeit, Frieden, Ordnung, ald in der heiligen. Kirche auf dem Felſen? Wir beide find in der Sache gewiß nicht ftreitend, aber die Zunge ficht noch, wo dad Herz fehon Frieden ſchloß, fo wie die Borpoften noch plänfeln, wenn es im Hauptquartier ſchon Friedens⸗ jubel gibt. In milderer Form wied Friedrich Leopold Stolberg auf die Nothwendigkeit der Kirche für den Glauben hin, wenn er an Perthes fchrieb: Ich freue mich, dab Sie Neander perfönlih kennen gelernt haben. Alles, was ich von dem merkwürdigen Manne höre und leje, gibt mir.einen hohen Begriff von feiner Gelehrfamteit, fei- nen Gaben und feiner herzlichen Främmigfeit. Möchte er feine Theo- logie, wo fie den Chriften im Stiche läßt, fahren laffen! Sein Miss verftändnis ift dad Misverſtändnis fehr vieler redlichen Proteftanten, die auf Anbetung Gotted im Geifte dringen, aber um pofitive Wahr« heit fih zu befümmern nicht nöthig zu haben glauben und es nicht einfeben, daß es ja eigentlicher Zweck und Wefen der Kirche ift, die ohne fie Zerfireuten und Irrenden in ihren Schoß zu fammeln, und das kann fie Doch nur, wenn fie fichtbar ift. Gott hat fi) ohne Zwei⸗ jel feine Zeit und Stunde ‚vorbehalten, um auf einmal die aus der Erde emporfteigenden Nebel, welche den Bliden vieler noch das Hei⸗

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ligthum verbergen, zu zerftreuen. Es ſcheint ſich manches, obſchon noch von-ferne, vorzubereiten.

Die Gegenfäße, welche die gepriefene Einheit der römifchen Kirche, auch .abgefehen von den heimlichen Feinden und von den vielen Gleich giltigen unter ihren Gliedern, zu allen Zeiten in fih getragen bat, traten freilich in jenen Jahren allgemeiner und heftiger Bewegung er- fennbarer als in dem legtvergangenen Jahrhundert hervor. In man- hen Theilen Deutihlande und namentlich in Baiern regten ſich Hen- ſchaftsgelüſte der Priejter mit neuer Rührigkeit. Uns Baiern, heißt e8 3.2. in einem Briefe an Perthed, machen die Reltgionshändel wie der große Unruhe. Seit Monigelas' Nüdtritt und feit der Bollzie bung des Concordats fühlt die in Baiern feft eingewurzelte Priefler- partei wieder feiten Boden unter den Füßen und fihreitet bald auf diefem bald auf jenem Wege vorwärtd. Gegenwärtig find nament- lich die gemifchten Ehen ein fehr beliebter Zankapfel. Neu angefeuert durch einen Sirtenbrief des Nuntius, wollen die Priefter überall alle Kinder aus denfelben katholifch werden laffen. Zugleich wurde, veranlaßt durch das Auftreten des Fürſten Hohenlohe, die Wunder: ſucht in vielen katholifchen Kreifen neu angefaht. Bei und thut Hohenlohe und jetzt ſchon nit mehr er allein Wunder über Wum der, heißt es in dem Briefe eine? entfchiedenen Gegners diefer Rid- tung; an allen Orten bringt er Aufregung und Begeifterung hervor, obſchon er einen großen Theil des Klerus zu Feinden hat. Phyſio⸗ logiſch merkwürdig bleibt fein Auftreten; die Mirafelfucht des alt⸗ baierifchen Volkes grenzt wirflih an das Räthſelhafte und. eime, wenn auch Eleine, Zahl von dem Prinzen vollbrachter Heilungen ift nicht zu bezweifeln. Die dur den Fürften Hohenlohe in Würzburg und Umgegend im Namen de3 Herın Jeſu Chriſti bewirkten Heilungen, ſchrieb Kaspar Droſte im Auguft 1821 an Perthes, find gemiß der größten Aufmerkſamkeit werth. Der Mann felbft ift fromm und von eremplarifchem Lebenswandel; er habe, fihreibt mir ein Freund, ein freundliched und einfached Aeußere, ein wohlwollendes, gutmüthiges und anziehendes Weſen; feine Demuth und Selbfiverleugnung , fein

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Glaube, die findliche Frömmigkeit und da3 tiefe Gefühl der eigenen Unwürbdigfeit müfle ihn wohl folder Gnade von Gott empfänglich gemacht haben. Die Frage haben wir indeffen immer ju thun, ob er felbft nicht durch Menfchen, die ſich Tranf ftellen, getäufcht wird. In manden Fällen fann es geichehen fein, aber bei der Prinzeſſin Schwarzenberg, bei.dem.Kronprinzen von Baiern, bei einigen ganz Blinden und Lahmen Läßt fich ſolche Täufehung gar nicht denken. Bon allen Seiten ftehen freilich Spötter auf und ziehen die Sache ind Lä- cherliche. Das aber macht nichts; ift e8 Gottes Werk, fo werden wir ed als ſolches erfahren. Eine jörmliche Unterfuhung bat bereitd be- gonnen; der. Fürft ſelbſt hat nad) Rom berichtet, fo auch der Kron- prinz von Baiern über feine eigene Heilung und über dasjenige, was vor feinen. Augen in Brüdenau geſchehen iſt.

Während die einen unter den gatholiken Wunder ſuchten und fanden oder doch wenigſtens wünſchten, wollten andere unter den Ka— tholiken, aͤhnlich wie Die Rationaliften der Proteftanten, in der chrifts lichen Offenbarung wenig anderes als eine Lehre der Moral erfennen; Die frühere Jrreligion ift befchwichtigt, Flagte Friedrich Leopold Stol⸗ berg in einem Briefe an Perthes; was aber fo viele auch unter denen, die ſich Katholiken nennen, und jegt für Religion geben wollen, ift flache Moral. Jeſus Chriſtus wird zwar als trefflicher Sittenlehrer gelobt, aber weil der Dioral ihre Wurzel: der chriftliche Glaube, ent⸗ zogen. ift, wird auch fie in der Luft fchmebend bald hindorren, Unter dem Namen Myſtik, die man mit Schwärmerei verwechfelt, wird der Glaube an die göttlichen Geheimnijje verhöhnt, werden die Glau- bendlehren Meinungen genannt. Die Mojtit des Chriftenthums griff freilich jener geiftreihe Katholitismus nicht an, welcher feine Färbung wejentlich durch übergetretene Proteftanten, namentlich dur Friedrich Schlegel erhalten hatte, aber gegen das große Gewicht, wel- ches Sailer und feine Schule auf die lebendige Innerlichfeit legte, trat doch aud) er, wie Perthes ſchon zu Frankfurt erfahren hatte, in die Schranken und vermehrte dadurd dad Gewirre der Gepenfäge in- nerhalb des Katholicismus Deutſchlands. Selbſt Kirchenobere ſchei⸗

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nen vor einer Innerlichkeit beforgt gewarnt. zu haben, von welcher fie Sprengung der hergebrachten Kirchenformen fürchten mochten. Ken⸗ nen Sie, fhrieb ein Freund 1820 an Perthed, den Hirtenbrief dee Generalvicariat?® der Diödcefe Augsburg? Aftermyftifche Umtriebe nennt er das innerliche Chriftentbum, und greift ed an und ver dammt ed. Wenn diefe Menfchen nur herrfchen können, fo ift es ih nen gleichgiltig, ob die Beherrfchten inneres Leben haben oder nidt.

Dem Berfuche ded Proteſtantismus, mitten hinein in alle diefe Bewegungen die heilige Schrift als jichern Halt zu bringen , ftellten wiederum bie Katholiken ſich in fehr verfchiedener Weife gegenüber. Die Bibelgefellfchaften, mie alle Erleuchtungsanftalter,, welche der Proteſtantismus berrichtet, fehrieb ein heftiger Katholit an Pertbes, werden am Ende immer zu neuen Brandftiftungen, weil fie nicht im Sinne der von dem heiligen Geifte geleiteten Kirche ihren Urfprung nehmen. immer und immer geht doch bei allem religidöfen Streben des Proteſtantismus das eine Loſungswort hindurch: Alles, nur nigt katholiſch, d. h. chriftlih, werden. In einem anderen Sinne dw gegen ſprach ſich Friedrich Leopold Stolberg aus, wenn er an Per thes fchrieb: Es thut mir wehe, daß bei vielen Katholifen Mistrauen gegen die Bibelgefellichaft ftatifindet. Allerdingd müſſen Die Mitglie⸗ der derfelben in fatholifchen Ländern mit Beſcheidenheit verfahren, aber durch allgemeine Verbreitung der Schrift gefchieht meiner feiten Weberzeugung nach unendlich viel gutes. In Baiern find dur Un terftügung der Bibelgefellfchaft zehntaufend Eremplare eines von ei nem Katholiken überfepten neuen Teitamentes zur großen Freude Sur ler's und anderer frommen Geiftlihen vertheilt worden. Möge Gott das heilige Werk der Bibelgefellfehaft fördern, wie er ja ſchon fichtbar gethban hat! Bei meinem Bruder lernte ich eines der thätigften Mi glieder kennen, den Schotten Henderfon, einen trefflihen Dann. Das einzige, was mir bei der Bibelgefellfhaft Beforgnis erregt, ift der Umftand, daß fie, weil ihre meiften Mitglieder Diſſenters find, den Katholiken ſehr abhold fein werden, wie fih aus dem fonft fo ſchoͤ⸗ nen Buche ‚‚Christian Researches in Asia by Buchanan‘‘ aufs neue

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zeigt. Mit ihm verfluche ich gern bie Inquifition in Goa, aber nad) biefem düfteren Winkel darf nicht der ganze Tempel beurtheilt werden. Ob von dem Bundestage etwas für die Religion zu erwarten iſt, weiß ich nicht. Wahrhaft guted aber fann nur von dem Geifte Got- tes, den er auf Fräftige und gefalbte Männer ergießen wolle, gewirkt werden. Alle® andere flidt nur am Aeußeren und läßt dad Innere todt. Daß unfere Bifchöfe künftig feine Fürſten und die Canonici feine müßigen Junker fein werden, ift jedenfall® ein wahrer Gewinn.

Ungeachtet aller inneren Gegenfäge fand die Fatholifche Kirche dennod in ihrer Form als eine einzige Kirche da und alle Glieder hegten, mochten fie im übrigen auch noch fo weit auseinander gehen, darüber feinen Zweifel, daß die römifch-Fatholifche Kirche nicht eine von mehreren chriftlichen Kirchen, fondern die einzige und wahre hriftlihe Kirche fei. Wenn daher Perthes’ Tatholifche Freunde den Proteftanten die Nothwendigkeit der chrifflichen Kirche für den chriſt⸗ lihen Glauben vor die Seele zu bringen fuchten, fo konnten fie nicht meinen, daß der Proteſtantismus ſich eine proteftantifche Kirche ges winnen follte, fondern mußten ein Aufgeben des Proteſtantismus und den Nüdtritt desfelben in die römische Kirche begehrten. : Das Bedürfnid einer Kirche, fchrieb Graf Friedrich Leopold Stolberg an Perthes, wird von vielen tief empfunden, aber eine Kirche kann nicht fein, fo lange jeder den Anfprud behält, fi in Glaubendjachen der Autorität der Kirche entziehen zu können. Warum follte nicht ein proteftantifher Chrift in der Lehre vom Abendmahl caloinifh fein fönnen und lutherifch in der Lehre von der Gnadenwahl? Auther und Calvin konnten beide irren und machten feinen Anſpruch auf Uns fehlbarfeit. Daher hat ed denn freilich micht fehlen fönnen, dag beide Barteien fich in viele Nebenparteien zerfpalteten, bald fo, daß ſich ihre Berzmweigungen miteinander verbanden, bald fo, daß fie je mehr und mehr ald wilde Ranfen in die fogenannte natürliche Religion über- gingen. Wo blieb nun die Idee einer vom Sohn Gottes geftifteten Kirche? Diefe aber ift da und wird beitehen bis ‘an dad Ende der Tage; ob aber die anderen in fie zurüdjließen oder in den Sand der

Meinungen fih verlieren werden? Gott weiß e3 allein. Dertheb’ Leben. 11. 4. Auf. 18

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Perthes fühlte tief da8 Bedürfnis nach einer allgemeinen chriſt⸗ lichen Kirche, er glaubte, daß die Proteftanten eine ſolche Kirche neu berzuftellen nicht vermödhten, und er wußte gewiß, daß die römifche Kirche nicht die allgemeine chriftliche Kirche ſei; aber er hoffte, daß Gott aud der römifchen Kirche, indem fie durch die Innerlichkeit und Lebendigkeit des Proteftantismus neu geboren würde, eine allgemeine, eine in diefem Sinne katholiſche chriftliche Kirche hervorgehen laſſen würde. Nach vielen Seiten hin äußerte er ohne Rüdhalt dieſe An- fihten und ſprach auch wohl von der Nothwendigkeit der fatholifchen Kirche, obſchon er unter diefer Beziehung nicht, wie der gewöhnliche Spracgebraud, die römifche Kirche, fondern eine gehoffte allgemeine Hriftliche Kirche verftand. Da er überdies niedrige Angriffe auf die befonderen Fatholifchen Lehren und Gebräuche ſtets unwillig zurüd. wies und die allen Confeffionen gemeinfamen hriftlihen Wahrheiten ſcharf und beftimmt hervorhob, obſchon gar manche Proteftanten die felben ſchon als fatholifh und papiftifch betrachteten, fo fonnte wohl in der durch fo manchen Uebertritt argmöhnifch gewordenen Zeit hier und da die Meinung entftehen, daß er zum Katholicismus hinneige. Hatte er doch viele Freunde unter eifrigen Katholifen und war dod Stolberg's Neligiondgefhichte nicht allein von ihm al® Berleger ver- trieben, fondern auch aus perfönlicher Ueberzeugung empfohlen. Wer aber damals ded Katholicismus bezichtigt ward, galt auch zugleih als ein Anhänger des politifchen Abfolutismus; denn Metternich und Gentz verfochten ja das eine wie das andere, und Haller und Adam Müller griffen den Liberalismus an und traten zur fatholifchen Kirche über. Manche verdriegliche Stunde follte für Perthes durch die hier und da über ihn verbreitete Meinung bereitet werden. In der be rüchtigten 1819 erfhienenen Streitfehrift: „Wie ward Fri Stolberg ein Unfreier?” hatte 3. H. Voß auch Claudius’ Andenken verun- glimpft und Perthes hielt fih zu einer Entgegnung verpflichtet. Er ließ eine derbe und heftige Zurechtweifung in die öffentlichen Blätter feben und in dem fich nun entſpinnenden, theild in Klugfchriften, theils vor Gericht geführten Streite rüdte Voß als Großinquifitor des Ra- tionaliamu®, wie Perthes ihn nannte, feinem Gegner alle Sünden

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vor, die derfelbe jemald gegen den von Voß Proieſtantismus getauf⸗ ten Rationalismus begangen hatte. Schon lange ſei Perthes, meinte unter anderem Voß, in dem Gewimmel dumpfbrütender Molche, Krö⸗ ten und Blindſchleichen ein Lohnarbeiter für die ſchlängelnde Brut der Finſternis geweſen und habe dem über ganz Deutſchland verbreiteten papiſtiſchen Nachtbunde als bereitwilliges Werkzeug gefrohndet. Ih⸗ ren Proceß gegen Voß haben Sie, wie ich leſe, verloren, ſchrieb Gör⸗ res an Perthes. Das iſt ſchon recht, warum fangen Sie auch ſolche Streithändel mit dem alten Krakeeler an! Was kann das Ihnen thun, wenn er Sie einen Myſtiker oder wer weiß was ſonſt ſchilt? Was haben die Leute mich ſchon alles geſcholten und was werden ſie mich noch ſchelten und was mache ich mir daraus! Was frage ich danach, ob mich dieſe aus dem Bauche heraus loben, oder jene aus dem Bauche heraus ſchimpfen! Ich gehe durch das Gethiere durch und laſſe die Schlangen ziſchen und die Wölfe heulen und die Katzen fauchen und die Buchmarder ſchreien und die Kröten ſpritzen, und wenn mir die Pudel tanzen und apportieren, fo laſſ ich® auch gut fein und werfe ihnen etwa ein Endchen Wurft in den Rachen. Wäre ich mit jedem, der mich in meinem Leben angeblafen hat, vor die Gerichte gelaufen, das hätte Proceile gegeben! Ich gehe lieber ruhig meined Weges, wo id bald wieder anderen begegne, die ich erzürnen muß, und über den neuen Zorn wird immer der alte vergeſſen; ich aber bleibe in meiner Gelafienheit und dann laffen die anderen am erften ab von mir. So machen Sie es auch fünftig und laffen ſich nicht wieder irren dur alle, was ſchwarz auf weis über Sie gedrudt werden mag.

Perthes hatte in der That von dem papiftifchen Berfinfterungd- bunde, deffen Werkzeug zu fein Voß ihn befchuldigt hatte, keine nähere - Kunde ald von den Kröten, Molchen oder der fonftigen durch Voß an das Tageslicht gebrachten fchlängelnden Brut, und feine fatholifchen Freunde wenigften® ließ er nicht in Zweifel darüber, in wie ferne er mit ihnen übereinftimme und in wie ferne nicht. Als er im Früh. jahr 1821 von einem derſelben aufgefordert wurde, den Berlag der ind Deutfche übertragenen essays sur l’indifference des damald noch

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in den ftreng katholiſchen SKreifen bochgefeierten Abbe de Lamennais zu übernehmen, antwortete er: Bücher der Liebe, die aus fatholi- chem Glauben entjpringen, Tann ich verlegen; fie find meiner Ueber- zeugung , welche die Nothwendigfeit einer äußeren allgemeinen Kirche auch anerkennt, nicht entgegen, und die Nachreden, die mir dadurd entftehen, weiß ich zu tragen. Aber Qamennais Schrift iſt anderer Art; reißt ihm doch fein Eifer gegen „die afatholifgen Secten“ fo weit fort, daß er die heilige Schrift feinen Anhängern und Vereh tern als eine unfichere Quelle darſtellt. Der Mann kann fromm fein, aber die Demuth vor Gott hat er vergeifen und folgt dem eigenen - Geifte und der eigenen Leidenſchaft. Wie könnte ich fo. ein Buch verle gen, ohne mir felbft ald Lügner zu erfcheinen? Ausführlich ſprach er fi über feine Stellung zum Katholicismus in einem Briefe an einen fehr ſtrengen und eiftigen Katholiten aus. Der Menſch hatte Gott verloren, heißt es in demfelben, und fonnte nur durch Chri- ftu8 wieder Gotted werden. Chriftus ift erfehienen, das Erlöfung werk ift vollbracht, Die Scheidung zwifchen Gott und den Menſchen ift durchbrochen. Das tft der Glaube des Proteftantismus wie des Katholicismus, und von denen, . welche diefen Glauben nur ala ka— tholiſch, nicht auch als proteftantifch bezeichnen, will ih gerne fatho lifch genannt fein. Auch die den Proteftanten fremdartigen Sitten und Gebräuche des katholiſchen Gottesdienfted ftören mich nur menig und manche derfelben ziehen mid an. Solcher Gebräuche wegen fühle ih daher gleichfall® feine Nothwendigkeit, unkatholiſch zu fein. Weiter aber jagt der Katholicismus, daß das Erlöſungswerk, obfchen vollbracht, dennod für den einzelnen Menfchen nur durch das Prie ſterthum und durch die auf das Prieſterthum gebaute Kirche zugänglid fei und Wirkſamkeit äußere, ohne Prieftertbum fein Heil, ohne Prie ſterthum feine Gnade, kein Hingeben des Menfchen an Chriftus, Feine Arbeit Ehrifti an dem Menfchen. Das fagt der Katholicismus, und weil er das fagt und,nacd allen Seiten hin für Lehre und Sacrament die nothwendigen Folgen daraus zieht, bin ich nicht Kafholif und fann ed niemal® werden. An kein Prieftertbum und an kein Priefter- wert ift die Gnade des Herrn gebunden, und, um zum Mittler zu

277 gelangen, bedarf es keines neuen Mittlerd; frei ift der Zutritt zu ihm durch das vollbrachte Erloͤſungswerk für jeden geworden, der, ohne auf eigene® Verdienft zu bauen, dem Herrn ein ſtilles Herz dar- . bietet, damit er dDarinnen wirfe und den Tempel Gottes baue und reis nige. Wohl weiß ih, daß e3 nicht vom Zufalle abhängen Tann, ob die Kunde vom vollbrachten Erlöſungswerk den einzelnen überliefert und unentftellt überliefert werde oder nicht. ine Anftalt muß ſich finden, welche dad Evangelium durch alle Jahrhunderte hindurch wach und lebendig in der Menfchheit erhält und allen einzelnen in al⸗ len Ländern der Erde unentftellt verfündet. Weil die römifche Kirche mit ihren ‘Prieftern eine ſolche Anſtalt geweſen ift, ift fie aud ein Edftein und Grundſtein des Chriſtenthums gewefen. Aber wie fie vor der Reformation geworden war, konnte fie nicht bleiben, und mas fie nach der Reformation geworden ift, hat fie nicht zur allgemeinen Kirche machen können; aber dur) die von den Proteftanten verfuchten Kirchen ift fie nicht erfeßt und wird durch fie auch nicht erfeßt werden. Nur eine allen Chriften gemeinfame Anftalt, nur eine Fatholifche Kirche kann das Evangelium bewahren, verfünden und verbreiten. Ob und warın fie und zu Theil werden wird, fteht in Gotted Hand; er fann fie gewähren, früher, als wir erwarten. Ihr aber merdet dadurch das Kommen nicht befehleunigen, daß Ihr einzelne Prote⸗ ſtanten in Eure Kirche zu führen Euch bemüht, und Ihr werdet es zurüdhalten, wenn Ihr gegen und mit unedlen und unchriſtlichen Waffen kämpft. Welche tief verfchuldete innere PVerblendung liegt zum Grunde, wenn unfer Freund N. mir fchreibt, daß in den prote- ftantifchen Gemeinden die Unzucht nicht für ſündlich gehalten werde, und daß die vor kurzem unter Schwärmern im katholiſchen Deftreich vorgefommenen Kreuzigungen durch die heimliche Verbreitung und durch das Lefen der. heiligen Schrift hervorgerufen feien! Chriſtus und die Wahrheit ift Eind und man -fpottet der Wahrheit nicht, ohne zugleich Chriftus zu fpotten. ine {Harfe Antwort auf diefen Brief konnte faum audbleiben. Sie ftehen mit allem, was Sie fa- gen, heißt es in derfelben, nicht als ein Chrift, fondern al8 ein from- mer Mann des alten Bundes da. Sie fennen nur fehnende Erwar⸗

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tung, feine Erfüllung; Sie kennen nur, wie dad Judenthum, eine gefallene Menfchheit, keine geheiligte, wie fie die fatholifche Kirche umſchließt; Sie laſſen den Herrn nicht durch das Prieſterthum in der Menfchheit, fondern durch die Buchitaben in der Schrift wohnen, glauben alfo echtjüdifch nicht. an ein Menſchwerden, fondern an ein Schriftwerden Gotted. Aber weil Sie den Judenglauben heute noch feithalten, find Sie ſchlimmer daran al? die alten Juden; denn diefe erwarteten ein wirklich Verheißenes, während Sie das längſt Gekom⸗ mene nicht fehen und auf ein Nichtverheißenes Ihre Seligfeit bauen und zu dem jüdifchen Sacrament der Schrift fih nun auch das heid- nifche Sacrament der Vernunft ala Gegenftand Ihrer Verehrung ge wonnen haben. Zu diefem ganzen unglülliden Standpunkt fcheinen Sie mir befonderd deshalb gefommen zu fein, weil Sie unverwandten Auges immer nur auf das Prieftertbum der katholifchen Kirche hin- ftarren und mit unbegreiflicher Selbittäufchung ein zweites überfehen; Sie fennen nur jih, den einzelnen und andere einzelne, deren jeder für fih Hilfe fucht und Hilfe erwartet, und wollen nicht wiſſen, dap nach der Kirchenlehre und nad jedem Blatt der Schrift die Menſch⸗ heit folidarifch verfchuldet und folidarifch gerettet if. Wenn aber Sünde und Gnade ein Erbe ded Menfchengefchlecht3 ift, fo können auch die Mittel der Gnade micht auf jeden einzelnen al® unmittelbare Offenbarung herabfommen, fondern müffen dur eine das ganze Menſchengeſchlecht umfchliegende Anftalt dem DMenfchengefchlechte in feiner Einheit dargeboten werden. Die edelften Proteftanten aber und namentlich die innerlichften unter denfelben, wie Arndt, Spentr, Zingendorf, weifen die Erbfchaft ab und ziehen ed vor, auf den doch ſchon gefommenen Meffiad zu warten. Wie die frommen Juden bei herannahendem Gewitter dad Fenſter öffnen, damit Er leichteren Eingang finde, wenn er kommen follte im Blitz, fo öffnen jene ihr Herz in den Augenbliden ernfter Erbauung. Die fatholifche Kirche aber erwartet nicht den Herm, fondern hat den Herm. Sagt man von ihr, daß fie ein Editein und Grundftein des Glauben? geweſen fei, und hofft dennoch auf einen neuen Bau, fo behauptet man mit großer Gelaſſenheit doch eigentlich nur, daß man für jetzt und für feine

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PBrivatperfon keines Edfteind und Grundfteind bedürfe. Heißt dad nicht die Demuth bis zur empörendften Hoffart treiben? Bergeben Sie, mein innig verehrter Freund, die Härte des Ausdrucks; Sie drängen aber fo flarf gegen den Eingang der Kirche, daß Sie fich die Thüre wie ein Ventil felbft zubrüden und den harten Gegendrud de ver, die von innen Ihnen öffnen möchten, felbft hervorrufen. Könnte ih mich felbft, mein Herz, mein Ihnen ganz und redhtichaffen erge- benes Gemüth auf dieſes Papier hinlegen, jo würden Sie den Brief ganz fo aufnehmen, wie er gemeint ifl.

Den religiöfen Unterfcheidungslehren der Katholiken ftand Per- the3 freilich damald wie. zu jeder Zeit feines Lebens durchaus fern; aber in jenen Jahren wenigftend hielt er an der Anficht feft, daß die in der Gefchichte eined Jahrtauſends mwurzelnde römifche Kirche durh Fortbildung und Umbildung zur allgemeinen hriftlichen Kirche fih geftalten fönne, während er in allen Berfuchen der Proteftanten, Kirhen mit Abfiht und Wahl zu bilden, nur Nothbehelfe für eine fürzere oder längere Zeit zu fehen glaubte. Bon verfchiedenen Stand» punften aus traten viele feiner proteftantifchen Freunde auf das ent- fchiedenfte diefer Anficht entgegen. Manche hielten die römifche Kir- he, wie jie wirklich beitand, für gänzlich verfallen und gefunfen und beftritten deshalb, daß fie den Keim eines nenen Eirchlichen Lebens der Chriſtenheit in fh tragen könne. Es ift eine Zäufhung, wenn Sie glauben, die fatholifche Kirche zu rühmen, heißt ed in einem Briefe an Perthed,; Sie rühmen nur einzelne Ihrer Tatholifchen Freunde, und ed wäre wohl möglich, daß Sie fi), ohne es zu wiffen, nicht durch dad Katholifche, fondern durch das Proteftantifche, was in die- fen Männern lebt, angezogen fühlten; der proteftantifche Geift reicht viel weiter als der proteitantifche Name und macht einen doppelten Eindrud, wenn er und im fatholifchen Kleide begegnet. Die Refor- mation befreit in der That noch jeden Tag viele innerlihe Menfchen unter den Katholiken von dem Joche der Hierarchie und des Aberglau- bens und läßt fie die Segnungen ber von ihnen heftig angefeindeten Reformation geniefen. Das, worauf ſich die innerlichen Katholiken

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in Kampfe gegen und berufen, ift nicht das Roͤmiſch⸗Katholiſche, fon-

dern das Chriftlich- Katholifche und grade dieſes haben unfere Refor- matoren dem Papismus gegenüber wieder ficher ftellen wollen und e3 auch wirklich nicht allein für und, fondern aud für die Katholiken wieder gewonnen. Wo wäre jetzt der römiſche Katholicismus ohne Reformation und wohin würde er künftig gelangen, wenn er von heute an der Einwirkung des proteftantifchen Geiſtes entzogen würde? Eine Kirche aber, die das Leben, das fie überhaupt noch bejigt, nur durch ihren heftigen Gegner erhält, kann doch nimmermehr die Kirche fein, welche eben diefer Gegner bedarf. Sie braufen auf über die Plattheit und Gemeinheit, heißt ed in einem anderen Briefe, mit welcher jo oft der Katholicismus von Proteftanten angegriffen wir. Sie thun recht daran; aber Sie gelangen, wie mir ſcheint, beinahe dahin, manche katholiſche Einrichtungen ſchon deshalb nicht für ver- werflich zu halten, weil diefelben in niedriger Weife angefeindet wer⸗ den. Wenn Sie nur ein einziged Jahr in einem fatholifchen Lande gelebt hätten, jo würden Sie fich entjeben über die Lüge und Gemein- heit, mit welcher die Maſſe des Klerus den Proteſtantismus behan- beit und bei feinen Pfarr- und Beichtlindern anfhwärzt. Vom Pro teſtantismus kennen Sie auch die ordinärfte Seite, den Katholicismus jehen Sie nur in ben beften und frommſten Katholiten. Das ift es, was Ihr Urtheil ungereht madht. Wad- meinen Sie eigentlid), fchrieb ein franzöfifcher Freund an Perthes, wenn Sie die katholiſche Kirche nennen? Die katholiſche Kirche, wie fie ſich in diefem oder jenem frommen Katholiten geftaltet, kann man fich allenfalls gefallen laſſen, aber die fatholifche Kirche, wie fie wirklich befteht, .c’est vrai- ment la bete de l’Apocalypse. Es ift jedem, der von der Fatholifchen Kirche rebet, fehr zu rathen, daß er, um ſich und andere nicht irre zu führen, fi) immer frage, ob er die eingebildete oder die wirkliche ſiirche vor Augen hat.

Andere von Perthes' Freunden beſtritten deshalb jede Möglich⸗ keit einer künftigen Geſtaltung der römiſchen Kirche zur allgemein chriſtlichen Kirche, weil ſie das Princip derſelben als unbedingt unver⸗

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einbar mit dem chriftlichen Glauben der Proteftanten betrachten müß- ten. Sie halten: felfenfeft, heißt e8 in einem Briefe an Perthes, an der Lehre Auguftin’3 und der Reformation, dag der Menſch in feinem natürlichen Zuflande feine Kraft habe, Gott zu erkennen, zu lieben, ihm zu gefallen, fondern fich der göttlichen Einwirkung hingeben und. . durch Glauben felig werden müſſe. Sie wollen nichts willen von der Pelagianiſchen, vor hundert Jahren aufs neue feſtgeſtellten Grund⸗ lehre der römiſch⸗-katholiſchen Kirche, daß der Menſch aus eigenen Kräften vermöge durch feine Werke ſelig zu werden. Sie find alſo in der Lehre durch und durch Proteftant, aber Sie find ber Meinung, daß auch die proteftantifche Lehre fih in die Formen der römifchen Kirche faſſen laffe, und dag daher aus der römifchen Kirche die allge- meine oder katholiſche Kirche für alle Chriften früher oder fpäter her— vorgehen werde. Dad nun ift ed, was ich ſchlechterdings nicht zuge⸗ ben fann. Jede auf die evangelifche Lehre gebaute Kirche muß, wenn fie nicht ihren eigenen Urfprung verleugnen will, immer davon aus⸗ gehen, daß die Kirche, außer der es Fein Heil gibt, die nicht irren, nicht fehlen kann, eine unfihtbare ift, deren Prädicate fich nicht über- tragen lafjen auf die fichtbare Kirche, d. h. auf die an Ort und Zeit gebundene Bereinigung zur Verfündigung ded Evangeliums und zur - Berwaltung ded Sacramented. Mander kann zur unfichtbaren Kirche . gehören, der nicht zur fichtbaren gehört, und umgekehrt. Daher kann feine proteftantifche Kirche dem die Seligkeit abfprechen, der nicht zu ihr gehört, noch dem fie zufprechen, der zu ihr gehört; daher kann feine proteftantifche Kirche das Schwert zu Hilfe nehmen und fann niemand durch ihre Autorität binden wollen. Jede auf die römifche Lehre gebaute Kirche muß dagegen die unfichtbare Kirche und die ficht- bare Kirche identificieren und die Prädicate der erfteren auf ſich und zwar auf ihren Klerus, ihre Bifchöfe und ihren Pabft übertragen ; ihr Ausspruch ift allein deshalb, weil ed ihr Ausſpruch unbedingt war und ift, Gefeß für einen jeden, und es ift eine bloße Gefällig- keit von ihr, wenn fie. fih mit irgend jemand auf einen Streit aud Gründen der heiligen Schrift einläßt. So groß ift ber Unterſchied

zwifchen der proteftantifchen und fatholifchen Xehre, daß, wenn für

282 irgend eine Zukunft Proteftanten und Katholiten von derfelben allge- meinen Kirche umfchloffen fein follen, entweder Die Proteftanten oder die Katholiken die Lehre aufgeben müffen, durch welche fie zu Protes fanten oder Katholiten geworden find. Ich alfo muß jede Möglich feit in Abrede ftellen, daß fi) aus der römifchen Kirche eine allge- meine hriftliche Kirche jemald entmwideln könne.

Fünftes Bud.

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Perthes' Familienleben Bis zur Berlegung feines Wohnſitzes von Hamburg nad) Gotha

im Jahre 1822.

Die Berheirathung der älteften Tochter. -

Die politiſche Unruhe, welche die Zeit erfüllte, das Hin und Her der mannigfachen religiöfen und firchlichen Gegenfäge Tießen auch Caro⸗ fine nicht unberührt; fie fonnte und wollte fih der lebendigen geifti- gen Theilnahme nicht entfchlagen: aber die Grundflimmung ihrer Geele ward doch nie wieder, wie im Frühjahr 1813, durch die Ers eigniffe Deutichlands, fondern durch die des eigenen Haufes beftimmt, und in diefen fand fie immer neue Urfache zur Freude und zum Dank. Seit dem Sommer 1817 war ihre ältefte Tochter Agnes mit Wilhelm Perthes verlobt. Derjelbe hatte früher in der Hamburger Handlung gearbeitet, dann ala Freiwilliger den Feldzug mitgemacht und vers waltete nun die vom Vater ererbte Buchhandlung in Gotha, welche er bald auf deren glänzende Höhe brachte. Gott hat und von neuem wieder mit Freude und Glüd überfchüttet, ſchrieb Caroline um diefe Zeit, wie joll ih e8 ihm genug danken, daß er fo fichtbar feine Hand über und und unſere Kinder hält. Es ift gewiß ein großed Gefchenf, ein fo reined und unfchuldiged Kind dem Mann, den wir lange fchon lieb gehabt haben, in dem feften Vertrauen übergeben zu können, daß er ed von ganzem Herzen fefthalten und hegen und pflegen wird, fo * fange er lebt. | |

Am 12. Mai 1818, dem dritten Pfingftfeiertage, war die Hoch⸗ zeit und am 16. Mai reifte das junge Ehepaar in die neue Heimat ab. Meine liebte Agnes, rief Caroline ihnen nah, Du bift faum drei Stunden von mir und ich fange ſchon an zu fihreiben, weil ich es nicht laſſen kann. Gottlob, ich fühle lebendig, daß Gott mir heute nahe ift, wie in allen Augenbliden meine? Lebens, in denen

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ich mir felbft nicht helfen konnte. Er wird aud ferner mit un? fein -in Noth und Tod, bis wir ihn fehen werden von Angeficht zu Ange- fiht. Als Ihr fortfuhret, habe ich Euch noch nachgeſehen, bis Ihr über die Brüde waret, und habe Dich noch einmal Gott übergeben und Did) losgelaſſen in der feften und gewiſſen Zuverficht und Ge wißheit, daß Du in Gotted Arm bift und bleibt in Ewigkeit. Du liebe Agnes, ich fage Dir nicht, wie mir zu Muthe ift,; Du weißt, daß ih Dich lieb,habe, und dann folgt das andere von ſelbſt. Wie gegenwärtig ift mir noch der Augenblid, in dem fie Did) mir zum er- ftenmal auf Bett gaben, ih Dich zum erftenmal anfah und Dir den erften Kuß gab! Seitdem habe ich alle Tage, wenn ich nicht jagen foll alle Stunden, Freude an Dir gehabt die zwanzig Jahre hindurch. Wie follte ih Gott nicht danken und, wenn er es befchloffen hat, Dich von mir laffen? Daß ich ed nur mit Thränen thun kann, wird er mir vergeben, fie find nicht zurüdguhalten. Auch Du, meine liebe Agned, mußt und darfit weinen und Dein licher, treuer Wilhelm wird. Dich verftehen und Dir zu Gute halten, wo Du zu viel thuft. Berhehle ihm nie etwas, wo es Dich felbft angeht, auch wenn Du glaubit, day er nicht mit Dir zufrieden fein wird: Ihr werdet bald merken, daß Ihr auch mit dem beften Willen einander zu Gute hal, ten müßt. Liebe Agnes, ich kann mit Wahrheit jagen, daß ich Deis netwegen jehr ruhig und ficher bin. Ich bin zu gewiß in mir, daß Ihr alle beide von Gott annehmen und tragen werdet gutwillig, was er auch jenden wird, und Euch einander feine Roth macht. Nicht wahr, Du lieber. Wilhelm, Du hegeft und pflegeft und hältſt meine - Agnes feit in treuer Liebe und treuem Arm, fo lange Gott will? Ich freue mich in Eurem Ramen auf die Zukunft; aud wir bier wollen davon zehren. Nehmt ed Euch nur recht ernftlich vor, nicht matt zu werden im Mittheilen der Freude und des Leides, das Euch begeg- net, damit unfer Dliteinanderfein lebendig bleibt. ch bin wohl ge blieben und nervös nicht gereizt; ich fuche den Gedanken in mir recht feit zu halten, daß Gott Dich mir gegeben hat, um Did) groß zu her- zen und zu pflegen an Seel’ und Leib für Dich felbft und Deinen Wil beim. Das habe ich gethan, fo viel ich gekonnt, umd nun, liebe Agnes, fange Du. Dein neues Leben an und werde friſch und fröhlich und

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gedenfe meiner in treuer Liebe und habe einen freudigen und fröb- lichen Muth zu Deiner neuen Laufbahn. Ich habe ein feljenfeftes Zutrauen zu Eurem Glüde und babe Dir, lieber Wilhelm, meine Agnes mit großer Ruhe übergeben. |

Diefer erfte Brief Carolinend war ber Anfang eines innigen ſchtifilichen Verkehrs zwiſchen Mutter und Tochter, welcher, weil er in ununterbrochener Regelmäßigfeit Große? und Kleined, Inneres und Aeußeres umfaßte und vorübergehended Leid und Freud nicht minder al3 die bleibenden Stummungen einfach und offen mitteilte, ein Zufammenleben zwifchen den Entfernten möglich machte, wie ed im perfönlihen Umgange faum näher hätte fein können. Danf und Freude über dad Glüd der Tochter und über das eigene zog fich durch alle Briefe Carolinen® als deren eigentlicher Kern hindurch und fand immer neuen Anlaß und neue Wendungen, um fi) audzudrüden. Eben bringt mir Perthed Deinen Brief, antwortete fie auf die erften Nachrichten aus Gotha. Ich habe ihn gelefen und wieder gelejen, freue mich und danfe Gott, aber auch Deinem lieben Wilhelm, der Dich fo glüdlih mat. Du bift zu Muthe, wie ich es mir mit Gewißheit im voraus gedacht habe, und ed kann nicht anders fein, wenn Gott fo gefegnet hat. Diefer glüdlihe und glüdjelige Zuftand dauert fort tief im Herzen, wenn er auch im äußeren Leben durch ſchwere Stun- den und harte Prüfungen unterbrochen wird, und er wurzelt durch diefe noch fefter und ficherer in der Ewigkeit, wie ich Gottlob aus meiner Erfahrung weiß. Ich bin mit Euch, durch Euch und über Eud froh, Ihr lieben Kinder, und übe mich im Entbehren mit fröh- lihem Muthe. Perthe? geht es eben fo und ich kann mich ordentlich auf fein Geficht freuen, wenn er mit Deinem Briefe in die Thüre fommt. Bir fönnen alle heut an nicht3 andered denfen, heißt e8 etwas fpäter, ald an Deine? Wilhelm Geburtstag. Mörhte es doch Gott gefallen haben, und an einem Orte leben zu lafien! Ach, daß die Welt fo groß ift! Wie ſchön wäre ed, wenn wir mit allen Men- fhen, die wir lied haben, an einem Orte wohnen und wir heute mit Eud Euren Fefttag feiern könnten! Doch ich will auch hier nicht flagen, fondern mich freuen und fröhlich fein in der Entfernung. Gott erhalte Euch und und Euer Glück und Euch ein dankbares und Was

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ches Herz. Wie fehr Du immer um und bei mir bift, fann ich nicht genug fagen, und wie gerne ich Antwort von Dir hätte, wenn id in Gedanken mit Dir rede, weiß ih am beiten. Dabei gönne ih aber doch dem lieben Wilhelm recht. von Herzen, daß er Dich hat, und wünfhe Tag und Naht, dag Ihr Euch einander immer mehr und lieber werden möget. Daß Ihr auf dem rechten Wege dazu feid, glaube ich gewiß. Wie wunderbar glüdlich bit Du, meine liebe Agnes, und wir mit Dir! Werde jeden Tag demüthiger vor Gott und auch vor Menfchen und habe jeden Tag reiner und inniger lieb, fo trägft Du Deinen Himmel in Dir. Habe ih es Dir. nicht öfter gefagt, daß Du Dich nicht genug freuen fönnteft, und wer weiß, was der liebe Gott noch alles für Dich aufbewahrt hat! Mein lie ber Perthes ift gefund und heiter. Möchte er doch dann und wann eine ruhige Stunde für mich erübrigen können; aber da gebricht es und das betrübt mich öfter tiefer und mehr, als es follte. Gott er- halte mir nur die inmwendige und lebendige Sehnfuht danach, fo bin ich fehr glüdlich.

Im Juli 1818 ging Caroline auf einige Tage mit Perthes nad Lübed zu ihren dortigen Gefchwiftern und fehrte über Rheinfeld, ib red Vaters Geburtdort, nah Hamburg zurüd. Wir find wirklich in Lübed gewefen, und zmar über die Maßen vergnügt, ſchrieb fie an Agnes; Perthes war ordentlich jung und leicht Fröhlich, und ich auch. Wir blieben zwei Tage bei meinem Bruder und waren mit- und durcheinander feelenvergnügt. Sch bin wirklich gefund und weiß nit, welche? Glück größer ift, gefund zu machen oder geſund zu fehlafen; aber ich glaube das letztere. Ach Agnes, wünfche mit.mir, daß ih fo bleibe! Die Marienfirche ift groß und ich glaube, daß viele ernite Gebete und Seufzer von hier aus zu Gott gefchicdt find. Die lange Reihe Begräbniffe mit den falten großen fteinernen Särgen und das Halbdunkel darin haben bei mir einen tiefen Eindrud gemadt. Das Aufbören der Eriftenz Diefer fteinernen Särge fann man fi) gar nicht denfen, und das ift mir unangenehm, da das, deſſentwegen fie da find, fo leicht zerftäubt. Der Domkirchhof ift wunderſchön und ich möchte wohl öfter eine ftille Stunde dort halten. Am Dienstag ge. gen Abend fuhren wir nad Rheinfeld. Die Stille diefed Ortes über:

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trifft alle Befchreibung; er liegt an einem großen See und die eine Seite ift von einem Kranze herrlichen Gehölzes umgeben. Es war ein ruhiger, ftiller Abend, wir waren los von der ganzen Welt, wa⸗ ren allein und unbefchreiblih vergnügt. Möchte es Gott gefallen, und noch mehr folche Stunden zu geben! Als mir unfer Treiben und . Drängen in Hamburg einfiel, wurde mir gar nicht wohl zu Muthe; ic) habe aber doch die fefte Ucberzeugung, daß mir für gewöhnlich meine Arbeit beffer ift, als diefer glüdfelige Genuß, und daß ich die lieben Augenblide, die man wohl haben kann, wenn man fich befinnt und ungeftört ift, zu Stunden und Tagen verlängert nicht würde ver- tragen fönnen, und daß ich mich mit dem Wünſchen und Sehnen da- nach bebelfen foll und muß. Ueberhaupt hat mich Gott einen ganz anderen Weg geführt, als ich mir gedacht habe, aber zu meinem Bes ften; das brauche ich nicht zu glauben, fondern weiß ed; er gibt mir in Arbeit und Rumor, was ich gerne in der ftillen Einſamkeit fuchte und fände. Wir waren auch in der Kirche des feligen Großvaterd und an feinem Grabe und aud im Beichtſtuhl; dort ftand ein alter Lehnſtuhl, auf dem er wohl noch gefellen, und einige Bücher, in de= nen er gelefen. Die nächte Generation, ich meine Eu, wird ihn wohl nicht mehr befuchen und läßt los. Morgen? gingen wir nod) ‚wieder |pazieren und ruhten an ſchöner Stelle aus. Wie habe ic) mich gefreut über Perthes, der fo von Herzen fröhlich und vergnügt über fi) und über mich war! Nun aber wieder zu Dir und Deis nem Brief, Du altes Kind. Was Du von N.'s Kindern fehreibft, ift wahr und betrübt mich fehr; denn nad) meiner innerften Ueber» jeugung ift die lebendige Liebe, die fih in allem merken und, ic) möchte fagen, mit Händen greifen läßt, der Ihau und Regen, der den Kinderpflanzen Wachsſthum und Gedeihen gibt. Ich glaube, je mehr liebhaben und je fühlbarer und fihtbarer man died thun kann, deito beffer; nur muß nothwendig Ernft und Strenge zur rechten Zeit dabei fein. ch kenne aber viele Leute, die mit großer Anftrengung und. Bedaht die Liebe vor den Kindern glauben verbergen zu müffen. Sie follten nur das dreizehnte Eapitel im erften Korintherbrief ftu- - dieren, fo würden fie inne werden, daß fie nicht® zu fürchten brau-

hen. Viele Worte find, wie Du weißt, weder im Berhältniffe zu Perthes Leben. II. 4. Aufl. . 19

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den Kindern noch in irgend einem anderen Verhältniife meine Sache; aber denen, die man lieb hat, gegenüber zumeilen einzelnen Funken aus der Tiefe des Herzen? Worte zu geben, halte ich nicht allein nicht für Unrecht, fonderın auch für Recht, und oftniald zünden fie aud ohne unfer Willen weiter, und überhaupt, wes dad Herz voll if, geht der Mund über, und worin fann er anderd übergehen als in Worte.

Gern mochte Caroline über alle Fleinen häuslichen Verhältniſſe ihrer Tochter unterrichtet fein und oftmals begehrte fie einen großen Brief voll Kleinigkeiten. Dagegen theilte auch fie manchen erprobten Kunftgriff in der Haushaltung oder ein bewährte® Recept für die Küche mit und erftattete genauen Bericht über die äußere und innere Lage der Freumdinnen ihrer Tochter. Die N. ift nun verheirathet, fehrieb fie einmal. Ich habe fie nur einen Augenblick gefehen, fie fol aber natürlich und gut fein und fich ſehr glücklich fühlen, nicht allein, daß fie bei ihrem Mann, fondern auch, daß fie aus der Ducaten- wirthſchaft heraus if. Gott gebe ihr aber nun auch das Berlangen, ftatt deren etwas beffered haben zu wollen; denn wenn ed ihr möglich wäre, in einem luftleeren Raum zu leben, jo wäre e8 zu gräßlid. Auch die ©. hat und ihren Mann gebradt; fie hat mir wieder fehr gefallen, ihr Eheherr aber nicht. Ueberhaupt von Männern gefällt mir do niemald einer fo wie mein alter, lieber Perthed, und id danke Gott immer von neuem, mit ihm unter einem Dache zu fein. Der J. ihre Hochzeit ift geftern gewefen, Gott gebe, daß jie fo glüd- lich wird wie Du, aber theurer fommt ihr dad Glück in jedem Falle als Dir. Der Mann foll enorm reich fein, aber wie man fo mit dem Gelde rumoren mag, begreife ich nit. Du fragft mich nach der 3.; fie war vor einigen Tagen bei mir und war fo natürlih und zu traulich, daß fie fi) zu meinem Grauen nicht fihente auszufpredhen, „fie müſſe von fih und von jedem Mädchen, welche? nicht Frau würde, glauben, daß es feine Beſtimmung verfehlt und ein trauriges und verfümmertes Leben zu führen habe.” Gott wolle doch jedes Mäd- hen vor diefem traurigen Wahn fhüsen! Nein, unfer Gott hat für und alle, wes Standes und Gefchlehts wir jmd, Liebe und Glüd, wenn wir ed nur annehmen wollen. Es braucht feine Seele

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zu verirodnen. Liebe Agnes, Du fannft wohl nicht daran zweifeln, daß ich ed wie Du für eine große und liebe Gabe Gottes halte, einen guten Mann zu haben. Aber der liebe Gott fann und au feinen Segen unmittelbar ind Herz geben oder ihn an etmad andere als an einen Mann binden, und wir können aud) ohne Mann glüd- lich fein. Denn, liebe Agned, Eure Liebe zueinander kann doch nur Durch die Liebe zu Gott jo fein und werden, daß fie Euch glüdlich zu machen und zu befeligen vermag. Kannft Du Dir nun nicht denken, daß der Glüdliche, der fih mit feinem ganzen. Herzen ohne weitered und ohne menfchliche Mitteldperfon zu Gott wenden und ihn lieb haben fönnte, noch viel, viel beiler daran fein müßte? Und felbft auch noch mittelbar kann ich mir ein eben fo großes Glüd, wie das mit einem Manne, möglich denken und muß ed mir denken; fonft müßten ja die armen Mädchen verzagen und wir mit ihnen und für fie. Wenn wir einen ernften Zwed recht aud ganzem Herzen verfol- gen und dafür und daran arbeiten im Aufmerken auf Gott, fo kann e8 nicht fehlen an Gotted Segen und an Glüdlichfein.. Dad ift wirk- lih meine Meinung und ich glaube, daß jedes Mädchen am beiten thut, fih mit ihrem Liebhaben an Gott zu wenden, und nicht fehn- füchtig und ängjtlich hoffend herumſucht; denn das ift ein trauriger und jämmerlicher Zuftand, der die Seele ausdörrt und troden macht und alle Gute tödtet. Sch kenne nichts fo Betrübted, ald ein armes Mädchen in diefem Zuftande, wenn fie rein und gut ift. Begegnet einem aber ein fo lieber Perthes, wie wir beide ihn gefunden haben, oder lieber, wie Gott ihn und gegeben bat, fo greift man raſch zu und dankt Gott.

Sorglicher indeilen, als in den mehr äußeren Verhältniſſen, ftand Caroline der Tochter bei der Geftaltung des geiftigen Haushalts in der neuen Heimat zur Seite. Dank Dir für Deinen Brief, ſchrieb fie einmal, aber nicht dafür, daß Du noch immer nicht anfängft, eine wirkliche und ernftbafte Freundin zu befommen, die ih Dir fo fehr wünſche, damit Du etwas in Referve haft, wenn Du Demed Wil- helm nicht habhaft werden kannſt. Stellt Du Dir unter einer wah— ten Freundin etwas Bollfommened vor, fo fann ich mir freilich er— klären, daß Du fie noch nicht gefunden haft; aber Du mußt vorlieb

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nehmen und mit guten Glauben und Zutrauen entgegen fommen und Dich durch eine andere Art und Weife, als Du fie gewohnt bift, nicht ftören laffen. Es wird dem Menfchen oft viel leichter, Zchwä- hen und Fehler, ald fremdartige Manieren und Redendarten an an- dern zu ertragen. Mache Dir nur recht lebendig, daß die Leute in Gotha fein andered Herz in fih haben, al® die Leute in Hamburg; dort wie hier viele Mängel und viel Guted und noch mancherlei Zu⸗ thaten eben im Kauf. Ich finde es ſehr natürlich, daß Dir jetzt das Gute der Freundinnen, die Du hier hatteſt, am lebendigſten und ihre Schwachen und mitunter auch Fehler nur obenhin in Erinnerung find; aber wie vielen bift Du denn fo nahe gemwefen, daß Du grade von dem Höchften und Inwendigſten mit ihnen reden und ihnen Dein Herz ausſchütten fonnteft, und doch haft Du viele lieb gehabt umd bift freudig und fröhlich mit ihnen gewefen? Made Du nur den Berfuch und laffe Dein Herz dort recht offen und herzlich voll gutem Glauben und Vertrauen fprechen, fage, was Du fucheft und was Dir fehlt in Kleinigkeiten und im täglichen Leben, und Du: wirft fehen, was von Herzen fommt, geht wieder zu Herzen; fie werden Dir gerne entgegenfommen, denn da® Bedürfnid und die Luft, Tieb zu haben und geliebt zu werden aus Herzendgrund, haben wir alle, und die Mädchen dort haben noch feinen Wilhelm, wie Du. Ber fuche es nur; einer muß die Oberfläche zuerft durchbrechen, und wenn Ihr erft von Herzen zu Herzen fprecht, geht alled gut. In glei— her Weife warnte auch der Pater vor dem Abfchliegen gegen andere. Genießt Euer Glüd, ſchrieb er, aber bedenkt, dag Ihr nicht allein in der Welt feid; haltet Euer Haus nicht für ein Gefpinnft, worin jede andere Greatur eine fremde ift. Es liegt darin eine Gefahr, die zum Familienegoismus führt und traurige Folgen ftrafend nad) fi zieht. Der jungen Männer, die mit Dir find und leben, lieber Wil- beim, freue ih mich fehr. Erhaltet Euch einen ſolchen männlich =ju gendlihen Umgang im Haufe, auch wenn Ihr älter werdet; er fchüpt vor Geſellſchaftsklatſcherei und Geſellſchaftslangeweile. Geht frei her- aus zu anderen Menfchen und theilt ihnen ein fröhliches, heiteres Gemüth offen und herzlich mit und zeigt, daß ein häusliches Glüd den Menfchen anderen Menfchen nicht entfremdet. Der Menſchen

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Sein ift Gotted Haus und wir find nicht berufen, nur und zu leben und zu fein. Ich weiß, liebe Agnes, daß Du niemand, der Deiner bedarf, ohne Rath und Tiebreiche Hilfe von Dir gehen laſſen wirft, aber der Nachbar und Bekannte will auch feine Angelegenheiten, feine Freuden und Leiden mittheilen und Theil nehmen an der anderen Freud und Leid. Nichts thut dem Nebenbruder weher, ald wenn der andere verfchloffen gegen ihn einhergeht und, vornehm in ſeiner Na⸗ tur erſcheinend, für ſich allein leiden und allein ſich freuen und ge— nießen will. Daß Du armer Schelm in der Predigt nicht fin⸗ deft, was Dir noth thut und Du gerne haben mödhteft, ſchrieb Ca- roline ein anderedmal, ift mir von Herzen leid, wundert mich aber nicht, da die Herren Prediger in der Regel nur Moral predigen, und das ift magere Koft. Doch verzage deöwegen nicht, liebe Agnes, gehe in Deine eigene innere Kirche; Gott kann beffer auftifchen als alle Prediger, und wird Dir gewiß geben, wenn Du nur recht hungrig bift. Die alten Gefänge und Choräle find immer meine beften Leben» diginacher gewefen und find ed noch, wenn ich alt und todt inwendig werden will; fonderlich die wunderfchönen Sieber von der Sehnfucht nad Gott in Freylinghaufen’d Gefangbuch haben mich oft erquidt, und ich hoffe, fie follen mich ferner in Noth und Tod erquiden. Wenn auch die Predigt nicht genügt, fo verfäume doch die Kirche nicht. Es kommen Augenblide, in denen man in der Kirche leichter wach und lebendig wird als im Haufe, wo wenigſtens ich felten eine Stunde ungeftört habe. Daß Du fo ohne Mufit leben mußt, fhrieb Ca⸗ roline etwas fpäter, thut mir fehr leid, aber mein Rath ift doc: begib Dich allein der Mufif wegen in feine neuen Verbindungen. Du fönnteft fie doch zu theuer erfaufen und fpäter vielleicht nicht im Stande fein, Dich wieder frei zu machen. Auch für mid) ift der Flü— gel todt und fill; es ift mir nicht möglich, eine von unferen Liedern daran zu fingen. Co wie ich den Ton höre, fehlt Du mir und ich komme gleich ind Weinen und fann nicht weiter. Ya, liebe Agnes, ih fühle, daß es eine große Aufgabe ift, loszulaffen, was und Got- tes Geſchenk fo feſt and Herz hat wachen laſſen.

Wie in diefem Briefe kämpfte in manchen anderen Die Freude über dad Glüd des Kindes mit dem Schmerze über die Trennung von

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bemfelben.- Daß Du glücklich bift, weiß ih, heißt ed einmal, und das ift die große Hauptfache; aber, meine liebe Agnes, das Mutter- herz läßt ſich nicht zu allen Zeiten mit der Vernunft beſchwichtigen und bat auch feine Rechte, denke ih. Es muß nur nit unbändig wer- ben und immer wieder von neuem anfangen, fich willig und mit Freuden in Gotted Willen und Einrichtung fügen zu wollen, und dad ift jego wirklich in ruhigen Stunden meine tägliche Arbeit. Ihr habt mid), fo lange ih Euch habe, ganz und gar gehabt, mit Seel’ und Leib, mit Sorgen und Wünſchen, mit Herzen und Pflegen, mit Händen und Füßen. Wenn Du, mein liebes Kind, nun auch jest meine Hände und Füße nicht mehr nöthig haft, fo kannſt Du dod meine Liebe noch brauchen, denn das ift ja Die Größe und die Herr lichkeit der Liebe, daß, wenn wir nur rein genug find, fie un? nie {hädlich werden fann und daß des Empfangen? und Gebens fein Ende ift und in Ewigkeit fortdauer. Daß Du no mit Ichendiger Liebe und Anhänglichfeit an uns denkſt und gerne einmal mit mir wäreft, ſchrieb Caroline in einem anderen Briefe, finde ich natürlid. Du könnteft Wilhelm nicht fo lieb haben, wenn Du und vergejien fönntefl. Auch bin ich in mir überzeugt, daß ich es eben fo treu und lieb mit Dir meine ald Wilhelm, und fchon zwanzig Jahre fo ge meint habe. Alſo ſollſt auh Du mid fein lieb behalten und im Herzen tragen, wenigften? gleichfalls. zwanzig Jahre noch, Du meine alte herzliebe Agnes, und noch lieber wäre ed mir, in Ewigkeit She Du nur Dein Liebhaben zu und recht lebendig zu erhalten, es fann unbefchadet Deined lieben Wilhelm und Deines Glückes durd ihn und mit ihm gefchehen. Unſere Seele ift ja ohnedem fo geartet bier in diefer Welt, daß Wünfchen und Sehnen nicht allein mit un ferem Glücke beftehen kann, fondern unfer eigentliche und größtes Glück felbft.ift, wenn unfer Wunſch und unfere Sehnſucht ſich nad dem Beften und Größten ausſtreckt. Morgen ift unfer Hochzeittag, heißt e8 in einem Briefe Carolinen? vom 1. Auguft. Er ift der erfte, an welchem ed wieder rückwärts geht und an welchem ih habe anfan- gen muͤſſen, wieder herzugeben und Igözulaffen, und zwar Dich, mein liebe? Kind. Gott wolle mir helfen, daß ich ed thun möge, wie er e8 haben will! Genieße Du das Vorwärts; ed hat auch feine Sor⸗

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gen und Mühen, aber, wie mir e8 nad der Probe vorfommt, ift der Rüdzug fehwerer und faurer. Die Jugend hat ihre Gefahren, aber die des Alter? find, fürchte ih, noch größer und ſchwerer; doch merke ih das bis jeht Gottlob mehr an anderen als an mir, und auch ich gehe ja in Gottes Namen wieder vorwärts, um nie wieder ruückwärts zu gehen. Liebe Agnes, behalte mich lieb und bleibe mir nahe, fo viel Du kannſt. Mein lieber Bräutigam ift recht wohl und heiter und mir lieb und werth heute wie geftern und wie vor zwan⸗ sig Jahren. Ich habe es mir nie ald möglich gedacht, daß das Tieb- haben fo ohne Unterbrechung einundzwanzig Jahre fortgehen könnte, und wie lange es noch fo fortgehen wird, kann ih, wills Gott, nicht zählen. Unferen Yrühftüdstiih hatten und die Kinder, fügte Caroline am folgenden Tage hinzu, mit Blumen belegt und hochzeitlich gemacht; wir faßen im Grünen begraben und befahen die Kleinigfeiten, welche die Mädchen und gearbeitet hatten; die Jun⸗ gen? find über oder eigentlich unter diefer Sache, und das ift mir nicht lieb, denn mit Scheffeln anderen Luft und Freude zu machen, wird nur wenigen geboten, und Scheffel find auch nicht nöthig zur Auft und Freude. Daß Du in diefen Tagen fo in der Welt umher⸗ fteeifft ohne mich und daß ich gar nuht einmal weiß, ob Du heute in Schwarzburg oder in Rudolſtadt oder wo fonft bift, ift mir ganz mwunderlih. Ich hoffe, dag Du recht einfammelft, um diefen Win- ter an den langen Abenden daran zehren zu können. Wenn ich an die Ausſicht auf dem Plape im Schwarzburger Schloßgarten oder aus dem Heinen Zimmer der Fürftin denke, fo wird meine Seele voll Freude und Leben über die Schönheit und Größe der Natur, und eine Ahnung wird in mir lebendig von etwa? Größerem und etwas Schönerem. Ih danke Gott, daß ih in Schwarzburg gewefen bin, und bitte ihn, mich noch in meinem Leben fo viel [hauen zu laſſen, als möglih if. In diefem Augenblide bedaure ih alle Menſchen, die ſolchen Vorſchmack in diefem Lebe nicht erhalten, und hoffe, daß Gott fie im eigenen Innern dasſelbe finden laffen wird; aber ſchön und berzerhebend bleibt doch das Außenfchauen, und glüdlich der, dem Gott ed zu Theil werden läßt. |

Wie die Freudentage durchlebte Caroline auch die Tage ſchmerz⸗

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licher Erinnerung, wenn es irgend möglich war, in brieflichen Ber fehre mit der entfernten Tochter. Heute vor ſechs Jahren murde mein Engelöbernhard geboren, fchrieb fie am 27. September, und nun ift fein Körper fehon fo todt und verwifcht, daß ich nur noch fein liebes, belle, reine? Kinderauge fehe, das in der Noth, wenn id nicht weiter und [änger mir helfen und mich halten fonnte, meine Erhe⸗ bung und Stärkung war und mich wieder zutrauensvoll und freudig in - Gott madhte. Weißt Du wohl noch, wie er unfer aller Freude und Troft in Aſchau war und wie freundlih, fröhlid und liebhabig er uns anfah? Gott gebe, daß er auch jetzt mich anfieht und mich, aud von mir ungefehen, zu Gott erheben fann. Das Engelöfind muß doch nun noch mehr für und thun können ald damald und wird es gewiß aud wollen. Wie gerne wüßte ih mehr von der Art und von dem Wefen des Glücks meiner lieben feligen Kinder! Gott läpt und freilich tief im Herzensgrunde ahnen und fühlen, daß er über alle . Gedanken groß und herrlich ift. Nehme ich aber das Ahnen des Her- zen? in den Kopf hinein, fo vergeht.e® mir und wird zu nicht, und doch kann ich ed nicht laffen, daran und darüber zu denken, obfchon ih weiß, daß es vergebene Arbeit ift und daß bei diefer wie bei jeder großen, ernften Frage wir in diefer Welt nicht? weiter können und follen, al® da3 Ahnen und dad Sehnen nad) Wahrheit lebendig in und erhalten und nicht durch uns oder durch andere, nicht durch in- nere oder äußere Einflüffe ftören und tödten laffen.

Eine neue Quelle der Freude eröffnete fi für Caroline, als bie Ausſicht, Großmutter zu werden, fih ihr zeigte. Liebe Kinder, antwortete fie nach Empfang der erften Nachricht, eben habe ich Eu- ven Brief gelefen und bin wunderbar freudig, danfbar und bewegt zu Muthe. Ihr könnt das Glück nicht ahnen, das Euch, willd Gott, bevorfteht, und ich kann e8 Euch auch nicht fagen, obgleich) meine Seele ſchon zwanzig Jahre davon erfüllt gemwefen if. Freuet Euch, und abermals fage ih Euch: freuet Euch und bittet Gott um fei- nen Segen. Kinder, könnte ich Euch doch jagen, was Eurer war: tet; aber es ift unbegreiflih und unausſprechlich und wird nur von Gott in das Menfchenherz gegeben. Der gebe ed Euch denn im tiefften Grunde! Die nun folgenden Briefe find fämtlich von zartefter

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und liebevolifter Mutterforge erfüllt, mit welcher Caroline das Hoffen und Zagen der Tochter begleitete, aber immer auf neue drängte durch alles Sorgen der Aufruf zur Freude und zum Dante ji hindurch. Ein jeder hat, fehrieb fie am Jahresfchluffe 1818, gewiß zu hoffen und zu fürchten im neuen Jahr, aber Gott hilft und allen fröhlich durch. gebe wohl, Tiebe Agned, und vergiß nicht, Di, wie Dein Groß» vater am Neujahrdabend begehrt, auf einen Stein zu fegen und zu bitten und zu beten. Du haft viel zu bedenken und zu denken und zu hoffen, und aud an uns denfe einmal aus Herzendgrund. Fröhliche, fröhliche Weihnachten, Ihr lieben Kinder, gebe Euch Gott, fauteten die Zeilen, mit denen Caroline kurz zuvor eine kleine Weih- nachtäfifte begleitet hatte. Wenn Ahr nur den zehnten Theil Luft und Freude habt bei dem Audpaden, den die Kinder, groß und Hein, bei dem Einpaden gehabt haben, fo bin ich zufrieden. Eonderlich ‚find die drei Kleinen übermäßig thätig dabei gewefen und die Luft zu geben und zu ſchenken hat oft mit Thränen geendigt, wenn fie nichts mehr hatten. Die erfte Bedingung freilich bleibt, daß Eure Genüg- famteit fo groß ift, als ihre Gebeluft; fonft gehts nicht. Diefe Kifte werdet Ihr um ſechs Uhr befommen, und dann gewiß recht leben- dig. an ung denken. Auch Du follft in mir und um mid) fein, meine liebe Agnes, und wenn ich auch tüchtig weine, fo weiß ich felbft nicht recht, ob es Freuden⸗ oder Betrübniöthränen find, und das ift das Höcfte, was wir wünfchen fönnen, und mein Gebet, welches ich vorige® Jahr, als ich Deinen Weihnachten Dir zurecht legte, recht aus dem Herzen zu dem lieben Gott ſchickte, ift über mein Wiſſen und Berftehen erfüllt. Lieber Wilhelm, liebe Agnes, laßt und in diefem Augenblide einmal aus Herzendgrund Gott danken und und und die und nahe find, vertrauendvoll und glaubensvoll in feine Arme legen und fröhlich fein. Auch wir hier nehmen Eure Hilfe, uns danken zu helfen, gerne an. Lies den Gefang in unfer aller Namen: D wenn ih taufend Zungen hätte. Er fommt einem recht zu Hilfe, der liebe Geſang, wenn man fich nicht zu helfen weiß, und gewißlich dies begegnet mir oft, wenn ich unfere einundzwanzig Jahre durch⸗ denfe. Perthes ift ein Weihnachtskind, ſchrieb Caroline einige Tage fpäter in ihrem Berichte über den heiligen Abend; er bewegt

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mein Herz jedegmal von neuem dadurch. Geftern vor dreiundzwanzig Jahren hat er es zum erftenmal gethan, und meine erfte nnd innigfte Ueberzeugung und mein Glaube ift nit zu Schanden worden, daß ein Gemüth, das fich fo inwendig findlih am Weihnachtsbaum er- freuen fönnte, rein und unbefledt fein müßte. Das war der Ein- drud, der meine Seele an jenem Abend erfüllte, an welchem ich ihn eigentlich zum erftenmal fah und der mein wahrer Berlobungstag if. Und wenn er mid) auch nicht genommen hätte, fo hätte ich ihn doc gehabt, aber fo ift es befier und ich weiß am beften, daß ich Gott nie genug dafür danken fann. Als wir geſtern Mittag um 6 Uhr zu Zifche gingen, war Perthes jo müde und fo abgearbeitet, Daß es und jammern mußte, und als die Lichter und der Baum angezündet war, war er fo lebendig und fröhlich wie das Fleinfte Kind. Ein fröh liche? Feft gebe Euch Gott, ſchrieb Karoline am erften Ofterfeiertage, und warum follte er es Euch nicht geben, hat er doch eigentlich jeden Tag Euch zum Feſttag gemacht durch die ewige und innige Liebe, Die er Euch ind Herz gegeben hat? Beſſeres fann er und auch in der Ewigkeit nicht geben, das ift gewißlich wahr; aber wie groß die Selig- feit fein wird, Tönnen wir nicht verftehen, weil wir die reine Liebe zu Gott noch nicht kennen, aber ahnen fünnen wir ed doch, da uns, wenn wir und im Andenken an Gott lieb haben, die Liebe zur am feligen Creatur und zu unfere® Gleichen ſchon fo glüdli und gläd- felig macht. Die Kinder find alle ausgegangen und ich wolite eine Predigt von Zauleruß Iefen, aber Du und Wilhelm, Euer Glüd und Eure Hoffnung mwogten fo gewaltig in mir, daß ich ed nicht konnte. Lieber Wilhelm, ich fühle recht Glüd und Freude darin, daß id Agnes für Dich fo gehegt, gepflegt und großgezogen habe. Gott gebt Euch an Euren Kindern die Freude, die er und an unferen, an groß und Bein, bis jet gegeben bat! Mehr kann ih Euch nicht wün⸗ ſchen, weil ich nicht mehr weiß. Ich habe zu meiner Gemüthaer gösung die Balkonthür zum erftenmal in diefem Jahre aufgemacht und bin ganz fröhlich über deu lieben Frühling, der mir in Athem, Auge und Ohr fühlbar wird. Die Heinen Vögel wiſſen fidh vor Singen und Jubel nicht zu laffen und id) möchte mit fingen und jubeln.

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Schon feit dem Herbfte 1818 hatte Caroline die Hoffnung ge- begt, im fommenden Frühjahr ihre Tochter in Gotha befuchen zu kön⸗ nen, und in diefer frohen Ausficht durchlebte fie den Winter. So oft ih an das Frühjahr denke, fchrieb fie einmal, fällt mir immer die Strophe aus den Fägerlied ein: „Das wird eine Freude fein.” Sa, dad wird eine Freude fein, liebe Agned, und dann will ic Dir auch alle Briefe herfagen,, die zu fchreiben ich jebt feine Zeit habe. Am 23. April reiften Perthed und Caroline mit vier Kindern aus Hamburg ab, nachdem fie den zweiten Sohn der Obhut der Groß⸗ mutter in Wandsbeck übergeben und den älteften Sohn ala Wächter des Haufes in Hamburg eingefeßt hatten. Glüdlih, gefund und ver- gnügt find wir hier angelommen, berichtete Caroline au8 Gotha. Die Reife war bitterfalt, aber die Freude wärmte von innen heraus und die äußere Kälte hat und nicht8 anhaben können. Die Poſtillons wa, ren durchaus tüchtig und fir bid auf einen, der etwas in der Krone hatte; gerade aber, als mir bange werden wollte, fam und eine an» dere Ertrapoft entgegen, mit welcher wir die Pferde wechfelten. Die beiden Fleinen Kinder haben fih in alfer Art gut aufgeführt und find und durch ihre Fröhlichkeit, durch ihr aufmerffames Bemerken aller Sachen, die fie fahen und hörten, und dur ihre Verwunderung über Berge, Bäume und Felfen recht zur Luſt und Freude gewefen, obwohl ſolch Peine Kinderwirtbichaft doch auch viel unbequemed hat; die ganze Nacht hindurch mußte ich eine in jedem Arme halten, um fie gegen Wind und Stogen zu fchüsen. Al® wir Gotha näher ka— men, wurde ed mir ſchwer, Herr über mein Herz zu werden, amd am Diendtag den 28. April Morgen? famen wir gefund und glücklich an. Wir führen hier, heißt ed in einem anderen Briefe, ein ruhi⸗ ges, filled und fröhliches Leben und fühlen und in den Wohlthaten Gottes begraben.

Als Caroline mit Perthed und den Kindern Anfang Juni 1819 aus Gotha nah Hamburg zurüdgefehrt war, blieben ihr die mit ber Tochter verlebten Wochen noch lange eine Quelle dankbarer Erinne- rung. Seit ih Did in Deinem eigenen Haufe gefehen, fchrieb fie einmal, habe ich nicht mehr das Gefühl der gänzlichen Trennung, ſon⸗ dern kann ganz und gar mit und bei Dir fein. Ich dachte, Du müßteft

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zu Zeiten meine Nähe merken. Sehne Did nur einmal recht mit Deis ner ganzen Seele nad) mir, fo wirft Du mich oftmals finden. Nod immer haben die fieben Freudentage, die ih mit Dir zugebradht, fo fehr die Oberhand in mir, daß die Trennung nicht wehe thut. Ein ſchweres, mit Unruhe aller Art erfüllte Jahr wartete Caroli- nen? nach ihrer Nüdkehr aus Gotha. Sie hatte ihren zweiten Sohn, Clemens, ſchwer erkrankt in Hamburg vorgefunden und Donate ver gingen, bevor aud nur ein Tag oder eine Nacht ohne Sorge und Mühe um ihn gewefen wäre. Sieh Dich, fchrieb fie in diefer Zeit an ihren älteften Sohn Matthias, der während der Schulferien nad Go- tha gegangen war, fieh Dich nicht fatt, jondern hungrig an der wun⸗ derlieben Natur. In Schwarzburg grüße die Felfen und gehe Bormit- tags auf den Trippftein, fo daß Dir die liebe Sonne Die Tannen von der Seite beleuchtet, und denke, dag Dein Bater und ich auf Dort gegangen» find und und gefreut und Gott gedankt haben aus Herzendgrund. In allem meinem jebigen Sammer fann die Erinne rung für Augenblide meine Seele mit Freude und Luft erfüllen. Dort fann der Menfch weiter fommen als in der Stube, oder vielmehr weniger ſchwer weiter fommen ald in der Stube, denn wer weiß und wer fann berechnen, wie jehr die heißen und ſchweren Stunden, die wir jest bier zu tragen haben, und gut thun? Umfonft find fie nicht da.

. Mitten hinein in die Noth und in die Angjt um das kranke Kind fielen alle die Freuden und Unruhen, welche fih an die Aus fiht, zum erftenmal Großmutter zu werden, Tnüpften. Als am 14. Auguft die Nachricht von der Geburt des erften Kindeskinds an- gelangt war, ſchrieb Caroline: D daß ich taufend Zungen hätte und einen taufendfahen Mund und ſtimmte damit um die Wette aus al- lertiefſtem Herzendgrund ein Loblied um dad andere an von dem, was Gott an Euch gethan! Fa, Gott helfe mir danken und prei- fen dafür, dag mein Wunfch und Gebet erhört ift; ich. habe aber von jeher das Gefühl in mir, daß man lange nicht fo inbrünftig danken wie bitten Tann, oder ald wenn der Danf immer zu furz im Bergleid mit der Bitte fei. Könnte meine Seele fich frei machen von der Noth und dem Jammer, der mich hier umgibt, fo würde ich noch näher

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und lebendiger bei Euch fein; aber meine Seele ift getheilt zwifchen Schmerz und Freude, und das Getheilte macht Arbeit und Unruhe. Mebergieb Du Dein Kind, Dich felbft und alled, was Dein ift, an Gottes Willen und bitte um Kraft, Wort zu halten, auch) wenn Du e8 einmal lieber nicht wollen möchteft! Genieße in jedem Augenblide die Freude und Seligfeit, den Engel im Arme zu haben, recht aus, und abermals fage ih: Dankt Gott, Jhr lieben Kinder, freut Euch

und genießt die feligen Stunden. Ihr follt Euch verwundern, in wie vielen Freudengeftalten Euch das Kind noch erjcheinen wird, fo Gott feinen Segen gibt, und den verfagt er gewiß niemand, der don Herzen darnach verlangt. Bitte Du Gott aud Herzendgrund, daß er ihm feinen Engel fende, der es durch das Leben geleite in Freud und Leid und recht nahe fei in Noth und Tod. Die große Freude und Die große Sorge zugleich in fich zu tragen, war zu viel für Caroline; fie fiel noch im Auguft in eine fehwere Kranfheit, und auch als bie Genefung eintrat, blieb die Unruhe um den Franken Knaben. Ja es ift ſchwer, ſchrieb fie, bei Diefer immermwährenden Furcht und Sorge wieder recht lebendig, freudig und fröhlich zu werden, fo viel Urfache zur Freude und Fröhlichkeit und Gott auch gibt.

Die Berheirathung der zweiten Tochter.

Kaum in etwas über den Franken Knaben beruhigt, ward Garo- line auf® neue in große Bewegung gefeßt, als im October desfelben Jahres ein junger Mann, Agricola, in Gotha um die Hand ihrer zweiten Tochter, Luiſe, anhielt, welche bei der älteren Schweſter, um fie zu pflegen, geblieben war. Nur einigemale hatten die Eltern den Bewerber gefehen und der Entſchluß für fie war nicht leicht. Wir jollen fo viel ihm anvertrauen, fehrieb Caroline, und wir fennen ihn nicht, es ift immer eine ſchwere Arbeit, bevor man ein geliebtes Kind mit fröhlichem Muthe einem andern zu übergeben vermag, und nun ift Diefer andere ein und fremder Mann. Ich weiß mir nicht zu

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rathen und zu helfen, es find, glaube ich, die ſchwerſten Stunden meined Lebend. Die inner? Sicherheit und freudige Zuverſicht der Zochter ließ es indeſſen bald den Eltern ald das Richtige erfcheinen, derſelben allein die Entfcheidung zu geben. Tief im Herzen fühle ich, ſchrieb Caroline, dag Gott mit und ift und uns lich hat über alle Mapen, obgleih mein Verſtand nicht begreifet, warum; er fann mein liebes Kind nicht vergeflen und ihm feinen Segen nicht verfagen und er fann ein fo reined, von tiefer Liebe durchdrungened Kinder herz, welches auf feinen Cegen und Beiftand hofft, nicht fich irren laffen. Bald fchwanden den Eltern, als ihnen der früher Unbe⸗ fannte durch feine Briefe befannter ward, die Sorgen, und fchon im Rovember ſchrieb Caroline: Ich habe eine Ahnung in mir, daß Agri cola meinem Herzen werden wird wie ein geliebtes Kind. Mitte November 1819 kehrte die Tochter nah Hamburg zurüd, um ver ihrer Verheirathung den Winter mit den- Eltern zuzubringen. Uns fteht, hatte Caroline ſchon vor deren Ankunft gefchrieben,, will Gott, ein recht vergnügter Winter bevor, wenn wir unfere glüdie - Lige liebe Braut ind Haus befommen. Diefe Hoffnung ging in Erfüllung und aud der Knabe fchritt fo weit in der Genefung vor, dag er, um Kraft und Friſche wieder zu gewinnen, auf ınehrere Mo nate nah Wandsbeck gebracht werden fonnte. Carolinens Briefe aud diefer Zeit fprechen immer auf? neue Yreude und Dankbarkeit aus. Laß es mich wieder einmal mit Worten fagen, beißt e8 unter ande ven, daß wir fehr glüdlich find und viele und große Urfache haben, es zu fein. Ihr aus der Ferne gebt und freude und die Rinder, die rund um ung find, desgleichen. Ja gewiß, wir find glüdliche Eltern mit und durch unfere Kinder in Hoffnung und Wirklichkeit ; davon fann feine Menfchen Herz mehr durchdrungen fein und es in Dank gegen Gott erfennen und befennen ald ih. Perthes Tann , fchrieb fie ein anderedmal, mit feinen Kindern wie mit Freunden fprechen und umgehen und mit Luiſe ift er fo freundlich. ald wenn er der Braw figam wäre. ch danke Gott, daß er fo viel Freude in feinen Kin dern hat; er verdient ed, fo zu fagen, gewißlich durch feinen großen und guten Willen für Eud).

Die Ausſicht freilih auf die nahe Trennung nit nur von der

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Tochter, fondern auch von dem älteften Sohne, der mit dem kom⸗ menden Oftern die Univerfität beziehen follte, trübte nicht felten die | Gegenwart. Mir ift ed doch oft recht beflommen, ſchrieb Caroline einmal, daß Luife, fo jung noch, als felbfändige Frau auf eigenen Füßen ftehen und ohne mid) weiter gehen foll, aber ich habe doch ein . recht feſtes Vertrauen zu ihrem Glüd. Wer fo von Herzen lieb haben und die Liebe fo natürlich kindlich ausſprechen kann, wie die beiden, bei dem ift e8 im Herzen gewiß gut beftellt. Liebhaben bringt im- mer Gedeihen, feidend und thuend, wenn ed aus SHerzendgrund fommt, und ift das Wunder aller Wunder und das einzige, was ich mir ald ewig denken fann, während alled andere mir, wenn ich es ewig denfe, &rauen und Angjt erwedt. Daß ich aber meinen Mat⸗ thia® fo allein in die weite Welt ſchicken foll, mo ihm fein Agricola zur Eeite fteht, das fcheint mir ein Berg, über den ich nur mit Got⸗ tes unmittelbarer Hilfe kommen kann. Ja, liebe Agnes, je älter man wird, defto ernfter werden die Begebenheiten für eine Mutter und ſchwere Stunden bleiben nicht aud. Das Tiebe Neujahr, ſchrieb fie in den legten Tagen ded December? 1819, liegt mir ſchwer auf dem Herzen, weil id in ihm zwei von meinen geliebten Kindern hergeben foll. Ich fühle, daß ich Unrecht habe, aber ih bin recht betrübt und bebrüdt. Gott wolle fie und uns alle in feinen Arm nehmen und vor allem Böfen bewahren und mir ihre lebendige Liebe erhalten. Freue Du Dich an Deinem kleinen Kinde. Die Freude wird wohl jpäter größerer Art, wenn die Tändelei ein Ende hat; aber wünſche Dich dennoch feinen Tag weiter, fondern genieße die mutter- felige Zeit, in der Du Dein Kind im Arm haft und e8 Deiner nicht entbehren kann, feine Arme nad) Dir ausſtreckt und Dich in Liebe um- faßt und nicht von Dir zu gehen braudt. Es ift fchwer, loszulaſſen oder eigentlich wegzulaſſen, denn behalten thue ich Euch und lieb habe ih Euch und ed gibt auch neue und ernfte Freuden, die man früher nicht ahnet; aber die Fleinen niedlichen Arme und daß liebe fich ausſtre⸗ ende und fehnende Geficht fehlen mir dennoch und vielleicht mehr, ala es fein follte. Se näher die Zeit heranrüdte, in welcher Tochter und Sohn daß elterliche Haus nerlaffen follten, um fo mehr traten die äuperen und inneren Sorgen für Caroline hervor. Heute ift, fchrieb

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fie, des Hin und Her in unferem Haufe fo viel, daß ich bei dem Schreiben an Dich meine Gedanken nicht recht zufammenhalten Tann; aber fo groß und hoch ift ja die Liebe, daß fie durch feinen Wirt wart fi flören läßt und tief im Grunde der Eeele ftille für fih fortlebt, mag außen_ vorgehen, was da will. Heute ift Luiſens Ausfteuer eingepadt, fchrieb jie etwas fpäter. Wenn Gott einen fröß- lichen Geber lieb hat, fo hat er Perthed gewiß lieb; er gibt gar zu freundlich) und zu freudig, was ihm bitter fauer wird zufammenzu- bringen. Mir ift recht ernft zu Sinn: Vergangenheit und Zukunft bewegen meine Seele, aber Anfang, Mitte und Ende meines Zu⸗ ftandes iſt zu meinem Troft das lebendige und feite Gefühl, daß Gott un? leitet und führt, wie es für und am beiten ift; nur follen wir ihm nicht ind Amt fallen und auf eigene Hand walten. Dies habe ih aber mit Wiffen und Willen nie gethan oder wenigften® nicht thun wollen. | In der erften Hälfte des Aprild 1820 fahen die Eltern beide Kinder and dem elterlihen Haufe fcheiden. Am 7. April ging der Sohn zur Univerfität ab und acht Tage fpäter verließ auch das junge Ehepaar, welches am 12. April die Hochzeit gefeiert "hatte, Hamburg. Perthes begleitete mit feinem zweiten Sohne die Tochter nach Gotha. Geſtern konnte ich nicht fchreiben, heißt e8 in einem Briefe Garolinend kurz nach der Abreiſe; das Wellenfchlagen in meiner Seele war fo groß, daß ich nicht zur Ruhe kommen konnte. Liebe Agnes, wie if das Mutterherz fo gewaltig; ja, ich glaube gewiß, daß Elternliebe ftärfer und größer ift ald Kindedliebe. Wie wünfche ih, wie hoffe id und wie bange und beflommen bin ich doch dabei! Bei dem Ab fhiede hatte ich ein fichered und feſtes Gefühl von Gottes Nähe, und das machte mir die ſchwere Stunde leichter. Ich bin bis tief im Her- zen betrübt, aber ich weiß und fühle es, daß alles in der Ordnung iſt und wir Urfache haben, Gott zu-danken; was hülfe mir aud die äußere Nähe meiner Kinder, wenn die innere Nähe fehlte? Aeu—⸗ ßerlich follen wir loslaffen und hergeben, oder beſſer, hingeben lernen und zu unferer rechten Heimat fommen. -— - Perthed war einige Wochen in Leipzig geblieben und fehrte dann nad) Hamburg zurüd. Er hatte völlig unerwartet für Caroline feine ältefte Tochter und die

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- Heine Entelin aus Gotha der Großmutter mitgebraht. Als ich das Bofthorn hörte, fehrieb Caroline, war ich zuerft an der Hausthür; ſo wie fie aufgemacht wurde, reichte mir Perthes das Heine freundliche, gefunde Kind zur Thüre hinein und ich hatte es in meinen Armen; meine Agnes war auch gleich da und ed war eine rechte Freuden⸗ ftunde. Ich konnte mic) lange nicht befinnen und vergaß wirklich et - was, daß Perthes auch mit zurüdgefommen war, worüber ich mid) hernach recht geärgert habe. Du kannſt Dir denken, heißt e8 einige Tage fpäter, in welcher Freude ich lebe und webe mit Kind und Kindesfind. Ich bin noch nicht im rechten ruhigen Genuß und die Freude wogt in mir mädtiglich. Gott fei gelobet, der mir dieſes Glüd werden ließ! Nach einem fünfwöchentlichen Aufenthalt im elterlichen Haufe wurde die Tochter von ihrem Manne wieder nad Gotha zurüdgeholt. Wir fönnen Gott nicht:genug danken, heißt in einem Briefe Carolinens, daß wir Agnes mit foldher Ruhe und Freudigfeit wieder ziehen laſſen können, nachdem wir fie nun fünf Wochen von nahem inwendig und auswendig betrachtet haben. Drei Kinder hatte Caroline jegt in der Ferne und jede erwar⸗ tete regelmäßig Briefe von der Mutter. Sehr felten nur jahen fie an den beftimmten Tagen vergebend nach denselben aus. Mit der - zweiten Tochter durchlebte Caroline in geiftiger Nähe die erften Wo- chen der Ehe und den Uebergang aus ihnen zu der wachlenden Ruhe und Sicherheit des Zufammenlebend. : Daß Du, fehrieb fie im Mai 1820, fo freudig und vergnügt mit Deinem Agricola bift, habe ich erwartet und gewußt und hoffe noch mehr und befferes für Dich; denn die? find doch nur noch liebe und werthe Flitterwochen, die mit- zunehmen find und die ih Euch gönne aus Herzendgrund. Aber Zeit und manche ernſte Stunde und mander ernftliche Wunfd mit und für einander gehört dazu, bevor wahres Glück und wahrer Ernft in- und durcheinander in Euch zu Stande tommt. Das rechte Liebhaben ift der Weg jum Ziele und das Wahrfein und Offenfein gegeneinan- der zu aller Zeit und bi auf Grund und Boden der Scele fördert mädtiglih. In allen Euren Wünſchen und Beftrebungen müßt Ihr gemeinfchaftliche-Sacdhe zu machen und Euch einander fortzuhelfen fu-

hen, wo ed dem einen oder dem andern gebricht, und wie nad Eu- Dertheö' Lchen. II. 4. Aufl. 20

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rem böchften Ziele müßt Ihr daran arbeiten, Gott näher zu kommen, und Euch einander fördern wollen, ihm ähnlicher zu werden. Laß ed Dich nicht ftören, wenn Ihr zuweilen verfehtedener Meinung und An- fiht in den höchften Dingen feid. Bleibt Ihr nur immer wahr ge geneinander und wollt und meint Ihr nur immer wirfli die Wahr: beit, fo trefft Shr, wenn auch auf verfchiedenen Umwegen, doch wie der zufammen. ch weiß, daß ich es hiermit ernftlih gemeint und daß ed mir öfter recht fauer geworden iſt; aber ich weiß auch, daf ih endlich zu einem freudigen Ziel mit meinem lieben Perthes ge fommen bin. Das Wenn und Wie geht niemand außer Euch etwas an und hat auch niemand danach zu fragen. Du kannſt wohl denten, fchrieb Caroline bald darauf, daß mir nichts lieber fein Tann, ala wenn Du mir recht aud dem Herzen von Deinem glücklichen Lieb- haben erzäblit, aber des Menjchen Herz ift ein wunderlich Ding. Als Du mir fürzlich einmal fchriebft, Du könnteſt nicht begreifen, wie Du jemals ohne Agricola hätteft glücklich fein können, kam es mir vor, als gefchehe mir Leided. Sch fühle es ja in jedem Augenblide mit ganzer Gewißheit in mir, daß meine Eeele Euch aus allen Kräften fieb hat, für Euch hofft und wünfcht und Euch alles Gute gäbe, wenn fie fönnte, und mehr kann ich doch nicht und mehr kann der bewußte Herr aud nit. Warum bätteft Du denn nun nicht auch bei mir glüdlich fein können? Kannft Du mir darauf antworten? Agricola hat Dich doch erft ein Jahr lieb gehabt und ich fhon achtzehn Jahre, und wahrlich aud Herzendgrund. ft dad nun nicht ganz verkehrt von Dir und kannt Du fagen, daß es nicht verkehrt ift? Ich weih auch nichts darauf. zu erwidern, ald daß ich ed eben fo gemacht habe, als mid Perthes nahm, und daß ich Gott dafür danke, daß Du mir nun dadfelbe Leid anthuft, das ich meinen Eltern angethan habe. Es ift, bemerkte fie um diefelbe Zeit, ein fehr wunderbares aber lie bes Gefühl, dab mein Kind Agricola glücklich macht. Sch weiß wohl, daß es Gotted Gabe und Segen ift, aber meine Arme haben Did doch groß gewartet, und nun freue ich mich feined Glüdes in meinen alten Tagen, die ich übrigend noch gar nicht ald angefangen anjehe.

Die Stunden fehnfüchtigen Heimwehs blieben natürlich für die Tochter nicht aus. Du kannſt, fehrieb ihr Caroline, Dich nicht fo zu

307 mir, wie ih mich zu Dir, wünfchen. Könnte ich doch bei Dir jein, ohne von bier fort zu müflen! Aber eines bedenke: follte ih Dir nicht oftmals im Wege fein, wern Agricola nah Haufe fommt? Iſt das nicht fo und haft Du den Muth zu leugnen? Ich ſehe Dich ordent- fich roth werden, weil Du e3 nicht fannft. Nun, meine liebe Luife, darüber fhäme und gräme Dich nit; ich nehme damit vorlieb und danfe Gott noch dafür, daß ich jebt für Dich nur die zweite Perfon bin, und habe Dich lieb, ald wäre ich die erfte. Daß Dir, heißt . ed in einem etwas fpäteren Briefe, das Alleinfein und die Entfer- nung von und ſchwer wird, fonderlih wenn Agricola nicht bei Dir ift, kann ich mir recht gut vorftellen; bin ich Doch noch jetzt, wenn die Kinder einmal auf einen Nachmittag fortgegangen find, fo fatal und verlegen zu Muthe wie ein Huhn bei Licht. Indeſſen über folchen Zuftand muß man Herr werden und ed geht allen jungen Frauen mehr oder weniger fo. Das beſte Erleichterungsmittel bleibt doch im⸗ mer da3 Arbeiten, wenn man ed mit Lebendigfeit und Fleiß treibt. Du mußt überhaupt anhaltend und emjig arbeiten, was es auch fei; denn Müßiggang ift des Teufeld Ruhebank für Bornehme und Ge- ringe, fagt Dein Großvater, und das ift gewiplih wahr. Wenn Agricola nicht bei Dir ift und Dir bei dem Gedanken an die Ent- fernung von und auch einmal bänglih und fehnfüchtig zu Muthe wird, fo ift dad, mein altes liebes Kind, nicht? unrechted; nur mußt Du ruhig und befonnen bleiben. Doch follteft Du Dich auch einmal über die Gebühr wie ein Kind nah Deinen Eltern fehnen, fo wird Dir darüber Dein Agricola nicht gram werden. Auch bift Du da- mit auf dem rechten Wege, daß Du ihm immer und unter allen Um⸗ fländen alles fagft, was in Dir vorgeht und wie Dir zu Muthe ift; wo Wahrheit und gründliches Liebhaben ift, da geht es ohne Glück und Freude nicht ab. Richt wahr, es ift ein lebendigered Leben ala Hausfrau, denn ald Haugjungfer, heißt ed ein andereömal. Daß Du Dir gefällt in Deinem Fleinen Hausweſen und daß Du Deine Luft an Deinem fauberen und niedlihen Haufe haft, ift recht nad meinem Sinne und ih fann mir recht lebendig vorftellen, wie ‘Du Nahmittagd ausſiehſt und aufhorchſt, ob Dein Mann noch nicht vom Gerichte fommt. Wie gerne ftände ich einmal hinter der Thür, wenn 20 *

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er hereintritt! Denfe nur, daß id Sonnabend. öfter Revue halte in Deinen Stuben, Schränken und Schubladen und mich freue, wenn al» fe3 huͤbſch und ordentlich if. Recht fo, Du liebe Hausfrau, fchrieb fie bald darauf, hab immer an Kleinigkeiten in Deinen Umgebungen Luft und Freude. Große Begebenheiten werden und nicht immer.auf- getiiht, aber wenn man aufzumerken und wahrzunehmen verfteht, fo ift unfer beſcheiden Theil und mehr als das alle Tage da, und wir müßten eigentlich viel weniger um Urfache zur Freude ald um Empfänglicheit für die Kreude beten. Daß Du dann und wann zu anderen Leuten gehſt, meine liebe Luife, daran thuft Du redt; daß Du aber gern und am liebften zu Haufe bift, daran thuft Du doppelt recht. Gott gebe,. daß Eure: Stube Euch immer fo lieh bleibt! . Be |

Um ber Tochter recht: lebendig nahe bleiben zu können, begehrte - Caroline auch von den Heinen Einzelheiten des täglichen Leben? der. ſelben nähere Kunde zu erhalten, als die Tochter zu: geben pflegte. Mit Deinen Briefen, fehrieb fie einmal, bift Du noch nicht auf red tem Wege. Du fprichft immer nur im großen und allgemeinen, id aber will von Dir, mein liebes Kind, auch das Kleinfte wiffen. Du ſchreibſt mir immer nur, daß Du Agricola lieb haſt, ich möchte aber auch wiſſen, warum Du ihn lieb haſt. Wie es um einen Menſchen ſteht, erfährt man am allerbeſten aus vielen kleinen Umſtänden und Begebenheiten, aus denen man dann ſich ſelbſt die Summe zieht. Wolle ja nicht immer etwas bedeutendes fehreiben! Du fchreibft ja für mein Mutterherz, und dem ift alle® bedeutend, was mir Euch ‚näher und lebendiger vor die Seele bringt. Sage und fchreibe alfo ohne viel Bedenken Kleines und Großes, wie ed Dir einfällt; das Große erhält das Leben, aber die Kleinigkeiten die Lebendigkeit im Zufammenleben, wenn man getrennt if. Du weißt, daß Agnes Kraut und Rüben durcheinander auf dad Papier hinfehüttet und mi dadurch unfägliche Freude macht. Der Menfch befteht nun einmal aus zwei Stüden hier in diefer Welt, und alfo gehören die Kleinig- feiten, nur nicht Kleinlichfeiten, auch mit zu und. Daß Du Deie nen Brief, heißt ed etwas fpäter, wieder zerrifen haft, weil er nicht in rechter Stimmung geſchrieben war, thut mir leid; ein andereömal

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ſchicke mir alles, wie es iſt. Ich weiß fo gut wie Du, daß des Men⸗ ſchen Seele ſich nicht immer glei if. Unter allen Umftänden Herr zu bleiben und ruhig; das ift das Biel, nach dem wir ftreben follen; aber es müſſen viele VBerfuche gemacht werden, ehe wir dahin gelan- gen. Auch weiß ih, was ih von unrechten Stimmungen und Augen- blicken gu halten habe,. und fehe fie nicht für mehr an, als fie find. Als die Tochter nach Verlauf einiger Zeit die von jeder jungen Frau aufs neue zu machende Entdedung machte, daß auch in dem neuen Berhältniffe der Ernft des Lebens nicht auöbleibe und die Ar beit an fich ſelbſt nicht unnöthig geworden fei, ſchrieb ihr die Mutter: Sa wohl, Du liebed Kind, die Gottedgabe ded wahren Liebhabens wird unter allen Umftänden größer und beffer, und obſchon wir den Schweiß des Angefichtö lieber nicht haben möchten, fo merken wir doch bald, dag wir ihn nöthig haben und er zu und gehört für diefe Welt. Bohl alle Menfchen bis auf den heutigen Tag haben die Er- fahrung gemacht, daß, wenn dad Leben und größere Freude bringt, auch fein Ernft größer wird. Danke Du Deinem Agricola von gan- zem Herzen, daß er Dir auch feine Sorgen mittheilt und nicht aus übergroßer Schonung verſchweigt. Wenn die Frau aud nicht heffen fann, fo kann fie doch oftmals erleichtern, und. füß und fauer foll getheilt und vereint getragen werden von Mann und Frau. Ich möchte Euch) wohl gerne. nur Luſt und Freude gönnen, aber verzagt bin ich Euretwegen nicht. Die Menfohennaturen jind verſchieden und ebenfo Gotted Mittel: zur Förderung ihres Glücks. Auch Perthes und ih haben manche Kämpfe gehabt, die und fchwer wurden und öfter® recht ſchwer; aber wenn ich zurückdenke, fo fage ich mir doch, daß das alled und gewiß näher und inniger vereint hat, und das ift eine Sache, die nie zu theuer erfauft wird. Du haft fehr ‚recht, liebe Luiſe, ſchrieb Caroline in einem anderen Briefe, da wir fehr auf der Hut jein müffen, wenn ſich in unjer Wefen und Sein etwas empfindliche oder leicht zur Heftigfeit fich neigendes einſchleichen will. Es iſt eine große, herrliche Sache um eine reine findliche Seele, die auch nicht durch Kleinigkeiten im täglichen Reben das Liebhaben er- ſchwert oder unterbricht. in fefter und tüchtiger Wille, das nicht zu wollen, foll unter allen.Umftänden und zu allen Zeiten in tiefem

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Herzendgrumd fein und bleiben; aber ich habe von dem alten ran- ciscus von Sales gelernt und habe bewährt gefunden, daß viele ©a- hen zwar nicht leicht angeſehen, aber leicht behandelt werden müſſen, wenn man zum Ziele kommen will. Gegen die Neigung, heftig zu werden, muß man nicht mit großer Gewalt und Anſtrengung zu Felde ziehen; ſonſt wechſelt man oftmals nur die Art der Heftigkeit, aber die Heftigkeit bleibt. Beſſer iſt es, wie der Alte ſagt, in den Augen- blicken, in denen ed Noth thut, leicht fallen laſſen und ſchnell vergef- ſen. Mit großer Heftigkeit die eigene Heftigkeit bekämpfen, ſtört die andern und kann uns ſelbſt erbittert machen. Für Dich übrigens bin ich nicht bange, Du haſt nie Anlage zur Aergerlichkeit gehabt, und wenn das Herz voll Liebe iſt, kann keine Aergerlichkeit hinein. Du konnteſt Dich aber an niemand wenden, der Dich beſſer verſteht alö ih; denn ich habe die Sache erfahren auf diefelbe Weife. | Im November 1820 brach) eine ſchwere Prüfung über die Tod ter herein, al® deren Dann am Nervenfieber erkrankte, Wochen hin durch in augenblidlicher Lebensgefahr ſchwebte und Monate hindurd die Gefundheit nicht wieder erlangen konnte. Du und Dein Leben ohne Agricola, fchrieb Caroline, als die erfte Gefahr befeitigt war, find mir Tag und Nacht nicht aus dem Herzen gefommen und Der nem Vater nicht minder; wir haben gar zu ftarf gefühlt, wie ſchwer ed fein muß, ein Kind um und bei fid) zu haben und die verfiegte Quelle feined Glüdes nicht wieder füllen und rinnen laffen zu können. Sehr ernfte Tage waren ed für und. Der Gedanfe war mir ganz neu, daß ich mein eigene? geliebte Kind in meinem Arm und Haufe haben und doc) nicht tröften und vergnügt machen fönnte mit allem meinem Liebhaben und Wunfch und Willen. Zuerſt wollen wir Gott danken, fchrieb fie etwas fpäter, daß er Dir Agricola erhalten und Glauben und Zuverficht in der Noth verliehen hat, und dann wollen wir um weitere Genefung bitten. Daß wir immer wieder bitten, darüber brauchen wir und nicht zu [hämen und zu grämen. Gott weiß es beffer ald wir, daß wir ohne ihn nicht fertig werden fönnen. Wir fühlen nicht mehr den Stein, heißt ed, ala die Kräfte des Kranken wieder zu kommen begannen, fondern nur noch den Ort, wo der Stein gelegen hat, und freuen und mit Euch bed

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tommenden Frühlingd und der warmen Sonnenftrahlen, obgleich der Tugendfrühling an und ſchon vorübergegangen ift, aber nicht der ewige Frühling in und, der immer grüner, will® Gott, in und auf gehen wird, je älter wir werden; klingt an mit der herzerhebenden Frühlingdzeit in der Natur, die und jung macht und friſch und fröh- lich, wie die Fleinen bunten Meifen in dem erften Sonnenftrahl auf dem Eichbaum hinter meinem Fenſter. Wenn au der alte Körper matt ift, er muß mit fort. für den Augenblid, er mag wollen oder nicht. Freue Dich des Frühling® und des Leben, lieber Agricola, und habe Dank, dag Du noch bei meiner Luiſe und bei und allen haft bleiben wollen. Wir werden unfererfeit3 thun, was wir fön- nen, daß Dichs nicht reuen fol. Ah, liebe Kinder, fchrieb fie in einem anderen Briefe, könnte ich Doch heute bei Euch fein und mit Eud fröhlich fein und mit eigenen Augen einen Blid in Euer neues Glück thun! Da aber dad nicht fein kann, begnüge ich mich mit ber lebendigen Luft, die ich dazu babe; denn.ohne diefe hülfe auch der Blick mit eigenen Augen mir nichtd. Liebhaben ift Anfang, Mittel und Ende unfered Glückes; ohne diefed fann Gott mit aller feiner Allmaht keines geben. Je reiner und inniger die Liebe ift, deſto befler find wir daran. Alfo ift ed und wir können zufrieden fein, denn die Liebe haben wir feſt und feine Meilen, nicht Berg noch Thal, weder Heide noch Sumpf fann ſich zwiſchen uns ftellen und und ſtö— ren. Nicht wahr, das weißt Du auch? Und dabei foll es bleiben.

Der Fortgang des älteiten Sohnes zur Univerfität.

Während mit den verheiratheten Töchtern vorwiegend die Mut- ter den brieflichen Verkehr führte und Perthed nur einzelne freund- lihe Worte und nur bei befonderen Beranlajfungen ausführlich fchrieb, erhielten beide Eltern gemeinfam das Fortleben mit dem älteften Sohne Matthias, der feit Oftern 1820 in Tübingen Theologie ftu- dierte. Die Zweifel und Nöthen, in welche oftmals die theolegifche

312 Wiſſenſchaft ihn brachte, Tegte der Sohn dem Bater vor, Rath und Richtung von ihm begehrend. Häufig ftand Perthed an, auf alle in diefer oder jener Woche dem Süngling begegnenden und beunrubigen- den Bedenken einzugehen. Ich habe in diefen Tagen mehrere Deiner legten Briefe wieder gelefen, fchrieb er ihm einmal, und aufs neue gefehen, daß es nicht gut und heilfam fein möchte, auf jede Deiner aus Geift und Herz fommenden Mittheilungen immer im einzelnen zu antworten und alsbald in Deine Anſichten, in.Dein Treiben und Thun hinein zu reden. Bei einem regen und ftrebenden Jüngling wiegen Wochen und Monate dem Inhalte nach Jahre des älteren Mannes auf, es wogt in ihm auf- und niederwärtd, und eben das ift recht. Eines berichtigt da8 andere, und zwar durch eigene Arbeit und durch den eigenen guten Willen, den, wenn er ernft ift, Gott mit Kraft fegnet. Das ift beffer und richtiger, ald wenn ein älterer Mann mit feinen Erfahrungen dazwifchen redet, Die Doch immu fremde find, auch wenn es der Vater ift, der fie gemacht hat. Ich kann und ich Darf mich nicht, heißt e8 ein arideredmal, auf die Ange legenheiten einlaffen, die Du verhandelſt. Der durch das Leben ge reifte Mann, dem feine Meberzeugung nicht auf dem Wege der Bif- fenfhaft wurde, darf dem jungen Theologen, der im Anfange feiner Studien fteht, nicht Grenzpfähle fteden wollen, ohne Gefahr zu lau ‚fen, ſich zu vergreifen; wirft Du älter und ich lebe noch, fo werden wir und ſchon finden. „Meinem Bedürfnis,“ fehreibft Du, „genügt der Gott nicht, den jene verehrten, der meinige muß ein folcher fein, zu dem ich vertrauendvoll beten. kann, den ich bitten kann, in ber Hoffnung, er werde fih durch meine Demuth bewegen laffen, mir Kraft und Hilfe zu verleihen.” Das find Deine eigenen Worte, an diefe ‚halte Dich, mein lieber Sohn. Ausführlich legte Perthes in. einem anderen Briefe feine Anficht über den Gegenfaß zwifchen der Jugend und dem Alter dem Sohne dar, Zwiſchen feiner Jugend und feinem Alter, fchrieb er, ift in jedem Menfchen eine Scheidewand ge zogen, die er nicht früher bemerkt, bis er fie überfehritten hat. In den mittleren männlichen Jahren gehen die Uebergänge gewöhnlich in den nothwendigen und heilfamen Mühen, Sorgen und Beitrebun- gen des Berufs und in ‚äußerer Thätigkeit unbemerkt vorüber. Auf

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einmal findet man fi auf. einer Höhe und fieht viel Buntes und Lebendiges unter und hinter fih. Das ift ein entfcheidender Augen⸗ blick für die Ceele ded Mannes; denn nun entfteht für ihn die Frage, ob er fich ganz zu Gott wenden und auf dad Spiel der Welt hinter fih nicht mit Geringſchätzung denn ed war feine Schule —, aber mit Ruhe hinabfehen, oder ob er fi) wieder vermengen will mit dem Mannigfaltigen,. was ihm nun ein Wuft werden und ihn zum Sün- der oder wenigften® zum Geden machen muß. Wenn ein Mann feine Lehr» und Wanderjahre ordentlich vollendet hat und noch in voller Kraft dafteht und fich fragt: Wie, wozu das alles? fo kann er nicht anders als antworten: Es ift alles eitel und vergänglich hienieden; wahrer Frieden und wahre Freude ift nur im-Leben mit Gott. Was ich wollte, was id that, war vielerlei, vielleicht auch viel; aber welche Früchte in mir und außer mir erwuchfen aus den Blüten, die jo herrlich in dem Haupte und in dem Herzen des Jünglings prang- ten? „Die Ideale find entſchwunden,“ aber nicht die Kraft; darum Demuth angezogen und „vorwärts mit der. Armuth des Geifted im Leiden und im Thun. Das ift:die wahre Meifterfchaft. Falſch aber ift es, ohne Lehr» und Wanderjahre ein Meifter fein zu wollen, und darin fehlen viele Jünglinge unferer Zeit, auch gar manche, die gu- ten Willen haben. Es gibt jurige Leute, die fi) eine Einfachheit, eine Gradheit, eine derbe Tüchtigfeit anziehen, welche faft ausfieht wie - Ruhe und Würde des Alters; fie härten den Körper ab, find ftreng in Sitten, find Stoifer neuer Manier. Es iſt diefer Zuftand eine Unnatur der Jugend. Wenige diefer Art werden ihr Inneres retten; ihre Verachtung ‘der Welt und des Reichthums menfchlichen Lebens . wird fehroffer Egoismus. oder. in ‚hohe Phrafen eingewickelte Leerheit oder au, je nad) der Stärke des Charafterd und der Stärke des Willend, unmenfchliche.Tyrannei und Verbrechen. Es gibt aber auch unter den frühalten Jünglingen andere, die aus Misverſtändnis reli- giöfen Gefühld einen Sprung zur. Meifterfchaft machen wollen, in

‚dem fie ohne weiteres und ohne Kampf mit der inneren und äußeren Welt dad Gewehr ftreden; ſchon in. der Jugend meinen fie die Blu- men und Blüten abftreifen zu können, indem fie vor der Zeit aud- rufen: Es ift alleö eitel, wir wollen und in Demuth dem Herrn erges.

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ben. Unter ihnen find wenige der Augerwählten, die Gott ohne den natürlihen Gang, der und hier verordnet ift, unmittelbar zu Berfün- digern feiner Ehre beftimmt hat. Sehr viele dagegen haben erft in fpäteren Sahren und dann viel fchwerer und gefährlicher den Kampf mit ſich und der Welt zu beftehen; andere verdummen in leerem For—⸗ melwefen, und manche werden zur fchändlichiten Heuchelei geführt. Beide von mir bezeichneten Arten der frühalten Sünglinge gehören befonderd der neueften Zeit an; beide haben oft von der chrijtlichen Religion gewiſſe Redensarten geborgt, in denen fie fich gefallen. Ich wünfche nicht, lieber Matthias, dag Du dieje meine Worte auf be ftimmte einzelne Berfonen anwenden mögeft; dad Gefagte gilt nur der Gattung; in jedem einzelnen follen wir annehmen, es ftehe gut mit ihm und nur die Influenz der Zeit habe ihm die Farbe gegeben. 4 berrfcht jegt eine wunderliche Vermifhung von Jugend und Alter. Zum Schaden beider pfufcht das eine in das andere hinein, und hu die in Wahrheit dennoch vorhandene Scheidung ſcharf in® Auge zu faffen, feheint mir für den Geiftlichen und Lehrer fehr wichtig; dem die Kraft ded Geifted und der Liebe Jeſu Chrifti will für jedes befon- dere Berhältnid eine befondere Anwendung haben. Das grade ift es, was in der Apoftelgeihichte Dich ergreift, daß Paulus für jeden Mann und an jeder Stelle das eben richtigfte Rechte trifft. Welche Misverftändniffe und welche traurige Irrwege mögen doch Prediger oftmals unfchuldiger Weife veranlaßt haben, wenn fie von der Kar zel alles für alle aus der Bibel fo im allgemeinen hinpredigen ! Obſchon Perthes faft immer die Befprehung und Berathung der theologischen Bedenken und religiöfen Zweifel vermied, welche den Süngling in diefem oder jenem Monate beunruhigten, fo trug er doch kein Bedenken, oft und entfchieden auf die Stellung und Haltung hin- zuweiſen, welche ein junger Theologe, der es ernft mit ſich und der Wahrheit meine, einzunehmen habe. Du fragft, fehrieb er einmal, ob ich gegen Deinen Eintritt in die Burfchenfchaft fe. Da die Uni. verjitätöbehörden nicht gegen diefelbe find und ich die befonderen Tü- binger Verhältniſſe, auf die alled anlommt, nicht kenne, fo könnte ich den Entſchluß allenfalld Deiner Einfiht überlajlen; aber bedente den Aufwand an Zeit, die nicht Dir allein, fondern auch Deinem

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Berufe gehört, und verfprih Dir nicht zu viel von dem Einfluffe auf andere, den Ihr Befferen in jugendlihem Enthufiagmus hoffe. Auf Menfchen wirft man nur, wenn man begeiftert oder recht innig bes fangen if. So ein Menfch wie Plehwe, dem Gott helfen wolle, der wirkt, aber Gott bewahre Dich vor einen foldhen Sein. Du bift viel zu nachdenflih, unterfuhend und betrachtend, um auf junge Leute, die der Regel nad finnlichen Temperamentes find, jiegende Wirkung haben zu können; wer fie beftunmen will, muß mit Stiefel und Sporn in fie hinein reiten, muß ohne Bedenken in Waffer und Sumpf zu ihnen fpringen und dann der Dann fein, nicht nur fich jelbft zu retten, fondern auch die andern mit herauszuziehen. Das aber laſſen ſich fi von niemand gefallen, der fich ihnen nicht vorher auf ihrem eigenen Felde überlegen gezeigt hat. Zudem bift Du in der Durchführung deſſen, was Du ald wahr und recht erfannt haft, leicht etwa ſchroff und hart und haft ein higiged Temperament und wirft dadurch die Gefahren für Dich vermehren. - Doch ich bin, wie - Du weißt, nicht von der Art, irgend jemand, und fei ed auch mein eigned Kind, deshalb von einem Wege, wenn er nur fonft zum Gu⸗ ten führt, abzuhalten, weil auf demfelben Gefahren zu treffen find. Aber enticheidend ift mir ein andered: in Deinem eigenen Innern wirſt Du, ſobald Du Dich in Studentenverbindungen hinein begibſt, einen nicht zu löſenden Zwieſpalt hervorrufen; denn die Pflicht vor Gott iſt nicht durch eine ſcharfe grade Linie von den Forderungen der conventionellen Ehre geſchieden; die letztere hat auch ihr Recht. Wer auf das Eis tanzen geht, muß auf das Fallen rechnen. Ich kann daher nicht anders als gegen Deinen Eintritt ſein.

Häufiger indeſſen, als die verhältnismäßig äußeren Angelegen⸗ heiten dieſer Art, brachte Perthes die Geſamtſtellung des Sohnes zu dem Berufe, auf den er ſich vorbereitete, zur Sprache. Der Unter⸗ ſchied, ſchrieb er einmal, den Du zwiſchen dem eigentlichen Gelehrten machſt und dem, der Gelehrſamkeit nur als Mittel zum Zweck erwirbt, ſcheint mir zu ſcharf. In der gegenwärtigen Zeit gibt es wohl nur wenige Männer, welche Gelehrfamkeit als Zweck betrachten und ſich in der Wiſſenſchaft als Wiſſenſchaft verlieren ; auch der Lehrer behan⸗ beit die Wiffenfchaft zugleich ala ein Mittel, um andere zu bilden und

316 auf andere zu wirken. Eben fo gewiß aber ift ed, daß der, welder einen praftifchen Beruf fich gewählt hat, in unferer Zeit nie zu viel an Gelehrfamteit und Wiffenfhaft fi erworben haben fann. Dir vor alleın fann, wenn Du den Weg,.auf den Di Deine Richtung und Dein Geift treibt,. fortgehft, nur die gründlichfte Gelehrſamkeit helfen und Did, vor Abwegen bewahren. Verſtehe mich aber vet. Der Kreis der Wiffenfhaften, in denen der Mann zur gründlichen Gelehrjamteit gelangen fann, muß fehr ausgewählt und befchränft fein. Der gegenwärtige Stand der Wiſſenſchaft ift jo ausgedehnt, dag, wer nicht fi) Schranken zu ſetzen weiß, in allem ungründlid wird. Für einen Theologen fcheint mir die erſte Vorbedingung, daf er des Griechifchen und Hebräifchen fehr mädtig ift, das Lateinijde verfteht fih von felbft. Iſt ein junger Mann in den Sprachen de Grundtertes feft geworden, fo hat er für Forſchung und Unterfucun während feine® ganzen fpäteren Leben? den Ausgangspunkt gemwor- nen. Beftehe Dein Tagemwerf, mein lieber Sohn, fudiere planmi Big und getreu- und fammle gründliched Material, dann wirft Du künftig ſchon unterfcheiden lernen, was ſich erforfchen läßt und wai nicht. Du bift, heißt es in einem anderen Briefe, mit der lieber zeugung von der Trüglichkeit menſchlichen Forſchens und Denen? nicht befriedigt und willft auch nicht den Nothfprung vom Denken zum Glauben an die Offenbarung machen, fondern willft auf wife

ſchaftlichem Wege finden, da die Offenbarung eine wirkliche und

wahre fei. Ganz recht. Nun aber haben vor Dir feit hunderten von Fahren Schriftforfcher und Theologen denfelben Weg der Wiſſenſchaft betreten und vollendet. Was Menfhen aus der Geſchichte Chriſt und aus der Schrift haben erforfchen und mittheilen können, iſt ge wiß in den Kirchenvätern niedergelegt. Haben fie und haben alk, die auf. fie folgten, feine Sicherheit gefunden , Fein wiſſenſchaftlich zu ſammenhängendes Syſtem aufftellen fönnen, welches Ihr jüngeren Männer fo lange ala Autorität hinnehmen könnt, bis Ihr felbft in | der Wiffenfchaft fo weit ſeid, um.dasfelde aus eigener Erkenntnis zu finden? Könnt Ihr feine Autorität finden an Euren Lehrern, die Euch fagen: Das wird in der Schrift gefunden, das fanden unſere Borgänger und das werdet ihr auch finden, wenn Eure Studien in

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Sprache und Geſchichte weit genug vorgefchritten find? Es wäre doch wirklich ſchlimm, wenn die ſeit der Reformation fo hoch geftiegene Wiſſenſchaft nicht einmal biefes Gewicht für den Anfänger in der Wiſſenſchaft haben könnte.

Als im weiteren Verlauf ſeines Studiums der Sohn ſich mehr. und mehr. von der Philofophie angezogen fühlte, fchrieb ihm Perthes: Da Du nun doch, wie ich fehe, in Deinem wiſſenſchaftlichen Gange auf philofophifche Wege angewieſen bift, fo möchte ich wohl, dag Du einen tüchtigen Denker, der fromm ift und Theologe, möge fein Bes kenntnis immerhin ein anderes fein ald das meinige, befragteft, wie Du Dih am ficheriten einzurichten habeſt. Sollte nicht Profeſſor Steudel Dir einmal eine Stunde ſchenken? Meiner Anfiht nach mußt Du jept die Theologie nur dogmatiſch und hiſtoriſch betreiben, ihre pbilofophifche Begründung vor der Hand auf ſich beruhen lafjen. Zugleih aber würde ih ganz ohne Beziehung: auf hriftlihe Wahr- heit irgend ein philofophifches Syftem mit größtem Ernft und größ- ter Strenge. durchfludieren und mir eine Ueberſicht über die Gefchichte der philojophifchen Syſteme verfchaffen. Iſt das gefchehen, dann greife felbft an, wirf das durchſtudierte Syftem meinetwegen ‚um, faſſe nach einem andern und fahre damit fort, bis Du etwas halt- bares findet. Hüteft Du Did nur, in irgend einem Syſtem Annah⸗ men und Gedanken gelten zu laſſen, die nicht aus ihm ſelbſt entfprin- gen; verachteft Du nur die Tafchenfpielerei, die dad, was wir allein dur die Offenbarung wiſſen, dem philofophifchen Syſtem al® deren eigened Erzeugnis unterfchiebt: fo wirft Du, davon bin ich überzeugt, bald genug bei dem Syftem angelangt fein, fein philofophifches Syſtem gelten zu laffen, und die Offenbarung wird Deine Zuflucht werden, wenn Dein eigenes innere? religiöfed Bedürfnis nach Hilfe verlangt. Ald Hamann den dritten Theil von: Jacobi's Werken erhalten hatte, fhrieb er an feinen alten Freund: In Deinem neuen Buche habe ih

vieled gelefen und wieder gelefen mit innigem Bergnügen und Erhe-—

bung, doch auch vieled hat mich niedergedrüdt und tief gebeugt. Was ift e8 doch für ein elend jämmerliche® Ding mit unferem jebigen Zu- ftande, auch da, wo er am Löftlichften iſt, wenn Männer mit dem rein- ften, wahrhafteften Sinne, mit dem größten Echarfjinne begabt, nad)

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Sahre langen Forfchen doch über die wichtigften Dinge nicht? heraus- bringen fönnen, was fie wirklih und bleibend beruhigt, was fie, wenn es ihnen auch gelingt, die eigenen Zweifel etwas zu befchmwidti- gen, auch andern, gleichfall® redlichen Forſchern fo mitzutheilen ver- moͤchten, daß diefe gleiche Weberzeugung und gleihe Beruhigung er- hielten! Daher diefer ewige Misverftand unter den Denfern. Ih geftehe, diefer Gedanke hat mich bei Deinem Werke einigemal ergrif- fen und mit Trauer erfüllt. Jacobi erwiederte: In Deine Klagen, lieber alter Freund, über die Unzulänglichfeit alles unferen Philoie phierens ftimme ich leider von Herzen mit Dir ein, weiß aber doch feinen andern Rath, als nur immer eifriger fort zu philofophieren ode katholiſch zu werden. Es gibt fein Drittes, jo wie ed fein Drittes gibt zwifchen Chriftentpum und Heidenthum, das ift zwifchen Naturver götterung und Sofratifch- Platonifhem Anthropomorphismus. Ah Jacobi mir diefe Briefftellen, um fie dann an Reinhold zu fchide, mitteilte, fügte er für letzteren hinzu: Du fiehft, daß ich immer nad derjelbe bin. Durchaus ein Heide mit dem Verftande, mit dem gar zen Gemüthe ein Chrift, fchwimme ich zmifchen zwei Waſſern, die fi mir nicht vereinigen wollen, fo daß fie mich gemeinfchaftlich tris gen, fondern wie das eine mich unaufhörlich hebt, fo verfentt mid unaufhörlich das andere. Hier haft Du, lieber Matthias, Ge währdmänner für dad, was ih Dir in Hinfiht der Philofophie an- deutete. Die Steptif allein thut es freilich nit. Der ausgebildetke Skeptiker war wohl unfer alter Echönborn; er war aus Einem St de, ihm rauſchten nicht zwei Waſſer; auch geftattete er nicht einem jeden feine Wahrheit, denn fie hätte ihm doch eine Wahrheit fein müffen; ihm als Denker war feine Wahrheit. Und dad wie wa— ren die legten Tage des redlichen, hohen, liebenden Mannes traurig, | fhredlih! Mein lieber Sohn, lied oft die Briefe Deiner Mutter. | fammle Did an ihrer Frömmiigfeit, - bewahre Dein Herz nur rein, damit Dir da8 Gebet nicht fremd werde dann magft Du frei for- ſchen; Gebet und ein gründliches Studium wird Dir den Kampf dei | Zweifeld überftehen helfen. |

Caroline hatte den Entfhluß des Sohnes, fih dem Studium | der Theologie zuzumwenden, immer als einen fehr großen und ernſten

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betrachtet. Es ift, fchrieb fie einmal, ein heißes Eijen, welche? Mat- thias anfaßt; aber thut er ed auf die rechte Weile, fo handhabt er auch eine große Sache und Gott ift mit ihm. Als der Sohn im April Hamburg verlaffen und nach dem damals fehr fernen Tübingen gegangen war, trat freilich für die Mutter zunächft der Gedanke an den Ernſt des Berufes hinter das Gefühl der Trennung von dem Sohne zurüd. Wie fehwer ift e8 mir geworden, fchrieb fie unmittel« bar nach feiner Abreife, Matthias loszulaſſen und in die Welt zu ſchicken, ohne ein menfchliches Herz und Auge zu willen, welches fi feiner annimmt! Biel Arbeit habe ih in mir und mit mir gehabt, aber nun habe ic) das Gewehr geftredt und bin zur Ruhe gekom⸗ men. Ich habe, wenn ich an Dich denke, fehrieb fie um dieſelbe Zeit dem Sohne, immer ein betrübendes Gefühl von Deinem Allein- fein und Entferntfein. Ih weiß wohl und bin defjen gewiß, daß Du Di in großen und ernfthaften Sachen an Gott hältft und ung entbehren fannft; aber es gibt Doch der Stunden viele, in denen El— ternliebe, Nähe und Mittheilung ein großes Glück und Troft ifl. Das fühle ich an meinem eigenen Herzen. So eben fommt, heißt ed einige Tage fpäter, Dein Brief. Ich bin ganz durchdrungen von Freude und Dank gegen Gott, der unjern Wunſch und Willen, Dich in gu- ten Umgebungen zu haben, fo wunderbar zu fegnen und zu erhören fheint. Du weißt aber auch nicht, Tieber Matthiad, wie ganz und gar ih Dich unferem Gott übergeben habe, damit er Dich führen, leiten und für Dich forgen möchte in kleinen und großen Dingen. Gewiß, ich fühle e8 in feftem, lebendigem Glauben, daß Du in fei- nen Händen bift, und bin feit Deiner Abreife ruhiger und getrofter, als ich mir habe vorftellen fünnen, wenn aud auf Augenblide die Sehnfuht und das Mutterherz die Oberhand erhält. Auch aus Go— tha kommen Briefe, welche die beiten Nachrichten won den lieben Reis fenden bringen. ch weiß mir nicht zu helfen in dem Glüd, das Gott und von allen Seiten befchert hat, und muß meine Zuflucht zu Freylingshauſen's Gefangbuch nehmen und aus Herzendgrunde fagen: D daß ich taufend Zungen hätte —. Wenn id) ded Morgens, heißt ed ein anderedmal, allein in der runden Etube auf dem Sopha fipe, ehe die Kinder herunter gefommen find, und Dein Bater ſchon

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an die Arbeit gegangen ift, danke, wünfche und hoffe ich für Did bon ganzem Herzen und ſehe Dein Bild an, dad Du mir Weihnad- ten gefchentt haft. Es bringt Dich mir oft recht lebendig vor die Seele und manchmal fommt e8 mir vor, ald merkteft Du, was in mit ar- beitet, und als fäheft Du mich wieder an und fagteft j ja zu dem, was ich wünfche. Fang Du. alle Morgen und alle Abend von neuem an im Wollen und im VBollbringen, damit wir Dich eben fo gerne wie derfehren fehen, wie wir Dich ungerne haben ziehen fehen! Laß uns nahe bei Dir bleiben und fcheuche und nicht zurüd durch Gedanken, Worte und Werke! Deine Großmutter in Wandsbeck wird Freude haben, fchrieb Caroline bald darauf, wenn fie aus Deinem Briefe fieht, daß die Leute Deinen Großvater und Did in-ihm lieb haben Meberhaupt, lieber Matthias, wie vieled haft Du doch und wie vie guted wird Dir zu Theil, was fo manche andere entbehren! Bi viel größere Forderungen wird aber auch Gott und wirft Du fett an Did und an die Erfüllung Deined Berufes machen müjfen.

Die in diefen Worten ſich ausſprechende ernfte Auffaſſung der Pflichten, welche der Sohn durch die Wahl feines Berufed übernommen hatte, fehrte in vielen Briefen Carolinens wieder. Mir ift es gam deutlich und gewiß, fehrieb fie einmal, daß ed derer, die nicht befrie digt find, die fuchen und nad) Rath und Troft fich fehnen, jept mehr gibt auf der Welt, ald vor zehn und fünfzehn Jahren, und es iftein großer und [höner. Beruf, auf die rechte Weife tröften und rathen und ein Wegweiſer für ſo viele ſein zu wollen, die den Weg nicht finden können oder wollen; aber leicht iſt er nicht. Für ſich ſelbſt und in feinem eigenen Herzen fommt man, weil man der Worte nidt braucht, über manches fort, was, wenn es für andere. auögefpro hen werben foll, recht jpwer werden muß, und Stunden bleiben nicht aus, in denen guter Rath theuer zu fein ſcheint und ‚nichts hel⸗ fen kann, als an die rechte Thüre zu Mopfen, um Hilfe zu erhal⸗ ten. Schon wie Du noch bei uns warſt, ſchrieb Caroline in einem anderen Briefe, wußte ih wohl, daß Du manche Dinge in und au— Ber Dir fünftig nicht ganz fo anfehen würdeft wie wir, aber ich wollte damals nod nicht mit Dir davon reden, weil ich hoffte und glaubte, daß ed Dir ernftlih um die Wahrheit zu thun fei, und weil ich Gott

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vertraute, daß er zur rechten Zeit auch würde die rechte Cinficht und Anfiht fehenfen. Es kann au hierin fein Menſch dem andern viel geben; jeder muß von neuem mit Gott fuchen und finden. Ich kann ed mit Wahrheit fagen, daß ich viele Jahre mit mir in Noth und Merlegenheit geweſen und auch jet noch nicht aus Noth und Verle- genheit heraus bin. Ach habe gefunden, daß es beifer ift, nicht zu viel über und an ſich, fondern lieber an Gott zu denken und fi nad ihm mit dem Herzen zu fehnen Tag und Nacht, und wenn wir gefal- len find, fchnell aufzuftehen und im Vertrauen auf Gott immer von neuem anzufangen. So fommt man allmählich weiter und, will Gott, zu einem ruhigen und feligen Ende. Die Fürſtin Sallisin fagte mir einmal recht aus dem Innerften der Eeele und im tiefen Gefühle ihrer Ohnmacht: Aber ich will doch wollen. Dieſes Wort fällt mir oftmals ein und richtet mich auf in verzagten Augenbliden. Man wird freier und fröhlicher, wenn man mehr in Eumma als im ein- zelnen mit fih umgeht. Erhält man fich jeden guten Gedanken ge- genwärtig, den man einmal gehabt bat, fo fann man leicht mehr, al® wahr ift, von fich halten, und fo auch wirklich umgefehrt. Taf Du ein Gefühl in Dir haft, fehrieb Karoline ein anderedmal, al® fönnteft Du noch nicht mit fo gläubigem Herzen und Gemüth ein Gebet zu Gott beten, mie Du gerne wollteft, beunruhigt mich nicht, - da ih aus Erfahrung weiß, mie der Menſch ein mankendes Rohr ift, dad vom Winde hin und her getrieben wid. Wenn man ſich nur von Grund des Herzend nad) dem lebendigen Glauben jehnt, fo hilft Gott und immer weiter, und endlich wird einmal alle Fehd' ein Ende haben; daß Dir aber ſchon das glüdfelige Ende fo nahe fein ſollte, ift etwas viel verlangt. Sokrates hat gemeint, vor dem vier- zigften Jahre könnte der Menfch nicht zur Ruhe im Innern kommen, und Confucius hat das Ziel noch viel weiter hinausgeſetzt. Doc ich habe Unrecht, Dir Sokrates und Confucius zu nennen, da wir Chri— ſten find; fiehe es alfo als ungefagt an. Mein Troft ift immer der Mann im Evangelium, zu dem unfer Herr Chriſtus fagte, daß er glauben müſſe, um Hilfe zu erhalten, und der darauf antwortete: Sch glaube, lieber Herr; hilf meinem Unglauben. Mehr können wir

nicht, und wo wir nicht fönnen, hilft Gott. Auch kann es im Ber- Perthes“ Lchen, 11. 4. Aufl. 21

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fand und Kopf viel Unruhe und Unglauben geben und das Herz be- hält doch dabei feinen feften Punkt. Gott ift die .Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott. Nicht? weiß ich gewiſſer, fo unvolltommen wir au hier nur noch lieb haben fönnen. So großes Gewicht Caroline auch auf den feſten Punft im Herzen legte, fo war fie doch weit davon entfernt, ein Ruhebett für den Sohn daraus zu machen und Mühen und Arbeiten ihm dadurch erfparen zu wollen. Sieber Matthias, fchrieb fie einmal, gemöhne Dich zur am geftrengten Arbeit und verfäume nicht ohne Noth. Nicht allein dei nicht gelernt haben, fondern auch die Gewöhnung, nicht zu lemen, hat große und bittere Folgen. Schreibe mir doh, ob Du tüdhty fleißig bift, ich münfche und hoffe es. Auch möchte ich recht m einzelnen willen, wie Du Deine Etudien eingerihtet haft. Jo glaube, daß es einem jungen Manne mit dem ernfteften und befim Willen unmöglich ift, dad Was und Wie in feinen Studien nt beurtheilen und einfehen zu fönnen. : Mir würdeft Du eine je große Sorge nehmen, wenn Du Dich hierin einem verftändigen gr lehrten und älteren Manne anvertrauteft, der Dir Baterftelle verträt und Deinen wiflenfchaftlihen Bang leitete. Ohne weiter etwas de von zu verftehen, weiß ich doch, daß Erfahrung den Meiſter madt. Du wirft, lieber Matthias, wahrfcheinlid über diefen Rath Taden; das magft Du auch gerne thun, aber nimm ihn an und fehreib mir Deine Meinung. Ich wollte Dich gar zu gerne auf dem graden und nächſten Wege auch zum Willen haben. Du fannit denken, fehrieb fie ihm bei Weberfendung einiger theologifcher Streitfchriften, was das für pro und conira verurfacht bat. Es ift fehr betrübt und wi⸗ derlih, daß die heiligften und wichtigften Religiondwahrheiten ale Geſpräch und Zeitvertreib verhandelt werden; doch ift es auch wieder gut, weil die Menfchen fih fragen müffen, auf welcher Seite fie fir ben. Ich glaube wie Du, daß Du, um es ehrlich mit Deiner Wiſ⸗ fenfchaft zu meinen, und um Deiner künftigen Gemeinde und Deine eigenen Kopfes und Berftandes willen aus allen Kräften forfchen, denken und lernen mußt, damit Du auf diefem Wege zu der feften Er- kenntnis und zu dem hellen Bewußtſein fommft, daß in Chriſto verbor- gen find alle Schätze der Weisheit; aber ich hoffe es auch zu Golt,

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daß, wenn es Dir mit Deinem Ringen, Forſchen und Streben rei- ner und wahrer Ernft ift, Gott Dir in der Tiefe Deines Herzen ein Sehnen, das jened alled nicht bedarf, und einen gläubigen feften Punkt erhalten wird, an dein Gott fein Gnadenwerf an und in Dir fortfeßt, während Dein Verftand in Arbeit und Unruhen, im Fallen und Aufftehen begriffen if. Große Freude haft Du mir mit Deinem lebten Briefe gemacht, antwortete Caroline, als ihr Sohn ihr von dem ernften und bedeutenden Freundesfreife gefchrieben hatte, in welchem er fi befand. Wenn auch manches in Eurem Leben nur noch Sugendwärme und Jugendinnigfeit ift und Eure beften Augen⸗ blicke aud) von anderen weniger guten unterbrochen werden, fo ift doch die Summa Eurer Richtung, Eurer Hoffnungen und Eures Zreibend wahr und gut und gibt und Urfache zum Dank dafür, dab Du in diefen Kreid gekommen bift. Befonderd möchte ich Dir gön- nen, daß Du noch ein Stüd Weges mit Deinem Freunde Hofader gehen fönnteft, der der Mann zu fein fcheint, welcher mit der Zeit auf die rechte Weife zu rathen und zu tröften lernen wird. Schreibe mir aber doch auch, heißt es in einem anderen Briefe, wie Du gemöhn- lich die Sonntage zubringft und ob Du einen Prediger gefunden haft, der die Wahrheit jagt ohne viel menfchlihe Zuthat und mit dem in- neren Gefühl, daß er an dem, was er fagt, eben fo nahe intereffiert ift, als feine Zuhörer. Auch laß e8 Dir recht Ernft fein mit dem Stu⸗ dium der Logik; der Mangel hierin fchadet gar zu viel. Vorigen Sonntag habe ich eine Predigt gehört, in der viel tüchtiger Wille und viel Gutes im einzelnen war, aber alles fo Durcheinander, daß man mit feinen Gedanken und Empfindungen hin und. her gezerrt ward. Ueberhaupt gelernt und gedacht muß werden, ehe man lehren und fprehen fann. Ich danfe Gott, daß Du Lehrer haft, die Wilten und Refpect vor dem Glauben in fich vereinigen.

Wie an dem inneren und äußeren Arbeiten ihre® Sohnes nabın Caroline auch an den Freuden, die ihm das Univerfitätdleben darbot, lebendigen Antheil. Dein Aufere® Leben ift etwas fehr einförmig, fchrieb fie einmal, wenn Du nicht die Ausnahmen für Dich behälft; aber auch) diefe gönne ich Dir, wenn fie in der Ordnung find und mit der Ordnung beftehen fönnen. Durd die Erzählung Deiner Reife

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haft Du uns, fehrieb fie ein anderedmal, eine große Freude gemacht. Thue die Augen weit auf, fieh und laß die Eindrüde bleibend in Dir fein, damit Du zu zehren haft, wenn auch Du ind Jod) must. Doch wenn Du Dein Ziel recht lebendig ind Auge und Herz fafleft, ſo Tann und wird Dir Dein Joch fanfter und leichter werden als Dei nem Bater das feinige, und auch ihn läßt der liebe Gott nicht leer auögehen; auch er hat feinen Wirkungskreis, in welchem Gott fei- nen Willen und fein Beftreben fegnet. Davon bin ich gewiß. Du tommt eben Dein Brief aud Zürich, fihrieb fie bei einem andere Ausfluge des Sohnes, und fagt und, daß Du gefund und im lieben | Schweizerlande bift, wohin mein Herz fich ſchon fo lange fehnt. I babe mir Karten geben laſſen und alled fo genau mir audgerednd und befehen, wie mir möglich) war, und begleite Dich von Orty Ort. Kein Menſch kann Dir den Genuß mehr gönnen, ala ich, Ger tes Werke ohne menſchliche Zuthat zu fehauen und Dich dabei u Deines eigenen Herzen? Tiefen zu verſenken und anzubeten. Liebe Matthias, ih muß Dich doch einmal wieder daran erinnern, mi viel Guted Gott Dir gibt und wie viel Gelegenheit, Seiner wahre nehmen. Ich wünfche von Herzen, daß er ed Dir mag gedeihen laſſe zu einer bleibenden Freudenquelle, aus der Du fhöpfen fannft, wen es Noth thut im Leben. |

Bid hinein in die kleinſten Sorgen der Studentenwirthſchaf blidte forgfam dad Mutterauge, überwachte den Beitand von B% he und Kleidern und warnte bedenflih vor Angewöhnungen, die fern vom elterlihen Haufe leicht fih Raum verfchaffen konnten Du haft mir lange nichts von Dir felbft, heißt e8 einmal, gefhnie ben und von Deinem Thun und Treiben, innerlich und äußerlid, | damit ih Dich mir recht lebendig vorftellen fann. Sollte ein folder Brief von Dir nit fhon auf dem Wege fein, fo ſage mir bald rebt umftändlich, wie Du zu Muthe bift, was und wie Du arbeiteft, ob Du ſchon -Kortfehritte merkſt; au von Deinen Freunden, Deine - Gemüthdergößungen, von Deinem Stuhl und Tiſch, Kleidern und Schuhen, kurz von allem, was zur Nahrung und Nothdurft ded %i- | bed und Leben? gehört. Mich verlangt gar ſehnlich danach. Laj ed Dir, fchrieb fie bald darauf, doch rechter Ernft fein, Deine Stuk |

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rein und fauber zu halten und die Fenſter alle Tage zu öffnen, und dann, lieber Matthiad, thue mir zu Liebe, daß Du ded Morgen? nicht einige Stunden halb angezogen mit niedergetretenen Schuhen berumfchlingelft; es ift mir gar zu widerlich; zieh Dich doch gleich friſch und fröhlih und fertig an.

Während Caroline fih in dad ganze Sein und Treiben des ent- fernten Sohnes hinein zu ſetzen wußte, um im großen und Meinen mit ihm fortzuleben, gab fie ihm zugleich durch ihre Briefe die Mög- lichkeit, auch in der Ferne dem elterlichen Haufe nahe zu bleiben, in» dem fie ihn in voller Kenntnis von den Meinen Begebenheiten erhielt, die ein Yamilienleben erfüllen; namentlich die Fefttage irgend einer Art gaben Gelegenheit zu ſolchen Mittheilungen. Wir. fisen wirklich, wie Du vorhergefehen haft, faft in Kränzen begraben bei dein Früh- ftüd, fchrieb Caroline am Morgen ihred Hochzeittage®, den 2. Aus guft 1820; die Kinder rund um und her, alle mit Luft und Freude in Herz und Augen. In diefem Augenblide haben wir Dein lieb Lied- lein und Deinen Brief erhalten, gelefen und und erfreut und Gott | gedankt aus Herzendgrund. Mein Herz ift befonderd durch Deinen Hochzeitskranz bewegt; denn wenn Du nicht mein Tindliches Kind wäreft, fo bätteft Du ihn uns nicht gefchidt. Necht fatt gemeint habe ich mich wohl, ich glaube aber gewiß mehr aus Freuden, . daß ich Dich habe, als aus Leid, dag ich Dich nicht Habe. Mein ganzes Herz dankt Dir für Dein Liebhaben und ich bitte Gott, daß er Dir Dein Wollen ftärken und erhalten und das Bollbringen immer mehr . geben möge. Wir müſſen in jeder Minute wollen und wieder wol⸗ fen, dann vollbringen wir ſchon etwas, oftmald un? felbft unbemußt, und diefed Unbewußte ift oft das Befte. Ich wenigſtens fürchte nicht? fo fehr, als daß ich mir einmal gefallen fönnte; denn ich weiß ge- wiß, daß ich dad nicht zu ertragen vermöchte. Das Gefühl unfe- rer Noth und unfered Unvermoͤgens und das Ausftreden nad Gottes Barmherzigkeit find hier auf diefer Welt unfere beften Gefährten, weil es unfer wahrer und natürlicher Zuftand ift. Gott helfe Dir und und allen, mein lieber Matthiad! dieſer Wunſch ift immer in mir. Der achtzehnte October wird, fchrieb Caroline am Jahres⸗ tage der Schlacht bei Leipzig, recht feierlich begangen. Heute Mor-

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gen früh wurde mit allen Gloden geläutet, alle Kirchen waren fo voll, dag niemand mehr hinein fonnte, Mittags rüdte Die ganze Bürgergarde aus; auf den Stragen ift ein außerordentlich feſtliches Leben, ed geht, führt und reitet, daß ich mein eigened Wort nicht hören kann; heut Abend find Feuer und eier an allen Orten und Enden. Ich fite zu Haufe und denfe mein Theil; die große Zeit ift mir im innerfien Mark geblieben, ich bin die gewaltigen Monate wieder durchgegangen mit .ihrer Freude, ihrer Angit und ihrem Schmerz; Du fannft denken, daß mir Herz und Augen übergingen und ich dem lieben Gotte gedankt habe, fo gut ich fonnte, leider aber nicht fo lebendig, als ich wohl wollte und müßte. Könnte ich diefen Tag einmal in den Aſchauer Keller feiern, dann würde der Danf wohl von felbft alle übrigen Gedanken todt fchlagen. Diefer Keller wird mir, fo lange ich lebe, unvergeßlich fein. Wie auseinander bin ich oftmals dort gewefen, wenn ich hineinging, um eine Viertel ftunde allein zu fein und meinen Ihränen freien Lauf zu laffen! Ich bin recht böfe auf alle, die heute daran denken können, Daß ed au jetzt noch nicht fo ift, wie es fein follte. An anderen Tagen mag man zürnen und begehren für Stadt und Staat; aber heute haben alk über und über Urfache fich zu freuen und fröhlich zu fein an dem, med Bott und gegeben und von und genommen hat. Und wenn ich nun an und befonders denke, wie gerüttelt voll ift unfer Maß, wie vid haben wir nicht wieder! Nur meines lieben feligen Bernhards Stelle ift leer und er.fehlt und und wird uns fehlen, bis wir zu ihm fom- men, Wille meine Feſttage find mir nun, heißt e8 in einem ande ren Briefe, da ich Euch nicht mehr beifanımen habe, zerftüdelt und baben an Fröhlichkeit verloren, denn ehe ih Euch alle beifammen babe, find viel Gedanken nöthig. Doch wenn nur zwilchen Euch und meiner Sehnfuht nah) Euch auch fernerhin nichts ftörendes tritt, fo will ich doch im Herzen freudig fein. Die freien Stellen am Weihnachtstifch können wohl, heißt e8 in dem Weihnachtöbriefe, meine Freude und Fröhlichkeit, aber nicht meinen Danf gegen Gott dafür flören, daß ih Euch, ihr lieben entfernten Kinder, habe und auf

rechtem und gutem Wege habe. Wenn meine Augen Eudy auch nit ſehen können, jo kann mein Herz lich doch freuen und Euch lieb haben,

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und daran habe ich es nicht fehlen laffen am lieben Weihnachtsabend. Uebrigens aber war doch eine Stille am Feſte und nicht fo fröhlich wie ſonſt, weil alle bedrüdten Herzens wegen Agricola's Krankheit find. Am 16. Januar mar Matthias! Geburtstag. Wie gerne fähe ih Di, fehrieb ihm die Mutter, heute einmal von Angeficht zu Angefiht und nähme Dich in meine Arme, fo lang Du auch fein magft! Dad Mutterherz läßt fich durch keine Länge ftören und das Kind bleibt Kind, wenn es auch ein Mann wird. Du alter lieber Matthias, ich wollte Dich gar zu gerne noch wieder fehen und wieder haben hier in diefem Xeben. Bleibe gefund und gehe friſch und fröh- lich in Dein einundzwanzigfted Jahr hinein! Der liebe Gott geht mit Dir und bewahrt Dich und wird meinen Wunſch an Dir erfüllen und Dich jegnen nun und immerdar; das glaube ich gewiß. Ich will Dir meinen Geburtstagswunſch und Gebet, mit dem ich diefen Mor» gen aufgewacht bin und der mir den ganzen Tag gegenwärtig geweſen ift, herfegen, damit auch Du ihn mit mir beten und wünfchen kannſt. Es iſt mein fehnlichiter Wunfch für Di und wird auch der Deine fein. „Du heilige® Licht, edler Hort, laß ihm leuchten dad Leben? wort und lehr' ihn Gott recht erkennen, von ganzem Herzen Bater nennen; lehr' ihn, daß Chriftus unfer Herr und Meiſter ift und feiner mehr, dag er nach feinem Fremden ſchau' und Dir aud ganzer Macht vertrau””. Mein geliebted Kind, möge Gott ihn an Dir erfüllen!

Carolinens letzte Lebenszeit.

Die körperlichen Leiden, an denen Caroline ſeit den ſchweren Erfahrungen des Jahres 1813 litt, hatten durch die Mühen und Sorgen ded Eommerd 1819 einen Gefahr drohenden Grad erreicht; aber inmitten der Unruhen und Aengſte, welche die Krankheit des Herzen? und die Reizbarkeit der Nerven dem Körper brachten, blieb das Geiftedleben hell und wach und gewann an Ruhe und Sicherheit. Ich habe dieſe Zeit, fchrieb fie im Frühjahr 1820, über des Men⸗

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fhen Gang durch das Leben und über die Arbeit, die ihm darin an- gewiefen ift, mir früher ganz unbefannte Empfindungen, Gedanten und Anfichten gehabt, verbunden ınit großer Sicherheit. Wie ganz anders fehe ich mich geftellt, fchrieb fie um diefelbe Zeit, feitdem e3 fo fühlbar bergab mit mir geht und der Austritt aus diefer Welt mir näher ift ald der Eintritt! Wenn ich mich nicht täufche und es, wie ich zu Gott hoffe, auch in der Noth Probe hält, fo merke ih Ruhe und Sicherheit in mir und id) habe Stunden, in denen ich recht gut zu Muthe bin. Gott gebe, daß die Ruhe und Sicherheit blei- bend im Herzen und Gemüthe ift und nicht ein Phantafiejpiel wird! - Gott wird mir helfen. ch fehne mich von Herzen nah Ruhe und Ergebung in Gott, kann aber die Lebendluft noch immer nicht über winden; ich habe auch viel Freude und Gute im Leben und habe meinen Perthes. Recht erquidlich ift ed mir, liebe Agnes, fchrieb fie ein anderedmal, daß e8 Dir geht wie mir und Du den lieben Gott ſuchſt und findeft in hundert Klein feheinenden Begebenheiten, die und dad Herz bewegen und erfreuen ganz ftill und ruhig vom Morgen bi zum Abend. Darüben reden läßt ſich nicht viel, aber Gott dan fen und mich noch mehr fehnen, das fann ih. Laß und nur mit Treue und Ernſt im kleinen thun, was wir fönnen; vielleicht vermö- gen wir dann im Himmel großes. Wengjtlichfeit im chrijtlichen Leben war ihr ſelbſt ganz fremd und auch an anderen nicht Tieb. N. iſt nun, fehrieb fie einmal, feit einigen Wochen abgereift; er hat viel gutes bier nicht begriffen und fieht viel nichtgutes, wie id glaube, in dem Kreife feiner neuen Freunde nicht, weil ihm bier wie dort dad innere durch dad Aeußere verdedt wird. Er ift gewiß ein guter und ein frommer-Menfch, aber fein Unglüd ift, daß er doch eigentlich nur weiß, wa? er nicht will und mag am Aufßeren Leben der Ghriften. —, Wir fuchen, heißt es in einem anderen Briefe, mit red

- ter Sorge nad) einem Manne, der Mathilden mit Wahrheit und Leben

sur Gonfirmation vorbereiten und Ernf und Innigfeit in dem reinen Kindergemüthe groß ziehen kann, und haben noch nicht gefunden, was wir ſuchen. Pl.s Schwefter ift aus Riga auf anderthalb Jahre nad) Kiel gezogen, um dort ihre Tochter von Harms unterrichten zu laſſen. So gerne id auch Mathilden Harms'. Unterricht gönnte, fo

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würde ich mich doch zu einem folchen Schritte nie entichloffen haben, weil er mir Gottes Macht und Einfluß doch gar zu wenig zuzutrauen fheint, und wie follte man den Kindern unter die Augen treten kön⸗ nen, deren Eltern nicht. jo ungewöhnliches für fie zu thun ver- mögen! Daß auch dem Menfchen, der ein Leben mit Gott in Wahrheit fennt, die Seele auf längere oder fürzere Zeit in düftere Trauer ver- fentt danieder liegen fann, wußte Caroline wohl; denn fie hatte jelbft dieſe Zuftände oft im Wechfel des Leben? erfahren. Komm in meinen Arm, fchrieb fie im Frühjahr 1821 einer tief gedrüdten Frau, -und fohütte Dein Herz und alles, was Du darinnen an Hoffnung und Furcht, an Angft und Zrübjinn haft, in mein Herz aus. Ich verftehe Dich und habe nicht vergeffen, wo uns arme Menfchenkinder der Schuh drüdt, glaube auch gewiß, daß ber liebe Gott es und zu Gute halten wird, wenn einmal ein ſchwerer Seufjer aus unferer Bruft dringt. Nur müflen wir zu allen Augenbliden willig fein, uns fere Laſt auf und zu nehmen, und müffen tragen wollen, was Gott und gibt, und er gibt. und oft recht beichwerte Stunden; das fann niemand leugnen. Gemurrt habe ich nie, aber oft den lieben Gott unter vielen Thränen gefragt, warum er ed und fo ſchwer gemacht bat, und dann wieder mich daran geftärkt, daß es feine Einrichtung ift, die nicht ohne gute Urfache für ung fein kann, und daß er ed weiß, wie uns fo angft zu Muthe ift, und es und nicht übel nimmt. Obſchon fehr wohl bekannt mit den trüben und dunflen Stun» den deö inneren Lebens, bewahrte Karoline dennoch da® Gefühl der Freude und ded Dankes ald herrfchende Stimmung.der Seele auch in der Zeit ihrer ſchweren körperlichen Leiden. Den tiefen Grund Dies ſer Freude deutet fie felbft in einem Briefe an die Altefte Tochter an. Daß Du, beißt es in demfelben, eine glüdliche rau bift, bezeuge ih Dir gerne und wünfche Dir von Herzen, daß Du ed immer blei- ben mögeft, zweifele auch nicht daran. Eine betrübte Frau kannt Du werden, aber feine unglüdliche;, denn wer von Herzen danach firebt, ih unter allen Umftänden in Gotted Willen zu ergeben, kann nie un» glücklich fein. Den inneren Sinn, die Quellen der Freude zu be- merfen und nicht. ungenojfen fließen zu laſſen, hatte Caroline in fel-

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tenem Grade ausgebildet. Als ihr zum lehtenmal für Diefed Xeben der erfte Mai, der Jahrestag ihrer Verlobung mit Perthes, nahe, Ichrieb fie: Morgen ift mein lieber erfter Mai und gerne ging id recht tief in Berg und Wald mit meinem lieben Bräutigam, dorthin, wo ich feinen anderen Menfchen fähe und hörte, und dankte Gott, daß ich diefen Tag noch nach vierundzwanzig Jahren fo durch umd durch freudig und fröhlic) feiern Tann. Einige Seufzer würden fid wohl meines kurzen Athems wegen eindrängen, aber fie würden nidt lange dauern, und ich würde immer von neuem anfangen, mich zu freuen. Ja gewiß, im Wald, im grünen Wald, da wär’ mein Auf: enthalt, aber auch meine Ausſicht hier durch die jungen Blätter auf died blaue Waffer und den mwunderlieben klein gemölften Simmel ik fo föftlih, daß man, wenn man ſich bejinnt, nur mit Scham und Sram mehr wünſchen kann. Ein foldhed Uebermaß von Pracht und Schönheit des Frühling ift und, glaube ich, noch nie geworden; t ift gar nicht auszufprechen, wie wunderfchön Büfche und Blätter, Gras "und Blumen find. Und diefe große Veränderung vom Tod zum Leben ift in wenigen Tagen, ja man möchte jagen, in wenigen Stunden gekommen. Wenn man fo im lieben Frühling fteht und die hoben, hellgrünen Bäume gegen den reinen, lichten Himmel ar fieht, fo fcheint ed unglaublich, daß dabei doch fo viel Sammer und Noth in und um und fein fann. Ja, eine Freudenzeit ift der Früh ling, und wenn ich fein Kind frank habe, fo nimmt die Freude mid mit dorthin, wo wir und feinen Jammer und feine Noth mehr denen und voritellen können.

Wenn auch die Natur einmal todt und finfter war, fo hatte Ca roline doh an allen Orten und Enden noch viele andere Gründe der Freude. Glückliche Menfchen find, ſchrieb fie einmal, eine wahre Her- zensſtärkung, ich freue mich gar zu gerne mit, wenn es nur irgend der Mühe werth if. Bor allem war ihr die Liebe zu Mann und Kindern eine nie zu erfchöpfende Quelle der Freude und des Dankes. Noch melde ih Dir, mein lieber Matthias, fchrieb fie im April 1821, daß ich troß alles ſchweren Athems feinedwegd verzagt bin, aud feine Urfache habe, es zu fein; wir alle vielmehr famt und ſonders haben ein fröhliches und glüdliches Xeben zufammen. Der liebe Gott

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überfchüttet und mit Segen und Freuden, indem er unfere Kinder gedeihen und un? Eltern glüdlid werden läßt. Aus Gotha hören wir nur Gutes; von Dir hoffen wir, daß Du auf guten Wegen bift und Gott mit Dir if. Mathilde ift ein ernfted und fröhliches Kind und hat ſich weit über ihr Alter tühtig und gut in der ſchweren Krankheitszeit gezeigt; mit mir gebt fie gar allerliebft um und forgt für mih, wo und wie fie kann; Perthed hat recht feine Luft und Freude an dem Zöchterchen. Eleonore ift Sungfer Niedlih und be⸗ kommt ein Herz voll Liebe und Freundlichkeit, und mein Andreas er- freut mir das Herz von Morgen bid Abend, wenn er nicht eben ein- mal unartig und heftig iſt. Mein liebiter Perthed wird für fich im- mer ernfter und beffer, für mich. konnte er e8 fehon lange nicht mehr werden. Konnte ih nun wohl ander ald Gott danken und nid freuen? Ich muß Dir einmal wieder, heipt es in einem Briefe an die ältefte Tochter, von Deinem Vater erzählen, wie der immer weiter in fih fommt und eine große Ruhe, Stille und Sicherheit bei allem Rumor und Wirrwarr hat und behält. Ich möchte, Du könnteft es alles willen, wie ich es weiß; es ift gar zu tröftend und erfreulich, wenn man gewiß und deutlich fieht, daß Gottes Segen in und mit ihm iſt. Stückweiſe könnte ein anderer ihn wohl zuweilen nicht recht verftehen; wer ihn aber jo ganz und gar kennt wie ieh, der weiß, daß er auf dem Wege zu Gott von Jahr zu Jahr weiter fommt und mit großem Ernfte in und an fi arbeitet. Danft Gott mit mir, Ihr alle, dap Ihr einen folhen Vater habt; er ift gar zu lieb und gut. Wenn ich ihn nur etwas mehr hätte oder eigentlich etwas mehr Iprechen könnte, denn haben thue ich ihn ganz und gar; dad weiß und fühle ich mit großer Gewißheit. Nicht? kann im Himmel und auf Erden über rechted Liebhaben gehen, und dad wird auch gewiß un⸗ jere Seligfeit im Himmel fein, nur viel größer, reiner und ungeftör- ter, ala hier. Nach meinem jegigen Gefühle möchte ich aber doch gar zu gerne dort meinen Perthes auch behalten und lieb haben. Was babe ich, fchrieb fie im Herbfte 1820, für ein immerwährendes tiefes Gefühl von Gotted Barmherzigkeit gegen und, mit welcher er un? fo viel Glück und Gutes in Hoffnung und ſchon in der Wirklichkeit in und an Euch allen gibt! Du fannft nicht wiſſen, welche bewegte und

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glüdfelige Stunden Perthes und ich haben, wenn wir das recht in und mit Ruhe zufammen bedenken. Es iſt eine Föftliche Gabe Gottes, feine Kinder auf dem Wege zum Himmel zu fehen, wenn man aud noch allerlei Sorgen und Furcht dabei hat. Der liebe Gott, der dad gute-Werf angefangen-hat, der wird es aud) vollenden in und allen und das vielfältige Glück, welches wir haben, an und zum Segen gedeihen laſſen. Man follte nicht glauben, beißt e3 in einem Briefe vom legten December 1820, daß man während dreihundert⸗ fünfundfechzig Tagen durch das Beer von Leiden und Jammer, das und auf diefer Welt treffen fann, mit fo heiler Haut wie wir durd- fommen fönnte. Wiederum erfahre ich, daß ich nicht fo viel dan fen fann, wie ich gerne möchte, und wie viel Wunfh und Bitte it nun nicht wieder in unferem Herzen parat für dad neue Sahr! Seit den erften Jahren der Ehe hatte Caroline fich nach einer größeren Ruhe des äußeren Lebens und nach einem ungeftörteren und ftilleren Zufanmenfein mit Perthes gefehnt, aber immer bejtimmter wurde fie fih im Berlaufe der Zeit bewußt, daß grade für ihre Ra tur die Nöthigung, fih im Schaffen und Ordnen, im Negieren und Dermitteln zu bewähren, eine faum zu entbehrende Schule geweſen ſei. Sch freue mich in Eurem Namen, fchrieb fie einft ihrer Tochter, dag Ihr wieder in Eure gewohnte Stille und Ruhe zurüdfehrt und daß ich mich recht inwendig nad) Stille und Ruhe ſehne; diefes Seh— nen ift mir ein Zeichen, daß mir alle Unruhe noch nicht geſchadet, und wer weiß, ob nicht vielleicht mich gefördert hat. Mein Element ifl der Wirrwarr gewißlich nicht, aber Gott läßt und alled zum Beiten dienen. Sa, vieles ift hier im Wege, heißt es ein anderesmal, um ein einfadhed und filled Leben zu haben, doch führt auch das unfrige und zum Ziel; das fühle ich gewißlich. Die Sorge frei- ih, daß Perthes im Gewühle des Geſchäftes förperlich fich aufreiben könne, ließ ſich nicht beſchwichtigen. Perthes arbeitet mehr ſchrieb fie einmal, als ihm nüg und gut ift. Ach, hätte ich ihn doch nur aus dieſem Tumulte gefund heraus! Sch kann wirklih nur im Denten an ihn mit ihm leben, denn dad Gewirre der Arbeit läßt mich feinen ruhigen Augenblid mit ihm genießen; aber Hagen darf und will’ id nit, denn er iſt guten Muthed und wäre gern mehr mit mir.

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Seitdem Carolinend ältefte Töchter in Gotha verheirathet waren, hatte fie die Hoffnung gebegt, daß Perthes es in nicht allzu ferner Zeit möglich machen könne, das große Geſchäft und deifen Unruhe und xaftlofed Getriebe anderen zu überlaffen und, fern von dem Gewühl der großen Stadt, in Gotha mehr fich felbft und weniger den Ge- fhäften zu leben. In vielen Briefen ſprach fie die wachfende Ausſicht mit immer neuer Freude aud. So Gott will und und das Leben läßt, heißt es einmal, fommen wir Euch noch näher und freuen und untereinander unſeres Glüdes ; ja, tief im Grunde ded Herzen? ahne ih die Möglichkeit, daß Ihr lieben Kinder mir meine alten Tage er- freuen werdet, wie Ihr meine jungen erfreut habt. Ich merfe immer deutlicher an Perthes, fchrieb fie etwas fpäter, daß er ernft- haft darauf hinarbeitet, und alle auf immer zu Euch zu bringen; wenn ich aber meine Herzendfreude in Worte ausbrechen laſſen will, fo wird Perthes böfe. Ich foll mich noch nicht einmal innerlich freuen, weil alles noch fo gar ungewißlich if. Perthes ſelbſt befchäftigte fich indeffen nicht weniger lebhaft mit dem Gedanken, ſich dem auf- treibenden Treiben des unruhigen Geſchäfts zu entziehen. Ihr feid wirklich ſehr glücklich, fchrieb er im Frühjahr 1821 an feine ältefte Zochter und deren Mann, dag Euch die Jugendjahre fo unbefümmert gegönnt find; ich habe ein rauhes Leben durchlebt, und nur’ felten find freie, forgenlofe Stunden mir zu Theil geworden, in Demuth habe ich Gottes Führung für fo weit zu. loben und in feine Hände ftelle ih die Zukunft, mein Wille ift auf Stille und Ruhe gerichtet. . Nicht arbeitlod will ich fein, aber der Richtung, die im Inneren mei- ner Eeele ift, möchte ich folgen können und die Weltunruhen möchte ih nah und nach aus Geift und Herz tilgen, um bereit zu fein, wenn alle Rechnungen hienieden getilgt werden müffen. | Carolinens Hoffnung, die fpäteren Jahre ihres Lebens in ruhi« gem Zufammenfein mit Perthes und an demfelben Orte mit ihren verheiratheten Töchtern zuzubringen,, ging nicht in Erfüllung. Im Frühling 1821 hatte die Krankheit des Herzen® und der Nerven fich bis zu einem ſchwer zu tragenden Grade gefteigert. Dein Blut ift unruhig, fchrieb fie im April, und meine Nerven müde und krank dad Athmen wird mir fehr fehwer; das ift fein guter Zuftand; Dr.

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Schröder verſucht hier und da zu helfen, aber noch hat er die rechte Dofe nicht gefunden. Ich trinke nun Geilnauer Waſſer, fchrieb fie einige Wochen fpäter, und bin alle Morgen von 6 bis 8 Uhr im Garten; wer mich dort befuhen will, ſoll willflommen fein. Id made, wenn ic) allein umherwandele, allerlei Reifen in Gedanken und fpreche oftmals bei Euch vor, Ihr lieben Kinder. In den eriten Wochen des Suni, am Tage nad dem Pfingftfefte, wurde fie durch heftige innere Krampfanfälle, denen ein nervöſes Fieber folgte, dem Tode nahe gebracht und war ſich der Gefahr ihrer Lage deutlich bewußt. Sch bin müde und matt, fchrieb fie, als die augenblidliche Gefahr der Krankheit noch einmal gebrochen war; wenn Du mid nur einmal anfehen fönnteft, fo würdeit Du willen, was die Glode gefchlagen hat. Nun laffe ich mich hegen und pflegen, was Mathilde mit findlicher Liebe, mit Verftand und Beionnenheit thut in Eurer aller Namen. Ich habe Dich, mein lieber Matthiad, fehr viel um und bei mir gehabt und Dir oftmald einen guten Morgen und Abend gefagt. Gott fei Dank, daß ich- mit fröhlicher Hoffnung an Dich den- ten fann! Einmal im Fieber glaubte ich, Du mwäreft fatholifch gewor den; mir war doch wunderlich dabei zu Muthe und ift mir aub noch lieber, daß es nicht wahr ift.

Mit den legten Stunden ded Menfhen hatte Caroline fich ihr ganzes Leben hindurch oft und ernft beichäftigt. Der Tod war ihr immer eine fehr große und fehr betrübte Sache gewelen, aber viel- leicht nie hatte fie vor dem Sterben das tiefe innere Graufen empfun- den, welches oft auch fromme Dienfchen erfüllt und von welchem die Menge nur dedhalb nicht? fühlt, weil fie in einem Leichtfinn dahin lebt, deifen Größe niemand begreifen fönnte, wenn ihn nicht jeder mit mehr oder weniger Unterbrechungen in feiner eigenen Bruft trüge. In den vielen Briefen, in denen Caroline fi} über den Tod ihr na heſtehender Menfchen äußerte, fpricht fich zwar immer tiefe Betrübnig, aber nie Entfegen, fondern Ruhe und Ergebung aud. Heute habe ich wieder, fehrieb fie einmal, einen Sterbetag im Andenken: vor zehn Jahren ging mein lieber Johanne® von und. Die lange Zeit hin- durch fonnte ih ihn Gottlob lieb haben, aber leider nichtd von ihm hören und jehen, und mer weiß, ob er mich nod) lieb haben Tann.

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Kindes» und Mutterverhältnis hört doch im Himmel auf, glaube ich, aber Gott wird e8 wohl machen, wie e8 und gut und aud) lieb ift. Schwer ift ed für den Zurücdgebliebenen, heißt ed ein andereömal, der mit einem Herzen voll Liebe und Sehnfucht über Himmel und Erde hinaus lieb hat, nun nichts zu hören und zu fehen von den lieben ‚Borangegangenen. Wie tief und lebendig fühle ih das, wenn id) mit meinem Mutterherzen an meine lieben Kinder im Himmel denfe! Ich kann mir auch nicht verwehren zu fragen, warum unfer himm- lifcher Bater fo hart e8 eingerichtet hat, aber gewißlich recht feit und getroft halte ich mich auch ohne Antwort daran, daß es alfo fein Wille ift und daß er nur gutes für und wollen fann, wenn ed und auch nicht ſchmeckt. -Die alte Frau N. ift geftern, heißt e8 in einem anderen Briefe, fanft eingefchlafen. Ich freue mich von Herzen, daß fie fertig ift; fie fonnte von außen hier nicht® mehr haben und wurde durch ihre große Schwäche und Dämmrigfeit menfchlihen Anſehen nach auch gehindert, rechte Freudigkeit und Troft in Gott zu finden. Nun ift, willd Gott, die Liebe, die hier in ihr fchlief, aufgewacht und ift nicht mehr durch taufend Kleinigkeiten gehemmt und gebun- den. Ich habe fehr ernfte Stunden an S.'s Sterbebett gehabt, ſchrieb fie nach einem anderen Todesfalle; er ift ungewöhnlich ruhig, gottergeben und mit vollem Bewußtfein geftorben. Ich habe mid gefreut, ihn ruhig und ftill als Leiche liegen zu fehen, ohne hujten zu müffen und ohne fih um Luft zu quälen. Es ift wunderbar, daf, wie ich fchon oft bemerkt habe, der Tod die Stirne fo hoch, hell und rein macht. Auch S.'s Stirne war nah dem Tode ungewöhnlich - ſchön, obfchon fie ed im Leben doch gewißlich nicht gemefen iſt. Als im December 1819 die Nachricht von dem Tode ded Grafen Friedrich Leopold Stolberg eingetroffen war, fchrieb Caroline an ihre ältefte Tochter: Das liebe, engelreine Gemüth wird nun Gott ſchauen, das glaube ih gewißlih, aber wir haben hier einen fehr lieben Freund weniger. Noch in dem lebten Monat hat Etolberg ein Büch⸗ lein gefchrieben von der Liebe; das war eine fehöne Vorbereitung, um der ewigen Liebe näher zu fommen. Gott helfe ung allen, daß die Liebe zu Gott reiner und tröftender in und werden möge; dann mag fommen, was da will. Wie gerne wäre ih an Etolberg’8 Kranfen-

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bett und Sterbebett geweſen; einen größeren Troſt und eine größere Freude gibt es hier auf dieſer Welt nicht, als einen Menſchen mit vol⸗ lem Bewußtſein ruhig und freudig im Glauben an Gottes Barın- herzigkeit fterben zu fehen. Liebe Agnes, wir haben e3 ja einmal recht fichtbar erlebt an meinem lieben feligen Bater. Weißt Du noch, wie wunderfchön feine Augen waren in den legten Stunden bis zur legten Minute?

Weil aber Caroline vor dem Sterben fein Grauen hatte, war ihr das Leben nicht weniger eine Freude. Wenn man einen Berg im Leben hinter fih hat, fehrieb fie im Frühjahr 1821 an ihre Tod ter Luife, fo glaubt man anfangs, man fei nun über alle Berge und fei im fiheren Hafen zu ewigen Tagen; wenigſtens ift e8 mir oft jo gegangen, und ed famen doch noch immer kleine Hügel und grofe Berge, über die man muß, bis man den legten erftiegen hat und aller Fehd ein Ende ift. Aber trog aller Berge ift mir dad Leben lieb und werth, und wenn es Gottes Wille ift, möchte ich fehr gerne nob mit meinem lieben PBerthed und Euch allen zufammenleben, befonder wenn eine Zeit käme, in welcher Perthes etwas mehr Ruhe hätte und mehr mit mir fein könnte. Dann wünſchte ih mir aber aus einen etwas längeren Athem, damit ich mit Euch gehen und mid mit Eudy unfere® Leben? freuen fünnte. Ich weiß, mad Gott mir gegeben hat und was ich habe, heißt es in einem anderen Briefe; möchte es Gott gefallen, und noch eine Weile zufammen zu lajlen; ich kann nicht helfen, ich habe große Luft. Es foll wohl nicht fein, ſchrieb fie bald darauf, aber oftmald kommt ed und doch in den Sinn, die Jahre feithalten zu mögen. Gott kann und im Himmel gewiß nitht weniger gutes geben, al® er und bier gibt, aber dad Gute auf diefer Welt fehen mir mit unferen Augen und tragen es auch lebendiger im Herzen ald die Ahnung des noch Beileren, mad unferer im Himmel wartet. Doch fönnen wir auch hier große und un- begreiflich fichere und felige Augenblide haben, wenn wir fie nur feſt⸗ zubalten vermöchten, aber daß ich nicht Herr meine? eigenen Herzen? zu allen Zeiten fein kann, das ift der eigentliche Jammer, umd der größte Troft ift, daß Gott mich ganz und gar fennt und fieht. Ich will doch gewiß auch gerne viel mehr, als ich Tann.

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Mitte Juli ward Caroline nah Wandsbek gebracht, um der Unruhe des Haufes überhoben zu fein und fich in der Luft beivegen zu fünnen, ohne die Beſchwerde der Treppen zu haben. Es waren ſchwere Wochen, die fie jetzt erlebte, beängftet durch die Beſchwerde des Athmens und des Krampfes in der Bruft. Wenn ich ganz ftille fiße, fo bin ich gut zu Muthe und frifh und fröhlich bei dem herrli— lichen Wetter, vergeife auch wirklich mein Leid, aber wenn ich bie ge- tingfte Bewegung mache, werde ich fehr empfindlich daran erinnert. Nun ift ed, heißt es ein anderedmal, faft ein Vierteljahr, daß ich für Haus, Kühe und Keller nicht? habe thun können, und da? ift wirl- lich ſehr betrübt ; ich fehne mich unbejchreiblich, mein Amt wieder mit friſchem und fröhlichen Muthe übernehmen und verwalten zu können, auch meinem lieben Perthed fein Leid durch mein Krankfein. länger anzuthbun. Noch mag ich gar nicht? arbeiten, nicht einmal ftriden, auch leſen kann ich nicht und muß mic) ſo von einer Stunde zur an⸗ deren hinfchleppen; doch habe ich feine lange. Weile und bin vergnüg- ih zu Muthe. Ich darf Dir nicht mehr fehreiben, mein liebes Kind; nicht meinem Herzen, aber meinem Kopfe ift es läftig. _ Nur iwe- nige Zeilen noch vermochte fie den entfernten Kindern zu ſchicken, aber auch dieſe zeigen, daß die Liebe in ihrem Herzen durch Feine Noth des Körpers verdunfelt werden konnte. Mit der ganzen früheren Wärme gab fie fich der Freude und dem Danfe hin, als ihr im Juli der zweite Enkel, Bernhard, geboren ward. Gott helfe den armen Men- hen, fchrieb fie einmal, die nicht Tieb haben fönnen. hr glüdlichen lieben Kinder, hatte fie kurz vorher gefchrieben, wie gern bin ich Eure Mutter und wie freue ich mich Eure? Leben?!

Unfern Hochzeittag haben wir am 2. Auguft, fehrieb fie in dem legten Brief an ihren Sohn nad Tübingen, in Wandsbeck auf eigene Hand fehr vergnügt und glüdlich verlebt; ih bin mit Hilfe vieler Zeit und eine? Stuhls zum Ausruhen mit meinem lieben Bräutigam rund um die fhöne große Wiefe gegangen und kann nicht aufhören, Gott zu danken für diefen glüdfeligen Gang. Wir waren allein; feit Jah⸗ ven hatte ich mit Perthes einen folchen Gang nicht gemacht; unfer Gefpräh war weit umfaſſend und fühn, da nicht nur die Vergangen-

heit, fondern auch die Zukunft unfer war. Euer aller wurde gedacht. Perthes' Leben. TI. 4, Aufl. 29

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An dem köorperlichen Zuſtande beſſerte der Aufenthalt in Wandsbed nichts. Wie gerne möchte ih Dir ſagen konnen, ſchrieb Caroline am 8. Auguft an Perthes, daß ich ganz frifeh und fröhlich wäre, aber ih Tann es nicht. Friſch fühle ich mich nicht, vergnügt bin ich wohl, aber doch nicht fröhlich. Doch vielfeicht wäre ich ed, wenn ich draußen im Freien auf meiner Bank figen könnte; denn dort könnte ich der Freude nicht widerftehen und müßte mit fort: aber zwifchen Wänden und Mauern komme ich .nicht fo leicht aud mir und meinem kurzen Athem heraus. Doch vielleicht gibt Gott morgen dem Doctor den red. ten Gedanken; alle Hauptfachen an meinem Körper find noch feft und aefund, und das eine Uebel wird doc zu finden fein, ich habe ein immerwäbhrendes Gefühl, daß ich ganz und gar wieder frifch werden kann, obſchon der Verftand mitunter etwas anderes fagt. Wenige Tage fpäter mußte Caroline, um dem Arzte näher zu fein, vwoieder nach Hamburg gebracht werden, und die Hoffnung auf Genefung fra mit jedem Tage mehr zurüd. Die nächfte Nähe ded Todes fühlte Ca roline wohl nicht, wenigftend nicht dauernd, aber diefe Iegten Tage waren ein erhöhtes Leben mit Gott. Bor allem dad alte Kirchen lied: „Herr, auf dein Wort folld fein gewagt‘, füllte ihr Herz und Sinn aud; wenn ed dem durch Förperliche Leiden und Fieberunruk geängfteten Geiſte ſchwer ward, den troftvollen und entichloffenen Ir halt des Liedes feftzuhalten, nahm fie wohl die Feder zur Hilfe, ſchrich einzelne Verſe auf, um durch die fchreibende Hand dem Geiſte in der Feftbaltung der betenden Worte zu Hilfe zu kommen.

Perthed hatte den ganzen Ernft der Rage erfannt. Lange habe ich gelitten um ihretwillen, jchrieb er etwas fpäter, feit vielen Mo naten fehon den tiefften Schmerz durchfühlt; meine .einfamen Spazier⸗ gänge waren ohne Ausnahme erfüllt mit der ſchweren Arbeit, mid befannt zu machen mit dem, was mir bevorfland, und mit der An- firengung , mich durch Gottes Hilfe vorzubereiten. Smmer und im mer wieder fam die Hoffnung, und immer wieder mußte ich fie auf geben. Wer wie ich wußte, welche ſchwere Feſſeln ihrem innigen, rafchen Leben durch einen mühfeligen Körper angelegt waren, Tonnte nieht glauben, daß eine folche Einkerferung von langer Dauer fein werde. Sie hat viel gelitten feit langer Zeit, und ed war ein harter

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Kampf für eine fo über alled rege Phantafie, für einen fo nach freier Bewegung dürftenden Geift, für ein fo kraftvoll thätige® Gemüth, fi immer gehalten, gelähmt und gefeifelt zu fühlen. Nur ihr echtes und lebendiged Chriftentbum und das Aufrichten der eigenen Kraft an dem Leiden unferes Herrn hielt fie, machte fie geduldig, ja heiter, und ließ fie ihre Liebe und Freundlichfeit nach wie vor rund um fi mittheilen. Eigentlich nur ich wußte, wie frank fie war und wie viel fie litt; Freunde und Belannte fühlten nur Ihre Freundlichteit und die Kraft ihres Geiſtes.

Am Freitag den 24. Auguft liegen heftige Anfälle inneren Kram⸗ pfes ein augenblidliches Ende fürchten ; heftige Fieberphantafien und äußerfte Kraftlofigfeit, Angft um Luft und tiefer Schlaf wechfelten feit diefem Tage mit einander ab: aber mitten in aller Noth erfchienen einzelne Stunden Törperlicher Leidlofigkeit und. hellen Bewußtſeins, und dann war fiegend über Noth und Tod die Ruhe des Glaubens, die Sicherheit der Hoffnung und die Freundlichkeit der Liebe -über dem Sterbebette audgebreitet. Perthes befand fich während diejer legten Tage in einem Zuftande gewaltfamer Ergebung und aufgeregtefter Ruhe. Eure Mutter ift fehr Frank, fehrieb er am Morgen des 28. Au⸗ guft an feine beiden Schwiegerfühne nach Gotha; wir ftehen in Got- te8 Hand; wir dürfen hoffen, aber wir haben mehr Urfache zu fürch⸗ ten. Mein Troft, meine Haltung befteht in Ergebung Herr, dein Wille gefchehe! Hält Gott den Tod der frommen Mutter an der Zeit jein Wille gefchehe, wohl maße ich mir nicht zu viel Stärfe an. Dad Zerreißen der Liebe wird ſchrecklich fein, noch ſchrecklicher das Entbeh- ren deren, die allein mich ganz fennt. Eine öde, traurige Einfam- feit, kurz oder lang, bleibt nah; fein Troft der Mitthätigkeit, fein Beiftand in Freud’ und Leid. Hoffen fann und darf ich nicht; nur wenn ich mich in dad Schredlichfte ganz und gar ergebe, finde ih Hal⸗ tung und Troft. Am Abend desfelben Tages, an welchem diejer Brief gefchrieben war, am 28. Auguft 1821, kurz nach 9 Uhr, machte ein Nervenfchlag dem frommen Leben fo plöglich ein Ende, daß kein Drud der Hand, fein Wort, kein Blid der Liebe den Umſtehenden ala Abjchiedsgruß zu Theil ward. Ohne erzwungene Refignation und ohne irgend eine Anftrengung, fich ftärfer zu machen, als e8 dem

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Menfchen geftattet ift, gab Perthed fih dem warmen Schyerze hin, der bei einem großen Berlufte fo natürlich jcheint und dennoch außer dem Chriftenleben nicht gefunden werden fann, weil er Ergebung und Hoffnung zu feiner Boraudfeßung hat. Nun ftehe ih da mit meinen armen Kindern, fchrieb Perthed am folgenden Morgen an feinen Schwiegerſohn, und öde und leer ift ed, und wir ſuchen die Fülle der Liebe, welche fo überſchwenglich und zu Theil geworden ift, und dod, fönnen wir, nur damit ich meine Caroline und Ahr Eure Mutter wie der habt, wünfchen, daß diefer freie fromme Geift in den Kerker die ſes Körpers zurüdtehre? Meine armen Kinder, meine armen Meinen Kinder! Ihr älteren habt den Geift der Mutter erfahren, aber dieſe Liebe, diefer Geift wird den jüngeren nun niemald nahe treten. Gott wolle ihnen helfen und mir; es zerreißt das Herz, Die Stleinen zu ſehen, wie fie nach der Mutter fuchen bier und dort, und zu höre, wie fie jammern, wenn fie fie nicht finden. Unausſprechlich fchön iſ die Leiche durch die Hoheit der Stine und durch das freundlich Tiebevolke Lächeln um den Mund. Ihre Kiebe, fchrieb Perthed an demfelben Tage feinem Sohn nad) Tübingen, fann nur von oben und noch wohl thun; fie ift felig bei Gott, wir aber trauern. Weine Dich aus, weine, fammle Dich, falle Dih, und fobald Du da3 gethban haft, komme zu und. Mein Echmerz macht mich nicht unmuthig, fchrieb Per the® einige Tage fpäter an feine Töchter, ich möchte vielmehr Liebe geben und möchte helfen rund um mid). her, fo weit ic) irgend reichen kann. Auch habe ich viele Urfahe zum Dank; vierundzwanzig Jahre ſchenkte mir Gott, um fie mit diefem Reichthum an Liebe, Kraft und Geiſt zu durchleben. Gott fei gelobt dafür! Nun weiß fie, wo und wie ich fünbigte, was fie hier jo nicht willen konnte, aber nun fennt fie auch ganz dad Map meiner Liebe. Wie viele Schranken, Hem- mungen und Zufälligfeiten, groß und Mein, ftehen auf Erden im Wege und hindern den Menfchen zu erfennen, was an Geiftesfiebe in anderen Menichen lebt. Daß fie nun mich kennt ganz und gar und mir hilft, mi) an Gott zu halten zu aller Zeit und in feiner Gegen wart zu wandeln, das glaube ich, weil ich nicht anders kann, ob ſchon ich weiß, daß die Offenbarung diefen Glauben durch keine be ſtimmte Ausfagen ftügt. AU mein Thun und Treiben, ſchrieb Per⸗

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thed bald darauf an feine entfernten Kinder, hatte, fo weit ed nicht Berufsfache war, feit vierundzwanzig Jahren allein Bezug auf Eure Mutter. Sie hat e3 nicht gewußt, wie fehr ih von ihr abhängig war, fie hat es nicht im einzelnen erfannit, fondern nur allgemein an der Innigfeit ihrer Liebe zu mir gefühlt, welche Opfer ich meiner Natur und meinem Temperament nach diefer Abhängigkeit in Liebe gebracht habe. Jetzt ift das alles fort, fein Band bindet mich; ich fann thun, was ich will. Nächft der Sehnfucht in dem Alleinfein drüdt mich dieſes widrige Gefühl der Freiheit am meiften. Ich Tenne aus langer Erfahrung die Grundlofigkeit des Menfchen, der allein fich ſelbſt überlaffen ift, und wenn Demuth die Hilfe des Helferd erzwin⸗ gen Tann, fo darf ich hoffen, daß fie mir werde. Wäret Ihr Kinder nit, fo ginge mein Wunſch nad) Jenſeits, aber mein Weg ift noch nicht vollendet und ich muß in Kampf und That weiter vorwärtd. Es ift, heißt es in einem Briefe an den Sohn in Tübingen, fehr öde und tief traurig in meinem Herzen und oft gebricht e8 meiner Seele an.Kraft, das Herz, das fich fehnt nah Mittheilung an ein liebendes Gemüth, zu beruhigen und es zu ftillen, fo daß es fich begnügt, dem Unfichtbaren fich mitzutheilen. Dazu wird oft die Angft im Innern faut, daß mit der Linderung des brennenden Schmerzes durch die Zeit auch an dem inneren Leben der Liebe zu Eurer Mutter vielce dumpf und ftumpf werden könnte. Jetzt bin ich, heißt ed dagegen einige Wochen fpäter, ruhiger über den Uebergang von der Sehn- ſucht, die aus dem zeitlichen Entbehren flammt und nicht bleiben kann und nicht bleiben foll, zu dem Kortleben mit der Geliebten, die ih in nächſter Nähe Gottes und unſeres Herm weiß und glaube: Den Frieden Gottes, der die einzige Ruhe unferer Seele iſt, hoffe ich gefunden zu haben.

In einem Briefe an die Schweſter Friedrich Heinrich Jacobi's, Helene, welche eine mütterliche Freundin Carolinens von deren Mäd- henjahren an geweſen war, brachte fich Perthes die Größe des Se⸗ gens, den er in Caroline befefien hatte, lebendig vor die Seele. Sie, haben, meine mütterliche Freundin, fehrieb er, den Werth meiner Caroline früh ſchon erfannt, aber Sie haben aus der Ferne micht die hohe Ausbildung ihres Innern in den fpäteren Jahren erfahren kön⸗

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nen. Garolinens frommer, demüthiger Sinn, ihr einfaches und ein- fältige8 Sein blieb unberührt durch die Jahre, die Innigkeit ihrer Liebe behielt die ganze frühere Stärke und Tiefe, breitete fich aber in immer größere Kreife aud und wurde fegendvoll und wohlthuend für alled, was in ihren Bereich fam. Troſt, Rath und That wurde allen, die fih ihr naheten, und dafür wurde ihr Gegenliebe zu Theil und eine Achtung, die an Ehrfurdt grenzte, von Männern und Frauen der verfchiedenften Art und der verfchiedenften Stände. Carolinend Phantafie war von einer mir in der Stärke nie vorgefommenen eb: haftigkeit und rief eine feelenvolle Theilnahme an allem, was die Welt und deren Getriebe bot, hervor. Der Reichthum ihres Geiftes batte große Erfahrungen gemacht und tiefe Blide in den Menſchen und in die menjchlichen Berhältniffe gethan, aber in ihrem Urtbeile war überall Liebe und Milde, die Sicherheit des Glaubens hatte jie von aller Aengftlichkeit gegen den Buchftaben lo8 gemacht und ihr menſchlichen Meinungen und Anfichten gegenüber die vollfte Freiheit und Unabhängigkeit gegeben; fo fehr fie mich liebte, fo frei und uw abhängig ftand fie doch meinem Geifte gegenüber. Vierundzwanzig Fahre, erfüllt mit Unruhen und Sorgen, zum Theil mit Kummer und Angft, hat fie mit mir durdhlebt, aber glücklich war fie ftetd ın diefem langen Zeitraum, denn jeder Augenblid war mit Liebe und lebendiger Theilnahme erfüllt; da8 Unabwendbare trug fie mit Hin gebung; in den großen Momenten der Zeit hat fie Heldenmuth be währt. Bei der tiefen Innigkeit ihred Gemüthed und bei der Kraft und dem Reichthum ihres Geiftes war ihr die Armuth des Herzend, wie Taulerus und Thomas a Kempis fie preifen, zu eigen; fie hat ſich diefelbe im Kampfe mit einer fraftvollen Natur, die Leidenfchaft, Hef tigkeit und Ehrgeiz wohl gefannt hatte, errungen durch die Wahrheit und Treue ihres Glaubens; von frühefter Jugend an hatte fie im fteten Umgang mit Gott gelebt und wahrhaft war fie, wie es felten Menfchen find. Diefes feltene große Gut ift nun für mich ins Grab geſunken, verlaffen fehne ich mich und ftrede die Arme aus; menſch lich geredet, bin ich allein und doch ahne ich einen früher ungekann⸗ ten Reichthum, feitdem diefe Seele meiner Seele mir feifellos nahe

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ift überall. Doch davon läßt fich nicht reden, weil es, audgefprochen, unwahr wird.

Doppelt ſchwer fühlte Perthes feit Carolinen® Tode das nie rus hende Getriebe des Geſchäftslebens, und für die Kinder ohne Mutter war ein einfacherer Haushalt und ein ftillered Leben faft nothwendig. Seit Jahren ſchon hatte er die Mebertragung der Hamburger Hand- lung auf Beffer und die Verlegung feines eigenen Wohnfiged nad Gotha vorbereitet. Dort in der Mitte Deutfchlande wollte er ein Verlagsgeſchäft gründen und fünftig ausſchließlich diefem weniger unruhigen und weniger aufreibenden Berufe leben. Nach Carolinens Zode faßte er den Entſchluß, das lange gehegte Borhaben zu befchleu- nigen. Nächfte Oftern werden wir zu Euch kommen, fehrieb er be- reit3 in den erften Tagen ded September? nach Gotha, und, fo Gott will, bei uch bleiben. Es ift nicht ein Entfchluß, den mir die Auf- regung des Gefühl entriffen hat, fondern er ift ruhig überlegt, ift verftändig und nothwendig. Der ordentlihe Haushalt Fönnte zwar, jchrieb er etwas fpäter, ordentlich fortgeführt werden; Mas thilde ift tüchtig und verftändig genug. Sie hat weit über ihre Jahre mit Kraft, Befonnenheit und Tüchtigfeit während der Krankheit der Mutter geleiftet, wa? Liebe ihr eingab, und die Mutter war laut dankbar bis in die leßten Stunden. Auch jebt führt fie ihre ſchwere Aufgabe den Fleineren Kindern und dem großen Haushalt gegenüber mit Befonnenheit, Entfchloffenheit und Feftigfeit dur), aber abge- fehen von allem anderem würde ih), wenn ich bliebe, ein Unrecht ges gen Mathilde begehen, ich würde ihre Jugend brechen und das fie- benzehnjährige Mädchen hart und barfch durch das frühe Regiment- führen machen.

Die Wintermonate von 1821 auf 1822 waren mit den Arbei- ten erfüllt, die für Perthes nöthig waren, um fi) aus dem Gefchäfte zu löfen und die Ueberfiedelung nach dem neuen Wohnort möglich zu machen. Maufe, melcher fchon lange die Laft und die Sorge des großen Geſchäfts mitgetragen hatte, wurde als Theilnehmer in die Handlung aufgenommen und alle Berhältniffe in einen vorläufigen Stand gefeßt, aus welchem, wenn da8 Borhaben in Gotha nicht midlang, leicht zu einem feiten und dauernden Abſchluß zu gelangen

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war. Es iſt freilih ein Berg, der fich aufthürmt, fchrieb Perthes im Februar 1822 an feine Tochter Agned, wenn eine dreißigjährige Einlebung aufhören joll, aber nimmt man nur richtig jedes einzelne, dad eine nach dem andern, vor, fo geht alled. Und wie ift es, wenn man ftirbt? Scheint nicht alled unauflößbar? meint man nidt, es müßte alles darunter und-darüber gehen? und dennoch lebt alles fort, wie wenn dad Rad, welches abgerollt ift, nie dageweſen wäre. Man hält ſich ſelbſt immer für zu wichtig in feinem Kreife, groß oder fein; nur abgefchnitten den Faden; man ift jo unentbehrlich nicht. Tiefer ald das allmähliche Auöfcheiden aus den Gefchäften traf die Ablöſung von allen den Berhältniffen das Her}, in denen Verthei vom Sünglinge zum Manne erwachfen und ald Mann den vollen Schmerz und die volle Luſt des Lebens erfahren, in denen er gelit- ten und gefchaffen, gerungen und genofjen hatte. Wie Weihnachten und Neujahr von mir durchlebt, fehrieb er im Januar, erlaffe mirzı fagen; es waren harte, ſehr harte Tage und fehr harte Tage fichen mir noch bevor. Jeder Tritt, jede Bewegung, jeder Yederzug, den id thue, ruft mir in da® Herz: zuleßt.. Dreißig Jahre meines Lebens - und Wirkend verlebte ih in diefen Umgebungen; bier wurde mir alles, was mir theuer war; bier wurde mir Beruf, Wirkfamteit und Achtung; bier hatte ih Caroline, bier fand ih Gott. Das Scheiden von Haus und Stadt, von Menfchen und Verhältmiſſen, mit denen mein eigene? Leben zu einem einzigen Ganzen verwachſen war während fo langer Zeit, ift fein Leichtes und hat mich tief ergrif fen, und es ift fehr nöthig, daß ich mich feft und gefchloffen halte; denn ih foll nicht nur mich felbit in diefem Schiffbruche halten, fon- dern auch anderen ein feſtes Herz zeigen, das aber auch wieder fein hartes und falted werden darf. Nah außen zügele ich mich fireng, Gott wolle mir im Innern helfen. Bor einer Stunde hat Eure Großmutter aus Wandsbeck, jchrieb cr Ende Februar, zum legten mal unfer Haus verlaffen, mo fie fo viele Tage der Freude, dei Kummers, ber Sorge, der Angft und ded Schmerzed durchlebt hat. Hier ftarben zwei ihrer Enkel, von hier fah fie und vertrieben in die weite Welt ziehen, in diefen Zimmern ftarb ihr Mann, ftarb ihre Tochter und in wenigen Wochen ift unfere Stätte nicht mehr zu fin-

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den. Wenn ein fo tiefed® Gefühl, das in gewöhnlichen Tagen fich feſt verfchließt, wenn ein ſolches Herz, das jugendliche Kraft im bo- hen Alter hat, fich dem tiefften Schmerze laut und rückſichtslos er- gibt, fo iſt es ſchwer, nicht alle Haltung zu verlieren. Es war eine der bärteften, fchmerzenreichften Stunden meine? Lebende. We- nige Tage vor dem Scheiden von Hamburg fchrieb Perthed an die Gräfin Luife Stolberg als Abſchiedswort: Die Tage find da, in de- nen ich auf immer Haus und Ort verlaffen foll, wo mir, fo weit e8 hienieden möglich ift, der Segen eine® inneren Leben? durch Liebe und Geift zu Theil geworden ift. Mein Herz ift in Sammer verfunfen und ih vertraue in Demuth, daß Kraft mir gegeben werde. Ahnen, meine geliebte, theure mütterliche Freundin, reiche ich noch einmal aus alten Verhältniffen und Umgebungen die Hand. Wie oft hat meine felige Caroline die Feder angefept, um Ihnen ein Lebewohl zu jagen, aber fie vermochte es nicht, tief hatte fie Ihre Liebe erkannt und mit Liebe gelohnt; das wiſſen Sie auch von mir. Laffen Sie und fefthalten am Glauben, bis auch wir verfammelt find in den Woh- nungen des Frieden! und ded Schauen?!

Am Mittwoch den 20. März 1822 verließ Perthed mit feinen vier Kindern Hamburg und langte am Diontag den 25. März in Go⸗ tha an, wo, wie er hoffte, ein nicht unthätiges aber ruhige? und ftille® Leben feiner wartete.

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Druck von Ir. Krommann in Jena.

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