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San Fernando de Apure. — Verſchlingungen und Gabelteilungen der Flüſſe Apure und Arauca. — Fahrt auf dem Rio Apure. Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts waren die großen Flüſſe Apure, Payara, Arauca und Meta in Europa kaum dem Namen nach bekannt, ja, weniger als in den vorhergehenden Jahrhunderten, als der tapfere Felipe de Urre und die Eroberer von Tocuyo durch die Llanos zogen, um jenſeits des Apure die große Stadt des Dorado und das reiche Land Omaguas, das Timbuktu des neuen Kontinentes, aufzuſuchen. So kühne Züge waren nur in voller Kriegs— rüſtung auszuführen. Auch wurden die Waffen, die nur die neuen Anſiedler ſchützen ſollten, beſtändig wider die unglück— lichen Eingeborenen gekehrt. Als dieſen Zeiten der Gewalt— thätigkeit und der allgemeinen Not friedlichere Zeiten folgten, machten ſich zwei mächtige indianiſche Volksſtämme, die Cabres und die Kariben vom Orinoko, zu Herren des Landes, welches, die Konquiſtadoren jetzt nicht mehr verheerten. Von nun an war es nur noch armen Mönchen geſtattet, ſüdlich von den Steppen den Fuß zu ſetzen. Jenſeits des Uritucu begann für die ſpaniſchen Anſiedler eine neue Welt, und die Nach— kommen der unerſchrockenen Krieger, die von Peru bis zu den Küſten von Neugranada und an den Amazonenſtrom alles Land erobert hatten, kannten nicht die Wege, die von Coro an den Rio Meta führen. Das Küſtenland von Venezuela blieb iſoliert, und mit den langſamen Eroberungen der Miſ— ſionäre von der Geſellſchaft Jeſu wollte es nur längs der Ufer des Orinoko glücken. Dieſe Väter waren bereits bis über die Katarakte von Atures und Maypures hinausge— drungen, als die andaluſiſchen Kapuziner von der Küſte und den Thälern von Aragua aus kaum die Ebenen von Calabozo erreicht hatten. Aus den verſchiedenen Ordensregeln läßt ſich a ER ein ſolcher Kontraſt nicht wohl erklären; vielmehr iſt der Charakter des Landes ein Hauptmoment, ob die Miſſionen raſchere oder langſamere Fortſchritte machen. Mitten im Lande, in Gebirgen oder auf Steppen, überall, wo ſie nicht am ſelben Fluſſe fortgehen, dringen fie nur langjam vor. Man ſollte es kaum glauben, daß die Stadt San Fernando am Apure, die in gerader Linie nur 225 km von dem am früheſten be⸗ völkerten Küſtenſtrich von Caracas liegt, erſt im Jahre 1789 gegründet worden iſt. Man zeigte uns ein Pergament voll hübſcher Malereien, die Stiftungsurkunde der kleinen Stadt. Dieſelbe war auf Anſuchen der Mönche aus Madrid gekommen, als man noch nichts ſah als ein paar Rohrhütten um ein großes, mitten im Flecken aufgerichtetes Kreuz. Da die Miſ— ſionäre und die weltlichen oberſten Behörden gleiches inter: eſſe haben, in Europa ihre Bemühungen für Förderung der Kultur und der Bevölkerung in den Provinzen über dem Meer in übertriebenem Lichte erſcheinen zu laſſen, ſo kommt es oft vor, daß Stadt- und Dorfnamen lange vor der wirklichen Gründung in der Liſte der neuen Eroberungen aufgeführt werden. Wir werden an den Ufern des Orinoko und des Caſſiquiare dergleichen Ortſchaften nennen, die längſt pro— jektiert waren, aber nie anderswo ſtanden als auf den in Rom und Madrid geſtochenen Miſſionskarten. San Fernando, an einem großen ſchiffbaren Strome, nahe bei der Einmündung eines anderen, der die ganze Provinz Varinas durchzieht, iſt für den Handel ungemein günſtig ge— legen. Alle Produkte dieſer Provinz, Häute, Kakao, Baum⸗ wolle, der Indigo von Mijagual, der ausgezeichnet gut iſt, gehen über dieſe Stadt nach den Mündungen des Orinoko. In der Regenzeit kommen große Fahrzeuge von Angoſtura nach San Francisco herauf, ſowie auf dem Rio Santo Do— mingo nach Torunos, dem Hafen der Stadt Varinas. Um dieſe Zeit treten die Flüſſe aus, und zwiſchen dem Apure, dem Capanaparo und Sinaruco bildet ſich dann ein wahres Labyrinth von Verzweigungen, das über eine Fläche Landes von 8100 qkm reicht. Hier iſt der Punkt, wo der Orinoko, nicht wegen naher Berge, ſondern durch das Gefälle der Gegenhänge ſeinen Lauf ändert und ſofort, ſtatt wie bisher die Richtung eines Meridians zu verfolgen, oſtwärts fließt. Betrachtet man die Erdoberfläche als einen vielſeitigen Körper mit verſchieden geneigten Flächen, ſo ſpringt ſchon bei einem Blick auf die Karten in die Augen, daß zwiſchen San — 5 — Fernando am Apure, Caycara und der Mündung des Meta drei Gehänge, die gegen Nord, Weſt und Süd anſteigen, ſich durchſchneiden, wodurch eine bedeutende Bodenſenkung ent— ſtehen mußte. In dieſem Becken ſteht in der Regenzeit das Waſſer 4 bis 4,5 m hoch auf den Grasfluren, ſo daß ſie einem mächtigen See gleichen. Die Dörfer und Höfe, die gleichſam auf Untiefen dieſes Sees liegen, ſtehen kaum 0,6 bis Um über dem Waſſer. Alles erinnert hier an die Ueber— ſchwemmung in Unterägypten und an die Laguna de Karayes, die früher bei den Geographen ſo vielberufen war, obgleich ſie nur ein paar Monate im Jahre beſteht. Das Austreten der Flüſſe Apure, Meta und Orinoko iſt ebenſo an eine be— ſtimmte Zeit gebunden. In der Regenzeit gehen die Pferde, welche in der Savanne wild leben, zu Hunderten zu Grunde, weil ſie die Plateaus oder die gewölbten Erhöhungen in den Llanos nicht erreichen konnten. Man ſieht die Stuten, hinter ihnen ihre Füllen, einen Teil des Tages herumſchwimmen und die Gräſer abweiden, die nur mit den Spitzen über das Waſſer reichen. Sie werden dabei von Krokodilen angefallen, und man ſieht nicht ſelten Pferde, die an den Schenkeln Spuren von den Zähnen dieſer fleiſchfreſſenden Reptilien aufzuweiſen haben. Die Aaſe von Pferden, Maultieren und Kühen ziehen zahlloſe Geier herbei. Die Zamuros! find die Ibis oder vielmehr Perenopterus des Landes. Sie haben ganz den Habitus des „Huhns der Pharaonen“ und leiſten den Be— wohnern der Llanos dieſelben Dienſte, wie der Vultur Per- enopterus den Aegyptern. Ueberdenkt man die Wirkungen dieſer Ueberſchwemmungen, ſo kann man nicht umhin, dabei zu verweilen, wie wunderbar biegſam die Organiſation der Tiere iſt, die der Menſch ſeiner Herrſchaft unterworfen hat. In Grönland frißt der Hund die Abfälle beim Fiſchfang, und gibt es keine Fiſche, ſo nährt er ſich von Seegras. Der Eſel und das Pferd, die aus den kalten, dürren Ebenen Hochaſiens ſtammen, begleiten den Men: ſchen in die Neue Welt, treten hier in den wilden Zuſtand zurück und friſten im heißen tropiſchen Klima ihr Leben unter Unruhe und Beſchwerden. Jetzt von übermäßiger Dürre und darauf von übermäßiger Näſſe geplagt, ſuchen ſie bald, um ihren Durſt zu löſchen, eine Lache auf dem kahlen, ſtaubigten Boden, bald flüchten ſie ſich vor den Waſſern der austretenden Vultur aura. . Flüſſe, vor einem Feinde, der ſie von allen Seiten umzingelt. Den Tag über werden Pferde, Maultiere und Rinder von Bremſen und Moskiten gepeinigt und bei Nacht von unge⸗ heuren Fledermäuſen angefallen, die ſich in ihren Rücken ein⸗ krallen und ihnen deſto ſchlimmere Wunden beibringen, da alsbald Milben und andere bösartige Inſekten in Menge hineinkommen. Zur Zeit der großen Dürre benagen die Maul: tiere ſogar den ganz mit Stacheln beſetzten Melokaktus, um zum erfriſchenden Saft und ſo gleichſam zu einer vegetabi— liſchen Waſſerquelle zu gelangen. Während der großen Ueber— ſchwemmungen leben dieſelben Tiere wahrhaft amphibiſch, in Geſellſchaft von Krokodilen, Waſſerſchlangen und Seekühen. Und dennoch erhält ſich, nach den unabänderlichen Geſetzen der Natur, ihre Stammart im Kampf mit den Elementen, mitten unter zahlloſen Plagen und Gefahren. Fällt das Waſſer wieder, kehren die Flüſſe in ihre Betten zurück, ſo überzieht ſich die Savanne mit zartem, angenehm duftendem Gras, und im Herzen des heißen Landſtrichs ſcheinen die Tiere des alten Europas und Hochaſiens in ihr Heimatland verſetzt zu ſein und ſich des neuen Frühlingsgrüns zu freuen. Während des hohen Waſſerſtandes gehen die Bewohner dieſer Länder, um die ſtarke Strömung und die gefährlichen Baumſtämme, die ſie treibt, zu vermeiden, in ihren Kanoen nicht in den Flußbetten hinauf, ſondern fahren über die Gras— fluren. Will man von San Fernando nach den Dörfern San Juan de Payara, San Raphael de Atamaica oder San Fran- cisco de Capanaparo, wendet man ſich gerade nach Süd, als führe man auf einem einzigen 90 km breiten Strome. Die Flüſſe Guarico, Apure, Cabullare und Arauca bilden da, wo ſie ſich in den Orinoko ergießen, 720 km von der Küſte von Guyana, eine Art Binnendelta, dergleichen die Hydro— graphie in der Alten Welt wenige aufzuweiſen hat. Nach der Höhe des Queckſilbers im Barometer hat der Apure von San Fernando bis zur See nur ein Gefälle von 66 m. Dieſer Fall iſt ſo unbedeutend als der von der Einmündung des Oſagefluſſes und des Miſſouri in den Miſſiſſippi bis zur Barre desſelben. Die Savannen in Niederlouiſiana erinnern N Ganz beſonders geſchickt wiſſen die Eſel ſich die Feuchtigkeit im Inneren des Cactus melocactus zu nutze zu machen. Sie ſtoßen die Stacheln mit den Füßen ab, und man ſieht welche infolge dieſes Verfahrens hinken. Di überhaupt in allen Stücken an die Savannen am unteren Orinoko. Wir hielten: uns 3 Tage in der kleinen Stadt San Francisco auf. Wir wohnten beim Miſſionär, einem ſehr wohlhabenden Kapuziner. Wir waren vom Biſchof von Ca— racas an ihn empfohlen, und er bewies uns die größte Auf— merkſamkeit und Gefälligkeit. Man hatte Uferbauten unter— nommen, damit der Fluß den Boden, auf dem die Stadt liegt, nicht unterwühlen könnte, und er zog mich deshalb zu Rat. Durch den Einfluß der Portugueſa in den Apure wird dieſer nach Südoſt gedrängt, und ſtatt dem Fluß freieren Lauf zu verſchaffen, hatte man Dämme und Deiche gebaut, um ihn einzuengen. Es war leicht vorauszuſagen, daß, wenn die Flüſſe ſtark austraten, dieſe Wehren um ſo ſchneller weg— geſchwemmt werden mußten, da man das Erdreich zu den Waſſerbauten hinter dem Damme genommen und ſo das Ufer geſchwächt hatte. San Fernando iſt berüchtigt wegen der unmäßigen Hitze, die hier den größten Teil des Jahres herrſcht, und bevor ich von unſerer langen Fahrt auf den Strömen berichte, führe ich hier einige Beobachtungen an, welche für die Meteorologie der Tropenländer nicht ohne Wert ſein mögen. Wir begaben uns mit Thermometern auf das mit weißem Sand bedeckte Geſtade am Apure. Um 2 Uhr nachmittags zeigte der Sand überall, wo er der Sonne ausgeſetzt war, 52,5“. In 48 em Höhe über dem Sand ſtand der Thermometer auf 42°, in 1,95 m Höhe auf 38,7“. Die Lufttemperatur im Schatten eines Ceibabaumes war 36,2“. Dieſe Beobachtungen wurden bei völlig ſtiller Luft gemacht. Sobald der Wind zu wehen anfing, ſtieg die Temperatur der Luft um 30, und doch be— fanden wir uns in keinem „Sandwind“. Es waren vielmehr Luftſchichten, die mit einem ſtark erhitzten Boden in Berüh— rung geweſen, oder durch welche „Sandhoſen“ durchgegangen waren Dieſer weſtliche Strich der Llanos iſt der heißeſte, weil ihm die Luft zugeführt wird, welche bereits über die ganze dürre Steppe weggegangen iſt. Denſelben Unterſchied hat man zwiſchen den öſtlichen und weſtlichen Strichen der afrikaniſchen Wüſten da bemerkt, wo die Paſſate wehen. — In der Regenzeit nimmt die Hitze in den Llanos bedeutend u, beſonders im Juli, wenn der Himmel bedeckt iſt und die ſrahlende Wärme gegen den Erdboden zurückwirft. In dieſer Zeit hört der Seewind ganz auf, und nach Pozos guten thermo— Se metriſchen Beobachtungen fteigt der Thermometer im Schatten auf 39 bis 39,5% und zwar noch über 4,9 m vom Boden. Je näher wir den Flüſſen Portugueſa, Apure und Apurito kamen, deſto kühler wurde die Luft, infolge der Verdunſtung fo anſehnlicher Waſſermaſſen. Dies iſt beſonders bei Sonnen— aufgang fühlbar; den Tag über werfen die mit weißem Sand bedeckten Flußufer die Sonnenſtrahlen auf unerträgliche Weiſe zurück, mehr als der gelbbraune Thonboden um Calabozo und Tisnao. Am 28. März bei Sonnenaufgang befand ich mich am Ufer, um die Breite des Apure zu meſſen. Sie beträgt 411 m. Es donnerte von allen Seiten; es war dies das erſte Ge⸗ witter und der erſte Regen der Jahreszeit. Der Fluß ſchlug beim Oſtwind ſtarke Wellen, aber bald wurde die Luft wieder ſtill, und alsbald fingen große Cetaceen aus der Familie der Spritzfiſche, ganz ähnlich den Delphinen unſerer Meere, an ſich in langen Reihen an der Waſſerfläche zu tummeln. Die Krokodile, langſam und träge, ſchienen die Nähe dieſer lär— menden, in ihren Bewegungen ungeſtümen Tiere zu ſcheuen; wir ſahen ſie untertauchen, wenn die Spritzfiſche ihnen nahe— kamen. Daß Cetaceen ſo weit von der Küſte vorkommen, iſt ſehr auffallend. Die Spanier in den Miſſionen nennen ſie, wie die Seedelphine, Toninas; ihr indianiſcher Name iſt Orinucua. Sie find 1 bis 1,3 m lang und zeigen, wenn ſie den Rücken krümmen und mit dem Schwanz auf die unteren Waſſerſchichten Schlagen, ein Stück des Rückens und der Rüden: floſſe. Ich konnte keines Stückes habhaft werden, ſo oft ich auch Indianer aufforderte, mit Pfeilen auf ſie zu ſchießen. Pater Gili verſichert, die Guamos eſſen das Fleiſch derſelben. Gehören dieſe Cetaceen den großen Strömen Südamerikas eigentümlich an, wie der Lamantin (die Seekuh), der nach Cuviers anatomiſchen Unterſuchungen gleichfalls ein Süß— waſſerſäugetier iſt, oder ſoll man annehmen, daß ſie aus der See gegen die Strömung ſo weit heraufkommen, wie in den aſiatiſchen Flüſſen der Delphinapterus Beluga zuweilen thut? Was mir letztere Vermutung unwahrſcheinlich macht, iſt der Umſtand, daß wir im Rio Atabapo, oberhalb der großen Fälle des Orinoko, Toninas angetroffen haben. Sollten ſie von der Mündung des Amazonenſtromes her durch die Verbindungen desſelben mit dem Rio Negro, Caſſiquiare und is se . NE Orinoko bis in das Herz von Südamerika gekommen fein? Man trifft ſie dort in allen Jahreszeiten an, und keine Spur ſcheint anzudeuten, daß ſie zu beſtimmten Zeiten wandern wie die Lachſe. Während es bereits rings um uns donnerte, zeigten ſich am Himmel nur einzelne Wolken, die langjam, und zwar in entgegengeſetzter Richtung dem Zenith zuzogen. Delues Hygro— meter ſtand auf 53°, der Thermometer auf 23,7“; der Elektro— meter mit rauchendem Docht zeigte keine Spur von Elektri— zität. Während das Gewitter ſich zuſammenzog, wurde die Farbe des Himmels zuerſt dunkelblau und dann grau. Die Dunſtbläschen wurden ſichtbar, und der Thermometer ſtieg um 3°, wie faſt immer unter den Tropen bei bedecktem Himmel, weil dieſer die ſtrahlende Wärme des Bodens zurückwirft. Jetzt goß der Regen in Strömen nieder. Wir waren hin— länglich an das Klima gewöhnt, um von einem tropiſchen Regen keinen Nachteil fürchten zu dürfen; ſo blieben wir denn am Ufer, um den Gang des Elektrometers genau zu beobachten. Ich hielt ihn 2 m über dem Boden 20 Minuten lang in der Hand und ſah die Fliedermarkkügelchen meiſt nur wenige Sekunden vor dem Blitz auseinandergehen, und zwar 8 mm. Die elektriſche Ladung blieb ſich mehrere Minuten lang gleich; wir hatten Zeit, mittels einer Siegellackſtange die Elektrizität zu unterſuchen, und ſo ſah ich hier, wie ſpäter oft auf dem Rücken der Anden während eines Gewitters, daß die Luft— elektrizität zuerſt poſitiv war, dann Null und endlich negativ wurde. Dieſer Wechſel zwiſchen Poſitiv und Negativ (zwiſchen Glas- und Harzelektrizität) wiederholte ſich öfters. Indeſſen zeigte der Elektrometer ein wenig vor dem Blitz immer nur Null oder poſitive Elektrizität, niemals negative. Gegen das Ende des Gewitters wurde der Weſtwind ſehr heftig. Die Wolken zerſtreuten ſich und der Thermometer fiel auf 22° infolge der Verdunſtung am Boden und der freieren Wärme— ſtrahlung gegen den Himmel. Ich bin hier näher auf einzelnes über elektriſche Span⸗ nung der Luft eingegangen, weil die Reiſenden ſich meiſt darauf beſchränken, den Eindruck zu beſchreiben, den ein tro— piſches Gewitter auf einen neu angekommenen Europäer macht. In einem Land, wo das Jahr in zwei große Hälften zerfällt, in die trockene und in die naſſe Jahreszeit, oder, wie die Indianer in ihrer ausdrucksvollen Sprache ſagen, in Sonnen— zeit und in Regenzeit, iſt es von großem Intereſſe, den 1 Verlauf der meteorologiſchen Erſcheinung beim Uebergang von einer Jahreszeit zur anderen zu verfolgen. Bereits ſeit dem 18. und 19. Februar hatten wir in den Thälern von Aragua mit Einbruch der Nacht Wolken aufziehen ſehen. Mit Anfang März wurde die Anhäufung ſichtbarer Dunſtbläschen und damit die Anzeichen von Luftelektrizität von Tag zu Tag ſtärker. Wir ſahen gegen Süd wetterleuchten und der Voltaſche Elektrometer zeigte bei Sonnenuntergang fortwährend Gas— elektrizität. Mit Einbruch der Nacht wichen die Fliedermark⸗ kügelchen, die ſich den Tag über nicht gerührt, 6 bis 8 mm auseinander, dreimal weiter, als ich in Europa mit demſelben Inſtrument bei heiterem Wetter in der Regel beobachtet. Vom 26. Mai an ſchien nun aber das elektriſche Gleichgewicht in der Luft völlig geſtört. Stundenlang war die Elektrizität Null, wurde dann ſehr ſtark — 8 bis 11 mm — und bald darauf war ſie wieder unmerklich. Delues Hygrometer zeigte fortwährend große Trockenheit an, 33 bis 35°, und dennoch ſchien die Luft nicht mehr dieſelbe. Während dieſes beſtändigen Schwankens der Luftelektrizität fingen die kahlen Bäume be⸗ reits an, friſche Blätter zu treiben, als hätten ſie ein Vor⸗ gefühl vom nahenden Frühling. Der Witterungswechſel, den wir hier beſchrieben, bezieht ſich nicht etwa auf ein einzelnes Jahr. In der Aequinoktial⸗ zone folgen alle Erſcheinungen in wunderbarer Einförmigkeit aufeinander, weil die lebendigen Kräfte der Natur ſich nach leicht erkennbaren Geſetzen beſchränken und im Gleichgewicht halten. Im Binnenlande, oſtwärts von den Kordilleren von Merida und Neugranada, in den Llanos von Venezuela und am Rio Meta, zwiſchen dem 4. und 10. Breitengrad, aller⸗ orten, wo es vom Mai bis Oktober beſtändig regnet und demnach die Zeit der größten Hitze, die im Juli und Auguſt eintritt, in die Regenzeit fällt, nehmen die atmoſphäriſchen Erſcheinungen folgenden Verlauf. Unvergleichlich iſt die Reinheit der Luft vom Dezember bis in den Februar. Der Himmel iſt beſtändig wolkenlos, und zieht je Gewölk auf, ſo iſt das ein Phänomen, das die ganze Einwohnerſchaft beſchäftigt. Der Wind bläſt ſtark aus Dit und Oſt⸗Nord-Oſt. Da er beſtändig Luft von der gleichen Temperatur herführt, jo können die Dünſte nicht durch Ab: kühlung ſichtbar werden. Gegen Ende Februar und zu Anfang März iſt das Blau des Himmels nicht mehr ſo dunkel, der Hygrometer zeigt allmählich ſtärkere Feuchtigkeit an, die Sterne SU ER find zuweilen von einer feinen Dunſtſchicht umſchleiert, ihr Licht iſt nicht mehr planetariſch ruhig, man ſieht ſie hin und wieder bis zu 20“ über dem Horizont flimmern. Um dieſe Zeit wird der Wind ſchwächer, unregelmäßiger, und es tritt öfter als zuvor völlige Windſtille ein. In Süd⸗Süd⸗Oſt ziehen Wolken auf. Sie erſcheinen wie ferne Gebirge mit ſehr ſcharfen Umriſſen. Von Zeit zu Zeit löſen ſie ſich vom Horizont ab und laufen über das Himmelsgewölbe mit einer Schnelligkeit, die mit dem ſchwachen Wind in den unteren Luftſchichten außer Verhältnis ſteht. Zu Ende März wird das ſüdliche Stück des Himmels von kleinen, leuchtenden elektriſchen Enkladungen durchzuckt, phosphoriſchen Aufleuchtungen, die immer nur von einer Dunſtmaſſe auszugehen ſcheinen. Von nun an dreht ſich der Wind von Zeit zu Zeit und auf mehrere Stunden nach Weſt und Südweſt. Es iſt dies ein ſicheres Zeichen, daß die Regenzeit bevorſteht, die am Orinoko gegen Ende April eintritt. Der Himmel fängt an, ſich zu beziehen, das Blau verſchwindet und macht einem gleichförmigen Grau Platz. Zugleich nimmt die Luftwärme ſtetig zu, und nicht lange, ſo ſind nicht mehr Wolken am Himmel, ſondern ver— dichtete Waſſerdünſte hüllen ihn vollkommen ein. Lange vor Sonnenaufgang erheben die Brüllaffen ihr klägliches Geſchrei. Die Luftelektrizität, die während der großen Dürre vom Dezember bis März bei Tag faſt beſtändig gleich 3,6 bis 4 mm am Voltaſchen Elektrometer war, fängt mit dem März an, äußerſt veränderlich zu werden. Ganze Tage lang iſt ſie Null, und dann weichen wieder die Fliedermarkkügelchen ein paar Stunden lang 6 bis 8 mm auseinander. Die Luftelektrizität, die in der heißen wie in der gemäßigten Zone in der Regel Glaselektrizität iſt, ſchlägt auf 8 bis 10 Minuten in Harz⸗ elektrizität um. Die Regenzeit iſt die Zeit der Gewitter, und doch erſcheint als Ergebnis meiner zahlreichen, dreijährigen Beobachtungen, daß gerade in dieſer Gewitterzeit die elek— triſche Spannung in den tiefen Luftregionen geringer iſt. Sind die Gewitter die Folge dieſer ungleichen Ladung der über⸗ einander gelagerten Luftſchichten? Was hindert die Elektrizität in einer Luft, die ſchon ſeit März feuchter geworden, auf den Boden herabzukommen? Um dieſe Zeit ſcheint die Elektrizität nicht durch die ganze Luft verbreitet, ſondern auf der äußeren Hülle, auf der Oberfläche der Wolken angehäuft zu ſein. Daß ſich das elektriſche Fluidum an die Oberfläche der Wolke zieht, iſt, nach Gay⸗Luſſac, eben eine Folge der Wolkenbildung. In 11 den Ebenen ſteigt das Gewitter 2 Stunden nach dem Durch: gang der Sonne durch den Meridian auf, alſo kurze Zeit nach dem Eintritt des täglichen Wärmemaximums unter den Tropen. Im Binnenlande hört man bei Nacht oder Morgens äußerſt ſelten donnern; nächtliche Gewitter kommen nur in gewiſſen Flußthälern vor, die ein eigentümliches Klima haben. Auf welchen Urſachen beruht es nun, daß das Gleich— gewicht in der elektriſchen Spannung der Luft geſtört wird, daß ſich die Dünſte fortwährend zu Waſſer verdichten, daß der Wind aufhört, daß die Regenzeit eintritt und ſo lange anhält? Ich bezweifle, daß die Elektrizität bei Bildung der Dunſtbläschen mitwirkt; durch dieſe Bildung wird vielmehr nur die elektriſche Spannung geſteigert und modifiziert. Nörd— lich und ſüdlich vom Aequator kommen die Gewitter oder die großen Entladungen in der gemäßigten und in der äquinok— tialen Zone um dieſelbe Zeit vor. Beſteht ein Moment, das durch das große Luftmeer aus jener Zone gegen die Tropen her wirkt? Wie läßt ſich denken, daß in letzterem Himmels— ſtrich, wo die Sonne ſich immer ſo hoch über den Horizont erhebt, der Durchgang des Geſtirnes durch den Zenith be— deutenden Einfluß auf die Vorgänge in der Luft haben ſollte? Nach meiner Anſicht iſt die Urſache, welche unter den Tropen das Eintreten des Regens bedingt, keine örtliche, und das ſcheinbar ſo verwickelte Problem würde ſich wohl unſchwer löſen, wenn wir mit den oberen Luftſtrömungen beſſer be— kannt wären. Wir können nur beobachten, was in den unteren Luftſchichten vorgeht. Ueber 3900 m Meereshöhe ſind die Anden faſt unbewohnt, und in dieſer Höhe äußern die Nähe des Bodens und die Gebirgsmaſſen, welche die Untiefen im Luftozean ſind, bedeutenden Einfluß auf die umgebende Luft. Was man auf der Hochebene von Antiſana beobachtet, iſt etwas anderes, als was man wahrnähme, wenn man in derſelben Höhe in einem Luftballon über den Llanos oder über der Meeresfläche ſchwebte. Wie wir geſehen haben, fällt in der nördlichen Aequinok— tialzone der Anfang der Regenniederſchläge und Gewitter zu— ſammen mit dem Durchgang der Sonne durch den Zenith des Orts, mit dem Aufhören der See- oder Nordoſtwinde, mit dem häufigen Eintreten von Windſtillen und Bendavales, das heißt heftigen Südoſt- und Südweſtwinden bei bedecktem Himmel. Vergegenwärtigt man ſich die allgemeinen Geſetze des Gleichgewichtes, denen die Gasmaſſen, aus denen unſere 1 dos Atmoſphäre beſteht, gehorchen, ſo iſt, nach meiner Ansicht, in den Momenten, daß der Strom, der vom gleichnamigen Pol herbläſt, unterbrochen wird, daß die Luft in der heißen Zone ſich nicht mehr erneuert, und daß fortwährend ein feuchter Strom aufwärts geht, einfach die Urſache zu ſuchen, warum jene Erſcheinungen zuſammenfallen. Solange nördlich vom Aequator der Seewind aus a. mit voller Kraft bläſt, läßt er die Luft über den tropiſchen Ländern und Meeren ſich nicht mit Waſſerdunſt ſättigen. Die heiße, trockene Luft dieſer Erdſtriche ſteigt aufwärts und fließt den Polen zu ab, während untere, trockene und kältere Luft herbeiführende Polar— ſtrömungen jeden Augenblick die aufſteigenden Luftſäulen er- ſetzen. Bei dieſem unaufhörlichen Spiel zweier entgegen— geſetzten Luftſtrömungen kann ſich die Feuchtigkeit in der Aequatorialzone nicht anhäufen, ſondern wird kalten und ge— mäßigten Regionen zugeführt. Während dieſer Zeit der Nord: oſtwinde, wo ſich die Sonne in den ſüdlichen Zeichen befindet, bleibt der Himmel in der nördlichen Aequatorialzone beſtändig heiter. Die Dunſtbläschen verdichten ſich nicht, weil die be— ſtändig erneuerte Luft weit vom Sättigungspunkt entfernt iſt. Je mehr die Sonne nach ihrem Eintritt in die nördlichen Zeichen gegen den Zenith heraufrückt, deſto mehr legt ſich der Nordoſtwind und hört nach und nach ganz auf. Der Temperatur— unterſchied zwiſchen den Tropen und der nördlichen gemäßigten Zone iſt jetzt der kleinſtmögliche. Es iſt Sommer am Nord— pol, und während die mittlere Wintertemperatur unter dem 42. bis 52. Grad der Breite um 20 bis 26 niedriger iſt als die Temperatur unter dem Aequator, beträgt der Unterſchied im Sommer kaum 4 bis 6%. Steht nun die Sonne im Zenith, und hört der Nordoſtwind auf, ſo treten die Urſachen, welche Feuchtigkeit erzeugen und fie in der nörd- lichen Aequinoktialzone anhäufen, zumal in vermehrte Wirk— ſamkeit. Die Luftſäule über dieſer Zone ſättigt ſich mit Waſſerdampf, weil ſie nicht mehr durch den Polarſtrom er— neuert wird. In dieſer geſättigten und durch die vereinten Wirkungen der Strahlung und der Ausdehnung beim Auf⸗ ſteigen erkalteten Luft bilden ſich Wolken. Im Maß als dieſe Luft ſich verdünnt, nimmt ihre Wärmekapazität zu. Mit der Bildung und Zuſammenballung des Dunſtbläschens häuft ſich die Elektrizität in den oberen Luftregionen an. Den Tag über ſchlagen ſich die Dünſte fortwährend nieder; bei Nacht hört dies meiſt auf, häufig ſogar ſchon nach Sonnen⸗ — Far fie zum 8. Grad nördlicher Breite gelangt, über die ganze ſüdliche Aequinoktialzone weg, iſt folglich nicht ſo trocken, nicht ſo kalt als der Nordpolarſtrom oder der Nordoſtwind, und ſomit auch weniger geeignet, als Gegenſtrom aufzutreten und die Luft unter den Tropen zu erneuern. Wenn die Bendavales an manchen Küſten, z. B. an denen von Guatemala, als heftige Winde auftreten, ſo rührt dies ohne Zweifel da⸗ her, daß fie nicht Folge eines allmählichen, regelmäßigen Ab- fluſſes der tropiſchen Luft gegen den Südpol ſind, ſondern mit Windſtillen abwechſeln, von elektriſchen Entladungen be⸗ gleitet ſind und ihr Charakter als wahre Stoßwinde darauf hinweiſt, daß im Luftmeer eine Rückſtauung, eine raſche, vor: übergehende Störung des Gleichgewichtes ſtattgefunden hat. Wir haben hier eine der wichtigſten meteorologiſchen Er— ſcheinungen unter den Tropen aus einem allgemeinen Ge: ſichtspunkte betrachtet. Wie die Grenzen der Paſſatwinde keine mit dem Aequator parallelen Kreiſe bilden, ſo äußert ſich auch die Wirkung der Polarluftſtrömungen unter ver: ſchiedenen Luftſtrömungen verſchieden. In derſelben Halb— kugel haben nicht ſelten die Gebirgsketten und das Küſten⸗ land entgegengeſetzte Jahreszeiten. Wir werden in der Folge Gelegenheit haben, mehrere Anomalieen der Art zu erwähnen; will man aber zur Erkenntnis der Naturgeſetze gelangen, ſo muß man, bevor man ſich nach den Urſachen lokaler Erſchei— nungen umſieht, den mittleren Zuſtand der Atmoſphäre und die beſtändige Norm ihrer Veränderungen kennen. Das Ausſehen des Himmels, der Gang der Elektrizität und der Regenguß am 28. März verkündeten den Beginn der Regenzeit; man riet uns indeſſen, von San Fernando am Apure noch über San Francisco de Capanaparo, über den Rio Sinaruco und den Hato San Antonio, nach dem kürzlich am Ufer des Meta gegründeten Dorfe der Otomaken zu gehen und uns auf dem Orinoko etwas oberhalb Carichana einzuſchiffen. Dieſer Landweg führt durch einen ungeſunden, von Fiebern heimgeſuchten Strich. Ein alter Pächter, Don Francisco Sanchez, bot ſich uns gefällig als Führer an. Seine Tracht war ein ſprechendes Bild der großen Sitteneinfalt in dieſen entlegenen Ländern. Er hatte ein Vermögen von mehr als 100 000 Piaſtern, und doch ſtieg er mit nackten Füßen, an die mächtige ſilberne Sporen geſchnallt waren, zu Pferde. Wir wußten aber aus mehrwöchentlicher Erfahrung, wie traurig einförmig die Vege— tation auf den Llanos iſt, und ſchlugen daher lieber den längeren aa = untergang. Die Regengüſſe find regelmäßig am ſtärkſten und von elektriſchen Entladungen begleitet, kurze Zeit nachdem das Maximum der Tagestemperatur eingetreten iſt. Dieſer Stand der Dinge dauert an, bis die Sonne in die ſüdlichen Zeichen tritt. Jetzt beginnt in der nördlichen gemäßigten Zone die kalte Witterung. Von nun an tritt die Luft⸗ ſtrömung vom Nordpol her wieder ein, weil der Unterſchied zwiſchen den Wärmegraden im tropiſchen und im gemäßigten Erdſtriche mit jedem Tage bedeutender wird. Der Nordojt- wind bläſt ſtark, die Luft unter den Tropen wird erneuert und kann den Sättigungspunkt nicht mehr erreichen. Daher hört es auf zu regnen, die Dunſtbläschen löſen ſich auf, der Himmel wird wieder rein und blau. Von elektriſchen Ent: ladungen iſt nichts mehr zu hören, ohne Zweifel weil die Elektrizität in den oberen Luftregionen jetzt keine Haufen von Dunſtbläschen, faſt hätte ich geſagt, keine Wolkenhüllen mehr antrifft, auf denen ſich das Fluidum anhäufen könnte. Wir haben das Aufhören des Nordoſtwindes als die Haupturſache der tropiſchen Regen betrachtet. Dieſe Regen dauern in jeder Halbkugel nur ſo lange, als die Sonne die der Halbkugel gleichnamige Abweichung hat. Es muß hier aber noch bemerkt werden, daß, wenn der Nordoſt auf— hört, nicht immer Windſtille eintritt, ſondern die Ruhe der Luft häufig, beſonders längs der Weſtküſten von Amerika, durch Bendavales, das heißt Südweſt- und Südoſtwinde, unterbrochen wird. Dieſe Erſcheinung ſcheint darauf hinzuweiſen, daß die feuchten Luftſäulen, die im nördlichen äquatorialen Erdſtriche aufſteigen, zuweilen dem Südpol zuſtrömen. In der That hat in den Ländern der heißen Zone nördlich und ſüdlich vom Aequator in ihrem Sommer, wenn die Sonne durch ihren Zenith geht, der Unterſchied zwiſchen ihrer Tempe— ratur und der am ungleichnamigen Pol ſein Maximum erreicht. Die ſüdliche gemäßigte Zone hat jetzt Winter, während es nördlich vom Aequator regnet und die mittlere Temperatur um 5 bis 6“ höher iſt als in der trockenen Jahreszeit, wo die Sonne am tiefſten ſteht. Daß der Regen fortdauert, während die Bendavales wehen, beweiſt, daß die Luftſtrö— mungen vom entfernteren Pol her in der nördlichen Aequa— torialzone nicht die Wirkung äußern wie die vom benach— barten Pole her, weil die Südpolarſtrömung weit feuchter iſt. Die Luft, welche dieſe Strömung herbeiführt, kommt aus einer faſt ganz mit Waſſer bedeckten Halbkugel; ſie geht, bevor 16 Weg auf dem Rio Apure nach dem Orinoko ein. Wir wählten dazu eine der ſehr breiten Pirogen, welche die Spanier Lanchas nennen; zur Bemannung waren ein Steuermann (el patron) und vier Indianer hinreichend. Am Hinterteil wurde in wenigen Stunden eine mit Coryphablättern gedeckte Hütte hergerichtet. Sie war ſo geräumig, daß Tiſch und Bänke Platz darin fanden. Letztere beſtanden aus über Rahmen von Braſilholz ſtraff geſpannten und angenagelten Ochſen— häuten. Ich führe dieſe kleinen Umſtände an, um zu zeigen, wie gut wir es auf dem Apure hatten, gegenüber dem Leben auf dem Orinoko in den ſchmalen elenden Kanoen. Wir nahmen in die Piroge Lebensmittel auf einen Monat ein. In San Fernando! gibt es Hühner, Eier, Bananen, Maniok⸗ mehl und Kakao im Ueberfluß. Der gute Pater Kapuziner gab uns Kereswein, Orangen und Tamarinden zu kühlender Limonade. Es war vorauszuſehen, daß ein Dach aus Palmen: blättern ſich im breiten Flußbett, wo man faſt immer den ſenkrechten Sonnenſtrahlen ausgeſetzt iſt, ſehr ſtark erhitzen mußte. Die Indianer rechneten weniger auf die Lebens— mittel, die wir angeſchafft, als auf ihre Angeln und Netze. Wir nahmen auch einige Schießgewehre mit, die wir bis zu den Katarakten ziemlich verbreitet fanden, während weiter nach Süden die Miſſionäre wegen der übermäßigen Feuchtig— keit der Luft keine Feuerwaffen mehr führen können. Im Rio Apure gibt es ſehr viele Fiſche, Seekühe und Schild— kröten, deren Eier allerdings nährend, aber keine ſehr ange— nehme Speiſe ſind. Die Ufer ſind mit unzähligen Vögel— ſcharen bevölkert. Die erſprießlichſten für uns waren der Pauxi und die Guacharaca, die man den Truthahn und den Faſan des Landes nennen könnte. Ihr Fleiſch kam mir härter und nicht ſo weiß vor als das unſerer hühnerartigen Vögel in Europa, weil ſie ihre Muskeln ungleich ſtärker brauchen. Neben dem Mundvorrat, dem Geräte zum Fiſchfang und den Waffen vergaß man nicht ein paar Fäſſer Branntwein zum Tauſchhandel mit den Indianern am Orinoko einzunehmen. Wir fuhren von San Fernando am 30. März, um 4 Uhr abends, bei ſehr ſtarker Hitze ab; der Thermometer ſtand im Wir bezahlten von San Fernando de Apure bis Carichana am Orinoko (8 Tagereiſen) 10 Piaſter für die Lancha, und außer⸗ dem dem Steuermann einen halben Piaſter oder 4 Realen und jedem der indianiſchen Ruderer 2 Realen Taglohn. 9 Schatten auf 34°, obgleich der Wind ſtark aus Südoſt blies. Wegen dieſes widrigen Windes konnten wir keine Segel auf— ziehen. Auf der ganzen Fahrt auf dem Apure, dem Orinoko und Rio Negro begleitete uns der Schwager des Statthalters der Provinz Varinas, Don Nicolas Soto, der erſt kürzlich von Cadix angekommen war und einen Ausflug nach San Fernando gemacht hatte. Um Länder kennen zu lernen, die ein würdiges Ziel für die Wißbegierde des Europäers ſind, entſchloß er ſich, mit uns 74. Tage auf einem engen, von Moskiten wimmelnden Kande zuzubringen. Sein geiſtreiches, liebenswürdiges Weſen und ſeine muntere Laune haben uns oft die Beſchwerden einer zuweilen nicht gefahrloſen Fahrt vergeſſen helfen. Wir fuhren am Einfluß des Apurito vor: bei und an der Inſel dieſes Namens hin, die vom Apure und dem Guarico gebildet wird. Dieſe Inſel iſt im Grunde nichts als ein ganz niedriger Landſtrich, der von zwei großen Flüſſen eingefaßt wird, die ſich in geringer Entfernung von— einander in den Orinoko ergießen, nachdem ſie bereits unter— halb San Fernando durch eine erſte Gabelung des Apure ſich vereinigt haben. Die Isla del Apurito iſt 100 km lang und 9 bis 13 km breit. Sie wird durch den Caño de la Tigrera und den Cano del Manati in drei Stücke ge: teilt, wovon die beiden äußerſten Isla de Blanco und Isla de las Garzilas heißen. Ich mache hier dieſe umſtändlichen Angaben, weil alle bis jetzt erſchienenen Karten den Lauf und die Verzweigungen der Gewäſſer zwiſchen dem Guarico und dem Meta aufs ſonderbarſte entſtellen. Unterhalb des Apurito iſt das rechte Ufer des Apure etwas beſſer angebaut als das linke, wo einige Hütten der Naruro-Indianer aus Rohr und Palmblattſtielen ſtehen. Sie leben von Jagd und Fiſchfang und find beſonders geübt im Erlegen der Jaguare, daher die unter dem Namen Tigerfelle bekannten Bälge vorzüglich durch ſie in die ſpaniſchen Dörfer kommen. Ein Teil dieſer In— dianer iſt getauft, beſucht aber niemals eine chriſtliche Kirche. Man betrachtet ſie als Wilde, weil ſie unabhängig bleiben wollen. Andere Stämme der Haruro leben unter der Zucht der Miſſionäre im Dorfe Achaguas, ſüdlich vom Rio Payara. Die Leute dieſer Nation, die ich am Orinoko zu ſehen Ge— legenheit gehabt, haben einige Züge von der fälſchlich ſo ge⸗ nannten tatariſchen Bildung, die manchen Zweigen der mon— goliſchen Raſſe zukommt. Ihr Blick iſt ernſt, das Auge ſtark in die Länge gezogen, die Jochbeine hervorragend, die Naſe A. v. Humboldt, Reiſe. III. 2 — 1 aber der ganzen Länge nach vorſpringend. Sie ſind größer, brauner und nicht ſo unterſetzt wie die Chaymas. Die Miſ⸗ ſionäre rühmen die geiſtigen Anlagen der Paruro, die früher eine mächtige, zahlreiche Nation an den Ufern des Orinoko waren, beſonders in der Gegend von Caycara, oberhalb des Einfluſſes des Guarico. Wir brachten die Nacht in Dia— mante zu, einer kleinen Zuckerpflanzung, der Inſel dieſes Namens gegenüber. Auf meiner ganzen Reiſe von San Fernando nach San Carlos am Rio Negro und von dort nach der Stadt Ango— ſtura war ich bemüht, Tag für Tag, ſei es im Kanoe, ſei es im Nachtlager, aufzuſchreiben, was mir Bemerkenswertes vor⸗ gekommen. Durch den ſtarken Regen und die ungeheure Menge Moskiten, von denen die Luft am Orinoko und Caſ— ſiquiare wimmelt, hat dieſe Arbeit notwendig Lücken be— kommen, die ich aber wenige Tage darauf ergänzt habe. Die folgenden Seiten ſind ein Auszug aus dieſem Tagebuch. Was im Angeſicht der geſchilderten Gegenſtände niedergeſchrieben iſt, hat ein Gepräge von Wahrhaftigkeit (ich möchte ſagen von Individualität), das auch den unbedeutendſten Dingen einen gewiſſen Reiz gibt. Um unnötige Wiederholungen zu ver— meiden, habe ich hin und wieder in das Tagebuch eingetragen, was über die beſchriebenen Gegenſtände ſpäter zu meiner Kenntnis gelangt iſt. Je gewaltiger und großartiger die Natur in den von ungeheuren Strömen durchzogenen Wäldern erſcheint, deſto ſtrenger muß man bei den Naturſchilderungen an der Einfachheit feſthalten, die das vornehmſte, oft das einzige Verdienſt eines erſten Entwurfes iſt. Am 31. März. Der widrige Wind nötigte uns, bis Mittag am Ufer zu bleiben. Wir ſahen die Zuckerfelder zum Teil durch einen Brand zerſtört, der ſich aus einem nahen Walde bis hierher fortgepflanzt hatte. Die wandernden Sn: dianer zünden überall, wo ſie Nachtlager gehalten, den Wald an, und in der dürren Jahreszeit würden ganze Provinzen von dieſen Bränden verheert, wenn nicht das ausnehmend harte Holz die Bäume vor der gänzlichen Zerſtörung ſchützte. Wir fanden Stämme des Mahagonibaumes (Cahoba) und von Desmanthus, die kaum 5 em tief verkohlt waren. Vom Diamante betritt man ein Gebiet, das nur von Tigern, Krokodilen und Chiguire, einer großen Art von Linnes Gattung Cavia, bewohnt iſt. Hier ſahen wir dicht: gedrängte Vogelſchwärme ſich vom Himmel abheben wie eine 1 ſchwärzlichte Wolke, deren Umriſſe ſich jeden Augenblick ver— ändern. Der Fluß wird allmählich breiter. Das eine Ufer iſt meiſt dürr und ſandig infolge der Ueberſchwemmungen; das andere iſt höher und mit hochſtämmigen Bäumen be— wachſen. Hin und wieder iſt der Fluß zu beiden Seiten be— waldet und bildet einen geraden, 290 m breiten Kanal. Die Stellung der Bäume iſt ſehr merkwürdig. Vorne ſieht man Büſche von Sauſo (Hermesia castaneifolia), die gleichſam eine 1,3 m hohe Hecke bilden, und es iſt, als wäre dieſe künſtlich beſchnitten. Hinter dieſer Hecke kommt ein Gehölz von Ce— drela, Braſilholz und Gayac. Die Palmen ſind ziemlich ſelten; man ſieht nur hie und da einen Stamm der Corozo- und der ſtacheligen Piritupalme. Die großen Vierfüßer dieſes Landſtriches, die Tiger, Tapire und Pecariſchweine, haben Durchgänge in die eben beſchriebene Sauſohecke gebrochen, durch = jie zum Trinken an den Strom gehen. Da ſie ſich nicht viel daraus machen, wenn ein Kanoe herbeikommt, hat man den Genuß, ſie langſam am Ufer hinſtreichen zu ſehen, bis ſie durch eine der ſchmalen Lücken im Gebüſch im Walde verſchwinden. Ich geſtehe, dieſe Auftritte, ſo oft ſie vor— kamen, behielten immer großen Reiz für mich. Die Luft, die man empfindet, beruht nicht allein auf dem Intereſſe des Naturforſchers, ſondern daneben auf einer Empfindung, die allein im Schoße der Kultur aufgewachſenen Menſchen gemein iſt. Man ſieht ſich einer neuen Welt, einer wilden, unge— zähmten Natur gegenüber. Bald zeigt ſich am Geſtade der Jaguar, der ſchöne amerikaniſche Panther; bald wandelt der en (Crax alector) mit ſchwarzem Gefieder und dem Feder: buſch langſam an der Uferhede hin. Tiere der verſchiedenſten Klaſſen löſen einander ab. „Es como en el Paraiso“ (es iſt wie im Paradies), ſagte unſer Steuermann, ein alter Indianer aus den Miſſionen. Und wirklich, alles erinnert hier an den Urzuſtand der Welt, deſſen Unſchuld und Glück uralte ehrwürdige Ueberlieferungen allen Völkern vor Augen ſtellen; beobachtet man aber das gegenſeitige Verhalten der Tiere genau, ſo zeigt es ſich, daß ſie einander fürchten und meiden. Das goldene Zeitalter iſt vorbei, und in dieſem Paradies der amerikaniſchen Wälder, wie allerorten, hat lange traurige Erfahrung alle Geſchöpfe gelehrt, daß Sanftmut und Stärke ſelten beiſammen ſind. Wo das Geſtade eine bedeutende Breite hat, bleibt die Reihe von Sauſobüſchen weiter vom Strome weg. Auf dieſem Zwiſchengebiet ſieht man Krokodile, oft acht und zehn, auf dem Sande liegen. Regungslos, die Kinnladen unter rechtem Winkel aufgeſperrt, ruhen ſie nebeneinander, ohne irgend ein Zeichen von Zuneigung, wie man ſie ſonſt bei geſellig leben: den Tieren bemerkt. Der Trupp geht auseinander, ſobald er vom Ufer aufbricht, und doch beſteht er wahrſcheinlich nur aus einem männlichen und vielen weiblichen Tieren; denn, wie ſchon Descourtils, der die Krokodile auf San Domingo ſo fleißig beobachtet, vor mir bemerkt hat, die Männchen ſind ziemlich ſelten, weil ſie in der Brunſt miteinander kämpfen und ſich ums Leben bringen. Dieſe gewaltigen Reptilien ſind jo zahlreich, daß auf dem ganzen Stromlauf faſt jeden Augen: blick ihrer fünf oder ſechs zu ſehen waren, und doch fing der Apure erſt kaum merklich an zu ſteigen und Hunderte von Krokodilen lagen alſo noch im Schlamme der Savannen be— graben. Gegen 4 Uhr abends hielten wir an, um ein totes Krokodil zu meſſen, das der Strom ans Ufer geworfen. Es war nur 5,38 m lang; einige Tage ſpäter fand Bonpland ein anderes (männliches), das 7,22 m maß. Unter allen Zonen, in Amerika wie in Aegypten, erreicht das Tier die— ſelbe Größe; auch iſt die Art, die im Apure, im Orinoko und im Magdalenenſtrom ſo häufig vorkommt,“ kein Kaiman oder Alligator, ſondern ein wahres Krokodil mit an den äußeren Rändern gezähnten Füßen, dem Nilkrokodil ſehr ähnlich. Be— denkt man, daß das männliche Tier erſt mit zehn Jahren mannbar wird und daß es dann 2,6 m lang iſt, jo läßt ſich annehmen, daß das von Bonpland gemeſſene Tier wenigſtens 28 Jahre alt war. Die Indianer ſagten uns, in San Fer— nando vergehe nicht leicht ein Jahr, wo nicht zwei, drei er— wachſene Menſchen, namentlich Weiber beim Waſſerſchöpfen am Fluß von dieſen fleiſchfreſſenden Eidechſen zerriſſen würden. Man erzählte uns die Geſchichte eines jungen Mädchens aus Uritucu, das ſich durch ſeltene Unerſchrockenheit und Geiſtes— gegenwart aus dem Rachen eines Krokodils gerettet. Sobald ſie ſich gepackt fühlte, griff ſie nach den Augen des Tieres und ſtieß ihre Finger mit ſolcher Gewalt hinein, daß das Krokodil vor Schmerz ſie fahren ließ, nachdem es ihr den linken Vorderarm abgeriſſen. Trotz des ungeheuren Blut: verluſtes gelangte die Indianerin, mit der übrig gebliebenen Es iſt dies der Arue der Tamanaken, der Amana der May⸗ puren, Cuviers Crocodilus acutus. DR Hand ſchwimmend, glücklich ans Ufer. In dieſen Einöden, wo der Menſch in beſtändigem Kampfe mit der Natur liegt, unterhält man ſich täglich von den Kunſtgriffen, um einem Tiger, einer Boa oder Traga Venado, einem Krokodil zu entgehen; jeder rüſtet ſich gleichſam auf die bevorſtehende Gefahr. „Ich wußte,“ ſagte das junge Mädchen in Uritucu gelaſſen, „daß der Kaiman abläßt, wenn man ihm die Finger in die Augen drückt.“ Lange nach meiner Rückkehr nach Europa erfuhr ich, daß die Neger im inneren Afrika dasſelbe Mittel kennen und anwenden. Wer erinnert ſich nicht mit lebhafter Teilnahme, wie Iſaaco, der Führer des unglück— lichen Mungo-Park, zweimal von einem Krokodil (bei Bulin— kombu) gepackt wurde, und zweimal aus dem Rachen des Un- geheuers entkam, weil es ihm gelang, demſelben unter dem Waſſer die Finger in beide Augen zu drücken! Der Afrikaner Iſaaco und die junge Amerikanerin dankten ihre Rettung der— ſelben Geiſtesgegenwart, demſelben Gedankengang. Das Krokodil im Apure bewegt ſich ſehr raſch und ge— wandt, wenn es angreift, ſchleppt ſich dagegen, wenn es nicht durch Zorn oder Hunger aufgeregt iſt, ſo langſam hin wie ein Salamander. Läuft das Tier, ſo hört man ein trockenes Geräuſch, das von der Reibung ſeiner Hautplatten gegen einander herzurühren ſcheint. Bei dieſer Bewegung krümmt es den Rücken und erſcheint hochbeiniger als in der Ruhe. Oft hörten wir am Ufer dieſes Rauſchen der Platten ganz in der Nähe; es iſt aber nicht wahr, was die Indianer be— haupten, daß die alten Krokodile, gleich dem Schuppentier, „ihre Schuppen und ihre ganze Rüſtung ſollen aufrichten können“. Die Tiere bewegen ſich allerdings meiſtens gerade— aus, oder vielmehr wie ein Pfeil, der von Strecke zu Strecke ſeine Richtung änderte; aber trotz der kleinen Anhängſel von falſchen Rippen, welche die Halswirbel verbinden und die ſeitliche Bewegung zu beſchränken ſcheinen, wenden die Kro— kodile ganz gut, wenn ſie wollen. Ich habe oft Junge ſich in den Schwanz beißen ſehen; andere haben dasſelbe bei erwachſenen Krokodilen beobachtet. Wenn ihre Bewegung faſt immer geradlinig erſcheint, ſo rührt dies daher, daß dieſelbe, wie bei unſeren kleinen Eidechſen, ſtoßweiſe erfolgt. Die Krokodile ſchwimmen vortrefflich und überwinden leicht die ſtärkſte Strömung. Es ſchien mir indeſſen, als ob ſie, wenn ſie flußabwärts ſchwimmen, nicht wohl raſch umwenden könnten. Eines Tages wurde ein großer Hund, der uns auf der Reife von Caracas an den Rio Negro begleitete, im Fluſſe von einem ungeheuern Krokodil verfolgt; es war ſchon ganz nahe an ihm und der Hund entging ſeinem Feinde nur dadurch, daß er umwandte und auf einmal gegen den Strom ſchwamm. Das Krokodil führte nun dieſelbe Bewegung aus, aber weit langſamer als der Hund, und dieſer erreichte glücklich das Ufer. Die Krokodile im Apure finden reichliche Nahrung an den Chiguire (Cavia Capybara, Waſſerſchwein), die in Rudeln von 50 bis 60 Stücken an den Flüßufern leben. Dieſe un⸗ glücklichen Tiere, von der Größe unſerer Schweine, beſitzen keinerlei Waffe, ſich zu wehren; ſie ſchwimmen etwas beſſer, als ſie laufen; aber auf dem Waſſer werden ſie eine Beute der Krokodile und am Lande werden ſie von den Tigern ge— freſſen. Man begreift kaum, wie ſie bei den Nachſtellungen zweier gewaltigen Feinde jo zahlreich fein können; ſie ver: mehren ſich aber jo raſch wie die Cobayes, oder Meer— ſchweinchen, die aus Braſilien zu uns gekommen find. Unterhalb der Einmündung des Cano de la Tigrera, in einer Bucht, Vuelta del Joval genannt, legten wir an, um die Schnelligkeit der Strömung an der Oberfläche zu meſſen; ſie betrug nur 1,13 m in der Sekunde, was 0,83 m mittlere Geſchwindigkeit ergibt.! Die Barometerhöhen ergaben, unter Berückſichtigung der kleinen ſtündlichen Abweichungen, ein Gefälle von kaum 45 em auf die Seemeile (zu 1855 km). Die Geſchwindigkeit iſt das Produkt zweier Momente, des Falles des Bodens und des Steigens des Waſſers im oberen Stromgebiete. Auch hier ſahen wir uns von Chiguire um— geben, die beim Schwimmen wie die Hunde Kopf und Hals aus dem Waſſer ſtrecken. Auf dem Strande gegenüber ſahen wir zu unſerer Ueberraſchung ein mächtiges Krokodil mitten unter dieſen Nagetieren regungslos daliegen und ſchlafen. Es erwachte, als wir mit unſerer Piroge näher kamen, und ging langſam dem Waſſer zu, ohne daß die Chiguire un- ruhig wurden. Unſere Indianer ſahen den Grund dieſer Gleichgültigkeit in der Dummheit des Tieres; wahrſcheinlich aber wiſſen die Chiguire aus langer Erfahrung, daß das Um die Geſchwindigkeit eines Stromes an der Oberfläche zu ermitteln, maß ich meiſt am Ufer eine Standlinie von SIm ab und bemerkte mit dem Chronometer die Zeit, die ein frei im Strom ſchwimmender Körper brauchte, um dieſelbe Strecke zurückzulegen. — 8 Krokodil des Apure und Orinoko auf dem Lande nicht an— greift, der Gegenſtand, den es packen will, müßte ihm denn im Augenblicke, wo es ſich ins Waſſer wirft, in den Weg kommen. Beim Joval wird der Charakter der Landſchaft groß⸗ artig wild. Hier ſahen wir den größten Tiger, der uns je vorgekommen. Selbſt die Indianer erſtaunten über r ſeine un⸗ geheure Länge; er war größer als alle indiſchen Tiger, die ich in Europa in Menagerien geſehen. Das Tier lag im Schatten eines großen Zamang. Es hatte eben einen Chi— guire erlegt, aber ſeine Beute noch nicht angebrochen; nur eine ſeiner Tatzen lag darauf. Die Zamuros, eine Geierart, die wir oben mit dem Percnopterus in Unterägypten ver: glichen haben, hatten ſich in Scharen verſammelt, um die Reſte vom Mahle des Jaguars zu verzehren. Sie ergötzten uns nicht wenig durch den ſeltſamen Verein von Frechheit und Scheu. Sie wagten ſich bis auf 60 em vom Jaguar vor, aber bei der leiſeſten Bewegung desſelben wichen ſie zurück. Um die Sitten dieſer Tiere noch mehr in der Nähe zu be— obachten, beſtiegen wir das kleine Kanoe, das unſere Piroge mit ſich führte. Sehr ſelten greift der Tiger Kähne an, indem er danach ſchwimmt, und dies kommt nur vor, wenn durch langen Hunger ſeine Wut gereizt iſt. Beim Geräuſch unſerer Ruder erhob ſich das Tier langſam, um ſich hinter den Sauſo— büſchen am Ufer zu verbergen. Den Augenblick, wo er abzog, wollten ſich die Geier zu Nutze machen, um den Chiguire zu verzehren; aber der Tiger machte, trotz der Nähe unſeres Kanoe, einen Satz unter fie und ſchleppte zornerfüllt, wie man an ſeinem Gange und am Schlagen ſeines Schwanzes ſah, ſeine Beute in den Wald. Die Indianer bedauerten, daß ſie ihre Lanzen nicht bei ſich hatten, um landen und den Tiger angreifen zu können. Sie ſind an dieſe Waffe gewöhnt und thaten wohl, ſich nicht auf unſere Gewehre zu verlaſſen, die in einer ſo ungemein feuchten Luft häufig verſagten. Im Weiterfahren flußabwärts ſahen wir die große Herde der Chiguire, die der Tiger verjagt und aus der er ſich ein Stück geholt hatte. Die Tiere ſahen uns ganz ruhig landen. Manche ſaßen da und ſchienen uns zu betrachten, wobei ſie, wie die Kaninchen, die Oberlippe bewegten. Vor den Menſchen ſchienen fie ſich nicht zu fürchten, aber beim Anblicke unſeres Eine Mimoſenart. . roßen Hundes ergriffen ſie die Flucht. Da das Hintergeſtell bei ihnen höher iſt als das Vordergeſtell, jo laufen fie im kurzen Galopp, kommen aber dabei ſo wenig vorwärts, daß wir zwei fangen konnten. Der Chiguire, der ſehr fertig ſchwimmt, läßt im Laufen ein leiſes Seufzen hören, als ob ihm das Atmen beſchwerlich würde. Er iſt das größte Tier in der Familie der Nager; er ſetzt ſich nur in der äußerſten Not zur Wehre, wenn er umringt und verwundet iſt. Da ſeine Backzähne, beſonders die hinteren, ausnehmend ſtark und ziemlich lang ſind, ſo kann er mit ſeinem Biſſe einem Tiger die Tatze oder einem Pferde den Fuß zerreißen. Sein Fleiſch hat einen ziemlich unangenehmen Moſchusgeruch; man macht indeſſen im Lande Schinken daraus, und dies rechtfertigt ge— wiſſermaßen den Namen Waſſerſchwein, den manche alte Naturgeſchichtſchreiber dem Chiguire beilegen. Die geiſtlichen Miſſionäre laſſen ſich in den Faſten dieſe Schinken ohne Be⸗ denken ſchmecken; in ihrem zoologiſchen Syſtem ſtehen das Gürteltier, das Waſſerſchwein und der Lamantin oder die Seekuh neben den Schildkröten; erſteres, weil es mit einer harten Kruſte, einer Art Schale bedeckt iſt, die beiden anderen, weil ſie im Waſſer wie auf dem Lande leben. An den Ufern des Santo Domingo, Apure und Arauca, in den Sümpfen und auf den überſchwemmten Savannen der Llanos kommen die Chiguire in ſolcher Menge vor, daß die Weiden darunter leiden. Sie freſſen das Kraut weg, von dem die Pferde am fetteſten werden, und das Chiguirero (Kraut des Chiguire) heißt. Sie freſſen auch Fiſche, und wir ſahen mit Verwunderung, daß das Tier, wenn es, erſchreckt durch ein n Kanoe, untertaucht, 8 bis 10 Minuten unter Waſſer eibt. Wir brachten die Nacht, wie immer, unter freiem Himmel zu, obgleich auf einer Pflanzung, deren Beſitzer die Tiger— jagd trieb. Er war faſt ganz nackt und ſchwärzlich braun wie ein Zambo, zählte ſich aber nichtsdeſtoweniger zum weißen Menſchenſchlage. Seine Frau und ſeine Tochter, die ſo nackt waren wie er, nannte er Dona Iſabela und Dona Manuela. Obgleich er nie vom Ufer des Apure weggekommen, nahm er den lebendigſten Anteil „an den Neuigkeiten aus Madrid, an den Kriegen, deren kein Ende abzuſehen, und an all den Geſchichten dort drüben (todas las cosas de alla)“. Er wußte, daß der König von Spanien bald zum Beſuche „Ihrer Herrlichkeiten im Lande Caracas“ herüberkommen würde, ſetzte — ER aber ſcherzhaft hinzu: „Da die Hofleute nur Weizenbrot eſſen können, werden ſie nie über die Stadt Valencia hinaus wollen, und wir werden ſie hier nicht zu ſehen bekommen.“ Ich hatte einen Chiguire mitgebracht und wollte ihn braten laſſen; aber unſer Wirt verſicherte uns, nosotros cavalleros blancos, weiße Leute wie er und ich ſeien nicht dazu gemacht, von ſolchem „Indianerwildpret“ zu genießen. Er bot uns Hirſch— fleiſch an; er hatte tags zuvor einen mit dem Pfeil erlegt, denn er hatte weder Pulver noch Schießgewehr. Wir glaubten nicht anders, als hinter einem Bananen— gehölze liege die Hütte des Gehöftes; aber dieſer Mann, der ſich auf ſeinen Adel und ſeine Hautfarbe ſo viel einbildete, hatte ſich nicht die Mühe gegeben, aus Palmblättern eine Ajupa zu errichten. Er forderte uns auf, unſere Hänge— matten neben den ſeinigen zwiſchen zwei Bäumen befeſtigen zu laſſen, und verſicherte uns mit ſelbſtgefälliger Miene, wenn wir in der Regenzeit den Fluß wieder heraufkämen, würden wir ihn unter Dach (baxo techo) finden. Wir kamen bald in den Fall, eine Philoſophie zu verwünſchen, die der Faulheit Vorſchub leiſtet und den Menſchen für alle Bequemlichkeiten des Lebens gleichgültig macht. Nach Mitternacht erhob ſich ein furchtbarer Sturmwind, Blitze durchzuckten den Horizont, der Donner rollte und wir wurden bis auf die Haut durch— näßt. Während des Ungewitters verſetzte uns ein ſeltſamer Vorfall auf eine Weile in gute Laune. Dona Iſabelas Katze hatte ſich auf den Tamarindenbaum geſetzt, unter dem wir lagerten. Sie fiel in die Hängematte eines unſerer Be— gleiter, und der Mann, zerkratzt von der Katze und aus dem tiefſten Schlafe aufgeſchreckt, glaubte, ein wildes Tier aus dem Walde habe ihn angefallen. Wir liefen auf ſein Geſchrei hinzu und riſſen ihn nur mit Mühe aus ſeinem Irrtum. Während es auf unſere Hängematten und unſere Inſtrumente, die wir ausgeſchifft, in Strömen regnete, wünſchte uns Don Ignacio Glück, daß wir nicht am Ufer geſchlafen, ſondern uns auf ſeinem Gute befänden, „entre gente blanca y de trato“ (unter Weißen und Leuten von Stande). Durchnäßt, wie wir waren, fiel es uns denn doch ſchwer, uns zu über— zeugen, daß wir es hier ſo beſonders gut haben, und wir hörten ziemlich widerwillig zu, wie unſer Wirt ein langes und breites von ſeinem ſogenannten Kriegszuge an den Rio Meta erzählte, wie tapfer er ſich in einem blutigen Gefechte mit den Guahibos gehalten, und „welche Dienſte er Gott und — 6 = feinem König geleitet, indem er den Eltern die Kinder (los Indiecitos) genommen und in die Miſſionen verteilt.“ Welch ſeltſamen Eindruck machte es, in dieſer weiten Einöde bei einem Manne, der von europäiſcher Abkunft zu ſein glaubt und kein anderes Obdach kennt als den Schatten eines Baumes, alle eitle Anmaßung, alle ererbten Vorurteile, alle Verkehrt— heiten einer alten Kultur anzutreffen! Am 1. April. Mit Sonnenaufgang verabſchiedeten wir uns von Senor Don Ignacio und von Senora Dona Iſa⸗ bela, ſeiner Gemahlin. Die Luft war abgekühlt; der Thermo— meter, der bei Tag meiſt auf 30 bis 35° ſtand, war auf 24° gefallen. Die Temperatur des Fluſſes blieb ſich faſt ganz gleich, fie war fortwährend 26 bis 27“. Der Strom trieb eine ungeheure Menge Baumſtämme. Man ſollte meinen, auf einem völlig ebenen Boden, wo das Auge nicht die ge— ringſte Erhöhung bemerkt, hätte ſich der Fluß durch die Gewalt ſeiner Strömung einen ganz geraden Kanal graben müſſen. Ein Blick auf die Karte, die ich nach meinen Aufnahmen mit dem Kompaß entworfen, zeigt das Gegenteil. Das abſpülende Waſſer findet an beiden Ufern nicht denſelben Widerſtand, und faſt unmerkliche Bodenerhöhungen geben zu ſtarken Krüm— mungen Anlaß. Unterhalb des Jovals, wo das Flußbett etwas breiter wird, bildet dasſelbe wirklich einen Kanal, der mit der Schnur gezogen ſcheint und zu beiden Seiten von ſehr hohen Bäumen beſchattet iſt. Dieſes Stück des Fluſſes heißt Cano rico; ich fand dasſelbe 265 m breit. Wir kamen an einer niedrigen Inſel vorüber, auf der Flamingo, roſen— farbige Löffelgänſe, Reiher und Waſſerhühner, die das mannig⸗ faltigſte Farbenſpiel boten, zu Tauſenden niſteten. Die Vögel waren ſo dicht aneinander gedrängt, daß man meinte, ſie könnten ſich gar nicht rühren. Die Inſel heißt Isla de Aves. Weiterhin fuhren wir an der Stelle vorbei, wo der Apure einen Arm (den Rio Arichuna) an den Cabullare ab— gibt und dadurch bedeutend an Waſſer verliert. Wir hielten am rechten Ufer bei einer kleinen indianiſchen, vom Stamme der Guamos bewohnten Miſſion. Es ſtanden erſt 16 bis 18 Hütten aus Palmblättern; aber auf den ſtatiſtiſchen Ta— bellen, welche die Miſſionäre jährlich bei Hofe i wird dieſe Gruppe von Hütten als das Dorf Santa Barbara de Arichuna aufgeführt. Die Guamos ſind ein Indianerſtamm, der ſehr ſchwer ſeßhaft zu machen iſt. Sie haben in ihren Sitten vieles mit — 2 ee den Achagua, Guahibos und Otomaken gemein, namentlich die Unreinlichkeit, die Rachſucht und die Liebe zum wandernden Leben; aber ihre Sprachen weichen völlig voneinander ab. Dieſe vier Stämme leben größtenteils von Fiſchfang und Jagd auf den häufig überſchwemmten Ebenen zwiſchen dem Apure, dem Meta und dem Guaviare. Das Wanderleben ſcheint hier durch die Beſchaffenheit des Landes ſelbſt bedingt. Wir werden bald ſehen, daß man, ſobald man die Berge an den Katarakten des Orinoko betritt, bei den Piraba, Macos und Maquiritares ſanftere Sitten, Liebe zum Ackerbau und in den Hütten große Reinlichkeit findet. Auf dem Rücken der Ge— birge, in undurchdringlichen Wäldern ſieht ſich der Menſch genötigt, ſich feſt niederzulaſſen und einen kleinen Fleck Erde zu bebauen. Dazu bedarf es keiner großen Anſtrengung, wogegen der Jäger in einem Lande, durch das keine anderen Wege führen als die Flüſſe, ein hartes, mühſeliges Leben führt. Die Guamos in der Miſſion Santa Barbara konnten uns die Mundvorräte, die wir gerne gehabt hätten, nicht liefern; ſie bauten nur etwas Maniok. Sie ſchienen indeſſen gaſtfreundlich, und als wir in ihre Hütten traten, boten ſie uns getrocknete Fiſche und Waſſer (in ihrer Sprache Cub) an. Das Waſſer war in poröſen Gefäßen abgekühlt. Unterhalb der Vuelta del Cochino roto, an einer Stelle, wo ſich der Fluß ein neues Bett gegraben hatte, übernachteten wir auf einem dürren, ſehr breiten Geſtade. In den dichten Wald war nicht zu kommen, und ſo brachten wir nur mit Not trockenes Holz zuſammen, um Feuer anmachen zu können, wobei man, wie die Indianer glauben, vor dem nächtlichen An— griffe des Tigers ſicher iſt. Unſere eigene Erfahrung ſcheint dieſen Glauben zu beſtätigen; dagegen verſichert Azarro, zu ſeiner Zeit habe in Paraguay ein Tiger einen Mann von einem Feuer in der Savanne weggeholt. Die Nacht war ſtill und heiter und der Mond ſchien herrlich. Die Krokodile lagen am Ufer; ſie hatten ſich ſo gelegt, daß ſie das Feuer ſehen konnten. Wir glauben bemerkt zu haben, daß der Glanz desſelben ſie herlockt, wie die Fiſche, die Krebſe und andere Waſſertiere. Die Indianer zeigten uns im Sande die Fährten dreier Tiger, darunter zweier ganz jungen. Ohne Zweifel hatte hier ein Weibchen ſeine Jungen zum Trinken an den Fluß geführt. Da wir am Ufer keinen Baum fanden, ſteckten wir die Ruder in den Boden und be— feſtigſten unſere Hängematten daran. Alles blieb ziemlich Ba ruhig bis um elf Uhr nachts; da aber erhob ſich im benach— barten Walde ein ſo furchtbarer Lärm, daß man beinahe kein Auge ſchließen konnte. Unter den vielen Stimmen wilder Tiere, die zuſammen ſchrieen, erkannten unſere Indianer nur diejenigen, die ſich auch einzeln hören ließen, namentlich die leiſen Flötentöne der Sapaju, die Seufzer der Aluaten, das Brüllen des Tigers und des Kuguars, oder amerikaniſchen Löwen ohne Mähne, das Geſchrei des Biſamſchweines, des Faultiers, des Hocco, des Parraqua und einiger anderen hühnerartigen Vögel. Wenn die Jaguare dem Waldrande ſich näherten, ſo fing unſer Hund, der bis dahin fortwährend gebellt hatte, an zu heulen und ſuchte Schutz unter den Hängematten. Zuweilen, nachdem es lange geſchwiegen, er— ſcholl das Brüllen der Tiger von den Bäumen herunter, und dann folgte darauf das anhaltende ſchrille Pfeifen der Affen, die ſich wohl bei der drohenden Gefahr auf und davon machten. Ich ſchildere Zug für Zug dieſe nächtlichen Auftritte, weil wir zu Anfang unſerer Fahrt auf dem Apure noch nicht daran gewöhnt waren. Monatelang, allerorten, wo der Wald nahe an die Flußufer rückt, hatten wir ſie zu erleben. Die Sorgloſigkeit der Indianer macht dabei auch dem Rei— ſenden Mut. Man redet ſich mit ihnen ein, die Tiger fürchten alle das Feuer und greifen niemals einen Menſchen in ſeiner Hängematte an. Und ſolche Angriffe kommen allerdings ſehr ſelten vor und aus meinem langen Aufenthalte in Südamerika erinnere ich mich nur eines einzigen Falles, wo, den Achaguas— Inſeln gegenüber, ein Llanero in ſeiner Hängematte zerfleiſcht gefunden wurde. Befragt man die Indianer, warum die Tiere des Waldes zu gewiſſen Stunden einen ſo furchtbaren Lärm erheben, ſo geben ſie die luſtige Antwort: „Sie feiern den Vollmond.“ Ich glaube, die Unruhe rührt meiſt daher, daß im inneren Walde ſich irgendwo ein Kampf entſponnen hat. Die Ja: guare zum Beiſpiel machen Jagd auf die Biſamſchweine und Tapire, die nur Schutz finden, wenn ſie beiſammenbleiben und in gedrängten Rudeln fliehend das Gebüſch, das ihnen in den Weg kommt, niederreißen. Die Affen, ſcheu und furchtſam, erſchrecken ob dieſer Jagd und beantworten von den Bäumen herab das Geſchrei der großen Tiere. Sie wecken die geſellig lebenden Vögel auf, und nicht lange, ſo iſt die ganze Menagerie in Aufruhr. Wir werden bald ſehen, daß 5 dieſer Lärm keineswegs nur bei ſchönem Mondſchein, ſondern vorzugsweiſe während der Gewitter und ſtarken Regengüſſe unter den wilden Tieren ausbricht. „Der Himmel verleihe ihnen eine ruhſame Nacht wie uns anderen!“ ſprach der Mönch, der uns an den Rio Negro begleitete, wenn er, todmüde von der Laſt des Tages, unſer Nachtlager einrichten half. Es war allerdings ſeltſam, daß man mitten im einſamen Walde ſollte keine Ruhe finden können. In den ſpaniſchen Herbergen fürchtet man ſich vor den schrillen Tönen der Guitarren im anſtoßenden Zimmer; in denen am Orinoko, das heißt auf offenem Geſtade oder unter einem einzeln ſtehenden Baume, beſorgt man durch Stimmen aus dem Walde im Schlafe ge— ſtört zu werden. Am 2. April. Wir gingen vor Sonnenaufgang unter Segel. Der Morgen war ſchön und kühl, wie es Leuten vorkommt, die an die große Hitze in dieſen Ländern gewöhnt ſind. Der Thermometer ſtand in der Luft nur auf 28°, aber der trockene, weiße Sand am Geſtade hatte trotz der Strah⸗ lung gegen einen wolkenloſen Himmel eine Temperatur von 36° behalten. Die Delphine (Toninas) zogen in langen Reihen durch den Fluß und das Ufer war mit fiſchfangenden Vögeln bedeckt. Manche machen ſich das Floßholz, das den Fluß herabtreibt, zu Nutze und überraſchen die Fiſche, die ſich mitten in der Strömung halten. Unſer Kanoe ſtieß im Laufe des Morgens mehrmals an. Solche Stöße, wenn ſie ſehr heftig ſind, können ſchwache Fahrzeuge zertrümmern. Wir fuhren an den Spitzen mehrerer großer Bäume auf, die jahre— lang in ſchiefer Richtung im Schlamme ſtecken bleiben. Dieſe Bäume kommen beim Hochwaſſer aus dem Sarare herunter und verſtopfen das Flußbett dergeſtalt, daß die Pirogen ſtromaufwärts häufig zwiſchen den Untiefen und überall, wo Wirbel ſind, kaum durchkommen. Wir kamen an eine Stelle bei der Inſel Carizales, wo ungeheuer dicke Courbarilſtämme aus dem Waſſer ragten. Sie ſaßen voll Vögeln, einer Art Plotus, die der Anhinga ſehr nahe ſteht. Dieſe Vögel ſitzen in Reihen auf, wie die Faſanen und die Parraqua, und bleiben ſtundenlang, den Schnabel gen Himmel geſtreckt, regungslos, was ihnen ein ungemein dummes Ausſehen gibt. Von der Inſel Carizales an wurde die Abnahme des Waſſers im Fluſſe deſto auffallender, da unterhalb der Gabe— lung bei der Boca de Arichuna kein Arm, kein natürlicher Abzugskanal mehr dem Apure Waſſer entzieht. Der Verluſt a rührt allein von der Verdunſtung und Einſickerung auf fan: digen, durchnäßten Ufern her. Man kann ſich vorſtellen, wie viel dies ausmacht, wenn man bedenkt, daß wir den trockenen Sand zu verſchiedenen Tagesſtunden 36 bis 52“, den Sand, über dem 8 bis 10 em Waſſer ſtanden, noch 32° warm fanden. Das Flußwaſſer erwärmt ſich dem Boden zu, ſo weit die Sonnenſtrahlen eindringen können, ohne beim Durchgange durch die übereinander gelagerten Waſſerſchichten zu ſehr ge— ſchwächt zu werden. Dabei reicht die Einſickerung weit über das Flußbett hinaus und iſt, ſozuſagen, ſeitlich. Das Ge— ſtade, das ganz trocken ſcheint, iſt bis zur Höhe des Waſſer⸗ ſpiegels mit Waſſer getränkt. 97 m vom Fluſſe ſahen wir Waſſer hervorquellen, ſo oft die Indianer die Ruder in den Boden ſteckten; dieſer unten feuchte, oben trockene und dem Sonnenſtrahle ausgeſetzte Sand wirkt nun aber wie ein Schwamm. Er gibt jeden Augenblick durch Verdunſtung vom eingeſickerten Waſſer ab; der ſich entwickelnde Waſſerdampf zieht durch die obere, ſtark erhitzte Sandſchicht und wird ſicht— bar, wenn ſich am Abend die Luft abkühlt. Im Maße, als das Geſtade Waſſer abgibt, zieht es aus dem Strome neues an, und man ſieht leicht, daß dieſes fortwährende Spiel von Verdunſtung und ſeitlicher Einſaugung dem Fluſſe ungeheure Waſſermaſſen entziehen muß, nur daß der Verluſt ſchwer genau zu berechnen iſt. Die Zunahme dieſes Verluſtes wäre der Länge des Stromlaufes proportional, wenn die Flüſſe von der Quelle bis zur Mündung überall gleiche Ufer hätten; da aber dieſe von den Anſchwemmungen herrühren, und die Ge— wäſſer, je weiter von der Quelle weg, deſto langſamer fließen und ſomit notwendig im unteren Stromlaufe mehr abſetzen als im oberen, ſo werden viele Flüſſe im heißen Erdſtriche ihrer Mündung zu ſeichter. Barrow hat die auffallende Wirkung des Sandes im öſtlichen Afrika an den Ufern des Orangefluſſes beobachtet. Sie gab ſogar bei den verſchiedenen Annahmen über den Lauf des Nigers zu ſehr wichtigen Er— örterungen Anlaß. Bei der Vuelta de Baſilio, wo wir ans Land gingen, um Pflanzen zu ſammeln, ſahen wir oben auf einem Baum zwei hübſche, kleine, pechſchwarze Affen, von der Größe des Sar, mit Wickelſchwänzen. Ihrem Geſichte und ihren Be— wegungen nach konnte es weder der Coafta, noch der Chamek, noch überhaupt ein Atele ſein. Sogar unſere Indianer hatten nie dergleichen geſehen. In dieſen Wäldern gibt es eine — a Menge Sapaju, welche die Zoologen in Europa noch nicht kennen, und da die Affen, beſonders die in Rudeln lebenden und darum rührigeren, zu gewiſſen Zeiten weit wandern, ſo kommt es vor, das bei Eintritt der Regenzeit die Einge— borenen bei ihren Hütten welche anſichtig werden, die ſie nie zuvor geſehen. Am ſelben Ufer zeigten uns unſere Führer ein Neſt junger Leguane, die nur 10 em lang waren. Sie waren kaum von einer gemeinen Eidechſe zu unterſcheiden. Die Rückenſtacheln, die großen aufgerichteten Schuppen, all die Anhängſel, die dem Leguan, wenn er 1,3 bis 1,6 m lang iſt, ein ſo ungeheuerliches Anſehen geben, waren kaum in Rudimenten vorhanden. Das Fleiſch dieſer Eidechſe fanden wir in allen ſehr trockenen Ländern von angenehmem Ge— ſchmack, ſelbſt zu Zeiten, wo es uns nicht an anderen Nah— rungsmitteln fehlte. Es iſt ſehr weiß und nach dem Fleiſch des Tatu oder Gürteltiers, das hier Cachicamo heißt, eines der beſten, die man in den Hütten der Eingeborenen findet. Gegen Abend regnete es; vor dem Regen ſtrichen die Schwalben, die vollkommen den unſerigen glichen, über die Waſſerfläche hin. Wir ſahen auch, wie ein Flug Papageien von kleinen Habichten ohne Hauben verfolgt wurden. Das durchdringende Geſchrei der Papageien ſtach vom Pfeifen der Raubvögel ſeltſam ab. Wir übernachteten unter freiem Himmel am Geſtade, in der Nähe der Inſel Carizales. Nicht weit ſtanden mehrere indianiſche Hütten auf Pflanzungen. Unſer Steuermann kündigte uns zum voraus an, daß wir den Ja— guar hier nicht würden brüllen hören, weil er, wenn er nicht großen Hunger hat, die Orte meidet, wo er nicht allein Herr iſt. „Die Menſchen machen ihn übellaunig,“ „los hombres lo enfadan,“ ſagt das Volk in den Miſſionen, ein ſpaßhafter, naiver Ausdruck für eine richtige Beobachtung. Am 3. April. — Seit der Abfahrt von San Fernando it uns kein einziges Kanoe auf dem ſchönen Strome begegnet. Ringsum herrſcht tiefe Einſamkeit. Am Morgen fingen unſere Indianer mit der Angel den Fiſch, der hierzulande Ka— ribe oder Caribito heißt, weil keiner ſo blutgierig iſt. Er fällt die Menſchen beim Baden und Schwimmen an und reißt ihnen oft anſehnliche Stücke Fleiſch ab. Iſt man anfangs auch nur unbedeutend verletzt, ſo kommt man doch nur ſchwer aus dem Waſſer, ohne die ſchlimmſten Wunden davonzu— tragen. Die Indianer fürchten dieſe Karibenfiſche ungemein, und verſchiedene zeigten uns an Waden und Schenkeln ver— narbte, ſehr tiefe Wunden, die von dieſen kleinen Tieren her: rührten, die bei den Maypures Umati heißen. Sie leben auf dem Boden der Flüſſe, gießt man aber ein paar Tropfen Blut ins Waſſer, ſo kommen ſie zu Tauſenden herauf. Be— denkt man, wie zahlreich dieſe Fiſche ſind, von denen die ge— fräßigſten und blutgierigſten nur 8 bis 10 em lang werden, betrachtet man ihre dreiſeitigen ſchneidenden, ſpitzen Zähne und weites retraktiles Maul, ſo wundert man ſich nicht, daß die Anwohner des Apure und des Orinoko den Karibe ſo ſehr fürchten. An Stellen, wo der Fluß ganz klar und kein Fiſch zu ſehen war, warfen wir kleine blutige Fleiſchſtücke ins Waſſer. In wenigen Minuten war ein ganzer Schwarm von Karibenfiſchen da und ſtritt ſich um den Fraß. Der Fiſch hat einen kantigen, ſägenförmig gekerbten Bauch, ein Merkmal, das mehreren Gattungen, den Serra-Salmen, den My: leten und den Priſtigaſtern zukommt. Nach dem Vor— handenſein einer zweiten fetten Rückenfloße und der Form der von den Lippen bedeckten, auseinanderſtehenden, in der unteren Kinnlade größeren Zähne gehört der Karibe zu den Serra— Salmen. Er hat ein viel weiter geſpaltenes Maul als Cu: viers Myleten. Der Körper iſt am Rücken aſchgrau, ins Grünliche ſpielend; aber Bauch, Kiemen, Bruſt-, Bauch- und Afterfloßen ſind ſchön orangegelb. Im Orinoko kommen drei Arten (oder Spielarten?) vor, die man nach der Größe unter— ſcheidet. Die mittlere ſcheint identiſch mit Maregravs mitt: lerer Art des Piraya oder Piranha (Salmo rhombeus, Linné). Ich habe ſie an Ort und Stelle gezeichnet. Der Caribito hat einen ſehr angenehmen Geſchmack. Weil man nirgends zu baden wagt, wo er vorkommt, iſt er als eine der größten Plagen dieſer Landſtriche zu betrachten, wo der Stich der Moskiten und der Ueberreiz der Haut das Baden zu einem dringenden Bedürfnis machen. Wir hielten gegen mittag an einem unbewohnten Ort, Algodonal genannt. Ich trennte mich von meinen Ge— fährten, während man das Fahrzeug ans Land zog und das Mittageſſen rüſtete. Ich ging am Geſtade hin, um in der Nähe einen Trupp Krokodile zu beobachten, die in der Sonne ſchliefen, wobei ſie ihre mit breiten Platten belegten Schwänze aufeinanderlegten. Kleine Schneeweiße Reiher! liefen ihnen ' Garzon Chico, In Oberägypten glaubt man, die Reiher haben eine Zuneigung zum Krokodil, weil ſie ſich beim Fiſchfang — 33 — auf dem Rücken, ſogar auf dem Kopf herum, als wären es Baumſtämme. Die Krokodile waren graugrün, halb mit trockenem Schlamm überzogen: ihrer Farbe und ihrer Regungs— loſigkeit nach konnte man ſie für Bronzebilder halten. Wenig fehlte aber, ſo wäre mir der Spaziergang übel bekommen. Ich hatte immer nur nach dem Fluſſe hingeſehen, aber indem ich Glimmerblättchen aus dem Sande aufnahm, bemerkte ich die friſche Fährte eines Tigers, die an ihrer Form und Größe ſo leicht zu erkennen iſt. Das Tier war dem Walde zuge— gangen, und als ich nun dorthin blickte, ſah ich 80 Schritte von mir einen Jaguar unter dem dichten Laub eines Ceiba liegen. Nie iſt mir ein Tiger ſo groß vorgekommen. Es gibt Vorfälle im Leben, wo man vergeblich die Ver— nunft zu Hilfe ruft. Ich war ſehr erſchrocken, indeſſen noch ſo weit Herr meiner ſelbſt und meiner Bewegungen, daß ich die Verhaltungsmaßregeln befolgen konnte, die uns die In— dianer ſchon oft für dergleichen Fälle erteilt hatten. Ich ging weiter, lief aber nicht; ich vermied es, die Arme zu bewegen, und glaubte zu bemerken, daß der Jaguar mit ſeinen Ge— danken ganz bei einer Herde Capybaras war, die über den Fluß ſchwammen. Jetzt kehrte ich um und beſchrieb einen ziemlich weiten Bogen dem Ufer zu. Je weiter ich von ihm wegkam, deſto raſcher glaubte ich gehen zu können. Wie oft war ich in Verſuchung, mich umzuſehen, ob ich nicht verfolgt werde! Glücklicherweiſe gab ich dieſem Drange erſt ſehr ſpät nach. Der Jaguar war ruhig liegen geblieben. Dieſe un— geheuren Katzen mit geflecktem Fell ſind hierzulande, wo es Capybaras, Biſamſchweine und Hirſche im Ueberfluß gibt, ſo gut genährt, daß ſie ſelten einen Menſchen anfallen. Ich kam atemlos beim Schiffe an und erzählte den Indianern mein Abenteuer. Sie ſchienen nicht viel daraus zu machen; indeſſen luden wir unſere Flinten, und ſie gingen mit uns auf den Ceibabaum zu, unter dem der Jaguar gelegen. Wir trafen ihn nicht mehr, und ihm in den Wald nachzugehen, war nicht geraten, da man ſich zerſtreuen oder in einer Reihe durch die verſchlungenen Lianen gehen muß. Abends kamen wir an der Mündung des Cano del den Umſtand zu nutze machen, daß die Fiſche ſich über das unge— heure Tier entſetzen und ſich vor ihm vom Grunde des Waſſers an die Oberfläche heraufflüchten; aber an den Ufern des Nils kommt der Reiher dem Krokodil klüglich nicht zu nahe. A. v. Humboldt, Reiſe. III. 3 —B — Manati vorüber, ſo genannt wegen der ungeheuren Menge Manati oder Lamantine, die jährlich hier gefangen werden. Dieſes grasfreſſende Waſſerſäugetier, das die Indianer Apcia und Avia nennen, wird hier meiſt 3,25 bis 4 m lang und 250 bis 400 kg ſchwer. Wir ſahen das Waſſer mit dem Kot desſelben bedeckt, der ſehr ſtinkend iſt, aber ganz dem des Rindviehs gleicht. Es iſt im Orinoko unterhalb der Ka— tarakte, im Meta und im Apure zwiſchen den beiden Inſeln Carizales und Conſerva ſehr häufig. Wir fanden keine Spur von Nägeln auf der äußeren Fläche und am Rande der Schwimm⸗ floſſen, die ganz glatt ſind; zieht man aber die Haut der Floſſe ab, jo zeigen ſich an der dritten Phalange kleine Nägel— rudimente. Bei einem 3 m langen Tier, das wir in Cari⸗ chana, einer Miſſion am Orinoko, zergliederten, ſprang die Oberlippe 10 em über die untere vor. Jene iſt mit einer ſehr zarten Haut bekleidet und dient als Rüſſel oder Fühler zum Betaſten der vorliegenden Körper. Die Mundhöhle, die beim friſch getöteten Tier auffallend warm iſt, zeigt einen ganz eigentümlichen Bau. Die Zunge iſt faſt unbeweglich; aber vor derſelben befindet ſich in jeder Kinnlade ein fleiſchiger Knopf und eine mit ſehr harter Haut ausgekleidete Höhlung, die ineinander paſſen. Der Lamantin verſchluckt ſo viel Gras, daß wir ſowohl den in mehrere Fächer geteilten Magen als den 35 m langen Darm ganz damit angefüllt fanden. Schneidet man das Tier am Rücken auf, ſo erſtaunt man über die Größe, Geſtalt und Lage ſeiner Lunge. Sie hat ungemein große Zellen und gleicht ungeheuren Schwimmblaſen; ſie iſt Im lang. Mit Luft gefüllt hat ſie ein Volumen von mehr als 1000 Kubikzoll. Ich mußte mich nur wundern, daß der Lamantin mit ſo anſehnlichen Luftbehältern ſo oft an die Waſſerfläche heraufkommt, um zu atmen. Sein Fleiſch, das aus irgend einem Vorurteil, für ungeſund und calenturioso (fiebererzeugend) gilt, iſt ſehr ſchmackhaft; es ſchien mir mehr Aehnlichkeit mit Schweinefleiſch als mit Rindfleiſch zu haben. Die Guamos und Otomaken eſſen es am liebſten, daher geben ſich auch dieſe zwei Stämme vorzugsweiſe mit dem Seekuh⸗ fang ab. Das eingeſalzene und an der Sonne gedörrte Fleiſch wird das ganze Jahr aufbewahrt, und da dieſes Säugetier bei der Kleriſei für einen Fiſch gilt, ſo iſt es in den Faſten ſehr geſucht. Der Lamantin hat ein äußerſt zähes Leben; man harpuniert ihn und bindet ihn ſodann, ſchlachtet ihn aber erſt, nachdem er in die Piroge geſchafft worden. Dies geſchieht oft, wenn das Tier ſehr groß ift, mitten auf dem Fluſſe, und zwar ſo, daß man die Piroge zu zwei Dritt— teilen mit Waſſer füllt, ſie unter das Tier ſchiebt und mit einer Kürbisflaſche wieder ausſchöpft. Am leichteſten ſind ſie am Ende der großen Ueberſchwemmungen zu fangen, wenn ſie aus den Strömen in die umliegenden Seen und Sümpfe geraten ſind und das Waſſer ſchnell fällt. Zur Zeit, wo die Jeſuiten den Miſſionen am unteren Orinoko vorſtanden, kamen dieſe alle Jahre in Cabruta unterhalb dem Apure zuſammen, um mit den Indianern aus ihren Miſſionen am Fuße des Berges, der gegenwärtig el Capuchino heißt, eine große See— kuhjagd anzuſtellen. Das Fett des Tiers, die Manteca de Manati, wird in den Kirchenlampen gebrannt, und man kocht auch damit. Es hat nicht den widrigen Geruch des Walfiſch— thranes oder des Fettes anderer Cetaceen mit Spritzlöchern. Die Haut der Seekuh, die über 4 em dick iſt, wird in Streifen zerſchnitten, und dieſe dienen in den Llanos, wie die Streifen von Ochſenhaut, als Stricke. Kommt ſie ins Waſſer, ſo hat ſie den Fehler, daß ſie zu faulen anfängt. Man macht in den ſpaniſchen Kolonieen Peitſchen daraus, daher auch die Worte Latigo und Manati gleichbedeutend find. Dieſe Peit— ſchen aus Seekuhhaut ſind ein ſchreckliches Werkzeug zur Züch— tigung der unglücklichen Sklaven, ja der Indianer in den Miſſionen, die nach den Geſetzen als freie Menſchen behandelt werden ſollten. Wir übernachteten der Inſel Conſerva gegenüber. Als wir am Waldſaume hingingen, fiel uns ein ungeheurer, 22 m hoher, mit veräſteten Dornen bedeckter Baum auf. Die In— dianer nennen ihn Barba de Tigre. Es iſt vielleicht ein Baum aus der Familie der Berberideen oder Sauerdorne. Die Sn: dianer hatten unſere Feuer dicht am Waſſer angezündet; da fanden wir wieder, daß ſein Glanz die Krokodile herlockte, und ſogar die Delphine (Toninas), deren Lärm uns nicht ſchlafen ließ, bis man das Feuer auslöſchte. Wir wurden in dieſer Nacht zweimal auf die Beine gebracht, was ich nur anführe, weil es ein paar Züge zum Bilde dieſer Wildnis liefert. Ein weiblicher Jaguar kam unſerem Nachtlager nahe, um ſein Junges am Strome trinken zu laſſen. Die Indianer verjagten ihn; aber noch geraume Zeit hörten wir das Ge— ſchrei des Jungen, das wie das Miauen einer jungen Katze klang. Bald darauf wurde unſere große Dogge von unge— heuren Fledermäuſen, die um unſere Hängematten flatterten, — a vorne an der Schnauze gebijjen oder, wie die Eingeborenen ſagen, geſtochen. Sie hatten lange Schwänze wie die Mo— loſſen; ich glaube aber, daß es Phylloſtomen waren, deren mit Warzen beſetzte Zunge ein Saugorgan iſt, das ſie be— deutend verlängern können. Die Wunde war ganz klein und rund. Der Hund heulte kläglich, ſobald er den Biß fühlte, aber nicht aus Schmerz, ſondern weil er über die Fledermäuſe, als ſie unter unſeren Hängematten hervorkamen, erſchrak. Dergleichen Fälle ſind weit ſeltener, als man im Lande ſelbſt glaubt. Obgleich wir in Ländern, wo die Vampyre und ähn— liche Fledermausarten ſo häufig ſind, ſo manche Nacht unter freiem Himmel geſchlafen haben, ſind wir doch nie von ihnen gebiſſen worden. Ueberdem iſt der Stich keineswegs gefähr— lich und der Schmerz meiſt ſo unbedeutend, daß man erſt aufwacht, wenn die Fledermaus ſich bereits davongemacht hat. Am 4. April. Dies war unſer letzter Tag auf dem Apure. Der Pflanzenwuchs an den Ufern wurde immer ein— förmiger. Seit einigen Tagen, beſonders ſeit der Miſſion Arichuna, fingen wir an, arg von den Inſekten gequält zu werden, die ſich uns auf Geſicht und Hände ſetzten. Es waren leine Moskiten, die den Habitus kleiner Mücken von der Gattung Simulium haben, ſondern Zancudos, echte Schna— ken, aber von unſerem Culex pipiens ganz verſchieden. Sie kommen erſt nach Sonnenuntergang zum Vorſchein; ihr Saug— rüſſel iſt ſo lang, daß, wenn ſie ſich an die Unterſeite der Hängematte ſetzen, ihr Stachel durch die Hängematte und die dickſten Kleider dringt. Wir wollten in der Vuelta del Palmito übernachten, aber an dieſem Strich des Apure gibt es ſo viele Jaguare, daß unſere Indianer, als ſie unſere Hängematten befeſtigen wollten, ihrer zwei hinter einem Courbarilſtamm verſteckt fanden. Man riet uns, das Schiff wieder zu beſteigen und unſer Nachtlager auf der Inſel Apurito, ganz nahe beim Einfluß in den Orinoko, aufzuſchlagen. Dieſer Teil der Inſel gehört zu der Provinz Caracas, dagegen das rechte Ufer des Apure zu der Provinz Varinas und das rechte Ufer des Orinoko zu Spaniſch⸗ Guyana. Wir fanden keine Bäume, um unſere Hängematten zu befeſtigen, und mußten am Boden auf Ochſenhäuten ſchlafen. I Latreille hat gefunden, daß die Mouſtiques in Südlarolina zur Gattung Simulium (Atractocera, Meigen) gehören. e Die Kanoen find zu eng und wimmeln zu ſehr von Zancudos, als daß man darin übernachten könnte. An der Stelle, wo wir unſere Inſtrumente ans Land gebracht hatten, war das Ufer ziemlich ſteil, und da ſahen wir denn einen neuen Beweis von der oben beſprochenen Trägheit der hühnerartigen Vögel unter den Tropen. Die Hocco und Pauxi' kommen immer mehrmals des Tages an den Fluß herunter, um ihren Durſt zu löſchen. Sie trinken viel und in kurzen Pauſen. Eine Menge dieſer Vögel und ein Schwarm Parraqua-Faſanen hatten ſich bei unſerem Nachtlager zuſammengefunden. Es wurde ihnen ſehr ſchwer, am abſchüſſigen Ufer hinaufzukommen; ſie verſuchten es mehrere Male, ohne ihre Flügel zu brauchen. Wir jagten ſie vor uns her wie Schafe. Die Zamurosgeier entſchließen ſich gleichfalls ſehr ſchwer zum Auffliegen. Ich konnte nach Mitternacht eine gute Beobachtung der Meridianhöhe „ des ſüdlichen Kreuzes anſtellen. Der Einfluß des Apure liegt unter 7“ 36“ 23“ der Breite. Pater Gu— milla gibt 5° 5%, d' Anville 7° 3°, Caulin 7° 26° an. Die Länge der Boca des Apure iſt nach den Sonnenhöhen, die ich am 5. April morgens aufgenommen, 69° 7“ 29“, oder 1° 12° 41“ öſtlich vom Meridian von San Fernando. Am 5. April. Es fiel uns ſehr auf, wie gering die Waſſermaſſe iſt, welche der Apure in dieſer Jahreszeit dem Orinoko zuführt. Derſelbe Strom, der nach meinen Meſſungen beim Cano Rico noch 265 m breit war, maß an ſeiner Aus— mündung nur zwiſchen 117 und 156 m.? Seine Tiefe betrug hier nur 5,8 bis 9,7 m. Er verliert allerdings Waſſer durch den Rio Arihuna und den Cano del Manati, zwei Arme des Apure, die zum Payara und Guarico laufen; aber der größte Verluſt ſcheint von der Einſickerung an den Ufern herzurühren, von der oben die Rede war. Die Geſchwindigkeit der Strö— mung bei der Ausmündung war nur Im in der Sekunde, ſo daß ich die ganze Waſſermaſſe leicht berechnen könnte, wenn mir durch Sondierung in kurzen Abſtänden alle Dimenſionen des Querſchnitts bekannt wären. Der Barometer, der in San Fernando, 9,1 m über dem mittleren Waſſerſtand des Apure, um 9½ Uhr morgens 747 mm hoch geſtanden hatte, Letzterer (Crax Pauxi) iſt nicht ſo häufig als erſterer. 2 Dies iſt nicht ganz die Breite der Seine am Pontroyal, den Tuilerien gegenüber. 8 ſtand an der Ausmündung des Apure in den Orinoko 778 mm hoch. Rechnet man die ganze Länge des Weges (die Krüm— mungen des Stromes mitgerechnet) zu 175 km, und nimmt man die kleine, wegen der ſtündlichen Schwankung des Baro— meters vorzunehmende Korrektion in Rechnung, ſo ergibt ſich im Durchſchnitt ein Gefälle von 346 mm auf 1855 m. La Condamine und der gelehrte Major Rennel glauben, daß der Fall des Amazonenſtromes und des Ganges durchſchnittlich kaum 10 bis 14 cm auf 1855 m beträgt. Wir fuhren, ehe wir in den Orinoko einliefen, mehrmals auf; die Anſchwemmungen ſind beim Zuſammenfluß der beiden Ströme ungeheuer groß. Wir mußten uns längs des Ufers am Tau ziehen laſſen. Welcher Kontraſt zwiſchen dieſem Zus ſtande des Stromes unmittelbar vor dem Beginn der Regen— zeit, wo die Wirkungen der Trockenheit der Luft und der Verdunſtung ihr Maximum erreicht haben, und dem Stande im Herbſte, wo der Apure gleich einem Meeresarm, ſo weit das Auge reicht, über den Grasfluren ſteht! Gegen Süd ſahen wir die einzelſtehenden Hügel bei Coruato; im Oſten fingen die Granitfelſen von Curiquima, der Zuckerhut von Caycara und die Cerros del Tirano an, über den Horizont emporzuſteigen. Mit einem gewiſſen Gefühl der Rührung ſahen wir zum erſtenmal, wonach wir uns ſo lange geſehnt, die Gewäſſer des Orinoko, an einem von der Meeresfüfte jo weit entfernten Punkte. 1 Ich ſchätze ſie auf ein Vierteil der geraden Entfernung. Ueunzehntes Kapitel. Zuſammenfluß des Apure mit dem Drinofo. — Die Gebirge von Encaramada. — Uruana. — Baraguan. — Carichana. — Der Einfluß des Meta. — Die Inſel Panumana. Mit der Ausfahrt aus dem Apure ſahen wir uns in ein ganz anderes Land verſetzt. So weit das Auge reichte, dehnte ſich eine ungeheure Waſſerfläche, einem See gleich, vor uns aus. Das durchdringende Geſchrei der Reiher, Flamingo und Löffelgänſe, wenn ſie in langen Schwärmen von einem Ufer zum anderen ziehen, erfüllte nicht mehr die Luft. Ver— geblich ſahen wir uns nach den Schwimmvögeln um, deren gewerbsmäßige Liſten bei jeder Sippe wieder andere ſind. Die ganze Natur ſchien weniger belebt. Kaum bemerkten wir in den Buchten der Wellen hie und da ein großes Krokodil, das mittels ſeines Schwanzes die bewegte Waſſerfläche ſchief durchſchnitt. Der Horizont war von einem Waldgürtel be— grenzt, aber nirgends traten die Wälder bis ans Strombett vor. Breite, beſtändig der Sonnenglut ausgeſetzte Ufer, kahl und dürr wie der Meeresſtrand, glichen infolge der Luft— ſpiegelung von weitem Lachen ſtehenden Waſſers. Dieſe ſan— digen Ufer verwiſchten vielmehr die Grenzen des Stromes, ſtatt ſie für das Auge feſtzuſtellen; nach dem wechſelnden Spiel der Strahlenbrechung rückten die Ufer bald nahe heran, bald wieder weit weg. Dieſe zerſtreuten Landſchaftszüge, dieſes Gepräge von Einſamkeit und Großartigkeit kennzeichnen den Lauf des Ori— noko, eines der gewaltigſten Ströme der Neuen Welt. Aller— orten haben die Gewäſſer wie das Land ihren eigentümlichen, individuellen Charakter. Das Bett des Orinoko iſt ganz anders als die Betten des Meta, des Guaviare, des Rio Negro und des Amazonenſtromes. Dieſe Unterſchiede rühren nicht bloß von der Breite und der Geſchwindigkeit des Stromes her; INT ſie beruhen auf einer Geſamtheit von Verhältniſſen, die an Ort und Stelle leichter aufzufaſſen, als genau zu beſchreiben ſind. So erriete ein erfahrener Schiffer ſchon an der Form der Wogen, an der Farbe des Waſſers, am Ausſehen des Himmels und der Wolken, ob er ſich im Atlantiſchen Meere, oder im Mittelmeere oder im tropiſchen Strich des Großen Ozeanes befindet. Der Wind wehte ſtark aus Oſt-Nord-Oſt; er war uns günſtig, um ſtromaufwärts nach der Miſſion Encaramada zu ſegeln; aber unſere Piroge leiſtete dem Wogenſchlage ſo ge— ringen Widerſtand, daß, wer gewöhnlich ſeekrank wurde, bei der heftigen Bewegung ſelbſt auf dem Fluſſe ſich ſehr un: behaglich fühlte. Das Scholken rührt daher, daß die Gewäſſer der beiden Ströme bei der Vereinigung aufeinander ſtoßen. Dieſer Stoß iſt ſehr ſtark, aber lange nicht ſo gefährlich, als Pater Gumilla behauptet. Wir fuhren an der Punta Curi— quima vorbei, einer einzeln ſtehenden Maſſe von quarzigem Granit, einem kleinen, aus abgerundeten Blöcken beſtehenden Vorgebirge. Hier, auf dem rechten Ufer des Orinoko, hatte zur Zeit der Jeſuiten Pater Rotella unter den Palenque⸗ und Viriviri-Indianern eine Miſſion angelegt. Bei Hoch— waſſer waren der Berg Curiquima und das Dorf am Fuße desſelben rings von Waſſer umgeben. Wegen dieſes großen Uebelſtandes und wegen der Unzahl Moskiten und Niguas,! von denen Miſſionäre und Indianer geplagt wurden, gab man den feuchten Ort auf. Jetzt iſt er völlig verlaſſen, wäh: rend gegenüber auf dem linken Ufer in den Hügeln von Co: ruato herumziehende Indianer haufen, die entweder aus den Miſſionen oder aus freien, den Mönchen nicht unterworfenen Stämmen ausgeſtoßen worden ſind. Die ungemeine Breite des Orinoko zwiſchen der Ein⸗ mündung des Apure und dem Berge Curiquima fiel mir ſehr auf; ich berechnete ſie daher nach einer Standlinie, die ich am weſtlichen Ufer zweimal abgemeſſen. Das Bett des Orinoko war beim gegenwärtigen tiefen Waſſerſtande 3519 m breit; aber in der Regenzeit, wenn der Berg Curiquima und der Hof Capuchino beim Hügel Pocopocori Inſeln ſind, mögen es 10752 m werden. Zum ſtarken Anſchwellen des Orinoko Die Sandflöhe (Pulex penetrans, Linné), die ſich beim Menſchen und Affen unter die Nägel der Zehen eingraben und da— ſelbſt ihre Eier legen. — A trägt auch der Druck der Waſſer des Apure bei, der nicht, wie andere Nebenflüſſe, mit dem Oberteile des Hauptſtromes einen ſpitzen Winkel bildet, ſondern unter einem rechten Winkel einmündet. Wir maßen an verſchiedenen Punkten des Bettes die Temperatur des Waſſers; mitten im Thalweg, wo die Strömung am ſtärkſten iſt, betrug fie 28,3“, in der Nähe der Ufer 29,2“. Wir fuhren zuerſt gegen Südweſt hinauf bis zum Ge— ſtade der Guaricotos-Indianer, auf dem linken Ufer des Ori— noko, und dann gegen Süd. Der Strom iſt ſo breit, daß die Berge von Encaramada aus dem Waſſer emporzuſteigen ſcheinen, wie wenn man ſie über dem Meereshorizonte ſähe. Sie bilden eine ununterbrochene, von Oſt nach Weſt ſtreichende Kette, und je näher man ihnen kommt, deſto maleriſcher wird die Landſchaft. Dieſe Berge beſtehen aus ungeheuren zer— klüfteten, aufeinander getürmten Granitblöcken. Die Teilung der Gebirgsmaſſe in Blöcke iſt eine Folge der Verwitterung. Zum Reize der Gegend von Encaramada trägt beſonders der kräftige Pflanzenwuchs bei, der die Felswände bedeckt und nur die abgerundeten Gipfel frei läßt. Man meint, altes Gemäuer rage aus einem Walde empor. Auf dem Berge, an den ſich die Miſſion lehnt, dem Tepupano der Tama— naken, ſtehen drei ungeheure Granitcylinder, von denen zwei geneigt ſind, während der dritte, unten ſchmälere und über 28 m hohe, ſenkrecht ſtehen geblieben iſt. Dieſer Felſen, deſſen Form an die Schnarcher im Harz oder an die Orgeln. von Actopan in Mexiko erinnert, war früher ein Stück des runden Berggipfels. In allen Erdſtrichen hat der nicht ge— ſchichtete Granit das Eigentümliche, daß er durch Verwitterung in prismatiſche, cylindriſche oder ſäulenförmige Blöcke zerfällt. Gegenüber dem Geſtade der Guaricotos kamen wir in die Nähe eines anderen, ganz niedrigen, 5,5 bis 8m langen Felshaufens. Er ſteht mitten in der Ebene und gleicht nicht ſowohl einem Tumulus als den Granitmaſſen, die man in Holland und Niederdeutſchland Hünenbetten nennt. Der Uferſand an dieſem Stücke des Orinoko iſt nicht mehr reiner Quarzſand, er beſteht aus Thon und Glimmerblättchen in ſehr dünnen Schichten, die meiſt unter einen Winkel von 40 bis 50° fallen; er ſieht aus wie verwitterter Glimmer— ſchiefer. Dieſer Wechſel in der geologiſchen Beſchaffenheit der Ufer tritt ſchon weit oberhalb der Mündung des Apure ein; ſchon beim Algodonal und beim Cano de Manati fingen wir in letzterem Fluſſe an, denſelben zu bemerken. Die Glimmer- blättchen kommen ohne Zweifel von den Granitbergen von Curiquima und Encaramada, denn weiter nach Nord und Oſt findet man nur Quarzſand, Sandſtein, feſten Kalkſtein und Gips. Daß Anſchwemmungen von Süd nach Nord geführt werden, kann am Orinoko nicht befremden; aber wie erklärt ſich dieſelbe Erſcheinung im Bette des Apure, 31 Km weſt— wärts von ſeiner Ausmündung? Beim gegenwärtigen Zu— ſtande der Dinge läuft der Apure auch beim höchſten Waſſer— ſtande des Orinoko nie ſo weit rückwärts, und um ſich von der Erſcheinung Rechenſchaft zu geben, muß man annehmen, die Glimmerſchichten haben ſich zu einer Zeit niedergeſchlagen, wo der ganze, ſehr tief gelegene Landſtrich zwiſchen Caycara, dem Algodonal und den Bergen von Encaramada ein See— becken war. Wir verweilten einige Zeit im Hafen von Encaramada; es iſt dies eine Art Ladeplatz, wo die Schiffe zuſammen— kommen. Das Ufer beſteht aus einem 13 bis 16 m hohen Felſen, wieder jenen aufeinander getürmten Granitblöcken, wie ſie am Schneeberg in Franken und faſt in allen Granitgebirgen in Europa vorkommen. Manche dieſer abgeſonderten Maſſen ſind kugelig; es ſind aber keine Kugeln mit konzentriſchen Schichten, ſondern nur abgerundete Blöcke, Kerne, von denen das umhüllende Geſtein abgewittert iſt. Der Granit iſt blei— grau, oft ſchwarz, wie mit Manganoxyd überzogen; aber dieſe Farbe dringt kaum 0,44 mm tief ins Geſtein, das rötlich: weiß, grobkörnig iſt und keine Hornblende enthält. Die indianiſchen Namen der Miſſion San Luis del Encaramada ſind Guaja und Caramana.! Es iſt dies Die Namen der Miſſionen in Südamerika beſtehen ſämtlich aus zwei Worten, von denen das erſte notwendig ein Heiligenname iſt (der Name des Schutzpatrons der Kirche), das zweite ein india: niſches (der Name des Volkes, das hier lebt, und der Gegend, wo die Miſſion liegt). So ſagt man: San Joſe de Maypures, Santa Cruz de Chachipo, San Juan-Nepomuceno de los Atures ze. Dieſe zuſammengeſetzten Namen kommen aber nur in der amtlichen Sprache vor; die Einwohner brauchen nur einen, meiſt, wenn er wohlklingend iſt, den indianiſchen. Benachbarten Orten kommen oft dieſelben Heiligennamen zu, und dadurch entſteht in der Geographie eine heilloſe Verwirrung. Die Namen San Juan, San Pedro, San Diego ſind wie aufs Geratewohl auf unſeren Karten umher— geſtreut. 18 das kleine Dorf, das im Jahre 1749 vom Jeſuitenpater Gili, dem Verfaſſer der in Rom gedruckten Storia dell' Orinoco, gegründet wurde. Dieſer in den Indianerſprachen ſehr be— wanderte Mann lebte hier 18 Jahre in der Einſamkeit bis zur Vertreibung der Jeſuiten. Man bekommt einen Begriff davon, wie öde dieſe Landſtriche ſind, wenn man hört, daß Pater Gili von Carichana, das 180 km von Encaramada liegt, wie von einem weit entlegenen Orte ſpricht, und daß er nie bis zu dem erſten Katarakt des Stromes gekommen iſt, an deſſen Beſchreibung er ſich gewagt hat. Im Hafen von Encaramada trafen wir Kariben aus Panapana. Es war ein Kazike, der in ſeiner Piroge zum berühmten Schildkröteneierfang den Fluß hinaufging. Seine Piroge war gegen den Boden zugerundet wie ein Bongo und führte ein kleineres Kanoe, Curiara genannt, mit ſich. Er ſaß unter einer Art Zelt (Toldo), das, gleich dem Segel, aus Palmblättern beſtand. Sein kalter, einſilbiger Ernſt, die Ehrerbietung, die die Seinigen ihm bezeigten, alles zeigte, daß man einen großen Herrn vor ſich hatte. Der Kazike trug ſich übrigens ganz wie ſeine Indianer; alle waren nackt, mit Bogen und Pfeilen bewaffnet und mit Onoto, dem Farbe: ſtoff des Rocou, bemalt. Häuptling, Dienerſchaft, Geräte, Fahrzeug, Segel, alles war rot angeſtrichen. Dieſe Kariben ſind Menſchen von faſt athletiſchem Wuchs; ſie ſchienen uns weit höher gewachſen als die Indianer, die wir bisher ge— ſehen. Ihre glatten, dichten, auf der Stirne wie bei den Chorknaben verſchnittenen Haare, ihre ſchwarz gefärbten Augen— brauen, ihr finſterer und doch lebhafter Blick gaben ihrem Geſichtsausdruck etwas ungemein Hartes. Wir hatten bis jetzt nur in den Kabinetten in Europa ein paar Karibenſchädel von den Antillen geſehen und waren daher überraſcht, daß bei dieſen Indianern von reinem Blute die Stirne weit gewölbter war, als man ſie uns beſchrieben. Die ſehr großen, aber ekelhaft ſchmutzigen Weiber trugen ihre kleinen Kinder auf dem Rücken. Die Ober- und Unterſchenkel der Kinder waren in gewiſſen Abſtänden mit breiten Binden aus Baumwollenzeug eingeſchnürt. Das Fleiſch unter den Binden wird ſtark zu— ſammengepreßt und quillt in den Zwiſchenräumen heraus. Die Kariben verwenden meiſt auf ihr Aeußeres und ihren Putz ſo viel Sorgfalt, als nackte und rot bemalte Menſchen nur immer können. Sie legen bedeutenden Wert auf gewiſſe Körperformen, und eine Mutter würde gewiſſenloſer Gleich— — — gültigkeit gegen ihre Kinder beſchuldigt, wenn ſie ihnen nicht durch künſtliche Mittel die Waden nach der Landesſitte formte. Da keiner unſerer Indianer vom Apure karibiſch ſprach, konnten wir uns beim Kaziken von Panapana nicht nach den Lager⸗ plätzen erkundigen, wo man in dieſer Jahreszeit auf mehreren Inſeln im Orinoko zum Sammeln der Schildkröteneier zu— ſammenkommt. Bei Encaramada trennt eine ſehr lange Inſel den Strom in zwei Arme. Wir übernachteten in einer Felſenbucht, gegen: über der Einmündung des Rio Cabullare, zu dem der Payara und der Atamaica ſich vereinigen, und den manche als einen Zweig des Apure betrachten, weil er mit dieſem durch den Rio Arihuna in Verbindung ſteht. Der Abend war ſchön; der Mond beſchien die Spitzen der Granitfelſen. Trotz der Feuchtigkeit der Luft war die Wärme ſo gleichmäßig verteilt, daß man kein Sternflimmern bemerkte, ſelbſt nicht 4 oder 5“ über dem Horizont. Das Licht der Planeten war auf— fallend geſchwächt, und ließe mich nicht die Kleinheit des ſchein— baren Durchmeſſers Jupiters einen Irrtum in der Beobach— tung fürchten, jo ſagte ich, wir alle glaubten hier zum erſten— mal mit bloßem Auge die Scheibe des Jupiters zu ſehen. Gegen Mitternacht wurde der Nordoſtwind ſehr heftig. Er führte keine Wolken herauf, aber der Himmel bezog ſich mehr und mehr mit Dunſt. Es traten ſtarke Windſtöße ein und machten uns für unſere Piroge beſorgt. Wir hatten den ganzen Tag über nur ſehr wenige Krokodile geſehen, aber lauter ungewöhnlich große, 6,5 bis 8 m lange. Die Indianer verſicherten uns, die jungen Krokodile ſuchen lieber die Lachen und weniger breite und tiefe Flüſſe auf; beſonders in den Canos ſind ſie in Menge zu finden, und man könnte von ihnen ſagen, was Abd-Allatif von den Nilkrokodilen ſagt, „ſie wimmeln wie Würmer an den ſeichten Stromſtellen und im Schutz der unbewohnten Inſeln“. Am 6. April. Wir fuhren erſt gegen Süd, dann gegen Südweſt weiter den Orinoko hinauf und bekamen den Süd— abhang der Serrania oder der Bergkette Encaramada zu Geſicht. Der dem Fuß am nächſten gelegene Strich iſt nicht mehr als 270 bis 310 m hoch, aber die ſteilen Abhänge, die Lage mitten in einer Savanne, ihre in unförmliche Prismen zerklüfteten Felsgipfel laſſen die Serrania auffallend hoch erſcheinen. Ihre größte Breite beträgt nur 13,5 km; nach den Mitteilungen von Pareca-Indianern wird ſie gegen Oſt * bedeutend breiter. Die Gipfel der Encaramada bilden den nördlichſten Zug eines Bergſtockes, welcher ſich am rechten Ufer des Orinoko zwiſchen dem 5. und 7%½ Grad der Breite, vom Einfluß des Rio Zama bis zu dem des Cabullare hinzieht. Zwiſchen den verſchiedenen Zügen dieſes Bergſtockes liegen kleine grasbewachſene Ebenen. Sie laufen einander nicht ganz parallel, denn die nördlichſten ziehen ſich von Weſt nach Oſt, die ſüdlichſten von Nordweſt nach Südoſt. Aus dieſer ver— ſchiedenen Richtung erklärt ſich vollkommen, warum die Kor— dillere der Parime gegen Oſt, zwiſchen den Quellen des Ori— noko und des Rio Paruspa, breiter wird. Wenn wir ein— mal über die großen Katarakte von Atures und Maypures hinauf gelangt ſind, werden wir hintereinander 7 Hauptketten erſcheinen ſehen, die Berge Encaramada oder Sacuina, Cha— viripa, Baraguan, Carichana, Uniama, Calitamini und Sipapo. Dieſe Ueberſicht mag einen allgemeinen Begriff von der geo— logiſchen Beſchaffenheit des Bodens geben. Ueberall auf dem Erdball zeigen die Gebirge, wenn ſie noch ſo unregelmäßig gruppiert ſcheinen, eine Neigung zu regelmäßigen Formen. Jede Kette erſcheint einem, wenn man auf dem Orinoko fährt, im Querſchnitt als ein einzelner Berg, aber die Iſolierung iſt nur ſcheinbar. Die Regelmäßigkeit im Streichen und dem Auseinandertreten der Ketten ſcheint geringer zu werden, je weiter man gegen Oſten kommt. Die Berge der Encaramada hängen mit denen des Mato zuſammen, in welchen der Rio Aſiveru oder Cuchivero entſpringt; die Berge von Chaviripe er— ſtrecken ſich durch ihre Ausläufer, die Granitberge Coroſal, Amoco und Murcielago, bis zu den Quellen des Erevato und Ventuari. Ueber dieſe Berge, die von ſanftmütigen, ackerbauenden Indianern bewohnt ſind, ließ bei der Expedition an die Grenze General Iturriaga das Hornvieh gehen, mit dem die neue Stadt San Fernando de Atabapo verſorgt werden ſollte. Die Einwohner der Encaramada zeigten da den ſpaniſchen Sol— daten den Weg zum Rio Manapiari, der in den Ventuari mündet. Fährt man dieſe beiden Flüſſe hinab, ſo gelangt man in den Orinoko und Atabapo, ohne über die großen Katarakte zu kommen, über welche Vieh hinaufzuſchaffen ſo gut wie unmöglich wäre. Der Unternehmungsgeiſt, der den Kaſtilianern zur Zeit der Entdeckung von Amerika in ſo vor— züglichem Grade eigen war, lebte in der Mitte des 18. Jahr: hunderts auf kurze Friſt noch einmal auf, als König Fer— dinand IV. die wahren Grenzen ſeiner ungeheuren Beſitzungen — — kennen lernen wollte, und in den Wäldern von Guyana, dem klaſſiſchen Lande der Lüge und der märchenhaften Ueberliefe: rungen, die Argliſt der Indianer die ſchimäriſche Vorſtellung von den Schätzen des Dorado, welche die Einbildungskraft der erſten Eroberer ſo gewaltig beſchäftigt hatte, von neuem in Umlauf brachte. In dieſen Bergen der Encaramada, die, wie der meiſte grobkörnige Granit, keine Gänge enthalten, fragt man ſich, wo die Goldgeſchiebe herkommen, welche Juan Martinez! und Ralegh bei den Indianern am Orinoko in ſo großer Menge geſehen haben wollen. Nach meinen Beobachtungen in dieſem Teile von Amerika glaube ich, daß das Gold, wie das Zinn, zuweilen in kaum ſichtbaren Teilchen durch die ganze Maſſe des Granitgeſteins zerſtreut iſt, ohne daß man kleine veräſtete und ineinander verſchlungene Gänge anzunehmen hat. Noch nicht lange fanden Indianer aus Encaramada in der Due: brada del Tigre (Tigerſchlucht) ein Goldkorn von 4 mm Durch⸗ meſſer. Es war rund und ſchien im Waſſer gerollt. Dieſe Entdeckung war den Miſſionären noch wichtiger als den In— dianern, aber ſie blieb alleinſtehend. Ich kann dieſes erſte Glied des Bergſtockes der Encara— mada nicht verlaſſen, ohne eines Umſtandes zu erwähnen, der Pater Gili nicht unbekannt geblieben war, und deſſen man während unſeres Aufenthaltes in den Miſſionen am Orinoko häufig gegen uns erwähnte. Unter den Eingeborenen dieſer Länder hat ſich die Sage erhalten, „beim großen Waſſer, als ihre Väter das Kanoe beſteigen mußten, um der allgemeinen Ueberſchwemmung zu entgehen, haben die Wellen des Meeres die Felſen von Encaramada beſpült“. Dieſe Sage kommt nicht nur bei einem einzelnen Volke, den Tamanaken vor, ſie gehört zu einem Kreiſe geſchichtlicher Ueberlieferungen, aus dem ſich einzelne Vorſtellungen bei den Maypures an den großen Katarakten, bei den Indianern am Rio Erevato, der ſich in den Caura ergießt, und faſt bei allen Stämmen am oberen Orinoko finden. Fragt man die Tamanaken, wie das Menſchengeſchlecht dieſe große Kataſtrophe, die Waſſerzeit der Mexikaner, überlebt habe, ſo ſagen ſie, „ein Mann und ein Weib haben ſich auf einen hohen Berg, Namens Ta: manacu, am Ufer des Aſiveru, geflüchtet; da haben ſie Früchte der Mauritiapalme hinter ſich über ihre Köpfe geworfen, und Der Begleiter des Diego de Ordaz. — aus den Kernen derſelben ſeien Männlein und Weiblein ent: ſproſſen, welche die Erde wieder bevölkerten“. In ſolch ein— facher Geſtalt lebt bei jetzt wilden Völkern eine Sage, welche von den Griechen mit allem Reiz der Einbildungskraft ge— ſchmückt worden iſt. Ein paar Meilen von Encaramada ſteht mitten in der Savanne ein Fels, der ſogenannte Tepume— reme, der gemalte Fels. Man ſieht darauf Tierbilder und ſymboliſche Zeichen, ähnlich denen, wie wir ſie auf der Rückfahrt auf dem Orinoko nicht weit unterhalb Encaramada bei der Stadt Caycara geſehen. In Afrika heißen dergleichen Felſen bei den Reiſenden Fetiſchſteine. Ich vermeide den Ausdruck, weil die Eingeborenen am Orinoko von einem Fetiſchdienſt nichts wiſſen, und weil die Bilder, die wir an nunmehr unbewohnten Orten an Felſen gefunden, Sterne, Sonnen, Tiger, Krokodile, mir keineswegs Gegenſtände reli— giöſer Verehrung vorzuſtellen ſcheinen. Zwiſchen dem Caſſi— quiare und dem Orinoko, zwiſchen Encaramada, Capuchino und Caycara ſind die hieroglyphiſchen Figuren häufig ſehr hoch oben in Felswände eingehauen, wohin man nur mittels ſehr hoher Gerüſte gelangen könnte. Fragt man nun die Eingeborenen, wie es möglich geweſen ſei, die Bilder einzu— hauen, ſo erwidern ſie lächelnd, als ſprächen ſie eine That— ſache aus, mit der nur ein Weißer nicht bekannt ſein kann, „zur Zeit des großen Waſſers ſeien ihre Väter ſo hoch oben im Kanoe gefahren“. Dieſe alten Sagen des Menſchengeſchlechtes, die wir gleich Trümmern eines großen Schiffbruches über den Erdball zer— ſtreut finden, ſind für die Geſchichtsphiloſophie von höchſter Bedeutung. Wie gewiſſe Pflanzenfamilien in allen Klimaten und in den verſchiedenſten Meereshöhen das Gepräge des ge— meinſamen Typus behalten, ſo haben die kosmogoniſchen Ueberlieferungen der Völker aller Orten denſelben Charakter, eine Familienähnlichkeit, die uns in Erſtaunen ſetzt. Im Grundgedanken hinſichtlich der Vernichtung der lebendigen Schöpfung und der Erneuerung der Natur weichen die Sagen faſt gar nicht ab, aber jedes Volk gibt ihnen eine örtliche Färbung. Auf den großen Feſtländern wie auf den kleinſten Inſeln im Stillen Meere haben ſich die übrig gebliebenen Men- ſchen immer auf den höchſten Berg in der Nähe geflüchtet, und das Ereignis erſcheint deſto neuer, je roher die Völker ſind und je weniger, was ſie von ſich ſelbſt wiſſen, weit zurück— reicht. Unterſucht man die mexikaniſchen Denkmale aus der =: "28 = Zeit vor der Entdeckung der Neuen Welt genau, dringt man in die Wälder am Orinoko, ſieht man, wie unbedeutend, wie vereinzelt die europäiſchen Niederlaſſungen ſind, und in welchen Zuſtänden die unabhängig gebliebenen Stämme verharren, ſo kann man nicht daran denken, die eben beſprochene Ueberein— ſtimmung dem Einfluß der Miſſionäre und des Chriſtentums auf die Volksſagen zuzuſchreiben. Ebenſo unwahrſcheinlich iſt es, daß die Völker am Orinoko durch den Umſtand, daß ſie Meeresprodukte hoch oben in den Gebirgen gefunden, auf die Vorſtellung vom großen Waſſer gekommen ſein ſollten, das eine Zeitlang die Keime des organiſchen Lebens auf der Erde vernichtet habe. Das Land am rechten Ufer des Orinoko bis zum Caſſiquiare und Rio Negro beſteht aus Urgebirge. Ich habe dort wohl eine kleine Sandſtein- oder Konglomeratfor⸗ mation angetroffen, aber keinen ſekundären Kalkſtein, keine Spur von Verſteinerungen. Der friſche Nordoſtwind brachte uns mit vollen Segeln zur Boca de la Tortuga. Gegen 11 Uhr vormittags ſtiegen wir an einer Inſel mitten im Strome aus, welche die Indianer in der Miſſion Uruana als ihr Eigentum be- trachten. Dieſe Inſel iſt berühmt wegen des Schildkröten— fanges, oder, wie man hier ſagt, wegen der Coſecha, der Eierernte, die jährlich hier gehalten wird. Wir fanden hier viele Indianer beiſammen und unter Hütten aus Palmblättern gelagert. Das Lager war über 300 Köpfe ſtark. Seit San Fernando am Apure waren wir nur an öde Geſtade ge— wöhnt, und ſo fiel uns das Leben, das hier herrſchte, unge— mein auf. Außer den Guamos und Otomaken aus Uruana, die beide für wilde, unzähmbare Stämme gelten, waren Ka: riben und andere Indianer vom unteren Orinoko da. Jeder Stamm lagerte für ſich und unterſchied ſich durch die Farbe, mit der die Haut bemalt war. Wir fanden in dieſem lär— menden Haufen einige Weiße, namentlich „Pulperos“ oder Krämer aus Angoſtura, die den Fluß heraufgekommen waren, um von den Eingeborenen Schildkröteneieröl zu kaufen. Wir trafen auch den Miſſionär von Uruana, der aus Alcala de Henarez gebürtig war. Der Mann verwunderte ſich nicht wenig, uns hier zu finden. Nachdem er unſere Inſtrumente bewundert, entwarf er uns eine übertriebene Schilderung von den Beſchwerden, denen wir uns notwendig ausſetzten, wenn wir auf dem Orinoko bis über die Fälle hinaufgingen. Der Zweck unſerer Reiſe ſchien ihm in bedeutendes Dunkel 1 gehüllt. „Wie ſoll einer glauben,“ ſagte er, „daß ihr euer Vaterland verlaſſen habt, um euch auf dieſem Fluſſe von den Moskiten aufzehren zu laſſen und Land zu vermeſſen, das euch nicht gehört?“ Zum Glück hatten wir Empfehlungen vom Pater Gardian der Franziskaner-Miſſion bei uns, und der Schwager des Statthalters von Varinas, der bei uns war, machte bald den Bedenken ein Ende, die durch unſere Tracht, unſern Accent und unſere Ankunft auf dieſem ſandigen Eiland unter den Weißen aufgetaucht waren. Der Miſſionär lud uns zu ſeinem frugalen Mahle aus Bananen und Fiſchen ein und erzählte uns, er ſei mit den Indianern über die „Eier— ernte“ herübergekommen, „um jeden Morgen unter freiem Himmel die Meſſe zu leſen und ſich das Oel für die Altar— lampe zu verſchaffen, beſonders aber um dieſe Republica de Indios y Castellanos in Ordnung zu halten, in der jeder für ſich allein haben wollte, was Gott allen beſchert“. Wir umgingen die Inſel in Begleitung des Miſſionärs und eines Pulpero, der ſich rühmte, daß er ſeit zehn Jahren ins Lager der Indianer und zur Pesca de Tortugas komme. Man beſucht dieſes Stück des Orinoko, wie man bei uns die Meſſen von Frankfurt und Beaucaire beſucht. Wir be— fanden uns auf einem ganz ebenen Sandſtriche. Man ſagte uns: „So weit das Auge an den Ufern hin reicht, liegen Schildkröteneier unter einer Erdſchicht.“ Der Miſſionär trug eine lange Stange in der Hand. Er zeigte uns, wie man mit der Stange (Vara) ſondiert, um zu ſehen, wie weit die Eierſchicht reicht, wie der Bergmann die Grenzen eines Lagers von Mergel, Raſeneiſenſtein oder Steinkohle ermittelt. Stößt man die Vara ſenkrecht in den Boden, ſo ſpürt man daran, daß der Widerſtand auf einmal aufhört, daß man in die Höhlung oder das loſe Erdreich, in dem die Eier liegen, gedrungen iſt. Wie wir ſahen, iſt die Schicht im ganzen ſo gleichförmig verbreitet, daß die Sonde in einem Halbmeſſer von 19,5 m rings um einen gegebenen Punkt ſicher darauf ſtößt. Auch ſpricht man hier nur von Quadratſtangen Eiern, wie wenn man ein Bodenſtück, unter dem Mine— ralien liegen, in Loſe teilte und ganz regelmäßig abbaute. Indeſſen bedeckt die Eierſchicht bei weitem nicht die ganze Inſel; ſie hört überall auf, wo der Boden raſch anſteigt, weil die Schildkröte auf dieſe kleinen Plateaus nicht hinauf— kriechen kann. Ich erzählte meinen Führern von den hoch— trabenden Beſchreibungen Pater Gumillas, wie die Ufer des A. v. Humboldt, Reiſe. III. 4 — 5 > Orinoko nicht ſo viel Sandkörner enthalten als der Strom Schildkröten, und wie dieſe Tiere die Schiffe in ihrem Laufe aufhielten, wenn Menſchen und Tiger nicht alljährlich ſo viele töteten. „Son cuentos de frailes,“ ſagte der Krämer aus Angoſtura leiſe, denn da arme Miſſionäre hierzulande die ein— zigen Reiſenden ſind, ſo nennt man hier „Pfaffenmärchen“, was man in Europa den Reiſenden überhaupt aufbürden würde. Die Indianer verſicherten uns, von der Mündung des Orinoko bis zum Einfluß des Apure herauf finde man keine einzige Inſel und kein einziges Geſtade, wo man Schild— kröteneier in Maſſe ſammeln könnte. Die große Schildkröte, der Arrau (ſprich Arra-u), meidet von Menſchen bewohnte oder von Fahrzeugen beſuchte Orte. Es iſt ein furchtſames, ſcheues Tier, das den Kopf über das Waſſer ſtreckt und ſich beim leiſeſten Geräuſch verſteckt. Die Uferſtrecken, wo faſt ſämtliche Schildkröten des Orinoko ſich jährlich zuſammenzu— finden ſcheinen, liegen zwiſchen dem Zuſammenfluß des Orinoko und des Apure und den großen Fällen oder Raudales, das heißt zwiſchen Cabruta und der Miſſion Atures. Hier be— finden ſich die drei berühmten Fangplätze Encaramada oder Boca del Cabullare, Cucuruparu oder Boca de la Tortuga, und Pararuma, etwas unterhalb Carichana. Die Arrauſchild— kröte geht, wie es ſcheint, nicht über die Fälle hinauf, und wie man uns verſichert, kommen oberhalb Atures und May— pures nur Terekayſchildkröten vor. Es iſt hier der Ort, einige Worte über dieſe beiden Arten und ihr Verhältnis zu den verſchiedenen Familien der Schildkröten zu ſagen. Wir beginnen mit der Arrauſchildkröte, welche die Spanier in den Kolonieen kurzweg Tortuga nennen, und deren Geſchlecht für die Völker am unteren Orinoko von ſo großer Bedeutung iſt. Es iſt eine große Süßwaſſerſchild— kröte, mit Schwimmfüßen, ſehr plattem Kopf, zwei fleiſchigen, ſehr ſpitzen Anhängen unter dem Kinn, mit fünf Zehen an den Vorder- und vier an den Hinterfüßen, die unterhalb ge— furcht ſind. Der Schild hat 5 Platten in der Mitte, 8 ſeit— liche und 24 Randplatten; er iſt oben ſchwarzgrau, unten orangegelb, die Füße ſind gleichfalls orangegelb und ſehr lang. Zwiſchen den Augen iſt eine ſehr tiefe Furche. Die Nägel ſind ſehr ſtark und gebogen. Die Afteröffnung be— findet ſich am letzten Fünfteil des Schwanzes. Das er⸗ wachſene Tier wiegt 20 bis 25 kg. Die Eier, weit größer als Taubeneier, ſind nicht ſo länglich wie die Eier des Terekay. Sie haben eine Kalkſchale und follen fo feſt fein, daß die Kinder der Otomaken, die ſtarke Ballſpieler ſind, ſie einander zuwerfen können. Käme der Arrau oberhalb der Katarakte im Strome vor, jo gingen die Indianer am oberen Orinoko nicht ſo weit nach dem Fleiſch und den Eiern dieſer Schild— kröte; man ſah aber früher ganze Volksſtämme von den Flüſſen Arabapo | und Caſſiquiare über die Raudales herabkommen, um am Fang bei Uruana teilzunehmen. Die Terekay ſind kleiner als die Arrau. Sie haben meiſt nur 37 em Durchmeſſer. Ihr Schild hat gleichviel Platten, ſie ſind aber etwas anders verteilt. Ich zählte 4 im Mittelpunkt und zu jeder Seite 5 ſechsſeitige, am Rande 24 vierſeitige, ſtark gebogene. Der Schild iſt ſchwarz, ins Grüne ſpielend; Füße und Nägel ſind wie beim Arrau. Das ganze Tier iſt olivengrün, hat aber oben auf dem Kopfe zwei aus rot und gelb gemiſchte Flecke. Auch der Hals iſt gelb und hat einen ſtacheligen Anhang. Die Terekay thun ſich nicht in große Schwärme zuſammen wie die Arrau, um ihre Eier miteinander auf demſelben Ufer zu legen. Die Eier des Terekay haben einen angenehmen Geſchmack und ſind bei den Bewohnern von Spaniſch-Guyana ſehr geſucht. Sie kommen ſowohl im oberen Orinoko als unterhalb der Fälle vor, ferner im Apure, Uritucu, Guarico und den kleinen Flüſſen, welche durch die Llanos von Caracas laufen. Nach der Bildung der Füße und des Kopfes, nach den Anhängen an Kinn und Hals und nach der Stellung der Afteröffnung ſcheint der Arrau und wahrſcheinlich auch der Terekay eine neue Untergattung zu bilden, die von den Emyden zu trennen wäre. Durch die Anhänge und die Stellung des Afters nähern ſie ſich der Emys nasuta Schweiggers und dem Matamata in Fran: zöſiſch⸗Guyana, unterſcheiden ſich aber von letzterem durch 500 Form der Schildplatten, die keine pyramidaliſchen Buckel aben. Die Zeit, wo die große Arrauſchildkröte ihre Eier legt, fällt mit dem niedrigſten Waſſerſtand zuſammen. Da der Orinoko von der Frühlings-Tag- und Nachtgleiche an zu ſteigen anfängt, ſo liegen von Anfang Januar bis zum 20. oder 25. März die tiefſten Uferſtellen trocken. Die Arrau ſammeln ſich ſchon im Januar in große Schwärme; fie gehen jetzt aus dem Waſſer und wärmen ſich auf dem Sand in der Sonne. Die Indianer glauben, das Tier bedürfe zu ſeinem Wohlbefinden notwendig ſtarker Hitze und das Liegen in der E Sonne befördere das Eierlegen. Den ganzen Februar findet man die Arrau faſt den ganzen Tag auf dem Ufer. Zu Anfang März vereinigen ſich die zerſtreuten Haufen und ſchwimmen zu den wenigen Inſeln, auf denen ſie gewöhnlich ihre Eier legen. Wahrſcheinlich kommt dieſelbe Schildkröte jedes Jahr an dasſelbe Ufer. Um dieſe Zeit, wenige Tage vor dem Legen, erſcheinen viele tauſend Schildkröten in langen Reihen an den Ufern der Inſeln Cucuruparu, Uruana und Pararuma, recken den Hals und halten den Kopf über dem Waſſer, ausſchauend, ob nichts von Tigern oder Menſchen zu fürchten iſt. Die Indianer, denen viel daran liegt, daß die vereinigten Schwärme auch beiſammen bleiben, daß ſich die Schildkröten nicht zerſtreuen und in aller Ruhe ihre Eier legen können, ſtellen längs des Ufers Wachen auf. Man be: deutet den Fahrzeugen, ſich mitten im Strome zu halten und die Schildkröten nicht durch Geſchrei zu verſcheuchen. Die Eier werden immer bei Nacht gelegt, aber gleich von Sonnen— untergang an. Das Tier gräbt mit ſeinen Hinterfüßen, die ſehr lang ſind und krumme Klauen haben, ein Im weites und 60 em tiefes Loch. Die Indianer behaupten, um den Uferſand zu befeſtigen, benetze 55 Schildkröte denſelben mit ihrem Harn, und man glaubt ſolches am Geruche wahrzu⸗ nehmen, wenn man ein friſch gegraben Loch oder Eierneſt, wie man hier ſagt, öffnet. Der Drang der Tiere zum Eier: legen iſt ſo ſtark, daß manche in die von anderen gegrabenen, noch nicht wieder mit Erde ausgefüllten Löcher hinuntergehen und auf die friſch gelegte Eierſchicht noch eine zweite legen. Bei dieſem ſtürmiſchen Durcheinander werden ungeheuer viele Eier zerbrochen. Der Miſſionär zeigte uns, indem er den Sand an mehreren Stellen aufgrub, daß der Verluſt ein Dritteil der ganzen Ernte betragen mag. Durch das ver— trocknete Gelb der zerbrochenen Eier backt der Sand noch ſtärker zuſammen, und wir fanden Quarzſand und zerbrochene Eierſchalen in großen Klumpen zuſammengekittet. Der Tiere, welche in der Nacht am Ufer graben, ſind ſo unermeßlich viele, daß manche der Tag überraſcht, ehe fie mit dem Legen fertig werden konnten. Da treibt ſie der doppelte Drang, ihre Eier los zu werden und die gegrabenen Löcher zuzudecken, damit der Tiger ſie nicht ſehen möge. Die Schildkröten, die ſich verſpätet haben, achten auf keine Gefahr, die ihnen ſelbſt droht. Sie arbeiten unter den Augen der Indianer, die frühmorgens auf das Ufer kommen. Man nennt fie „närriſche Schild: kröten“. Trotz ihrer ungeſtümen Bewegungen fängt man fie leicht mit den Händen. Die drei Indianerlager an den oben erwähnten Orten werden Ende März und in den erſten Tagen Aprils eröffnet. Die Eierernte geht das eine Mal vor ſich wie das andere, mit der Regelmäßigkeit, die bei allem herrſcht, was von Mönchen ausgeht. Ehe die Miſſionäre an den Fluß kamen, beuteten die Eingeborenen ein Produkt, das die Natur hier in ſo reicher Fülle bietet, in weit geringerem Maße aus. Jeder Stamm durchwühlte das Ufer nach ſeiner eigenen Weiſe und es wurden unendlich viele Eier mutwillig zerbrochen, weil man nicht vorſichtig grub und mehr Eier fand, als man mitnehmen konnte. Es war, als würde eine Erzgrube von ungeſchickten Händen ausgebeutet. Den Jeſuiten gebührt das Verdienſt, daß ſie die Ausbeutung geregelt haben, und die Franziskaner, welche die Jeſuiten in den Miſſionen am Orinoko abgelöſt haben, rühmen ſich zwar, daß ſie das Verfahren ihrer Vor— gänger einhalten, gehen aber leider keineswegs mit der ge— hörigen Vorſicht zu Werke. Die Jeſuiten gaben nicht zu, daß das ganze Ufer ausgebeutet wurde; ſie ließen ein Stück un— berührt liegen, weil ſie beſorgten, die Arrauſchildkröten möchten, wenn nicht ausgerottet werden, doch bedeutend abnehmen. Jetzt wühlt man das ganze Ufer rückſichtslos um, und man meint auch zu bemerken, daß die Ernten von Jahr zu Jahr geringer werden. Iſt das Lager aufgeſchlagen, ſo ernennt der Miſſionär von Uruana ſeinen Stellvertreter oder den Kommiſſär, der den Landſtrich, wo die Eier liegen, nach der Zahl der Indianer⸗ ſtämme, die ſich in die Ernte teilen, in Loſe zerlegt. Es ſind lauter „Indianer aus den Miſſionen“ „aber ſo nackt und ver— ſunken wie die „Indianer aus den Wäldern“; man nennt ſie reducidos und neofitos, weil ſie zur Kirche gehen, wenn man die Glocke zieht, und gelernt haben, bei der Wandlung auf die Kniee zu fallen. Der Commiſſionado del Padre beginnt das Geſchäft damit, daß er den Boden ſondiert. Mit einer langen höl— zernen Stange, wie oben bemerkt, oder mit einem Bambu— rohr unterſucht er, wie weit die „Eierſchicht“ reicht. Nach unſeren Meſſungen erſtreckt ſich die Schicht bis zu 40 m vom Ufer und iſt im Durchſchnitt 1 m tief. Der Kommiſſär ſteckt ab, wie weit jeder Stamm arbeiten darf. Mit Verwunde— rung hört man den Ertrag der Eierernte gerade wie den Er— trag eines Getreideackers ſchätzen. Es kam vor, daß ein Areal genau 40 m lang und 10 m breit 100 Krüge oder für 1000 Franken Oel gab. Die Indianer graben den Boden mit den Händen auf, legen die geſammelten Eier in kleine, Mappiri genannte Körbe, tragen ſie ins Lager und werfen ſie in große, mit Waſſer gefüllte hölzerne Tröge. In dieſen Trögen werden die Eier mit Schaufeln zerdrückt und umgerührt und der Sonne ausgeſetzt, bis das Eigelb (der ölige Teil), das obenauf ſchwimmt, dick geworden iſt. Dieſer ölige Teil wird, wie er ſich auf dem Waſſer ſammelt, abgeſchöpft und bei einem ſtarken Feuer gekocht. Dieſes tieriſche Oel, das bei den Spaniern manteca de tortugas heißt, ſoll ſich deſto beſſer halten, je ſtärker es gekocht wird. Gut zubereitet iſt es ganz hell, geruchlos und kaum ein wenig gelb. Die Miſ— ſionäre ſchätzen es dem beſten Olivenöl gleich, und man braucht es nicht nur zum Brennen, ſondern auch, und zwar vorzugs— weiſe, zum Kochen, da es den Speiſen keinerlei unangenehmen Geſchmack gibt. Es hält indeſſen ſchwer, ganz reines Schild— krötenöl zu bekommen. Es hat meiſt einen fauligen Geruch, der davon herrührt, daß Eier darunter geraten ſind, in denen ſich, weil ſie ſchon länger der Sonne ausgeſetzt geweſen, die jungen Schildkröten (los tortuguillos) bereits ausgebildet hatten. Dieſe unangenehme Erfahrung machten wir nament— lich auf der Rückreiſe vom Rio Negro, wo das flüſſige Fett, das wir hatten, braun und übelriechend geworden war. Die Gefäße hatten einen faſerigen Bodenſatz, und dies iſt das Kennzeichen des unreinen Schildkrötenöls. Ich teile hier einige ſtatiſtiſche Angaben mit, die ich an Ort und Stelle aus dem Munde des Miſſionärs von Uruana, ſeines Kommiſſärs und der Krämer aus Angoſtura erhalten. Das Ufer von Uruana gibt jährlich 1000 Botijas oder Krüge Oel (manteca). Der Krug gilt in der Hauptſtadt von Guyana, gemeinhin Angoſtura genannt, 2 bis 2½ Piaſter. Der ganze Ertrag der drei Uferſtrecken, wo jährlich die Cosecha oder Ernte gehalten wird, läßt ſich auf 5000 Botijas anſchlagen. Da nun 200 Eier eine Weinflaſche oder „limeta“ voll Oel geben, ſo kommen 5000 Eier auf einen Krug oder eine Botija. Nimmt man an, jede Schildkröte gebe 100 bis 116 Eier, und ein Drittel werde während des Legens, namentlich von den Die Botija hält 25 franzöſiſche Flaſchen; fie hat 1000 bis 1200 Kubikzoll Inhalt. nn „närriſchen“ Schildkröten zerbrochen, fo ergibt ſich, daß, ſollen jährlich 5000 Krüge Oel gewonnen werden, 330 000 Arrau— ſchildkröten, die zuſammen 165 000 Zentner wiegen, auf den drei Ernteplätzen 33 Millionen Eier legen müſſen. Und mit dieſer Rechnung bleibt man noch weit unter der wahren Zahl. Viele Schildkröten legen nur 60 bis 70 Eier; viele werden im Augenblick, wo ſie aus dem Waſſer gehen, von den Ja— guaren gefreſſen; die Indianer nehmen viele Eier mit, um ſie an der Sonne zu trocknen und zu eſſen, und ſie zerbrechen bei der Ernte ſehr viele aus Fahrläſſigkeit. Die Menge der Eier, die bereits ausgeſchlüpft ſind, ehe der Menſch darüber kommt, iſt ſo ungeheuer, daß ich beim Lagerplatz von Uruana das ganze Ufer des Orinoko von jungen, 26 mm breiten Schildkröten wimmeln ſah, die mit Not den Kindern der In— dianer entkamen, welche Jagd auf ſie machten. Nimmt man noch hinzu, daß nicht alle Arrau zu den drei Lagerplätzen kommen, daß viele zwiſchen der Mündung des Orinoko und dem Einfluß des Apure einzeln und ein paar Wochen ſpäter legen, ſo kommt man notwendig zu dem Schluß, daß ſich die Zahl der Schildkröten, welche jährlich an den Ufern des unteren Orinoko ihre Eier legen, nahezu auf eine Million beläuft. Dies iſt ausnehmend viel für ein Tier von beträchtlicher Größe, das einen halben Zentner ſchwer wird, und unter deſſen Geſchlecht der Menſch ſo furchtbar aufräumt. Im allgemeinen pflanzt die Natur in der Tierwelt die großen Arten in geringerer Zahl fort als die kleinen. Das Erntegeſchäft und die Zubereitung des Oels währen drei Wochen. Nur um dieſe Zeit ſtehen die Miſſionen mit der Küſte und den benachbarten civilijierten Ländern in Ver: kehr. Die Franziskaner, die ſüdlich von den Katarakten leben, kommen zur Eierernte nicht ſowohl, um ſich Oel zu ver⸗ ſchaffen, als um weiße Geſichter zu ſehen, wie ſie ſagen, und um zu hören, „ob der König ſich im Eskorial oder in San Ildefonſo aufhält, ob die Klöſter in Frankreich noch immer aufgehoben ſind, vor allem aber, ob der Türke ſich noch immer ruhig verhält“. Das iſt alles, wofür ein Mönch am Orinoko Sinn hat, Dinge, worüber die Krämer aus Ango⸗ ſtura, die in die Lager kommen, nicht einmal genaue Aus— kunft geben können. In dieſen weit entlegenen Ländern wird eine Neuigkeit, die ein Weißer aus der Hauptſtadt bringt, nie— mals in Zweifel gezogen. Zweifeln iſt faſt ſoviel wie Denken, und wie ſollte man es nicht beſchwerlich finden, den Kopf anzuftrengen, wenn man fein Leben lang über die Hitze und die Stiche der Moskiten zu klagen hat? Die Oelhändler haben 70 bis 80 Prozent Gewinn; denn die Indianer verkaufen den Krug oder die Botija für einen harten Piaſter an ſie, und die Transportkoſten machen für den Krug nur zwei Fünftel Piaſter. Die Indianer, welche die Cosecha de huevos mitmachen, bringen auch ganze Maſſen an der Sonne getrockneter oder leicht geſottener Eier nach Hauſe. Unſere Ruderer hatten immer welche in Körben oder kleinen Säcken von Baumwollenzeug. Der Geſchmack kam uns nicht unangenehm vor, wenn ſie gut erhalten ſind. Man zeigte uns große, von Jaguaren geleerte Schildkrötenpanzer. Die Tiger gehen den Arrau auf die Uferſtriche nach, wo ſie legen wollen. Sie überfallen ſie auf dem Sande, und um ſie gemächlich verzehren zu können, kehren ſie ſie um, ſo daß der Bruſtſchild nach oben ſieht. Aus dieſer Lage können die Schildkröten ſich nicht aufrichten, und da der Tiger ihrer weit mehr umwendet, als er in der Nacht verzehren kann, jo machen fi die Indianer häufig ſeine Lift und ſeine bos⸗ hafte Habſucht zu nutze. Wenn man bedenkt, wie ſchwer der reiſende Naturforſcher den Körper der Schildkröte herausbringt, wenn er Rüden: und Bruſtſchild nicht trennen will, ſo kann man die Gewandt⸗ heit des Tigers nicht genug bewundern, der mit ſeiner Tatze den Doppelſchild des Arrau leert, als wären die Anſätze der Muskeln mit einem chirurgiſchen Inſtrumente losgetrennt. Der Tiger verfolgt. die Schildkröte ſogar ins Waſſer, wenn dieſes nicht ſehr tief iſt. Er gräbt auch die Eier aus und iſt nächſt dem Krokodil, den Reihern und dem Gallinazogeier der furchtbarſte Feind der friſch ausgeſchlüpften Schildkröten. Im verfloſſenen Jahre wurde die Inſel Pararuma während der Eierernte von ſo vielen Krokodilen heimgeſucht, daß die Indianer in einer einzigen Nacht ihrer 18, 4 bis 5 m lange, mit hakenförmigen Eiſen und Seekuhfleiſch daran, fingen. Außer den eben erwähnten Waldtieren thun auch die wilden Indianer der Oelbereitung bedeutenden Eintrag. Sobald die erſten kleinen Regenſchauer, von ihnen „Schildkrötenregen“ genannt, ſich einſtellen, ziehen ſie an die Ufer des Orinoko und töten mit vergifteten Pfeilen die Schildkröten, die mit emporgerecktem Kopf und ausgeſtreckten Tatzen ſich ſonnen. Die jungen Schildkröten (tortuguillos) zerbrechen die Eiſchale bei Tage, man ſieht ſie aber nie anders als bei Nacht — 7 — aus dem Boden ſchlüpfen. Die Indianer behaupten, das junge Tier ſcheue die Sonnenhitze. Sie wollten uns auch zeigen, wie der Tortuguillo, wenn man ihn in einem Sack weit weg vom Ufer trägt und ſo an den Boden ſetzt, daß er dem Fluſſe den Rücken kehrt, alsbald den kürzeſten Weg zum Waſſer einſchlägt. Ich geſtehe, daß dieſes Experiment, von dem ſchon Pater Gumilla ſpricht, nicht immer gleich gut ge— lingt; meiſt aber ſchienen mir die kleinen Tiere ſehr weit vom Ufer, ſelbſt auf einer Inſel, mit äußerſt feinem Gefühl zu ſpüren, von woher die feuchteſte Luft weht. Bedenkt man, wie weit ſich die Eierſchicht faſt ohne Unterbrechung am Ufer hin erſtreckt, und wie viele Tauſende kleiner Schildkröten gleich nach dem Ausſchlüpfen dem Waſſer zugehen, ſo läßt ſich nicht wohl annehmen, daß ſo viele Schildkröten, die am ſelben Orte ihre Neſter gegraben, ihre Jungen herausfinden und ſie, wie die Krokodile thun, in die Lachen am Orinoko führen können. So viel iſt aber gewiß, daß das Tier ſeine erſten Lebensjahre in den ſeichteſten Lachen zubringt und erſt, wenn es erwachſen iſt, in das große Flußbett geht. Wie finden nun die Tortu— guillos dieſe Lachen? Werden ſie von weiblichen Schildkröten hingeführt, die ſich ihrer annehmen, wie ſie ihnen aufſtoßen? Die Krokodile, deren weit nicht ſo viele ſind, legen ihre Eier in abgeſonderte Löcher, und wir werden bald ſehen, daß in dieſer Eidechſenfamilie das Weibchen gegen das Ende der Brutzeit wieder hinkommt, den Jungen ruft, die darauf ant— worten, und ihnen meiſt aus dem Boden hilft. Die Arrau— ſchildkröte erkennt ſicher, ſo gut wie das Krokodil, den Ort wieder, wo ſie ihr Neſt gemacht; da ſie aber nicht wagt, wieder zum Ufer zu kommen, wo die Indianer ihr Lager auf— geſchlagen haben, wie könnte ſie ihre Jungen von fremden Tortuguillos unterſcheiden? Andererſeits wollen die Otomaken beim Hochwaſſer weibliche Schildkröten geſehen haben, die eine ganze Menge junger Schildkröten hinter ſich hatten. Dies waren vielleicht Arrau, die allein an einem einſamen Ufer gelegt hatten, zu dem ſie wieder kommen konnten. Männ— liche Tiere ſind unter den Schildkröten ſehr ſelten; unter mehreren Hunderten trifft man kaum eines. Der Grund dieſer Erſcheinung kann hier nicht derſelbe ſein wie bei den Krokodilen, die in der Brunſt einander blutige Gefechte liefern. Unſer Steuermann war in die Playa de Huevos ein— gelaufen, um einige Mundvorräte zu kaufen, die bei uns auf die Neige gingen. Wir fanden daſelbſt friſches Fleiſch, Reis RG > RR aus Angoſtura, ſogar Zwieback aus Weizenmehl. Unſere In— dianer füllten die Piroge zu ihrem eigenen Bedarf mit jungen Schildkröten und an der Sonne getrockneten Eiern. Nach— dem wir vom Miſſionär, der uns ſehr herzlich aufgenommen, uns verabſchiedet hatten, gingen wir gegen 4 Uhr abends unter Segel. Der Wind blies friſch und in Stößen. Seit wir uns im gebirgigen Teile des Landes befanden, hatten wir die Bemerkung gemacht, daß unſere Piroge ein ſehr ſchlechtes Segelwerk führe; aber der „Patron“ wollte den Indianern, die am Ufer beiſammen ſtanden, zeigen, daß er, wenn er ſich dicht am Wind halte, mit einem Schlage mitten in den Strom kommen könne. Aber eben, als er ſeine Geſchicklich— keit und die Kühnheit ſeines Manövers pries, fuhr der Wind ſo heftig in das Segel, daß wir beinahe geſunken wären. Der eine Bord kam unter Waſſer und dasſelbe ſtürzte mit ſolcher Gewalt herein, daß wir bis zu den Knieen darin ſtanden. Es lief über ein Tiſchchen weg, an dem ich im Hinterteil des Fahrzeuges eben ſchrieb. Kaum rettete ich mein Tagebuch, und im nächſten Augenblick ſahen wir unſere Bücher, Papiere und getrockneten Pflanzen umherſchwimmen. Bon: pland ſchlief mitten in der Piroge. Vom eindringenden Waſſer und dem Geſchrei der Indianer aufgeſchreckt, überſah er unſere Lage ſogleich mit der Kaltblütigkeit, die ihm unter allen Verhältniſſen treu geblieben iſt. Der im Waſſer ſtehende Bord hob ſich während der Windſtöße von Zeit zu Zeit wieder, und ſo gab er das Fahrzeug nicht verloren. Sollte man es auch verlaſſen müſſen, ſo konnte man ſich, glaubte er, durch Schwimmen retten, da ſich kein Krokodil blicken ließ. Wäh— rend wir ſo ängſtlich geſpannt waren, riß auf einmal das Tauwerk des Segels. Derſelbe Sturm, der uns auf die Seite geworfen, half uns jetzt aufrichten. Man machte ſich alsbald daran, das Waſſer mit den Früchten der Crescentia Cujete auszuſchöpfen; das Segel wurde ausgebeſſert, und in weniger als einer halben Stunde konnten wir wieder weiter fahren. Der Wind hatte ſich etwas gelegt. Windſtöße, die mit Windſtillen wechſeln, ſind übrigens hier, wo der Orinoko im Gebirge läuft, ſehr häufig und können überladenen Schiffen ohne Verdeck ſehr gefährlich werden. Wir waren wie durch ein Wunder gerettet worden. Der Steuermann verſchanzte ſich hinter ſein indianiſches Phlegma, als man ihn heftig ſchalt, daß er ſich zu nahe am Winde gehalten. Er äußerte kaltblütig, „es werde hier herum den weißen Leuten nicht an Sonne fehlen, um ihre Papiere zu trocknen“. Wir hatten nur ein einziges Buch eingebüßt, und zwar den erſten Band von Schrebers Genera plantarum, der ins Waſſer gefallen war. Dergleichen Verluſte thun weh, wenn man auf ſo wenige wiſſenſchaftliche Werke beſchränkt iſt. Mit Einbruch der Nacht ſchlugen wir unſer Nachtlager auf einer kahlen Inſel mitten im Strome in der Nähe der Miſſion Uruana auf. Bei herrlichem Mondſchein, auf großen Schildkrötenpanzern ſitzend, die am Ufer lagen, nahmen wir unſer Abendeſſen ein. Wie herzlich freuten wir uns, daß wir alle beiſammen waren! Wir ſtellten uns vor, wie es einem ergangen wäre, der ſich beim Schiffbruch allein gerettet hätte, wie er am öden Ufer auf und ab irrte, wo er jeden Augen— blick an ein Waſſer kam, das in den Orinoko läuft und durch das er wegen der vielen Krokodile und Karibenfiſche nur mit Lebensgefahr ſchwimmen konnte. Und dieſer Mann mit ge— fühlvollem Herzen weiß nicht, was aus ſeinen Unglücksgefährten geworden iſt, und ihr Los bekümmert ihn mehr als das ſeine! Gern überläßt man ſich ſolchen wehmütigen Vorſtellungen, weil einen nach einer überſtandenen Gefahr unwillkürlich nach ſtarken Eindrücken fort verlangt. Jeder von uns war inner— lich mit dem beſchäftigt, was ſich eben vor unſeren Augen zugetragen hatte. Es gibt Momente im Leben, wo einem, ohne daß man gerade verzagte, vor der Zukunft banger iſt als ſonſt. Wir waren erſt drei Tage auf dem Orinoko und vor uns lag eine dreimonatliche Fahrt auf Flüſſen voll Klippen, in Fahrzeugen noch kleiner als das, mit dem wir beinahe zu Grunde gegangen wären. Die Nacht war ſehr ſchwül. Wir lagen am Boden auf Häuten, da wir keine Bäume zum Befeſtigen der Hängematten fanden. Die Plage der Moskiten wurde mit jedem Tage ärger. Wir bemerkten zu unſerer Ueberraſchung, daß die Jaguare hier unſere Feuer nicht ſcheuten. Sie ſchwammen über den Flußarm, der uns vom Lande trennte, und morgens hörten wir ſie ganz in unſerer Nähe brüllen. Sie waren auf die Inſel, wo wir die Nacht zubrachten, herübergekommen. Die Indianer ſagten uns, während der Eierernte zeigen ſich die Tiger an den Ufern hier immer häufiger als ſonſt, und ſie ſeien um dieſe Zeit auch am keckſten. Am 7. April. Im Weiterfahren lag uns zur Rechten die Einmündung des großen Rio Arauca, der wegen der un— geheuren Menge von Vögeln berühmt iſt, die auf ihm leben, en zur Linken die Miſſion Uruana, gemeiniglich Concepcion de Uruana genannt. Das kleine Dorf von 500 Seelen wurde um das Jahr 1748 von den Jeſuiten gegründet und daſelbſt Otomaken und Caveres- oder Cabres-Indianer angeſiedelt. Es liegt am Fuße eines aus Granitblöcken beſtehenden Berges, der, glaube ich, Saraguaca heißt. Durch die Verwitterung voneinander getrennte Steinmaſſen bilden hier Höhlen, in denen man unzweideutige Spuren einer alten Kultur der Ein: geborenen findet. Man ſieht hier hieroglyphiſche Bilder, ſogar Züge in Reihen eingehauen. Ich bezweifle indeſſen, daß dieſen Zügen ein Alphabet zu Grunde liegt. Wir beſuchten die Miſſion Uruana auf der Rückkehr vom Rio Negro und ſahen daſelbſt mit eigenen Augen die Erdmaſſen, welche die Otomaken eſſen und über die in Europa ſo viel geſtritten worden iſt. Wir maßen die Breite des Orinoko zwiſchen der Isla de Uruana und der Isla de Manteca, und es ergaben ſich, bei Hochwaſſer, 5250 m. Er iſt demnach hier, 873 km von der Mündung, achtmal breiter als der Nil bei Manfalut und Syut. Die Temperatur des Waſſers an der Oberfläche war bei Uruana 27,8“; den Zaire: oder Kongofluß in Afrika, in gleichem Abſtand vom Aequator, fand Kapitän Tuckey im Juli und Auguſt nur 23,9 bis 25,6 warm. Wir werden in der Folge ſehen, daß im Orinoko, ſowohl in der Nähe der. Ufer, wo er in dichtem Schatten fließt, als mitten im Strom, im Thalweg die Temperatur des Waſſers auf 29,5% fteigt und nicht unter 27,5% herabgeht; die Lufttemperatur war aber auch damals, vom April bis Juni, bei Tage meiſt 28 bis 30°, bei Nacht 24 bis 26“, während im Thale des Kongo von 8 Uhr morgens bis Mittag der Thermometer nur zwiſchen 20,6“ und 26,7“ ſtand. Das weſtliche Ufer des Orinoko bleibt flach bis über den Einfluß des Meta hinauf, wogegen von der Miſſion Uruana an die Berge immer näher an das öſtliche Ufer herantreten. Da die Strömung ſtärker wird, je mehr das Flußbett ſich einengt, ſo kamen wir jetzt mit unſerem Fahrzeuge bedeutend langſamer vorwärts. Wir fuhren immer noch mit dem Segel ſtromaufwärts, aber das hohe, mit Wald bewachſene Land entzog uns den Wind, und dann brachen wieder aus den engen Schluchten, an denen wir vorbeifuhren, heftige, aber ſchnell vorübergehende Winde. Unterhalb des Einfluſſes des 1 28,8 R. — mo Rio Arauca zeigten ſich mehr Krokodile als bisher, beſonders dem großen See Capanaparo gegenüber, der mit dem Ori— noko in Verbindung ſteht, wie die Lagune Cabularito zugleich in letzteren Fluß und in den Rio Arauca ausmündet. Die Indianer ſagten uns, dieſe Krokodile kommen aus dem inneren Lande, wo ſie im trockenen Schlamm der Savannen begraben gelegen. Sobald ſie bei den erſten Regengüſſen aus ihrer Erſtarrung erwachen, ſammeln ſie ſich in Rudel und ziehen dem Strome zu, auf dem ſie ſich wieder zerſtreuen. Hier im tropiſchen Erdſtrich wachen ſie auf, wenn es wieder feuchter wird; dagegen in Georgien und in Florida, im gemäßigten Erdſtrich, reißt die wieder zunehmende Wärme die Tiere aus der Erſtarrung oder dem Zuſtande von Nerven- und Muskel- ſchwäche, in dem der Atmungsprozeß unterbrochen oder doch ſehr ſtark beſchränkt wird. Die Zeit der großen Trockenheit, uneigentlich der Sommer der heißen Zone genannt, ent— ſpricht dem Winter der gemäßigten Zone, und es iſt phyſio⸗ logiſch ſehr merkwürdig, daß in Nordamerika die Alligatoren zur ſelben Zeit der Kälte wegen im Winterſchlaf liegen, wo die Krokodile in den Llanos ihre Sommerſieſta halten. Erſchiene es als wahrſcheinlich, daß dieſe . Familie angehörenden Tiere einmal in einem nördlicheren Lande zu— ſammen gelebt hätten, ſo könnte man glauben, ſie fühlen, auch näher an den Aequator verſetzt, noch immer, nachdem ſie 7 bis 8 Monate ihre Muskeln gebraucht, das Bedürfnis auszuruhen und bleiben auch unter einem neuen Himmels— ſtrich ihrem Lebensgang treu, der aufs innigſte mit ihrem Körperbau zuſammenzuhängen ſcheint. Nachdem wir an der Mündung der Kanäle, die zum See Capanaparo führen, vorbeigefahren, betraten wir ein Stromſtück, wo das Bett durch die Berge des Bara guan eingeengt iſt. Es iſt eine Art Engpaß, der bis zum Einfluß des Rio Suapure reicht. Nach den Granitbergen hier hatten die Indianer früher die Strecke des Orinoko zwiſchen dem Einfluſſe des Arauca und dem des Atabapo den Fluß Baraguan genannt, wie denn bei wilden Völkern große Ströme in verſchiedenen Strecken ihres Laufes verſchiedene Namen haben. Der Paß von Baraguan iſt ein recht maleriſcher Ort. Die Granitfelſen fallen ſenk— recht ab, und da die Bergkette, die fie bilden, von Nordweſt nach Südoſt ſtreicht, und der Strom diefen Gebirgsdamm faſt unter einem rechten Winkel durchbricht, ſo ſtellen ſich die Höhen als freiſtehende Gipfel dar. Die meiſten ſind nicht — 62 — über 330 m hoch, aber durch ihre Lage inmitten einer kleinen Ebene, durch ihre ſteilen, kahlen Abhänge erhalten ſie etwas Großartiges. Auch hier ſind wieder ungeheure, an den Rändern abgerundete Granitmaſſen, in Form von Parallelipi— peden, übereinander getürmt. Die Blöcke ſind häufig 25 m lang und 6 bis 10 m breit. Man müßte glauben, fie ſeien durch eine äußere Gewalt übereinander gehäuft, wenn nicht ein ganz gleichartiges, nicht in Blöcke geteiltes, aber von Gängen durchzogenes Geſtein anſtünde und deutlich verriete, daß das Zerfallen in Parallelipipede von atmoſphäriſchen Einflüſſen herrührt. Jene 5 bis 8 em mächtigen Gänge be— ſtehen aus einem quarzreichen, feinkörnigen Granit im grob— körnigen, faſt porphyrartigen, an ſchönen roten Feldſpatkriſtallen reichen Granit. Umſonſt habe ich mich in der Kordillere des Baraguan nach der Hornblende und den Speckſteinmaſſen um— geſehen, die fuͤr mehrere Granite der Schweizer Alpen charak— teriſtiſch ſind. Mitten in der Stromenge beim Baraguan gingen wir ans Land, um dieſelbe zu meſſen. Die Felſen ſtehen ſo dicht am Fluſſe, daß ich nur mit Mühe eine Standlinie von 156 m abmeſſen konnte. Ich fand den Strom 1733 m breit. Um begreiflich zu finden, wie man dieſe Strecke eine Strom— enge nennen kann, muß man bedenken, daß der Strom von Uruana bis zum Einfluß des Meta meiſt 2920 bis 4870 m breit iſt. Am ſelben, außerordentlich heißen und trockenen Punkte maß ich zwei ganz runde Granitgipfel, und fand ſie nur 214 und 166 m hoch. Im Inneren der Bergkette ſind wohl höhere Gipfel, im ganzen aber ſind dieſe ſo wild aus— ſehenden Berge lange nicht ſo hoch, als die Miſſionäre angeben. In den Ritzen des Geſteines, das ſteil wie Mauern da— ſteht und Spuren von Schichtung zeigt, ſuchten wir vergeblich nach Pflanzen. Wir fanden nichts als einen alten Stamm der Aubletia Tiburda mit großer birnförmiger Frucht, und eine neue Art aus der Familie der Apocyneen (Allamanda salici- folia). Das ganze Geſtein war mit zahlloſen Leguanen und Gecko mit breiten, häutigen Zehen bedeckt. Regungslos, mit aufgerichtetem Kopfe und offenem Maule ſaßen die Eidechſen da und ſchienen ſich von der heißen Luft durchſtrömen zu laſſen. Der Thermometer, an die Felswand gehalten, ſtieg auf 50,2%." Der Boden ſchien infolge der Luftſpiegelung aner — 63 — auf und ab zu ſchwanken, während ſich kein Lüftchen rührte. Die Sonne war nahe am Zenith und ihr glänzendes, vom Spiegel des Stromes zurückgeworfenes Licht ſtach ſcharf ab vom rötlichen Dunſt, der alle Gegenſtände in der Nähe um— gab. Wie tief iſt doch der Eindruck, den in dieſen heißen Landſtrichen um die Mittagszeit die Stille der Natur auf uns macht! Die Waldtiere verbergen ſich im Dickicht, die Vögel ſchlüpfen unter das Laub der Bäume oder in Fels— ſpalten. Horcht man aber in dieſer ſcheinbaren tiefen Stille auf die leiſeſten Laute, die die Luft an unſer Ohr trägt, ſo vernimmt man ein dumpfes Schwirren, ein beſtändiges Brauſen und Summen der Inſekten, von denen alle unteren Luft— ſchichten wimmeln. Nichts kann dem Menſchen lebendiger vor die Seele führen, wie weit und wie gewaltig das Reich des organiſchen Lebens iſt. Myriaden Inſekten kriechen auf dem Boden oder umgaukeln die von der Sonnenhitze verbrannten Gewächſe. Ein wirres Getöne dringt aus jedem Buſch, aus faulen Baumſtämmen, aus den Felsſpalten, aus dem Boden, in dem Eidechſen, Tauſendfüße, Cäcilien ihre Gänge graben. Es ſind ebenſo viele Stimmen, die uns zurufen, daß alles in der Natur atmet, daß in tauſendfältiger Geſtalt das Leben im ſtaubigen, zerklüfteten Boden waltet, ſo gut wie im Schoße der Waſſer und in der Luft, die uns umgibt. Die Empfindungen, die ich hier andeute, ſind keinem fremd, der zwar nicht bis zum Aequator gekommen, aber doch in Italien, in Spanien oder in Aegypten geweſen iſt. Dieſer Kontraſt zwiſchen Regſamkeit und Stille, dieſes ruhige und doch wieder jo bewegte Antlitz der Natur wirken lebhaft auf die Ein- bildungskraft des Reiſenden, ſobald er das Becken des Mittel— meeres, die Zone der Olive, des Chamärops und der Dattel— palme betritt. Wir übernachteten am öſtlichen Ufer des Orinoko am Fuße eines Granithügels. An dieſem öden Fleck lag früher die Miſſion San Regis. Gar gern hätten wir im Bara— guan eine Quelle gefunden. Das Flußwaſſer hatte einen Biſamgeruch und einen ſüßlichen, äußerſt unangenehmen Ge— ſchmack. Beim Orinoko wie beim Apure iſt es ſehr auffallend, wie abweichend ſich in dieſer Beziehung, am dürrſten Ufer, verſchiedene Stellen im Strome verhalten. Bald iſt das Waſſer ganz trinkbar, bald ſcheint es mit gallertigen Stoffen beladen. „Das macht die Rinde (die lederartige Hautdecke) der faulenden Kaiman,“ ſagen die Indianer. „Je älter der Bee Kaiman, deſto bitterer iſt ſeine Rinde.“ Ich bezweifle nicht, daß die Aaſe dieſer großen Reptilien, die der Seekühe, die 250 kg wiegen, und der Umſtand, daß die im Fluſſe lebenden Delphine eine ſchleimige Haut haben, das Waſſer verderben mögen, zumal in Buchten, wo die Strömung ſchwach iſt. Indeſſen waren die Punkte, wo man das übelriechendſte Waſſer antraf, nicht immer ſolche, wo wir viele tote Tiere am Ufer liegen ſahen. Wenn man in dieſem heißen Klima, wo man fortwährend vom Durſt geplagt iſt, Flußwaſſer mit einer Temperatur von 27 bis 28° trinken muß, jo wünſcht man natürlich, daß ein ſo warmes, mit Sand verunreinigtes Waſſer wenigſtens geruchlos ſein möchte. Am 8. April. Im Weiterfahren lagen gegen Oſt die Einmündungen des Suapure oder Sivapuri und des Caripo, gegen Weſt die des Sinaruco. Letzterer Fluß iſt nach dem Rio Arauca der bedeutendſte zwiſchen Apure und Meta. Der Suapure, der eine Menge kleiner Fälle bildet, iſt bei den Indianern wegen des vielen wilden Honigs berühmt, den die Waldungen liefern. Die Meliponen hängen dort ihre unge heuren Stöcke an die Baumäſte. Pater Gili hat im Jahre 1766 den Suapure und den Turiva, der ſich in jenen er: gießt, „ Er fand dort Stämme der Nation der Areverier. Wir übernachteten ein wenig unterhalb der Inſel Macupina. Am 9. April. Wir langten frühmorgens am Strande von Pararuma an und fanden daſelbſt ein Lager von In— dianern, ähnlich dem, das wir an der Boca de la Tortuga geſehen. Man war beiſammen, um den Sand aufzugraben, die Schildkröteneier zu ſammeln und das Oel zu gewinnen, aber man war leider ein paar Tage zu ſpät daran. Die jungen Schildkröten waren ausgekrochen, ehe die Indianer ihr Lager aufgeſchlagen hatten. Auch hatten ſich die Krokodile und die Garzes, eine große weiße Reiherart, das Säumnis zu nutze gemacht. Dieſe Tiere lieben das Fleiſch der jungen Schildkröten ſehr und verzehren unzählige. Sie gehen auf dieſen Fang bei Nacht aus, da die Tortuguillos erſt nach der Abenddaͤmmerung aus dem Boden kriechen und dem nahen Fluſſe zulaufen. Die Zamurosgeier find zu träge, um nach Sonnenuntergang zu jagen. Bei Tage ſtreifen ſie an den Ufern umher und kommen mitten ins Lager der Indianer herein, um Eßwaren zu entwenden, und meiſt bleibt ihnen, um ihren Heißhunger zu ſtillen, nichts übrig, als auf dem — 4 — Lande oder in ſeichtem Waſſer junge, 18 bis 21 em lange Krokodile anzugreifen. Es iſt merkwürdig anzuſehen, wie ſchlau ſich die kleinen Tiere eine Zeitlang gegen die Geier wehren. Sobald ſie einen anſichtig werden, richten ſie ſich auf den Vorderfüßen auf, krümmen den Rücken, ſtrecken den Kopf aufwärts und reißen den Rachen weit auf. Fortwäh— rend, wenn auch langſam, kehren ſie ſich dem Feinde zu und weiſen ihm die Zähne, die bei den eben ausgeſchlüpften Tieren ſehr lang und ſpitz ſind. Oft, während ſo ein Zamuro ganz die Aufmerkſamkeit des jungen Krokodils in Anſpruch nimmt, benutzt ein anderer die gute Gelegenheit zu einem unerwarteten Angriff. Er ſtößt auf das Tier nieder, packt es am Halſe und ſteigt damit hoch in die Luft. Wir konnten dieſem Kampf— ſpiel halbe Vormittage lang zuſehen; in der Stadt Mompox am Magdalenenſtrom hatten wir mehr als 40 ſeit 14 Tagen bis 3 Wochen ausgeſchlüpfte Krokodile in einem großen, mit einer Mauer umgebenen Hofe beiſammen. Wir trafen in Pararuma unter den Indianern einige Weiße, die von Angoſtura heraufgekommen waren, um manteca de tortuga zu kaufen. Sie langweilten uns mit ihren Klagen über die „ſchlechte Ernte“ und den Schaden, den die Tiger während des Eierlegens angerichtet, und führten uns endlich unter eine Ajupa mitten im Indianerlager. Hier ſaßen die Miſſionäre von Carichana und von den Katarakten, Karten ſpielend und aus langen Pfeifen rauchend am Boden. Mit ihren weiten blauen Kutten, geſchorenen Köpfen und langen Bärten hätten wir ſie für Orientalen gehalten. Die armen Ordensleute nahmen uns ſehr freundlich auf und erteilten uns alle Auskunft, deren wir zur Weiterfahrt bedurften. Sie litten ſeit mehreren Monaten am dreitägigen Wechſel— fieber, und ihr blaſſes abgezehrtes Ausſehen überzeugte uns unſchwer, daß in den Ländern, die wir zu betreten im Be— griff ſtanden, die Geſundheit des Reiſenden allerdings ge— fährdet ſei. Dem indianiſchen Steuermann, der uns von San Fer— nando am Apure bis zum Strande von Pararuma gebracht hatte, war die Fahrt durch die Stromſchnellen“! des Ori— noko neu, und er wollte uns nicht weiter führen. Wir mußten uns ſeinem Willen fügen. Glücklicherweiſe fand ſich der Miſſionär von Carichana willig, uns zu ſehr billigem Preiſe Kleine Waſſerfälle, chorros, raudalitos. A. v. Humboldt, Reife. III. 5 — 66 — eine hübſche Piroge abzutreten; ja der Miſſionär von Atures und Maypures bei den großen Katarakten, Pater Bernardo Zea, erbot ſich, obgleich er krank war, uns bis zur Grenze von Braſilien zu begleiten. Der Indianer, welche die Kanven über die Raudales hinaufſchaffen helfen, ſind ſo wenige, daß wir, hätten wir keinen Mönch bei uns gehabt, Gefahr gelaufen wären, wochenlang an dieſem feuchten, ungeſunden Orte liegen bleiben zu müſſen. An den Ufern des Orinoko gelten die Wälder am Rio Negro für ein köſtliches Land. Wirklich iſt auch die Luft dort friſcher und geſünder, und es gibt im Fluſſe faſt keine Krokodile; man kann unbeſorgt baden und iſt bei Tag und Nacht weniger als am Orinoko vom Inſektenſtich geplagt. Pater Zea hoffte, wenn er die Miſſionen am Rio Negro beſuchte, ſeine Geſundheit wieder herzuſtellen. Er ſprach von der dortigen Gegend mit der Begeiſterung, mit der man in den Kolonieen auf dem Feſtlande alles anſieht, was in weiter Ferne liegt. Die Verſammlung der Indianer bei Pararuma bot uns wieder ein Schauſpiel, wie es den Kulturmenſchen immer dazu anregt, den wilden Menſchen und die allmähliche Entwicke— lung unſerer Geiſteskräfte zu beobachten. Man ſträubt ſich gegen die Vorſtellung, daß wir in dieſem geſellſchaftlichen Kindheitszuſtande, in dieſem Haufen trübſeliger, ſchweigſamer, teilnahmloſer Indianer das urſprüngliche Weſen unſeres Ge— ſchlechtes vor uns haben ſollen. Die Menſchennatur tritt uns hier nicht im Gewande liebenswürdiger Einfalt entgegen, wie ſie die Poeſie in allen Sprachen ſo hinreißend ſchildert. Der Wilde am Orinoko ſchien uns ſo widrig abſtoßend als der Wilde am Miſſiſſippi, wie ihn der reiſende Philoſoph,“ der größte Meiſter in der Schilderung des Menſchen in verſchie— denen Klimaten, gezeichnet hat. Gar gern redet man ſich ein, dieſe Eingeborenen, wie ſie da, den Leib mit Erde und Fett beſchmiert, um ihr Feuer hocken oder auf großen Schild— krötenpanzern ſitzen und ſtundenlang mit dummen Geſichtern auf das Getränk glotzen, das ſie bereiten, ſeien keineswegs der urſprüngliche Typus unſerer Gattung, vielmehr ein ent— artetes Geſchlecht, die ſchwachen Ueberreſte von Völkern, die verſprengt lange in Wäldern gelebt und am Ende in Bar— barei zurückgeſunken. Die rote Bemalung iſt gleichſam die einzige Bekleidung Volney u er der Indianer, und es laſſen ſich zwei Arten derſelben unter: ſcheiden, nach der größeren oder geringeren Wohlhabenheit der Individuen. Die gemeine Schminke der Kariben, Otomaken und Yaruros iſt der Onoto, von den Spaniern Achote, von den Koloniſten in Cayenne Rocou genannt. Es iſt der Farbſtoff, den man aus dem Fruchtfleiſch der Bixa orellana auszieht. Wenn fie Onoto bereiten, werfen die indianiſchen Weiber die Samen der Pflanze in eine Kufe mit Wafjer, peitſchen das Waſſer eine Stunde lang und laſſen dann den Farbſtoff, der lebhaft aregeluot iſt, ſich ruhig abſetzen. Das Waſſer wird abgegoſſen, der? Bodenſatz herausgenommen, mit den Händen ausgedrückt, mit Schildkröteneieröl geknetet und runde 3 bis 4 Unzen ſchwere Kuchen daraus geformt. In Ermangelung von Schildkrötenöl vermengen einige Nationen den Onoto mit Krokodilfett. Ein anderer, weit koſtbarerer Farbſtoff wird aus einer Pflanze aus der Familie der Big: nonien gewonnen, die Bonpland unter dem Namen Big— nonia Chica bekannt gemacht hat. Die Tamanaken nennen dieſelbe Craviri, die Maypures Chirraviri. Sie kletttert auf die höchſten Bäume und heftet ſich mit Ranken an. Die zweilippigen Blüten find 26 mm lang, ſchön violett, und ſtehen zu zweien oder dreien beiſammen. Die doppelt gefiederten Blätter vertrocknen leicht und werden rötlich. Die Frucht iſt eine 60 em lange Schote mit geflügelten Samen. Dieſe Big: nonie wächſt bei Maypures in Menge wild, ebenſo noch weiter am Orinoko hinauf jenſeits des Einfluffes des Guaviare, von Santa Barbara bis zum hohen Berge Duida, beſonders bei Esmeralda. Auch an den Ufern des Caſſiquiare haben wir ſie gefunden. Der rote Farbſtoff des Chica wird nicht, wie der Onoto, aus der Frucht gewonnen, ſondern aus den im Waſſer geweichten Blättern. Er ſondert ſich in Geſtalt eines ſehr leichten Pulvers ab. Man formt ihn, ohne ihn mit Schildkrötenöl zu vermiſchen, zu kleinen 21 bis 23 em langen, 5 bis 8 em hohen, an den Rändern abgerundeten Broten. Erwärmt verbreiten dieſe Brote einen angenehmen Geruch, wie Benzoe. Bei der Deſtillation zeigt der Chica keine merkbare Spur von Ammoniak; es iſt kein ſtickſtoffhaltiger Körper wie der Indigo. In Schwefel⸗ und Salzſäure, ſelbſt in den Alkalien löſt er ſich etwas auf. Mit Del abgerieben, gibt der Chica eine rote, dem Lack ähnliche Farbe. Tränkt man Wolle damit, ſo könnte man ſie mit Krapprot verwechſeln. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß der Chica, der vor — unſerer Reiſe in Europa unbekannt war, ſich techniſch nützlich verwenden ließe. Am Orinoko wird dieſe Farbe am beſten von den Völkerſchaften der Salivas, Guipunaves, Caveres und Piraroas bereitet. Die meiſten Völker am Orinoko lönnen mit dem Infundieren und Macerieren gut umgehen. So treiben die Maypures ihren Tauſchhandel mit kleinen Broten von Pucuma, einem Pflanzenmehl, das wie der Indigo getrocknet wird und eine ſehr dauerhafte elbe Farbe liefert. Die Chemie des Wilden beſchränkt ſich auf die Be⸗ reitung von Farbſtoffen und von Giften und auf das Aus⸗ ſüßen der ſtärkemehlhaltigen Wurzeln der Arumarten und der Euphorbien. Die meiſten Miſſionäre am oberen und unteren Orinoko geſtatten den Indianern in ihren Miſſionen, ſich die Haut zu bemalen. Leider gibt es uche die auf die Nacktheit der Eingeborenen ſpekulieren. Da die Mönche nicht Leinwand und Kleider an ſie verkaufen können, ſo handeln ſie mit roter Farbe, die bei den Eingeborenen ſo fehr geſucht iſt. Oft ſah ich in ihren Hütten, die vornehm Conventos heißen, Nieder— lagen von Chica. Der Kuchen, die Turtu, wird bis zu vier Franken verkauft. Um einen Begriff zu geben, welchen Luxus die nackten Indianer mit ihrem Putze treiben, bemerke ich hier, daß ein hochgewachſener Mann durch zweiwöchentliche Arbeit kaum genug verdient, um ſich durch Tauſch ſo viel Chica zu verſchaffen, daß er ſich rot bemalen kann. Wie man daher in gemäßigten Ländern von einem armen Menſchen ſagt, er habe nicht die Mittel, ſich zu kleiden, ſo hört man die In— dianer am Orinoko jagen: „Der Menſch iſt jo elend, daß er ſich den Leib nicht einmal halb malen kann.“ Der kleine Handel mit Chica wird beſonders mit den Stämmen am unteren Orinoko getrieben, in deren Land die Pflanze, die den koſtbaren Stoff liefert, nicht wächſt. Die Kariben und Otomaken färben ſich bloß Geſicht und Haare mit Chica, aber den Salivas ſteht die Farbe in ſolcher Menge zu Gebote, daß ſie den ganzen Körper damit überziehen können. Wenn die Miſſionäre nach Angoſtura auf ihre Rechnung kleine Sen— dungen von Kakao, Tabak und Chiquichiqui! vom Rio Negro machen, ſo packen ſie immer auch Chicakuchen, als einen ſehr geſuchten Artikel, bei. Manche Leute europäiſcher Stricke aus den Blattſtielen einer Palme mit gefiederten Blättern, von der unten die Rede ſein wird. ee, ie Abkunft brauchen den Farbſtoff, mit Waſſer angerührt, als ein vorzügliches harntreibendes Mittel. Der Brauch, den Körper zu bemalen, iſt nicht bei allen Völkern am Orinoko gleich alt. Erſt ſeit den häufigen Ein— fällen der mächtigen Nation der Kariben in dieſe Länder iſt derſelbe allgemeiner geworden. Sieger und Beſiegte waren gleich nackt, und um dem Sieger gefällig zu ſein, mußte man ſich bemalen wie er und ſeine Farbe tragen. Jetzt iſt es mit der Macht der Kariben vorbei, ſie ſind auf das Gebiet zwi— ſchen den Flüſſen Carony, Cuyuni und Paraguamuzi beſchränkt, aber die karibiſche Mode, den ganzen Körper zu färben, ha: ſich erhalten; der Brauch iſt dauernder als die Croberung. Iſt nun der Gebrauch des Onoto und des Chica ein Kind der bei wilden Völkern ſo häufigen Gefallſucht und ihrer Liebe zum Putz, oder gründet er ſich vielleicht auf die Beob— achtung, daß ein Ueberzug von färbenden und öligen Stoffen die Haut gegen den Stich der Moskiten ſchützt? In den Miſſionen am Orinoko und überall, wo die Luft von giftigen Inſekten wimmelt, habe ich dieſe Frage ſehr oft erörtern hören. Die Erfahrung zeigt, daß der Karibe und der Saliva, die rot bemalt ſind, von Moskiten und Zancudos ſo arg ge— plagt werden als die Indianer, die keine Farbe aufgetragen haben. Bei beiden hat der Stich des Inſektes keine Ge— ſchwulſt zur Folge; faſt nie bilden ſich die Blaſen oder kleinen Beulen, die friſch angekommenen Europäern ein ſo unerträg— liches Jucken verurſachen. Solange aber das Inſekt den Saugrüſſel nicht aus der Haut gezogen hat, ſchmerzt der Stich den Eingeborenen und den Weißen gleich ſehr. Nach tauſend anderen nutzloſen Verſuchen haben Bonpland und ich uns ſelbſt Hände und Arme mit Krokodilfett und Schildkröten— eieröl eingerieben und davon nie die geringſte Erleichterung geſpürt; wir wurden geſtochen nach wie vor. Ich weiß wohl, daß Oel und Fett von den Lappen als die wirkſamſten Schutz— mittel gerühmt werden, aber die ſkandinaviſchen Inſekten und die am Orinoko ſind nicht von derſelben Art. Der Tabaks— rauch verſcheucht unſere Schnaken, gegen die Zancudos hilft er nichts. Wenn die Anwendung von fetten und adſtringieren⸗ den Stoffen! die unglücklichen Landeseinwohner vor der In— ſektenplage ſchützte, wie Pater Gumilla behauptet, warum Das Fleiſch des Rocou und auch der Chica ſind adſtrin— gierend und leicht abſührend. a wäre der Brauch, ſich zu bemalen, hierzulande nicht ganz allge: mein geworden? Wie könnten ſo viele nackte Völker, die ſich bloß das Geſicht bemalen, dicht neben ſolchen wohnen, die den ganzen Körper färben? Es erſcheint auffallend, daß die Indianer am Orinoko, wie die Eingeborenen in Nordamerika, rote Farbſtoffe allen anderen vorziehen. Rührt dieſe Vorliebe davon her, daß der Wilde ſich leicht ockerartige Erden oder das Farbmehl des Rocou und des Chica verſchafft? Das möchte ich ſehr be— zweifeln. In einem großen Teile des tropiſchen Amerikas wächſt der Indigo wild, und dieſe Pflanze, wie ſo viele andere Schotengewächſe, hätten den Eingeborenen reichlich Mittel geboten, ſich blau zu färben wie die alten Britannier, und doch ſehen wir in Amerika keine mit Indigo bemalten Stämme. Wenn die Amerikaner der roten Farbe den Vorzug geben, ſo beruht dies, wie ſchon oben bemerkt, wahrſcheinlich auf dem Triebe der Volker, alles, was ſie nationell auszeichnet, ſchön zu finden. Menſchen, deren Haut von Natur rotbraun iſt, lieben die rote Farbe. Kommen ſie mit niedriger Stirn, mit abgeplattetem Kopfe zur Welt, ſo ſuchen ſie bei ihren Kindern die Stirne niederzudrücken. Unterſcheiden ſie ſich von anderen Völkern durch ſehr dünnen Bart, ſo ſuchen ſie die wenigen Haare, welche die Natur ihnen wachſen laſſen, auszuraufen. Sie halten ſich für deſto ſchöner, je ſtärker ſie die charakteriſtiſchen Züge ihres Stammes oder ihrer Nationalbildung hervortreten laſſen. Im Lager auf Pararuma machten wir die auffallende Bemerkung, daß ſehr alte Weiber mit ihrem Putz ſich mehr zu ſchaffen machten als die jüngſten. Wir ſahen eine In— dianerin vom Stamme der Otomaken, die ſich die Haare mit Schildkrötenöl einreiben und den Rücken mit Onoto und Caruto bemalen ließ; zwei ihrer Töchter mußten dieſes Ge— ſchäft verrichten. Die Malerei beſtand in einer Art Gitter von ſchwarzen ſich kreuzenden Linien auf rotem Grunde; in jedes kleine Viereck wurde mitten ein ſchwarzer Punkt ge— macht, eine Arbeit, zu der unglaubliche Geduld gehörte. Wir hatten ſehr lange botanifiert, und als wir zurückkamen, war die Malerei noch nicht halb fertig. Man wundert ſich über einen ſo umſtändlichen Pitz um ſo mehr, wenn man bedenkt, daß die Linien und Figuren nicht tättowiert werden, und daß das ſo mühſam Aufgemalte ſich verwiſcht, wenn ſich der Indianer 1 Der 1 ätzende Farbſtoff des Caruto (Genipa unvorfichtigerweife einem ſtarken Regen ausſetzt. Manche Na— tionen bemalen ſich nur, wenn ſie Feſte begehen, andere ſind das ganze Jahr mit Farbe angeſtrichen, und bei dieſen iſt der Gebrauch des Onoto ſo unumgänglich, daß Männer und Weiber ſich wohl weniger ſchämten, wenn ſie ſich ohne Guayuco, als wenn ſie ſich unbemalt blicken ließen. Die Guayucos beſtehen am Orinoko teils aus Baumrinde, teils aus Baumwollenzeug. Die Männer tragen ſie breiter als die Weiber, die überhaupt (wie die Miſſionäre behaupten) weniger Schamgefühl haben. Schon Chriſtoph Kolumbus hat eine ähnliche Bemerkung gemacht. Sollte dieſe Gleichgültigkeit der Weiber, dieſer ihr Mangel an Scham unter Völkern, deren Sitten doch nicht ſehr verdorben ſind, nicht daher rühren, daß das andere Geſchlecht in Südamerika durch Mißbrauch der Gewalt von ſeiten der Männer ſo tief herabgewürdigt und zu Sklavendienſten verurteilt iſt? Iſt in Europa von einem Eingeborenen von Guyana die Rede, ſo ſtellt man ſich einen Menſchen vor, der an Kopf und Gürtel mit ſchönen Arras-, Tucan-, Tangara- und Kolibrifedern geſchmückt iſt. Von jeher gilt bei unſeren Malern und Bildhauern ſolcher Putz für das charakteriſtiſche Merkmal eines Amerikaners. Zu unſerer Ueberraſchung ſahen wir in den Miſſionen der Chaymas, in den Lagern von Uruana und Pararuma, ja beinahe am ganzen Orinoko und Caſſiquiare nirgends jene ſchönen Federbüſche, jene Federſchürzen, wie ſie die Reiſenden ſo oft aus Cayenne und Demerary heimbringen. Die meiſten Völkerſchaften in Guyana, ſelbſt die, deren Geiſtes— kräfte ziemlich entwickelt ſind, die Ackerbau treiben und Baum— wollenzeug weben, ſind ſo nackt, ſo arm, ſo ſchmucklos wie die Neuholländer. Bei der ungeheuren Hitze, beim ſtarken Schweiß, der den Körper den ganzen Tag über und zum Teil auch bei Nacht bedeckt, iſt jede Bekleidung unerträglich. Die Putzſachen, namentlich die Federbüſche werden nur bei Tanz und Feſtlich— keit gebraucht. Die Federbüſche der Guaypunaves ſind wegen der Auswahl der ſchönen Manakin- und Papageienfedern die berühmteſten. americana) widerſteht dem Waſſer länger, wie wir zu unſerem großen Verdruß an uns ſelbſt erfuhren. Wir ſcherzten eines Tages mit den Indianern und machten uns mit Caruto Tupfen und Striche ins Geſicht, und man ſah dieſelben noch, als wir ſchon wieder in Angoſtura, im Schoße europäiſcher Kultur waren. TB ui Die Indianer bleiben nicht immer bei einem einfachen Farbenüberzug ſtehen; zuweilen ahmen fie mit ihrer Haut: malerei in der wunderlichſten Weiſe den Schnitt europäiſcher Kleidungsſtücke nach. Wir ſahen- in Pararuma welche, die ſich blaue Jacken mit ſchwarzen Knöpfen malen ließen. Die Miſſionäre erzählten uns ſogar, die Guaynaves am Rio Caura färben ſich mit Onoto und machen ſich dem Körper entlang breite Querſtreifen, auf die fie ſilberfarbige Glimmerblättchen kleben. Von weitem ſieht es aus, als trügen die nackten Menſchen mit Treſſen beſetzte Kleider. Wären die bemalten Völker ſo ſcharf beobachtet worden wie die bekleideten, ſo wäre man zum Schluſſe gelangt, daß beim Bemalen ſo gut wie bei der Bekleidung, der Brauch von großer Fruchtbarkeit der Einbildungskraft und ſtarkem Wechſel der Laune er: zeugt wird. Das Bemalen und Tättowieren iſt in beiden Welten weder auf einen Menſchenſtamm, noch auf einen Erdſtrich be— ſchränkt. Am häufigſten kommen dieſe Arten von Putz bei Völkern malaiiſcher und amerikaniſcher Raſſe vor; aber zur Zeit der Römer beſtand die Sitte auch bei der weißen Raſſe im Norden von Europa. Wenn Kleidung und Tracht im Griechiſchen Archipel und in Weſtaſien am maleriſchten ſind, ſo ſind Bemalung und Tättowierung bei den Inſulanern der Südſee am höchſten ausgebildet. Manche bekleideten Völker bemalen ſich dabei doch Hände, Nägel und Geſicht. Die Be— malung erſcheint hier auf die Körperteile beſchränkt, die allein bloß getragen werden, und während die Schminke, die an den wilden Zuſtand der Menſchheit erinnert, in Europa nach und nach verſchwindet, meinen die Damen in manchen Städten der Provinz Peru ihre doch ſo feine und ſehr weiße Haut durch Auftragen von vegetabiliſchen Farbſtoffen, von Stärke, Eiweiß und Mehl ſchöner zu machen. Wenn man lange unter Menſchen gelebt hat, die mit Onoto und Chica bemalt ſind, fallen einem dieſe Ueberreſte alter Barbarei inmitten aller Gebräuche der gebildeten Welt nicht wenig auf. Im Lager von Pararuma hatten wir Gelegenheit, manche Tiere, die wir bis dahin nur von den europäiſchen Samm— lungen her kannten, zum erſtenmal lebend zu ſehen. Die Miſſionäre treiben mit dergleichen kleinen Tieren Handel. Gegen Tabak, Maniharz, Chicafarbe, Gallitos gl Titi⸗, Kapuziner- und andere an den Küſten ſehr geſuchte Affen tauſchen ſie Zeuge, Nägel, Aexte, Angeln und Steck— a ir nadeln ein. Die Produkte vom Orinoko werden den India: nern, die unter der Herrſchaft der Mönche leben, zu niedrigem Preiſe abgekauft, und dieſelben Indianer kaufen dann von den Mönchen, aber zu ſehr hohen Preiſen, mit dem Gelde, das ſie bei der Eierernte erlöſen, ihre Fiſchergeräte und ihre Acker— werkzeuge. Wir kauften mehrere Tiere, die uns auf der übrigen Stromfahrt begleiteten und deren Lebensweiſe wir ſomit beobachten konnten. Ich habe dieſe Beobachtungen in einem anderen Werke bekannt gemacht; da ich aber einmal von denſelben Gegenſtänden zweimal handeln muß, beſchränke ich mich hier auf ganz kurze Angaben und füge Notizen bei, wie ſie mir ſeitdem hie und da in meinen Reiſetagebüchern aufſtießen. Die Gallitos oder Felshühner, die man in Pararuma in niedlichen kleinen Bauern aus Palmblattſtielen verkauft, ſind an den Ufern des Orinoko und im ganzen Norden und Weſten des tropiſchen Amerikas weit ſeltener als in franzöſiſch Guyana. Man fand ſie bisher nur bei der Miſſion Encara— mada und in den Raudales oder Fällen von Maypures. Ich ſage ausdrücklich in den Fällen; denn dieſe Vögel niſten gewöhnlich in den Höhlungen der kleinen Granitfelſen, die ſich durch den Orinoko ziehen und ſo zahlreiche Waſſerfälle bilden. Wir ſahen ſie manchmal mitten im Waſſerſchaum zum Vorſchein kommen, ihrer Henne rufen und miteinander kämpfen, wobei ſie wie unſere Hähne den doppelten beweg— lichen Kamm, der ihren Kopfſchmuck bildet, zuſammenfalten. Da die Indianer ſelten erwachſene Gallitos fangen und in Europa nur die Männchen geſchätzt ſind, die vom dritten Jahre an prächtig goldgelb werden, ſo muß der Käufer auf der Hut ſein, um nicht ſtatt jungen Hahnen junge Hennen zu bekommen. Beide ſind olivenbraun; aber der Pollo oder junge Hahn zeichnet ſich ſchon ganz jung durch ſeine Größe und ſeine gelben Füße aus. Die Henne bleibt ihr Leben lang dunkelfarbig, braun, und nur die Spitzen und der Unterteil der Flügel ſind bei ihr gelb. Soll der er— wachſene Felshahn in unſeren Sammlungen die ſchöne Farbe ſeines Gefieders erhalten, ſo darf man dasſelbe nicht dem Lichte ausſetzen. Die Farbe bleicht weit ſchneller als bei an— deren Gattungen ſperlingsartiger Vögel. Die jungen Hahnen haben, wie die meiſten Tiere, das Gefieder der Mutter. Es wundert mich, wie ein ſo ausgezeichneter Beobachter wie Le Vaillant in Zweifel ziehen kann, ob die Henne wirklich immer * dunkelfarbig, olivenbraun bleibt. Die Indianer bei den Rau⸗ dales verſicherten mich alle, niemals ein goldfarbiges Weibchen geſehen zu haben. Unter den Affen, welche die Indianer in Paramara zu Markte gebracht, ſahen wir mehrere Spielarten des Sar,“ der der kleinen Gruppe der Winſelaffen angehört, die in den ſpaniſchen Kolonieen Matchi heißen, ferner Marimondas? oder Atelen mit rotem Bauche, Titi und Viuditas. Die beiden letzteren Arten intereſſierten uns beſonders, und wir kauften ſie, um ſie nach 3 zu ſchicken. Buffons Uiſtiti“ iſt Azzaras Titi, der Titi? von Cartagena und Darien iſt Büffons Pinche, und der Titi® vom Orinoko iſt der Saimiri der franzöſiſchen Zoologen, und dieſe Tiere dürfen nicht verwechſelt werden. In den verſchiedenen ſpaniſchen Kolonieen heißen Titi Affen, die drei verſchiedenen Unter— gattungen angehören und in der Zahl der Backenzähne von— einander abweichen. Nach dem eben Angeführten iſt die Be— merkung faſt überflüſſig, wie wünſchenswert es wäre, daß man in wiſſenſchaftlichen Werken ſich der landesüblichen Namen enthielte, die durch unſere Orthographie entſtellt werden, die in jeder Provinz wieder anders lauten, und ſo die klägliche Verwirrung in der zoologiſchen Nomenklatur vermehren. Der Titi vom Orinoko (Simia sciurea), bis jetzt ſchlecht abgebildet, indeſſen in unſeren Sammlungen ſehr be— kannt, heißt bei den Maypuresindianern Bititeni. Er kommt ſüdlich von den Katarakten ſehr häufig vor. Er hat ein weißes Geſicht und über Mund und Naſenſpitze weg einen kleinen blauſchwarzen Fleck. Die am zierlichſten gebauten und am ſchönſten gefärbten (der Pelz iſt goldgelb) kommen von den Ufern des Caſſiqujare. Die man am Guaviare fängt, ſind groß und ſchwer zu zähmen. Kein anderer Affe ſieht im Geſichte einem Kinde ſo ähnlich wie der Titi; es iſt derſelbe Ausdruck von Unſchuld, dasſelbe ſchalkhafte Lächeln, derſelbe ! Simia capucina. 2 Simia Belzebuth. Einen ſchönen Saimiri oder Titi vom Orinoko kauft man in Paramara für 8 bis 9 Piaſter; der Miſſionär bezahlt dem In: dianer, der den Affen gefangen und gezähmt, 1 Piaſter. 4 Simia Jacobus. 5 Simia Oedipus. 6 Simia sciurea 18 raſche Uebergang von Freude zu Trauer. Seine großen Augen füllen ſich mit Thränen, ſobald er über etwas ängſtlich wird. Er iſt ſehr luſtern nach Inſekten, beſonders nach Spinnen. Das kleine Tier iſt ſo klug, daß ein Titi, den wir auf un— ſerem Kanoe nach Angoſtura brachten, die Tafeln zu Cuviers Tableau elementaire d'histoire naturelle ganz gut unter: ſchied. Dieſe Kupfer ſind nicht koloriert, und doch ſtreckte der Titi raſch die kleine Hand aus, in der Hoffnung, eine Heu— ſchrecke oder eine Weſpe zu erhaſchen, ſo oft wir ihm die 11.. Tafel vorhielten, auf der dieſe Inſekten abgebildet find. Zeigte man ihm Skelette oder Köpfe von Säugetieren, blieb er völlig gleichgültig. Setzt man mehrere dieſer kleinen Affen, die im ſelben Käfig 5 ſind, dem Regen aus, und fällt die gewöhnliche Lufttemperatur raſch um 2 bis 3°, fo ſchlingen ſie ſich den Schwanz, der übrigens kein Wickelſchwanz iſt, um den Hals und verſchränken Arme und Beine, um ſich gegenſeitig zu erwärmen. Die indianiſchen Jäger erzählten uns, man finde in den Wäldern häufig Haufen von 10, 12 ſolcher Affen, die erbärmlich ſchreien, weil die auswärts Stehen⸗ den in den Knäuel hinein möchten, um Wärme und Schutz zu finden. Schießt man mit Pfeilen, die in Curare des- templado (in verdünntes Gift) getaucht find, auf einen ſolchen Knäuel, ſo fängt man viele junge Affen auf einmal lebendig. Der junge Titi bleibt im Fallen an ſeiner Mutter hängen, und wird er durch den Sturz nicht verletzt, ſo weicht er nicht von Schulter und Hals des toten Tieres. Die meiſten, die man in den Hütten der Indianer lebend antrifft, ſind auf dieſe Weiſe von den Leichen ihrer Mütter geriſſen worden. Erwachſene Tiere, wenn ſie auch von leichten Wunden geneſen ſind, gehen meiſt zu Grunde, ehe ſie ſich an den Zuſtand der Gefangenſchaft gewöhnt haben. Die Titi find meiſt zarte, furchtſame kleine Tiere. Sie ſind aus den Miſſionen am Orinoko ſchwer an die Küſten von Cumana und Caracas zu bringen. Sobald man die Waldregion hinter ſich hat und 1 Ich führe bei dieſer Gelegenheit an, daß ich niemals bemerkt habe, daß ein Gemälde, auf dem Haſen und Rehe in natürlicher Größe und vortrefflich abgebildet waren, auf Jagdhunde, bei denen doch der Verſtand ſehr entwickelt ſchien, den mindeſten Eindruck gemacht hätte. Gibt es einen beglaubigten Fall, wo ein Hund das Porträt ſeines Herrn in ganzer Figur erkannt hätte? In allen dieſen Fällen wird das Geſicht nicht vom Geruch unterſtützt. S die Llanos betritt, werden ſie traurig und niedergeſchlagen. Der unbedeutenden Zunahme der Temperatur kann man dieſe Veränderung nicht zuſchreiben, ſie ſcheint vielmehr vom ſtär— keren Licht, von der gringeren Feuchtigkeit und von irgend welcher chemiſchen Beſchaffenheit der Luft an der Küſte her— zurühren. Den Saimirt oder Titi vom Orinoko, den Atelen, Saju und anderen ſchon lange in Europa bekannten Vier: händern ſteht in ſcharfem Abſtich, nach Habitus und Lebens— weise, der Macavahu gegenüber, den die Miſſionäre Viudita oder Witwe in Trauer nennen. Das kleine Tier hat feines, glänzendes, ſchön ſchwarzes Haar. Das Geſicht hat eine weiß— liche, ins Blaue ſpielende Larve, in der Augen, Naſe und Mund ſtehen. Die Ohren haben einen umgebogenen Rand, ſind klein, wohlgebildet und faſt ganz nackt. Vorn am Halſe hat die Witwe einen weißen, zollbreiten Strich, der ein halbes Halsband bildet. Die Hinterfüße oder vielmehr Hände ſind ſchwarz wie der übrige Körper, aber die Vorderhände ſind außen weiß und innen glänzend ſchwarz. Dieſe weißen Abzeichen deuten nun die Miſſionäre als Schleier, Halstuch und Handſchuhe einer Witwe in Trauer. Die Gemütsart dieſes kleinen Affen, der ſich nur beim Freſſen auf den Hinter— beinen aufrichtet, verrät ſich durch ſeine Haltung nur ſchwer. Er ſieht ſanft und ſchüchtern aus; häufig berührt er das Freſſen nicht, das man ihm bietet, ſelbſt wenn er ſtarken Hunger hat. Er iſt nicht gern in Geſellſchaft anderer Affen; wenn er den kleinſten Saimiri anſichtig wird, läuft er davon. Sein Auge verrät große Lebhaftigkeit. Wir ſahen ihn ſtunden— lang regungslos daſitzen, ohne daß er ſchlief, und auf alles, was um ihn vorging, achten. Aber dieſe Schüchternheit und Sanftmut ſind nur ſcheinbar. Iſt die Viudita allein, ſich ſelbſt überlaſſen, ſo wird ſie wütend, ſobald ſie einen Vogel ſieht. Sie klettert und läuft dann mit erſtaunlicher Behendig— keit; ſie macht einen Satz auf ihre Beute, wie die Katze, und erwürgt, was ſie erhaſchen kann. Dieſer ſehr ſeltene und ſehr zärtliche Affe lebt auf dem rechten Ufer des Orinoko in den Granitgebirgen hinter der Miſſion Santa Barbara, ferner am Guaviare bei San Fernando de Atabapo. Die Viudita hat die ganze Reiſe auf dem Caſſiquiare und Rio Negro mitgemacht und iſt zweimal mit uns über die Katarakte ! Simia lugens. — 77 — gegangen. Will man die Sitten der Tiere genau beobachten, ſo iſt es nach meiner Meinung ſehr vorteilhaft, wenn man ſie monatelang in freier Luft, nicht in Häuſern, wo ſie ihre natürliche Lebhaftigkeit ganz verlieren, unter den Augen hat. Die neue für uns beſtimmte Piroge wurde noch am Abend geladen. Es war, wie alle indianiſchen Kanoen, ein mit Axt und Feuer ausgehöhlter Baumſtamm, 13 m lang und 1 m breit. Drei Perſonen konnten nicht nebeneinander darin ſitzen. Dieſe Pirogen ſind ſo beweglich, ſie erden weil ſie ſo wenig Widerſtand leiſten, eine ſo gleichmäßige Ver— teilung der Laſt, daß man, wenn man einen Augenblick auf— ſtehen will, den Ruderern (bogas) zurufen muß, ſich auf die entaegengefetste Seite zu lehnen; ohne dieſe Vorſicht liefe das Waſſer notwendig über den geneigten Bord. Man macht ſich nur ſchwer einen Begriff davon, wie übel man auf einem ſolchen elenden Fahrzeuge daran iſt. Der Miſſionär aus den Raudales betrieb die Zu— rüſtungen zur Weiterfahrt eifriger, als uns lieb war. Man beſorgte, nicht genug Macos- und Guahibos-Indianer zur Hand zu haben, die mit dem Labyrinth von kleinen Kanälen und Waſſerfällen, welche die Raudales oder Katarakte bilden, bekannt wären; man legte daher die Nacht über an In⸗ dianer in den Cepo, das heißt, man legte ſie auf den Boden und ſteckte ihnen die Beine durch zwei Holzſtücke mit Aus⸗ ſchnitten, um die man eine Kette mit Vorlegſchloß legte. Am frühen Morgen weckte uns das Geſchrei eines jungen Mannes, den man mit einem Seekuhriemen unbarmherzig peitſchte. Es war Zerepe, ein ſehr verſtändiger Indianer, der uns in der Folge die beſten Dienſte leiſtete, jetzt aber nicht mit uns gehen wollte. Er war aus der Miſſion Atures gebürtig, ſein Vater war ein Maco, ſeine Mutter vom Stamme der May— pures; er war in die Wälder (al monte) entlaufen und hatte ein paar Jahre unter nicht unterworfenen Indianern gelebt. Dadurch hatte er ſich mehrere Sprachen zu eigen ge— macht, und der Miſſionär brauchte ihn als Dolmetſcher. Nur mit Mühe brachten wir es dahin, daß der junge Mann be— gnadigt wurde. „Ohne ſolche Strenge, “hieß es, „würde es euch an allem fehlen. Die Indianer aus den Raudales und vom oberen Orinoko ſind ein ſtärkerer und arbeitſamerer Men— ſchenſchlag als die am unteren Orinoko. Sie wiſſen wohl, daß ſie in Angoſtura ſehr geſucht ſind. Ließe man ſie machen, ſo gingen ſie alle den Fluß hinunter, um ihre Produkte zu verkaufen und in voller Freiheit unter den Weißen zu leben, und die Miſſionen ſtünden leer.“ Dieſe Gründe mögen ſcheinbar etwas für ſich haben, richtig ſind ſie nicht. Will der Menſch der Vorteile des ge— ſelligen Lebens genießen, ſo muß er allerdings ſeine natür— lichen Rechte, ſeine frühere Unabhängigkeit zum Teil zum Opfer bringen. Wird aber das Opfer, das man ihm auf— erlegt, nicht durch die Vorteile der Givilifation aufgewogen, fo nährt der Wilde fort und fort den Wunſch, in die Wälder zurückzukehren, in denen er geboren worden. Weil der In⸗ dianer aus den Wäldern in den meiſten Miſſionen als ein Leibeigener behandelt wird, weil er der Früchte ſeiner Arbeit nicht froh wird, deshalb veröden die chriſtlichen Niederlaſſungen am Orinoko. Ein Regiment, das ſich auf die Vernichtung der Freiheit der Eingeborenen gründet, tötet die Geiſteskräfte oder hemmt doch ihre Entwickelung. i Wenn man ſagt, der Wilde müſſe wie das Kind unter ſtrenger Zucht gehalten werden, ſo iſt dies ein unrichtiger Vergleich. Die Indianer am Orinoko haben in den Aeuße⸗ rungen ihrer Freude, im raſchen Wechſel ihrer Gemütsbewe— gungen etwas Kindliches; ſie ſind aber keineswegs große Kinder, ſo wenig als die armen Bauern im öſtlichen Europa, die in der Barbarei des Feudalſyſtemes ſich der tiefſten Verkommen⸗ heit nicht entringen können. Zwang, als hauptſächlichſtes und einziges Mittel zur Sittigung des Wilden, erſcheint zu⸗ dem als ein Grundſatz, der bei der Erziehung der Völker und bei der Erziehung der Jugend gleich falſch iſt. Wie ſchwach und wie tief geſunken auch der Menſch ſein mag, keine Fähig— keit iſt ganz erſtorben. Die menſchliche Geiſteskraft iſt nur dem Grade und der Entwickelung nach verſchieden. Der Wilde, wie das Kind, vergleicht den gegenwärtigen Zuſtand mit dem vergangenen; er beſtimmt ſeine Handlungen nicht nach blindem Inſtinkt, ſondern nach Rückſichten der Nützlichkeit. Unter allen Umſtänden kann Vernunft durch Vernunft aufgeklärt werden; die Entwickelung derſelben wird aber deſto mehr niedergehalten, je weiter diejenigen, die ſich zur Erziehung der Jugend oder zur Regierung der Völker berufen glauben, im hochmütigen Gefühl ihrer Ueberlegenheit auf die ihnen Unter: gebenen herabbliden und Zwang oder Gewalt brauchen ſtatt der ſittlichen Mittel, die allein keimende Fähigkeiten entwickeln, die aufgeregten Leidenſchaften ſänftigen und die geſellſchaft- liche Ordnung befeſtigen können. Am 10. April. Wir konnten erſt um 10 Uhr morgens unter Segel gehen. Nur ſchwer gewöhnten wir uns an die neue Piroge, die uns eben ein neues Gefängnis war. Um an Breite zu gewinnen, hatte man auf dem Hinterteile des Fahrzeuges aus Baumzweigen eine Art Gitter angebracht, das auf beiden Seiten über den Bord hinausreichte. Leider war das Blätterdach (el toldo) darüber ſo niedrig, daß man ge— bückt ſitzen oder ausgeſtreckt liegen mußte, wo man dann nichts ſah. Da man die Pirogen durch die Stromſchnellen, ja von einem Fluſſe zum anderen ſchleppen muß, und weil man dem Winde zu viel Fläche böte, wenn man den Toldo höher machte, ſo kann auf den kleinen Fahrzeugen, die zum Rio Negro hinaufgehen, die Sache nicht anders eingerichtet werden. Das Dach war für vier Perſonen beſtimmt, die auf dem Verdeck oder dem Gitter aus Baumzweigen lagen; aber die Beine reichen weit über das Gitter hinaus, und wenn es regnet, wird man zum halben Leibe durchnäßt. Dabei liegt man auf Ochſenhäuten oder Tigerfellen und die Baumzweige darunter drücken einen durch die dünne Decke gewaltig. Das Vorder⸗ teil des Fahrzeuges nahmen die indianiſchen Ruderer ein, die 1m lange, löffelförmige Pagaien führen. Sie find ganz nackt, ſitzen paarweiſe und rudern im Takt, den ſie merk— würdig genau einhalten. Ihr Geſang iſt trübſelig, eintönig. Die kleinen Käfige mit unſeren Vögeln und Affen, deren immer mehr wurden, je weiter wir kamen, waren teils am Toldo, teils am Vorderteil aufgehängt. Es war unſere Reiſe— menagerie. Obgleich viele der kleinen Tiere durch Zufall, meiſt aber am Sonnenſtich zu Grunde gingen, hatten wir ihrer bei der Rückkehr vom Caſſiquiare noch vierzehn. Natura— lienſammler, die lebende Tiere nach Europa bringen wollen, könnten ſich in Angoſtura und Gran-Para, den beiden Haupt- ſtädten am Orinoko und Amazonenſtrom, eigens für ihren Zweck Pirogen bauen laſſen, wo im erſten Dritteil zwei Reihen gegen die Sonnenglut geſchützter Käfige angebracht wären. Wenn wir unſer Nachtlager aufſchlugen, befanden ſich die Menagerie und die Inſtrumente immer in der Mitte; rings— um kamen fofort unſere Hängematten, dann die der Indianer, und zu äußerſt die Feuer, die man für unentbehrlich hielt, um den Jaguar fernzuhalten. Um Sonnenaufgang ſtimmten unſere Affen in das Geſchrei der Affen im Walde ein. Dieſer Verkehr zwiſchen Tieren derſelben Art, die einander zugethan ſind, ohne ſich zu ſehen, von denen die einen der Freiheit — 80 — genießen, nach der die anderen ſich ſehnen, hat etwas Weh— mütiges, Rührendes Auf der überfüllten, keinen Meter breiten Piroge blieb für die getrockneten Pflanzen, die Koffer, einen Sextanten, den Inklinationskompaß und die meteorologiſchen Inſtrumente kein Platz als der Raum unter dem Gitter aus Zweigen, auf dem wir den größten Teil des Tages ausgeſtreckt liegen mußten. Wollte man irgend etwas aus einem Koffer holen oder ein Inſtrument gebrauchen, mußte man ans Ufer fahren und ausſteigen. Zu dieſen Unbequemlichkeiten kam noch die Plage der Moskiten, die unter einem ſo niedrigen Dache in Scharen hauſen, und die Hitze, welche die Palmblätter ausſtrahlen, deren obere Fläche beſtändig der Sonnenglut ausgeſetzt iſt. Jeden Augenblick ſuchten wir uns unſere Lage erträglicher zu machen, und immer vergeblich. Während der eine ſich unter ein Tuch ſteckte, um ſich vor den Inſekten zu ſchützen, verlangte der andere, man ſolle grünes Holz unter dem Toldo anzünden, um die Mücken durch den Rauch zu vertreiben. Wegen des Brennens der Augen und der Steigerung der ohnehin erſtickenden Hitze war das eine Mittel ſo wenig an— wendbar als das andere. Aber mit einem munteren Geiſte, bei gegenſeitiger Herzlichkeit, bei offenem Sinn und Auge für die großartige Natur dieſer weiten Stromthäler fällt es den Reiſenden nicht ſchwer, Beſchwerden zu ertragen, die zur Ge— wohnheit werden. Wenn ich mich hier auf dieſe Kleinigkeiten eingelaſſen habe, geſchah es nur, um die Schiffahrt auf dem Orinoko zu ſchildern und begreiflich zu machen, daß Bonpland und ich auf dieſem Stück unſerer Reiſe beim beſten Willen lange nicht alle die Beobachtungen machen konnten, zu denen uns die an wiſſenſchaftlicher Ausbeute ſo reiche Naturum— gebung aufforderte. Unſere Indianer zeigten uns am rechten Ufer den Ort, wo früher die ums Jahr 1733 von den Jeſuiten gegründete Miſſion Pararuma geſtanden. Eine Pockenepidemie, die unter den Salivasindianern große Verheerungen anrichtete, war der Hauptgrund, warum die Miſſion einging. Die wenigen Ein— wohner, welche die ſchreckliche Seuche überlebten, wurden im Dorfe Carichana aufgenommen, das wir bald beſuchen werden. Hier bei Pararuma war es, wo, nach Pater Romans Aus— ſage, gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts bei einem ſtarken Gewitter Hagel fiel. Dies iſt ſo ziemlich der einzige Fall, der meines Wiens in einer faſt im Niveau des Meeres EA liegenden Niederung vorgekommen; denn im allgemeinen hagelt es unter den Tropen nur in mehr als 580 m Meereshöhe. Bildet ſich der Hagel in derſelben Höhe über Niederungen und Hochebenen, jo muß man annehmen, er ſchmelze bei feinem Durchgang durch die unterſten Luftſchichten (zwiſchen 0 und 580 m), deren mittlere Temperatur 27,5“ und 24° beträgt. Ich geſtehe indeſſen, daß es beim jetzigen Stande der Meteo⸗ rologie ſehr ſchwer zu erklären iſt, warum es in Philadelphia, Rom und Montpellier in den heißeſten Monaten mit einer mittleren Temperatur von 25 bis 26° hagelt, während in Cumana, Guayra und überhaupt in den Niederungen in der Nähe des Aequators die Erſcheinung nicht vorkommt. In den Vereingten Staaten und im ſüdlichen Europa (unter dem 40. bis 43. Grad der Breite) iſt die Temperatur auf den Niederungen im Sommer ungefähr ebenſo hoch als unter den Tropen. Auch die Wärmeabnahme iſt nach meinen Unter— ſuchungen nur wenig verſchieden. Rührt nun der Umſtand, daß in der heißen Zone kein Hagel fällt, davon her, daß die Hagelkörner beim Durchgang durch die unteren Luftſchichten ſchmelzen, ſo muß man annehmen, daß die Körner im Mo— ment der Bildung in der gemäßigten Zone größer ſind als in der heißen. Wir kennen die Bedingungen, unter denen in unſerem Klima das Waſſer in einer Gewitterwolke friert, noch ſo wenig, daß wir nicht zu beurteilen vermögen, ob unter dem Aequator über den Niederungen dieſelben Bedingungen eintreten. Ich bezweifle, daß ſich der Hagel immer in einer Luftregion bildet, deren mittlere Temperatur gleich Null iſt, und die bei uns im Sommer 2920 bis 3120 m hoch liegt. Die Wolken, in denen man die Hagelkörner, bevor ſie fallen, an— einander ſchlagen hört, und die wagerecht ziehen, kamen mir immer lange nicht ſo hoch vor, und es erſcheint begreiflich, daß in ſolch geringerer Höhe durch die Ausdehnung der auf— ſteigenden Luft, welche an Wärmekapazität zunimmt, durch Ströme kalter Luft aus einer höheren Breite, beſonders aber (nach Gay⸗Luſſac) durch die Strahlung der oberen Fläche der Wolken, eine ungewöhnliche Erkältung hervorgebracht wird. Ich werde Gelegenheit haben, auf dieſen Punkt zurückzu— kommen, wenn von den verſchiedenen Formen die Rede iſt, unter denen auf den Anden in 3900 bis 5070 m Meeres— höhe Hagel und Graupen auftreten, und die Frage erörtert wird, ob man die Wolken, welche die Gebirge einhüllen, als eine horizontale Fortſetzung der Wolkenſchicht betrachten A. v. Humboldt, Reiſe. III. 6 are kann, die wir in den Niederungen gerade über uns ſich bilden ſehen. Im Orinoko ſind ſehr viele Inſeln und der Strom fängt jetzt an, ſich in mehrere Arme zu teilen, deren weſtlichſter in den Monaten Januar und Februar trocken liegt. Der ganze Strom iſt 3,9 bis 5,8 km breit. Der Inſel Javanavo gegen: über ſahen wir gegen Oſt die Mündung des Cano Au— jacoa. Zwiſchen dieſem Gano und dem Rio Paruaſi oder Paruati wird das Land immer ſtärker bewaldet. Aus einem Palmenwalde nicht weit vom Orinoko ſteigt, ungemein maleriſch, ein einzelner Fels empor, ein Granitpfeiler, ein Prisma, deſſen kahle, ſchroffe Wände gegen 65 m hoch ſind. Den Gipfel, der über die höchſten Waldbäume emporragt, krönt eine ebene, wagerechte Felsplatte. Auf dieſem Gipfel, den die Miſſionäre Pik oder Mogote de Cocuyza nennen, ſtehen wieder Bäume. Dieſes großartig einfache Naturdenkmal erinnert an die eyklo— piſchen Bauwerke. Sein ſcharf gezeichneter Umriß und oben darauf die Bäume und das Buſchwerk heben ſich vom blauen Himmel ab, ein Wald über einem Walde. Weiterhin beim Einfluß des Paruaſi wird der Orinoko wieder ſchmäler. Gegen Oſten ſahen wir einen Berg mit plattem Gipfel, der wie ein Vorgebirge herantritt. Er iſt gegen 100 m hoch und diente den Jeſuiten als feſter Platz. Sie hatten ein kleines Fort darauf angelegt, das drei Batterien enthielt, und in dem beſtändig ein Militärpoſten lag. In Carichana und Atures ſahen wir die Kanonen ohne Lafetten, halb im Sande begraben. Die Jeſuitenſchanze (oder Fortaleza de San Francisco Xavier) wurde nach der Aufhebung der Geſellſchaft Jeſu zerſtört, aber der Ort heißt noch el Castillo. Auf einer in neueſter Zeit in Caracas von einem Weltgeiſt— lichen entworfenen, nicht geſtochenen Karte führt derſelbe den Namen Trinchera del despotismo monacal (Schanze des Mönchsdeſpotismus). In allen politiſchen Umwälzungen ſpricht ſich der Geiſt der Neuerung, der über die Menge kommt, auch in der geographiſchen Nomenklatur aus. Die Beſatzung, welche die Jeſuiten auf dieſem Felſen hatten, ſollte nicht allein die Miſſionen gegen die Einfälle der Kariben ſchützen, ſie diente auch zum Angriffskriege, oder, wie man hier jagt, zur Eroberung von Seelen (conquista de almas). Die Soldaten, durch die ausgeſetzten Geldbe— lohnungen angefeuert, machten mit bewaffneter Hand Einfälle oder Entradas auf das Gebiet unabhängiger Indianer. Man — 7 brachte um, was Widerſtand zu leiſten wagte, man brannte die Hütten nieder, zerſtörte die Pflanzungen und ſchleppte Greiſe, Weiber und Kinder als Gefangene fort. Die Ge— fangenen wurden ſofort in die Miſſionen am Meta, Rio Negro und oberen Orinoko verteilt. Man wählte die ent- legenſten Orte, damit ſie nicht in Verſuchung kämen, wieder in ihr Heimatland zu entlaufen. Dieſes gewaltſame Mittel, Seelen zu erobern, war zwar nach ſpaniſchem Geſetz verboten, wurde aber von den bürgerlichen Behörden geduldet und von den Oberen der Geſellſchaft, als der Religion und dem Aufkommen der Miſſionen forderlich, höchlich ge— prieſen. „Die Stimme des Evangeliums,“ ſagt ein Jeſuit vom Orinoko in den ‚erbaulichen Briefen“! äußerſt naiv, „wird nur da vernommen, wo die Indianer Pulver haben knallen hören (el eco de la polvora). Sanftmut iſt ein gar lang— ſames Mittel. Durch Züchtigung erleichtert man ſich die Be— kehrung der Eingeborenen.“ Dergleichen die Menſchheit ſchän— dende Grundſätze wurden ſicher nicht von allen Gliedern einer Geſellſchaft geteilt, die in der Neuen Welt und überall, wo die Erziehung ausſchließlich in den Händen von Mönchen eblieben iſt, der Wiſſenſchaft und der Kultur Dienſte geleiſtet or Aber die Entradas, die geiſtlichen Eroberungen mit dem Bajonett waren einmal ein von einem Regiment, bei dem es nur auf raſche Ausbreitung der Miſſionen ankam, unzertrennlicher Greuel. Es thut dem Gemüte wohl, daß die Franziskaner, Dominikaner und Auguſtiner, welche gegenwärtig einen großen Teil von Südamerika regieren und, je nachdem ſie von milder oder roher Sinnesart ſind, auf das Geſchick von vielen Tauſenden von Eingeborenen den mächtigſten Ein— fluß üben, nicht nach jenem Syſtem verfahren. Die Einfälle mit bewaffneter Hand ſind faſt ganz abgeſtellt, und wo ſie noch vorkommen, werden ſie von den Ordensoberen mißbilligt. Wir wollen hier nicht ausmachen, ob dieſe Wendung des Mönchregimentes zum Beſſeren daher rührt, daß die frühere Thätigkeit erſchlafft iſt und der Lauheit und Indolenz Platz gemacht hat, oder ob man darin, was man ſo gern thäte, einen Beweis ſehen ſoll, daß die Aufklärung zunimmt und eine höhere, dem wahren Geiſte des Chriſtentums entſprechen— dere Geſinnung Platz greift. ! Cartas edificantes de la Compania de Jesus 1757. — 1 Vom Einfluß des Rio Paruaſi an wird der Orinoko wieder ſchmäler. Er iſt voll Inſeln und Granitklippen, und ſo entſtehen hier die Stromſchnellen oder kleinen Fälle (los remolinos), die beim erſten Anblick wegen der vielen Wirbel dem Reiſenden bange machen können, aber in keiner Jahreszeit den Schiffen gefährlich ſind. Man muß wenig zu Schiffe geweſen ſein, wenn man wie Pater Gili, der ſonſt ſo genau und verſtändig iſt, ſagen kann: „& terrible pe’ molti scogli il tratto del fiume tral Castello e Caricciana.“ Eine Reihe von Klippen, die faſt über den ganzen Fluß läuft, heißt Raudal de Marimara. Wir legten ſie ohne Schwierig⸗ keit zurück, und zwar in einem ſchmalen Kanal, in dem das Waſſer ungeſtüm, wie ſiedend, unter der Piedra de Mari⸗ mara heraufſchießt, einer kompakten Granitmaſſe, 26 m hoch und 100 m im Umfang, ohne Spalten und ohne Spur von Schichtung. Der Fluß tritt weit ins Land hinein und bildet in den Felſen weite Buchten. Eine dieſer Buchten zwiſchen zwei kahlen Vorgebirgen heißt der Hafen von Carichana. Der Ort hat ein wildes Ausſehen; das Felſenufer wirft ſeine mächtigen Schatten über den Waſſerſpiegel und das Waſſer erſcheint ſchwarz, wenn ſich dieſe Granitmaſſen darin ſpiegeln, die, wie ſchon bemerkt, wegen der eigenen Färbung ihrer Oberfläche, bald wie Steinkohlen, bald wie Bleierz ausſehen. Wir übernachteten im kleinen Dorfe Carichana, wo wir auf die Empfehlung des guten Miſſionärs Fray Joſe Antonio de Torre im Pfarrhauſe oder Convento Aufnahme fanden. Wir hatten ſeit faſt 14 Tagen unter keinem Dache geſchlafen. Am 11. April. Um die für die Geſundheit oft ſo nach— teiligen Folgen der Ueberſchwemmungen zu vermeiden, wurde die Miſſion Carichana 3,3 km vom Fluſſe angelegt. Die Indianer find vom Stamme der Salivas. Die urſprüng— lichen Wohnſitze desſelben ſcheinen auf dem weſtlichen Ufer des Orinoko zwiſchen dem Rio Vichada und dem Guaviare, ſowie zwiſchen dem Meta und dem Rio Paute geweſen zu ſein. Gegenwärtig findet man Salivas nicht nur in Carichana, ſondern auch in den Miſſionen der Provinz Caſanare, in Cabapuna, Guanapalo, Cabiuna und Macuco. Letzteres im Jahre 1730 vom Jeſuiten 3 Manuel Roman gegründete Dorf hat 1300 Einwohner. Die Salivas ſind ein geſelliges, ſanftes, faſt ſchüchternes Volk, und leichter, ich ſage nicht zu civiliſieren, aber in der Zucht zu halten als andere am Ori— noko. Um ſich der Herrſchaft der Kariben zu entziehen, ließen a. die Salivas ſich leicht herbei, ſich den erſten Jeſuitenmiſſionen anzuſchließen. Die Patres rühmen aber auch in ihren Schriften durchgängig ihren Verſtand und ihre Gelehrigkeit. Die Sa— livas haben großen Hang zur Muſik; ſeit den älteſten Zeiten blaſen ſie Trompeten aus gebrannter Erde, die 1,3 bis 1,6 m lang ſind und mehrere kugelförmige Erweiterungen haben, die durch enge Röhren zuſammenhängen. Dieſe Trompeten geben ſehr klägliche Töne. Die Jeſuiten haben die natürliche Neigung der Salivas zur Inſtrumentalmuſik mit Glück ausgebildet, und auch nach der Aufhebung der Geſellſchaft Jeſu haben die Miſſionäre am Rio Meta in San Miguel de Macuco die ſchöne Kirchenmuſik und den muſikaliſchen Unterricht der Jugend fort gepflegt. Erſt kürzlich ſah ein Reiſender zu ſeiner Ver— wunderung die Eingeborenen Violine, Violoncell, Triangel, Guitarre und Flöte ſpielen. In den vereinzelten Miſſionen am Orinoko wirkt die Verwaltung nicht ſo günſtig auf die Entwickelung der Kultur der Salivas und die Zunahme der Bevölkerung, als das Syſtem, das die Auguſtiner auf den Ebenen am Caſanare und Meta befolgen. In Macuco haben die Eingeborenen durch den Verkehr mit den Weißen im Dorfe, die faſt lauter „Flücht— linge von Socorro” ſind, ſehr gewonnen. Zur Jeſuitenzeit wurden die drei Dörfer am Orinoko, Pararuma, Caſtillo oder Marumarutu und Carichana in eines, Carichana, verſchmolzen, das damit eine ſehr anſehnliche Miſſion wurde. Im Jahre 1759, als die Fortaleza de San Francisco Xavier und ihre drei Batterien noch ſtanden, zählte Pater Caulin in der Miſ— ſion Carichana 400 Salivas; im Jahre 1800 fand ich ihrer kaum 150. Vom Dorfe iſt nichts übrig als einige Lehm— hütten, die ſymmetriſch um ein ungeheuer hohes Kreuz her— liegen. ! Die Stadt Socorro, ſüdlich vom Rio Sogamoza und nord— nordöſtlich von Santa Fé de Bogota, war der Hauptherd des Auf— ruhrs, der im Jahre 1781 im Königreich Neugranada unter dem Erzbiſchof Vizekönig Gongora wegen der Plackereien ausbrach, denen das Volk infolge der Einführung der Tabakspacht ausgeſetzt ge— weſen. Viele fleißige Einwohner von Socorro wanderten damals in die Llanos am Meta aus, um ſich den Verfolgungen zu ent— ziehen, welche der vom Madrider Hof erteilten allgemeinen Amneſtie folgten. Dieſe Ausgewanderten heißen in den Miſſionen Socor— renos refugiados. — 886 — Wir trafen unter dieſen Indianern eine Frau von weißer Abkunft, die Schweſter eines Jeſuiten aus Neugranada. Un⸗ beſchreiblich iſt die Freude, wenn man mitten unter Völkern, deren Sprache man nicht verſteht, einem Weſen begegnet, mit dem man ſich ohne Dolmetſcher unterhalten kann. Jede Miſſion hat zum wenigſten zwei ſolche Dolmetſcher, lenguarazes. Es ſind Indianer, etwas weniger beſchränkt als die anderen, mittels deren die Miffionäre am Orinoko, die ſich gegenwärtig nur ſelten die Mühe nehmen, die Landesſprachen kennen zu lernen, mit den Neugetauften verkehren. Dieſe Dolmetſcher begleiteten uns beim Botaniſieren. Sie verſtehen wohl ſpaniſch, aber ſie können es nicht recht ſprechen. In ihrer faulen Gleich— gültigkeit geben ſie, man mag fragen, was man will, wie aufs Geratewohl, aber immer mit gefälligem Lächeln zur Ant— wort: „Ja, Pater; nein, Pater.“ Man begreift leicht, daß einem die Geduld ausgeht, wenn man monatelang ſolche Ge— ſpräche zu führen hat, ſtatt über Gegenſtände Auskunft zu erhalten, für die man ſich lebhaft intereſſiert. Nicht ſelten konnten wir nur mittels mehrerer Dolmetſcher und ſo, daß derſelbe Satz mehrmals überſetzt wurde, mit den Eingeborenen verkehren. „Von meiner Miſſion an,“ ſagte der gute Ordensmann in Uruana, „werdet ihr reiſen wie Stumme.“ Und dieſe Vorherſagung iſt ſo ziemlich in Erfüllung gegangen, und um nicht um allen Nutzen zu kommen, den man aus dem Ver— kehr ſelbſt mit den verſunkenſten Indianern ziehen kann, griffen wir zuweilen zur Zeichenſprache. Sobald der Eingeborene merkt, daß man ſich keines Dolmetſchers bedienen will, ſobald man ihn unmittelbar befragt, indem man auf die Gegenſtände deutet, ſo legt er ſeine gewöhnliche Stumpfheit ab und weiß ſich mit merkwürdiger Gewandtheit verſtändlich zu machen. Er macht Zeichen aller Art, er ſpricht die Worte langſam aus, er wiederholt ſie unaufgefordert. Es ſcheint ſeiner Eigenliebe zu ſchmeicheln, daß man ihn beachtet und ſich von ihm belehren läßt. Dieſe Leichtigkeit, ſich verſtändlich zu machen, zeigt ſich beſonders auffallend beim unabhängigen Indianer, und was die chriſtlichen Niederlaſſungen betrifft, muß ich den Reiſenden den Rat geben, ſich vorzugsweiſe an Eingeborene zu wenden, die erſt ſeit kurzem unterworfen ſind oder von Zeit zu Zeit wieder in den Wald laufen, um ihrer früheren Freiheit zu genießen. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß der unmittelbare Verkehr mit den Eingebore— ug, nen belehrender und ſicherer iſt als der mittels des Dol— metſchers, wenn man nur ſeine Fragen zu vereinfachen weiß und dieſelben hintereinander an mehrere Individuen in verſchiedener Geſtalt richtet. Zudem ſind der Mundarten, welche am Meta, Orinoko, Caſſiquiare und Rio Negro geſprochen werden, ſo unglaublich viele, daß der Reiſende ſelbſt mit dem bedeutend— ſten Sprachtalent nie ſo viele derſelben ſich aneignen könnte, um ſich längs der ſchiffbaren Ströme von Angoſtura bis zum Fort San Carlos am Rio Negro verſtändlich zu machen. In Peru und Quito kommt man mit der Kenntnis der Quichua— oder Inkaſprache aus, in Chile mit dem Araukaniſchen, in Paraguay mit dem Guarani; man kann ſich wenigſtens der Mehrzahl der Bevölkerung verſtändlich machen. Ganz anders in den Miſſionen in ſpaniſch Guyana, wo im ſelben Dorfe Völker verſchiedenen Stammes untereinander wohnen. Hier wäre es nicht einmal genug, wenn man folgende Sprachen verſtünde: Karibiſch oder Carina, Guamo, Guahiva, Jaruro, Otomaco, Maypure, Saliva, Marivitano, Maquiritare und Guaica, zehn Sprachen, von denen es nur ganz rohe Sprach— lehren gibt und die untereinander weniger verwandt ſind als Griechiſch, Deutſch und Perſiſch. Die Umgegend der Miſſion Carichana ſchien uns aus— gezeichnet ſchön. Das kleine Dorf liegt auf einer der gras— bewachſenen Ebenen, wie ſie von Encaramada bis über die Katarakte von Maypures hinauf ſich zwiſchen all den Ketten der Granitberge hinziehen. Der Waldſaum zeigt ſich nur in der Ferne. Ringsum iſt der Horizont von Bergen begrenzt, zum Teil bewaldet, von düſterer Färbung, zum Teil kahl mit felſigen Gipfeln, die der Strahl der untergehenden Sonne vergoldet. Einen ganz eigentümlichen Charakter erhält die Gegend durch die faſt ganz kahlen Felsbänke, die oft 260 m im Umfang haben und ſich kaum ein paar Centimeter über die umgebende Grasflur erheben. Sie machen gegenwärtig einen Teil der Ebene aus. Man fragt ſich mit Verwunde— rung, ob hier ein ungewöhnlich ſtürmiſches Ereignis Damm— erde und Gewächſe weggeriſſen, oder ob der Granitkern unſeres Planeten hier nackt zu Tage tritt, weil ſich die Keime des Lebens noch nicht auf allen Punkten entwickelt haben. Die— ſelbe Erſcheinung ſcheint in Schamo zwiſchen der Mongolei und China vorzukommen. Dieſe in der Wüſte zerſtreuten Felsbänke heißen Tſy. Es wären, wie mir ſcheint, eigentliche Plateaus, wären von der Ebene umher der Sand und die — 88 — Erde weg, welche das Waſſer an den tiefſten Stellen ange ſchwemmt hat. Auf den Felsplatten bei Carichana hat man, was ſehr intereſſant iſt, den Gang der Vegetation von ihren Anfängen durch die verſchiedenen Entwickelungsgrade vor Augen. Da ſieht man Flechten, welche das Geſtein zer: klüften und mehr oder weniger dicke Kruſten bilden; wo ein wenig Quarzſand ſich angehäuft hat, finden Saftpflanzen Nahrung; endlich in Höhlungen des Geſteins haben ſich ſchwarze, aus zerſetzten Wurzeln und Blättern ſich bildende Erdſchichten abgeſetzt, auf denen immergrünes Buſchwerk wächſt. Handelte es ſich hier von großartigen Natureffekten, ſo käme ich nicht auf unſere Gärten und die ängſtlichen Künſteleien der Menſchenhand; aber der Kontraſt zwiſchen Felsgeſtein und blühendem Geſträuch, die Gruppen kleiner Bäume da und dort in der Savanne erinnert unwillkürlich an die mannig— faltigſten und maleriſchten Partieen unſerer Parke. Es iſt, als hätte hier der Menſch mit tiefem Gefühl für Natur— ſchönheit den herben, rauhen Charakter der Gegend mildern wollen. Neun, zwölf Kilometer von der Miſſion findet man auf dieſen von Granitbergen durchzogenen Ebenen eine ebenſo üppige als mannigfaltige Vegetation. Allen Dörſern ober— halb der großen Katarakte gegenüber kann man hier bei Carichana auffallend leicht im Lande fortkommen, ohne daß man ſich an die Flußufer hält und auf Wälder ſtößt, in die nicht einzudringen iſt. Bonpland machte mehrere Ausflüge zu Pferde, auf denen er ſehr viele Gewächſe erbeutete. Ich er— wähne nur den Paraguatan, eine ſehr ſchöne Art von Macro— enemum, deren Rinde rot färbt, den Guaricamo mit gif— tiger Wurzel, die Jacaranda obtusifolia und den Serrape oder Jape der Salivasindianer, Aublets Coumarouna, der in ganz Terra Firma wegen ſeiner aromatiſchen Frucht be— rühmt iſt. Dieſe Frucht, die man in Caracas zwiſchen die Wäſche legt, während man ſie in Europa unter dem Namen Tonca- oder Tongobohne unter den Schnupftabak miſcht, wird für giftig gehalten. In der Provinz Cumana glaubt man allgemein, das eigentümliche Aroma des vortrefflichen Liqueurs, der auf Martinique bereitet wird, komme vom Jape; dies iſt aber unrichtig. Derſelbe heißt in den Miſ— ſionen Simaruba, ein Name, der zu argen Mißgriffen An— laß geben kann, denn die echte Simaruba iſt eine Quaſſia— art, eine Fieberrinde, und wächſt in Spaniſch-Guyana nur 28 im Thale des Rio Caura, wo die Paudacotosindianer ſie Achecchari nennen. In Carichana, auf dem großen Platze, fand ich die In— klination der Magnetnadel gleich 33,70,“ die Intenſität der magnetiſchen Kraft gleich 227 Schwingungen in 10 Zeit— minuten, eine Steigerung, bei der örtliche Anziehungen im Spiel ſein mochten. Die vom Waſſer des Orinoko geſchwärzten Granitblöcke wirken übrigens nicht merkbar auf den Magnet. Der Barometer ſtand um Mittag 760 mm hoch, der Thermo— meter zeigte im Schatten 30,6“. Bei Nacht fiel die Tempe— eg der Luft auf 26,2“; der Delueſche Hygrometer ſtand auf 46. Am 10. April war der Fluß um mehrere Zoll geſtiegen; die Erſcheinung war den Eingeborenen auffallend, da ſonſt der Strom anfangs faſt unmerklich ſteigt, und man ganz daran gewöhnt iſt, daß er im April ein paar Tage lang wieder fällt. Der Orinoko ſtand bereits 1 m über dem niedrig— ſten Punkte. Die Indianer zeigten uns an einer Granitwand die Spuren der gegenwärtigen Hochgewäſſer; ſie ſtanden nach unſerer Meſſung 13,6 m hoch, und dies iſt doppelt ſo viel als durchſchnittlich beim Nil. Aber dieſes Maß wurde an einem Orte genommen, wo das Strombett bedeutend durch Felſen eingeengt iſt, und ich konnte mich nur an die Angabe der In— dianer halten. Man ſieht leicht, daß das Stromprofil, die Beſchaffenheit der mehr oder weniger hohen Ufer, die Zahl der Nebenflüſſe, die das Regenwaſſer hereinführen, und die Länge der vom Fluß zurückgelegten Strecke auf die Wirkungen der Hochgewäſſer und auf ihre Höhe von bedeutendem Ein— fluß ſein müſſen. Unzweifelhaft iſt, und es macht auf jeder— mann im Lande einen ſtarken Eindruck, daß man bei Carichana, San Borja, Atures und Maypures, wo ſich der Strom durch die Berge Bahn gebrochen, 30, zuweilen 42 m über dem höchſten gegenwärtigen Waſſerſtande ſchwarze Streifen und Auswaſchungen ſieht, die beweiſen, daß das Waſſer einmal ſo hoch geſtanden. So wäre denn dieſer Orinokoſtrom, der uns ſo großartig und gewaltig erſcheint, nur ein ſchwacher Reſt der ungeheuren Ströme ſüßen Waſſers, die einſt, ge— ſchwellt von Alpenſchnee oder noch ſtärkeren Regennieder— ſchlägen als den heutigen, überall von dichten Wäldern be— ſchattet, nirgends von flachen Ufern eingefaßt, welche der Verdunſtung Vorſchub leiſten, das Land gleich oſtwärts von den Anden gleich Armen von Binnenmeeren durchzogen? 9 In welchem Zuſtande müſſen ſich damals dieſe Niederungen von Guyana befunden haben, die jetzt alle Jahre die Ueber— ſchwemmungen durchzumachen haben? Welch ungeheure Maſſen von Krokodilen, Seekühen und Boa müſſen auf dem weiten Landſtrich gelebt haben, der dann wieder aus Lachen ſtehen— den Waſſers beſtand, oder ein ausgedörrter, von Sprüngen durchzogener Boden war! Der ruhigeren Welt, in der wir leben, iſt eine ungleich ſtürmiſchere vorangegangen. Auf den Hochebenen der Anden finden ſich Knochen von Maſtodonten und amerikaniſchen eigentlichen Elefanten, und auf den Ebenen von Uraguay lebte das Megatherium. Gräbt man tiefer in die Erde, ſo findet man in hochgelegenen Thälern, wo jetzt keine Palmen und Baumfarne mehr vorkommen, Steinkohlenflötze, in denen rieſenhafte Reſte monokotyledoniſcher Gewächſe be— graben liegen. Es war alſo lange vor der Jetztwelt eine Zeit, wo die Familien der Gewächſe anders verteilt, wo die Tiere größer, die Ströme breiter und tiefer waren. So viel und nicht mehr ſagen uns die Naturdenkmale, die wir vor Augen haben. Wir wiſſen nicht, ob das Menſchengeſchlecht, das bei der Entdeckung von Amerika oſtwärts von den Kor— dilleren kaum ein paar ſchwache Volksſtämme aufzuweiſen hatte, bereits auf die Ebenen herabgekommen war, oder ob die uralte Sage vom großen Waſſer, die ſich bei den Völkern am Orinoko, Erevato und Caura findet, anderen Himmelsſtrichen angehört, aus denen ſie in dieſen Teil des neuen Kontinents gewandert iſt. Am 11. April. Nach unſerer Abfahrt von Carichana um 2 Uhr nachmittags fanden wir im Bette immer mehr Granitblöcke, durch welche der Strom aufgehalten wird. Wir ließen den Cano Orupe weſtwärts und fuhren darauf am großen, unter dem Namen Piedra del Tigre bekannten Felſen vorbei. Der Strom iſt hier ſo tief, daß ein Senkblei von 40 m den Grund nicht erreicht. Gegen Abend wurde der Himmel bedeckt und düſter, Windſtöße und dazwiſchen ganz ſtille Luft verkündeten, daß ein Gewitter im Anzug war. Der Regen fiel in Strömen und das Blätterdach, unter dem wir lagen, bot wenig Schutz. Zum Glück vertrieben die Regenſtröme die Moskiten, die uns den Tag über grauſam geplagt, wenigſtens auf eine Weile. Wir befanden uns vor dem Katarakt von Cariven, und der Zug des Waſſers war ſo ſtark, daß wir nur mit Mühe ans Land kamen. Wir wur— den immer wieder mitten in die Strömung geworfen. End— ae lich ſprangen zwei Salivas, ausgezeichnete Schwimmer, ins Waſſer, zogen die Piroge mit einem Stricke ans Ufer und banden ſie an der Piedra del Carichana vieja feſt, einer nackten Felsbank, auf der wir übernachteten. Das Gewitter hielt lange in die Nacht hinein an; der Fluß ſtieg bedeutend und man fürchtete mehreremal, die wilden Wogen möchten unſer ſchwaches Fahrzeug vom Ufer losreißen. Der Granitfels, auf dem wir lagerten, iſt einer von denen, auf welchen Reiſende zuzeiten gegen Sonnenaufgang unterirdiſche Töne, wie Orgelklang, vernommen haben. Die Miſſionäre nennen dergleichen Steine laxas de musica. „Es iſt Hexenwerk (cosa de bruxas),“ ſagte unſer junger in- dianiſcher Steuermann, der kaſtilianiſch ſprach. Wir ſelbſt haben dieſe geheimnisvollen Töne niemals gehört, weder in Carichana, noch am oberen Orinoko; aber nach den Ausſagen glaub— würdiger Zeugen läßt ſich die Erſcheinung wohl nicht in Zweifel ziehen, und ſie ſcheint auf einem gewiſſen Zuſtande der Luft zu beruhen. Die Felsbänke ſind voll feiner, ſehr tiefer Spalten und fie erhitzten ſich bei Tag auf 48 bis 50°. Ich fand oft ihre Temperatur bei Nacht an der Oberfläche 39, während die der umgebenden Luft 28“ betrug. Es leuchtet alsbald ein, daß der Temperaturunterſchied zwiſchen der unterirdiſchen und der äußeren Luft ſein Maximum um Sonnenaufgang erreicht, welcher Zeitpunkt ſich zugleich vom Maximum der Wärme am vorhergehenden Tage am weiteſten entfernt. Sollten nun die Orgeltöne, die man hört, wenn man, das Ohr dicht am Geſtein, auf dem Fels ſchläft, nicht von einem Luftſtrom herrühren, der aus den Spalten dringt? Hilft nicht der Umſtand, daß die Luft an die elaſtiſchen Glimmerplättchen ſtößt, welche in den Spalten hervorſtehen, die Töne modifizieren? Läßt ſich nicht annehmen, daß die alten Aegypter, die beſtändig den Nil auf und ab fuhren, an gewiſſen Felſen in der Thebais dieſelbe Beobachtung gemacht, und daß die „Muſik der Felſen“ Veranlaſſung zu den Gau— keleien gegeben, welche die Prieſter mit der Bildſäule Mem— nons trieben? Wenn die „roſenfingerige Eos ihrem Sohn, dem ruhmreichen Memnon eine Stimme verlieh“, fo war dieſe Stimme vielleicht die eines unter dem Fußgeſtell der 1 So heißt es in einer Inſchrift, die bezeugt, daß am 13. des Monats Pachon im zehnten Regierungsjahre Antonins die Töne vernommen worden. — — Bildſäule verſteckten Menſchen, aber die Beobachtung der Eingeborenen am Orinoko, von der hier die Rede iſt, ſcheint ganz natürlich zu erklären, was zu dem Glauben der Aegypter, ein Stein töne bei Sonnenaufgang, Anlaß gegeben. Faſt zur ſelben Zeit, da ich dieſe Vermutungen einigen Gelehrten in Europa mitteilte, kamen franzöſiſche Reiſende, die Herren Jomard, Jollois und Devilliers, auf ähnliche Gedanken. In einem Denkmal aus Granit, mitten in den Tempelgebäuden von Karnak, hörten ſie bei Sonnenaufgang ein Geräuſch wie von einer reißenden Saite. Gerade den— ſelben Vergleich brauchen aber die Alten, wenn von der Stimme Memnons die Rede iſt. Die franzöſiſchen Reiſen— den ſind mit mir der Anſicht, das Durchſtreichen der Luft durch die Spalten eines klingenden Steines habe wahrſchein⸗ lich die ägyptiſchen Prieſter auf die Gaukeleien im Mem— nonium gebracht.“ Am 12. April. Wir brachen um 4 Uhr morgens auf. Der Miſſionär ſah voraus, daß wir Not haben würden, über die Stromſchnellen und den Einfluß des Meta wegzukommen. Die Indianer ruderten zwölfundeinhalb Stunden ohne Unter: laß. Während dieſer Zeit nahmen ſie nichts zu ſich als Maniok und Bananen. Bedenkt man, wie ſchwer es iſt, die Gewalt der Strömung zu überwinden und die Katarakte hinaufzu— fahren, und weiß man, daß die Indianer am Orinoko und Amazonenſtrom auf zweimonatlichen Flußfahrten in dieſer Weiſe ihre Muskeln anſtrengen, ſo wundert man ſich gleich ſehr über die Körperkraft und über die Mäßigkeit dieſer Men— ſchen. Stärkemehl- und zuckerhaltige Stoffe, zuweilen Fiſche und Schildkröteneierfett erſetzen hier die Nahrung, welche die zwei erſten Tierklaſſen, Säugetiere und Vögel, Tiere mit rotem, warmem Blute, geben. Wir fanden das Flußbett auf einer Strecke von 1170 m voll Granitblöcken; dies iſt der ſogenannte Raudal de Cariven. Wir liefen durch Kanäle, die nicht 1,6 m breit waren, und manchmal ſtak unſere Piroge zwiſchen zwei Granitblöcken feſt. Man ſuchte die Durchfahrten zu vermeiden, durch die ſich das Waſſer mit furchtbarem Getöſe ſtürzt. Es iſt keine ernſt— liche Gefahr vorhanden, wenn man einen guten indianiſchen Steuermann hat. Iſt die Strömung nicht zu überwinden, ſo ſpringen die Ruderer ins Waſſer, binden ein Seil an die Felsſpitzen und ziehen die Piroge herauf. Dies geht ſehr langſam vor ſich, und wir benutzten zuweilen die Gelegenheit ER und kletterten auf die Klippen, zwiſchen denen wir ftafen. Es gibt ihrer von allen Größen; ſie ſind abgerundet, ganz ſchwarz, bleiglänzend und ohne alle Vegetation. Es iſt ein merkwürdiger Anblick, wenn man auf einem der größten Ströme der Erde gleichſam das Waſſer verſchwinden ſieht. Ja noch weit vom Ufer ſahen wir die ungeheuren Granit— blöcke aus dem Boden ſteigen und ſich aneinander lehnen. In den Stromſchnellen ſind die Kanäle zwiſchen den Felſen über 46 m tief, und ſie ſind um fo ſchwerer zu finden, da das Geſtein nicht ſelten nach unten eingezogen iſt und eine Wölbung unter dem Flußſpiegel bildet. Im Raudal von Cariven ſahen wir keine Krokodile; die Tiere ſcheinen das Getöſe der Katarakte zu ſcheuen. Von Cabruta bis zum Einfluß des Rio Sinaruco, auf einer Strecke von faſt zwei Breitengraden, iſt das linke Ufer des Orinoko völlig unbewohnt; aber weſtlich vom Raudal de Cariven hat ein unternehmender Mann, Don Felix Relinchon, Daruro- und Otomakenindianer in einem kleinen Dorfe zu: ſammengebracht. Auf dieſen Civiliſationsverſuch hatten die Mönche unmittelbar keinen Einfluß. Es braucht kaum er— wähnt zu werden, daß Don Felix mit den Miſſionären am rechten Ufer des Stromes in offener Fehde lebt. Wir werden anderswo die wichtige Frage beſprechen, ob unter den gegen— wärtigen Verhältniſſen in Spaniſch-Amerika dergleichen Capi— tanes pobladores und fundadores an die Stelle der Mönche treten können, und welche der beiden Regierungsarten, die gleich launenhaft und willkürlich ſind, für die armen Indianer die ſchlimmſte iſt. Um 9 Uhr langten wir an der Einmündung des Meta an, gegenüber dem Platze, wo früher die von den Jeſuiten gegründete Miſſion Santa Tereſa geſtanden. Der Meta iſt nach dem Guaviare der bedeutendſte unter den Nebenflüſſen des Orinoko. Man kann ihn der Donau vergleichen, nicht nach der Länge des Laufes, aber hinſichtlich der Waſſermaſſe. Er iſt durchſchnittlich 11, oft bis zu 28 m tief. Die Ver— einigung beider Ströme gewährt einen äußerſt großartigen Anblick. Am öſtlichen Ufer ſteigen einzelne Felſen empor, und aufeinander getürmte Granitblöcke ſehen von ferne wie verfallene Burgen aus. Breite, ſandige Ufer legen ſich zwi— ſchen den Strom und den Saum der Wälder, aber mitten in dieſen ſieht man am Horizont auf den Berggipfeln einzelne Palmen ſich vom Himmel abheben. u DE Wir brachten zwei Stunden auf einem großen Felſen mitten im Orinoko zu, auf der Piedra de Paciencia, ſo ge— nannt, weil die Pirogen, die den Fluß hinaufgehen, hier nicht ſelten zwei Tage brauchen, um aus dem Strudel heraus: zukommen, der von dieſem Felſen herrührt. Es gelang mir, meine Inſtrumente darauf aufzuſtellen. Nach den Sonnen: höhen, die ich aufnahm, liegt der Einfluß des Meta unter 70° 4° 29“ der Länge. Nach dieſer chronometriſchen Beob— achtung iſt d' Anvilles Karte von Südamerka, was dieſen Punkt betrifft, in der Länge faſt ganz richtig, während der Fehler in der Breite einen ganzen Grad beträgt. Der Rio Meta durchzieht die weiten Ebenen von Caſa— nare; er iſt faſt bis zum Fuß der Anden von Neugranada ſchiffbar und muß einmal für die Bevölkerung von Guyana und Venezuela politiſch von großer Bedeutung werden. Aus dem Golfo Triſte und der Boca del Dragon kann eine Flo— tille den Orinoko und Meta bis auf 67 bis 90 km von Santa Fe de Bogota herauffahren. Auf demſelben Wege kann das Mehl aus Neugranada hinunterkommen. Der Meta iſt wie ein Schiffahrtskanal zwiſchen Ländern unter derſelben Breite, die aber ihren Produkten nach ſo weit auseinander ſind als Frankreich und der Senegal. Durch dieſen Umſtand wird es von Belang, daß man die Quellen des Fluſſes, der auf unſeren Karten ſo ſchlecht gezeichnet iſt, genau kennen lernt. Der Meta entſteht durch die Vereinigung zweier Flüſſe, die von den Paramos von Chingaſa und Suma Paz herab— kommen. Erſterer iſt der Rio Negro, der weiter unten den Pachaquiaro aufnimmt; der zweite iſt der Rio de Aguas blancas oder Umadea. Sie vereinigen ſich in der Nähe des Hafens von Marayal. Vom Paſo de la Cabulla, wo man den Rio Negro verläßt, bis zur Hauptſtadt Santa Fs find es nur 36 bis 45 km. Ich habe dieſe intereſſanten Notizen, wie ich ſie aus dem Munde von Augenzeugen erhalten, in der erſten Ausgabe meiner Karte vom Rio Meta benutzt. Die Reiſebeſchreibung des Kanonikus Don Joſef Cortes Ma— dariaga hat nicht allein meine erſte Anſicht vom Laufe des Meta beſtätigt, ſondern mir auch ſchätzbares Material zur Berichtigung meiner Arbeit geliefert. Von den Dörfern Kira: mena und Cabullaro bis zu den Dörfern Guanapalo und Santa Roſalia de Cabapuna, auf einer Strecke von 270 km find die Ufer des Meta ſtärker bewohnt als die des Orinoko. Es find dort 14 zum Teil ſtark bevölkerte chriſtliche Nieder: DEN: laſſungen, aber vom Einfluß des Pauto und des Caſanare an, über 225 km weit, machen die wilden Guahibos den Meta unſicher. Zur Jeſuitenzeit, beſonders aber zur Zeit von Ituriagas Expedition im Jahre 1756 war die Schiffahrt auf dem Strome weit ſtärker als jetzt. Miſſionäre aus einem Orden waren damals Herren an den Ufern des Meta und des Orinoko. Die Dörfer Macuco, Zurimena, Caſimena einerſeits, anderer: ſeits Uruana, Encaramada, Carichana waren von den Jeſuiten gegründet. Die Patres gingen damit um, vom Einfluß des Caſanare in den Meta bis zum Einfluß des Meta in den Orinoko eine Reihe von Miſſionen zu gründen, ſo daß ein ſchmaler Streif bebauten Landes über die weite Steppe zwi— ſchen den Wäldern von Guyana und den Anden von Neu— granada gelaufen wäre. Außer dem Mehl von Santa Fe gingen damals zur Zeit der „Schildkröteneierernte“ das Salz von Chita, die Baumwollenzeuge von San Gil und die ge— druckten Decken von Socorro den Fluß herunter. Um den Krämern, die dieſen Binnenhandel trieben, einigermaßen Sicher— heit zu verſchaffen, machte man vom Caſtillo oder Fort Carichana aus von Zeit zu Zeit einen Angriff auf die Gua— hibosindianer. Da auf demſelben Wege, der den Handel mit den Pro— dukten von Neugranada förderte, das geſchmuggelte Gut von der Küſte von Guyana ins Land ging, ſo ſetzte es der Handels— ſtand von Cartagena de Indias bei der Regierung durch, daß der freie Handel auf dem Meta bedeutend beſchränkt wurde. Derſelbe Geiſt des Monopols ſchloß den Meta, den Rio Atracto und den Amazonenſtrom. Es iſt doch eine wun— derliche Politik von ſeiten der Mutterländer, zu glauben, es ſei vorteilhaft, Länder, wo die Natur Keime der Fruchtbarkeit mit vollen Händen ausgeſtreut, unangebaut liegen zu laſſen. Daß das Land nicht bewohnt iſt, haben ſich nun die wilden Indianer allerorten zu nutze gemacht. Sie ſind an die Flüſſe herangerückt, ſie machen Angriffe auf die Vorüberfahrenden, ſie ſuchen wiederzuerobern, was ſie ſeit Jahrhunderten verloren. Um die Guahibos im Zaume zu halten, wollten die Kapuziner, welche als Leiter der Miſſionen am Orinoko auf die Jeſuiten folgten, an der Ausmündung des Meta unter dem Namen Villa de San Carlos eine Stadt bauen. Trägheit und die Furcht vor dem dreitägigen Fieber ließen es nicht dazu kommen und ein ſauber gemaltes Wappen auf einem — 96 — Pergament und ein ungeheures Kreuz am Ufer des Meta iſt alles, was von der Villa de San Carlos beſtanden hat. Die Guahibos, deren Kopfzahl, wie man behauptet, einige Tau— ſende beträgt, ſind ſo frech geworden, daß ſie, als wir nach Carichana kamen, dem Miſſionär hatten ankündigen laſſen, ſie werden auf Flößen kommen und ihm ſein Dorf anzünden. Dieſe Flöße (valzas), die wir zu ſehen Gelegenheit hatten, find kaum Im breit und 4 m lang. Es fahren nur zwei bis drei Indianer darauf, aber 15 bis 16 Flöße werden mit den Stengeln von Paulinia, Dolichos und anderen Rankengewächſen aneinander gebunden. Man begreift kaum, wie dieſe kleinen Fahrzeuge in den Stromſchnellen beiſammen bleiben können. Viele aus den Dörfern am Caſanare und Apure entlaufene Indianer haben ſich den Guahibos angeſchloſſen und ihnen Geſchmack am Rindfleiſch und den Gebrauch des Leders bei— gebracht. Die Höfe San Vicente, Rubio und San Antonio haben durch die Einfälle der Indianer einen großen Teil ihres Hornviehs eingebüßt. Ihretwegen können auch die Reiſenden, die den Meta hinaufgehen, bis zum Einfluſſe des Caſanare die Nacht nicht am Ufer zubringen. Bei niedrigem Waſſer kommt es ziemlich häufig vor, daß Krämer aus Neugranada, die zuweilen noch das Lager bei Pararuma beſuchen, von den Guahibos mit vergifteten Pfeilen erſchoſſen werden. Vom Einfluſſe des Meta an erſchien der Orinoko freier von Klippen und Felsmaſſen. Wir fuhren auf einer 970 m breiten offenen Stromſtrecke. Die Indianer ruderten fort, ohne die Piroge zu ſchieben und zu ziehen und uns dabei mit ihrem wilden Geſchrei zu beläſtigen. Gegen Weſt lagen im Vorbeifahren die Canos Uita und Endava, und es war bereits Nacht, als wir vor dem Raudal de Tabaje hielten. Die Indianer wollten es nicht mehr wagen, den Katarakt hinaufzufahren, und wir ſchliefen daher am Lande, an einem höchſt unbequemen Orte, auf einer mehr als 18° geneigten Felsplatte, in deren Spalten Scharen von Fledermäuſen ſtaken. Die ganze Nacht über hörten wir den Jaguar ganz in der Nähe brüllen, und unſer großer Hund antwortete darauf mit anhaltendem Geheul. Umſonſt wartete ich, ob nicht die Sterne zum Vorſchein kämen; der Himmel war grauenhaft ſchwarz. Das dumpfe Toſen der Fälle des Orinoko ſtach ſcharf ab vom Donner, der weit weg, dem Walde zu, ſich hören ließ. Am 13. April. Wir fuhren am frühen Morgen die Stromſchnellen von Tabaje hinauf, bis wohin Pater Gumilla — auf feiner Fahrt gekommen war,“! und ſtiegen wieder aus. Unſer Begleiter, Pater Zea, wollte in der neuen, ſeit zwei Jahren beſtehenden Miſſion San Borja die Meſſe leſen. Wir fanden daſelbſt ſechs von noch nicht katechiſierten Guahibos bewohnte Häuſer. Sie unterſchieden ſich in nichts von den wilden Indianern. Ihre ziemlich großen ſchwarzen Augen verrieten mehr Lebendigkeit als die der Indianer in den übrigen Miſſionen. Vergeblich boten wir ihnen Branntwein an; ſie wollten ihn nicht einmal koſten. Die Geſichter der jungen Mädchen waren alle mit runden ſchwarzen Tupfen bemalt; dieſelben nahmen ſich aus wie die Schönpfläſterchen, mit denen früher die Weiber in Europa die Weiße ihrer Haut zu heben meinten. Am übrigen Körper waren die Guahibos nicht be— malt. Mehrere hatten einen Bart; ſie ſchienen ſtolz darauf, faßten uns am Kinn und gaben uns durch Zeichen zu ver— ſtehen, ſie ſeien wie wir. Sie find meiſt ziemlich ſchlank gewachſen. Auch hier, wie bei den Salivas und Macos, fiel mir wieder auf, wie wenig Aehnlichkeit die Indianer am Orinoko in der Geſichtsbildung miteinander haben. Ihr Blick iſt düſter, trübſelig, aber weder ſtreng noch wild. Sie haben keinen Begriff von den chriſtlichen Religionsgebräuchen (der Miſſionär von Carichana lieſt in San Borja nur drei- oder viermal im Jahre Meſſe); dennoch benahmen ſie ſich in der Kirche durchaus anſtändig. Die Indianer lieben es, ſich ein Anſehen zu geben; gern dulden ſie eine Weile Zwang und Unterwürfigkeit aller Art, wenn ſie nur wiſſen, daß man auf ſie ſieht. Bei der Kommunion machten ſie einander Zeichen, daß jetzt der Prieſter den Kelch zum Munde führen werde. Dieſe Gebärde ausgenommen, ſaßen ſie da, ohne ſich zu rühren, völlig teilnahmlos. Die Teilnahme, mit der wir die armen Wilden betrachtet hatten, war vielleicht ſchuld daran, daß die Miſſion einging. Einige derſelben, die lieber umherzogen, als das Land bauten, beredeten die anderen, wieder auf die Ebenen am Meta zu ziehen; ſie ſagten ihnen, die Weißen würden wieder nach San Borja kommen und fie dann in ihren Kanoen fort: ſchleppen und in Angoſtura als Poitos, als Sklaven ver— kaufen. Die Guahibos warteten, bis ſie hörten, daß wir Und doch will Gumilla auf dem Guaviare gefahren ſein. Nach ihm liegt der Raudal de Tabaje unter 1° 47 der Breite, was um 5° 10“ zu wenig iſt. A. v. Humboldt, Reiſe. III. 7 Babe; ee vom Rio Negro über den Caſſiquiare zurückkamen, und als ſie erfuhren, daß wir beim erſten großen Katarakt, bei Apures, angelangt ſeien, liefen alle davon in die Savannen weſtlich vom Orinoko. Am ſelben Platze und unter demſelben Namen hatten ſchon die Jeſuiten eine Miſſion gegründet. Kein Stamm iſt ſchwerer ſeßhaft zu machen als die Guahibos. Lieber leben ſie von faulen Fiſchen, Tauſendfüßen und Würmern, als daß ſie ein kleines Stück Land bebauen. Die anderen Indianer ſagen daher ſprichwörtlich: „Ein Guahibo ißt alles auf der Erde und unter der Erde.“ Kommt man auf dem Orinoko weiter nach Süden, ſo nimmt die Hitze keineswegs zu, ſondern wird im Gegenteil erträglicher. Die Lufttemperatur war bei Tage 26 bis 27,50%, bei Nacht 23,7. Das Waſſer des Stromes behielt feine ge: wöhnliche Temperatur von 27,7“. Aber trotz der Abnahme der Hitze nahm die Plage der Moskiten erſchrecklich zu. Nie hatten wir ſo arg gelitten als in San Borja. Man konnte nicht ſprechen oder das Geſicht entblößen, ohne Mund und Naſe voll Inſekten zu bekommen. Wir wunderten uns, daß wir den Thermometer nicht auf 35 oder 36“ ſtehen ſahen; beim ſchrecklichen Hautreiz ſchien uns die Luft zu glühen. Wir übernachteten am Ufer bei Guaripo. Aus Furcht vor den kleinen Karibenfiſchen badeten wir nicht. Die Krokodile, die wir den Tag über geſehen, waren alle außerordentlich groß, 7 bis 3m lang. Am 14. April. Die Plage der Zancudos veranlaßte uns, ſchon um 5 Uhr morgens aufzubrechen. In der Luftſchicht über dem Fluſſe ſelbſt ſind weniger Inſekten als am Wald— ſaume. Zum Frühſtück hielten wir an der Inſel Guachaco, wo eine Sandſteinformation oder ein Konglomerat unmittelbar auf dem Granit lagert. Der Sandſtein enthält Quarz-, ſogar Feldſpattrümmer, und das Bindemittel iſt verhärteter Thon. Es befinden ſich darin kleine Gänge von Brauneiſenerz, das in liniendicken Schichten abblättert. Wir hatten dergleichen Blätter bereits zwiſchen Encaramada und dem Baraguan am Ufer gefunden, und die Miſſionäre hatten dieſelben bald für Gold-, bald für Zinnerz gehalten. Wahrſcheinlich iſt dieſe ſekundäre Bildung früher ungleich weiter verbreitet geweſen. Wir fuhren an der Mündung des Rio Parueni vorüber, über welcher die Macosindianer wohnen, und übernachteten auf der Inſel Panumana. Nicht ohne Mühe kam ich dazu, zur Beſtimmung der Länge des Ortes, bei dem der Fluß eine =... ſcharfe Wendung nach Weſt macht, Höhenwinkel des Canopus zu meſſen. Die Inſel Panumana iſt ſehr reich an Pflanzen. Auch hier findet man wieder die kahlen Felſen, die Melaſtomen— büſche, die kleinen Baumpartieen, deren Gruppierung uns ſchon in der Ebene bei Carichana aufgefallen war. Die Berge bei den großen Katarakten begrenzten den Horizont gegen Südoſt. Je weiter wir hinauf kamen, deſto großartiger und maleriſcher wurden die Ufer des Orinoko. Zwanzigſtes Kapitel. Die Mündung des Rio Anaveni. — Der Pik Uniana. — Die Miſſion Atures. — Der Katarakt oder Raudal Mapara. — Die Inſeln Surupamana und Uirapuri. Auf ſeinem Laufe von Süd nach Nord ſtreicht über den Orinokoſtrom eine Kette von Granitbergen. Zweimal in ſeinem Laufe gehemmt, bricht er ſich toſend an den Felſen, welche Staffeln und Querdämme bilden. Nichts großartiger als dieſes Landſchaftsbild. Weder der Fall des Tequendama bei Santa Fe de Bogota, noch die gewaltige Naturſzenerie der Kordilleren vermochten den Eindruck zu verwiſchen, den die Stromſchnellen von Atures und Maypures auf mich machten, als ich ſie zum erſtenmal ſah. Steht man ſo, daß man die ununterbrochene Reihe von Katarakten, die ungeheure, von den Strahlen der untergehenden Sonne beleuchtete Schaum- und Dunſtfläche mit einem Blicke überſieht, ſo iſt es, als ſähe man den ganzen Strom über ſeinem Bette hängen. So ausgezeichnete Naturbildungen mußten ſchon ſeit Jahrhunderten bei den Bewohnern der Neuen Welt Aufmerk— ſamkeit erregen. Als Diego de Ordaz, Alfonſo de Herrera und der unerſchrockene Ralegh in der Mündung des Orinoko vor Anker gingen, wurde ihnen Kunde von den großen Ka— tarakten aus dem Munde von Indianern, die niemals dort geweſen; ſie verwechſelten ſie ſogar mit weiter oſtwärts ge— legenen Fällen. Wie ſehr auch in der heißen Zone die Ueppigkeit des Pflanzenwuchſes dem Verkehr unter den Völkern hinderlich iſt, alles, was ſich auf den Lauf der großen Ströme bezieht, erlangt einen Ruf, der ſich in ungeheure Fernen verbreitet. Gleich Armen von Binnenmeeren durchziehen der Orinoko, Amazonenſtrom und Uruguay einen mit Wäldern bedeckten Landſtrich, auf dem Völker hauſen, die zum Teil Menſchen— freſſer ſind. Noch iſt es nicht zwei Jahrhunderte her, ſeit — 101 — die Kultur und das ſanfte Licht einer menſchlicheren Religion an den Ufern dieſer uralten, von der Natur gegrabenen Kanäle aufwärts ziehen; aber lange vor Einführung des Ackerbaues, ehe zwiſchen den zerſtreuten, oft ſich befehdenden Horden ein Tauſchverkehr zuſtande kam, verbreitete ſich auf tauſend zu— fälligen Wegen die Kunde von außerordentlichen Naturerſchei— nungen, von Waſſerfällen, vulkaniſchen Flammen, vom Schnee, der vor der Hitze des Sommers nicht weicht. 1350 km von den Küſten, im Herzen von Südamerika, unter Völkern, deren Wanderungen ſich in den Grenzen von drei Tagereiſen halten, findet man die Kunde vom Ozean, findet man Worte zur Bezeichnung einer Maſſe von Salzwaſſer, die ſich hinbreitet, ſo weit das Auge reicht. Verſchiedene Vorfälle, wie ſie im Leben des Wilden nicht ſelten ſind, helfen zur Verbreitung ſolcher Kenntniſſe. Infolge der kleinen Kriege zwiſchen be— nachbarten Horden wird ein Gefangener in ein fremdes Land geſchleppt, wo er als Poito oder Mero, das heißt als Sklave behandelt wird. Nachdem er mehreremal verkauft und wieder im Kriege gebraucht worden, entkommt er und kehrt zu den Seinigen zurück. Da erzählt er denn, was er geſehen, was er andere hat erzählen hören, deren Sprache er hat lernen müſſen. So kommt es, daß man, wenn man eine Rippe findet, von den großen Tieren weit im inneren Lande ſprechen hört; ſo kommt es, daß man, wenn man das Thal eines großen Fluſſes betritt, mit Ueberraſchung ſieht, wie viel die Wilden, die gar nicht auf dem Waſſer fahren, von weit ent— legenen Dingen zu ſagen wiſſen. Auf den erſten Stufen der geſellſchaftlichen Entwickelung tritt in gewiſſem Grade der Ge— dankenaustauſch früher ein als der Tauſch von Erzeugniſſen. Die beiden großen Katarakte des Orinoko, die eines ſo ausgebreiteten, uralten Rufes genießen, entſtehen dadurch, daß der Strom die Berge der Parime durchbricht. Bei den Ein— geborenen heißen ſie Mapara und Quituna; aber die Miſſionäre haben dafür Atures und Maypures geſetzt, nach den Namen der beiden Stämme, die ſie in den beiden den Fällen zunächſt gelegenen Dörfern zuſammengebracht. An den Küſten von Caracas nennt man die zwei großen Kata— rakte einfach: die zwei Raudales! (Stromſchnellen), was darauf hindeutet, daß man die anderen Fälle, ſogar die Strom— Vom ſpaniſchen Worte raudo, ſchnell, rapidus. ſchnellen von Camiſeta und Carichana, gegenüber den Ka: tarakten von Apures und Maypures, gar nicht der Beachtung wert findet. Letztere liegen unter dem 5. und 6. Grad nördlicher Breite, | 450 km weſtwärts von den Kordilleren von Neugranada, im Meridian von Porto Cabello, und nur 54 km voneinander. Es iſt ſehr auffallend, daß d'Anville nichts von denſelben gewußt hat, da er doch auf ſeiner ſchönen großen Karte von Südamerika die unbedeutenden Fälle von Marimara und San Borja unter dem Namen Stromſchnellen von Carichana und Tabaje angibt. Die großen Katarakte teilen die chriſtlichen Niederlaſſungen in Spaniſch-Guyana in zwei ungleiche Hälften. Miſſionen am unteren Orinoko heißen die zwiſchen dem Raudal von Atures und der Strommündung; unter den Miſſionen am oberen Orinoko ſind die Dörfer zwiſchen dem Raudal von Maypures und den Bergen des Duida verſtanden. Der Lauf des unteren Orinoko iſt, wenn man mit La Condamine die en auf ein Dritteil der geraden Richtung ſchätzt, 480 km, der des oberen Ori— nofo, die Quellen 3° oſtwärts vom Duida angenommen, 750 km lang. Jenſeits der großen Katarakte beginnt ein unbekanntes Land. Es iſt ein zum Teil gebirgiger, zum Teil ebener Landſtrich, über den die Nebenflüſſe ſowohl des Amazonen— ſtromes als des Orinoko ziehen. Wegen des leichten Verkehres mit dem Rio Negro und Gran Para ſcheint derſelbe vielmehr Braſilien als den ſpaniſchen Kolonieen anzugehören. Keiner der Miſſionäre, die vor mir den Orinoko beſchrieben haben, die Patres Gumilla, Gili und Caulin, iſt über den Raudal von Maypures hinaufgekommen. Letzterer hat allerdings eine ziemlich genaue Topographie vom oberen Orinoko und vom Caſſiquiare geliefert, aber nur nach den Angaben von Militärs, die Solanos Expedition mitgemacht. Oberhalb der großen Ka— tarakte fanden wir längs des Orinoko auf einer Strecke von 450 km nur drei chriſtliche Niederlaſſungen, und in denſelben waren kaum ſechs bis acht Weiße, das heißt Menſchen euro— 1 Abkunft. Es iſt nicht zu verwundern, daß ein ſo ödes Land von jeher der klaſſiſche Boden für Sagen und Wundergeſchichten war. Hierher verſetzten ernſte Miſſionäre die Völker, die ein Auge auf der Stirn, einen Hundskopf oder den Mund unter dem Magen haben; hier fanden ſie alles wieder, was die Alten von den Garamanten, den Ze EA Arimaſpen und den Hyperboreern erzählen. Man thäte den ſchlichten, zuweilen ein wenig rohen Miſſionären unrecht, wenn man glaubte, ſie ſelbſt haben dieſe übertriebenen Mären erfunden; ſie haben ſie vielmehr großenteils den Indianer— geſchichten entnommen. In den Miſſionen erzählt man gern, wie zur See, wie im Orient, wie überall, wo man ſich lang— weilt. Ein Miſſionär iſt ſchon nach Standesgebühr nicht zum Skeptizismus geneigt; er prägt ſich ein, was ihm die Ein— geborenen ſo oft vorgeſagt, und kommt er nach Europa in die civiliſierte Welt zurück, ſo findet er eine Entſchädigung für ſeine Beſchwerden in der Luſt, durch die Erzählung von Dingen, die er als Thatſachen aufgenommen, durch lebendige Schilderung des im Raume ſo weit Entrückten, die Leute in Verwunderung zu ſetzen. Ja, dieſe Cuentos de viageros y frailes werden immer unwahrſcheinlicher, je weiter man von den Wäldern am Orinoko weg den Küſten zu kommt, wo die Weißen wohnen. Läßt man in Cumana, Nueva Barce— lona und in anderen Seehäfen, die ſtarken Verkehr mit den Miſſionen haben, einigen Unglauben merken, ſo ſchließt man einem den Mund mit den wenigen Worten: „Die Patres haben es geſehen,“ aber weit über den großen Katarakten, „mas ariba de los Raudales“. Jetzt, da wir ein ſo ſelten beſuchtes, von denen, die es bereiſt, nur zum Teil beſchriebenes Land betreten, habe ich mehrere Gründe, meine Reiſebeſchreibung auch ferner in der Form eines Tagebuches fortzuſetzen. Der Leſer unterſcheidet dabei leichter, was ich ſelbſt beobachtet, und was ich nach den Ausſagen der Miſſionäre und Indianer berichte; er begleitet die Reiſenden bei ihren täglichen Beſchäftigungen; er ſieht zugleich, wie wenig Zeit ihnen zu Gebote ſtand und mit welchen Schwierigkeiten ſie zu kämpfen hatten, und wird in ſeinem Urteil nachſichtiger. Am 15. April. Wir brachen von der Inſel Panumana um 4 Uhr morgens auf, zwei Stunden vor Sonnenaufgang; der Himmel war großenteils bedeckt und durch dickes, über 40° hoch ſtehendes Gewölk fuhren Blitze. Wir wunderten uns, daß wir nicht donnern hörten; kam es daher, daß das Ge— witter ſo ausnehmend hoch ſtand? Es kam uns vor, als würden in Europa die elektriſchen Schimmer ohne Donner, das Wetterleuchten, wie man es mit unbeſtimmtem Ausdruck nennt, in der Regel weit näher am Horizont geſehen. Beim bedeckten Himmel, der die ſtrahlende Wärme des Bodens zu— — 104 — t rückwarf, war die Hitze erſtickend; kein Lüftchen bewegte das Laub der Bäume. Wie gewöhnlich waren die Jaguare über den Flußarm zwiſchen uns und dem Ufer herübergekommen, und wir hörten ſie ganz in unſerer Nähe brüllen. Im Laufe der Nacht hatten uns die Indianer geraten, aus dem Biwuak in eine verlaſſene Hütte zu ziehen, die zu den „Conucos“ der Einwohner von Apures gehört; ſie verrammelten den Eingang mit Brettern, was uns ziemlich überflüſſig vorkam. Die Tiger ſind bei den Katarakten ſo häufig, daß vor zwei Jahren ein Indianer, der am Ende der Regenzeit, eben hier in den Co— nucos von Panumana, feine Hütte wieder aufſuchte, dieſelbe von einem Tigerweibchen mit zwei Jungen beſetzt fand. Die Tiere hatten ſich ſeit mehreren Monaten hier aufgehalten; nur mit Mühe brachte man fie hinaus, und erſt nach hart— näckigem Kampfe konnte der Eigentümer einziehen. Die a: guare ziehen ſich gerne in verlaſſene Bauten, und nach meiner Meinung thut der einzelne Reiſende meiſt klüger, unter freiem Himmel zwiſchen zwei Feuern zu übernachten, als in unbe— wohnten Hütten Schutz zu ſuchen. Bei der Abfahrt von der Inſel Panumana ſahen wir auf dem weſtlichen Stromufer die Lagerfeuer wilder Guahibos; der Miſſionär, der bei uns war, ließ einige blinde Schüſſe abfeuern, um ſie einzuſchüchtern, ſagte er, und ihnen zu zeigen, daß wir uns wehren könnten. Die Wilden hatten ohne Zweifel keine Kanoen und wohl auch keine Luſt, uns mitten auf dem Strome zu Leibe zu gehen. Bei Sonnenaufgang kamen wir am Einfluß des Rio Anaveni vorüber, der von den öſtlichen Bergen herabkommt. Jetzt ſind ſeine Ufer verlaſſen; aber zur Jeſuitenzeit hatte Pater Olmos hier Japuin- oder Naruro⸗ indianer in einem kleinen Dorfe zuſammengebracht. Die Hitze am Tage war ſo ſtark, daß, wir lange an einem ſchattigen Platze hielten und mit der Leine fiſchten. Wir konnten die Fiſche, die wir gefangen, kaum alle fortbringen. Erſt ganz ſpät langten wir unmittelbar unter dem großen Katarakt in einer Bucht an, die der untere Hafen (puerto de abaxo) heißt, und gingen, bei der dunkeln Nacht nicht ohne Be— ſchwerde, auf ſchmalem Fußpfad in die Miſſion Atures, 4,5 km vom Flußufer. Man kommt dabei über eine mit großen Granitblöcken bedeckte Ebene. Das kleine Dorf San Juan Nepomuceno de los Atures wurde im Jahre 1748 vom Jeſuiten Pater Fran: cisco Gonzales angelegt. Es iſt ſtromaufwärts die letzte vom r — 105 — Orden des heiligen Ignatius gegründete chriſtliche Nieder— laſſung. Die weiter nach Süd gelegenen Niederlaſſungen am Atabapo, Caſſiquiare und Rio Negro rühren von den dem Franziskanerorden angehörenden Obſervanten her. Wo jetzt das Dorf Atures ſteht, muß früher der Orinoko gefloſſen ſein, und die völlig ebene Grasflur um das Dorf war ohne Zweifel ein Stück des Flußbettes. Oeſtlich von der Miſſion ſah ich eine Felsreihe, die mir das alte Flußufer zu ſein ſchien. Im Laufe der Jahrhunderte wurde der Strom gegen Weſt hin— übergedrängt, weil den öſtlichen Bergen zu, von denen viele Wildwaſſer herabkommen, die Anſchwemmungen ſtärker ſind. Der Katarakt heißt, wie oben bemerkt, Mapara, während das Dorf nach dem Volke der Atures genannt iſt, das man jetzt für ausgeſtorben hält. Auf den Karten des 17. Jahr— hunderts finde ich: „Inſel und Katarakt Athule“; dies iſt Atures nach der Ausſprache der Tamanaken, die, wie ſo viele Völker, die Konſonanten l under verwechſeln. Noch bis zur Mitte des 18. Jahrhunderks war dieſes gebirgige Land in Europa jo wenig bekannt, daß d'Anville in der erſten Ausgabe ſeines Südamerika beim Salto de los Atures vom Orinoko einen Arm abgehen läßt, der ſich in den Ama: zonenſtrom ergießt und der bei ihm Rio Negro heißt. Die alten Karten, ſowie Pater Gumilla in ſeinem Werke, ſetzen die Miſſion unter 1° 30° der Breite; der Abbé Gili gibt 3° 30“ an. Nach Meridianhöhen des Canopus und des u. des ſüdlichen Kreuzes fand ich 5° 384 Breite und durch Uebertrag der Zeit 4 Stunden 41 Minuten 17 Sekunden weſtliche Länge vom Pariſer Meridian. Die Inklination der Magnetnadel war am 16. April 30,25; 223 Schwingungen in 10 Zeitminuten gaben das Maß der Intenſität der mag— netiſchen Kraft; in Paris ſind es 245 Schwingungen. Wir fanden die kleine Miſſion in der kläglichſten Ver— faſſung. Zur Zeit von Solanos Expedition, gewöhnlich „die Grenzexpedition“ genannt, waren noch 520 Indianer hier, und als wir über die Katarakte gingen, nur noch 47, und der Miſſionär verſicherte uns, mit jedem Jahre werde die Ab— nahme ſtärker. Er zeigte uns, daß in 32 Monaten nur eine einzige Ehe ins Kirchenbuch eingetragen worden; zwei weitere Ehen waren von noch nicht katechiſierten Indianern vor dem indianiſchen Governador geſchloſſen und damit, wie wir in Europa ſagen, der Civilakt vollzogen worden. Bei der Gründung der Miſſion waren hier Atures, Maypures, Meye— — 106 — pures, Abanis und Quirupas untereinander; ſtatt dieſer Stämme fanden wir nur Guahibos und ein paar Familien vom Stamme der Macos. Die Atures ſind faſt völlig ver— ſchwunden; man kennt ſie nur noch von ihren Gräbern in der Höhle Ataruipe her, die an die Grabſtätten der Guanchen auf Tenerifa erinnern. Wir hörten an Ort und Stelle, die Atures haben mit den Quaquas und den Macos oder Piaroas dem großen Völkerſtamme der Salivas angehört, wogegen die Maypures, Abanis, Parenis und Guaypunaves einer Ab: kunft ſeien mit den Cabres oder Caveres, die wegen ihrer langen Kriege mit den Kariben viel genannt werden. In dieſem Wirrwarr kleiner Völkerſchaften, die einander ſo ſchroff gegenüberſtehen, wie einſt die Völker in Latium, Kleinaſien und Sogdiana, läßt ſich das Zuſammengehörige im allge— meinſten nur an der Sprachverwandtſchaft erkennen. Die Sprachen ſind die einzigen Denkmäler, die aus der Urzeit auf uns gekommen ſind; nur ſie, nicht an den Boden ge— feſſelt, beweglich und dauernd zugleich, ſind ſozuſagen durch Raum und Zeit hindurchgegangen. So zäh und über ſo viele Strecken verbreitet erſcheinen ſie aber weit weniger bei er— oberten und bei civiliſierten Völkern als bei wandernden, halbwilden Stämmen, die auf der Flucht vor mächtigen Fein— den in ihr tiefes Elend nichts mit ſich nehmen als ihre Weiber, ihre Kinder und die Mundart ihrer Väter. Zwiſchen dem 4. und 8. Breitengrad bildet der Orinoko nicht nur die Grenze zwiſchen dem großen Walde der Pa— rime und den kahlen Savannen am Apure, Meta und Gua— viare, er ſcheidet auch Horden von ſehr verſchiedener Lebens— weiſe. Im Weſten ziehen auf den baumloſen Ebenen die Guahibos, Chiricoas und Guamos herum, ekelhaft ſchmutzige Völker, ſtolz auf ihre wilde Unabhängigkeit, ſchwer an den Boden zu feſſeln und an regelmäßige Arbeit zu gewöhnen. Die ſpaniſchen Miſſionäre bezeichnen ſie ganz gut als Indios andantes (laufende, umherziehende Indianer). Oeſtlich vom Orinoko, zwiſchen den einander nahe liegenden Quellen des Caura, des Cataniapo und Ventuari, hauſen die Macos, Salivas, Curacicanas, Parecas und Maquiritares, ſanftmütige, ruhige, Ackerbau treibende, leicht der Zucht in den Miſſionen zu unter— werfende Völker. Der Indianer der Ebene unterſcheidet ſich vom Indianer der Wälder durch Sprache wie durch Sitten und die ganze Geiſtesrichtung; beide haben eine an lebendigen, kecken Wendungen reiche Sprache, aber die des e erſteren iſt rauher, kürzer, leidenſchaftlicher; beim zweiten iſt ſie ſanfter, weitſchweifiger und reicher an abgeleiteten Aus— drücken. In der Miſſion Atures, wie in den meiſten Miſſionen am Orinoko zwiſchen den Mündungen des Apure und des Atabapo, leben die eben erwähnten beiden Arten von Volks— ſtämmen nebeneinander; man trifft daſelbſt Indianer aus den Wäldern und früher nomadiſche Indianer (Indios mon— teros und Indios andantes oder llaneros). Wir beſuchten mit dem Miſſionär die Hütten der Macos, bei den Spaniern Piradas genannt, und der Guahibos. Im erſteren zeigt ſich mehr Sinn für Ordnung, mehr Reinlichkeit und Wohlſtand. Die unabhängigen Macos (Wilde möchte ich ſie nicht nennen) haben ihre Rochelas oder feſten Wohnplätze zwei bis drei Tage— reiſen öſtlich von Atures bei den Quellen des kleinen Fluſſes Cataniapo. Sie ſind ſehr zahlreich, bauen, wie die meiſten Waldindianer, keinen Mais, ſondern Maniok, und leben im beſten Einvernehmen mit den chriſtlichen Indianern in der Miſſion. Dieſe Eintracht hat der Franziskaner Pater Ber— nardo Zea geſtiftet und durch Klugheit erhalten. Der Alkalde der unterworfenen Macos verließ mit der Genehmigung des Miſſionärs jedes Jahr das Dorf Atures, um ein paar Monate auf den Pflanzungen zuzubringen, die er mitten in den Wäldern beim Dorfe der unabhängigen Macos beſaß. Infolge dieſes friedlichen Verkehres hatten ſich vor einiger Zeit mehrere dieſer Indios monteros in der Miſſion nieder: gelaſſen. Sie baten dringend um Meſſer, Fiſchangeln und farbige Glasperlen, die trotz des ausdrücklichen Verbotes der Ordensleute nicht als Halsbänder, ſondern zum Aufputz des Guayuco (Gürtels) dienen. Nachdem ſie das Gewünſchte erhalten, gingen ſie in die Wälder zurück, da ihnen die Zucht in der Miſſion ſchlecht behagte. Epidemiſche Fieber, wie ſie bei Eintritt der Regenzeit nicht ſelten heftig auftreten, trugen viel zu der unerwarteten Ausreißerei bei. Im Jahre 1799 war die Sterblichkeit in Carichana, am Ufer des Meta und im Raudal von Atures ſehr ſtark. Dem Waldindianer wird das Leben des civiliſierten Menſchen zum Greuel, ſobald ſeiner in der Miſſion lebenden Familie, ich will nicht ſagen ein Unglück, ſondern nur unerwartet irgend etwas Widriges zuſtößt. So ſah man neubekehrte Indianer wegen herrſchender roßer Trockenheit für immer aus den chriſtlichen Nieder— aſſungen fortlaufen, als ob das Unheil ihre Pflanzungen — 108 — nicht ebenſo betroffen hätte, wenn ſie immer unabhängig ge⸗ blieben wären. Welches ſind die Urſachen der Fieber, die einen großen Teil des Jahres hindurch in den Dörfern Atures und May: pures an den zwei großen Katarakten des Orinoko herrſchen und die Gegend für den europäiſchen Reiſenden ſo gefährlich machen? Die große Hitze im Verein mit der außerordentlich ſtarken Feuchtigkeit der Luft, die ſchlechte Nahrung und, wenn man den Eingeborenen glaubt, giftige Dünſte, die ſich aus den kahlen Felſen der Raudales entwickeln. Dieſe Orinoko— fieber kommen, wie es uns ſchien, vollkommen mit denen überein, die alle Jahre in der Nähe des Meeres zwiſchen Nueva Barcelona, Guayra und Porto Cabello auftreten und oft in adynamiſche Fieber ausarten. „Ich habe mein kleines Fieber (mi calenturita) erſt ſeit acht Monaten,“ ſagte der gute Miſſionär von Atures, der uns an den Rio Negro be— gleitete; er ſprach davon wie von einem gewohnten, wohl zu ertragenden Leiden. Die Anfälle waren heftig, aber von kurzer Dauer; bald traten ſie ein, wenn er in der Piroge auf einem Gitter von Baumzweigen lag, bald wenn er auf offenem Ufer der heißen Sonne ausgeſetzt war. Dieſe drei— tägigen Fieber ſind mit bedeutender Schwächung des Muskel— ſyſtems verbunden; indeſſen ſieht man am Orinoko arme Ordensgeiſtliche ſich jahrelang mit dieſen Calenturitas und Tercianas ſchleppen; die Wirkungen ſind nicht ſo tief greifend und gefährlich als bei kürzer dauernden Fiebern in gemäßigten Himmelsſtrichen. Ich erwähnte eben, daß die Eingeborenen und ſogar die Miſſionäre den kahlen Felſen einen nachteiligen Einfluß auf die Salubrität der Luft zuſchreiben. Dieſer Glaube verdient um ſo mehr Beachtung, da er mit einer phyſikaliſchen Er— ſcheinung zuſammenhängt, die kürzlich in verſchiedenen Land— ſtrichen beobachtet worden und noch nicht gehörig erklärt iſt. In den Katarakten und überall, wo der Orinoko zwiſchen den Miſſionen Carichana und Santa Barbara periodiſch das Granitgeſtein beſpült, iſt dieſes glatt, dunkelfarbig, wie mit Waſſerblei überzogen. Die färbende Subſtanz dringt nicht in den Stein ein, der ein grobkörniger Granit iſt, welcher hie und da Hornblendekriſtalle enthält. Der ſchwarze Ueberzug iſt 0,6 mm dick und findet ſich vorzüglich auf den quarzigen Stellen; die Feldſpatkriſtalle haben zuweilen äußerlich ihre rötlichweiße Farbe behalten und ſpringen aus der ſchwarzen — 109 — Rinde vor. Zerſchlägt man das Geſtein mit dem Hammer, ſo iſt es innen unverſehrt, weiß, ohne Spur von Zerſetzung. Dieſe ungeheuren Steinmaſſen treten bald in viereckigen Um— riſſen auf, bald in der halbkugligen Geſtalt, wie ſie dem Granitgeſtein eigen iſt, wenn es ſich in Blöcke ſondert. Sie geben der Gegend etwas eigentümlich Düſteres, da ihre Farbe vom Waſſerſchaum, der ſie bedeckt, und vom Pflanzenwuchs um ſie her ſcharf abſticht. Die Indianer ſagen, die Felſen ſeien „von der Sonnenglut verbrannt oder verkohlt“. Wir ſahen ſie nicht nur im Bette des Orinoko, ſonder in manchen Punkten bis zu 970 m vom gegenwärtigen Ufer in Höhen, bis wohin der Fluß beim höchſten Waſſerſtande jetzt nicht ſteigt. Was iſt dieſe ſchwarzbraune Kruſte, die dieſen Felſen, wenn ſie kugelig ſind, das Anſehen von Meteorſteinen gibt? Wie hat man ſich die Wirkung des Waſſers bei dieſem Nieder— ſchlag oder bei dieſem auffallenden Farbenwechſel zu denken? Vor allem iſt zu bemerken, daß die Erſcheinung nicht auf die Katarakte des Orinoko beſchränkt iſt, ſondern in beiden Hemi— ſphären vorkommt. Als ich, nach der Rückkehr aus Mexiko, im Jahre 1807 die Granite von Atures und Maypures Ro— ziere ſehen ließ, der das Nilthal, die Küſte des Roten Meeres und den Berg Sinai bereiſt hat, ſo zeigte mir der gelehrte Geolog, daß das Urgebirgsgeſtein bei den kleinen Katarakten von Syene, gerade wie das am Orinoko, eine glänzende, ſchwarzgraue, faſt bleifarbige Oberfläche hat; manche Bruch— ſtücke ſehen aus wie mit Teer überzogen. Erſt neuerlich, bei der unglücklichen Expedition des Kapitän Tuckey, fiel die— ſelbe Erſcheinung engliſchen Naturforſchern an den Pellala (Stromſchnellen und Klippen) auf, welche den Kongo- oder Zairefluß verſtopfen. Dr. König hat im Britiſchen Muſeum neben Syenite vom Kongo Granite von Atures geſtellt, die einer Suite von Gebirgsarten entnommen ſind, die Bonpland und ich dem Präſidenten der Londoner königlichen Geſellſchaft überreicht hatten. „Dieſe Handſtücke,“ ſagt König, „ſehen beide aus wie Meteorſteine; bei beiden Gebirgsarten, bei der vom Orinoko wie bei der afrikaniſchen, beſteht die ſchwarze Rinde, nach der Analyſe von Children, aus Eiſen- und Man⸗ ganoxyd.“ — Nach einigen Verſuchen, die ich in Mexiko in Verbindung mit del Rio gemacht, kam ich auf die Vermutung, das Ge— ſtein von Atures, welches das Papier, in das es eingeſchlagen iſt, ſchwarz färbt, möchte außer dem Manganoxyd Kohle und — 10 — überkohlenſaures Eiſen enthalten. Am Orinoko ſind 13 bis 16 m dicke Granitmaſſen gleichförmig mit dieſen Oxyden über— zogen, und ſo dünn dieſe Rinden erſcheinen, enthalten ſie doch anſehnliche Mengen Eiſen und Mangan, da ſie über 20 qkm Fläche haben. N Es iſt zu bemerken, daß alle dieſe Erſcheinungen von Färbung des Geſteines bis jetzt nur in der heißen Zone beob— achtet worden ſind, an Fluͤſſen, deren Temperatur gewöhn— lich 24 bis 28“ beträgt und die nicht über Sandſtein oder Kalkſtein, ſondern über Granit, Gneis und Hornblendegeſtein laufen. Der Quarz und der Feldſpat enthalten kaum 5 bis 6 Tauſendteile Eiſen- und Manganoxyd; dagegen im Glim— mer und in der Hornblende kommen dieſe Oxyde, beſonders das Eiſenoxyd, nach Klaproth und Herrmann, bis zu 15 und 20 Prozent vor. Die Hornblende enthält zudem Kohle, wie auch der lydiſche Stein und der Kieſelſchiefer. Bildet ſich nun dieſe ſchwarze Rinde durch eine langſame Zerſetzung des Granits unter dem doppelten Einfluß der Feuchtigkeit und der Sonne der Tropen, wie ſoll man es erklären, daß die Oxyde ſich ſo gleichförmig über die ganze Oberfläche des Geſteines verbreiten, daß um einen Glimmer- und Hornblendekriſtall nicht mehr davon liegt als über dem Feldſpat und dem milchigen Quarz? Der eiſenſchüſſige Sandſtein, der Granit, der Marmor, die aſchfarbig, zuweilen braun werden, haben ein ganz anderes Ausſehen. Der Glanz und die gleiche Dicke der Rinde laſſen vielmehr vermuten, daß der Stoff ein Niederſchlag aus dem Waſſer des Orinoko iſt, das in die Spalten des Geſteines ge— drungen. Geht man von dieſer Vorausſetzung aus, ſo fragt man ſich, ob jene Oxyde im Fluſſe nur ſuſpendiert ſind, wie der Sand und andere erdige Subſtanzen, oder wirklich chemiſch aufgelöſt? Der erſteren Annahme widerſpricht der Umſtand, daß die Rinde völlig homogen iſt und neben den Oxyden weder Sandkörner noch Glimmerblättchen ſich darin finden. Man muß daher annehmen, daß chemiſche Auflöſung vorliegt, und die Vorgänge, die wir täglich in unſeren Laboratorien beobachten, widerſprechen dieſer Vorausſetzung durchaus nicht. Das Waſſer großer Flüſſe enthält Kohlenſäure, und wäre es auch ganz rein, ſo könnte es doch immer in ſehr großen Mengen einige Teilchen Metalloxyd oder Hydrat auflöfen, wenn dieſelben auch für unauflöslich gelten. Im Nilſchlamm, alſo im Niederſchlag der im Fluſſe ſuſpendierten Stoffe, findet ſich kein Mangan; er enthält aber nach Reynaults Analyſe = 6 Prozent Eiſenoryd und feine anfangs ſchwarze Farbe wird beim Trocknen und durch die Einwirkung der Luft gelbbraun. Von dieſem Schlamme kann alſo die ſchwarze Rinde an den Felſen von Syene nicht herrühren. Auf meine Bitte hat Berzelius dieſe Rinde unterſucht; er fand darin Eiſen und Mangan, wie in der auf den Graniten vom Orinoko und Kongo. Der berühmte Chemiker iſt der Anſicht, die Oxyde werden von den Flüſſen nicht dem Boden entzogen, über den ſie laufen, ſie kommen ihnen vielmehr aus ihren unterirdiſchen Quellen zu und ſie ſchlagen dieſelben auf das Geſtein nieder wie durch Cementation, infolge eigentümlicher Affinitäten, vielleicht durch Einwirkung des Kali im Feldſpat. Nur durch einen langen Aufenthalt an den Katarakten des Orinoko, des Nil und des Kongofluſſes und durch genaue Beobachtung der Umſtände, unter denen die Färbung auftritt, kann die Frage, die uns hier beſchäftigt hat, ganz zur Entſcheidung gebracht werden. Iſt die Erſcheinung der Beſchaffenheit des Geſteines unabhängig? Ich beſchränke mich auf die allgemeine Bemer— kung, daß weder Granitmaſſen, die weit vom alten Bette des Orinoko liegen, aber in der Regenzeit abwechſelnd befeuchtet und von der Sonne erhitzt werden, noch der Granit, der von den bräunlichen Waſſern des Rio Negro beſpült wird, äußer— lich den Meteorſteinen ähnlich werden. Die Indianer ſagen, „die Felſen ſeien nur da ſchwarz, wo das Waſſer weiß iſt“. Sie ſollten vielleicht weiter ſagen: „wo das Waſſer eine große Geſchwindigkeit erlangt hat und gegen das Geſtein am Ufer anprallt.“ Die Cementation ſcheint zu erklären, warum die Rinde ſo dünn bleibt. Ob der in den Miſſionen am Orinoko herrſchende Glaube, daß in der Nähe des kahlen Geſteines, beſonders der Fels— maſſen mit einer Rinde von Kohle, Eiſen- und Manganoxyd die Luft ungeſund ſei, grundlos iſt, weiß ich nicht zu ſagen. In der heißen Zone werden noch mehr als anderswo die krankheiterregenden Urſachen vom Volke willkürlich gehäuft. Man ſcheut ſich dort im Freien zu ſchlafen, wenn einem der Vollmond ins Geſicht ſchiene; ebenſo hält man es für be— denklich, ſich nahe am Fluſſe auf Granit zu lagern, und man erzählt viele Fälle, wo Leute nach einer auf dem ſchwarzen kahlen Geſtein zugebrachten Nacht morgens mit einem ſtarken Fieberanfall erwacht find. Wir ſchenkten nun zwar dieſer Be— hauptung der Miſſionäre und der Eingeborenen nicht unbedingt Glauben, mieden aber doch die Laxas negras und lagerten — 112 — uns auf mit weißem Sande bedeckten Uferſtrecken, wenn wir keine Bäume fanden, um unſere Hängematten zu befeſtigen. In Carichana will man das Dorf abbrechen und verlegen, nur um von den ſchwarzen Felſen wegzukommen, von einem Orte, wo auf einer Strecke von mehr als 3,8 ha die Bodenfläche aus kahlem Granitgeſtein beſteht. Aus ähnlichen Gründen, die den Phyſikern in Europa als bloße Einbil— dungen erſcheinen müſſen, verſetzten die Jeſuiten Olmo, For— neri und Mellis ein Dorf der Yaruros an drei verſchiedene Punkte zwiſchem dem Raudal von Tabaje und dem Rio Ana- veni. Ich glaube dieſe Dinge, ganz wie ſie mir zu Ohren gekommen, anführen zu müſſen, da wir ſo gut wie gar nicht wiſſen, was eigentlich die Gasgemenge ſind, wodurch die Luft ungeſund wird. Läßt ſich annehmen, daß unter dem Einfluß ſtarker Hitze und beſtändiger Feuchtigkeit die ſchwarze Rinde des Geſteines auf die umgebende Luft einwirkt und Miasmen, ternäre Verbindungen von Kohlenſtoff, Stickſtoff und Waſſer— ſtoff erzeugt? Ich zweifle daran. Der Granit am Orinoko enthält allerdings häufig Hornblende, und praktiſche Berg— leute wiſſen wohl, daß die ſchlimmſten Schwaden ſich in Stollen bilden, die durch Syenit und Hornblendeſtein ge: trieben werden. Aber im Freien, wo die Luft durch die kleinen Strömungen fortwährend erneuert wird, kann die Wir— kung nicht dieſelbe ſein wie in einer Grube. Wahrſcheinlich iſt es nur deshalb gefährlich, auf den Laxas negras zu ſchlafen, weil das Geſtein bei Nacht eine ſehr hohe Temperatur behält. Ich fand dieſelbe bei Tage 48°, während die Luft im Schatten 29,7“ warm war; bei Nacht zeigte der Thermometer, an das Geſtein gelegt, 36“, die Luft nur 26. Wenn die Wärmeanhäufung in den Geſteinsmaſſen zum Stillſtand gekommen iſt, ſo haben dieſe Maſſen zu den— ſelben Stunden immer wieder ungefähr dieſelbe Temperatur. Den Ueberſchuß von Wärme, den ſie bei Tage bekommen, ver— lieren ſie in der Nacht durch Strahlung, deren Stärke von der Beſchaffenheit der Oberfläche des ſtrahlenden Körpers, von der Anordnung ſeiner Moleküle im Inneren, beſonders aber von der Reinheit des Himmels abhängt, das heißt davon, ob die Luft durchſichtig und wolkenlos iſt. Wo der Unterſchied in der Abweichung der Sonne nur gering iſt, geht von ihr jeden Tag faſt die gleiche Wärmemenge aus und das Geſtein iſt am Ende des Sommers nicht wärmer als zu Anfang des— ſelben. Es kann ein gewiſſes Maximum nicht überſchreiten, — 113 — weil ſich weder der Zuſtand ſeiner Oberfläche, noch ſeine Dich— tigkeit, noch ſeine Wärmekapazität verändert hat. Steigt man am Ufer des Orinoko bei Nacht aus der Hängematte und betritt den Felsboden mit bloßen Füßen, ſo iſt die Wärme, die man empfindet, ſehr auffallend. Wenn ich die Thermo— meterkugel an das nackte Geſtein legte, fand ich faſt immer, daß die Laxas negras bei Tage wärmer ſind als der rötlich— weiße Granit weitab vom Ufer, daß aber letzterer ſich bei Nacht nicht ſo ſchnell abkühlt als jener. Begreiflich geben Maſſen mit einem ſchwarzen Ueberzug den Wärmeſtoff raſcher wieder ab als ſolche, in denen viele ſilberfarbige Glimmer— blätter ſtecken. Geht man in Carichana, Atures oder May— pures zwiſchen 1 und 3 Uhr nachmittags unter dieſen auf: getürmten Felsblöcken ohne alle Dammerde, ſo erſtickt man beinahe, als ſtünde man vor der Mündung eines Schmelz— ofens. Der Wind (wenn man ihn je in dieſen bewaldeten Ländern ſpürt) bringt ſtatt Kühlung nur noch heißere Luft herbei, da er über Steinſchichten und aufgetürmte Granit— kugeln weggegangen iſt. Durch dieſe Steigerung der Hitze wird das Klima noch ungeſünder als es ohnehin iſt. Unter den Urſachen der Entvölkerung der Raudales habe ich die Blattern nicht genannt, die in anderen Strichen von Amerika ſo ſchreckliche Verheerungen anrichten, daß die Ein— geborenen, von Entſetzen ergriffen, ihre Hütten anzünden, ihre Kinder umbringen und alle Gemeinſchaft fliehen. Am oberen Orinoko weiß man von dieſer Geißel ſo gut wie nichts, und käme ſie je dahin, ſo iſt zu hoffen, daß ihr die Kuh— pockenimpfung, deren Segen man auf den Küſten von Terra Firma täglich empfindet, alsbald Schranken ſetzte. Die Ur— ſachen der Entvölkerung in den chriſtlichen Niederlaſſungen find der Widerwille der Indianer gegen die Zucht in den Miſ— ſionen, das ungeſunde, zugleich heiße und feuchte Klima, die ſchlechte Nahrung, die Verwahrloſung der Kinder, wenn ſie krank ſind, und die ſchändliche Sitte der Mütter, giftige Kräuter zu gebrauchen, damit ſie nicht ſchwanger werden. Bei den barbariſchen Völkern in Guyana, wie bei den halb civili— ſierten Bewohnern der Südſeeinſeln gibt es viele junge Weiber, die nicht Mütter werden wollen. Bekommen ſie Kinder, ſo ſind dieſelben nicht allein den Gefahren des Lebens in der Wildnis, ſondern noch manchen anderen ausgeſetzt, die aus dem abgeſchmackteſten Aberglauben herfließen. Sind es Zwillinge, ſo verlangen verkehrte Begriffe von Anſtand und A. v. Humboldt, Reiſe. III. 8 — 114 — Familienehre, daß man eines der Kinder umbringe. „Zwillinge in die Welt ſetzen, heißt ſich dem allgemeinen Spott preis— geben, heißt es machen wie Ratten, Beuteltiere und das niedrigſte Getier, das viele Junge zugleich wirft.“ Aber noch mehr: „Zwei zugleich geborene Kinder können nicht von einem Vater ſein.“ Das iſt ein Lehrſatz in der Phyſiologie der Salivas, und unter allen Himmelsſtrichen, auf allen Stufen der geſellſchaftlichen Entwickelung ſieht man, daß das Volk, hat es ſich einmal einen Satz derart zu eigen gemacht, zäher daran feſthält als die Unterrichteten, die ihn zuerſt aufs Tapet gebracht. Um des Hausfriedens willen nehmen es alte Baſen der Mutter oder die Mure japoic-nei (Hebamme) auf ſich, eines der Kinder auf die Seite zu ſchaffen. Hat der Neugeborene, wenn er auch kein Zwilling iſt, irgend eine körperliche Mißbildung, ſo bringt ihn der Vater auf der Stelle um. Man will nur wohlgebildete, kräftige Kinder; denn bei den Mißbildungen hat der böſe Geiſt Joloquiamo die Hand im Spiel, oder der Vogel Tikitiki, der Feind des Menſchengeſchlechtes. Zuweilen haben auch bloß ſehr ſchwäch— liche Kinder dasſelbe Los. Fragt man einen Vater, was aus einem ſeiner Söhne geworden ſei, ſo thut er, als wäre er ihm durch einen natürlichen Tod entriſſen worden. Er ver— leugnet eine That, die er für tadelnswert, aber nicht für ſtrafbar hält. „Das arme Mure (Kind),“ heißt es, „konnte nicht mit uns Schritt halten; man hätte jeden Augenblick auf es warten müſſen; man hat nichts mehr von ihm geſehen, es iſt nicht dahin gekommen, wo wir geſchlafen haben.“ Dies iſt die Unſchuld und Sitteneinfalt, dies iſt das geprieſene Glück des Menſchen im Urzuſtand! Man bringt ſein Kind um, um nicht wegen Zwillingen lächerlich zu werden, um nicht langſamer wandern, um ſich nicht eine kleine Entbehrung auferlegen zu müſſen. Grauſamkeiten derart ſind nun allerdings nicht ſo häufig, als man glaubt; indeſſen kommen ſie ſogar in den Miſſionen vor, und zwar zur Zeit, wo die Indianer aus dem Dorfe ziehen und ſich auf den „Conucos“ in den nahen Wäldern aufhalten. Mit Unrecht ſchriebe man ſie der Polygamie zu, in der die nicht katechiſierten Indianer leben. Bei der Viel— weiberei iſt allerdings das häusliche Glück und der Friede in den Familien gefährdet, aber trotz dieſes Brauches, der ja auch ein Geſetz des Islams iſt, lieben die Morgenländer ihre Kinder zärtlich. Bei den Indianern am Orinoko kommt der Vater nur nach Haufe, um zu eſſen und ſich in feine Hänge— matte zu legen; er liebkoſt weder ſeine kleinen Kinder, noch ſeine Weiber, die da ſind, ihn zu bedienen. Die väter— liche Zuneigung kommt erſt dann zum Vorſchein, wenn der Sohn ſo weit herangewachſen iſt, daß er an der Jagd, am Fiſchfang und an der Arbeit in den Pflanzungen teil— nehmen kann. Wenn nun aber auch der ſchändliche Brauch, durch ge— wiſſe Tränke Kinder abzutreiben, die Zahl der Geburten ver— mindert, ſo greifen dieſe Tränke die Geſundheit nicht ſo ſehr an, daß nicht die jungen Weiber in reiferen Jahren wieder Mütter werden könnten. Dieſe phyſiologiſch ſehr merkwürdige Erſcheinung iſt den Mönchen in den Miſſionen längſt aufge— fallen. Der Jeſuit Gili, der 15 Jahre lang die Indianer am Orinoko Beichte gehört hat und ſich rühmt, i segreti delle donne maritate zu kennen, äußert ſich darüber mit verwunder— licher Naivität. „In Europa,“ ſagt er, „fürchten ſich die Ehe— weiber vor dem Kinderbekommen, weil ſie nicht wiſſen, wie ſie ſie ernähren, kleiden, ausſtatten ſollen. Von all dieſen Sorgen wiſſen die Weiber am Orinoko nichts. Sie wählen die Zeit, wo ſie Mütter werden wollen, nach zwei gerade entgegengeſetzten Syſtemen, je nachdem ſie von den Mitteln, ſich friſch und ſchön zu erhalten, dieſe oder jene Vorſtellung haben. Die einen behaupten, und dieſe Meinung iſt die vor— herrſchende, es ſei beſſer, man fange ſpät an Kinder zu be— kommen, um ſich in den erſten Jahren der Ehe ohne Unter— brechung der Arbeit in Haus und Feld widmen zu können. Andere glauben im Gegenteil, es ſtärke die Geſundheit und verhelfe zu einem glücklichen Alter, wenn man ſehr jung Mutter geworden ſei. Je nachdem die Indianer das eine oder das andere Syſtem haben, werden die Abtreibemittel in den verſchiedenen Lebensaltern gebraucht.“ Sieht man hier, wie ſelbſtſüchtig der Wilde ſeine Berechnungen anſtellt, ſo möchte man den civiliſierten Völkern in Europa Glück wün— ſchen, daß Ecbolia, die dem Anſchein nach der Geſundheit ſo wenig ſchaden, ihnen bis jetzt unbekannt geblieben ſind. Durch die Einführung von dergleichen Tränken würde viel— leicht die Sittenverderbnis in den Städten noch geſteigert, wo ein Vierteil der Kinder nur zur Welt kommt, um von den Eltern verſtoßen zu werden. Leicht möglich aber auch, daß die neuen Abtreibemittel in unſerem Klima ſo gefährlich wären wie der Sevenbaum, die Aloe und das flüchtige Zimt— — 16 — und Gewürznelkenöl. Der kräftige Körper des Wilden, in dem die verſchiedenen organiſchen Syſteme unabhängiger von— einander ſind, widerſteht beſſer und länger übermäßigen Reizen und dem Gebrauch dem Leben feindlicher Subſtanzen, als die ſchwache Konſtitution des civiliſierten Menſchen. Ich glaubte mich in dieſe nicht ſehr erfreulichen pathologiſchen Betrach— tungen einlaſſen zu müſſen, weil ſie auf eine der Urſachen hinweiſen, aus denen im verſunkenſten Zuſtande unſeres Ge— ſchlechtes, wie auf der höchſten Stufe der Kultur, die Be— völkerung kaum merklich zunimmt. Zu den eben bezeichneten Urſachen kommen andere weſent— lich verſchiedene. Im Kollegium für die Miſſionen von Piritu zu Nueva Barcelona hat man die Bemerkung gemacht, daß in den an ſehr trockenen Orten gelegenen Indianerdörfern immer auffallend mehr Kinder geboren werden als an den Dörfern an Flußufern. Die Sitte der indianiſchen Weiber, mehreremal am Tage, bei Sonnenaufgang und nach Sonnen— untergang, alſo wenn die Luft am kühlſten iſt, zu baden, ſcheint die Konſtitution zu ſchwächen. Der Pater Guardian der Franziskaner ſah mit Schrecken, wie raſch die Bevölkerung in den beiden Dörfern an den Ka— tarakten abnahm und ſchlug daher vor einigen Jahren dem Statthalter der Provinz in Angoſtura vor, die Indianer durch Neger zu erſetzen. Bekanntlich dauert die afrikaniſche Raſſe in heißem und feuchtem Klima vortrefflich aus. Eine Nieder— laſſung freier Neger am ungeſunden Ufer des Caura in der Miſſion San Luis Guaraguaraico gedeiht ganz gut, und ſie bekommen ausnehmend reiche Maisernten. Der Pater Guardian beabſichtigte einen Teil dieſer ſchwarzen Koloniſten an die Ka— tarakte des Orinoko zu verpflanzen, oder aber Sklaven auf den Antillen zu kaufen und ſie, wie man am Caura gethan, mit Negern, die aus Eſſequibo entlaufen, anzuſiedeln. Wahr: ſcheinlich wäre der Plan ganz gut gelungen. Derſelbe er— innerte im kleinen an die Niederlaſſungen in Sierra Leone; es war Ausſicht vorhanden, daß der Zuſtand der Schwarzen ſich damit verbeſſerte und ſo das Chriſtentum zu ſeinem ur— ſprünglichen Ziele, Förderung des Glückes und der Freiheit der unterſten Volksklaſſen, wieder hingeführt wurde. Ein kleines Mißverſtändnis vereitelte die Sache. Der Statthalter erwiderte den Mönchen: „Da man für das Leben der Neger ſo wenig bürgen könne als für das der Indianer, ſo erſcheine es nicht als gerecht, jene zur Niederlaſſung in den Dörfern — 117 — bei den Katarakten zu zwingen.“ Gegenwärtig hängt die Exiſtenz dieſer Miſſionen ſo ziemlich an zwei Guahibo- und Macofamilien, den einzigen, bei denen man einige Spuren von Civiliſation findet und die das Leben auf eigenem Grund und Boden lieben. Sterben dieſe Haushaltungen aus, ſo laufen die anderen Indianer, die der Miſſionszucht längſt müde ſind, dem Pater Zea davon, und an einem Punkt, den man als den Schlüſſel des Orinoko betrachten kann, finden dann die Reiſenden nichts mehr, was ſie bedürfen, zumal keinen Steuermann, der die Kanoen durch die Stromſchnellen ſchafft; der Verkehr zwiſchen dem Fort am Rio Negro und der Hauptſtadt Angoſtura wäre, wo nicht unterbrochen, doch ungemein erſchwert. Es bedarf ganz genauer Kenntnis der Oertlichkeiten, um ſich in das Labyrinth von Klippen und Felsblöcken zu wagen, die bei Atures und Maypures das Strombett verſtopfen. Während man unſere Piroge auslud, betrachteten wir von allen Punkten, wo wir ans Ufer gelangen konnten, in der Nähe das ergreifende Schauſpiel eines eingeengten und wie völlig in Schaum verwandelten großen Stromes. Ich verſuche es, nicht unſere Empfindungen, ſondern eine Oertlich— keit zu ſchildern, die unter den Landſchaften der Neuen Welt ſo berühmt iſt. Je großartiger, majeſtätiſcher die Gegenſtände ſind, deſto wichtiger iſt es, ſie in ihren kleinſten Zügen auf— zufaſſen, die Umriſſe des Gemäldes, mit dem man zur Ein— bildungskraft des Leſers ſprechen will, feſt zu zeichnen, die bezeichnenden Merkmale der großen, unvergänglichen Denk— mäler der Natur einfach zu ſchildern. Von ſeiner Mündung bis zum Einfluß des Anaveni, auf einer Strecke von 1170 km, iſt die Schiffahrt auf dem Orinoko durchaus ungehindert. Bei Muitaco, in einer Bucht, Boca del Infierno genannt, ſind Klippen und Wirbel; bei Carichana und San Borja ſind Stromſchnellen (Raudalitos); aber an all dieſen Punkten iſt der Strom nie ganz geſperrt, es bleibt eine Waſſerſtraße, auf der die Fahrzeuge hinab und hinauf fahren können. Auf dieſer ganzen Fahrt auf dem unteren Orinoko wird dem Reiſenden nur eines gefährlich, die natürlichen Flöße aus Bäumen, die der Fluß entwurzelt und bei Hochwaſſer forttreibt. Wehe den Pirogen, die bei Nacht an ſolchem Gitterwerk aus Holz und Schlinggewächſen auffahren! Das— ſelbe iſt mit Waſſerpflanzen bedeckt und gleicht hier, wie auf — 118 — dem Miſſiſſippi, ſchwimmenden Wieſen, den Chinampas! der mexikaniſchen Seen. Wenn die Indianer eine feindliche Horde überfallen wollen, binden ſie mehrere Kanoen mit Stricken zuſammen, bedecken ſie mit Kräutern Baumzweigen und bilden ſo die Haufen von Bäumen nach, die der Orinoko auf ſeinem Thalweg abwärts treibt. Man ſagt den Kariben nach, ſie ſeien früher in dieſer Kriegsliſt ausgezeichnet ge— weſen, und gegenwärtig bedienen ſich die ſpaniſchen Schmuggler in der Nähe von Angoſtura desſelben Mittels, um die Zoll— aufſeher hinter das Licht zu führen. Oberhalb des Rio Anaveni, zwiſchen den Bergen von Uniana und n kommt man zu den Katarakten von Mapara und Quituna, oder wie die Miſſionäre gemeiniglich ſagen, zu den Raudales von Atures und Maypures. Dieſe beiden vom einen zum anderen Ufer laufenden Stromſperren geben im großen ungefähr dasſelbe Bild: zwiſchen zahlloſen Inſeln, Felsdämmen, aufeinander getürmten, mit Palmen be— wachſenen Granitblöcken löſt ſich einer der größten Ströme der Neuen Welt in Schaum auf. Trotz dieſer Uebereinſtim— mung im Ausſehen hat jeder der Fälle ſeinen eigentümlichen Charakter. Der erſte, nördliche, iſt bei niedrigem Waſſer leichter zu paſſieren; beim zweiten, dem von Maypures, iſt den In— dianern die Zeit des Hochwaſſers lieber. Oberhalb Maypures und der Einmündung des Cano Cameji iſt der Orinoko wieder frei auf einer Strecke von mehr als 760 km, bis in die Nähe ſeiner Quellen, das heißt bis zum Raudalito der Guaharibos, oſtwärts vom Cano Chiguire und den hohen Bergen von Humariquin, Ich habe die beiden Becken des Orinoko und des Ama⸗ zonenſtromes beſucht, und es fiel mir ungemein auf, wie ver— ſchieden ſie ſich auf ihrem ungleich langen Laufe verhalten. Beim Amazonenſtrom, der gegen 1820 km lang iſt, find die großen Fälle ziemlich nahe bei den Quellen, im ah Sechs⸗ teil der ganzen Länge; fünf Sechsteile ſeines Laufes ſind vollkommen frei. Beim Orinoko ſind die Fälle, weit un— günſtiger für die Schiffahrt, wenn nicht in der Mitte, doch unterhalb des erſten Dritteils ſeiner Länge gelegen. Bei beiden Strömen werden die Fälle nicht durch die Berge, nicht durch die Stufen der übereinander liegenden Plateaus, wo ſie entſptingen, gebildet, ſondern durch andere Berge, durch Schwimmende Gärten. — 119 — andere übereinander gelagerte Stufen, durch die ſich die Ströme nach langem friedlichen Laufe Bahn brechen müſſen, wobei ſie ſich von Staffel zu Staffel herabſtürzen. 4 Der Amazonenſtrom durchbricht keineswegs die Haupt— kette der Anden, wie man zu einer Zeit behauptete, wo man ohne Grund vorausſetzte, daß überall, wo ſich die Gebirge in parallele Ketten teilen, die mittlere oder Centralkette höher ſein müſſe als die anderen. Dieſer große Strom entſpringt (und dieſer Umſtand iſt geologiſch nicht ohne Belang) oſtwärts von der weſtlichen Kette, der einzigen, welche unter dieſer Breite den Namen einer hohen Andenkette verdient. Er ent— ſteht aus der Vereinigung der kleinen Flüſſe Aguamiros und und Chavinillo, welch letzterer aus dem See Llauricocha kommt, der in einem Längenthale zwiſchen der weſtlichen und der mittleren Kette der Anden liegt. Um dieſe hydrographiſchen Verhältniſſe richtig aufzufaſſen, muß man ſich vorſtellen, daß der koloſſale Gebirgsknoten von Pasco und Huanuco ſich in drei Ketten teilt. Die weſtlichſte, höchſte, ſtreicht unter dem Namen Cordillera real de Nieve (zwiſchen Huary und Cara: tambo, Guamachuco und Luema, Micuipampa und Guanga— marca) über die Nevados von Viuda, Pelagatos, Moyopata und Huaylillas, und die Paramos von Guamani und Gua— ringa gegen die Stadt Loxa. Der mittlere Zug ſcheidet die Gewäſſer des oberen Amazonenſtroms und des Huallaga und bleibt lange nur 1950 m hoch; erſt ſüdlich von Huanuco ſteigt er in der Kordillere von Saſaguanca über die Schneelinie empor. Er ſtreicht zuerſt nach Nord über Huacrachuco, Chacha— poyas, Moyobamba und den Paramo von Piscoguanuna, dann fällt er allmählich ab, Peca, Capallin und der Miſſion San Jago am öſtlichen Ende der Provinz Jaen de Braca— moros zu Die dritte, öſtlichſte Kette zieht ſich am rechten Ufer des Rio Huallaga hin und läuft unter dem 7. Grad der Breite in die Niederung aus. Solange der Amazonen— ſtrom von Süd nach Nord im Längenthal zwiſchen zwei Gebirgszügen von ungleicher Höhe läuft (das heißt von den Höhen Quivilla und Guancaybamba, wo man auf hölzernen Brücken über den Fluß geht, bis zum Einfluß des Rio Chinchipe), iſt die Fahrt im Kanoe weder durch Felſen, noch durch ſonſt etwas gehemmt. Die Fälle fangen erſt da an, wo der Ama— zonenſtrom ſich gegen Oſt wendet und durch die mittlere Anden— kette hindurchgeht, die gegen Norden bedeutend breiter wird. Er ſtößt auf die erſten Felſen von rotem Sandſtein oder altem — 120 — Konglomerat zwiſchen Tambillo und dem Pongo Rentema, wo ich Breite, Tiefe und Geſchwindigkeit des Waſſers ge— meſſen habe; er tritt aus dem roten Sandſtein oſtwärts von der vielberufenen Stromenge Manſeriche beim Pongo Tayuchuc, wo die Hügel ich nur noch 78 bis 116 m über den Fluß: ſpiegel erheben. Den öſtlichen Zug, der an den Pampas von Sacramento hinläuft, erreicht der Fluß nicht. Von den Hügeln von Tayuchuc bis Gran Para, auf einer Strecke von mehr als 3375 km, iſt die Schiffahrt ganz frei. Aus dieſer raſchen Ueberſicht ergibt ſich, daß der Maranon, hätte er nicht das Bergland zwiſchen San Jago und Tomependa, das zur Central: - kette der Anden gehört, zu durchziehen, ſchiffbar wäre von ſeinem Ausfluß ins Meer bis Pumpo bei Piscobamba in der Provinz Conchucos, 193 km von ſeiner Quelle. Wir haben geſehen, daß ſich beim Orinoko wie beim Amazonenſtrom die großen Fälle nicht in der Nähe des Ur— ſprunges befinden. Nach einem ruhigen Lauf von mehr als 720 km vom kleinen Raudal der Guaharibos, oſtwärts von Esmeralda, bis zu den Bergen von Sipapu, und nachdem er ſich durch die Flüſſe Jao, Ventuari, Atabapo und Guaviare verſtärkt, biegt der Orinoko aus ſeiner bisherigen Richtung von Oſt nach Weſt raſch in die von Süd nach Nord um und ſtößt auf dem Laufe über die „Land-Meerenge“! in den Nie— derungen am Meta auf die Ausläufer der Kordillere der Parime. Und dadurch entſtehen nun Fälle, die weit ſtärker ſind und der Schiffahrt ungleich mehr Eintrag thun als alle Pongos im oberen Marafon, weil fie, wie wir oben ausein— andergeſetzt, der Mündung des Fluſſes verhältnismäßig näher liegen. Ich habe mich in dieſe geographiſchen Details ein— gelaſſen, um am Beiſpiel der größten Ströme der Neuen Welt zu zeigen: 1) daß ſich nicht abſolut eine gewiſſe Meter— zahl, eine gewiſſe Meereshöhe angeben läßt, über welcher die Flüſſe noch nicht ſchiffbar ſind; 2) daß die Stromſchnellen keineswegs immer, wie in manchen Handbüchern der allge— meinen Topographie behauptet wird, nur am Abhang der erſten Bergſchwellen, bei den erſten Höhenzügen vorkommen, über welche die Gewäſſer in der Nähe ihrer Quellen zu laufen haben. Dieſe Landenge, von der ſchon öfters die Rede war, wird von den Kordilleren der Anden von Neugranada und von der Kordillere der Parime gebildet. 1 Nur der nördliche der großen Katarakte des Orinoko hat hohe Berge zu beiden Seiten. Das linke Stromufer iſt meiſt niedriger, gehört aber zu einem Landſtrich, der weſtwärts von Atures gegen den Pik Uniana anſteigt, einen gegen 975 m hohen Bergkegel auf einer ſteil abfallenden Felsmauer. Da: durch, daß er frei aus der Ebene aufſteigt, nimmt ſich dieſer Pik noch großartiger und majeſtätiſcher aus. In der Nähe der Miſſion, auf dem Landſtrich am Katarakt nimmt die Landſchaft bei jedem Schritt einen anderen Charakter an. Auf engem Raume findet man hier die rauheſten, finſterſten Natur— gebilde neben freiem Felde, bebauten, „lachenden Fluren. In der äußeren Natur wie in unſerem Inneren iſt der Gegen— ſatz der Eindrücke, das Nebeneinander des Großartigen, Drohen— den, und des Sanften, Friedlichen eine reiche Quelle unſerer Empfindungen und Genüſſe. Ich nehme hier einige zerſtreute Züge einer Schilderung auf, die ich kurz nach meiner Rückkehr nach Europa in einem anderen Buche entworfen.! Die mit zarten Kräutern und Gräſern bewachſenen Savannen von Atures ſind wahre Prärien, ähnlich unſeren europäiſchen Wieſen; ſie werden nie vom Fluſſe überſchwemmt und ſcheinen nur der Menſchenhand zu harren, die ſie umbricht. Trotz ihrer bedeutenden Ausdeh— nung ſind ſie nicht ſo eintönig wie unſere Ebenen. Sie laufen um Felsgruppen, um übereinander getürmte Granit— blöcke her. Dicht am Rande dieſer Ebenen, dieſer offenen Fluren ſtößt man auf Schluchten, in die kaum ein Strahl der untergehenden Sonne dringt, auf Gründe, wo einem auf dem feuchten, mit Arum, Helikonia und Lianen dicht be— wachſenen Boden bei jedem Schritte die wilde Ueppigkeit der Natur entgegentritt. Ueberall kommen, dem Boden gleich, die ganz kahlen Granitplatten zu Tage, wie ich ſie bei Carichana beſchrieben, und wie ich ſie in der Alten Welt nirgends ſo ausnehmend breit geſehen habe wie im Orinokothale. Da wo Quellen aus dem Schoße dieſes Geſteines vorbrechen, haben ſich Verrucarien, Pſoren und Flechten an den verwitterten Granit geheftet und Dammerde erzeugt. Kleine Euphorbien, Peperomien und andere Saftpflanzen ſind den kryptogami— ſchen Gewächſen gefolgt, und jetzt bildet immergrünes Strauch— werk, Rhexien, Melaſtomen mit purpurroten Blüten, grüne Eilande inmitten der öden ſteinigen Ebene. Man kommt Anſichten der Natur Band I, Seite 122—138. — 122 — immer wieder darauf zurück: die Bodenbildung, die über die Savannen zerſtreuten Boskette aus kleinen Bäumen mit leder⸗ artigen, glänzenden Blättern, die kleinen Bäche, die ſich ein Bett im Fels graben und fich bald über fruchtbares ebenes Land, bald über kahle Granitbänke ſchlängeln, alles erinnert einen hier an die reizendſten, maleriſchten Partieen unſerer Parkanlagen und Pflanzungen. Man meint mitten in der wilden Landſchaft menſchlicher Kunſt und Spuren von Kultur zu begegnen. Aber nicht nur durch die Bodenbildung zunächſt bei der Miſſion Atures erhält die Gegend eine ſo auffallende Phyſio— gnomie: die hohen Berge, welche ringsum den Horizont be— grenzen, tragen durch ihre Form und die Art ihres Pflanzen— wuchſes das Ihrige dazu bei. Dieſe Berge erheben ſich meiſt nur 225 bis 260 m über die umgebenden Ebenen. Ihre Gipfel ſind abgerundet, wie in den meiſten Granitgebirgen, und mit einem dichten Walde von Laurineen bedeckt. Gruppen von Palmen (el Cucurito), deren gleich Federbüſchen ge— kräuſelte Blätter unter einem Winkel von 70 Grad maje— ſtätiſch emporſteigen, ſtehen mitten unter Bäumen mit wage— rechten Aeſten; ihre nackten Stämme ſchießen gleich 30 bis 40 m hohen Säulen in die Luft hinauf und heben ſich vom blauen Himmel ab, „ein Wald über dem Walde“. Wenn der Mond den Bergen von Uniana zu unterging und die rötliche Scheibe des Planeten ſich hinter das gefiederte Laub der Palmen verſteckte und dann wieder im Luftſtrich zwiſchen beiden Wäl⸗ dern zum Vorſchein kam, ſo glaubte ich mich auf Augenblicke in die Einſiedelei des Alten verſetzt, die Bernardin de Saint Pierre als eine der herrlichſten Gegenden auf der Inſel Bourbon ſchildert, und fühlte ſo recht, wie ſehr die Gewächſe nach Wuchs und Gruppierung in beiden Welten einander gleichen. Mit der Beſchreibung eines kleinen Erdwinkels auf einer Inſel im Indiſchen Ozean hat der unnachahmliche Verfaſſer von Paul und Virginie vom gewaltigen Bilde der tropiſchen Landſchaft eine Skizze entworfen. Er wußte die Natur zu ſchildern, nicht weil er ſie als Forſcher kannte, ſondern weil er für all ihre harmoniſchen Verhältniſſe in Geſtaltung, Farbe und in— neren Kräften ein tiefes Gefühl beſaß. Oeſtlich von Atures, neben jenen abgerundeten Bergen, auf denen zwei Wälder von Laurineen und Palmen überein— ander ſtehen, erheben ſich andere Berge von ganz verſchiedenem Ausſehen. Ihr Kamm iſt mit gezackten Felſen beſetzt, die — 123 — wie Pfeiler über die Bäume und das Gebüſch emporragen. Dieſe Bildung kommt allen Granitplateaus zu, im Harz, im böhmiſchen Erzgebirge, in Galizien, an der Grenze beider Kaſtilien; ſie wiederholt ſich überall, wo in unbedeutender Meereshöhe (780 bis 1170 m) ein Granit neuerer Formation zu Tage kommt. Die in Abſtänden ſich erhebenden Felſen beſtehen entweder aus aufgetürmten Blöcken oder ſind in regelmäßige, wagerechte Bänke geteilt. Auf die ganz nahe am Orinoko ſtellen ſich die Flamingo, die Solbados! und und andere fiſchfangende Vögel, und nehmen ſich dann aus wie Menſchen, die Wache ſtehen. Dies iſt zuweilen ſo täu— ſchend, daß, wie mehrere Augenzeugen erzählen, die Einwohner von Angoſtura eines Tages kurz nach der Gründung der Stadt in die größte Beſtürzung gerieten, als ſich auf ein— mal auf einem Berge gegen Süd Reiher, Solbados und Garzas blicken ließen. Sie glaubten ſich von einem Ueber— fall der Indios monteros (der wilden Indianer) bedroht, und obgleich einige Leute, die mit dieſer Täuſchung bekannt waren, die Sache aufklärten, beruhigte ſich das Volk nicht eher ganz, als bis die Vögel in die Luft ſtiegen und ihre Wanderung der Mündung des Orinoko zu fortſetzten. Die ſchöne Vegetation der Berge iſt, wo nur auf dem Felsboden Dammerde liegt, auch über die Ebenen verbreitet. Meiſtens ſieht man zwiſchen dieſer Schwarzen, mit Pflanzen: faſern gemiſchten Dammerde und dem Granitgeſtein eine Schichte weißen Sandes. Der Miſſionär verſicherte uns, in der Nähe der Waſſerfälle ſei das Grün beſtändig friſch in— folge des vielen Waſſerdampfes, der aus dem auf einer Strecke von 5,8 bis 7,8 km in Strudel und Waſſerfälle zerſchlagenen Strome aufſteigt. Kaum hatte man in Atures ein paarmal donnern hören, und bereits zeigte die Vegetation allerorten die kräftige Fülle und den Farbenglanz, wie man ſie auf den Küſten erſt zu Ende der Regenzeit findet. Die alten Bäume hingen voll prächtiger Orchideen, gelber Banniſterien, Bignonien mit blauen Blüten, Peperomia, Arum, Pothos. Auf einem einzigen Baum— ſtamme waren mannigfaltigere en ee beiſammen, als in unſerem Klima auf einem anſehnlichen Landſtriche. Neben dieſen den heißen Klimaten eigenen Schmarotzergewächſen ſahen wir hier mitten in der heißen Zone und faſt im Niveau des Eine große Reiherart. — 124 — Meeres zu unſerer Ueberraſchung Mooſe, die vollkommen den europäiſchen glichen. Beim großen Katarakt von Atures pflückten wir die ſchöne Grimmia-Art mit Fontinalisblättern, welche die Botaniker ſo ſehr beſchäftigt hat; ſie hängt an den Aeſten der höchſten Bäume. Unter den Phanerogamen herr: ſchen in den bewaldeten Strichen Mimoſen, Fikus und Lau— rineen vor. Dies iſt um ſo charakteriſtiſcher, als nach Browns neuerlicher Beobachtung auf dem gegenüberliegenden Kon— tinent, im tropiſchen Afrika, die Laurineen faſt ganz zu fehlen ſcheinen. Gewächſe, welche Feuchtigkeit lieben, ſchmücken die Ufer am Waſſerfall. Man findet hier in den Niederungen Büſche von Helikonia und anderen Scitamineen mit breiten, glänzenden Blättern, Bamburohre, die drei Palmenarten Murichi, Jagua und Vadgiai, deren jede beſondere Gruppen bildet. Die Murichipalme oder die Mauritia mit ſchuppiger Frucht iſt die berühmte Sagopalme der Guaraun⸗ indianer, ſie iſt ein wirkliches geſelliges Gewächs. Sie hat handförmige Blätter und wächſt nicht unter den Palmen mit gefiederten und gekräuſelten Blättern, dem Jagua, der eine Art Kokospalme zu fein ſcheint, und dem Vadgiai oder Cu— curito, den man neben die ſchöne Gattung Oreodaxa ſtellen kann. Der C ucurito, bei den Fällen von Atures und May— pures die häufigſte Palme, iſt durch ſeinen Habitus aus— gezeichnet. Seine Blätter oder vielmehr Wedel ſtehen auf einem 24 bis 32 m hohen Stamme faſt ſenkrecht, und zwar im jugendlichen Zuſtande wie in der vollen Entwickelung; nur die Spitzen ſind umgebogen. Es ſind wahre Federbüſche vom zarteſten, friſcheſten Grün. Der Cucurito, der Seje, deſſen Frucht der Aprikoſe gleicht, die Oreodoxa regia oder Palma real von der Inſel Cuba und das Ceroxylon der hohen Anden find im Wuchſe die großartigſten Palmen der Neuen Welt. Je näher man der gemäßigten Zone kommt, deſto mehr nehmen die Gewächſe dieſer Familie an Größe und Schönheit ab. Welch ein Unterſchied michi den eben erwähnten Arten und der orientalifchen Dattelpalme, die bei den europäiſchen Landſchaftsmalern leider der Typus der Pal⸗ menfamilie geworden iſt! Es iſt nicht zu verwundern, daß, wer nur das nördliche Afrika, Sizilien oder Murcia bereiſt hat, nicht begreifen kann, daß unter allen großen Baumgeſtalten die Geſtalt der Palme die großartigſte und ſchönſte ſein ſoll. Unzureichende Ana— logieen ſind ſchuld, daß ſich der Europäer keine richtige Vor— — 125 — ſtellung vom Charakter der heißen Zone macht. Jedermann weiß zum Beiſpiel, daß die Kontraſte des Baumlaubes, be— ſonders aber die große Menge von Gewächſen mit gefiederten Blättern ein Hauptſchmuck dieſer Zone ſind. Die Eſche, der Vogelbeerbaum, die Inga, die Akazie der Vereinigten Staaten, die Gleditſchia, die Tamarinde, die Mimoſen, die Desmanthus haben alle gefiederte Blätter mit mehr oder weniger großen, dünnen, lederartigen und glänzenden Blättchen. Vermag nun aber deshalb eine Gruppe von Eſchen, Vogelbeerbäumen oder Sumachbäumen uns einen Begriff vom maleriſchen Effekte zu geben, den das Laubdach der Tamarinden und Mimoſen macht, wenn das Himmelsblau zwiſchen ihren kleinen, dünnen, zart— gefiederten Blättern durchbricht? Dieſe Betrachtungen ſind wichtiger, als ſie auf den erſten Blick ſcheinen. Die Geſtalten der Gewächſe beſtimmen die Phyſiognomie der Natur, und dieſe Phyſiognomie wirkt zurück auf die geiſtige Stimmung der Völker. Jeder Pflanzentypus zerfällt in Arten, die im allgemeinen Charakter miteinander übereinkommen, aber ſich dadurch unterſcheiden, daß dieſelben Organe verſchiedentlich entwickelt ſind. Die Palmen, die Scitamineen, die Malva— ceen, die Bäume mit gefiederten Blättern ſind nicht alle ma— leriſch gleich ſchön, und meiſt, im Pflanzenreiche wie im Tier— reiche, gehören die ſchönſten Arten eines jeden Typus dem tropiſchen Erdſtriche an. Die Protaceen, Kroton, Agaven und die große Sippe der Kaktus, die ausſchließlich nur in der Neuen Welt vor— kommt, verſchwinden allmählich, wenn man auf dem Orinoko über die Mündungen des Apure und des Meta hinaufkommt. Indeſſen iſt viel mehr die Beſchattung und die Feuchtigkeit, als die Entfernung von den Küſten daran ſchuld, wenn die Kaktus nicht weiter nach Süden gehen. Wir haben öſtlich von den Anden, in der Provinz Bracamoros, dem oberen Amazonenſtrome zu, ganze Kaktuswälder, mit Kroton da— zwiſchen, große dürre Landſtriche bedecken ſehen. Die Baum— farne ſcheinen an den Fällen des Orinoko ganz zu fehlen; wir fanden keine Art vor San Fernando de Atabapo, das heißt vor dem Einfluſſe des Guaviare in den Orinoko. Wir haben die Umgegend von Atures betrachtet, und ich habe jetzt noch von den Stromſchnellen ſelbſt zu ſprechen, die an einer Stelle des Thales liegen, wo das tief eingeſchnittene Flußbett faſt unzugängliche Ufer hat. Nur an ſehr wenigen Punkten konnten wir in den Orinoko gelangen, um zwiſchen — 126 — zwei Waſſerfällen, in Buchten, wo das Waſſer langſam kreiſt, zu baden. Auch wer ſich in den Alpen, in den Pyrenäen, ſelbſt in den Kordilleren aufgehalten hat, ſo vielberufen wegen der Zerriſſenheit des Bodens und der Zerſtörung, denen man bei jedem Schritte begegnet, vermöchte nach einer bloßen Be— ſchreibung ſich vom Zuſtande des Strombettes hier nur ſchwer eine Vorſtellung zu machen. Auf einer Strecke von mehr als 9,2 km laufen unzählige Felsdämme quer darüber weg, eben— ſo viele natürliche Wehre, ebenſo viele Schwellen, ähnlich denen im Dnujepr, welche bei den Alten Phragmoi hießen. Der Raum zwiſchen den Felsdämmen im Orinoko iſt mit Inſeln von verſchiedener Größe gefüllt; manche ſind hügelig, in verſchiedene runde Erhöhungen geteilt und 390 bis 585 m lang, andere klein und niedrig wie bloße Klippen. Dieſe Inſeln zerfällen den Fluß in zahlreiche reißende Betten, in denen das Waſſer ſich kochend an den Felſen bricht; alle ſind mit Jagua- und Cucuritopalmen mit federbuſchartigem Laub bewachſen, ein Palmendickicht mitten auf der ſchäumenden Waſſerfläche. Die Indianer, welche die leeren Pirogen durch die Raudales ſchaffen, haben für jede Staffel, für jeden Felſen einen eigenen Namen. Von Süden her kommt man zuerſt zum Salto del Piapoco, zum Sprung des Tucans; zwiſchen den Inſeln Avaguri und Javariveni iſt der Raudal de Ja— variveni; hier verweilten wir auf unſerer Rückkehr vom Rio Negro mehrere Stunden mitten in den Stromſchnellen, um unſer Kanoe zu erwarten. Der Strom ſcheint zu einem großen Teil trocken zu liegen. Granitblöcke ſind aufeinander gehäuft, wie in den Moränen, welche die Gletſcher in der Schweiz vor ſich her ſchieben. Ueberall ſtürzt ſich der Fluß in die Höhlen hinab, und in einer dieſer Höhlen hörten wir das Waſſer zugleich über unſeren Köpfen und unter unſeren Füßen rauſchen. Der Orinoko iſt wie in eine Menge Arme oder Sturzbäche geteilt, deren jeder ſich durch die Felſen Bahn zu brechen ſucht. Man muß nur ſtaunen, wie wenig Waſſer man im Flußbett ſieht, über die Menge Waſſerſtürze, die ſich unter dem Boden verlieren, über den Donner der Waſſer, die ſich ſchäumend an den Felſen brechen. Cuncta fremunt undis; ac multo murmure montis Spumens invictis canescit fluctibus amnis.! ! Lucan. Pharsal. X, 132. Iſt man über den Raudal Javariveni weg (ich nenne hier nur die wichtigſten der Fälle), ſo kommt man zum Raudal Canucari, der durch eine Felsbank zwiſchen den Inſeln Suru— pamana und Uirapuri gebildet wird. Sind die Dämme oder natürlichen Wehre nur 60 bis 90 em hoch, jo wagen es die Indianer, im Kanoe hinabzufahren. Flußaufwärts ſchwimmen ſie voraus, bringen nach vielen vergeblichen Verſuchen ein Seil um eine der Felsſpitzen über dem Damme und ziehen das Fahrzeug am Seile auf die Höhe des Raudals. Wäh— rend dieſer mühſeligen Arbeit füllt ſich das Fahrzeug häufig mit Waſſer; andere Male zerſchellt es an den Felſen, und die Indianer, mit zerſchlagenem, blutendem Körper, reißen ſich mit Not aus dem Strudel und ſchwimmen an die nächſte Inſel. Sind die Felsſtaffeln oder Schwellen ſehr hoch und verſperren ſie den Strom ganz, ſo ſchafft man die leichten Fahrzeuge ans Land, ſchiebt Baumäſte als Walzen darunter und ſchleppt ſie bis an den Punkt, wo der Fluß wieder ſchiff— bar wird.! Bei Hochwaſſer iſt ſolches ſelten nötig. Spricht man von den Waſſerfällen des Orinoko, ſo denkt man von ſelbſt an die Art und Weiſe, wie man in alter Zeit über die Katarakte des Nil herunterfuhr, wovon uns Seneca? eine Beſchreibung hinterlaſſen hat, die poetiſch, aber ſchwerlich richtig iſt. Ich führe nur eine Stelle an, die vollkommen vergegenwärtigt, was man in Atures, Maypures und in einigen Pongos des Amazonenſtromes alle Tage ſieht. „Je zwei miteinander beſteigen kleine Nachen, und einer lenkt das Schiff, der andere ſchöpft es aus. Sodann, nachdem ſie unter dem reißenden Toben des Nil und den ſich begegnenden Wellen tüchtig herumgeſchaukelt worden ſind, halten ſie ſich endlich an die ſeichteſten Kanäle, durch die ſie den Engpäſſen der Felſen entgehen, und mit der ganzen Strömung niederſtürzend, lenken ſie den ſchießenden Nachen.“ In den hydrographiſchen Beſchreibungen der Länder werden meiſtens unter den unbeſtimmten Benennungen: „Saltos, Chorros, Pongos, Cachoeiras, Raudales, Cataractes, Cas- cades, Chütes, Rapides, Waſſerfälle, Waſſerſtürze, Strom— ſchnellen,“ ſtürmiſche Bewegungen der Waſſer zuſammen— Arastrando la Picagua. Von dieſem Worte arastrar, auf dem Boden ziehen, kommt der ſpaniſche Ausdruck: Arastradero, Trageplatz, Portage. 2 Nat. Quaest. L. IV, c. 2. — 128 — geworfen, die durch ſehr verſchiedene Bodenbildungen hervor: gebracht werden. Zuweilen ſtürzt ſich ein ganzer Fluß aus bedeutender Höhe in einem Falle herunter, wodurch die Schiff— fahrt völlig unterbrochen wird. Dahin gehört der prächtige Fall des Rio Tequendama, den ich in meinen Vues des Cor— dilleres abgebildet habe; dahin die Fälle des Niagara und der Rheinfall, die nicht ſowohl durch ihre Höhe als durch die Waſſermaſſe bedeutend ſind. Andere Male liegen niedrige Steindämme in weiten Abſtänden hintereinander und bilden getrennte Waſſerfälle; dahin gehören die Cachoeiras des Rio Negro und des Rio de la Madeira, die Saltos des Rio Cauca und die meiſten Pongos im oberen Amazonen— ſtrome zwiſchen dem Einfluſſe des Chinchipe und dem Dorfe San Borja. Der höchſte und gefährlichſte dieſer Pongos, den man auf Flößen herunterfährt, der bei Mayaſi, tft übrigens nur Im hoch. Noch andere Male liegen kleine Stein⸗ dämme ſo nahe aneinander, daß ſie auf mehrere Kilometer Erſtreckung eine ununterbrochene Reihe von Fällen und Stru: deln, Chorros und Remolinos, bilden, und dies nennt man eigentlich Raudales, Rapides, Stromſchnellen. Dahin gehören die Nellala, die Stromſchnellen des Zaire- oder Kongo⸗ fluſſes, mit denen uns Kapitän Tuckey kürzlich bekannt gemacht hat; die Stromſchnellen des Orangefluſſes in Afrika oberhalb Pella, und die 18 km langen Fälle des Miſſouri da, wo der Fluß aus den Rocky Mountains hervorbricht. Hierher gehören nun auch die Fälle von Atures und Maypures, die einzigen, die, im tropiſchen Erdſtriche der Neuen Welt gelegen, mit einer herrlichen Palmenvegetation geſchmückt ſind. Zu allen Jahreszeiten gewähren ſie den Anblick eigentlicher 1 und hemmen die Schiffahrt auf dem Orinoko in ſehr be— deutendem Grade, während die Stromſchnellen des Ohio und in Oberägypten zur Zeit der Hochgewäſſer kaum ſichtbar ſind. Ein vereinzelter Waſſerfall, wie der Niagara oder der Fall bei Terni, gibt ein herrliches Bild, aber nur eines; es wird nur anders, wenn der Zuſchauer ſeinen Standpunkt verändert; Stromſchnellen dagegen, namentlich wenn ſie zu beiden Seiten mit großen Bäumen beſetzt ſind, machen eine Landſchaft meilen— weit ſchön. Zuweilen rührt die ſtürmiſche Bewegung des Waſſers nur daher, daß die Strombetten ſehr eingeengt ſind. Dahin gehört die Angoſtura de Carare im Magdalenenfluß, ein Engpaß, der dem Verkehr zwiſchen Santa Fé de Bogota und der Küſte von Cartagena Eintrag thut; dahin gehört — 129 — der Pongo von Manſeriche im oberen Amazonenſtrome, den La Condamine für weit gefährlicher gehalten hat, als er in Wahrheit iſt, und den der Pfarrer von San Borja hinauf muß, ſo oft er im Dorfe San Jago eine Amtsverrichtung hat. Der Orinoko, der Rio Negro und faſt alle Nebenflüſſe des Amazonenſtromes oder Maranon haben Fälle oder Strom: ſchnellen entweder in der Nähe ihres Urſprunges durch Berge laufen, oder weil ſie auf der mittleren Strecke ihres Laufes auf andere Berge ſtoßen. Wenn, wie oben bemerkt, Waſſer des Amazonenſtromes vom Pongo von Manſeriche bis zu ſeiner Mündung, mehr als 3375 km weit, nirgends heftig aufgeregt ſind, ſo verdankt er dieſen ungemein großen Vorteil dem Um— ſtande, daß er immer die gleiche Richtung einhält. Er fließt von Oſt nach Weſt über eine weite Ebene, die gleichſam ein Längenthal zwiſchen der Bergkette der Parime und dem großen braſilianiſchen Gebirgsſtocke bildet. Zu meiner Ueberraſchung erſah ich aus unmittelbarer Meſſung, daß die Stromſchnellen des Orinoko, deren Donner man über 4,5 km weit hört, und die durch die mannigfaltige Verteilung von Waſſer, Palmbäumen und Felſen ſo aus— nehmend maleriſch ſind, in ihrer ganzen Länge ſchwerlich mehr als 9, Um ſenkrechte Höhe haben. Bei näherer Ueberlegung zeigt es ſich, daß dies für Stromſchnellen viel iſt, während es für einen einzelnen Waſſerfall ſehr wenig wäre. Bei den Yellala im Kongofluß, in der Einſchnürung ſeines Bettes zwiſchen Banza Noki und Banza Inga, iſt der Höhenunter— ſchied zwiſchen den oberen und den unteren Staffeln weit bedeutender; Barrow bemerkt aber, daß ſich hier unter den vielen Stromſchnellen ein Fall findet, der allein 9,75 m hoch iſt. Andererſeits haben die vielberufenen Pongos im Ama— zonenſtrome, wo die Bergfahrt ſo gefährlich iſt, die Fälle von Rentama, Escurrebragas und Mayaſi, auch nur ein paar Fuß ſenkrechte Höhe. Wer ſich mit Waſſerbauten abgibt, weiß, welche Wirkung in einem großen Fluſſe eine Schwellung von 48 bis 53 em hat. Das Toben des Waſſers und die Wirbel werden überall keineswegs allein von der Höhe der einzelnen Fälle bedingt, ſondern vielmehr davon, wie nahe die Fälle hintereinander liegen, ferner vom Neigungswinkel der Felſen— dämme, von den ſogenannten Lames de reflexion, die in: einander ſtoßen und übereinander weggehen, von der Geſtalt der Inſeln und Klippen, von der Richtung der Gegenſtrö— mungen, von den Krümmungen und engen Stellen in den A. v. Humboldt, Reiſe. III. 9 Kanälen, durch die das Waſſer von einer Staffel zur anderen ſich Bahn bricht. Von zwei gleich breiten Flüſſen kann der eine Fälle haben, die nicht ſo hoch ſind als die des anderen, und doch weit gefährlicher und tobender. Meine obige Angabe über die ſenkrechte Höhe der Rau— dales des Orinoko lautet nicht ganz beſtimmt und ich habe damit auch nur eine Grenzzahl gegeben. Ich brachte den Barometer auf die kleine Ebene bei der Miſſton Atures und den Katarakten, ich konnte aber keine konſtanten Unterſchiede beobachten. Bekanntlich wird die barometriſche Meſſung ſehr ſchwierig, wenn es ſich von ganz unbedeutenden Höhenunter⸗ ſchieden handelt. Durch kleine Unregelmäßigkeiten in der ſtünd⸗ lichen Schwankung (Unregelmäßigkeiten, die ſich mehr auf das Maß der Schwankung als auf den Zeitpunkt beziehen) wird das Ergebnis zweifelhaft, wenn man nicht an jedem der beiden Standpunkte einen Barometer hat, und wenn man Unterſchiede im Luftdruck von mm auffaſſen ſoll. Wahrſcheinlich wird die Waſſermaſſe des Stromes durch die Katarakte geringer, nicht allein weil durch das Zerſchlagen des Waſſers in Tropfen die Verdunſtung geſteigert wird, ſondern auch, und hauptſächlich, weil viel Waſſer in unter: irdiſche Höhlen verſinkt. Dieſer Verluſt iſt übrigens nicht ſehr auffallend, wenn man die Waſſermaſſe da, wo ſie in die Rau⸗ dales eintritt, mit der vergleicht, welche beim Einfluſſe des Rio Anaveni davon wegzieht. Durch eine ſolche Vergleichung hat man gefunden, daß unter den Mellala oder Raudales des Kongofluſſes unterirdiſche Höhlungen liegen müſſen. Im Pongo von Manſeriche, der viel mehr eine Stromenge als ein Waſſerfall heißen ſollte, verſchwindet auf eine noch nicht ge— hörig ermittelte Weiſe das Waſſer des oberen Amazonenſtromes zum Teil mit all ſeinem Treibholz. Sitzt man am Ufer des Orinoko und betrachtet die Fels— dämme, an denen ſich der Strom donnernd bricht, ſo fragt man ſich, ob die Fälle im Laufe der Jahrhunderte nach Ge— ſtaltung und Höhe ſich verändern werden. Ich bin nicht ſehr geneigt, dem Stoße des Waſſers gegen Granitblöcke und dem Zerfreſſen kieſelhaltigen Geſteines ſolche Wirkungen zuzu— ſchreiben. Die nach unten ſich verengenden Löcher, die Trichter, wie man ſie in den Raudales und bei ſo vielen Waſſerfällen in Europa antrifft, entſtehen nur durch die Reibung des Sandes und das Rollen der Quarzgeſchiebe. Wir haben ſolche Ge— ſchiebe geſehen, welche die Strömung am Boden der Trichter — 131 — beſtändig herumwirbelt und dieſe dadurch nach allen Durch— meſſern erweitert. Die Pongos des Amazonenſtromes ſind leicht zerſtörlich, da die Felsdämme nicht aus Granit beſtehen, Banden 0 aus Konglomerat, aus rotem, grobkörnigem Sand— ſtein. Der Pongo von Rentama ſtürzte vor 80 Jahren teil— weiſe ein, und da ſich das Waſſer hinter einem neugebildeten Damme ſtaute, ſo lag das Flußbett ein paar Stunden trocken zur großen Verwunderung der Einwohner des Dorfes Puyaya, 3lkm unter dem eingeſtürzten Pongo. Die Indianer in Atures verſichern (und dieſe Ausſage widerſpricht der Anſicht des Paters Caulin), die Felſen im Raudal haben immer das— ſelbe Ausſehen, aber die einzelnen Strömungen, in die der große Strom zerſchlagen wird, ändern beim Durchgang durch die aufgehäuften Granitblöcke ihre Richtung und werfen bald mehr, bald weniger Waſſer gegen das eine oder das andere Ufer. Die Urſachen dieſes Wechſels können den Katarakten ſehr ferne liegen; denn in den Flüſſen, die auf der Erd— oberfläche Leben verbreiten, wie die Adern in den organt⸗ ſchen Körpern, pflanzen ſich alle Bewegungen weithin fort. Schwingungen, die anfangs ganz lokal ſcheinen, wirken auf die ganze flüſſige Maſſe im Stamme und den vielen Ver— zweigungen desſelben. Ich weiß wohl, daß, vergleicht man den heutigen Zu— ſtand der Stromſchnellen bei Syene, deren einzelne Staffeln kaum 15 em hoch ſind, mit den großartigen Beſchreibungen der Alten, man leicht geneigt iſt, im Nilbett die Wirkungen der Auswaſchungen, überhaupt die gewaltigen Einflüſſe des ſtrömenden Waſſers zu erblicken, aus denen man in der Geo logie lange die Bildung der Thaler und die Zerriſſenheit des Bodens in den Kordilleren befriedigend erklären zu können meinte. Dieſe Anſicht wird durch den Augenſchein keineswegs unterſtützt. Wir ſtellen nicht in Abrede, daß die Ströme, überhaupt fließende Waſſer, wo ſie in zerreibliches Geſtein, in ſekundäre Gebirgsformationen einſchneiden, bedeutende Wirkungen ausüben. Aber die Granitfelſen bei Elephantine haben wahrſcheinlich ſeit Tauſenden von Jahren an abſoluter Höhe ſo wenig abgenommen als der Gipfel des Montblanc und des Canigou. Hat man die großen Naturſzenerieen in 1 Der Chellal zwiſchen Philä und Syene hat zehn Staffeln, die zuſammen einen 1,6 bis 2,3 m hohen Fall bilden, je nach dem tiefen oder hohen Waſſerſtand des Nil. Der Fall iſt 970 m lang. verſchiedenen Klimaten ſelbſt geſehen, jo ſieht man ſich zu der Anſchauung gedrängt, daß jene tiefen Spalten, jene hoch auf— gerichteten Schichten, jene zerſtreuten Blöcke, all die Spuren einer allgemeinen Umwälzung Wirkungen außergewöhnlicher Urſachen ſind, die mit denen, welche im gegenwärtigen Zu— ſtande der Ruhe und des Friedens an der Erdoberfläche thätig ſind, nichts gemein haben. Was das Waſſer durch Auswaſchung von Granit wegführt, was die feuchte Luft am harten, nicht verwitterten Geſtein zerſtört, entzieht ſich unſeren Sinnen faſt ganz, und ich kann nicht glauben, daß, wie manche Geologen annehmen, die Gipfel der Alpen und der Pyrenäen niedriger werden, weil die Geſchiebe ſich in den Gründen am Fuße der Gebirge aufhäufen. Im Nil wie im Orinoko können die Stromſchnellen einen geringeren Fall bekommen, ohne daß die Felsdämme merkbar anders werden. Die relative Höhe der Fälle kann durch die Anſchwemmungen, die ſich unterhalb der Stromſchnellen bilden, abnehmen. Wenn auch dieſe Betrachtungen einiges Licht über die anziehende Erſcheinung der Katarakte verbreiten, ſo ſind da— mit die übertriebenen Beſchreibungen der Stromſchnellen bei Syene, welche von den Alten! auf uns gekommen, allerdings nicht begreiflich zu machen. Sollten ſie aber nicht vielleicht auf dieſen unteren Waſſerfall übertragen haben, was ſie vom Hörenſagen von den oberen Fällen des Fluſſes in Nubien und Dongola wußten, die zahlreicher und gefährlicher ſind?? Syene lag an der Grenze des römischen Reiches,“ faſt an der Grenze der bekannten Welt, und im Raume, wie in den Schöpfungen des menſchlichen Geiſtes fangen die phantaſti— ſchen Vorſtellungen an, wo die klaren Begriffe aufhören. Auszunehmen iſt Strabo, deſſen Beſchreibung ebenſo einfach als genau erſcheint. Nach ihm hätte ſeit dem erſten Jahrhundert vor unſerer Zeitrechnung die Schnelligkeit des Waſſerſturzes abge— nommen und ſeine Richtung ſich verändert. Damals ging man den Chellal auf beiden Seiten hinauf, gegenwärtig iſt nur auf einer Seite eine Waſſerſtraße; der Katarakt iſt alſo eher ſchwerer befahrbar geworden. ? Hatten wohl die Alten eine dunkle Kunde von den großen Katarakten des öſtlichen oder blauen Nil zwiſchen Fazoql und Alata, die über 65 in hoch ſind. 3 Glaustra imperii romani, jagt Tacitus. Im Namen der Inſel Philä findet man das koptiſche Wort phe-lakh, Ende (Ende Aegyptens) wieder. Die Einwohner von Atures und Maypures werden, was auch die Miſſionäre in ihren Schriften ſagen mögen, vom Toſen der großen Katarakte ſo wenig taub als die Katadupen am Nil. Hört man das Getöſe auf der Ebene bei der Miſſion, ſtarke 4 km weit, ſo glaubt man in der Nähe einer felſigen Meeresküſte mit ſtarker Brandung zu ſein. Es iſt bei Nacht dreimal ſtärker als bei Tage und gibt dem einſamen Orte un— ausſprechlichen Reiz. Woher mag wohl dieſe Verſtärkung des Schalles in einer Einöde rühren, wo ſonſt nichts das Schweigen der Natur zu unterbrechen ſcheint? Die Geſchwindigkeit' der Fortpflanzung des Schalles nimmt mit der Abnahme der Temperatur nicht zu, ſondern vielmehr ab. Der Schall wird ſchwächer, wenn ein der Richtung desſelben entgegengeſetzter Wind weht, ferner durch Verdünnung der Luft; der Schall iſt ſchwächer in hohen Luftregionen als in tiefen, wo die Zahl der erſchütterten Luftteilchen in jedem Strahle größer iſt. Die Stärke desſelben iſt in trockener und in mit Waſſerdunſt ver— mengter Luft gleich groß, aber in kohlenſaurem Gas iſt ſie geringer als in Gemengen von Stickſtoff und Sauerſtoff. Nach dieſen Erfahrungsſätzen (und es ſind die einzigen einiger— maßen zuverläſſigen) hält es ſchwer, eine Erſcheinung zu er— klären, die man bei jedem Waſſerfalle in Europa beobachtet, und die lange vor unſerer Ankunft im Dorfe Atures Miſ— ſionären und Indianern aufgefallen war. Bei Nacht iſt die Temperatur der Luft um 3“ niedriger als bei Tage; zu— gleich nimmt die merkbare Feuchtigkeit bei Nacht zu und der Nebel, der auf den Katarakten liegt, wird dichter. Wir haben aber eben geſehen, daß der hygroſkopiſche Zuſtand der Luft auf die Fortpflanzung des Schalles keinen Einfluß hat, und daß die Abkühlung der Luft die Geſchwindigkeit vermindert. Man könnte meinen, auch an Orten, wo keine Menſchen leben, bringe am Tage das Sumſen der Inſekten, der Geſang der Vögel, das Rauſchen des Laubes beim leiſeſten Luftzuge ein verworrenes Getöne hervor, das wir um ſo weniger wahr— nehmen, da es ſich immer gleich bleibt und es fortwährend zu unſerem Ohre dringt. Dieſes Getöſe, ſo unmerklich es ſein mag, kann nun allerdings einen ſtärkeren Schall ſchwächen, und dieſe Schwächung kann wegfallen, wenn in der Stille der Nacht der Geſang der Vögel, das Sumſen der Inſekten und die Wirkung des Windes auf das Laub aufhören. Wäre aber dieſe Folgerung auch richtig, ſo findet ſie keine Anwen— dung auf die Wälder am Orinoko, wo die Luft fortwährend — 134 — von zahlloſen Moskitoſchwärmen erfüllt iſt, wo das Geſumſe der Inſekten bei Nacht weit ſtärker iſt als bei Tage, wo der Wind, wenn er je weht, ſich erſt nach Sonnenuntergang aufmacht. Ich bin vielmehr der Anſicht, daß, ſolange die Sonne am Himmel ſteht, der Schall ſich langſamer fortpflanzt und geſchwächt wird, weil die Luftſtröme von verſchiedener Dich— tigkeit, die teilweiſen Schwingungen der Atmoſphäre infolge . der ungleichen Erwärmung der verſchiedenen Bodenſtücke, Hinderniſſe bilden. In ruhiger Luft, ſei ſie nun trocken oder mit gleichförmig verteilten Dunſtbläschen erfüllt, pflanzt ſich die Schallwelle ungehindert fort; wird aber die Luft nach allen Richtungen von kleinen Strömen wärmerer Luft durch— zogen, ſo teilt ſich die Welle da, wo die Dichtigkeit des Mittels raſch wechſelt, in zwei Wellen; es bilden ſich lokale Echo, die den Schall ſchwächen, weil eine der Wellen zurückläuft; es tritt die Teilung der Wellen ein, deren Theorie in jüngſter Zeit von Poiſſon ſo ſcharfſinnig entwickelt worden iſt. Nach unſerer Anſchauung wird daher die Fortpflanzung der Schall- wellen nicht dadurch gehemmt, daß durch die Ortsveränderung der im Luftſtrome von unten nach oben aufſteigenden Luft— teilchen, durch die kleinen ſchiefen Strömungen ein Stoß aus— geübt würde. Ein Stoß auf die Oberfläche einer Flüſſigkeit bringt Kreiſe um den Mittelpunkt der Erſchütterung hervor, ſelbſt wenn die Flüſſigkeit in Bewegung iſt. Mehrere Arten von Wellen können ſich im Waſſer wie in der Luft kreuzen, ohne ſich in ihrer Fortpflanzung zu ſtören; kleine Bewegungen ſchieben ſich übereinander, und die wahre Urſache der geringeren Stärke des Schalles bei Tage ſcheint die zu ſein, daß das elaſtiſche Mittel dann nicht homogen iſt. Bei Tage ändert ſich die Dichtigkeit raſch überall, wo kleine Luftzüge von hoher Temperatur über ungleich erwärmten Bodenſtücken auf— ſteigen. Die Schallwellen teilen ſich, wie die Lichtſtrahlen ſich brechen, und überall, wo Luftſchichten von verſchiedener Dichtigkeit ſich berühren, tritt Spiegelung ein. Der Schall pflanzt ſich langſamer fort, wenn man in einer am einen Ende geſchloſſenen Röhre eine Schicht Waſſerſtoffgas über eine Schicht atmoſphäriſcher Luft aufſteigen läßt, und Biot erkärt den Umſtand, daß ein Glas mit Champagner nicht hell klingt, ſolange er perlt und die Luftblaſen im Weine aufſteigen, ſehr gut eben daraus, daß die Bläschen von kohlenſaurem Gas die Flüſſigkeit ungleichförmig machen. — 135 — Für dieſe Anſichten könnte ich mich faſt auf die Autorität eines Philoſophen berufen, den die Phyſiker noch immer ſehr geringſchätzig behandeln, während die ausgezeichnetſten Zoologen ſeinem Scharfſinn als Beobachter längſt volle Gerechtigkeit widerfahren laſſen. „Warum,“ ſagt Ariſtoteles in ſeiner merk— würdigen Schrift von den Problemen, „hört man bei Nacht alles beſſer als bei Tage? Weil alles bei Nacht regungs— loſer iſt, da die Wärme fehlt. Dadurch wird überhaupt alles ruhiger, denn die Sonne tft es, die alles bewegt.“! Sicher Ich bemerke bei dieſer Gelegenheit, daß, ſo mangelhaft noch die Phyſik der Alten war, die Werke des Philoſophen von Stagira ungleich mehr ſcharfſinnige Beobachtungen enthalten, als die der anderen Philoſophen. Vergeblich ſucht man bei Ariſtoxenes (Liber de musica), bei Theophylactus Simocatta (De quaestionibus physicis), im fünften Buche von Senecas Quaestiones naturales eine Erklärung der Verſtärkung des Schalles bei Nacht. Ein in den Schriften der Alten ſehr bewanderter Mann, Herr Laurencit, hat mir eine Stelle des Plutarch mitgeteilt (Tiſchgeſpräche, Buch VIII, Frage 3), welche die angeführte des Ariſtoteles unterſtützt. — Boethus, der erſte der Diſputierenden, behauptet, die Kälte bei Nacht ziehe die Luft zuſammen und verdichte ſie, und man höre den Schall bei Tage nicht ſo gut, weil dann weniger Zwiſchenräume zwiſchen den Atomen ſeien. Der zweite der Diſputierenden, Am: monius, verwirft die leeren Räume, wie Boethus ſie vorausſetzt, und nimmt mit Anaxagoras an, die Luft werde von der Sonne in eine zitternde und ſchwankende Bewegung verſetzt; man höre bei Tage ſchlecht wegen der Staubteile, die im Sonnenſchein herum— treiben und die ein gewiſſes Ziſchen und Geräuſch verurſachen; des Nachts aber höre dieſe Bewegung auf und folglich auch das damit verbundene Geräuſch. Boethus verſichert, daß er keineswegs Anaxo— goras meiſtern wolle, meint aber, das Ziſchen der kleinſten Teile müſſe man wohl aufgeben, die zitternde Bewegung und das Herum— treiben derſelben im Sonnenſchein ſei ſchon hinreichend. Die Luft macht den Körper und die Subſtanz der Stimme aus; iſt ſie alſo ruhig und beſtändig, ſo läßt ſie auch die Teile und Schwingungen des Schalles gerade, ungeteilt und ohne Hindernis fortgehen und befördert deren Verbreitung. Windſtille iſt dem Schalle günſtig, Erſchütterung der Luft aber zuwider. Die Bewegung in der Luft verhindert, daß von einer Stimme artikulierte und ausgebildete Töne zu den Ohren gelangen, ob ſie gleich immer von einer ſtarken und vielfachen ihnen etwas zuzuführen pflegt. Die Sonne, dieſer große und mächtige Beherrſcher des Himmels, bringt auch die klein— ſten Teile der Luft in Bewegung, und ſobald er ſich zeigt, erregt und belebt er alle Weſen. — (Auszug aus Kaltwaſſers Ueberſetzung; — 136 — ſchwebte Ariſtoteles die wahre Urſache der Erſcheinung als unbeſtimmte Ahnung vor; er ſchreibt aber die Bewegung der Luft dem Stoße der kleinſten Teilchen derſelben zu, was viel- mehr dem raſchen Wechſel der Dichtigkeit in ſich berührenden Aff lichten zuzuſchreiben ſein möchte. Am 16. April gegen Abend erhielten wir Nachricht, unſere Piroge ſei in weniger als 6 Stunden über die Strom— ſchnellen geſchafft worden und 11 wohlbehalten in einer Bucht, Puerto de arriba, derobere Hafen, genannt. „Eure Piroge wird nicht in Stücke gehen, weil ihr kein Kauf: mannsgut führt und der Mönch aus den Raudales mit euch reiſt,“ ſo hatte im Lager von Pararuma ein kleiner brauner Mann, in dem wir an der Mundart den Katalonier erkannten, boshaft gegen uns geäußert. Es war ein Schildkrötenöl⸗ händler, der mit den Indianern in den Miſſionen in Verkehr und eben kein Freund der Miſſionäre war. „Die Fahrzeuge, die leicht zerbrechen,“ fuhr er fort, „ſind die der Katalo- nier, die mit einem Lizenzſchein vom Statthalter von Guyana, nicht aber mit der Genehmigung des Präſidenten der Miſ— ſionen jenſeits Atures und Maypures Handel treiben wollen. Man läßt unſere Pirogen in den Raudales, die der Schlüſſel ſind zu den Miſſionen am oberen Orinoko, am Caſſiquiare und Rio Negro, zu ſchanden gehen; man ſchafft uns dann durch die Indianer in Atures nach Carichana zurück und zwingt uns unſere Handelsſpekulationen aufzugeben.“ Als unpar⸗ teiiſcher Geſchichtſchreiber der von mir bereiſten Länder kann ich einer ſolchen, wohl etwas leichtfertig ausgeſprochenen Mei— nung nicht beitreten. Der gegenwärtige Miſſionär bei den Raudales iſt nicht der Mann, die Plackereien, über welche die kataloniſchen Krämer klagen, ſich zu ſchulden kommen zu laſſen; man fragt ſich aber, weshalb das Regiment in den Miſſionen ſogar in den ſpaniſchen Kolonieen ſo gründlich ver— haßt iſt? Verleumdete man nur reiche Leute, ſo wären die Miſſionäre am oberen Orinoko vor dergleichen boshaften An⸗ griffen ſicher. Sie beſitzen kein Pferd, keine Ziege, kaum eine Kuh, während ihre Ordensbrüder, die Kapuziner in den Miſ— ſionen am Carony, Herden von 40000 Stücken beſitzen. Der Groll der arbeitenden Klaſſen unter den Koloniſten gilt alſo Humboldt hatte die alte franzöſiſche Ueberſetzung des Amyot aus: gezogen. Anm. des Herausgebers.) nicht dem Wohlſtand der Obſervanten, ſondern ihrem Prohi— bitivſyſtem, ihren beharrlichen Bemühungen, ihr Gebiet gegen die Weißen abzuſperren, den Hinderniſſen, die ſie dem Aus— tauſch der Produkte in den Weg legen. Allerorten empört ſich das Volk gegen Monopole, nicht allein wenn ſie auf den Handel und die materiellen Lebensbedürfniſſe Einfluß äußern, ſondern auch wenn ſich ein Stand oder eine Schicht der Ge— ſellſchaft das Recht anmaßt, allein die Jugend zu erziehen oder die Wilden in der Zucht zu halten, um nicht zu ſagen zu civiliſieren. Man zeigte uns in der kleinen Kirche von Atures einige Ueberbleibſel vom einſtigen Wohlſtand der Jeſuiten. Eine ſilberne Lampe von anſehnlichem Gewicht lag, halb im Sande begraben, am Boden. Ein Gegenſtand derart würde aller— dings nirgends die Habſucht des Wilden reizen; ich muß aber hier zur Ehre der Eingeborenen am Orinoko erwähnen, daß ſie keine Diebe ſind, wie die lange nicht ſo rohen Bewohner der Südſeeinſeln. Jene haben große Achtung vor dem Eigen— tum; ſie ſuchen nicht einmal Eßwaren, Fiſchangeln und Aexte zu entwenden. In Maypures und Atures weiß man nichts von Schlöſſern an den Thüren; ſie werden eingeführt werden, ſobald Weiße und Miſchlinge ſich in den Miſſionen niederlaffen. Die Indianer in Atures ſind gutmütig, leidenſchaftslos, dank ihrer Trägheit an die größten Entbehrungen gewöhnt. Die Jeſuiten früher trieben ſie zur Arbeit an, und da fehlte es ihnen nie an Lebensunterhalt. Die Patres bauten Mais, Bohnen und andere europäiſche Gemüſe; ſie pflanzten um das Dorf her ſogar ſüße Orangen und Tamarinden, ſie beſaßen in den Grasfluren von Atures und Carichana 20000 bis 30000 Pferde und Stücke Rindvieh. Sie hielten für die Herden eine Menge Sklaven und Knechte (peones). Gegen⸗ wärtig wird nichts gebaut als etwas Maniok und Bananen. Und doch iſt der Boden ſo fruchtbar, daß ich in Atures an einem einzigen Piſangbüſchel 108 Früchte zählte, deren 4 bis 5 faſt zur täglichen Nahrung eines Menſchen hinreichen. Der Maisbau wird gänzlich vernachläſſigt, Roſſe und Kühe ſind verſchwunden. Ein Uferſtrich am Raudal heißt noch Paso del ganado (Viehfurt), während die Nachkommen der In— dianer, mit denen die Jeſuiten die Miſſion gegründet, vom Hornvieh wie von einer ausgeſtorbenen Tiergattung ſprechen. Auf unſerer Fahrt den Orinoko hinauf San Carlos am Rio Negro zu ſahen wir in Carichana die letzte Kuh. Die Patres — 138 — Obſervanten, welche gegenwärtig dieſe weiten Landſtriche unter ſich haben, kamen nicht unmittelbar auf die Jeſuiten. Wäh⸗ rend eines achtzehnjährigen Interregnums wurden die Miſ— fionen nur von Zeit zu Zeit beſucht, und zwar von Kapu— zinern. Unter dem Namen königlicher Kommiſſäre verwalteten weltliche Regierungsbeamte die Hatos oder Höfe der Jeſuiten, aber ſchändlich liederlich. Man ſtach das Vieh, um die Häute zu verkaufen, viele jüngere Tiere wurden von den Tigern gefreſſen, noch viel mehr gingen an den Biſſen der Fleder— mäuſe zu Grunde, die an den Katarakten kleiner ſind, aber kecker als in den Llanos. Zur Zeit der Grenzexpedition wurden Pferde von Encaramada, Carichana und Atures bis San Joſe de Maravitanos am Rio Negro ausgeführt, weil die Portu— gieſen dort Pferde, und noch dazu geringe, nur aus weiter Ferne auf dem Amazonenſtrom und dem Gran Para beziehen konnten. Seit dem Jahre 1795 iſt das Vieh der Jeſuiten gänzlich verſchwunden; als einziges Wahrzeichen des früheren Anbaues dieſer Länder und der wirtſchaftlichen Thätigkeit der erſten Miſſionäre ſieht man in den Savannen hie und da mitten unter wilden Bäumen einen Orangen- oder Tama— rindenſtamm. Die Tiger oder Jaguare, die den Herden weniger ge— fährlich ſind als die Fledermäuſe, kommen ſogar ins Dorf herein und freſſen den armen Indianern die Schweine. Der Miſſionär erzählte uns ein auffallendes Beiſpiel von der Zuthulichkeit dieſer ſonſt ſo wilden Tiere. Einige Monate vor unſerer Ankunft hatte ein Jaguar, den man für ein junges Tier hielt, obgleich er groß war, ein Kind verwundet, mit dem er ſpielte; der Ausdruck mag ſonderbar ſcheinen, aber ich brauche ihn ohne Bedenken, da ich an Ort und Stelle Thatſachen kennen lernen konnte, die für die Sittengeſchichte der Tiere nicht ohne Bedeutung ſind. Zwei indianiſche Kinder von 8 bis 9 Jahren, ein Knabe und ein Mädchen, ſaßen bei Atures mitten in einer Savanne, über die wir oft gegangen, im Gras. Es war 2 Uhr nachmittags, da kommt ein Ja: guar aus dem Walde und auf die Kinder zu, die er ſpringend umkreiſt; bald verſteckt er ſich im hohen Graſe, bald macht er mit gekrümmtem Rücken und geſenktem Kopfe einen Sprung, gerade wie unſere Katzen. Der kleine Junge ahnt nicht, in welcher Gefahr er ſchwebt, und wird ſie erſt inne, als der Jaguar ihn mit der Tatze auf den Kopf ſchlägt. Erſt ſchlägt er ſachte, dann immer ſtärker; die Krallen verwunden das — 139 — Kind und es blutet ſtark. Da nimmt das kleine Mädchen einen Baumzweig, ſchlägt das Tier, und dieſes läuft vor ihr davon. Auf das Schreien der Kinder kommen die Indianer herbeigelaufen und ſehen den Jaguar, der ſichtbar an keine Gegenwehr dachte, in Sprüngen ſich davonmachen. Man führte uns den Jungen vor, der lebendig und ge— ſcheit ausſah. Die Kralle des Jaguars hatte ihm unten an der Stirn die Haut abgeſtreift, und eine zweite Narbe hatte er oben auf dem Kopfe. Woher nun auf einmal dieſe muntere Laune bei einem Tiere, das in unſeren Menagerien nicht ſchwer zu zähmen, aber im Stand der Freiheit immer wild und grau— ſam iſt? Nimmt man auch an, der Jaguar habe, ſicher ſeiner Beute, mit dem kleinen Indianer geſpielt, wie unſere Katzen mit Vögeln mit beſchnittenen Flügeln ſpielen, wie ſoll man es ſich erklären, daß ein großer Jaguar ſo duldſam iſt, daß er vor einem kleinen Mädchen davonläuft? Trieb den Jaguar der Hunger nicht her, warum kam er auf die Kinder zu? In der Zuneigung und im Haß der Tiere iſt manches Geheimnis— volle. Wir haben geſehen, wie Löwen drei, vier Hunde, die man in ihren Käfig ſetzte, umbrachten und einen fünften, der weniger furchtſam, den König der Tiere an der Mähne packte, vom erſten Augenblick an liebkoſten. Das ſind eben Aeuße— rungen jenes Inſtinktes, der dem Menſchen ein Rätſel iſt. Es iſt als ob der Schwache deſto mehr für ſich einnähme, je zutraulicher er iſt. Eben war von zahmen Schweinen die Rede, die von den Jaguaren angefallen werden. Außer den gemeinen Schweinen von europäiſcher Raſſe gibt es in dieſen Ländern verſchiedene Arten von Pecari mit Drüſen an den Leiſten, von denen nur zwei den europäiſchen Zoologen bekannt ſind. Die In— dianer nennen den kleinen Pecari (Dicotiles torquatus) auf maypuriſch Chacharo; Apida aber heißt bei ihnen ein Schwein, das keinen Beutel haben ſoll und größer, ſchwarz— braun und am Unterkiefer und den Bauch entlang weiß iſt. Der Chacharo, den man im Hauſe aufzieht, wird ſo zahm wie unſere Schafe und Rehe. Sein ſanftes Weſen erinnert an die anatomiſch nachgewieſene intereſſante Aehnlichkeit zwiſchen dem Bau der Pecari und dem der Wiederkäuer. Der Apida, der ein Haustier wird wie unſere Schweine, zieht in Rudeln von mehreren hundert Stücken. Man hört es ſchon von weitem, wenn ſolche Rudel herbeikommen, nicht nur an den dumpfen, rauhen Lauten, die ſie von ſich geben, ſondern noch mehr, — 140 — weil ſie ungeſtüm das Gebüſch auf ihrem Wege zerknicken. Bonpland rief einmal beim Botaniſiern ſein indianiſcher Führer zu, er ſolle ſich hinter einen Baum verſtecken, und da ſah er denn dieſe Pecari (Cochinos oder Puercos del monte) ganz nahe an ſich vorüberkommen. Das Rudel zog in dicht gedrängten Reihen, die männlichen Tiere voran, jedes Mutter— ſchwein mit ſeinen Jungen hinter ſich. Die Chacharos haben ein weichliches, nicht ſehr angenehmes Fleiſch; ſie werden übrigens von den Indianern ſtark gegeſſen, die ſie mit kleinen an Stricke gebundenen Spießen erlegen. Man verſicherte uns in Atures, der Tiger fürchte ſich im Walde unter ein ſolches Rudel von Wildſchweinen zu geraten, und ſuche ſich, um nicht erdrückt zu werden, auf einen Baum zu flüchten. Iſt das nun eine Jaägergeſchichte oder eine wirkliche Beobachtung? Wir werden bald ſehen, daß in manchen Ländern von Amerika die Jäger an die Exiſtenz eines Javali oder einheimiſchen Ebers mit nach außen gekrümmten Hauern! glauben. Ich habe nie einen geſehen, die amerikaniſchen Miſſionäre führen ihn aber in ihren Schriften auf, und dieſe von unſeren Zoo— logen zu wenig beachtete Quelle enthält neben den plumpſten Uebertreibungen ſehr intereſſante lokale Beobachtungen. Unter den Affen, die wir in der Miſſion Atures zu ſehen bekamen, fanden wir eine neue Art aus der Sippe der Gais oder Saju, von den Hiſpano-Amerikanern gewöhnlich Ma— chis genannt. Es iſt dies der Uavapavi? mit grauem Pelz und bläulichem Geſicht. Augenränder und Stirn ſind ſchneeweiß, und dadurch unterſcheidet er ſich auf den erſten Blick von der Simia capueina, der Simia apella, Simia trepida und den anderen Winſelaffen, in deren Beſchreibung bis jetzt ſo große Verwirrung herrſcht. Das kleine Tier iſt ſo ſanftmütig als häßlich. Jeden Tag ſprang es im Hofe der Miſſion auf ein Schwein und blieb auf demſelben von Morgen bis Abend ſitzen, während es auf den Grasfluren umherlief. Wir ſahen es auch auf dem Rücken einer großen Katze, die mit ihm im Hauſe des Pater Zea aufgezogen wor— den war. In den Katarakten hörten wir auch zum erſtenmal von Cortez behauptet, er habe am Magdalenenfluß einen Eber mit gekrümmten Hauern und Längsſtreifen auf dem Rücken ge— ſchoſſen. Sollte es dort verwilderte europäiſche Schweine geben? 2 Simia albifrons, Humboldt. — 141 — dem behaarten Waldmenſchen, dem ſogenannten Salvaje ſprechen, der Weiber entführt, Hütten baut und zuweilen Menſchenfleiſch frißt. Die Tamanaken nennen ihn Achi, die Maypures Vaſitri oder den großen Teufel. Die Ein— geborenen und die Miſſionäre zweifeln nicht an der Exiſtenz dieſes menſchenähnlichen Affen, vor dem ſie ſich ſehr fürchten. Pater Gili erzählt in vollem Ernſte eine Geſchichte von einer Dame aus der Stadt San Carlos, welche dem Waldmenſchen wegen ſeiner Gutmütigkeit und Zuvorkommenheit das beſte Zeugnis gab. Sie lebte mehrere Jahre ſehr gut mit ihm und ließ ſich von Jägern nur deshalb wieder in den Schoß ihrer Familie bringen, „weil ſie, nebſt ihren Kindern (die auch etwas behaart waren), der Kirche und der heiligen Sakramente nicht länger entbehren mochte“. Bei aller Leichtgläubigkeit geſteht dieſer Schriftſteller, er habe keinen Indianer auftreiben können, der ausdrücklich geſagt hätte, er habe den Salvaje mit eigenen Augen geſehen. Dieſes Märchen, das ohne Zweifel von den Miſſionären, den ſpaniſchen Koloniſten und den Negern aus Afrika mit verſchiedenen Zügen aus der Sitten— geſchichte des Orang-Utan, Gibbon, Joko oder Chimpanſe und Pongo ausſtaffiert worden iſt, hat uns 5 Jahre lang in der nördlichen wie in der ſüdlichen Halbkugel verfolgt, und überall, ſelbſt in den gebildetſten Kreiſen, nahm man es übel, daß wir allein uns herausnahmen, daran zu zweifeln, daß es in Amerika einen großen menſchenähnlichen Affen gebe. Wir bemerken zunächſt, daß in gewiſſen Gegenden dieſer Glaube beſonders ſtark unter dem Volke verbreitet iſt, ſo namentlich am oberen Orinoko, im Thale Upar beim See Maracaybo, in den Bergen von Santa Marta und Merida, im Diſtrikt von Quixos und am Amazonenſtrom bei Tomependa. An allen dieſen ſo weit auseinander gelegenen Orten kann man hören, den Salvaje erkenne man leicht an ſeinen Fußſtapfen denn die Zehen ſeien nach hinten gekehrt. Gibt es aber auf dem neuen Kontinent einen Affen von anſehnlicher Größe, wie kommt es, daß ſich ſeit 300 Jahren kein glaubwürdiger Mann das Fell desſelben hat verſchaffen können? Was zu ſo einem alten Irrtum oder Glauben Anlaß gegeben haben mag, darüber laſſen ſich mehrere Vermutungen aufſtellen. Sollte der vielberufene Kapuzineraffe von Esmeralda, deſſen Hundszähne über 14 mm lang find, der ein viel menſchen— Simia chiropotes. — 142 — ähnlicheres Geſicht hat als der Orang-Utan,! der ſich den Bart mit der Hand ſtreicht, wenn man ihn reizt, das Mär— chen vom Salvaje veranlaßt haben? Allerdings iſt er nicht fo groß als der Coaita (Simia paniscus); wenn man ihn aber oben auf einem Baume und nur den Kopf von ihm ſieht, könnte man ihn leicht für ein menſchliches Weſen halten. Es wäre auch möglich (und dies ſcheint mir das Wahrſchein— lichſte), daß der Waldmenſch einer der großen Bären iſt, deren Fußſpur der menſchlichen ähnlich iſt und von denen man in allen Ländern glaubt, daß ſie Weiber anfallen. Das Tier, das zu meiner Zeit am Fuße der Berge von Merida geſchoſſen und als ein Salvaje dem Oberſten Ungaro, Statt: halter der Provinz Varinas, geſchickt wurde, war auch wirk— lich nichts als ein Bär mit ſchwarzem, glänzendem Pelz. Unſer Reiſegefährte Don Nicolas Soto hat denſelben näher unterſucht. Die ſeltſame Vorſtellung von einem Sohlengänger, bei dem die Zehen ſo ſtehen, als ob er rückwärts ginge, ſollte ſie etwa daher rühren, daß die wahren wilden Waldmenſchen, die ſchwächſten, furchtſamſten Indianerſtämme, den Brauch haben, wenn ſie in den Wald oder über einen Uferſtrich ziehen, ihre Feinde dadurch irre zu machen, daß ſie ihre Fußſtapfen mit Sand bedecken oder rückwärts gehen? Ich habe angegeben, weshalb zu bezweifeln iſt, daß es eine unbekannte große Affenart auf einem Kontinente gibt, wo gar keine Vierhänder aus der Familie des Orangs, Cyno— cephali, Mandrils und Pongos vorzukommen ſcheinen. Es iſt aber nicht zu vergeſſen, daß jeder, auch der abgeſchmackteſte Volksglaube auf wirklichen, nur unrichtig aufgefaßten Natur— verhältniſſen beruht. Wendet man ſich von dergleichen Dingen mit Geringſchätzung ab, ſo kann man, in der Phyſik wie in der Phyſiologie, leicht die Fährte einer Entdeckung verlieren. Wir erklären daher auch keineswegs mit einem ſpaniſchen Schriftſteller das Märchen vom Waldmenſchen für eine pfiffige Erfindung der indianiſchen Weiber, die entführt worden ſein wollen, wenn ſie hinter ihren Männern lange ausgeblieben ſind; vielmehr fordern wir die Reiſenden, die nach uns an den Orinoko kommen, auf, unſere Unterſuchungen hinſichtlich des Salvaje oder großen Waldteufels wieder aufzunehmen und zu ermitteln, ob eine unbekannte Bärenart oder ein ſehr Im Geſamtausdruck der Züge, nicht der Stirn nach. — 143 — ſeltener, der Simia chiropotes oder Simia Satanas ähnlicher Affe ſo ſeltſame Märchen veranlaßt haben mag. Nach zweitägigem Aufenthalt am Katarakt von Atures waren wir ſehr froh, unſere Piroge wieder laden und einen Ort verlaſſen zu können, wo der Thermometer bei Tage meiſt auf 29°, bei Nacht auf 26° ſtand. Nach der Hitze, die uns drückte, kam uns die Temperatur noch weit höher vor. Wenn die Angabe des Inſtrumentes und die Empfindung ſo wenig übereinſtimmten, jo rührte dies vom beſtändigen Hautreiz durch die Moskiten her. Eine von giftigen Inſekten wim— melnde Luft kommt einem immer weit heißer vor, als ſie wirklich iſt. Das Sauſſureſche Hygrometer — im Schatten beobachtet, wie immer — zeigte bei Tage im Minimum (um 3 Uhr nachmittags) 78,2“, bei Nacht im Maximum 81,50. Die Feuchtigkeit iſt um 5“ geringer als die mittlere Feuchtig— keit an der Küſte von Cumana, aber um 10° ſtärker als die mittlere Feuchtigkeit in den Llanos oder baumloſen Ebenen. Die Waſſerfälle und die dichten Wälder ſteigern die Menge des in der Luft enthaltenen Waſſerdampfes. Den Tag über wurden wir von den Moskiten und den Jejen, kleinen gif— tigen Mücken aus der Gattung Simulium, furchtbar geplagt, bei Nacht von den Zancudos, einer großen Schnakenart, vor denen ſich ſelbſt die Eingeborenen fürchten. Unſere Hände fingen an ſtark zu ſchwellen und die Geſchwulſt nahm täglich zu, bis wir an die Ufer des Temi kamen. Die Mittel, durch die man die kleinen Tiere los zu werden fucht, find ſehr merk— würdig. Der gute Miſſionär Bernardo Zea, der ſein Leben unter den Qualen der Moskiten zubringt, hatte ſich neben der Kirche auf einem Gerüſte von Palmſtämmen ein kleines Zimmer gebaut, in dem man freier atmete. Abends ſtiegen wir mit einer Leiter in dasſelbe hinauf, um unſere Pflanzen zu trocknen und unſer Tagebuch zu ſchreiben. Der Miſſionär hatte die richtige Beobachtung gemacht, daß die Inſekten in der tiefſten Luftſchicht am Boden 5 bis 7 m hoch, am häufig- ſten ſind. In Maypures gehen die Indianer bei Nacht aus dem Dorfe und ſchlafen auf kleinen Inſeln mitten in den Waſſerfällen. Sie finden dort einige Ruhe, da die Moskiten eine mit Waſſerdunſt beladene Luft zu fliehen ſcheinen. Ueberall fanden wir ihrer mitten im Strom weniger als an den Seiten; man hat daher auch weniger zu leiden, wenn man den Ori— noko hinab, als wenn man aufwärts fährt. Wer die großen Ströme des tropiſchen Amerikas, wie den — 14 — Orinoko oder den Magdalenenfluß, nicht befahren hat, kann nicht begreifen, wie man ohne Unterlaß, jeden Augenblick im Leben von den Inſekten, die in der Luft ſchweben, gepeinigt werden, weil die Unzahl dieſer kleinen Tiere weite Landſtrecken faſt unbewohnbar machen kann. So ſehr man auch gewöhnt ſein mag, den Schmerz ohne Klage zu ertragen, ſo lebhaft einen auch der Gegenſtand, den man eben beobachtet, beſchäf— tigen mag, unvermeidlich wird man immer wieder davon ab— gezogen, wenn Moskiten, Zancudos, Jejen und Tem— praneros einem Hände und Geſicht bedecken, einen mit ihrem Saugrüſſel, der in einen Stachel ausläuft, durch die Kleider durch ſtechen, und in Naſe und Mund kriechen, ſo daß man huſten und nießen muß, ſobald man in freier Luft ſpricht. In den Miſſionen am Orinoko, in dieſen von unermeßlichen Wäldern umgebenen Dörfern am Stromufer, iſt aber auch die plaga de los moscos ein unerſchöpflicher Stoff der Unter: haltung. Begegnen ſich morgens zwei Leute, ſo ſind ihre erſten Fragen: „Que le han parecido los zancudos de noche? Wie haben Sie die Zancados heute nacht gefunden?“ — „Como stamos hoy de mosquitos? Wie ſteht es heute mit den Moskiten?“ Dieſe Fragen erinnern an eine chineſiſche Höflichkeitsformel, die auf den ehemaligen wilden Zuſtand des Landes, in dem ſie entſtanden ſein mag, zurückweiſt. Man begrüßte ſich früher im himmliſchen Reiche mit den Worten: „V.ou-to-hou? Seid ihr dieſe Nacht von Schlangen be: unruhigt worden?“ Wir werden bald ſehen, daß am Tua— mini, auf dem Magdalenenſtrom, beſonders aber in Choco, im Gold- und Platinalande, neben dem Moskitokompliment auch das chineſiſche Schlangenkompliment am Platze wäre. Es iſt hier der Ort, von der geographiſchen Ver— teilung dieſer Inſekten aus der Familie der Tipulae zu ſprechen, die ganz merkwürdige Erſcheinungen darbietet. Die— ſelbe ſcheint keineswegs bloß von der Hitze, der großen Feuchtig— keit und den großen Wäldern abzuhängen, ſondern auch von ſchwer zu ermittelnden örtlichen Verhältniſſen. Vorab iſt zu bemerken, daß die Plage der Moskiten und Zancudos in der heißen Zone nicht ſo allgemein iſt, als man gemeiniglich glaubt. Auf Hochebenen mehr als 780 m über dem Meeres: ſpiegel, in ſehr trockenen Niederungen weit von den großen Strömen, z. B. in Cumana und Calabozo, gibt es nicht auf— fallend mehr Schnaken als in dem am ſtärkſten bevölkerten Teile Europas. In Nueva Barcelona dagegen, und weiter weſtwärts an der Küſte, die gegen Kap Codera läuft, nehmen ſie ungeheuer zu. Zwiſchen dem kleinen Hafen von Higuerote und der Mündung des Rio Unare haben die unglücklichen Einwohner den Brauch, ſich bei Nacht auf die Erde zu legen und ſich 8 bis 10 em tief in den Sand zu begraben, ſo daß nur der Kopf frei bleibt, den ſie mit einem Tuche bedecken. Man leidet vom Inſektenſtich, doch ſo, daß es leicht zu er— tragen iſt, wenn man den Orinoko von Cabruta gegen Ango— ſtura hinunter und von Cabruta gegen Uruana hinauffährt zwiſchen dem 7. und 8. Grad der Breite. Aber über dem Einfluß des Rio Arauca, wenn man durch den Engpaß beim Baraguan kommt, wird es auf einmal anders, und von nun an findet der Reiſende keine Ruhe mehr. Hat er poetiſche Stellen aus Dante im Kopfe, ſo mag ihm zu Mute ſein, als hätte er die Città dolente betreten, als ſtänden an den Felswänden beim Baraguan die merkwürdigen Verſe aus dem 3. Buch der Hölle geſchrieben: Noi sem venuti al luogo, ov'i't'ho detto Che tu vedrai le genti dolorose.! Die tiefen Luftſchichten vom Boden bis zu 5 bis 7 m Höhe ſind mit giftigen Inſekten wie mit einem dichten Dunſte angefüllt. Stellt man ſich an einen dunklen Ort, z. B. in die Höhlen, die in den Katarakten durch die aufgetürmten Granitblöcke gebildet werden, und blickt man gegen die von der Sonne beleuchtete Oeffnung, ſo ſieht man Wolken von Moskiten, die mehr oder weniger dicht werden, je nachdem die Tierchen bei ihren langſamen und taktmäßigen Bewegungen ſich zuſammen- oder auseinanderziehen. In der Miſſion San Borja hat man ſchon mehr von den Moskiten zu leiden als in Carichana; aber in den Raudales, in Atures, beſonders aber in Maypures erreicht die Plage ſozuſagen ihr Mapi— mum. Ich zweifle, daß es ein Land auf Erden gibt, wo der Menſch grauſamere Qualen zu erdulden hat als hier in der Regenzeit. Kommt man über den 5. Breitengrad hinauf, wird man etwas weniger zerſtochen; aber am oberen Orinoko ſind die Stiche ſchmerzlicher, weil bei der Hitze und der völli— gen Windſtille die Luft glühender iſt und die Haut, wo ſie dieſelbe berührt, mehr reizt. 1 Inferno. C. III, 16. A. v. Humboldt, Reiſe. III. 10 „Wie gut muß im Mond wohnen fein!” ſagte ein Sa: liva⸗Indianer zu Pater Gumilla. „Er tft jo ſchön und hell, daß es dort gewiß keine Moskiten gibt.“ Dieſe Worte, die dem Kindesalter eines Volkes angehören, ſind ſehr merk— würdig. Ueberall iſt der Trabant der Erde für den wilden Amerikaner der Wohnplatz der Seligen, das Land des Ueber— fluſſes. Der Eskimo, für den eine Planke, ein Baumſtamm, den die Strömung an eine pflanzenloje Küſte geworfen, ein Schatz iſt, ſieht im Monde waldbedeckte Ebenen; der Indianer in den Wäldern am Orinoko ſieht darin kahle Savannen, deren Bewohner nie von Moskiten geſtochen werden. Weiterhin gegen Süd, wo das Syſtem der braungelben Gewäſſer beginnt, gemeinhin ſchwarze Waſſer (aguas negras) genannt, an den Ufern des Atabapo, Temi, Tuamini und des Rio Negro, genoſſen wir einer Ruhe, ich hätte bald geſagt eines Glückes, wie wir es gar nicht er— wartet hatten. Dieſe Flüſſe laufen wie der Orinoko durch dichte Wälder; aber die Schnaken wie die Krokodile halten ſich von den „ſchwarzen Waſſern“ ferne. Kommen vielleicht die Larven und Nymphen der Tipulä und Schnaken, die man als eigentliche Waſſertiere betrachten kann, in dieſen Gewäſſern, die ein wenig kühler ſind als die weißen und ſich chemiſch anders verhalten, nicht jo gut fort? Einige kleine Flüffe, deren Waſſer entweder dunkelblau oder braungelb iſt, der Toparo, Mataveni und Zama, machen eine Ausnahme von der ſonſt ziem— lich allgemeinen Regel, daß es über „ſchwarzem Waſſer“ keine Moskiten gibt. An jenen drei Flüſſen wimmelt es davon, und ſelbſt die Indianer machten uns auf die rätſelhafte Er— ſcheinung aufmerkſam und ließen uns über deren Urſachen nachdenken. Beim Herabfahren auf dem Rio Negro atmeten wir frei in den Dörfern Maroa, Davipe und San Carlos an der braſilianiſchen Grenze; allein dieſe Erleichterung unſerer Lage war von kurzer Dauer, und unſere Leiden begannen von neuem, ſobald wir in den Caſſiquiare kamen. In Esmeralda, am öſtlichen Ende des oberen Orinoko, wo die den Spaniern bekannte Welt ein Ende hat, ſind die Moskitowolken faſt ſo dick wie bei den großen Katarakten. In Mandavaca fanden wir einen alten Miſſionär, der mit jammervoller Miene gegen uns äußerte, er habe ſeine 20 Moskitojahre auf dem Rücken (ya tengo mis veinte ahos de mosquitos). Er forderte uns auf, ſeine Beine genau zu betrachten, damit wir eines Tages „por alla“ (über dem Meer) davon zu jagen Er wüßten, was die armen Miſſionäre in den Wäldern am Caſ— ſiquiare auszuſtehen haben. Da jeder Stich einen kleinen ſchwarzbraunen Punkt zurückläßt, waren ſeine Beine der— geſtalt gefleckt, daß man vor Flecken geronnenen Blutes kaum die weiße Haut ſah. Auf dem Caſſiquiare, der weißes Waſſer hat, wimmelt es von Mücken aus der Gattung Simulium, aber die Zancudos, der Gattung Culex ange— hörig, ſind deſto ſeltener; man ſieht faſt keine, während auf den Flüſſen mit ſchwarzem Waſſer meiſt einige Zancudos, aber keine Moskiten vorkommen. Wir haben ſchon oben bemerkt, daß wenn bei den kleinen Revolutionen im Schoße des Ordens der Obſervanten der Pater Guardian ſich an einem Laienbruder rächen will, er ihn nach Esmeralda ſchickt; er wird damit verbannt oder, wie der muntere Ausdruck der Ordensleute lautet, zu den Moskiten verurteilt. Ich habe hier nach meinen eigenen Beobachtungen gezeigt, daß in dieſem Labyrinth weißer und ſchwarzer Waſſer die geographiſche Verteilung der giftigen Inſekten eine ſehr un— gleichförmige iſt. Es wäre zu wünſchen, daß ein tüchtiger Entomolog an Ort und Stelle die ſpezifiſchen Unterſchiede dieſer bösartigen Inſekten, die trotz ihrer Kleinheit in der heißen Zone eine bedeutende Rolle im Haushalte der Natur ſpielen, beobachten könnte. Sehr merkwürdig ſchien uns der Umſtand, der auch allen Miſſionären wohlbekannt iſt, daß die verſchiedenen Arten nicht untereinander fliegen und daß man zu verſchiedenen Tagesſtunden immer wieder von anderen Arten geſtochen wird. So oft die Szene wechſelt und ehe, nach dem naiven Ausdruck der Miſſionäre, andere Inſekten „auf die Wache ziehen“, hat man ein paar Minuten, oft eine Viertelſtunde Ruhe. Nach dem Abzug der einen Inſekten ſind die Nachfolger nicht ſogleich in gleicher Menge zur Stelle. Von 6½ Uhr morgens bis 5 Uhr abends wimmelt die Luft von Moskiten, die nicht, wie in manchen Reiſebeſchreibungen zu leſen iſt, unſeren Schnafen,' ſondern vielmehr einer kleinen Mücke gleichen. Es ſind dies Arten der Gattung Simulium aus der Familie der Nemoceren nach Latreilles Syſtem. Ihr Stich hinterläßt einen kleinen braunroten Punkt, weil da, Culex pipiens. Diejer Unterſchied zwiſchen Mosquito (kleine Mücke, Simulium) und Zancudo (Schnake, Culex) beſteht in allen ſpaniſchen Kolonieen. Das Wort Zancudo bedeutet „Langfuß“, qui tiene las zancas largas. — 148 — wo der Rüſſel die Haut durchbohrt hat, Blut ausgetreten und geronnen iſt. Eine Stunde vor Sonnenuntergang werden die Moskiten von einer kleinen Schnakenart abgelöſt, Tempra⸗ neros! genannt, weil ſie ſich auch bei Sonnenaufgang zeigen; ſie bleiben kaum anderthalb Stunden und verſchwinden zwi— ſchen 6 und 7 Uhr abends oder, wie man hier ſagt, nach dem Angelus (a la oracion). Nach einigen Minuten Ruhe fühlt man die Stiche der Zancudos, einer anderen Schnakenart (Culex) mit ſehr langen Füßen. Der Zancudo, deſſen Rüſſel eine ſtechende Saugröhre enthält, verurſacht die heftigſten Schmerzen, und die Geſchwulſt, die dem Stiche folgt, hält mehrere Wochen an; ſein Sumſen gleicht dem unſerer Autoren Schnaken, nur iſt es ſtärker und anhaltender. Die Indianer wollen Zancudos und Tempraneros „am Geſang“ unterſcheiden können; letztere ſind wahre Dämme— rungsinſekten, während die Zancudos meiſt Nacht— inſekten ſind und mit Sonnenaufgang verſchwinden Auf der Reiſe von Cartagena nach Santa Is de Bogota machten wir die Beobachtung, daß zwiſchen Mompox und Honda im Thal des großen Magdalenenfluſſes die Zancudos zwiſchen 8 Uhr abends und Mitternacht die Luft verfinſtern, gegen Mitternacht abnehmen, ſich 3, 4 Stunden lang ver— kriechen und endlich gegen 4 Uhr morgens in Menge und voll Heißhunger wieder erſcheinen. Welches iſt die Urſache dieſes Wechſels von Bewegung und Ruhe? Werden die Tiere vom langen Fliegen müde? Am Orinoko ſieht man bei Tag ſehr ſelten wahre Schnaken, während man auf dem Magda— lenenſttrom Tag und Nacht von ihnen geſtochen wird, nur nicht von Mittag bis 2 Uhr. Ohne Zweifel ſind die Zan⸗ cudos beider Flüſſe verſchiedene Arten; werden etwa die zu— ſammengeſetzten Augen der einen Art vom Sonnenlicht mehr angegriffen als die der anderen? Wir haben geſehen, daß die tropiſchen Inſekten in den Zeitpunkten ihres Auftretens und Verſchwindens überall einen gewiſſen Typus befolgen. In derſelben Jahreszeit und unter derſelben Breite erhält die Luft zu beſtimmten, nie wechſeln— den Stunden immer wieder eine andere Bevölkerung; und in einem Erdſtrich, wo der Barometer zu einer Uhr wird,? wo „Die früh auf ſind“, temprano. Durch die ausnehmende Regelmäßigkeit im ſtündlichen Wechſel des Luftdrucks. — 149 — alles mit ſo bewundernswürdiger Regelmäßigkeit aufeinander folgt, könnte man beinahe am Sumſen der Inſekten und an den Stichen, die je nach der Art des Giftes, das jedes In— ſekt in der Wunde zurückläßt, wieder anders ſchmerzen, Tag und Nacht mit verbundenen Augen erraten, welche Zeit es iſt. Zur Zeit, da die Tier- und Pflanzengeographie noch keine Wiſſenſchaft war, warf man häufig verwandte Arten aus verſchiedenen Himmelsſtrichen zuſammen. In Japan, auf dem Rücken der Anden und an der Magelhaensſchen Meerenge glaubte man die Fichten und die Ranunkeln, die Hirſche, Ratten und Schnaken des nördlichen Europa wiederzufinden. Hoch— verdiente, berühmte Naturforſcher glaubten, der Maringuin der heißen Zone ſei die Schnake unſerer Sümpfe, nur kräf— tiger, gefräßiger, ſchädlicher infolge des heißen Klimas; dies iſt aber ein großer Irrtum. Ich habe die Zancudos, von denen man am ärgſten gequält wird, an Ort und Stelle ſorg— fältig unterſucht und beſchrieben. Im Magdalenenfluß und im Guayaquil gibt es allein fünf ganz verſchiedene Arten. Die Culexarten in Südamerika ſind meiſt geflügelt, Bruſtſtück und Füße find blau, geringelt, mit metalliſch glän— zenden Flecken und daher ſchillernd. Hier wie in Europa ſind die Männchen, die ſich durch ihre gefiederten Fühlhörner auszeichnen, ſehr ſelten; man wird faſt immer nur von Weibchen geſtochen. Aus dem großen Uebergewicht dieſes Geſchlechtes erklärt ſich die ungeheure Vermehrung der Art, da jedes Weibchen mehrere hundert Eier legt. Fährt man einen der großen amerikaniſchen Ströme hinauf, ſo bemerkt man, daß ſich aus dem Auftreten einer neuen Culexart ſchließen läßt, daß bald wieder ein Nebenfluß hereinkommt. Ich führe ein Beiſpiel dieſer merkwürdigen Erſcheinung an. Den Culex lineatus, deſſen Heimat der Cano Tamalamegque iſt, trifft man im Thal des Magdalenenſtroms nur bis auf 4,5 km nördlich vom Zuſammenfluß der beiden Gewäſſer an; derſelbe geht den großen Strom hinauf, aber nicht hinab; in ähnlicher Weiſe verkündigt in einem Hauptgang das Auftreten einer neuen Subſtanz in der Gangmaſſe dem Bergmann die Nähe eines ſekundären Ganges, der ſich mit jenem verbindet. Faſſen wir die hier mitgeteilten Beobachtungen zuſammen, fo ſehen wir, daß unter den Tropen die Moskiten und Ma- ringuine am Abhang der Kordilleren! nicht in die gemäßigte 1 Der europäiſche Culex pipiens meidet das Gebirgsland — 150 — Region hinaufgehen, wo die mittlere Temperatur weniger als 19 bis 20% beträgt;! daß ſie mit wenigen Ausnahmen die ſchwarzen Gewäſſer und trockene, baumloſe Landſtriche meiden. Am oberen Orinoko finden ſie ſich weit maſſenhafter als am unteren, weil dort der Strom an ſeinen Ufern dicht bewaldet iſt und kein weiter kahler Uferſtrich zwiſchen dem Fluß und dem Waldſaum liegt. Mit dem Seichterwerden der Gewäſſer und der Ausrodung der Wälder nehmen die Moskiten auf dem neuen Kontinent ab; aber alle dieſe Mo— mente ſind in ihren Wirkungen ſo langſam als die Fortſchritte des Anbaues. Die Städte Angoſtura, Nueva Barcelona und Mompox, wo ſchlechte Polizei auf den Straßen, den Plätzen und in den Höfen der Häuſer das Buſchwerk wuchern läßt, ſind wegen der Menge ihrer Zancudos in trauriger Weiſe vielberufen. Alle im Lande Geborenen, Weiße, Mulatten, Neger, Indianer, haben vom Inſektenſtich zu leiden; wie aber der Norden Europas trotz des Froſtes nicht unbewohnbar iſt, ſo hindern auch die Moskiten den Menſchen nicht, ſich in Län— dern, welche ſtark davon heimgeſucht ſind, niederzulaſſen, wenn anders durch die Lage und Regierungsweiſe die Verhältniſſe für Handel und Gewerbfleiß günſtige ſind. Die Leute klagen ihr Leben lang de la plaga, del insufrible tormento de las moscas; aber trotz dieſes beſtändigen Jammerns ziehen ſie doch und zwar mit einer gewiſſen Vorliebe, in die Handels— ſtädte Angoſtura, Santa Marta und Rio la Hacha. So ſehr gewöhnt man ſich an ein Uebel, das man zu jeder Tages— ſtunde zu erdulden hat, daß die drei Miſſionen San Borja, Atures und Esmeralda, wo es nach dem hyperboliſchen Aus— druck der Mönche „mehr Mücken als Luft“ gibt (mas moscas que ayre), unzweifelhaft blühende Städte würden, wenn der— Orinoko den Koloniſten zum Austauſch der Produkte dieſelben Vorteile gewährte wie der Ohio und der untere Miſſiſſippi. Wo es ſehr viele Inſekten gibt, nimmt zwar die Bevölkerung lang— ſamer zu, aber gänzlicher Stillſtand tritt deshalb doch nicht ein; nicht, wie die Culexarten der heißen Zone Amerikas. Gieſecke wurde in Disco in Grönland unter dem 70. Breitengrad von Schnaken geplagt. In Lappland kommt die Schnake im Sommer in 580 bis 780 m Meereshöhe bei einer mittleren Temperatur von 11 bis 12° vor. Das iſt die mittlere Temperatur von Montpellier und Rom. — 151 — die Weißen laſſen ſich aus dieſem Grunde nur da nicht nieder, wo bei den kommerziellen und politiſchen Verhältniſſen des Landes kein erklecklicher Vorteil in Ausſicht ſteht. Ich habe anderswo in dieſem Werke des merkwürdigen Umſtandes Erwähnung gethan, daß die in der heißen Zone geborenen Weißen barfuß ungeſtraft in demſelben Zimmer herumgehen, in dem ein friſch angekommener Europäer Ge— fahr läuft, Niguas oder Chiques, Sandflöhe (Pulex penetrans), zu bekommen. Dieſe kaum ſichtbaren Tiere graben ſich unter die Zehennägel ein und werden, bei der raſchen Entwickelung der in einem eigenen Sack am Bauche des In— ſektes liegenden Eier, ſo groß wie eine kleine Erbſe. Die Nigua unterſcheidet alſo, was die feinſte chemiſche Analyſe nicht vermöchte, Zellgewebe und Blut eines Europäers von dem eines weißen Kreolen. Anders bei den Stechfliegen. Trotz allem, was man darüber an den Küſten von Süd— amerika hört, fallen dieſe Inſekten die Eingeborenen ſo gut an wie die Europäer; nur die Folgen des Stichs ſind bei beiden Menſchenraſſen verſchieden. Dieſelbe giftige Flüſſigkeit, in die Haut eines kupferfarbigen Menſchen von indianiſcher Raſſe und eines friſch angekommenen Weißen gebracht, bringt beim erſteren keine Geſchwulſt hervor, beim letzteren dagegen harte, ſtark entzündete Beulen, die mehrere Tage ſchmerzen. So verſchieden reagiert das Hautſyſtem, je nachdem die Organe bei dieſer oder jener Raſſe, bei dieſem oder jenem Individuum mehr oder weniger reizbar ſind. Ich gebe hier mehrere Beobachtungen, aus denen klar hervorgeht, daß die Indianer, überhaupt alle Farbigen, ſo gut wie die Weißen Schmerz empfinden, wenn auch vielleicht in geringerem Grade. Bei Tage, ſelbſt während des Ruderns, ſchlagen ſich die Indianer beſtändig mit der flachen Hand heftig auf den Leib, um die Inſekten zu verſcheuchen. Im Schlaf ſchlagen ſie, ungeſtüm in allen ihren Bewegungen, auf ſich und ihre Schlafkameraden, wie es kommt. Bei ihren derben Hieben denkt man an das perſiſche Märchen vom Bären, der mit ſeiner Tatze die Fliegen auf der Stirn ſeines Herrn totſchlägt. Bei Maypures ſahen wir junge Indianer im Kreiſe ſitzen und mit am Feuer getrockneter Baumrinde einander grauſam den Rücken zerreiben. Mit einer Geduld, deren nur die kupferfarbige Raſſe fähig iſt, waren indianiſche Weiber beſchäftigt, mit einem ſpitzen Knochen die kleine Maſſe geronnenen Blutes in der Mitte jeden Stiches, die der Haut — 152 — ein geflecktes Ausſehen gibt, auszuſtechen. Eines der bar: bariſchten Völker am Orinoko, die Otomaken, kennt den Ge— brauch der Mosquiteros (Fliegennetze), die aus den Faſern der Murichipalme gewoben werden. Wir haben oben geſehen, daß die Farbigen in Higuerote an der Küſte von Caracas ſich zum Schlafen in den Sand graben. In den Dörfern am Magdalenenfluß forderten uns die Indianer oft auf, uns mit ihnen bei der Kirche auf der Plaza grande auf Ochſen— häute zu legen. Man hatte daſelbſt alles Vieh aus der Um— gegend zuſammengetrieben, denn in der Nähe desſelben findet der Menſch ein wenig Ruhe. Wenn die Indianer am oberen Orinoko oder am Caſſiquiare ſahen, daß Bonpland wegen der unaufhörlichen Moskitoplage ſeine Pflanzen nicht einlegen konnte, forderten fie ihn auf, in ihre Hornitos (Oefen) zu gehen. So heißen kleine Gemächer ohne Thüre und Fenſter, in die man durch eine ganz niedrige Oeffnung auf dem Bauche kriecht. Mittels eines Feuers von feuchtem Strauch— werk, das viel Rauch gibt, jagt man die Inſekten hinaus und verſchließt dann die Oeffnung des Ofens. Daß man jetzt die Moskiten los iſt, erkauft man ziemlich teuer; denn bei der ſtockenden Luft und dem Rauch einer Kopalfackel, die den Ofen beleuchtet, wird es entſetzlich heiß darin. Bonpland hat mit einem Mut und einer Geduld, die das höchſte Lob ver— dienen, viele hundert Pflanzen in dieſen Hornitos der In— dianer getrocknet. Die Mühe, die ſich die Eingeborenen geben, um die Inſektenplage zu lindern, beweiſt hinlänglich, daß der kupfer— farbige Menſch trotz der verſchiedenen Organiſation ſeiner Haut für die Mückenſtiche empfindlich iſt ſo gut wie der Weiße; aber, wir wiederholen es, beim erſteren ſcheint der Schmerz nicht ſo ſtark zu ſein und der Stich hat nicht die Geſchwulſt zur Folge, die mehrere Wochen lang fort und fort wiederkehrt, die Reizbarkeit der Haut ſteigert und empfindliche Perſonen in den fieberhaften Zuſtand verſetzt, der allen Aus— ſchlagskrankheiten eigen iſt. Die im tropiſchen Amerika ge— borenen Weißen und die Europäer, die ſehr lange in den Miſſionen in der Nähe der Wälder und an den großen Flüſſen gelebt, haben weit mehr zu leiden als die Indianer, aber unendlich weniger als friſch angekommene Europäer. Es kommt alſo nicht, wie manche Reiſende behaupten, auf die Dicke der Haut an, ob der Stich im Augenblick, wo man ihn erhält, mehr oder weniger ſchmerzt, und bei den Indianern tritt nicht deshalb weniger Geſchwulſt und Entzündung ein, weil ihre Haut eigentümlich organiſiert iſt, vielmehr hängen Grad und Dauer des Schmerzes von der Reizbarkeit des Nerven— ſyſtems der Haut ab. Die Reizbarkeit wird geſteigert durch ſehr warme Bekleidung, durch den Gebrauch geiſtiger Getränke, durch das Kratzen an den Stichwunden, endlich, und dieſe phyſiologiſche Bemerkung beruht auf meiner eigenen Erfahrung, durch zu häufiges Baden. An Orten, wo man in den Fluß kann, weil keine Krokodile darin ſind, machten Bonpland und ich die Erfahrung, daß das Baden, wenn man es übertreibt, zwar den Schmerz der alten Schnakenſtiche linderte, aber uns für neue Stiche weit empfindlicher machte. Badet man mehr als zweimal täglich, ſo verſetzt man die Haut in einen Zu— ſtand nervöſer Reizbarkeit, von dem man ſich in Europa keinen Begriff machen kann. Es iſt einem, als zöge ſich alle Em— pfindung in die Hautdecken. Da die Moskiten und die Schnaken zwei Dritteile ihres Lebens im Waſſer zubringen, ſo iſt es nicht zu verwundern, daß in den von großen Flüſſen durchzogenen Wäldern dieſe bösartigen Inſekten, je weiter vom Ufer weg, deſto ſeltener werden. Sie ſcheinen ſich am liebſten an den Orten aufzu— halten, wo ihre Verwandelung vor ſich gegangen iſt und wo ſie ihrerſeits bald ihre Eier legen werden. Daher gewöhnen ſich auch die wilden Indianer (Indios monteros) um jo ſchwerer an das Leben in den Miſſionen, da ſie in den chriſt— lichen Niederlaſſungen eine Plage auszuſtehen haben, von der ſie daheim im inneren Lande faſt nichts wiſſen. Man ſah in Maypures, Atures, Esmeralda Eingeborene al monte (in die Wälder) laufen, einzig aus Furcht vor den Moskiten. Leider ſind gleich anfangs alle Miſſionen am Orinoko zu nahe am Fluſſe angelegt worden. In Esmeralda verſicherten uns die Einwohner, wenn man das Dorf auf eine der ſchönen Ebenen um die hohen Berge des Duida und Maraguaca verlegte, ſo könnten ſie freier atmen und fänden einige Ruhe. La nube de moscos, die Mückenwolke — ſo ſagen die Mönche — ſchwebt nur über dem Orinoko und ſeinen Nebenflüſſen; die Wolke zerteilt ſich mehr und mehr, wenn man von den Flüſſen weggeht, und man machte ſich eine ganz falſche Vorſtellung von Guyana und Braſilien, wenn man den großen, 1800 km breiten Wald zwiſchen den Quellen der Madeira und dem unteren Orinoko nach den Flußthälern beurteilte, die dadurch hinziehen. — 14 — Man ſagte mir, die kleinen Inſekten aus der Familie der Nemoceren wandern von Zeit zu Zeit, wie die geſellig lebenden Affen der Gruppe der Aluaten. Man ſieht an ge— wiſſen Orten mit dem Eintritt der Regenzeit Arten erſcheinen, deren Stich man bis dahin nicht empfunden. Auf dem Magda: lenenfluß erfuhren wir, in Simiti habe man früher keine andere Culexart gekannt als den Jejen. Man hatte bei Nacht Ruhe, weil der Jejen kein Nachtinſekt iſt. Seit dem Jahre 1801 aber iſt die große Schnake mit blauen Flügeln (Culex cyanopterus) in ſolchen Maſſen erſchienen, daß die armen Einwohner von Simiti nicht wiſſen, wie ſie ſich Nacht— ruhe verſchaffen ſollen. In den ſumpfigen Kanälen (esteros) auf der Inſel Baru bei Cartagena lebt eine kleine weiß— lichte Mücke, Cafaſi genannt. Sie iſt mit dem bloßen Auge kaum ſichtbar und verurſacht doch äußerſt ſchmerzhafte Geſchwülſte. Man muß die Toldos oder Baumwollen— gewebe, die als Mückennetze dienen, anfeuchten, damit der Cafaſi nicht zwiſchen den gekreuzten Fäden durchſchlüpfen kann. Dieſes zum Glück ſonſt ziemlich ſeltene Inſekt geht im Januar auf dem Kanal oder Dique von Mahates bis Morales hinauf. Als wir im Mai in dieſes Dorf kamen, trafen wir Mücken der Gattung Simulium und Zancudos an, aber keine Jejen mehr. Kleine Abweichungen in Nahrung und Klima ſcheinen bei denſelben Mücken- und Schnakenarten auf die Wirkſam— keit des Giftes, das die Tiere aus ihrem ſchneidenden und am unteren Ende gezahnten Saugrüſſel ergießen, Einfluß zu äußern. Am Orinoko ſind die läſtigſten oder, wie die Kreolen jagen, die wildeſten (los mas feroces) Inſekten die an den großen Katarakten, in Esmeralda und Mandavaca. Im Mag— dalenenſtrom iſt der Culex eyanopterus beſonders in Mompox, Chilloa und Tamalameque gefürchtet. Er iſt dort größer und ſtärker und ſeine Beine ſind ſchwärzer. Man kann ſich des Lächelns nicht enthalten, wenn man die Miſſionäre über Größe und Gefräßigkeit der Moskiten in verſchiedenen Strichen des— ſelben Fluſſes ſtreiten hört. Mitten in einem Lande, wo man gar nicht weiß, was in der übrigen Welt vorgeht, iſt dies das Lieblingsthema der Unterhaltung. „Wie ſehr be— daure ich Euch!“ ſagte beim Abſchied der Miſſionär aus den Raudales zu dem am Caſſiquiare. „Ihr ſeid allein wie ich in dieſem Lande der Tiger und der Affen; Fiſche gibt es hier noch weniger, und heißer iſt es auch; was aber meine — 155 — Mücken (mis mosecas) anbelangt, fo darf ich mich rühmen, daß ich mit einer von den meinen drei von den Euren ſchlage.“ Dieſe Gefräßigkeit der Inſekten an gewiſſen Orten, dieſe Blutgier, womit ſie den Menſchen anfallen,! die ungleiche Wirkſamkeit des Giftes bei derſelben Art ſind ſehr merk— würdige Erſcheinungen; es ſtellen ſich ihnen jedoch andere aus den Klaſſen der großen Tiere zur Seite. In Angoſtura greift das Krokodil den Menſchen an, während man in Nueva Barcelona im Rio Neveri mitten unter dieſen fleiſchfreſſenden Reptilien ruhig badet. Die Jaguare in Maturin, Cuma— nacoa und auf der Landenge von Panama ſind feig denen am oberen Orinoko gegenüber. Die Indianer wiſſen recht gut, daß die Affen aus dieſem und jenem Thale leicht zu zähmen ſind, während Individuen derſelben Art, die man anderswo fängt, lieber Hungers ſterben, als ſich in die Ge— fangenſchaft ergeben. Das Volk in Amerika hat ſich hinſichtlich der Geſundheit der Gegenden und der Krankheitserſcheinungen Syſteme ge— bildet, ganz wie die Gelehrten in Europa, und dieſe Syſteme widerſprechen ſich, gleichfalls wie bei uns, in den verſchiedenen Provinzen, in die der neue Kontinent zerfällt, ganz und gar. Am Magdalenenfluß findet man die vielen Moskiten läſtig, aber ſie gelten für ſehr geſund. „Dieſe Tiere,“ ſagen die Leute, „machen uns kleine Aderläſſe und ſchützen uns in einem ſo furchtbar heißen Land vor dem Tabardillo, dem Scharlachfieber, und anderen entzündlichen Krankheiten.“ Am Orinoko, deſſen Ufer höchſt ungeſund ſind, ſchreiben die Kranken alle ihre Leiden den Moskiten zu. „Dieſe Inſekten entſtehen aus der Fäulnis und vermehren ſie; ſie entzünden das Blut (vieian y incienden el sangre).“ Der Volksglaube, als wirkten die Moskiten durch örtliche Blutentziehung heilſam, braucht hier nicht widerlegt zu werden. Sogar in Europa wiſſen die Bewohner ſumpfiger Länder gar wohl, daß die Inſekten das Hautſyſtem reizen und durch das Gift, das ſie in die Wunden bringen, die Funktionen desſelben ſteigern. ı Diefe Gefräßigkeit, dieſe Blutgier bei kleinen Inſekten, die ſonſt von Pflanzenſäften in einem faſt unbewohnten Lande leben, hat allerdings etwas Auffallendes. „Was fräßen die Tiere, wenn wir nicht hier vorüberkämen?“ ſagen oft die Kreolen auf dem Wege durch ein Land, wo es nur mit einem Schuppenpanzer be— deckte Krokodile und behaarte Affen gibt. — 156 — Durch die Stiche wird der entzündliche Zuſtand der Haut: bedeckung nicht nur nicht vermindert, ſondern geſteigert. Die Menge der Schnaken und Mücken deutet nur inſo— fern auf die Ungeſundheit einer Gegend hin, als Entwicke— lung und Vermehrung dieſer Inſekten von denſelben Urſachen abhängen, aus denen Miasmen entſtehen. Dieſe läſtigen Tiere lieben einen fruchtbaren, mit Pflanzen bewachſenen Boden, ſtehendes Waſſer, eine feuchte, niemals vom Winde bewegte Luft; ſtatt freier Gegend ſuchen ſie den Schatten auf, das Halbdunkel, den mitteren Grad von Licht, Wärmeſtoff und Feuchtigkeit, der dem Spiel chemiſcher Affinitäten Vor— ſchub leiſtet und damit die Fäulnis organiſcher Subſtanzen beſchleunigt. Tragen die Moskiten an ſich zur Ungeſundheit der Luft bei? Bedenkt man, das bis auf 5 bis 8 m vom Boden im Kubikfuß Luft häufig eine Million geflügelter Inſekten! enthalten iſt, die eine ätzende, giftige Flüſſigkeit bei ſich führen; daß mehrere Culexarten vom Kopf bis zum Ende des Bruſtſtücks (die Füße ungerechnet) an 4 mm lang ſind; endlich daß in dem Schnaken- und Mückenſchwarm, der wie ein Rauch die Luft erfüllt, ſich eine Menge toter Inſekten befinden, die durch den aufſteigenden Luftſtrom oder durch ſeitliche, durch die ungleiche Erwärmung des Bodens erzeugte "Ströme fortgeriſſen werden, jo fragt man ſich, ob eine ſolche Anhäufung von tieriſchen Stoffen in der Luft nicht zur ört— lichen Bildung von Miasmen Anlaß geben muß? Ich glaube, dieſe Subſtanzen wirken anders auf die Luft als Sand und Staub; man wird aber gut thun, in dieſer Beziehung keine Behauptung aufzuſtellen. Von den vielen Rätſeln, welche das Ungeſundſein der Luft uns aufgibt, hat die Chemie noch keines gelöſt; ſie hat uns nur ſo viel gelehrt, daß wir gar vieles nicht wiſſen, was wir vor 15 Jahren dank den ſinnreichen Träumen der alten Eudiometrie zu wiſſen meinten. Nicht ſo ungewiß und faſt durch tägliche Erfahrungen beſtätigt iſt der Umſtand, daß am Orinoko, am Caſſiquiare, am Rio Caura, überall, wo die Luft ſehr ungeſund iſt, der Stich der Moskiten die Dispoſition der Organe zur Aufnahme der Miasmen ſteigert. Wenn man monatelang Tag und Nacht von den Inſekten gepeinigt wird, ſo erzeugt der be— ſtändige Hautreiz fieberhafte Aufregung und ſchwächt, infolge Bei dieſer Gelegenheit ſoll nur daran erinnert werden, daß der Kubikfuß 2985 984 Kubiklinien enthält. — 157 — des ſchon frühe erkannten Antagonismus zwiſchen dem gaſtri— ſchen und dem Hautſyſtem, die Verrichtung des Magens. Man fängt an ſchwer zu verdauen, die Entzündung der Haut veranlaßt profuſe Schweiße, den 2 Durſt kann man nicht löſchen, und auf die beſtändig zunehmende Unruhe folgt bei Perſonen von ſchwacher Konſtitution eine geiſtige Niedergeſchlagenheit, in der alle pathogeniſchen Urſachen ſehr heftig einwirken. Gegenwärtig ſind es nicht mehr die Gefahren der Schiffahrt in kleinen Kanoen, nicht d die wilden Indianer oder die Schlangen, die Krokodile oder die J Jaguare, was den Spaniern die Reiſe auf dem Orinoko bedenklich macht, ſondern nur, wie ſie naiv ſich ausdrücken, „el sudar y las moscas“ (der Schweiß und die Mücken). Es iſt zu hoffen, daß der Menſch, indem er die Bodenfläche umgeſtaltet, damit auch die Beſchaffenheit der Luft allmählich umändert. Die Inſekten werden ſich ver- mindern, wenn einmal die alten Bäume im Walde verſchwun— den find und man in dieſen öden Ländern die Stromufer mit Dörfern beſetzt, die Ebenen mit Weiden und Fruchtfeldern bedeckt ſieht. Wer lange in von Moskiten heimgeſuchten Ländern ge: lebt hat, wird gleich uns die Erfahrung gemacht haben, daß es gegen die Inſektenplage kein Radikalmittel gibt. Die mit Onoto, Bolus oder Schildkrötenfett beſchmierten Indianer klatſchten ſich jeden Augenblick mit der flachen Hand auf Schultern, Rücken und Beine, ungefähr wie wenn ſie gar nicht bemalt wären. Es iſt überhaupt zweifelhaft, ob das Bemalen Erleichterung verſchafft; ſo viel iſt aber gewiß, daß es nicht ſchützt. Die Europäer, die eben erſt an den Ori— noko, den Magdalenenſtrom, den Guayaquil oder den Rio Chagre kommen (ich nenne hier die vier Flüſſe, wo die In— ſekten am furchtbarſten ſind), bedecken ſich zuerſt Geſicht und Hände; bald aber fühlen ſie eine unerträgliche Hitze, die Lange— weile, da ſie gar nichts thun können, drückt ſie nieder, und am Ende laſſen ſie Geſicht und Hände frei. Wer bei der Flußſchiffahrt auf jede Beſchäftigung verzichten wollte, könnte aus Europa eine eigens verfertigte, ſackförmige Kleidung mit⸗ bringen, in die er ſich ſteckte und die er nur alle halbe Stunden aufmachte; der Sack müßte durch Fiſchbeinreife ausgeſpannt ſein, denn eine bloße Maske und Handſchuhe wären nicht zu ertragen. Da wir am Boden auf Häuten oder in Hänge: matten lagen, hätten wir uns auf dem Orinoko der Fliegen⸗ netze (toldos) nicht bedienen können. Der Toldo leiſtet nur — 158 — dann gute Dienſte, wenn er um das Lager ein ſo gut ge⸗ ſchloſſenes Zelt bildet, daß auch nicht die kleinſte Oeffnung bleibt, durch die eine Schnake ſchlüpfen könnte. Dieſe Be— dingung iſt aber ſchwer zu erfüllen, und gelingt es auch (wie zum Beiſpiel bei der Bergfahrt auf dem Magdalenenſtrom, wo man mit einiger Bequemlichkeit reiſt), jo muß man, um nicht vor Hitze zu erſticken, den Toldo verlaffen und fich in freier Luft ergehen. Ein ſchwacher Wind, Rauch, ſtarke Ge— rüche helfen an Orten, wo die Inſekten ſehr zahlreich und gierig ſind, ſo gut wie nichts. Fälſchlich behauptet man, die Tierchen fliehen vor dem eigentümlichen Geruch, den das Krokodil verbreitet. In Bataillez auf dem Wege von Car— tagena nach Honda wurden wir jämmerlich zerſtochen, wäh— rend wir ein 3,5 m langes Krokodil zerlegten, das die Luft weit umher verpeſtete. Die Indianer loben ſehr den Dunſt von brennendem Kuhmiſt. Iſt der Wind ſehr ſtark und regnet es dabei, ſo verſchwinden die Moskiten auf eine Weile; am grauſamſten ſtechen ſie, wenn ein Gewitter im Anzug iſt, beſonders wenn auf die elektriſchen Entladungen keine Regen— güſſe folgen. Alles, was um Kopf und Hände flattert, hilft die In⸗ ſekten verſcheuchen. „Je mehr ihr euch rührt, deſto weniger werdet ihr geſtochen,“ ſagen die Miſſionäre. Der Zancudo ſummt lange umher, ehe er ſich niederſetzt; hat er dann ein— mal Vertrauen gefaßt, hat er einmal angefangen, ſeinen Saug— rüſſel einzubohren und ſich voll zu ſaugen, ſo kann man ihm die Flügel berühren, ohne daß er ſich verſcheuchen läßt. Er ſtreckt währenddeſſen ſeine beiden Hinterfüße in die Luft, und läßt man ihn ungeſtört ſich ſatt ſaugen, ſo bekommt man keine Geſchwulſt, empfindet keinen Schmerz. Wir haben dieſen Verſuch im Thale des Magdalenenſtroms nach dem Rate der Indianer oft an uns ſelbſt gemacht. Man fragt ſich, ob das Inſekt die reizende Flüſſigkeit erſt im Augenblick ergießt, wo es wegfliegt, wenn man es verjagt, oder ob es die Flüſſigkeit wieder auſpumpt, wenn man es ſaugen läßt, ſo viel es will? Letztere Annahme ſcheint mir die wahrſchein— lichere; denn hält man dem Culex cyanopterus ruhig den Handrücken hin, ſo iſt der Schmerz anfangs ſehr heftig, nimmt aber immer mehr ab, je mehr das Inſekt fortſaugt, und hört ganz auf im Moment, wo es von ſelbſt fortfliegt. Ich habe mich auch mit einer Nadel in die Haut geſtochen und die Stiche mit zerdrückten Moskiten (mosquitos machucados) — 159 — gerieben, es folgte aber keine Geſchwulſt darauf. Die reizende Flüſſigkeit der Diptera Nemocera, die nach den bisherigen chemiſchen Unterſuchungen ſich nicht wie eine Säure verhält, iſt, wie bei den Ameiſen und anderen Hymenopteren, in eigenen Drüſen enthalten; dieſelbe iſt wahrſcheinlich zu ſehr verdünnt und damit zu ſchwach, wenn man die Haut mit dem ganzen zerdrückten Tiere reibt. Ich habe am Ende dieſes Kapitels alles zuſammen— geſtellt, was wir auf unſeren Reiſen über Erſcheinungen in Erfahrung bringen konnten, die bisher von der Naturforſchung auffallend vernachläſſigt wurden, obgleich ſie auf das Wohl der Bevölkerung, die Geſundheit der Länder und die Grün— dung neuer Kolonieen an den Strömen des tropiſchen Amerika von bedeutendem Einfluß ſind. Ich bedarf wohl keiner Recht— fertigung, daß ich dieſen Gegenſtand mit einer Umſtändlichkeit behandelt habe, die kleinlich erſcheinen könnte, fiele nicht der— ſelbe unter einen allgemeineren phyſiologiſchen Geſichtspunkt. Unſere Einbildungskraft wird nur vom Großen ſtark angeregt, und ſo iſt es Sache der Naturphiloſophie, beim Kleinen zu verweilen. Wir haben geſehen, wie geflügelte, geſellig lebende Inſekten, die in ihrem Saugrüſſel eine die Haut reizende Flüſſigkeit bergen, große Länder faſt unbewohnbar machen. Andere, gleichfalls kleine Inſekten, die Termiten (Comejen), ſetzen in mehreren heißen und gemäßigten Ländern des tro— piſchen Erdſtriches der Entwickelung der Kultur ſchwer zu be— ſiegende Hinderniſſe entgegen. Furchtbar raſch verzehren ſie Papier, Pappe, Pergament; ſie zerſtören Archive und Biblio— theken. In ganzen Provinzen von Spaniſch-Amerika gibt es keine geſchriebene Urkunde, die hundert Jahre alt wäre. Wie ſoll ſich die Kultur bei den Völkern entwickeln, wenn nicht Gegenwart und Vergangenheit verknüpft, wenn man die Niederlagen menſchlicher Kenntniſſe öfters erneuern muß, wenn die geiſtige Errungenſchaft der Nachwelt nicht überliefert wer— den kann? Je weiter man gegen die Hochebene der Anden hinauf— kommt, deſto mehr ſchwindet dieſe Plage. Dort atmet der Menſch eine friſche, reine Luft, und die Inſekten ſtören nicht mehr Tagesarbeit und Nachtruhe. Dort kann man Urkunden in Archiven niederlegen ohne Furcht vor gefährlichen Ter— miten. In 390 m Meereshöhe fürchtet man die Mücken nicht mehr; die Termiten ſind in 580 m Höhe ſehr häufig, aber in Mexiko, Santa Fe de Bogota und Quito kommen fie ſelten — 160 — vor. In dieſen großen Hauptſtädten auf dem Rücken der Kordilleren findet man Bibliotheken und Archive, die ſich durch die Teilnahme gebildeter Bewohner täglich vermehren. Zu dieſen Verhältniſſen, die ich hier nur flüchtig berühre, kommen andere, welche der Alpenregion das moraliſche Uebergewicht über die niederen Regionen des heißen Erdſtrichs ſichern. Nimmt man nach den uralten Ueberlieferungen in beiden Welten an, infolge der Erdumwälzungen, die der Erneuerung unſeres Geſchlechts vorangegangen, ſei der Menſch von den Gebirgen in die Niederungen herabgeſtiegen, ſo läßt ſich noch weit beſtimmter annehmen, daß dieſe Berge, die Wiege ſo vieler und fo verſchiedener Völker, in der heißen Zone für alle Zeit der Mittelpunkt der Geſittung bleiben werden. Von dieſen fruchtbaren, gemäßigten Hochebenen, von dieſen Inſeln im Ozean der Luft, werden ſich Aufklärung und der Segen geſellſchaftlicher Einrichtungen über die unermeßlichen Wälder am Fuße der Anden verbreiten, die jetzt noch von Stämmen bewohnt ſind, welche eben die Fülle der Natur in Trägheit niedergehalten hat. Einundzwanzigſtes Kapitel. Der Raudal von Garcita. — Maypures. — Die Katarakte von Quituna. — Der Einfluß des Vichada und Zama. — Der Fels Aricagua. — Siquita. Unſere Piroge lag im Puerto de Arriba, oberhalb des Katarakts von Atures, dem Einfluß des Rio Cataniapo gegenüber; wir brachen dahin auf. Auf dem ſchmalen Wege, der zum . führt, ſahen wir den Pik Uniana zum letztenmal. Er erſchien wie eine über dem Horizont der Ebenen aufſteigende Wolke. Die Guahibosindianer ziehen am Fuße dieſer Gebirge umher und gehen bis zum Rio Vichada. Man zeigte uns von weitem rechts vom Fluſſe die Felſen bei der Höhle von Ataruipe; wir hatten aber nicht Zeit, dieſe Grabſtätte des ausgeſtorbenen Stammes der Atures zu beſuchen. Wir bedauerten dies um ſo mehr, da Pater Zea nicht müde wurde, uns von den mit Onoto bemalten Skeletten in der Höhle, von den großen Gefäßen aus ge— brannter Erde, in welchen je die Gebeine einer Familie zu liegen ſcheinen, und von vielen anderen merkwürdigen Dingen zu erzählen, ſo daß wir uns vornahmen, dieſelben auf der Rückreiſe vom Rio Negro, in Augenſchein zu nehmen. „Sie werden es kaum glauben,“ ſagte der Miſſionär, „daß dieſe Gerippe, dieſe bemalten Töpfe, dieſe Dinge, von denen wir meinten, kein Menſch in der Welt wiſſe davon, mir und meinem Nachbar, dem Miſſionär von Carichana, Unglück gebracht haben. Sie haben geſehen, wie elend ich in den Raudales lebe, von den Moskiten gefreſſen, oft nicht einmal Bananen und Maniok im Hauſe! Und dennoch habe ich Neider in dieſem Lande gefunden. Ein Weißer, der auf den Weiden zwiſchen dem Meta und dem Apure lebt, hat kürzlich der Audiencia in Caracas die Anzeige gemacht, ich habe einen Schatz, den ich mit dem Miſſionär von Carichana gefunden, A. v. Humboldt, Reiſe. III. e 1 unter den Gräbern der Indianer verſteckt. Man behauptet, die Jeſuiten in Santa Fe de Bogota haben zum voraus ge— wußt, daß die Geſellſchaft werde aufgehoben werden; da haben ſie ihr Geld und ihre koſtbaren Gefäße beiſeite ſchaffen wollen und dieſelben auf dem Rio Meta oder auf dem Vichada an den Orinoko geſchickt, mit dem Befehl, ſie auf den Inſeln mitten in den Raudales zu verſtecken. Dieſen Schatz nun ſoll ich ohne Wiſſen meiner Oberen mir zugeeignet haben. Die Audiencia von Caracas führte beim Statthalter von Guyana Klage, und wir erhielten Befehl, perſönlich zu erſcheinen. Wir mußten ganz umſonſt eine Reiſe von 675 km machen, und es half nichts, daß wir erklärten, wir haben in den Höhlen nichts gefunden als Menſchengebeine, Marder und vertrocknete Fleder— mäuſe; man ernannte mit großer Wichtigkeit Kommiſſäre, die ſich hierher begeben und an Ort und Stelle inſpizieren ſollen, was noch vom Schatze der Jeſuiten vorhanden ſei. Aber wir können lange auf die Kommiſſäre warten. Wenn ſie auf dem Orinoko bis San Borja heraufkommen, werden ſie vor den Moskiten Angſt bekommen und nicht weiter gehen. In der Mückenwolke (nube de moscas), in der wir in den Raudales ſtecken, iſt man gut geborgen.“ Dieſe Geſchichte des Miſſionärs wurde uns ſpäter in Angoſtura aus dem Munde des Statthalters vollkommen be— ſtätigt. Zufällige Umſtände geben zu den ſeltſamſten Ver: mutungen Anlaß. In den Höhlen, wo die Mumien und Skelette der Atures liegen, ja mitten in den Katarakten, auf den unzugänglichſten Inſeln fanden die Indianer vor langer Zeit eiſenbeſchlagene Kiſten mit verſchiedenen europäiſchen Werkzeugen, Reſten von Kleidungsſtücken, Roſenkränzen und Glaswaren. Man vermutete, die Gegenſtände haben portu— gieſiſchen Handelsleuten vom Rio Negro und Gran-Para an⸗ gehört, die vor der Niederlaſſung der Jeſuiten am Orinoko über Trageplätze und die Flußverbindungen im Inneren nach Atures heraufkamen und mit den Eingeborenen Handel trieben. Die Portugieſen, glaubte man, ſeien den N die in den Raudales jo häufig find, erlegen und ihre Kiſten den In— dianern in die Hände gefallen, die, wenn ſie wohlhabend ſind, ſich mit dem Koſtbarſten, was ſie im Leben beſaßen, beerdigen laſſen. Nach dieſen zweifelhaften Geſchichten wurde das Märchen von einem verſteckten Schatze geſchmiedet. Wie in den Anden von Quito jedes in Trümmern liegende Bauwerk, ſogar die Grundmauern der Pyramiden, welche die franzöſiſchen Aka— — 163 — demiker bei der Meſſung des Meridians errichtet, für ein Inca pilca, das heißt für ein Werk des Inka gilt, fo kann am Orinoko jeder verborgene Schatz nur einem Orden gehört haben, der ohne Zweifel die Miſſionen beſſer verwaltet hat, als Kapuziner und Obſervanten, deſſen Reichtum und deſſen Verdienſte um die Civiliſation der Indianer aber ſehr über— trieben worden ſind. Als die Jeſuiten in Santa Fe ver- haftet wurden, fand man bei ihnen keineswegs die Haufen von Piaſtern, die Smaragde von Muzo, die Goldbarren von Choco, die ſie den Widerſachern der Geſellſchaft zufolge be— ſitzen ſollten. Man zog daraus den falſchen Schluß, die Schätze ſeien allerdings vorhanden geweſen, aber treuen In— dianern überantwortet und in den Katarakten des Orinoko bis zur einſtigen Wiederherſtellung des Ordens verſteckt worden. Ich kann ein achtbares Zeugnis beibringen, aus dem un— zweifelhaft hervorgeht, daß der Vizekönig von Neugranada die Jeſuiten vor der ihnen drohenden Gefahr nicht gewarnt hatte. Don Vincente Orosco, ein ſpaniſcher Genieoffizier, erzählte mir in Angoſtura, er habe mit Don Manuel Cen— turion den Auftrag gehabt, die Miſſionäre in Carichana zu verhaften, und dabei ſei ihnen eine indianiſche Piroge be— gegnet, die den Rio Meta herabkam. Da dieſes Fahrzeug mit Indianern bemannt war, die keine der Landesſprachen verſtanden, ſo erregte ſein Erſcheinen Verdacht. Nach langem fruchtloſen Suchen fand man eine Flaſche mit einem Briefe, in dem der in Santa Fc reſidierende Superior der Geſell— ſchaft die Miſſionäre am Orinoko von den Verfolgungen be— nachrichtigte, welche die Jeſuiten in Neugranada zu erleiden gehabt. Der Brief forderte zu keinerlei Vorſichtsmaßregeln auf; er war kurz, unzweideutig und voll Reſpekt vor der Re— gierung, deren Befehle mit unnötiger, unvernünftiger Strenge vollzogen wurden. Acht Indianer von Atures hatten unſere Piroge durch die Raudales geſchafft; ſie ſchienen mit dem mäßigen Lohne, der ihnen gereicht wurde, gar wohl zufrieden. Das Geſchäft bringt ihnen wenig ein, und um einen richtigen Begriff von den jämmerlichen Zuſtänden und dem Daniederliegen des Handels in den Miſſionen am Orinoko zu geben, merke ich hier an, daß der Miſſionär in drei Jahren, außer den Fahr: zeugen, welche der Kommandant von San Carlos am Rio Kaum 30 Sous der Mann. — 164 — Negro jährlich nach Angoſtura ſchickt, um die Löhnung der Truppen zu holen, nicht mehr als fünf Pirogen vom oberen Orinoko, die zur Schildkröteneierernte fuhren, und acht mit Handelsgut beladene Kanoen ſah. Am 17. April. Nach dreiſtündigem Marſche kamen wir gegen 11 Uhr morgens bei unſerem Fahrzeuge an. Pater Zea ließ mit unſeren Inſtrumenten den wenigen Mundvorrat einſchiffen, den man für die Reiſe, die er mit uns fortſetzen ſollte, hatte auftreiben können: ein paar Bananenbüſchel, Maniok und Hühner. Dicht am Landungsplatze fuhren wir am Einfluſſe des Cataniapo vorbei, eines kleinen Fluſſes, an deſſen Ufern, drei Tagereiſen weit, die Macos oder Piaroas hauſen, die zur großen Familie der Salivas⸗Völker gehören. Wir haben oben Gelegenheit gehabt, ihre Gutmütigkeit und ihre Neigung zur Landwirtſchaft zu rühmen. Im Weiterfahren fanden wir den Orinoko frei von Klippen, und nach einigen Stunden gingen wir über den Raudal von Garcita, deſſen Stromſchnellen bei Hochwaſſer leicht zu über— winden find. Im Oſten kommt die kleine Bergkette Cuma— daminari zum Vorſchein, die aus Gneis, nicht aus geſchich— tetem Granit beſteht. Auffallend war uns eine Reihe großer Löcher mehr als 58 m über dem jetzigen Spiegel des Orinoko, die dennoch vom Waſſer ausgewaſchen ſcheinen. Wir werden ſpäter ſehen, daß dieſe Erſcheinung beinahe in derſelben Höhe an den Felſen neben den Katarakten von Mappures und 225 km gegen Oſt beim Einfluſſe des Rio Jao vorkommt. Wir übernachteten im Freien am linken Stromufer unterhalb der Inſel Tomo. Die Nacht war ſchön und hell, aber die Moskitoſchicht nahe am Boden ſo dick, daß ich mit dem Nivellement des künſtlichen Horizontes nicht fertig werden konnte und um die Sternbeobachtung kam. Ein Queckſilber— et wäre mir auf dieſer Reiſe von großem Nutzen ge: weſen. Am 18. April. Wir brachen um 3 Uhr morgens auf, um deſto ſicherer vor Einbruch der Nacht den unter dem Namen Raudal de Guahibos bekannten Katarakt zu erreichen. Wir legten am Einfluſſe des Rio Tomo an; die Indianer lagerten ſich am Ufer, um ihr Eſſen zu bereiten und ein wenig zu ruhen. Es war gegen 5 Uhr abends, als wir vor dem Raudal ankamen. Es war keine geringe Aufgabe, die Strömun hinaufzukommen und eine Waſſermaſſe zu überwinden, die ſich von einer mehrere Fuß hohen Gneisbank ſtürzt. Ein Indianer — 165 — ſchwamm auf den Fels zu, der den Fall in zwei Hälften teilt; man band ein Seil an die Spitze desſelben, und nachdem man die Piroge nahe genug hingezogen, ſchiffte man mitten im Raudal unſere Inſtrumente, unſere getrockneten Pflanzen und die wenigen Lebensmittel, die wir in Atures hatten auf— treiben können, aus. Zu unſerer Ueberraſchung ſahen wir, daß auf dem natürlichen Wehre, über das ſich der Strom ſtürzt, ein beträchtliches Stück Boden trocken liegt. Hier blieben wir ſtehen und ſahen unſere Pirogue heraufſchaffen. Der Gneisfels hat kreisrunde Löcher, von denen die größten 1,3 m tief und 48 em weit ſind. In dieſen Trichtern liegen Quarzkieſel und ſie ſcheinen durch die Reibung vom Waſſer umhergerollter Körper entſtanden zu ſein. Unſer Stand— punkt mitten im Katarakt war ſonderbar, aber durchaus nicht gefährlich. Unſer Begleiter, der Miſſionär, bekam ſeinen Fieberanfall. Um ihm den quälenden Durſt zu löſchen, kamen wir auf den Einfall, ihm in einem der Felslöcher einen küh— lenden Trank zu bereiten. Wir hatten von Atures einen Mapire (indianiſchen Korb) mit Zucker, Citronen und Gre— nadillen oder Früchten der Paſſionsblumen, von den Spaniern Parchas genannt, mitgenommen. Da wir gar kein großes Gefäß hatten, in dem man Flüſſigkeiten miſchen konnte, ſo goß man mit einer Tutuma (Frucht der Crescentia Cujete) Flußwaſſer in eines der Löcher und that den Zucker und den Saft der ſauren Früchte dazu. In wenigen Augenblicken hatten wir ein treffliches Getränke; es war das faſt eine Schwelgerei am unwirtbaren Ort; aber der Drang des Be— dürfniſſes machte uns von Tag zu Tag erfinderiſcher. Nachdem wir unſeren Durſt gelöſcht, hatten wir große Luſt zu baden. Wir unterſuchten genau den ſchmalen Fels— damm, auf dem wir ſtanden, und bemerkten, daß er in ſeinem oberen Teile kleine Buchten bildete, in denen das Waſſer ruhig und klar war, und ſo badeten wir denn ganz behaglich beim Getöſe des Katarakts und dem Geſchrei unſerer Indianer. Ich erwähne dieſer kleinen Umſtände, einmal weil ſie unſere Art zu reiſen lebendig ſchildern, und dann weil ſie allen, die große Reiſen zu unternehmen gedenken, augenſcheinlich zeigen, wie man unter allen Umſtänden im Leben ſich Genuß verſchaffen kann. Nach einer Stunde Harrens ſahen wir endlich die Piroge über den Raudal heraufkommen. Man lud die Inſtrumente und Vorräte wieder ein und wir eilten, vom Felſen der — 166 — Guahibos wegzukommen. Es begann jetzt eine Fahrt, die nicht ganz gefahrlos war. Der Fluß iſt 1560 m breit, und wir mußten oberhalb des Katarakts ſchief darüber fahren, an einem Punkte, wo das Waſſer, weil das Bett ſtärker fällt, dem Wehre zu, über das es ſich ſtürzt, mit großer Gewalt hinunter⸗ zieht. Wir wurden von einem Gewitter überraſcht, bei dem zum Glück kein ſtarker Wind ging, aber der Regen goß in Strömen nieder. Man ruderte bereits ſeit zwanzig Minuten und der Steuermann behauptete immer, ſtatt ſtroman kommen wir wieder dem Raudal näher. Dieſe Augenblicke der Span— nung kamen uns gewaltig lang vor. Die Indianer ſprachen nur leiſe, wie immer, wenn ſie in einer verfänglichen Lage zu ſein glauben. Indeſſen verdoppelten ſie ihre Anſtrengungen, und wir langten ohne Unfall mit Einbruch der Nacht im Hafen von Maypures an. Die Gewitter unter den Tropen ſind ebenſo kurz als heftig. Zwei Blitzſchläge waren ganz nahe an unſerer Piroge gefallen, und der Blitz hatte dabei unzweifelhaft ins Waſſer geſchlagen. Ich führe dieſen Fall an, weil man in dieſen Ländern ziemlich allgemein glaubt, die Wolken, die auf ihrer Oberfläche elektriſch geladen ſind, ſtehen ſo hoch, daß der Blitz ſeltener in den Boden ſchlage als in Europa. Die Nacht war ſehr finſter. Wir hatten noch zwei Stunden Wegs zum Dorfe Maypures, und wir waren bis auf die Haut durch— näßt. Wie der Regen nachließ, kamen auch die Zancudos wieder mit dem Heißhunger, den die Schnaken nach einem Gewitter immer zeigen. Meine Gefährten waren unſchlüſſig, ob wir im Hafen im Freien lagern oder trotz der dunkeln Nacht unſern Weg zu Fuß fortſetzen ſollten. Pater Zea, der in beiden Raudales Miſſionär iſt, wollte durchaus noch nach Hauſe kommen. Er hatte angefangen, ſich durch die Indianer in der Miſſion ein großes Haus von zwei Stockwerten bauen zu laſſen. „Sie finden dort,“ meinte er naiv, „dieſelbe Be— quemlichkeit wie im Freien. Freilich habe ich weder Tiſch noch Bank, aber Sie hätten nicht ſo viel von den Mücken zu leiden; denn ſo unverſchämt ſind ſie in der Miſſion doch nicht wie am Fluß.“ Wir folgten dem Rat des Miſſionärs und er ließ Ko— palfackeln anzünden, von denen oben die Rede war, 6mm dicke, mit Harz gefüllte Röhren von Baumwurzeln. Wir gingen anfangs über kahle, glatte Felsbänke, und dann kamen wir in ſehr dichtes Palmgehölz. Zweimal mußten wir auf — 167 — Baumſtämmen über einen Bach gehen. Bereits waren die Fackeln erloſchen; dieſelben find wunderlich zuſammengeſetzt (der hölzerne Docht umgibt das Harz), geben mehr Rauch als Licht und gehen leicht aus. Unſer Gefährte, Don Nicolas Soto, verlor das Gleichgewicht, als er auf einem runden Stamme über den Sumpf ging. Wir waren anfangs ſehr beſorgt um ihn, da wir nicht wußten, wie hoch er hinunter— gefallen war. Zum Glück war der Grund nicht tief und er hatte ſich nicht verletzt. Der indianiſche Steuermann, der ſich ziemlich fertig auf ſpaniſch ausdrückte, ermangelte nicht, davon zu ſprechen, daß wir leicht von Ottern, Waſſerſchlangen und Tigern angegriffen werden könnten. Solches iſt eigentlich die obligate Unterhaltung, wenn man nachts mit den Eingeborenen unterwegs iſt. Die Indianer glauben, wenn ſie dem euro— päiſchen Reiſenden Angſt einjagen, ſich notwendiger zu machen und das Vertrauen des Fremden zu gewinnen. Der plumpſte Burſche in den Miſſionen iſt mit den Kniffen bekannt, wie ſie überall im Schwange ſind, wo Menſchen von ſehr verſchie— denem Stand und Bildungsgrad miteinander verkehren. Unter dem abſoluten und hie und da etwas quäleriſchen Regiment der Mönche ſucht er ſeine Lage durch die kleinen Kunſtgriffe zu verbeſſern, welche die Waffen der Kindheit und jeder phy— ſiſchen und geiſtigen Schwäche ſind. Da wir in der Miſſion San Joſe de Maypures in der Nacht ankamen, fiel uns der Anblick und die Verödung des Ortes doppelt auf. Die Indianer lagen im tiefſten Schlaf; man hörte nichts als das Geſchrei der Nachtvögel und das ferne Toſen des Katarakts. In der Stille der Nacht, in dieſer tiefen Ruhe der Natur hat das eintönige Brauſen eines Waſſerfalles etwas Niederſchlagendes, Drohendes. Wir blieben drei Tage in Maypures, einem kleinen Dorfe, das von Don Joſe Solano bei der Grenzexpedition gegründet wurde, und das noch maleriſcher, man kann wohl ſagen wundervoller liegt als Atures. Der Raudal von Maypures, von den Indianern Qui— tung genannt, entſteht, wie alle Waſſerfälle, durch den Wider— ſtand, den der Fluß findet, indem er ſich durch einen Fels— grat oder eine Bergkette Bahn bricht. Wer den Charakter des Ortes kennen lernen will, den verweiſe ich auf den Plan, den ich an Ort und Stelle aufgenommen, um dem General— gouverneur von Caracas den Beweis zu liefern, daß ſich der Raudal umgehen und die, Schiffahrt bedeutend erleichtern — 168 — ließe, wenn man zwiſchen zwei Nebenflüſſen des Orinoko, in einem Thale, das früher das Strombett geweſen zu ſein ſcheint, einen Kanal anlegte. Die hohen Berge Cunavami und Ca— litamini, zwiſchen den Quellen der Flüſſe Cataniapo und Ventuari, laufen gegen Weſt in eine Kette von Granithügeln aus. Von dieſer Kette kommen drei Flüßchen herab, die den Katarakt von Maypures gleichſam umfaſſen, nämlich am öſt— lichen Ufer der Sanariapo, am weſtlichen der Cameji und der Toparo. Dem Dorfe Maypures gegenüber ziehen ſich die Berge in einen Bogen zurück und bilden, wie eine felſige Küſte, eine nach Südweſt offene Bucht. Zwiſchen dem Ein— fluſſe des Toparo und dem des Sanariapo, am weſtlichen Ende dieſes großartigen Amphitheaters, iſt der Durchbruch des Stromes erfolgt. Gegenwärtig fließt der Orinoko am Fuße der öſtlichen Bergkette. Vom weſtlichen Landſtriche hat er ſich ganz weg— gezogen, und dort, in einem tiefen Grunde, erkennt man noch leicht das alte Ufer. Eine Grasflur, kaum 10 m über dem mittleren Waſſerſtande, breitet ſich von dieſem trockenen Grunde bis zu den Katarakten aus. Hier ſteht aus Palmſtämmen die kleine Kirche von Maypures und umher ſieben oder acht Hütten. Im trockenen Grunde, der in gerader Linie von Süd nach Nord läuft, vom Cameji zum Toparo, liegen eine Menge einzeln ſtehender Granithügel, ganz ähnlich denen, die als Inſeln und Klippen im jetzigen Strombett ſtehen. Dieſe ganz ähnliche Geſtaltung fiel mir auf, als ich die Felſen Keri und Oco im verlaſſenen Strombett weſtlich von Maypures mit den Inſeln Uvitari und Camanitamini verglich, die öſtlich von der Miſſion gleich alten Burgen mitten aus den Katarakten ragen. Der geologiſche Charakter der Gegend, das inſelhafte Anſehen auch der vom gegenwärtigen Stromufer entlegenſten Hügel, die Löcher, welche das Waſſer im Felſen Oco ausgeſpült zu haben ſcheint, und die genau im ſelben Niveau liegen (48 bis 58 m hoch) wie die Höhlungen an der Inſel Uvitari gegenüber — alle dieſe Umſtände zuſammen beweiſen, daß dieſe ganze, jetzt trockene Bucht ehemals unter Waſſer ſtand. Das Waſſer bildete hier wahrſcheinlich einen See, da es wegen des Dammes gegen Nord nicht abfließen konnte; als aber dieſer Damm durch— brochen wurde, erſchien die Grasflur um die Miſſion zuerſt als eine ganz niedrige, von zwei Armen desſelben Fluſſes umgebene Inſel. Man kann annehmen, der Orinoko habe noch eine Zeitlang den Grund ausgefüllt, den wir nach dem — 169 — Fels, der darin ſteht, den Keri-Grund nennen wollen; erſt als das Waſſer allmählich fiel, zog es ſich ganz gegen die öftliche Kette und ließ den weſtlichen Stromarm trocken liegen. Streifen, deren ſchwarze Farbe ohne Zweifel von Eiſen- und Manganoxyden herrührt, ſcheinen die Richtigkeit dieſer Anſicht zu beweiſen. Man findet dieſelben auf allem Geſtein, weit weg von der Miſſion, und ſie weiſen darauf hin, daß hier einſt das Waſſer geſtanden. Geht man den Fluß hinauf, ſo ladet man die Fahrzeuge am Einfluſſe des Toparo in den Orinoko aus und übergibt fie den Eingeborenen, die den Raudal ſo genau kennen, daß ſie für jede Staffel einen beſonderen Namen haben. Sie bringen die Kanoen bis zum Einfluſſe des Cameji, wo die Gefahr für überſtanden gilt. Der Katarakt von Quituna oder Maypures ſtellt ſich in den zwei Zeitpunkten, in denen ich denſelben beim Hinab— und beim Hinauffahren beobachten konnte, unter folgendem Bilde dar. Er beſteht, wie der von Mapara oder Atures, aus einem Archipel von Inſeln, die auf einer Strecke von 5,8 km das Strombett verſtopfen, und aus Felsdämmen zwiſchen dieſen Inſeln. Die berufenſten unter dieſen Dämmen oder natürlichen Wehren ſind: Purimarimi, Manimi und der Salto de la Sardina (der Sardellenſprung). Ich nenne ſie in der Ordnung, wie ich ſie von Süd nach Nord aufeinander folgen ſah. Die letztere dieſer drei Staffeln iſt gegen 3 m hoch und bildet, ihrer Breite wegen, einen pracht— vollen Fall. Aber, ich muß das wiederholen, das Getöſe, mit dem die Waſſer niederſtürzen, gegeneinander ſtoßen und zerſtäuben, hängt nicht ſowohl von der abſoluten Höhe jeder Staffel, jedes Querdammes ab, als vielmehr von der Menge der Strudel, von der Stellung der Inſeln und Klippen am Fuß der Raudalitos oder partiellen Fälle, von der größeren oder geringeren Weite der Kanäle, in denen das Fahrwaſſer oft nur 7 bis 10 m breit iſt. Die öſtliche Hälfte der Kata: rakte von Maypures iſt weit gefährlicher als die weſtliche, weshalb auch die indianiſchen Steuerleute die Kanoen vor: zugsweiſe am linken Ufer hinauf: und hinabſchaffen. Leider liegt bei niedrigem Waſſer dieſes Ufer zum Teil trocken, und dann muß man die Pirogen tragen, das heißt auf Walzen oder runden Baumſtämmen ſchleppen. Wir haben ſchon oben bemerkt, daß bei Hochwaſſer (aber nur dann) der Raudal von Maypures leichter zu paſſieren iſt als der von Atures. Um dieſe wilde Landſchaft in ihrer ganzen Großartigkeit — 170 — mit einem Blicke zu umfaſſen, muß man ſich auf den Hügel Manimi ſtellen, einen Granitgrat, der nördlich von der Miſ— ſionskirche aus der Savanne aufſteigt und nichts iſt als eine Fortſetzung der Staffeln, aus denen der Raudalito Manimi beſteht. Wir waren oft auf dieſem Berge, denn man ſieht ſich nicht ſatt an dieſem außerordentlichen Schauſpiel in einem der entlegentſten Erdwinkel. Hat man den Gipfel des Felſen erreicht, ſo liegt auf einmal, 4 bis 5 km weit, eine Schaum: fläche vor einem da, aus der ungeheure Steinmaſſen eifen- ſchwarz aufragen. Die einen ſind, je zwei und zwei bei⸗ ſammen, abgerundete Maſſen, Baſalthügeln ähnlich; andere gleichen Türmen, Kaſtellen, zerfallenen Gebäuden. Ihre düſtere Färbung hebt ſich ſcharf vom Silberglanze des Waſſerſchaums ab. Jeder Fels, jede Inſel iſt mit Gruppen kräftiger Bäume bewachſen. Vom Fuße dieſer Felſen an ſchwebt, ſo weit das Auge reicht, eine dichte Dunſtmaſſe über dem Strome, und über den weißlichen Nebel ſchießt der Wipfel der hohen Palmen empor. Dieſe großartigen Gewächſe — wie nennt man ſie? Ich glaube es iſt der Vadgiai, eine neue Art der Gattung Oreodoxa, deren Stamm über 25 m hoch iſt. Die einen Federbuſch bildenden Blätter dieſer Palme ſind ſehr glänzend und ſteigen faſt gerade himmelan. Zu jeder Tagesſtunde nimmt ſich die Schaumfläche wieder anders aus. Bald werfen die hohen Eilande und die Palmen ihre gewaltigen Schatten darüber, bald bricht ſich der Strahl der unter— gehenden Sonne in der feuchten Wolke, die den Katarakt einhüllt. Farbige Bogen bilden ſich, verſchwinden und er— ſcheinen wieder, und im Spiel der Lüfte ſchwebt ihr Bild über der Fläche. Solches iſt der Charakter der Landſchaft, wie ſie auf dem Hügel Manimi vor einem liegt, und die noch kein Reiſender beſchrieben hat. Ich wiederhole, was ich ſchon einmal ge— äußert: weder die Zeit noch der Anblick der Kordilleren und der Aufenthalt in den gemäßigten Thälern von Mexiko haben den tiefen Eindruck verwiſcht, den das Schauſpiel der Kata— vafte auf mich gemacht. Leſe ich eine Beſchreibung indischer Landſchaften, deren Hauptreize ſtrömende Waſſer und ein kräf— tiger Pflanzenwuchs ſind, ſo ſchwebt mir ein Schaummeer vor, und Palmen, deren Kronen über eine Dunſtſchicht empor— ragen. Es iſt mit den großartigen Naturſzenen wie mit dem Höchſten in Poeſie und Kunſt: ſie laſſen Erinnerungen zurück, die immer wieder wach werden und ſich unſer Leben lang in — 171 — unſere Empfindung miſchen, ſo oft etwas Großes und Schönes uns die Seele bewegt. Die Stille in der Luft und das Toben der Waſſer bilden einen Gegenſatz, wie er dieſem Himmelsſtriche eigentümlich iſt. Nie bewegt hier ein Windhauch das Laub der Bäume, nie trübt eine Wolke den Glanz des blauen Himmelsgewölbes; eine gewaltige Lichtmaſſe iſt durch die Luft verbreitet, über dem Boden, den Gewächſe mit glänzenden Blättern bedecken, über dem Strom, der ſich unabſehbar hinbreitet. Dieſer An— blick hat für den Reiſenden, der im Norden von Europa zu Hauſe iſt, etwas ganz Befremdendes. Stellt er ſich eine wilde Landſchaft vor, einen Strom, der von Fels zu Fels niederſtürzt, ſo denkt er ſich auch ein Klima dazu, in dem gar oft der Donner aus dem Gewölk mit dem Donner der Waſſerfälle ſich miſcht, wo am düſteren, nebeligen Tage die Wolken in das Thal herunterſteigen und in den Wipfeln der Tannen hängen. In den Niederungen der Feſtländer unter den Tropen hat die Landſchaft eine ganz eigene Phyſiognomie, eine Großartigkeit und eine Ruhe, die ſelbſt da ſich nicht verleugnet, wo eines der Elemente mit unüberwindlichen Hinderniſſen zu kämpfen hat. In der Nähe des Aequators kommen heftige Stürme und Ungewitter nur auf den Inſeln, in pflanzenloſen Wüſten, kurz überall da vor, wo die Luft auf Flächen mit ſehr abweichender Strahlung ruht. Der Hügel Manimi bildet die öſtliche Grenze einer Ebene, auf der man dieſelben für die Geſchichte der Vegetation, das heißt ihrer allmählichen Entwickelung auf nackten, kahlen Bodenſtrecken wichtigen Erſcheinungen beobachtet, wie wir ſie oben beim Raudal von Atures beſchrieben. In der Regenzeit ſchwemmt das Waſſer Dammerde auf dem Granitgeſtein zu— ſammen, deſſen kahle Bänke wagerecht daliegen. Dieſe mit den ſchönſten, wohlriechendſten Gewächſen geſchmückten Land— eilande gleichen den mit Blumen bedeckten Granitblöcken, welche die Alpenbewohner Jardins oder Courtils nennen, und die in Savoyen mitten aus den Gletſchern emporragen. Mitten in den Katarakten auf ziemlich ſchwer zugänglichen Klippen wächſt die Vanille. Bonpland hat ungemein gewürzreiche und außerordentlich lange Schoten gebrochen. An einem Platze, wo wir tags zuvor gebadet hatten, am Fuße des Felſen Manimi, ſchlugen die Indianer eine 2,4 m lange Schlange tot, die wir mit Muße unterſuchen konnten. Die Macos nannten ſie Camudu; der Rücken — 172 — hatte auf ſchön gelbem Grunde teils ſchwarze, teils braun⸗ grüne Querſtreifen, am Bauch waren die Streifen blau und bildeten rautenförmige Flecken. Es war ein ſchönes, nicht giftiges Tier, das, wie die Eingeborenen behaupten, über 5 m lang wird. Ich hielt den Camudu anfangs für eine Boa, ſah aber zu meiner Ueberraſchung, daß bei ihm die Platten unter dem Schwanze in zwei Reihen geteilt waren. Es war alſo eine Natter, vielleicht ein Python des neuen Kontinents; ich ſage vielleicht, denn große Naturforſcher (Cuvier) ſcheinen anzunehmen, daß alle Pythone der Alten, alle Boa der Neuen Welt angehören. Da die Boa des Plinius eine afrikaniſche und ſüdeuropäiſche Schlange war, jo hätte Daudin wohl die amerikaniſchen Boa Pythone und die indiſchen Pythone Boa nennen ſollen. Die erſte Kunde von einem ungeheu: ren Reptil, das Menſchen, ſogar große Vierfüßer packt, ſich um ſie ſchlingt und ihnen ſo die Knochen zerbricht, das Ziegen und Rehe verſchlingt, kam uns zuerſt aus Indien und von der Küſte von Guinea zu. So wenig an Namen gelegen iſt, ſo gewöhnt man ſich doch nur ſchwer daran, daß es in der Halbkugel, in der Virgil die Qualen Laokoons beſungen hat (die aſiatiſchen Griechen hatten die Sage weit ſüdlicheren Völkern entlehnt), keine Boa constrietor geben ſoll. Ich will die Verwirrung in der zoologiſchen Nomenklatur nicht durch neue Vorſchläge zur Abänderung vermehren, und be: merke nur, daß, wo nicht der große Haufen der Koloniſten in Guyana, doch die Miſſionäre und die latiniſierten Indianer in den Miſſionen ganz gut die Traga Venadas (Zauberſchlangen, echte Boa mit einfachen Afterſchuppen) von den Culebras de agua, den dem Camudu ähnlichen Waſſerottern (Pythone mit doppelten Afterſchuppen), unter⸗ ſcheiden. Die Traga Venadas haben auf dem Rücken keine Querſtreifen, ſondern eine Kette rautenförmiger oder ſechs— eckiger Flecken. Manche Arten leben vorzugsweiſe an ganz trockenen Orten, andere lieben das Waſſer, wie die Pythone oder Culebras de agua. Geht man nach Weſten, ſo ſieht man die runden Hügel oder Eilande im verlaſſenen Orinokoarm mit denſelben Palmen bewachſen, die auf den Felſen in den Katarakten ſtehen. Einer 1 War es Coluber Elaphis, oder Coluber Aesculapii, oder ein Python, ähnlich dem, der vom Heere des Regulus getötet worden? — 173 — dieſer Felſen, der ſogenannte Keri, iſt im Lande berühmt wegen eines weißen, weithin glänzenden Flecks, in dem die Eingeborenen ein Bild des Vollmondes ſehen wollen. Ich konnte die ſteile Felswand nicht erklimmen, wahrſcheinlich aber iſt der weiße Fleck ein mächtiger Quarzknoten, wie zuſammen— ſcharende Gänge ſie im Granit, der in Gneis übergeht, häufig bilden. Gegenüber dem Keri oder Mondfelſen, am Zwil— lingshügel Uvitari, der ein Eiland mitten in den Katarakten iſt, zeigen einem die Indianer mit geheimnisvoller Wichtigkeit einen ähnlichen weißen Fleck. Derſelbe iſt ſcheibenförmig, und ſie ſagen, es ſei das Bild der Sonne, Camoſi. Vielleicht hat die geographiſche Lage dieſer beiden Dinge Veranlaſſung ge— geben, ſie jo zu benennen; Keri liegt gegen Untergang, Camoſi gegen Aufgang. Da die Sprachen die älteften geſchichtlichen Denkmäler der Völker ſind, ſo haben die Sprachforſcher die Aehnlichkeit des amerikaniſchen Wortes Camoſi mit dem Worte Kamoſch, das in einem ſemitiſchen Dialekt urjprüng- lich Sonne bedeutet zu haben ſcheint, ſehr auffallend gefun— den. Dieſe Aehnlichkeit hat zu Hypotheſen Anlaß gegeben, die mir zum wenigſten ſehr gewagt ſcheinen.? Der Gott der Moabiter, Chamos oder Kamoſch, der den Gelehrten ſo viel zu ſchaffen gemacht hat, der Apollo Chomeus, von dem Strabo und Ammianus Marcellinus ſprechen, Beelphegor, Amun oder Hamon und Adonis bedeuten ohne Zweifel alle die Sonne im Winterſolſtitium; was will man aber aus einer einzelnen, zufälligen Lautähnlichkeit in Sprachen ſchließen, die ſonſt nichts miteinander gemein haben? Betrachtet man die Namen der von den ſpaniſchen Mönchen geſtifteten Miſſionen, ſo irrt man ſich leicht hin— ſichtlich der Bevölkerungselemente, mit denen ſie gegründet worden. Nach Encaramada und Atures brachten die Jeſuiten, als ſie dieſe Dörfer erbauten, Maypuresindianer, aber die Miſſion Maypures ſelbſt wurde nicht mit Indianern dieſes Namens gegründet, vielmehr mit Guipunabisindianern, die von den Ufern des Irimida ſtammen und nach der Sprach⸗ verwandtſchaft, ſamt den Maypures, Cabres, Avani und viel— leicht den Pareni, demſelben Zweig der Orinokovölker ange⸗ hören. Zur Zeit der Jeſuiten war die Miſſion am Raudal Im Jahre 1806 erſchien in Leipzig ein Buch unter dem Titel: „Unterſuchungen über die von Humboldt am Orinoko ent⸗ deckten Spuren der phöniziſchen Sprache“. — 174 — von Maypures ſehr anſehnlich; ſie zählte 6000 Einwohner, darunter mehrere weiße Familien. Unter der Verwaltung der Obſervanten iſt die Bevölkerung auf weniger als 60 herab⸗ geſunken. Man kann überhaupt annehmen, daß in dieſem Teile von Südamerika die Kultur ſeit einem halben Jahr⸗ hundert zurückgegangen iſt, während wir jenſeits der Wälder, in den Provinzen in der Nähe der See, Dörfer mit 2000 bis 3000 Indianern finden. Die Einwohner von Maypures find ein ſanftmütiges, mäßiges Volk, das ſich auch durch große Reinlichkeit auszeichnet. Die meiſten Wilden am Orinoko haben nicht den wüſten Hang zu geiſtigen Getränken, dem man in Nordamerika begegnet. Die Otomaken, Haruros, Achaguas und Kariben berauſchen ſich allerdings oft durch den übermäßigen Genuß der Chiza und ſo mancher anderen gegorenen Getränke, die ſie aus Maniok, Mais und zucker⸗ haltigen Palmfrüchten zu bereiten wiſſen; die Reiſenden haben aber, wie gewöhnlich, für allgemeine Sitte ausgegeben, was nur einzelnen Stämmen zukommt. Sehr oft konnten wir Guahibos oder Macos-Piaroas, die für uns arbeiteten und ſehr erſchöpft ſchienen, nicht vermögen, auch nur ein wenig Branntwein zu trinken. Die Europäer müſſen erſt länger in dieſen Ländern geſeſſen haben, ehe ſich die Laſter ausbreiten, die unter den Indianern an den Küſten bereits ſo gemein ſind. In Maypures fanden wir in den Hütten der Ein⸗ geborenen eine Ordnung und eine Reinlichkeit, wie man den— ſelben in den Häuſern der Miſſionäre ſelten begegnet. Sie bauen Bananen und Maniok, aber keinen Mais. 35 bis 40 kg Maniok in Kuchen oder dünnen Scheiben, das landesübliche Brot, koſten 6 Silberrealen, ungefähr 4 Franken. Wie die meiſten Indianer am Orinoko haben auch die in Maypures Getränke, die man nahrhafte nennen kann. Eines dieſer Getränke, das im Lande ſehr berühmt iſt, wird von einer Palme gewonnen, die in der Nähe der Miſſion, am Ufer des Auvana wild wächſt. Dieſer Baum iſt der Seje; ich habe an einer Blütentraube 44000 Blüten geſchätzt; der Früchte, die meiſt unreif abfallen, waren 8000. Es iſt eine kleine fleiſchige Steinfrucht. Man wirft ſie ein paar Minuten lang in kochendes Waſſer, damit ſich der Kern vom Fleiſche trennt, das zuckerſüß iſt, und ſofort in einem großen Gefäß mit Waſſer zerſtampft und zerrieben wird. Der kalte Aufguß gibt eine gelbliche Flüſſigkeit, die wie Mandelmilch ſchmeckt. Man ſetzt manchmal Papelon oder Rohzucker zu. Der — 175 — Miſſionär verſichert, die Eingeborenen werden in den zwei bis drei Monaten, wo ſie Sejeſaft trinken, ſichtlich fetter; ſie brocken Kaſſavekuchen hinein. Die Piaches, oder indianiſchen Gaukler, gehen in die Wälder und blaſen unter der Sejepalme auf dem Botuto (der heiligen Trompete). „Dadurch,“ ſagen ſie, „wird der Baum gezwungen, im folgenden Jahre reichen Ertrag zu geben.“ Das Volk bezahlt für dieſe Zeremonie, wie man bei den Mongolen, Mauren, und manchen Völkern noch näher bei uns, Schamanen, Marabutin und andere Arten von Prieſtern dafür bezahlt, daß ſie mit Zauberſprüchen oder Gebeten die weißen Ameiſen und die Heuſchrecken vertreiben, oder lang— anhaltendem Regen ein Ende machen und die Ordnung der Jahreszeiten verkehren. „Tengo en mi pueblo la fabrica de loza“ (ich habe in meinem Dorfe eine Steingutfabrik), ſprach Pater Zea und führte uns zu einer indianiſchen Familie, die beſchäftigt war, unter freiem Himmel an einem Feuer von Strauchwerk große, 75 em hohe Thongefäße zu brennen. Dieſes Gewerbe iſt den verſchiedenen Zweigen des großen Volksſtammes der Maypures eigentümlich und ſie ſcheinen dasſelbe ſeit unvordenklicher Zeit zu treiben. Ueberall in den Wäldern, weit von jedem menſch— lichen Wohnſitz, ſtößt man, wenn man den Boden aufgräbt, auf Scherben von Töpfen und bemaltem Steingut. Die Lieb— haberei für dieſe Arbeit ſcheint früher unter den Ureinwohnern Nord⸗ und Südamerikas gleich verbreitet geweſen zu ſein. Im Norden von Mexiko, am Rio Gila, in den Trümmern einer aztekiſchen Stadt, in den Vereinigten Staaten bei den Grabhügeln der Miami, in Florida und überall, wo ſich Spuren einer alten Kultur finden, birgt der Boden Scherben von bemalten Geſchirren. Und höchſt auffallend iſt die durch— gängige große Aehnlichkeit der Verzierungen. Die wilden und ſolche civiliſierten Völker, die durch ihre ſtaatlichen und reli— giöſen Einrichtungen dazu verurteilt ſind, immer nur ſelbſt zu kopieren,! treibt ein gewiſſer Inſtinkt, immer dieſelben Formen zu wiederholen, an einem eigentümlichen Typus oder Stil feſt— zuhalten, immer nach denſelben Handgriffen und Methoden zu arbeiten, wie ſchon die Vorfahren ſie gekannt. In Nord— Die Hindu, die Tibetaner, die Chineſen, die alten Aegypter, die Azteken, die Peruaner, bei denen der Trieb zur Maſſenkultur die freie Entwickelung der Geiſtesthätigkeit in den Individuen niederhielt. — 176 — amerika wurden Steingutſcherben an den Befeſtigungslinien und in den Ringwällen gefunden, die von einem unbekannten, gänzlich ausgeſtorbenen Volke herrühren. Die Malereien auf dieſen Scherben haben die auffallendſte Aehnlichkeit mit denen, welche die Eingeborenen von Louiſiana und Florida noch jetzt auf gebranntem Thon anbringen. So malten denn auch die Indianer in Maypures unter unſeren Augen Verzierungen, ganz wie wir ſie in der Höhle von Ataruipe auf den Ge— fäßen geſehen, in denen menſchliche Gebeine aufbewahrt ſind. Es ſind wahre „Grecques“, Mäanderlinien, Figuren von Krokodilen, von Affen und von einem großen vierfüßigen Tier, von dem ich nicht wußte, was es vorſtellen ſoll, das aber immer dieſelbe plumpe Geſtalt hat. Ich könnte bei dieſer Gelegenheit eines Kopfs mit einem Elefantenrüſſel gedenken, den ich im Muſeum zu Velletri auf einem alten mexikaniſchen Gemälde gefunden; ich könnte keck die Hypotheſe aufſtellen, das große vierſüßige Tier auf den Töpfen der Maypures ge⸗ höre einem anderen Lande an und der Typus desſelben habe ſich auf der großen Wanderung der amerikaniſchen Völker von Nordweſt nach Süd und Südoſt in der Erinnerung erhalten; wer wollte ſich aber bei ſo ſchwankenden, auf nichts ſich ſtützenden Vermutungen aufhalten? Ich möchte vielmehr glauben, die Indianer am Orinoko haben einen Tapir vorſtellen wollen, und die verzeichnete Figur eines einheimiſchen Tieres ſei einer der Typen geworden, die ſich forterben. Oft hat nur Un: geſchick und Zufall Figuren erzeugt, über deren Herkunft wir gar ernſthaft verhandeln, weil wir nicht anders glauben, als es liege ihnen eine Gedankenverbindung, eine abſichtliche Nach— ahmung zu Grunde. Am geſchickteſten führen die Maypures Verzierungen aus geraden, mannigfach kombinierten Linien aus, wie wir ſie auf den großgriechiſchen Vaſen, auf den mexikaniſchen Gebäuden in Mitla und auf den Werken ſo vieler Völker ſehen, die, ohne daß ſie miteinander in Verkehr geſtanden, eben gleiches Vergnügen daran finden, ſymmetriſch dieſelben Formen zu wiederholen. Die Arabesken, die Mäander vergnügen unſer Auge, weil die Elemente, aus denen die Bänder beſtehen, in rhythmiſcher Folge aneinander gereiht ſind. Das Auge ver— hält ſich zu dieſer Anordnung, zu dieſer periodiſchen Wieder⸗ kehr derſelben Formen wie das Ohr zur taktmäßigen Auf— einanderfolge von Tönen und Akkorden. Kann man aber in Abrede ziehen, daß beim Menſchen das Gefühl für den Rhythmus ſchon beim erſten Morgenrot der Kultur, in den roheſten Anfängen von Geſang und Poeſie zum Ausdruck kommt? Die Eingeborenen in Maypures (und beſonders die Weiber verfertigen das Geſchirr) reinigen den Thon durch wiederholtes Schlemmen, kneten ihn zu Cylindern und ar— beiten mit den Händen die größten Gefäße aus. Der ameri— kaniſche Indianer weiß nichts von der Töpferſcheibe, die ſich bei den Völkern des Orientes aus dem früheſten Altertum herſchreibt. Man kann ſich nicht wundern, daß die Miſſionäre die Eingeborenen am Orinoko nicht mit dieſem einfachen, nützlichen Werkzeug bekannt gemacht haben, wenn man be— denkt, daß es nach drei Jahrhunderten noch nicht zu den In— dianern auf der Halbinſel Araya, dem Hafen von Cumana gegenüber, gedrungen iſt. Die Farben der Maypures ſind Eiſen⸗ und Manganoxyde, beſonders gelber und roter Ocker, der in Höhlungen des Sandſteins vorkommt. Zuweilen wendet man das Satzmehl der Bignonia Chica an, nachdem das Geſchirr einem ganz ſchwachen Feuer ausgeſetzt worden. Man überzieht die Malerei mit einem Firnis von Algarobo, dem durchſichtigen Harz der Hymenaea Courbaril. Die großen Gefäße zur Aufbewahrung der Chiza heißen Ciamacu, die kleineren Mucra, woraus die Spanier an der Küſte Mur: cura gemacht haben. Uebrigens weiß man am Orinoko nicht allein von den Maypures, ſondern auch von den Guaypu— nabis, Kariben, Otomaken und ſelbſt von den Guamos, daß ſie Geſchirr mit Malereien verfertigen. Früher war dieſes Gewerbe bis zum Amazonenſtrom hin verbreitet. Schon Orellana fielen die gemalten Verzierungen auf dem Geſchirr der Omaguas auf, die zu ſeiner Zeit ein zahlreiches handel— treibendes Volk waren. Ehe ich von dieſen Spuren eines keimenden Gewerbfleißes bei Völkern, die wir ohne Unterſchied als Wilde bezeichnen, zu etwas anderem übergehe, mache ich noch eine Bemerkung, die über die Geſchichte der amerikaniſchen Civiliſation einiges Licht verbreiten kann. In den Vereinigten Staaten, oſtwärts von den Alleghanies, beſonders zwiſchen dem Ohio und den großen kanadiſchen Seen, findet man im Boden faſt überall bemalte Topfſcherben und daneben kupferne Werkzeuge. Dies erſcheint auffallend in einem Lande, wo die Eingeborenen bei der Ankunft der Europäer mit dem Gebrauch der Metalle unbekannt waren. In den Wäldern von Südamerika, die A. v. Humboldt, Reiſe. III. a 12 — 178 — ſich vom Aequator bis zum 8. Grad nördlicher Breite, das heißt vom Fuße der Anden bis zum Atlantiſchen Meer aus⸗ dehnen, findet man dasſelbe bemalte Töpfergeſchirr an den einſamſten Orten; aber es kommen damit nur künſtlich durch— bohrte Aexte aus Nephrit und anderem harten Stein vor. Niemals hat man dort im Boden Werkzeuge oder Schmuck— ſachen aus Metall gefunden, obgleich man in den Gebirgen an der Küſte und auf dem Rücken der Kordilleren Gold und Kupfer zu ſchmelzen und letzteres mit Zinn zur Verfertigung von ſchneidenden Werkzeugen zu legieren verſtand. Woher rührt dieſer ſcharfe Gegenſatz zwiſchen der gemäßigten und der heißen Zone? Die peruaniſchen Inka hatten ihre Eroberungen und Religionskriege bis an den Napo und den Amazonenſtrom ausgedehnt, und dort hatte ſich auch ihre Sprache auf einem beſchränkten Landſtrich verbreitet; aber niemals ſcheint die Kultur der Peruaner, der Bewohner von Quito und der Muyscas in Neugranada auf den moraliſchen Zuſtand der Völker von Guyana irgend einen merklichen Einfluß geäußert zu haben. Noch mehr: in Nordamerika, zwiſchen dem Ohio, dem Miami und den Seen, hat ein unbekanntes Volk, das die Syſtematiker von den Tolteken und Azteken abſtammen laſſen möchten, aus Erde, zuweilen ſogar aus Steinen! ohne Mörtel 3 bis 5 m hohe und 2,2 bis 2,6 km lange Mauern gebaut. Dieſe rätſelhaften Ringwälle und Ringmauern umſchließen oft gegen 150 Morgen Land. Bei den Niederungen am Orinoko, wie bei den Niederungen an der Marietta, am Miami und Ohio liegt der Mittelpunkt einer alten Kultur weſtwärts auf dem Rücken der Gebirge; aber der Orinoko und die Länder zwiſchen dieſem großen Fluß und dem Amazonenſtrom ſcheinen niemals von Völkern bewohnt geweſen zu ſein, deren Bauten dem Zahn der Zeit widerſtanden hätten. Sieht man dort auch ſymboliſche Figuren ins härteſte Felsgeſtein eingegraben, ſo hat man doch ſüdlich vom 8. Breitengrade bis jetzt nie weder einen Grabhügel, noch einen Ringwall, noch Erddämme gefunden, wie ſie weiter nordwärts auf den Ebenen von Ba: rinas und Canagua vorkommen. Solches iſt der Gegenſatz zwiſchen den öſtlichen Stücken der beiden Amerika, zwiſchen Aus kieſelhaltigem Kalkſtein in Pique am großen Miami, aus Sandſtein am Paint Creek 45 km von Chillicothe, wo die Mauer 2920 m lang iſt. — 179 — denen, die ſich von der Hochebene von Cundinamarca und den Gebirgen von Cayenne gegen das Atlantiſche Meer ausbreiten, und denen, die von den Anden von Neuſpanien gegen die Alleghanies hinſtreichen. In der Kultur vorgeſchrittene Völker, deren Spuren uns am Ufer des Sees Teguyo und in den Caſas grandes am Rio Gila entgegentreten, mochten einzelne Stämme gegen Oſt in die offenen Fluren am Miſſouri und Ohio vorſchieben, wo das Klima nicht viel anders iſt als in Neumexiko; aber in Südamerika, wo die große Völkerſtrö— mung von Nord nach Süd ging, konnten Menſchen, die ſchon ſo lange auf dem Rücken der tropiſchen Kordilleren einer milden Temperatur genoſſen, keine Luſt haben, in die glühend heißen, mit Urwald bedeckten, periodiſch von den Flüſſen über— ſchwemmten Ebenen niederzuſteigen. Man ſieht leicht, wie in der heißen Zone die Ueberfülle des Pflanzenwuchſes, die Be— ſchaffenheit von Boden und Klima die Wanderungen der Ein— geborenen in ſtarken Haufen beſchränkten, Niederlaſſungen, die eines weiten, freien Raumes bedürfen, nicht aufkommen ließen, das Elend und die Verſunkenheit der vereinzelten Horden verewigten. Heutzutage geht die ſchwache Kultur, wie die ſpaniſchen Mönche ſie eingeführt, wieder rückwärts. Pater Gili berichtet, zur Zeit der Grenzexpedition habe der Ackerkau am Orinoko angefangen Fortſchritte zu machen; das Vieh, beſonders die Ziegen hatten ſich in Maypures bedeutend vermehrt. Wir haben weder in dieſer Miſſion, noch ſonſt in einem Dorfe am Orinoko mehr welche angetroffen; die Tiger haben die Ziegen gefreſſen. Nur die ſchwarzen und weißen Schweine (letztere heißen franzöſiſche Schweine, puercos franceses, weil man glaubt, ſie ſeien von den Antillen gekommen) haben trotz der reißenden Tiere ausgedauert. Mit großem Intereſſe ſahen wir um die Hütten der Indianer Guacamayas oder zahme Ara, die auf den Feldern herumflogen wie bei uns die Tauben. Es iſt dies die größte und prächtigſte Papa— geienart mit nicht gefiederten Wangen, die wir auf unſeren Reiſen angetroffen. Sie mißt mit dem Schwanz 72 em, und wir haben ſie auch am Atabapo, Temi und Rio Negro gefun— den. Das Fleiſch des Cahuei — jo heißt hier der Vogel — das häufig gegeſſen wird, iſt ſchwarz und etwas hart. Dieſe Ara, deren Gefieder in den brennendſten Farben, purpurrot, blau und gelb ſchimmert, ſind eine große Zierde der india— niſchen Hühnerhöfe. Sie ſtehen an Pracht den Pfauen, Gold— — 180 — faſanen, Pauxi und Alector nicht nach. Die Sitte, Papa⸗ geien, Vögel aus einer dem Hühnergeſchlecht ſo ferne ſtehenden Familie aufzuziehen, war ſchon Chriſtoph Kolumbus aufge— fallen. Gleich bei der Entdeckung Amerikas hatte er beobachtet, daß die Eingeborenen auf den Antillen ſtatt Hühner Ara oder große Papageien aßen. Beim kleinen Dorfe Maypures wächſt ein prächtiger, über 20 m hoher Baum, den die Koloniſten Fruta de Burro nennen. Es iſt eine neue Gattung Unona, die den Habitus von Aublets Uvaria Zeylandica hat und die ich früher Uvaria febrifuga benannt hatte. Ihre Zweige ſind gerade und ſtehen pyramidaliſch aufwärts, faſt wie bei der Pappel vom Mi: ſiſſippi, fälſchlich italieniſche Pappel genannt. Der Baum iſt berühmt, weil ſeine aromatiſchen Früchte, als Aufguß ge— braucht, ein wirkſames Fiebermittel ſind. Die armen Miſ— ſionäre am Orinoko, die den größten Teil des Jahres am dreitägigen Fieber leiden, reiſen nicht leicht, ohne ein Säck— chen mit Frutas de Burro bei ſich zu führen. Unter den Tropen braucht man meiſt lieber aromatiſche Mittel, z. B. ſehr ſtarken Kaffee, Croton Cascarilla oder die Fruchthülle unſerer Unona, als die adſtringierenden Rinden der Cin— chona und der Bonplandia trifoliata, welch letztere die China von Angoſtura iſt. Das amerikaniſche Volk hat ein tief wur: zelndes Vorurteil gegen den Gebrauch der verſchiedenen China— arten, und in dem Lande, wo dieſes herrliche Heilmittel wächſt, ſucht man die Fieber durch Aufgüſſe von Scoparia duleis ab: zuſchneiden, oder auch durch warme Limonade aus Zucker und der kleinen wilden Zitrone, deren Rinde öligt und aro— matiſch zugleich iſt. Das Wetter war aſtronomiſchen Beobachtungen nicht günſtig; indeſſen erhielt ich doch am 20. April eine gute Reihe korreſpondierender Sonnenhöhen, nach denen der Chrono— meter für die Miſſion Maypures 70° 37° 33 Länge ergab; die Breite wurde durch Beobachtung eines Sternes gegen Norden gleich 5° 15° 57“ gefunden. Die neueſten Karten ſind in der Länge um ½ , in der Breite um ½“ unrichtig. Wie mühſam und qualvoll dieſe nächtlichen Beobachtungen waren, vermöchte ich kaum zu beſchreiben. Nirgends war die Moskitowolke ſo dick wie hier. Sie bildete ein paar Fuß über dem Boden gleichſam eine eigene Schicht und wurde immer dichter, je näher man gegen den künſtlichen Horizont hinleuchtete. Die meiſten Einwohner von Maypures gehen — 181 — aus dem Dorf und ſchlafen auf den Inſeln mitten in den Katarakten, wo es weniger Inſekten gibt; andere machen aus Strauchwerk Feuer in ihren Hütten an und hängen ihre Matten mitten in den Rauch. Der Thermometer ſtand bei Nacht auf 27 und 29°, bei Tage auf 30%. Am 19. April fand ich um 2 Uhr nachmittags einen loſen, grobkörnigen Granitſand 60,3“, einen gleichfalls weißen, aber feinkörnigen und dichteren Granitſand 52,5“ heiß; die Temperatur eines kahlen Granitfelſen war 47,6“. Zu derſelben Stunde zeigte der Thermometer 2,6 m über dem Boden im Schatten 29,6“, in der Sonne 36,29. Eine Stunde nach Sonnenuntergang zeigte der grobe Sand 32°, der Granitfels 38,8“, die Luft 28,6“, das Waſſer des Orinoko im Raudal, an der Ober— fläche, 27,6“, das Waſſer einer ſchönen Quelle, die hinter dem Haus der Miſſionäre aus dem Granit kommt, 27,8“. Es iſt dies vielleicht etwas weniger als die mittlere Jahrestemperatur der Luft in Maypures. Die Inklination der Magnetnadel in Maypures betrug 31,10“, alſo 1,15 weniger als im Dorfe Atures, das um 25 Minuten der Breite weiter nach Norden liegt. Am 21. April. Nach einem Aufenthalt von zwei und einem halben Tage im kleinen Dorfe Maypures neben dem oberen großen Katarakt ſchifften wir uns um 2 Uhr nach— mittags in derſelben Piroge wieder ein, die der Miſſionär von Carichana uns überlaſſen; ſie war vom Schlagen an die Klippen und durch die Unvorſichtigkeit der indianiſchen Schiffs— leute ziemlich beſchädigt; aber ihrer warteten noch größere Fährlichkeiten. Sie mußte vom Rio Tuamini zum Rio Negro über eine Landenge 11,7 km weit geſchleppt werden, ſie mußte über den Caſſiquiare wieder in den Orinoko herauf und zum zweitenmal durch die beiden Raudale. Man unterſuchte Boden und Seitenwände der Piroge und meinte, ſie ſei ſtark genug, die lange Reiſe auszuhalten. Sobald man über die großen Katarakte weg iſt, befindet man ſich in einer neuen Welt; man fühlt es, man hat die Schranke hinter ſich, welche die Natur ſelbſt zwiſchen den kultivierten Küſtenſtrichen und den wilden, unbekannten Län— dern im Inneren bezogen zu haben ſcheint. Gegen Oſt in blauer Ferne zeigt ſich zum letztenmal die hohe Bergkette des Cunavami; ihr langer, wagerechter Kamm erinnert an die Gräſer vom friſcheſten Grün wuchſen in dieſem Sand. — 182 — Geſtalt der Meſa im Brigantin bei Cumana, nur endigt ſie mit einem abgeſtutzten Kegel. Der Pik Calitamini (jo heißt dieſer Gipfel) iſt bei Sonnenuntergang wie von rötlichem Feuer beſtrahlt, und zwar einen Tag wie den anderen. Kein Menſch iſt je dieſem Berge nahe gekommen, der nicht über 1170 m hoch iſt.! Ich glaube, dieſer gewöhnlich rötliche, zuweilen ſilber— weiße Schimmer iſt ein Reflex von großen Talgblättern oder von Gneis, der in Glimmerſchiefer übergeht. Das ganze Land beſteht hier aus Granitgeſtein, dem da und dort, auf kleinen Ebenen, unmittelbar ein thonichter Sandſtein mit Quarz— trümmern und Brauneiſenſtein aufgelagert iſt. Auf dem Wege zum Landungsplatz fingen wir auf einem Heveaſtamm? eine neue, durch ihre ſchöne Färbung ausgezeich— nete Froſchart. Der Bauch war gelb, Rücken und Kopf ſchön ſamtartig purpurfarb; ein einziger ganz ſchmaler weißer Streif lief von der Spitze des Maules zu den Hinterbeinen. Der Froſch war 5 em lang, nahe verwandt der Rana tinctoria, deren Blut (wie man behauptet), wenn man es Papageien da, wo man ihnen Federn ausgerauft, in die Haut einreibt, macht, daß die neuen gelben oder roten Federn ſcheckigt werden. Den Weg entlang zeigten uns die Indianer etwas, was hier⸗ zulande allerdings ſehr merkwürdig iſt, Räderſpuren im Ge⸗ ſtein. Sie ſprachen, wie von einem unbekannten Geſchöpf, von den Tieren mit großen Hörnern, welche zur Zeit der Grenzexpedition die Fahrzeuge durch das Thal des Keri vom Rio Toparo zum Rio Cameji gezogen, um die Katarakte zu umgehen und die Mühe des Umladens zu erſparen. Ich glaube, dieſe armen Einwohner von Maypures wunderten ſich jetzt beim Anblick eines Ochſen von kaſtiliſcher Raſſe wie die Römer über die lukaniſchen Ochſen (die Elefanten im Heere des Pyrrhus). Wenn man durch das Thal des Keri einen Kanal zöge, der die kleinen Flüſſe Cameji und Toparo vereinigte, brauchten die Pirogen nicht mehr durch die Raudales zu gehen. Auf dieſem ganz einfachen Gedanken beruht der Plan, den ich im erſten Entwurf durch den Generalkapitän von Caracas, Gue— vara Vasconzelos, der ſpaniſchen Regierung habe vorlegen laſſen. Beim Katarakt von Maypures ſind die Bodenverhält— Er erſcheint in Maypures unter einem Winkel von 1 Grad 27 Minuten. 2 Einer der Bäume, deren Milch Kautſchuk gibt. — 183 — niſſe ſo günſtig, wie man ſie bei Atures vergeblich ſuchte. Der Kanal würde 5555 m oder 2650 m lang, je nachdem man ihn nahe an der Mündung der beiden Flüßchen oder weiter ihren Quellen zu anfangen ließe. Das Terrain ſcheint im Durchſchnitt von Süd⸗Süd⸗Oſt nach Nord-Nord⸗Weſt um 11 bis 13,5 m zu fallen, und im Thal des Keri iſt der Boden ganz eben, mit Ausnahme eines kleinen Kammes oder einer Waſſer— ſcheide, welche im Parallel der Kirche von Maypures die beiden Nebenflüſſe des Stromes nach entgegengeſetzten Seiten laufen läßt. Die Ausführung dieſes Planes wäre durchaus nicht koſtſpielig, da die Landenge größtenteils aus ange— ſchwemmtem Boden beſteht, und Pulver hätte man dabei gar nicht nötig. Dieſer Kanal, der nicht über 3 m breit zu ſein brauchte, wäre als ein ſchiffbarer Arm des Orinoko zu betrachten. Es bedürfte keiner Schleuſe, und die Fahrzeuge, die in den oberen Orinoko gehen, würden nicht mehr wie jetzt durch die Reibung an den rauhen Klippen am Raudal beſchädigt; man zöge ſie hinauf, und da man die Waren nicht mehr auszuladen brauchte, würde viel Zeit erſpart. Man hat die Frage erörtert, wozu der von mir in Vorſchlag gebrachte Kanal dienen ſollte. Hier iſt die Antwort, die ich im Jahre 1801 auf meiner Reiſe nach Quito dem Miniſterium erteilt habe: „Auf den Bau eines Kanales bei Maypures und eines anderen, von dem in der Folge die Rede ſein wird, lege ich nur in der Vorausſetzung Gewicht, daß die Regierung ſich mit Handel und Gewerbefleiß am oberen Orinoko ernſtlich beſchäftigen wollte. Unter den gegenwärtigen Verhältniſſen, da, wie es ſcheint, die Ufer des majeſtätiſchen Stromes gänz— lich vernachläſſigt bleiben ſollen, wären Kanäle allerdings ſo gut wie überflüſſig.“ Nachdem wir uns im Puerto de Arriba eingeſchifft, gingen wir mit ziemlicher Beſchwerde über den Raudal de Cameji; dieſe Stelle gilt bei ſehr hohem Waſſerſtand für gefährlich. Jenſeits des Raudals fanden wir den Strom ſpiegelglatt. Wir übernachteten auf einer felſichten Inſel, genannt Piedra Raton; fie iſt gegen 3,3 km lang, und auch hier wiederholt ſich die intereſſante Erſcheinung einer in der Entwickelung be— griffenen Vegetation, jener zerſtreuten Gruppen von Buſchwerk auf ebenem Felsboden, wovon ſchon öfters die Rede war. Ich konnte in der Nacht mehrere Sternbeobachtungen machen und fand die Breite der Inſel gleich 5° 4 51“, ihr Länge gleich 70° 57. Ich konnte die im Strom reflektierten Stern: — 184 — bilder benützen; obgleich wir uns mitten im Orinoko befanden, war die Moskitowolke ſo dick, daß ich nicht die Geduld hatte, den künſtlichen Horizont zu richten. Am 22. April. Wir brachen anderthalb Stunden vor Sonnenaufgang auf. Der Morgen war feucht, aber herrlich; kein Lüftchen ließ ſich ſpüren, denn ſüdlich von Atures und Maypures herrſcht beſtändig Windſtille. Am Rio Negro und Caſſiquiare, am Fuß des Cerro Duida in der Miſſion Santa Barbara hörten wir niemals das Rauſchen des Laubes, das in heißen Ländern einen ganz eigentümlichen Reiz hat. Die Krümmungen des Stromes, die ſchützenden Berge, die un— durchdringlichen Wälder und der Regen, der einen bis zwei Grade nördlich vom Aequator faſt gar nicht ausſetzt, mögen dieſe Erſcheinung veranlaſſen, die den Miſſionen am Orinoko eigentümlich ift. In dem unter ſüdlicher Breite, aber ebenſo weit vom Aequator gelegenen Thal des Amazonenſtromes erhebt ſich alle Tage, 2 Stunden nach der Kulmination der Sonne, ein ſehr ſtarker Wind. Derſelbe weht immer gegen die Strömung und wird nur im Flußbett ſelbſt geſpürt. Unterhalb San Borja iſt es ein Oſtwind; in Tomependa fand ich ihn zwiſchen Nord und Nord-Nord-Oſt. Es iſt immer die Briſe, der von der Umdrehung der Erde herrührende Wind, der aber durch kleine örtliche Verhältniſſe bald dieſe, bald jene Richtung bekommt. Mit dieſem beſtändigen Wind ſegelt man von Gran Para bis Tefe, 3375 km weit, den Amazonenſtrom hinauf. In der Provinz Jagen de Bracamoros, am Fuße des Weſtabhanges der Kordilleren, tritt dieſer vom Atlantiſchen Meere herkom— mende Wind zuweilen als ein eigentlicher Sturm auf. Wenn man auf das Flußufer zugeht, kann man ſich kaum auf den Beinen halten; ſo auffallend anders ſind die Verhältniſſe am oberen Orinoko und am oberen Amazonenſtrom. Sehr wahrſcheinlich iſt es dieſem beſtändig wehenden Winde zuzuſchreiben, daß der Amazonenſtrom ſo viel geſunder iſt. In der ſtockenden Luft am oberen Orinoko find die chemi— ſchen Affinitäten eingreifender und es entwickeln ſich mehr ſchädliche Miasmen. Die bewaldeten Ufer des Amazonen— ſtromes wären ebenſo ungeſund, wenn nicht der Fluß, gleich dem Niger, ſeiner ungeheuren Länge nach von Weſt nach Oſt, alſo in der Richtung der Paſſatwinde, gerade fortliefe. Das Thal des Amazonenſtromes iſt nur an ſeinem weſtlichen Ende, wo es der Kordillere der Anden naherückt, geſchloſſen. Gegen Oſt, wo der Seewind auf den neuen Kontinent trifft, erhebt ſich das Geſtade kaum ein paar Fuß über den Spiegel des atlantiſchen Meeres. Der obere Orinoko läuft anfangs von Oſt nach Weſt, und dann von Nord nach Süd. Da wo ſein Lauf dem des Amazonenſtromes ziemlich parallel iſt, liegt zwiſchen ihm und dem Atlantiſchen Meere ein ſehr gebirgiges Land, der Gebirgsſtock der Parime und des holländiſchen und franzöſiſchen Guyana, und läßt den Rotationswind nicht nach Esmeralda kommen; erſt vom Einfluß des Apure an, von wo der untere Orinoko von Weſt nach Oſt über eine weite, dem Atlantiſchen Meer zu offene Ebene läuft, fängt der Wind an kräftig aufzutreten; dieſes Stromſtück iſt daher auch nicht fo ungeſund als der obere Orinoko. Als dritten Vergleichungspunkt führe ich das Thal des Magdalenenſtromes an. Derſelbe behält, wie der Amazonen— ſtrom, immer dieſelbe Richtung, aber ſie iſt ungünſtig, weil ſie nicht mit der des Seewindes zuſammenfällt, ſondern von Süd nach Nord geht. Obgleich im Striche der Paſſatwinde gelegen, hat der Magdalenenſtrom eine ſo ſtockende Luft wie der obere Orinoko. Vom Kanal Mahates bis Honda, namentlich ſüdlich von der Stadt Mompox, ſpürten wir niemals etwas von Wind, außer beim Anzug nächtlicher Gewitter. Kommt man dagegen auf dem Fluß über Honda hinauf, ſo findet man die Luft ziemlich oft in Bewegung. Die ſehr ſtarken Winde, die ſich im Thale des Neiva verfangen, ſind als un— gemein heiß weit berufen. Man mag es anfangs auffallend finden, daß die Windſtille aufhört, wenn man im oberen Stromlauf dem Gebirge näher kommt, aber es erſcheint er— klärlich, wenn man bedenkt, daß die trockenen, heißen Winde in den Llanos am Neiva von niedergehenden Luftſtrömungen herrühren. Kalte Luftſäulen ſtürzen von den Nevadas von Quindiu und Guanacas in das Thal nieder und jagen die unteren Luftſchichten vor ſich her. Ueberall unter den Tropen, wie in der gemäßigten Zone, entſtehen durch die ungleiche Erwärmung des Bodens und durch die Nähe ſchneebedeckter Gebirge örtliche Luftſtrömungen. Jene ſehr ſtarken Winde am Neiva kommen nicht daher, daß die Paſſatwinde zurück— geworfen würden; ſie entſtehen vielmehr da, wohin der See— wind nicht gelangen kann, und wenn die meiſt ganz mit Bäumen bewachſenen Berge am oberen Orinoko höher wären, ſo würden ſie in der Luft dieſelben raſchen Gleichgewichts— ſtörungen hervorbringen, wie wir ſie in den Gebirgen von — 186 — Peru, Abeſſinien und Tibet beobachten. Dieſer genaue ur— ſachliche Zuſammenhang zwiſchen der Richtung der Ströme, der Höhe und Stellung der anliegenden Gebirge, den Be— wegungen der Atmoſphäre und der Salubrität des Klimas ver— dient die größte Aufmerkſamkeit. Wie ermüdend und un- fruchtbar wäre doch das Studium der Erdoberfläche und ihrer Unebenheiten, wenn es nicht aus allgemeinen Geſichtspunkten aufgefaßt würde! Siebenundzwanzig Kilometer von der Inſel Piedra Raton kam zuerſt oſtwärts die Mündung des Rio Sipapo, den die Indianer Tipapu nennen, dann weſtwärts die Mündung des Rio Vichada. In der Nähe der letzteren bilden Felſen ganz unter Waſſer einen kleinen Fall, einen Raud alito. Der Rio Sipapo, den Pater Gili im Jahre 1757 hinauffuhr und der nach ihm zweimal breiter iſt als der Tiber, kommt aus einer ziemlich bedeutenden Bergkette. Im ſüdlichen Teil trägt die— ſelbe den Namen des Fluſſes und verbindet ſich mit dem Bergſtock des Calitamini und Cunavami. Nach dem Pik von Duida, der über der Miſſion Esmeralda aufſteigt, ſchienen mir die Cerros de Sipapo die höchſten in der ganzen Kor— dillere der Parime. Sie bilden eine ungeheure Felsmauer, die ſchroff aus der Ebene aufſteigt und deren von Süd-Süd-Oſt nach Nord-Nord-Weſt gerichteten Kamm ausgezackt iſt. Ich denke, aufgetürmte Granitblöcke bringen dieſe Einſchnitte, dieſe Auszackung hervor, die man auch am Sandſtein des Mont— ſerrat in Katalonien beobachtet. Jede Stunde war der An— blick der Cerros de Sipapo wieder ein anderer. Bei Sonnen— aufgang gibt der dichte Pflanzenwuchs den Bergen die dunkel— grüne, ins Bräunliche ſpielende Farbe, wie ſie Landſtrichen eigen iſt, wo Bäume mit lederartigen Blättern vorherrſchen. Breite, ſcharfe Schatten fallen über die anſtoßende Ebene und ſtechen ab vom glänzenden Licht, das auf dem Boden, in der Luft und auf der Waſſerfläche verbreitet iſt. Aber um die Mitte des Tages, wenn die Sonne den Zenith erreicht, verſchwinden dieſe kräftigen Schatten allmählich und die ganze Kette hüllt ſich in einen leiſen Duft, der weit ſatter blau iſt als der niedrige Strich des Himmelsgewölbes. In dieſem um den Felskamm ſchwebenden Duft verſchwimmen halb die Um— riſſe, werden die Lichteffekte gedämpft, und ſo erhält die Land— ſchaft das Gepräge der Ruhe und des Friedens, das in der Natur, wie in den Werken Claude Lorrains und Pouſſins, aus der Harmonie zwiſchen Form und Farbe entſpringt. nn tn — 187 — Hinter dieſen Bergen am Sipapo lebte lange Cruzero, der mächtige Häuptling der Guaypunabis, nachdem er mit ſeiner kriegeriſchen Horde von den Ebenen zwiſchen dem Rio Irinida und dem Chamochiquini abgezogen war. Die In— dianer verſicherten uns, in den Wäldern am Sipapo wachſe in Menge der Vehuco de Maimure. Dieſes Schling— gewächs iſt den Indianern ſehr wichtig, weil ſie Körbe und Matten daraus verfertigen. Die Wälder am Sipapo ſind völlig unbekannt, und die Miſſionäre verſetzen hierher das Volk der Rayas,! „die den Mund am Nabel haben“. Ein alter Indianer, den wir in Carichana antrafen und der ſich rühmte oft Menſchenfleiſch gegeſſen zu haben, hatte dieſe kopfloſen Menſchen „mit eigenen Augen“ geſehen. Dieſe abgeſchmackten Märchen haben ſich auch in den Llanos verbreitet, und dort iſt es nicht immer geraten, die Exiſtenz der Rayas⸗ Indianer in Zweifel zu ziehen. In allen Himmelsſtrichen iſt Unduld— ſamkeit die Gefährtin der Leichtgläubigkeit, und man könnte meinen, die Hirngeſpinnſte der alten Erdbeſchreiber ſeien aus der einen Halbkugel in die andere gewandert, wenn man nicht wüßte, daß die ſeltſamſten Ausgeburten der Phantaſie, gerade wie die Naturbildungen, überall in Ausſehen und Geſtaltung eine gewiſſe Aehnlichkeit zeigen. Bei der Mündung des Rio Vichada oder Viſata ſtiegen wir aus, um die Pflanzen des Landſtriches zu unterſuchen. Die Gegend iſt höchſt merkwürdig; der Wald iſt nicht ſehr dicht und eine Unzahl kleiner Felſen ſteht frei auf der Ebene. Es ſind prismatiſche Steinmaſſen und ſie ſehen wie verfallene Pfeiler, wie einzeln ſtehende 5 bis 7 m hohe Türmchen aus. Die einen ſind von den Bäumen des Waldes beſchattet, bei anderen iſt der Gipfel von Palmen gekrönt. Die Felſen ſind Granit, der in Gneis übergeht. Befände man ſich hier nicht im Bereich des Urgebirges, man glaubte ſich in den Felſen von Adersbach in Böhmen oder von Streitberg und Fantaſie in Franken verſetzt. Sandſtein und ſekundärer Kalkſtein können keine groteskeren Formen annehmen. An der Mündung des Vichada ſind die Granitfelſen, und was noch weit auffallender iſt, der Boden ſelbſt mit Moſen und Flechten bedeckt. Letztere haben den Habitus von Cladonia pyxidata und Lichen ran- giferinus, die im nördlichen Europa jo häufig vorkommen. Rochen, wegen der angeblichen Aehnlichkeit mit dem Fiſch dieſes Namens, bei dem der Mund am Körper herabgerückt ſcheint. — 188 — Wir konnten kaum glauben, daß wir uns keine 200 m über dem Meer, unter dem 5. Breitengrad mitten in der heißen Zone befanden, von der man ſo lange glaubte, daß keine kryptogamiſchen Gewächſe in ihr vorkommen. Die mittlere Temperatur dieſes ſchattigen, feuchten Ortes beträgt wahr— ſcheinlich 26“ des hundertteiligen Thermometers. In betracht des wenigen Regens, der bis jetzt gefallen war, wunderten wir uns über das ſchöne Grün der Wälder. Dieſer Umſtand iſt für das obere Orinokothal charakteriſtiſch; an der Küſte von Caracas und in den Llanos werfen die Bäume ihr Laub im Winter! ab und man ſieht am Boden nur gelbes, ver— trocknetes Gras. Zwiſchen den eben beſchriebenen freiſtehenden Felſen wuchſen mehrere große Stämme Säulenkaktus (Cactus septemangularis), was ſüdlich von den Katarakten von Atures und Maypures eine große Seltenheit iſt. Am ſelben maleriſchen Ort hatte Bonpland das Glück, mehrere Stämme von Laurus einnamomoides anzutreffen, eines ſehr gewürzreichen Zimtbaumes, der am Orinoko unter dem Namen Varimacu t und Canelilla bekannt iſt.? Dieſes koſtbare Produkt kommt auch im Thale des Rio Caura, wie bei Esmeralda und öſtlich von den großen Katarakten vor. Der Jeſuit Francisco de Olma ſcheint die Canelilla im Lande der Piaroas bei den Quellen des Cataniapo entdeckt zu haben. Der Miſſionär Gili, der nicht bis in die Gegend kam, von der hier die Rede tft, ſcheint den Varimacu oder Guari— macu mit der Myriſtica oder dem amerikaniſchen Muskat— baum zu verwechſeln. Dieſe gewürzhaften Rinden und Früchte, der Zimt, die Muskatnuß, Myrtus Pimenta und Laurus pucheri wären wichtige Handelsartikel geworden, wenn nicht Europa bei der Entdeckung von Amerika bereits an die Ge— würze und Wohlgerüche Oſtindiens gewöhnt geweſen wäre. Der Zimt vom Orinoko und der aus den Miſſionen der Andaquies, deſſen Anbau Mutis in Mariquita in Neugranada eingeführt hat, ſind übrigens weniger gewürzhaft als der In der Jahreszeit, die man in Südamerika nördlich vom Aequator Sommer heißt. Diminutiv des ſpaniſchen Wortes Canela, das Cinnamo- mum (Kinnamomon der Griechen) bedeutet. Letzteres Wort ge— hört zu den wenigen, die ſeit dem höchſten Altertum aus dem Phö— nikiſchen (einer ſemitiſchen Sprache) in die abendländiſchen Sprachen übergegangen ſind. — 189 — Ceylonzimt, und wären ſolches ſelbſt dann, wenn fie ganz fo getrocknet und zubereitet würden. Jede Halbkugel hat ihre eigenen Arten von Gewächſen, und es erklärt ſich keineswegs aus der Verſchiedenheit der Klimate, warum das tropiſche Afrika keine Laurineen, die Neue Welt keine Heidekräuter hervorbringt, warum es in der ſüdlichen Halbkugel keine Calceolarien gibt, warum auf dem indiſchen Feſtlande das Gefieder der Vögel nicht ſo glänzend iſt wie in den heißen Landſtrichen Amerikas, endlich warum der Tiger nur Aſien, das Schnabeltier nur Neuholland eigen iſt? Die Urſachen der Verteilung der Arten im Pflanzen— wie im Tierreiche gehören zu den Rätſeln, welche die Natur— philoſophie nicht zu löſen imſtande iſt. Mit dem Urſprung der Weſen hat dieſe Wiſſenſchaft nichts zu thun, ſondern nur mit den Geſetzen, nach denen die Weſen über den Erdball verteilt ſind. Sie unterſucht das, was iſt, die Pflanzen- und Tierbildungen, wie ſie unter jeder Breite, in verſchiedenen Höhen und bei verſchiedenen Wärmegraden nebeneinander vor— kommen; ſie erforſcht die Verhältniſſe, unter denen ſich dieſer oder jener Organismus kräftiger entwickelt, ſich vermehrt oder ſich umwandelt; aber ſie rührt nicht an Fragen, die unmög— lich zu löſen ſind, weil ſie mit der Herkunft, mit dem Ur— anfang eines Lebenskeimes zuſammenhängen. Ferner iſt zu bemerken, daß die Verſuche, die Verteilung der Arten auf dem Erdballe allein aus dem Einfluſſe der Klimate zu erklären, einer Zeit angehören, wo die phyſiſche Geographie noch in der Wiege lag, wo man fortwährend an vermeintlichen Gegen— ſätzen beider Welten feſthielt und ſich vorſtellte, ganz Afrika und Amerika gleichen den Wüſten Aegyptens und den Sümpfen Cayennes. Seit man den Sachverhalt nicht nach einem will— kürlich angenommenen Typus, ſondern nach poſitiven Kennt— niſſen beurteilt, weiß man auch, daß die beiden Kontinente in ihrer unermeßlichen Ausdehnung Bodenſtücke mit völlig über— einſtimmenden Naturverhältniſſen aufzuweiſen haben. Amerika hat ſo dürre und glühend heiße Landſtriche als das innere Afrika. Die Inſeln, welche die indiſchen Gewürze erzeugen, zeichnen ſich keineswegs durch Trockenheit aus, und die Feuch— tigkeit des Klimas iſt durchaus nicht, wie in neueren Werken behauptet wird, die Urſache, warum auf dem neuen Kontinent die ſchönen Laurineen- und Myriſticeenarten nicht vorkommen, die im Indiſchen Archipel in einem kleinen Erdwinkel neben— einander wachſen. Seit einigen Jahren wird in mehreren — 190 — Ländern des neuen Kontinents der echte Zimtbaum mit Erfolg gebaut, und ein Landſtrich, auf dem der Coumarouna (die Tongabohne), die Vanille, der Pucheri, die Ananas, Mirtus pimenta, der Tolubalſam, Myroxylon peruvianum, die Crotonarten, die Citrosmen, der Pejoa (Gaultheria odorata), der Incienſo der Silla von Caracas,! der Quereme, die Pan— kratiumarten und ſo viele herrliche Lilienarten wachſen, kann nicht für einen gelten, dem es an Aromen fehlt. Zudem iſt Trockenheit der Luft der Entwickelung aromatiſcher und rei— zender Eigenſchaften nur bei gewiſſen Pflanzenarten förderlich. Die heftigſten Gifte werden im feuchteſten Landſtriche Amerikas erzeugt, und gerade unter dem Einfluß der anhaltend tropi— ſchen Regen gedeiht der amerikaniſche Pfeffer (Capsicum bac- catum) am beſten, deſſen Frucht häufig ſo ſcharf und beißend iſt als der oſtindiſche Pfeffer. Aus dieſen Betrachtungen geht folgendes hervor: 1) der neue Kontinent beſitzt ſehr ſtarke Gewürze, Arome und vegetabiliſche Gifte, die ihm allein an— gehören, ſich aber ſpezifiſch von denen der alten Welt unter— ſcheiden; 2) die urſprüngliche Verteilung der Arten in der heißen Zone iſt allein aus dem Einfluß des Klimas, aus der Verteilung der Wärme, wie ſie im gegenwärtigen Zuſtande unſeres Planeten ſtattfindet, nicht zu erklären, aber dieſe Ver— ſchiedenheit der Klimate macht es uns begreiflich, warum ein gegebener organiſcher Typus ſich an der einen Oertlichkeit kräftiger entwickelt als an der anderen. Wir begreifen von einigen wenigen Pflanzenfamilien, wie von den Muſen und Palmen, daß ſie wegen ihres inneren Baues und der Wich— tigkeit gewiſſer Organe unmöglich ſehr kalten Landſtrichen an— gehören können, wir vermögen aber nicht zu erklären, warum keine Art aus der Familie der Melaſtomeen nördlich vom 30. Breitengrad wächſt, warum keine einzige Roſenart der ſüdlichen Halbkugel angehört. Häufig ſind auf beiden Kon— tinenten die Klimate analog, ohne daß die Erzeugniſſe gleich— artig wären. Der Rio Vichada (Bichada), der bei ſeinem Zuſammenfluß mit dem Orinoko einen kleinen Raudal hat, ſchien mir nach dem Meta und dem Guaviare der bedeutendſte unter den aus Weſten kommenden Flüſſen. Seit vierzig Jahren hat kein Europäer den Vichada befahren. Ueber ſeine Quellen habe ich nichts in Erfahrung bringen können; ich vermute ſie mit ! Trixis nereifolia. 1 denen des Tomo auf den Ebenen ſüdwärts von Caſimena. Wenigſtens iſt wohl nicht zweifelhaft, daß die früheſten Miſ— ſionen an den Ufern des Vichada von Jeſuiten aus den Miſ— ſionen am Caſanare gegründet worden ſind. Noch in neueſter Zeit ſah man flüchtige Indianer von Santa Roſalia de Caba» puna, einem Dorfe am Meta, über den Rio Vichada an den Katarakt von Maypures kommen, was darauf hinweiſt, daß die Quellen desſelben nicht ſehr weit vom Meta ſein können. Pater Gumilla hat uns die Namen mehrerer deutſcher und ſpaniſcher Jeſuiten aufbewahrt, die im Jahre 1734 an den jetzt öden Ufern des Vichada von der Hand der Kariben als Opfer ihres religiöſen Eifers fielen. Nachdem wir zuerſt gegen Oft am Cano Pirajavi, ſodann gegen Weſt an einem kleinen Fluß vorübergekommen, der nach der Ausſage der Indianer aus einem See Namens Nao ent— ſpringt, übernachteten wir am Ufer des Orinoko, beim Einfluß des Zama, eines ſehr anſehnlichen Fluſſes, der ſo unbekannt iſt als der Rio Vichada. Trotz des ſchwarzen Waſſers des Zama hatten wir viel von den Inſekten auszuſtehen. Die Nacht war ſchön; in den niederen Luftregionen wehte kein Lüftchen, aber gegen 2 Uhr ſahen wir dicke Wolken raſch von Oſt nach Weſt durch den Zenith gehen. Als ſie beim Nieder— gehen gegen den Horizont vor die großen Nebelflecken im Schützen oder im Schiff traten, erſchienen ſie ſchwarzblau. Die Nebelflecken ſind nie lichtſtärker, als wenn ſie zum Teil von Wolkenſtreifen bedeckt ſind. Wir beobachten in Europa dieſelbe Erſcheinung an der Milchſtraße, beim Nordlicht, wenn es im Silberlicht ſtrahlt, endlich bei Sonnenauf- und Untergang an dem Stück des Himmels, das weiß wird aus Urſachen, welche die Phyſik noch nicht gehörig ermittelt hat. Kein Menſch kennt den weiten Landſtrich zwiſchen Meta, Vichada und Guaviare weiter als auf 4 bis 5 km vom Ufer. Man glaubt, daß hier wilde Indianer vom Stamme der Chi— ricoas hauſen, die glücklicherweiſe keine Kanoen bauen. Früher, als noch die Kariben und ihre Feinde, die Cabres, mit ihren Geſchwadern von Flößen und Pirogen hier umherzogen, wäre es unvorſichtig geweſen, an der Mündung eines Fluſſes zu übernachten, der aus Weſten kommt. Gegenwärtig, da die kleinen Niederlaſſungen der Europäer die unabhängigen Indianer von den Ufern des oberen Orinoko verdrängt haben, iſt dieſer Landſtrich ſo öde, daß uns von Carichana bis Ja⸗ vita und von Esmeralda bis San Fernando de Atabapo, — 192 — auf einer Stromfahrt von 810 km, nicht ein einziges Fahr— zeug begegnete. Mit der Mündung des Rio Zama betraten wir ein Fluß— Item, das große 2 verdient. Der Ser der Mataveni, der Atgbapo, der Tuamini, der Temi, der Gugini haben ſchw arzes Waſſer (aguas negras), das heist, ihr Waffer, in großen Maß ſen geſehen, erſcheint kaffeebraun oder grünlich-ſchwarz, und doch ſind es die ſchönſten, klarſten, wohl: ſchmeckendſten Waſſer. Ich habe ſchon oben erwähnt, daß die Krokodile und, wenn auch nicht die Zancudos, doch die Moskiten faſt überall die ſchwarzen Waſſer meiden. Das Volk behauptet ferner, dieſe Waſſer bräunen das Geſtein nicht, und die weißen Flüſſe haben ſchwarze, die ſchwarzen Flüſſe weiße Ufer. Und allerdings ſieht man am Geſtade des Guainia, den die Euro: päer unter dem Namen Rio Negro kennen, häufig | blendend weiße Quarzmaſſen aus dem Granit hervorſtehen. Im Glaſe iſt das Waſſer des Mataveni ziemlich weiß, das des Ata⸗ bapo aber behält einen braungelblichen Schein. Wenn ein gelinder Wind den Spiegel dieſer ſchwarzen Flüſſe kräuſelt, Al erſcheinen fie ſchön wieſengrün, wie die Schweizer Seen. Im Schatten iſt der Zama, der Atabapo, der Guainia ſchwarz wie Kaffeeſatz. Dieſe Erſcheinungen ſind ſo auffallend, daß die Indianer allerorten die Gewäſſer in ſchwarze und weiße einteilen. Erſtere haben mir häufig als künſtlicher Honzont gedient; ſie werfen die Sternbilder wunderbar ſcharf zurü Die Farbe des Quellwaſſers, Flußwaſſers und Seewaſſers gehört zu den phyſikaliſchen Problemen, die durch unmittelbare Verſuche ſchwer oder gar nicht zu löſen ſind. Die Farben bei reflektiertem Lichte ſind meiſt ganz andere als bei durch⸗ gehendem, beſonders wenn es durch eine große Maſſe Flüſſigkeit durchgeht. Fände keine Abſorption der Strahlen ſtatt, jo hätte das durchgehende Licht immer die Farbe, welche die. komplementäre des reflektierten Lichtes wäre, und meiſt be⸗ urteilt man bei einem Waſſer in einem nicht tiefen Glaſe mit enger Oeffnung das durchgehende Licht falſch. Bei einem Fluſſe gelangt das reflektierte farbige Licht immer von den inneren Schichten der Flüſſigkeit zu uns, nicht von der oberſten Schicht derſelben. Berühmte Phyſiker, welche das reinſte Gletſcherwaſſer unterſucht haben, ſowie das, welches aus mit ewigem Schnee bedeckten Bergen entſpringt, wo keine vegetabiliſchen Reſte ſich — 193 — in der Erde finden, ſind der Meinung, die eigentümliche Farbe des Waſſers möchte blau oder grün ſein. In der That iſt durch nichts erwieſen, daß das Waſſer von Natur weiß iſt und immer ein Farbſtoff im Spiele ſein muß, wenn dasſelbe, bei reflektiertem Licht geſehen, eine Färbung zeigt. Wo Flüſſe wirklich einen färbenden Stoff enthalten, iſt derſelbe meiſt in ſo geringer Menge, daß er ſich jeder chemiſchen Unterſuchung entzieht. Die Färbung des Meeres ſcheint häufig weder von der Beſchaffenheit des Grundes, noch vom Reflex des Himmels und der Wolken abzuhängen. Ein großer Phyſiker, Davy, ſoll der Anſicht ſein, die verſchiedene Färbung der Meere könnte daher rühren, daß das Jod in verſchiedenen Verhält— niſſen darin enthalten iſt. Aus den alten Erdbeſchreibern erſehen wir, daß bereits den Griechen die blauen Waſſer der Thermopylen, die roten bei Joppe, die ſchwarzen der heißen Bäder von Aſtyra, Lesbos gegenüber, aufgefallen waren. Manche Flüſſe, z. B. die Rhone bei Genf, haben eine entſchieden blaue Farbe. Das Schnee— waſſer in den Schweizeralpen ſoll zuweilen ſmaragdgrün ſein, in wieſengrün übergehend. Mehrere Seen in Savoyen und Peru ſind bräunlich, ja faſt ſchwarz. Die meiſten dergleichen Farbenerſcheinungen kommen bei Gewäſſern vor, welche für die reinſten gelten, und man wird ſich viel mehr an auf Ana— logieen gegründete Schlüſſe als an die unmittelbare Analyſe halten müſſen, um über dieſen noch ſehr dunklen Punkt einiges Licht zu verbreiten. In dem weit ausgedehnten Flußſyſteme, das wir bereiſt — und dieſer Umſtand ſcheint mir ſehr auf— fallend — kommen die ſchwarzen Waſſer vorzugsweiſe nur in dem Striche in der Nähe des Aequators vor. Um den 5. Grad nördlicher Breite fängt man an, ſie anzutreffen, und ſie ſind über den Aequator hinaus bis gegen den 2. Grad ſüdlicher Breite ſehr häufig. Die Mündung des Rio Negro liegt ſogar unter dem 3° 9 der Breite; aber auf dieſem ganzen Landſtriche kommen in den Wäldern und auf den Grasfluren weiße und ſchwarze Waſſer dergeſtalt untereinander vor, daß man nicht weiß, welcher Urſache man die Färbung des Waſſers zuſchreiben ſoll. Der Caſſiquiare, der ſich in den Rio Negro ergießt, hat weißes Waſſer wie der Orinoko, aus er entſpringt. Von zwei Nebenflüſſen des Caſſiquiare nahe bei einander, Siapa und Pacimony, iſt der eine weiß, der andere ſchwarz. Fragt man die Indianer nach den Urſachen dieſer ſonder— A. v. Humboldt, Reiſe. III. 13 — 194 — baren Färbung, ſo lautet ihre Antwort, wie nicht ſelten auch in Europa, wenn es ſich um phyſiſche und phyſiologiſche Fragen handelt: ſie wiederholen das Faktum mit anderen Worten. Wendet man ſich an die Miſſionäre, fo ſprechen ſie, als hätten ſie die ſtrengſten Beweiſe für ihre Behauptung, „das Waſſer färbe ſich, wenn es über Sarſaparillewurzeln laufe“. Die Smilaceen 10 allerdings am Rio Negro, Pa- cimony und Cababury ſehr häufig, und ihre Wurzeln geben in Waſſer eingeweicht einen braunen, bitteren, ſchleimigen Extraktivſtoff; aber wie viele Smilaxbüſche haben wir an Orten geſehen, wo die Waſſer ganz weiß ſind! Wie kommt es, daß wir im ſumpfigen Walde, durch den wir unſere Piroge vom Rio Tuamini zum Cano Pimichin und an den Rio Negro ſchleppen mußten, auf demſelben Landſtriche jetzt durch Bäche mit weißem, jetzt durch andere mit ſchwarzem Waſſer wateten? Warum hat man niemals einen Fluß gefunden, der ſeiner Quelle zu weiß und im unteren Stücke ſeines Laufes ſchwarz war? Ich weiß nicht, ob der Rio Negro ſeine braungelbe Farbe bis zur Mündung behält, obgleich ihm durch den Caſſiquiare und den Rio Blanco ſehr viel weißes Waſſer zu— fließt. Da La Condamine den Fluß nordwärts vom Aequator nicht. ſah, konnte er vom Unterſchied in der Farbe nicht urteilen. Die Vegetation iſt wegen der Regenfülle ganz in der Nähe des Aequators allerdings kräftiger als 8 bis 10° gegen Nord und gegen Süd; es läßt ſich aber keineswegs behaupten, daß die Flüſſe mit ſchwarzem Waſſer vorzugsweiſe in den dichteſten, ſchattigſten Wäldern entſpringen. Im Gegenteil kommen ſehr viele aguas negras aus den offenen Gras ſluren, die ſich vom Meta jenſeits des Guaviare gegen den Caqueta hinziehen. Auf einer Reiſe, die ich zur Zeit der Ueber— ſchwemmung mit Herrn von Montufar vom Hafen von Guaya— quil nach den Bodegas de Babaojo machte, fiel es mir auf, daß die weiten Savannen am Invernadero de Carzal und am Lagartero ganz ähnlich gefärbt waren wie der Rio Negro und der Atabapo. Dieſe zum Teil ſeit drei Monaten unter Waſſer ſtehenden Grasfluren beſtehen aus Paspalum, Eriochloa und mehreren Cyperaceen. Wir fuhren in 1,3 bis 1,6 m tiefem Waſſer; dasſelbe war bei Tage 33 bis 34% warm; es roch ſtark nach Schwefelwaſſerſtoff, was ohne Zweifel zum Teil von den faulenden Arum- und Helikonienſtauden her: rührte, die auf den Lachen ſchwammen. Das Waſſer des — 195 — Lagartero ſah bei durchgehendem Lichte goldgelb, bei reflek— tiertem kaffeebraun aus. Die Farbe rührt ohne Zweifel von gekohltem Waſſerſtoff her. Man ſieht etwas Aehnliches am Düngerwaſſer, das unſere Gärtner bereiten, und am Waſſer, das aus Torfgruben abfließt. Läßt ſich demnach nicht an: nehmen, daß auch die ſchwarzen Flüſſe, der Atabapo, der Zama, der Mataveni, der Guainia, von einer Kohlen- und Waſſerſtoffverbindung, von einem Pflanzenextraktivſtoff ge: färbt werden? Der ſtarke Regen unter dem Aequator trägt ohne Zweifel zur Färbung bei, indem das Waſſer durch einen dichten Grasfilz ſickert. Ich gebe dieſen Gedanken nur als Vermutung. Die färbende Subſtanz ſcheint in ſehr geringer Menge im Waſſer enthalten; denn wenn man Waſſer aus dem Guainia oder Rio Negro ſieden läßt, ſah ich es nicht braun werden wie andere Flüſſigkeiten, welche viel Kohlen— waſſerſtoff enthalten. Es erſcheint übrigens ſehr merkwürdig, daß dieſe ſchwarzen Waſſer, von denen man glauben ſollte, ſie ſeien auf die Nie— derungen der heißen Zone beſchränkt, gleichfalls, wenn auch ſehr ſelten, auf den Hochebenen der Anden vorkommen. Wir fanden die Stadt Cuenca im Königreich Quito von drei Bächen umgeben, dem Machangara, dem Rio del Matadero und dem Danuncai. Die zwei erſteren find weiß, letzterer hat ſchwarzes Waſſer. Dasſelbe iſt, wie das des Atabapo, kaffeebraun bei reflektiertem, blaßgelb bei durchgehendem Licht. Es iſt ſehr ſchön, und die Einwohner von Cuenca, die es vorzugsweiſe trinken, ſchreiben die Farbe ohne weiteres der Sarſaparille zu, die am Rio Panuncai ſehr häufig wachſen ſoll. Am 23. April. Wir brachen von der Mündung des Zama um 3 Uhr morgens auf. Auf beiden Seiten lief fort⸗ während dicker Wald am Strome hin. Die Berge im Oſten ſchienen immer weiter wegzurücken. Wir kamen zuerſt am Einfluſſe des Rio Mataveni und dann an einer merkwürdig geſtalteten Inſel vorbei. Ein viereckiger Granitfels ſteigt wie eine Kiſte gerade aus dem Waſſer empor; die Miſſionäre nennen ihn El Caſtillito. Aus ſchwarzen Streifen daran ſollte man ſchließen, daß der Orinoko, wenn er anſchwillt, an dieſer Stelle nicht über 2,6 m ſteigt, und daß die hohen Waſſer⸗ ſtände, die wir weiter unten beobachtet, von den Nebenflüſſen herrühren, die nördlich von den Katarakten von Atures und 1 hereinkommen. Wir übernachteten am rechten Ufer, der Mündung des Rio Siucurivapu gegenüber, bei einem — 196 — Felſen, der Aricagua heißt. In der Nacht kamen zahlloſe Fledermäuſe aus den Felsſpalten und ſchwirrten um unſere Hängematten. Ich habe früher von dem Schaden geſprochen, den dieſe Tiere unter den Herden anrichten. Sie vermehren ſich beſonders ſtark in ſehr trockenen Jahren. Am 24. April. Ein ſtarker Regen zwang uns, ſchon ſehr früh morgens die Piroge wieder zu beſteigen. Wir fuhren um 2 Uhr ab und mußten einige Bücher zurücklaſſen, die wir in der finſteren Nacht auf dem Felſen Aricagua nicht finden konnten. Der Strom läuft ganz gerade von Süd nach Nord; die Ufer ſind niedrig und zu beiden Seiten von dichten Wäl— dern beſchattet. Wir kamen an den Mündungen des Ucata, des Arapa und des Caranaveni vorüber. Gegen 4 Uhr abends ſtiegen wir bei den Conucos de Siquita aus, Pflanzungen von Indianern aus der Miſſion San Fernando. Die guten Leute hätten uns gerne behalten, aber wir fuhren weiter gegen den Strom, der in der Sekunde 1,62 m zurücklegt. Dies iſt das Ergebnis einer Meſſung, bei der ich die Zeit ſchätzte, die ein ſchwimmender Körper braucht, um eine gegebene Strecke zurückzulegen. Wir liefen bei finſterer Nacht in die Mündung des Guaviare ein, fuhren über den Zuſammenfluß des Atabapo mit dem Guaviare hinauf und langten nach Mitternacht in der Miſſion an. Wir erhielten unſere Wohnung, wie immer, im Kloſter, das heißt im Hauſe des Miſſionärs, der von unſerem unerwarteten Beſuche höchlich überraſcht war, uns aber nichtsdeſtoweniger mit der liebenswürdigſten Gaſtlichkeit aufnahm. Zweiundzwanzigſtes Kapitel. San Fernando de Atabapo. — San Baltaſar. — Die Flüſſe Temi und Tuamini. — Javita. — Trageplatz zwiſchen dem Tuamini und dem Rio Negro. Wir hatten in der Nacht faſt unvermerkt die Gewäſſer des Orinoko verlaſſen und ſahen uns bei Sonnenaufgang wie in ein anderes Land verſetzt, am Ufer eines Fluſſes, deſſen Namen wir faſt noch nie hatten ausſprechen hören, und auf dem wir über den Trageplatz am Pimichin zum Rio Negro an der Grenze Braſiliens gelangen ſollten. „Sie müſſen,“ ſagte uns der Präſident der Miſſionen, der in San Fernando ſeinen Sitz hat, „zuerſt den Atabapo, dann den Temi, endlich den Tuamini hinauffahren. Können Sie bei der ſtarken Strömung der ſchwarzen Waſſer nicht mehr weiter kommen, jo führt man Sie dom Flußbett weg durch die Wälder, die Sie unter Waſſer finden werden. Auf dieſem wüſten Land— ſtrich zwiſchen Orinoko und Rio Negro leben nur zwei Mönche, aber in Javita finden Sie die Mittel, um Ihre Piroge vier Tagereiſen weit über Land zum Cano Pimichin ziehen zu laſſen. Zerbricht ſie nicht, ſo fahren Sie ohne Anſtand den Rio Negro (von Nordweſt nach Südoſt) hinunter bis zur Schanze San Carlos, ſodann den Caſſiquiare (von Süd nach Nord) herauf und kommen in Monatsfriſt über den oberen Orinoko (von Oſt nach Weſt) wieder nach San Fernando.“ Dieſen Plan entwarf man uns für unſere Flußfahrt, und wir führten ihn nicht ohne Beſchwerden, aber immer leicht und ohne Gefahr in 33 Tagen aus. Die Krümmungen in dieſem Flußlabyrinth ſind ſo ſtark, daß man ſich ohne die Reiſekarte, die ich entworfen, vom Wege, auf dem wir von der Küſte von Caracas durch das innere Land an die Grenzen der Capitania General von Gran-Para gelangt ſind, ſo gut als keine Vorſtellung machen könnte. Für diejenigen, welche — 198 — nicht gerne in Karten blicken, auf denen viele ſchwer zu be⸗ haltende Namen ſtehen, bemerke ich nochmals, daß der Orinoko von ſeinen Quellen, oder doch von Esmeralda an von Oſt nach Weſt, von San Fernando, alſo vom Zuſammenfluß des Ata— bapo und des Guaviare an, bis zum Einfluß des Apure von Süd nach Nord fließt und auf dieſer Strecke die großen Ka: tarakte bildet, daß er endlich vom Einfluſſe des Apure bis Angoſtura und zur Seeküſte von Weſt nach Oſt läuft. Auf der erſten Strecke, auf dem Laufe von Oſt nach Weſt, bildet er die berühmte Gabelung, welche die Geographen ſo oft in Abrede gezogen und deren Lage ich zuerſt durch aſtronomiſche Beobachtungen beſtimmen konnte. Ein Arm des Orinoko, der Caſſiquiare, der von Nord nach Süd fließt, ergießt ſich in den Guainia oder Rio Negro, der ſeinerſeits in den Maranon oder Amazonenſtrom fällt. Der natürlichſte Weg zu Waſſer von Angoſtura nach Gran-Para wäre alſo den Orinoko hinauf bis Esmeralda, und dann den Caſſiquiare, Rio Negro und Amazonenſtrom hinunter; da aber der Rio Negro auf ſeinem oberen Laufe ſich ſehr den Quellen einiger Flüſſe nähert, die ſich bei San Fernando de Atabapo in den Orinoko ergießen (am Punkte, wo der Orinoko aus der Richtung von Oſt nach Weſt raſch in die von Süd nach Nord umbiegt), ſo kann man in den Rio Negro gelangen, ohne die Flußſtrecke zwiſchen San Fernando und Esmeralda hinaufzufahren. Man geht bei der Miſſion San Fernando vom Orinoko ab, fährt die zuſammenhängenden kleinen ſchwarzen Flüſſe (Atabapo, Temi und Tuamini) hinauf und läßt die Piroge über eine 11,7 Km breite Landenge an das Ufer eines Baches (Cano Pimichin) tragen, der in den Rio Negro fällt. Dieſer Weg, den wir einſchlugen, und der beſonders ſeit der Zeit, da Don Manuel Centurion Statthalter von Guyana war, gebräuchlich geworden, iſt ſo kurz, daß jetzt ein Bote von San Carlos am Rio Negro nach Angoſtura Briefſchaften in 24 Tagen bringt, während er früher über den Caſſiquiare herauf 50 bis 60 brauchte. Man kann alſo über den Atabapo aus dem Amazonenſtrom in den Orinoko kommen, ohne den Caſſiquiare herauf zu fahren, der wegen der ſtarken Strömung, des Mangels an Lebens— mitteln und der Moskiten gemieden wird. Für franzöſiſche Leſer führe ich hier ein Beiſpiel aus der hydrographiſchen Karte Frankreichs an. Wer von Nevers an der Loire nach Montereau an der Seine will, könnte, ſtatt auf dem Kanal von Orleans zu fahren, der, wie der Caſſiquiare, zwei Fluß— — 199 — ſyſteme verbindet, von den Zuflüſſen der Loire zu denen der Seine ſein Fahrzeug tragen laſſen; er könnte die Nievre hinauffahren, über eine Landenge beim Dorfe Menou gehen und ſofort die Nonne hinab in die Seine gelangen. Wir werden bald ſehen, welche Vorteile es hätte, wenn man über den ſumpfigen Landſtrich zwiſchen dem Tuamini und dem Pimichin einen Kanal zöge. Käme dieſer Plan einmal zur Ausführung, ſo hätte die Fahrt vom Fort San Carlos nach Angoſtura, der Hauptſtadt von Guyana, nur noch den Rio Negro herauf bis zur Miſſion Maroa einige Schwierigkeit; von da ginge es auf dem Tuamini, dem Temi, Atabapo und Orinoko abwärts. Ueber den Caſſiquiare iſt der Weg von San Carlos nach San Fernando am Atabapo weit unangenehmer und um die Hälfte länger als über Javita und den Cano Pimichin. Auf dieſem Landſtriche, in den zur Zeit der Grenzexpedition kein aſtronomiſches Werkzeug ge— kommen war, habe ich mit Louis Berthouds Chronometer und durch Meridianhöhen von Geſtirnen Länge und Breite von San Baltaſar am Atabapo, Javita, San Carlos am Rio Negro, des Felſen Culimacari und der Miſſion Esmeralda beſtimmt; die von mir entworfene Karte hat ſomit die Zweifel über die gegenſeitigen Entfernungen der chriſtlichen Nieder: laſſungen gehoben. Wenn es keinen anderen Weg gibt als auf vielgekrümmten, verſchlungenen Gewäſſern, wenn in dichten Wäldern nur kleine Dörfer ſtecken, wenn auf völlig ebenem Lande kein Berg, kein erhabener Gegenſtand von zwei Punkten zugleich ſichtbar iſt, kann man nur am Himmel leſen, wo man ſich auf Erden befindet. In den wildeſten Ländern der heißen Zone fühlt man mehr als anderswo das Bedürfnis aſtronomiſcher Beobachtungen. Dieſelben ſind dort nicht allein nützliche Hilfsmittel, um Karten zu vollenden und zu ver— beſſern, ſie ſind vielmehr zur Aufnahme des Terrains von vorne herein unerläßlich. Der Miſſionär von San Fernando, bei dem wir zwei Tage verweilten, führt den Titel eines Präſidenten der Miſ— ſionen am Orinoko. Die 26 Ordensgeiſtlichen, die am Rio Negro, Caſſiquiare, Atabapo, Caura und Orinoko leben, ſtehen unter ihm und er ſeinerſeits ſteht unter dem Guardian des Kloſters in Nueva Barcelona, oder, wie man hier ſagt, des Colegio de la Purisima Concepeion de Propaganda Fide. Sein Dorf ſah etwas wohlhabender aus, als die wir bis jetzt auf unſerem Wege angetroffen, indeſſen hatte es doch nur — 200 — 266 Einwohner. Ich habe ſchon öfters bemerkt, daß die Miſſionen in der Nähe der Küſten, die gleichfalls unter den Obſervanten ſtehen, z. B. Pilar, Caigua, Huere und Cupapui, zwiſchen 800 und 2000 Einwohner zählen. Es ſind größere und ſchönere Dörfer als in den kultivierteſten Ländern Europas. Man verſicherte uns, die Miſſion San Fernando hahe un— mittelbar nach der Gründung eine ſtärkere Bevölkerung gehabt als jetzt. Da wir auf der Rückreiſe vom Rio Negro noch einmal an den Ort kamen, ſo ſtelle ich hier die Beobachtungen zuſammen, die wir an einem Punkte des Orinoko gemacht, der einmal für den Handel und die Gewerbe der Kolonien von großer Bedeutung werden kann. San Fernando de Atabapo liegt an der Stelle, wo drei große Flüſſe, der Orinoko, der Guaviare und der Atabapo ſich vereinigen. Die Lage iſt ähnlich wie die von St. Louis oder Neumadrid am Einfluſſe des Miſſouri und des Ohio in den Miſſiſſippi. Je größeren Aufſchwung der Handel in dieſen von ungeheuren Strömen durchzogenen Ländern nimmt, deſto mehr werden die Städte, die an zwei Flüſſen liegen, von ſelbſt Schiffsſtationen, Stapelplätze für die Handelsgüter, wahre Mittelpunkte der Kultur. Pater Gumilla geſteht, daß zu ſeiner Zeit kein Menſch vom Laufe des Orinoko oberhalb des Einfluſſes des Guaviare etwas gewußt habe. Er ſagt ferner ſehr naiv, er habe ſich an Einwohner von Timana und Paſto um einige, noch dazu unſichere Auskunft über den oberen Orinoko wenden müſſen. Heutzutage erkundigt man ſich aller— dings nicht in den Anden von Popayan nach einem Fluſſe, der am Weſtabhange der Gebirge von Cayenne entſpringt. Pater Gumilla verwechſelte zwar nicht, wie man ihm ſchuld gegeben, die Quellen des Guaviare und die des Orinoko; da er aber das Stück des letzteren Fluſſes, das von Esmeralda San Fernando zu von Oſt nach Weſt gerichtet iſt, nicht kannte, ſo ſetzt er voraus, man müſſe, um oberhalb der Katarakte und der Einmündung des Vichada und Guaviare den Orinoko weiter hinaufzukommen, ſich nach Südweſt wenden. Zu jener Zeit hatten die Geographen die Quellen des Orinoko in die Nähe der Quellen des Putumayo und Camqueta an den öſt— lichen Abhang der Anden von Paſto und Popayan geſetzt, alſo nach meinen Längenbeſtimmungen auf dem Rücken der Kordilleren und in Esmeralda, 1080 km vom richtigen Punkte. Unrichtige Angaben La Condamines über die Verzweigungen des Caqueta, wodurch Sanſons Annahmen Beſtätigung zu — 201 — finden ſchienen, haben Irrtümer verbreiten helfen, die ſich jahrhundertelang erhalten haben. In der erſten Ausgabe ſeiner großen Karte von Südamerika (eine ſehr ſeltene Aus— gabe, die ich auf der großen Pariſer Bibliothek gefunden habe) zeichnete d'Anville den Rio Negro als einen Arm des Orinoko, der vom Hauptſtrome zwiſchen den Einflüſſen des Meta und des Vichada, in der Nähe des Katarakts von Los Aſtures (Atures) abgeht. Dieſem großen Geographen war damals die Exiſtenz des Caſſiquiare und des Atabapo ganz unbekannt, und er ließ den Orinoko oder Rio Paragua, den Japura und den Putumayo aus drei Zweigen des Caqueta entſpringen. Erſt durch die Grenzexpedition unter dem Befehl Ituriagas und Solanos wurde das wahre Verhältnis bekannt. Solano war als Ingenieur bei der Expedition und ging im Jahre 1756 über die großen Katarakte bis zum Einfluſſe des Guaviare hinauf. Er ſah, daß man, um auf dem Orinoko weiter hinauf— zukommen, ſich oſtwärts wenden müſſe, und daß die Waſſer des Guaviare, der 9 km weiter oben den Atabapo aufgenommen hat, da hereinkommen, wo der Strom unter 44“ der Breite die große Wendung macht. Da Solano daran gelegen war, den portugieſiſchen Beſitzungen ſo nahe als möglich zu kommen, ſo entſchloß er ſich, gegen Süd vorzudringen. Er fand am Zuſammenfluſſe des Atabapo und Guaviare Indianer von der kriegeriſchen Nation der Guaypunabis angeſiedelt. Er lockte ſie durch Geſchenke an ſich und gründete mit ihnen die Miſſion San Fernando, die er, in der Hoffnung, ſich beim Miniſterium in Madrid wichtig zu machen, emphatiſch Villa betitelte. Um die politiſche Bedeutung dieſer Niederlaſſung zu würdigen, muß man die damaligen Machtverhältniſſe zwiſchen den kleinen Indianerſtämmen in Guyana ins Auge faſſen. Die Ufer des unteren Orinoko waren lange der Schauplatz der blutigen Kämpfe zwiſchen zwei mächtigen Völkern, den Cabres und den Kariben, geweſen. Letztere, deren eigentliche Wohnſitze ſeit dem Ende des 17. Jahrhunderts zwiſchen den Quellen des Carony, des Eſſequibo, des Orinoko und des Rio Parime liegen, waren nicht allein bis zu den großen Katarakten Herren des Landes, ſie machten auch Einfälle in die Länder am oberen Orinoko, und zwar über die Trage— plätze zwiſchen dem Paruspa und dem Caura, dem Erevato und dem Ventuari, dem Conorichite und dem Atacavi. Nie— mand wußte ſo gut, wie ſich die Flüſſe verzweigen, wo die — 202 — Nebenflüſſe zur Hand ſind, wie man auf dem kürzeſten Wege ans Ziel kommt. Die Kariben hatten die Cabres geſchlagen und beinahe ausgerottet; waren ſie jetzt aber Herren am unteren Orinoko, jo ſtießen fie auf Wiederſtand bei den Guay- punabis, die ſich am oberen Orinoko die Herrſchaft errungen hatten und neben den Cabres, Manitivitanos und Parenis die ärgſten Anthropophagen in dieſem Landſtrich ſind. Sie waren urſprünglich am großen Fluſſe Inirida bei ſeiner Ver— einigung mit dem Chamochiquini und im Gebirgslande von Mabicore zu Hauſe. Um das Jahr 1744 hieß ihr Häupt⸗ ling oder, wie die Eingeborenen ſagen, ihr Apoto (König), Macapu, ein Mann, durch Geiſteskraft und Mut gleich aus— gezeichnet. Er war mit einem Teile ſeiner Nation an den Atabapo gekommen, und als der Jeſuit Roman ſeinen merk— würdigen Zug vom Orinoko an den Rio Negro machte, ge— ſtattete Macapu, daß der Miſſionär einige Familien Guay⸗ punabis mitnahm, um ſie in Uriana und beim Katarakt von Maypures anzuſiedeln. Dieſe Nation gehört der Sprache nach dem großen Volksſtamme der Maypures an; ſie iſt gewerb— fleißiger, man könnte beinahe ſagen civiliſierter als die anderen Völker am oberen Orinoko. Nach dem Berichte der Miſſionäre waren die Guaypunabis, als ſie in dieſen Ländern die Herren ſpielten, faſt alle bekleidet und beſaßen anſehnliche Dörfer. e Nach Macapus Tode ging das Regiment auf einen anderen Krieger über, auf Cuſeru, von den Spaniern Kapitän Cru: zero genannt. Er hatte am Inirida Verteidigungslinien und eine Art Fort aus Erde und Holz angelegt. Die Pfähle waren über 5m hoch und umgaben das Haus des Apoto, ſowie eine Niederlage von Bogen und Pfeilen. Pater Forneri beſchreibt dieſe in einem ſonſt ſo wilden Lande merkwürdigen Anlagen. Am Rio Negro waren die Stämme der Marepizanas und Manitivitanos die mächtigſten. Die Häuptlinge der erſteren waren ums Jahr 1750 zwei Krieger Namens Imu und Ga: jamu; der König der Manitivitanos war Cocuy, vielberufen wegen ſeiner Grauſamkeit und ſeiner raffinierten Schwelgerei. Zu meiner Zeit lebte noch ſeine Schweſter in der Nähe der Miſſion Maypure. Man lächelt, wenn man hört, daß Männer wie Cuſeru, Imu und Cocuy hierzulande ſo berühmt ſind wie in Indien die Holkar, Tippo und die mächtigſten Fürſten. Die Häuptlinge der Guaypunabis und Manitivitanos fochten mit kleinen Haufen von 200 bis 300 Mann; aber in der 2 — 203 — langen Fehde verwüſteten ſie die Miſſionen, wo die armen Ordensleute nur 15 bis 20 ſpaniſche Soldaten zur Verfügung hatten. Horden, wegen ihrer Kopfzahl und ihrer Verteidigungs— mittel gleich verächtlich, verbreiteten einen Schrecken, als wären es Heere. Den Patres Jeſuiten gelang es nur dadurch, ihre Miſſionen zu retten, daß ſie Liſt wider Gewalt ſetzten. Sie zogen einige mächtige Häuptlinge in ihr Intereſſe und ſchwächten die Indianer durch Entzweiung. Als Ituriaga und Solano auf ihrem Zuge an den Orinoko kamen, hatten die Miſſionen von den Einfällen der Kariben nichts mehr zu befürchten. Cuſeru hatte ſich hinter den Granitbergen von Sipapo nieder— gelaſſen; er war der Freund der Jeſuiten; aber andere Völker vom oberen Orinoko und Rio Negro, die Marepizanos, Amui— zanos und Manitivitanos, fielen unter Imus, Cajamus und Cocuys Führung von Zeit zu Zeit in das Land nordwärts von den großen Katarakten ein. Sie hatten andere Beweg— gründe zur Feindſeligkeit als Haß. Sie trieben Menſchen— jagd, wie es früher bei den Kariben Brauch geweſen und wie es in Afrika noch Brauch iſt. Bald lieferten ſie Sklaven (poitos) den Holländern oder Paranaquiri (Meerbewohner); bald verkauften ſie dieſelben an die Portugieſen oder Jaranavi (Muſikantenſöhne).! In Amerika wie in Afrika hat die Habſucht der Europäer gleiches Unheil geſtiftet; ſie hat die Eingeborenen gereizt, ſich zu bekriegen, um Gefangene zu be— kommen. Ueberall führt der Verkehr zwiſchen Völkern auf ſehr verſchiedenen Bildungsſtufen zum Mißbrauch der phy— ſiſchen Gewalt und der geiſtigen Ueberlegenheit. Phönizien und Karthago ſuchten einſt ihre Sklaven in Europa; heut— zutage liegt dagegen die Hand Europas ſchwer auf den Ländern, wo es die erſten Keime ſeines Wiſſens geholt, wie auf denen, wo es dieſelben, ſo ziemlich wider Willen, ver— breitet, indem es ihnen die Erzeugniſſe ſeines Gewerbfleißes zuführt. Ich habe hier treu berichtet, was ich über die Zuſtände eines Landes in Erfahrung bringen konnte, wo die beſiegten Völker nach und nach abſterben und keine andere Spur ihres Daſeins hinterlaſſen als ein paar Worte ihrer Sprache, welche Die wilden Völker bezeichnen jedes europäiſche Handelsvolk mit Beinamen, die ganz zufällig entſtanden zu ſein ſcheinen. Ich habe ſchon oben bemerkt, daß die Spanier vorzugsweiſe bekleidete Menſchen, Pon gheme oder Uavemi, heißen. — 204 — die ſiegenden Völker in die ihrige aufnehmen. Wir haben geſehen, daß im Norden, jenſeits der Katarakte, die Kariben und die Cabres, ſüdwärts am oberen Orinoko die Guaypunabis, am Rio Negro die Marepizanos und Manitivitanos die mäch— tigſten Nationen waren. Der lange Widerſtand, den die unter einem tapferen Führer vereinigten Cabres den Kariben geleiſtet, hatte jenen nach dem Jahre 1720 zum Verderben gereicht. Sie hatten ihre Feinde an der Mündung des Rio Caura ge⸗ ſchlagen; eine Menge Kariben wurden auf ihrer eiligen Flucht zwiſchen den Stromſchnellen des Torno und der Isla del Infierno erſchlagen. Die Gefangenen wurden verzehrt; aber mit jener raffinierten Verſchlagenheit und Grauſamkeit, wie ſie den Völkern Süd- wie Nordamerikas eigen iſt, ließen ſie einen Kariben am Leben, der, um Zeuge des barbariſchen Auftrittes zu ſein, auf einen Baum ſteigen und ſofort den eſchagenen die Kunde davon überbringen mußte. Der Siegesrauſch Teps, des Häuptlings der Cabres, war von kurzer Dauer. Die Kariben kamen in ſolcher Maſſe wieder, daß nur kümmerliche Reſte der menſchenfreſſenden Cabres am Rio Cuchivero ae blieben. Am oberen Orinoko lagen Cocuy und Cuſeru im erbit— tertſten Kampfe gegeneinander, als Solano an der Mündung des Guaviare erſchien. Erſterer hatte für die Portugieſen Partei ergriffen; der letztere, ein Freund der Jeſuiten, that es dieſen immer zu wiſſen, wenn die Manitivitanos gegen die chriſtlichen Niederlaſſungen in Atures und Carichana im Anzuge waren. Cuſeru wurde erſt wenige Tage vor ſeinem Tode Chriſt; er hatte aber im Gefecht an ſeine linke Hüfte ein Kruzifix gebunden, das die Miſſionäre ihm geſchenkt und mit dem er ſich für unverletzlich hielt. Man erzählte uns eine Anekdote, in der ſich ganz ſeine wilde Leidenſchaftlichkeit aus— ſpricht. Er hatte die Tochter eines indianiſchen Häuptlings vom Rio Temi geheiratet. Bei einem Ausbruch von Groll gegen ſeinen Schwiegervater ul er ſeinem Weibe, er ziehe aus, ſich mit ihm zu meſſen. Das Weib gab ihm zu bedenken, wie tapfer und ausnehmend ſtark ihr Vater ſei; da nahm Cuſeru, ohne ein Wort weiter zu ſprechen, einen vergifteten Pfeil und ſchoß ihr ihn durch die Bruſt. Im Jahre 1756 verſetzte die Ankunft einer kleinen Abteilung ſpaniſcher Truppen unter Solanos Befehl dieſen Häuptling der Guaypunabis in üble Stimmung. Er ſtand im Begriffe, es auf ein Gefecht ankommen zu laſſen, da gaben ihm die Patres Jeſuiten zu verſtehen, wie es fein Vorteil wäre, ſich mit den Chriſten zu vertragen. Cuſeru ſpeiſte am Tiſche des ſpaniſchen Generals; man köderte ihn mit Verſprechungen, namentlich mit der Aus— ſicht, daß man nächſtens ſeinen Feinden den Garaus machen werde. Er war König geweſen, nunmehr ward er Dorfſchulze und ließ ſich dazu herbei, ſich mit den Seinigen in der neuen Miſſion San Fernando de Atabapo niederzulaſſen. Ein ſolch trauriges Ende nahmen meiſt jene Häuptlinge, welche bei Reiſenden und Miſſionären indianiſche Fürſten heißen. „In meiner Miſſion,“ ſagt der gute Pater Gili, „hatte ich fünf Reyecillos (kleine Könige) der Tamanaken, Avarigoten, Parecas, Quaqua und Maypures. In der Kirche ſetzte ich alle nebeneinander auf eine Bank, ermangelte aber nicht, den erſten Platz Monaiti, dem Könige der Tamanaken, an: zuweiſen, weil er mich bei der Gründung des Dorfes unter— ſtützt hatte. Er ſchien ganz ſtolz auf dieſe Auszeichnung.“ Wir ſind auch Pater Gilis Meinung, daß ehemalige, von ihrer Höhe herabgeſunkene Gewalthaber ſelten mit ſo wenigem zufriedenzuſtellen ſind. Als Cuſeru, der Häuptling der Guaypunabis, die ſpani— ſchen Truppen durch die Katarakte ziehen ſah, riet er Don Joſe Solano, die Niederlaſſung am Atabapo noch ein ganzes Jahr aufzuſchieben; er prophezeite Unheil, das denn auch nicht ausblieb. „Laßt mich,“ ſagte Cuſeru zu den Jeſuiten, „mit den Meinigen arbeiten und das Land umbrechen; ich pflanze Maniok, und ſo habt ihr ſpäter mit ſo vielen Leuten zu leben.“ Solano, in ſeiner Ungeduld, weiter vorzudringen, hörte nicht auf den Rat des indianiſchen Häuptlings. Die neuen An— ſiedler in San Fernando verfielen allen Schreckniſſen der Hungersnot. Man ließ mit großen Koſten zu Schiff auf dem Meta und dem Vichada Mehl aus Neugranada kommen. Die Vorräte langten aber zu ſpät an, und viele Europäer und Indianer erlagen den Krankheiten, die in allen Himmels⸗ ſtrichen Folgen des Mangels und der geſunkenen moraliſchen Kraft ſind. Man ſieht in San Fernando noch einige Spuren von Anbau; jeder Indianer hat eine kleine Pflanzung von Kafao- bäumen. Die Bäume tragen vom fünften Jahre an reichlich, aber ſie hören damit früher auf als in den Thälern von Aragua. Die Bohne iſt klein und von vorzüglicher Güte. Ein Almuda deren zehn auf eine Fanega gehen, koſtet in San Fernando 6 Realen, etwa 4 Franken, an den Küſten — 206 — wenigſtens 20 bis 25 Franken; aber die ganze Miſſion erzeugt kaum 80 Fanegas im Jahre, und da, nach einem alten Miß— brauche, die Miſſionäre am Orinoko und Rio Negro allein mit Kakao Handel treiben, ſo wird der Indianer nicht auf— gemuntert, einen Kulturzweig zu erweitern, von dem er ſo gut wie keinen Nutzen hat. Es gibt bei San Fernando ein paar Savannen und gute Weiden; man ſieht aber kaum ſieben oder acht Kühe darauf, Ueberbleibſel der anſehnlichen Herde, welche die Grenzexpedition ins Land gebracht. Die Indianer ſind etwas civiliſierter als in den anderen Miſſionen. Zu unſerer Ueberraſchung trafen wir einen Schmied von der ein: geborenen Raſſe. Was uns in der Miſſion San Fernando am meiſten auffiel und was der Landſchaft einen eigentümlichen Charakter gibt, das iſt die Pihiguao- oder Pirijao-Palme. Der mit Stacheln bewehrte Stamm iſt über 20 m hoch; die Blätter ſind gefiedert, ſehr ſchmal, wellenförmig und an den Spitzen gekräuſelt. Höchſt merkwürdig ſind die Früchte des Baumes; jede Traube trägt 50 bis 80; ſie ſind gelb wie Apfel, werden beim Reifen rot, find 5 bis 8 em dick und der Fruchtkern kommt meiſt nicht zur Entwickelung. Unter den 80 bis 90 Palmenarten, die ausſchließlich der Neuen Welt angehören und die ich in den Nova genera plantarum aequinoctialium aufgezählt, iſt bei keiner das Fruchtfleiſch ſo außerordentlich ſtark entwickelt. Die Frucht des Pirijao enthält einen meh— ligen, eigelben, nicht ſtark ſüßen, ſehr nahrhaften Stoff. Man ißt ſie wie die Banane und die Kartoffel, geſotten oder in der Aſche gebraten; es iſt ein ebenſo geſundes als angenehmes Nahrungsmittel. Indianer und Miſſionäre erſchöpfen ſich im Lobe dieſer herrlichen Palme, die man die Pfirſichpalme nennen könnte und die in San Fernando, San Baltaſar, Santa Barbara, überall, wohin wir nach Süd und Oſt am Atabapo und oberen Orinoko kamen, in Menge angebaut fanden. In dieſen Landſtrichen erinnert man ſich unwillkürlich der Behauptung Linnés, die Palmenregion ſei die urſprüng⸗ liche Heimat unſeres Geſchlechtes, der Menſch ſei eigentlich ein Palmfruchteſſer.! Muſtert man die Vorräte in den Hütten der Indianer, ſo ſieht man, daß mehrere Monate im Homo habitat inter tropicos, vescitur Palmis, Loto- phagus; hospitatur extra tropicos sub novercante Cerere, carnivorus, — 207 — Jahre die mehlige Frucht des Pirijao für ſie ſo gut ein Hauptnahrungsmittel iſt als der Maniok und die Banane. Der Baum trägt nur einmal im Jahre, aber oft drei Trauben, alſo 150 bis 200 Früchte. San Fernando de Atabapo, San Carlos und San Fran⸗ cisco Solano ſind die bedeutendſten Miſſionen am oberen Orinoko. In San Fernando wie in den benachbarten Dörfern San Baltaſar und Javita fanden wir hübſche Pfarrhäuſer, mit Schlingpflanzen bewachſen und mit Gärten umgeben. Die ſchlanken Stämme der Pirijaopalme waren in unſeren Augen die Hauptzierde dieſer Pflanzungen. Auf unſeren Spazier⸗ gängen erzählte uns der Pater Präſident ſehr lebhaft von ſeinen Fahrten auf dem Rio Guaviare. Er ſprach davon, wie ſehr ſich die Indianer auf Züge „zur Eroberung von Seelen“ freuen; jedermann, ſelbſt Weiber und Greiſe, wollen daran teilnehmen. Unter dem nichtigen Vorwande, man ver— folge Neubekehrte, die aus dem Dorfe entlaufen, ſchleppt man dabei acht⸗ bis zehnjährige Kinder fort und verteilt ſie an die Indianer in den Miſſionen als Leibeigene oder Poitos. Die Reiſetagebücher, die Pater Bartolomeo Mancilla uns ge⸗ fällig mitteilte, enthalten ſehr wichtiges geographiſches Material. Weiter unten, wenn von den Hauptnebenflüſſen des Orinoko die Rede ſein wird, vom Guaviare, Ventuari, Meta, Caura und Carony, gebe ich eine Ueberſicht dieſer Entdeckungen. Hier nur ſo viel, daß es, nach meinen aſtronomiſchen Beobachtungen am Atabapo und auf dem weſtlichen Abhange der Kordillere der Anden beim Paramo de la Suma Paz, von San Fer⸗ nando bis zu den erſten Dörfern in den Provinzen Caguan und San Juan de los Llanos nicht mehr als 480 km ift. Auch verſicherten mich Indianer, die früher weſtlich von der Inſel Amanaveni, jenſeits des Einfluſſes des Rio Supavi, gelebt, ſie haben auf einer Luſtfahrt im Kande (was die Wilden ſo heißen) auf dem Guaviare bis über die Angoſtura (den Engpaß) und den Hauptwaſſerfall hinauf, in drei Tagereiſen Entfernung bärtige und bekleidete Männer getroffen, welche Eier der Terekey⸗Schildkröte ſuchten. Darüber waren die Indianer ſo erſchrocken, daß ſie in aller Eile umkehrten und den Guaviare wieder hinunterfuhren. Wahrſcheinlich kamen dieſe weißen, bärtigen Männer aus den Dörfern Aroma und San Martin, da ſich die zwei Flüſſe Ariari und Guayavero zum Guaviare vereinigen. Es iſt nicht zu verwundern, daß die Miſſionäre am Orinoko und Atabapo faſt keine Ahnung — 208 — davon haben, wie nahe ſie bei den Miſſionären von Mocoa, am Rio Fragua und Caguan leben. In dieſen öden Land⸗ ſtrichen kann man nur durch Längenbeobachtungen die wahren Entfernungen kennen lernen, und nur nach aſtronomiſchen Er: mittelungen und den Erkundigungen, die ich in den Klöſtern zu Popayan und Paſto weſtwärts von den Kordilleren der Anden eingezogen, erhielt ich einen richtigen Begriff von der gegenſeitigen Lage der chriſtlichen Niederlaſſungen am Atabapo, Guayavero und Caqueta. Sobald man das Bett des Atabapo betritt, iſt alles anders, die Beſchaffenheit der Luft, die Farbe des Waſſers, die Geſtalt der Bäume am Ufer. Bei Tage hat man von den Moskiten nicht mehr zu leiden; die Schnaken mit langen Füßen (Zancudos) werden bei Nacht ſehr ſelten, ja oberhalb der Miſſion San Fernando verſchwinden dieſe Nachtinſekten ganz. Das Waſſer des Orinoko iſt trübe, voll erdiger Stoffe, und in den Buchten hat es wegen der vielen toten Krokodile und anderer faulender Körper einen biſamartigen, ſüßlichen Geruch. Um dieſes Waſſer trinken zu können, mußten wir es nicht ſelten durch ein Tuch ſeihen. Das Waſſer des Ata- bapo dagegen iſt rein, von angenehmem Geſchmack, ohne eine Spur von Geruch, bei reflektiertem Lichte bräunlich, bei durch— gehendem gelblich. Das Volk nennt dasſelbe „leicht“, im Gegenſatze zum trüben, ſchweren Orinokowaſſer. Es iſt meiſt um 2°, der Einmündung des Rio Temi zu um 3° kühler als der obere Orinoko. Wenn man ein ganzes Jahr lang Waſſer von 27 bis 28° trinken muß, hat man ſchon bei ein paar Graden weniger ein äußerſt angenehmes Gefühl. Dieſe geringere Temperatur rührt wohl daher, daß der Fluß nicht ſo breit iſt, daß er keine ſandigen Ufer hat, die ſich am Orinoko bei Tag auf 50° erhitzen, und daß der Atabapo, Temi, Tuamini und der Rio Negro von dichten Wäldern beſchattet ſind. Daß die ſchwarzen Waſſer ungemein rein ſein müſſen, das zeigt ihre Klarheit und Durchſichtigkeit und die Deutlich— keit, mit der ſich die umgebenden Gegenſtände nach Umriß und Färbung darin ſpiegeln. Auf 7 bis 10 m tief ſieht man die kleinſten Fiſche darin und meiſt blickt man bis auf den Grund des Fluffes hinunter. Und dieſer iſt nicht etwa Schlamm von der Farbe des Fluſſes, gelblich oder bräunlich, ſondern blendend weißer Quarz- und Granitſand. Nichts geht über die Schönheit der Ufer des Atabapo; ihr üppiger W anzen⸗ — 209 — wuchs, über den Palmen mit Federbuſchlaub hoch in die Luft ſteigend, ſpiegelt ſich im Fluß. Das Grün am re— flektierten Bilde iſt ganz ſo ſatt als am direkt geſehenen Gegenſtand, ſo glatt und eben iſt die Waſſerfläche, ſo frei von ſuspendiertem Sand und organiſchen Trümmern, die auf der Oberfläche minder heller Flüſſe Streifen und Un⸗ ebenheiten bilden. Wo man vom Orinofo abfährt, kommt man, aber ohne alle Gefahr, über mehrere kleine Stromſchnellen. Mitten in dieſen Raudialitos ergießt ſich, wie die Miſſionäre an⸗ nehmen, der Atabapo in den Orinoko. Nach meiner Anſicht ergießt ſich aber der Atabapo vielmehr in den Guaviare, und dieſen Namen ſollte man der Flußſtrecke vom Orinoko bis zur Miſſion San Fernando geben. Der Rio Guaviare iſt weit breiter als der Atabapo, hat weißes Waſſer, und der ganze Anblick ſeiner Ufer, ſeine gefiederten Fiſchfanger, ſeine Fiſche, die großen Krokodile, die darin . machen, daß er dem Orinoko weit mehr gleicht als der Teil dieſes Fluſſes, der von Esmeralda herkommt. Wenn ſich ein Strom durch die Vereinigung zweier faſt gleich breiten Flüſſe bildet, ſo iſt ſchwer zu ſagen, welchen derſelben man als die Quelle zu betrachten hat. Die Indianer in San Fernando haben noch heute eine Anſchauung, die der der Geographen gerade zu— widerläuft. Sie behaupten, der Orinoko entſpringe aus zwei Flüſſen, aus dem Guaviare und dem Rio Paragua. Unter letzterem Namen verſtehen ſie den oberen Orinoko von San Fernando und Santa Barbara bis über Esmeralda hinauf. Dieſer Annahme zufolge iſt ihnen der Caſſiquiare kein Arm des Orinoko, ſondern des Rio Paragug. Ein Blick auf die von mir entworfene Karte zeigt, daß dieſe Benennungen völlig willkürlich ſind. Ob man dem Rio Paragua den Namen Orinoko abſtreitet, daran iſt wenig gelegen, wenn man nur den Lauf der Flüſſe naturgetreu zeichnet, und nicht, wie man vor meiner Reiſe gethan, Flüſſe, die untereinander zuſammen— hängen und ein Syſtem bilden, durch eine Gebirgskette ge— trennt ſein läßt. Will man einen der beiden Zweige, die einen großen Fluß bilden, nach dem letzteren benennen, ſo muß man den Namen dem waſſerreichſten derſelben beilegen. In den beiden Jahreszeiten, wo ich den Guaviare und den oberen Orinoko oder Rio Paragua (zwiſchen Esmeralda und San Fernando) geſehen, kam es mir nun aber vor, als wäre letzterer nicht jo breit als der Guaviare. Die Ve reinigung A. v. Humboldt, Reiſe. III. 14 — 210 — des oberen Miſſiſſippi mit dem Miſſouri und Ohio, die des Maranon mit dem Huallaga und Ucayale, die des Indus mit dem Chumab und Gurra oder Sutledge haben bei den reiſenden Geographen ganz dieſelben Bedenken erregt. Um die rein willkürlich angenommene Flußnomenklatur nicht noch mehr zu verwirren, ſchlage ich keine neuen Benennungen vor. Ich nenne mit Pater Caulin und den ſpaniſchen Geographen 0 Fluß bei Esmeralda auch ferner Orinoko oder oberen Orinoko, bemerke aber, daß wenn man den Orinoko von San Fernando de Atabapo bis zum Delta, das er der Inſel Trinidad gegenüber bildet, als eine Fortſetzung des Rio Gua— viare und das Stück des oberen Orinoko zwiſchen Esmeralda und der Miſſion San Fernando als einen Nebenfluß betrach— tete, der Orinoko von den Savannen von San Juan de los Llanos und dem Oſtabhang der Anden bis zu ſeiner Mün— dung eine gleichförmigere und natürlichere Richtung von Süd— weſt nach Nordoſt hätte. Der Rio Paragua oder das Stück des Orinoko, auf dem man oſtwärts von der Mündung des Guaviare hinauffährt, hat klareres, durchſichtigeres und reineres Waſſer als das Stück unterhalb San Fernando. Das Waſſer des Guaviare dagegen iſt weiß und trüb; es hat, nach dem Ausſpruch der Indianer, deren Sinne ſehr ſcharf und ſehr geübt ſind, den⸗ ſelben Geſchmack wie das Waſſer des Orinoko in den großen Katarakten. „Gebt mir,“ ſagte ein alter Indianer aus der Miſſion Javita zu uns, „Waſſer aus drei, vier großen Flüſſen des Landes, ſo ſage ich euch nach dem Geſchmack zuverläſſig, wo das Waſſ er geſchöpft worden, ob aus einem weißen oder ſchwarzen Fluß, ob aus dem Orinoko oder dem Atabapo, dem Paragua oder Guaviare.“ Auch die großen K rokodile und Ne Delphine (Toninas) haben der Guaviare und der untere Orinoko miteinander gemein; dieſe Tiere kommen, wie man uns ſagte, im Rio Paragua (oder oberen Orinoko zwiſchen San Fernando und Esmeralda) gar nicht vor. Dies ſind doch ſehr auffallende Verſchiedenheiten hinſichtlich der Beſchaffen— heit der Gewäſſer und der Verteilung der Tiere. Die In— dianer verfehlen nicht, ſie aufzuzählen, wenn fie den Reiſen— den beweiſen wollen, daß der obere Orinoko öſtlich von San Fernando ein eigener, ſich in den Orinoko ergießender Fluß, und der wahre Urſprung des letzteren in den Quellen des Guaviare zu ſuchen ſei. Die europäiſchen Geographen haben ſicher unrecht, daß ſie die Anſchauung der Indianer nicht — 211 — teilen, welche die natürlichen Geographen ihres Landes find; aber bei Nomenklatur und Orthographie thut man nicht ſelten gut, eine Unrichtigkeit, auf die man aufmerkſam gemacht, dennoch ſelbſt beizubehalten. Meine aſtronomiſchen Beobachtungen in der Nacht des 25. April gaben mir die Breite nicht ſo beſtimmt, als zu wünſchen war. Der Himmel war bewölkt und ich konnte nur ein paar Höhen von „ im Centaur und dem ſchönen Sterne am Fuße des ſüdlichen Kreuzes nehmen. Nach dieſen Höhen ſchien mir die Breite der Miſſion San Fernando gleich 4° 2. 48“; Pater Caulin gibt auf der Karte, die Solanos Beob— achtungen im Jahre 1756 zu Grunde legt, 4° 4 an. Dieſe Uebereinſtimmung ſpricht für die Richtigkeit meiner Beob— achtung, obgleich ſich dieſelbe nur auf Höhen ziemlich weit vom Meridian gründet. Eine gute Sternbeobachtung in Gua— paſoſo ergibt mir für San Fernando 4° 2“. (Gumilla ſetzte den Zuſammenfluß des Atabapo und Guaviare unter 0% 30°, d Auville unter 2° 51°.) Die Länge konnte ich auf der Fahrt zum Rio Negro und auf dem Rückweg von dieſem Fluß ſehr genau beſtimmen: ſie iſt 70° 30° 46“ (oder 407 weſtlich vom Meridian von Cumana). Der Gang des Chronometers war während der Fahrt im Kanoe fo regelmäßig, daß er vom 16. April bis 9. Juli nur um 27,9 bis 28,5 Sekunden ab— wich. In San Fernando fand ich die ſehr ſorgfältig rekti— fizierte Inklination der Magnetnadel gleich 29° 70, die In— tenſität der Kraft 219. Der Winkel und die Schwingungen waren alſo ſeit Maypures bei einem Breitenunterſchied von 1° 11“ beträchtlich kleiner und weniger geworden. Das an— ſtehende Geſtein war nicht mehr eiſenſchüſſiger Sandſtein, ſondern Granit in Gneis übergehend. Am 26. April. Wir legten nur 9 bis 13 km zurück und lagerten zur Nacht auf einem Felſen in der Nähe der indianiſchen Pflanzungen oder Conucos von Guapaſoſo. Da man das eigentliche Ufer nicht ſieht, und der Fluß, wenn er anſchwillt, ſich in die Wälder verläuft, kann man nur da landen, wo ein Fels oder ein kleines Plateau ſich über das Waſſer erhebt. Der Atabapo hat überall ein eigentümliches An— ſehen; das eigentliche Ufer, das aus einer 2,6 bis 3,2 m hohen Bank beſteht, ſieht man nirgends; es verſteckt ſich hinter einer Reihe von Palmen und kleinen Bäumen mit ſehr dünnen Stämmen, deren Wurzeln vom Waſſer beſpült werden. Vom Punkt, wo man vom Orinoko abgeht, bis zur Miſſion San — 212 — Fernando gibt es viele Krokodile, und dieſer Umſtand beweiſt, wie oben bemerkt, daß dieſes Flußſtück zum Guaviare, nicht zum Atabapo gehört. Im eigentlichen Bett des letzteren ober— halb San Fernando gibt es keine Krokodile mehr; man trifft hie und da einen Bava an und viele Süßwaſſerdelphine, aber feine Seekühe. Man ſucht hier auch vergeblich den Chiguire, die Araguaten oder großen Brüllaffen, den Zamuro oder Vultur aura und den Faſanen mit der Haube, den ſo— genannten Guacharaca. Ungeheure Waſſernattern, im Habitus der Boa gleich, ſind leider ſehr häufig und werden den Indianern beim Baden gefährlich. Gleich in den erſten Tagen ſahen wir welche neben unſerer Piroge herſchwimmen, die 4 bis 5 m lang waren. Die Jaguare am Atabapo und Temi ſind groß und gut genährt, ſie ſollen aber lange nicht ſo keck ſein als die am Orinoko. Am 27. April. Die Nacht war ſchön, ſchwärzliche Wolken liefen von Zeit zu Zeit ungemein raſch durch den Zenith. In den unteren Schichten der Atmoſphäre regte ſich kein Lüftchen, der allgemeine Oſtwind wehte erſt in 1950 m Höhe. Ich betone dieſen Umſtand: die Bewegung, die wir bemerkten, war keine Folge von Gegenſtrömungen (von Weſt nach Oſt), wie man ſie zuweilen in der heißen Zone auf den höchſten Gebirgen der Kordilleren wahrzunehmen glaubt, ſie rührte vielmehr von einer eigentlichen Briſe, vom Oſtwind her. Ich konnte die Meridianhöhe von im ſüdlichen Kreuz gut beobachten; die einzelnen Reſultate ſchwankten nur um S bis 10 Sekunden um das Mittel. Die Breite von Gua— paſoſo iſt 3° 53° 55“. Das ſchwarze Waſſer des Fluſſes diente mir als Horizont, und dieſe Beobachtungen machten mir um ſo mehr Vergnügen, als wir auf den Flüſſen mit weißem Waſſer, auf dem Apure und Orinoko, von den In— ſekten furchtbar zerſtochen worden waren, während Bonpland die Zeit am Chronometer beobachtete und ich den Horizont richtete. Wir brachen um 2 Uhr von den Conucos von Gua— paſoſo auf. Wir fuhren immer nach Süden hinauf und ſahen den Fluß oder vielmehr den von Bäumen freien Teil ſeines Bettes immer ſchmaler werden. Gegen Sonnenaufgang fing es an zu regnen. Wir waren an dieſe Wälder, in denen es weniger Tiere gibt als am Orinoko, noch nicht gewöhnt, und ſo wunderten wir uns beinahe, daß wir die Araguaten nicht mehr brüllen hörten. Die Delphine oder Toninas ſpielten um unſer Kanoe. Nach Colebrooke begleitet der Delphinus — 213 — gangeticus, der Süßwaſſerdelphin der Alten Welt, gleichfalls die Fahrzeuge, die nach Benares hinaufgehen; aber von Be— nares bis zum Punkt, wo Salzwaſſer in den Ganges kommt, ſind es nur 900 km, von Atabapo aber an die Mündung des Orinoko über 1440 km. Gegen Mittag lag gegen Oſt die Mündung des kleinen Fluſſes Ipurichapano, und ſpäter kamen wir am Granithügel vorbei, der unter dem Namen Piedra del Tigre bekannt iſt. Dieſer einzeln ſtehende Fels iſt nur 20 m hoch und doch im Lande weit berufen. Zwiſchen dem 4. und 5. Grad der Breite, etwas ſüdlich von Bergen von Sipapo, erreicht man das ſüdliche Ende der Kette der Katarakte, für die ich in einer im Jahr 1800 veröffentlichten Abhandlung den Namen Kette der Parime in Vorſchlag gebracht habe. Unter 4° 20° ſtreicht ſie vom rechten Orinokoufer gegen Dit und Oſt— Süd⸗Oſt. Der ganze Landſtrich zwiſchen den Bergen der Parime und dem Amazonenſtrom, über den der Atabapo, Caſſiquiare und Rio Negro ziehen, iſt eine ungeheure, zum Teil mit Wald, zum Teil mit Gras bewachſene Ebene. Kleine Felſen erheben ſich da und dort, wie feſte Schlöſſer. Wir bereuten es, unſer Nachtlager nicht beim Tigerfelſen aufge— ſchlagen zu haben; denn wir fanden den Atabapo hinauf nur ſehr ſchwer ein trockenes, freies Stück Land, groß genug, um unſer Feuer anzuzünden und unſere Inſtrumente und Hänge— matten unterbringen zu können. Am 28. April. Der Regen goß ſeit Sonnenuntergang in Strömen; wir fürchteten, unſere Sammlungen möchten be— ſchädigt werden. Der arme Miſſionär bekam ſeinen Anfall von Tertianfieber und bewog uns, bald nach Mitternacht weiter zu fahren. Wir kamen mit Tagesanbruch an die Piedra und den Raudalito von Guarinuma. Der Fels, auf dem öſtlichen Ufer, iſt eine kahle, mit Psora Cladonia und anderen Flechten bedeckte Granitbank. Ich glaubte mich in das nördliche Europa verſetzt, auf den Kamm der Gneis- und Granitberge zwiſchen Freiberg und Marienberg in Sachſen. Die Cladonien ſchienen mir identiſch mit dem Lichen rangi- ferinus, dem L. pyxidatus und L. polymorphus Linnés. Als wir die Stromſchnellen von Guarinuma hinter uns hatten, zeigten uns die Indianer mitten im Wald zu unſerer Rechten die Trümmer der ſeit lange verlaſſenen Miſſion Mendaxari. Auf dem anderen, öſtlichen Ufer, beim kleinen Felſen Kema— rumo, wurden wir auf einen rieſenhaften Käſebaum (Bombax — 214 — Ceiba) aufmerkſam, der mitten in den Pflanzungen der In⸗ dianer ſtand. Wir ſtiegen aus, um ihn zu meſſen: er war gegen 40 m hoch und hatte 4,5 bis 5 m Durchmeſſer. Ein ſo außerordentliches Wachstum fiel uns um jo mehr auf, da wir bisher am Atabapo nur kleine Bäume mit dünnem Stamm, von weitem jungen Kirſchbäumen ähnlich, geſehen hatten. Nach den Ausſagen der Indianer bilden dieſe kleinen Bäume eine nur wenig verbreitete Gewächsgruppe. Sie werden durch das Austreten des Fluſſes im Wachstum gehemmt ; auf den trockenen Strichen am Atabapo, Temi und Tuamini wächſt dagegen vortreffliches Bauholz. Dieſe Wälder (und dieſer Umſtand iſt wichtig, wenn man ſich von den Ebenen unter dem Aequator am Rio Negro und Amazonenſtrom eine richtige Vorſtellung machen will), dieſe Wälder erſtrecken ſich nicht ohne Unterbrechung oſtwärts und weſtwärts bis zum Caſſiquiare und Guaviare; es liegen vielmehr die kahlen Sa— vannen von Manuteſo und am Rio Inirida dazwiſchen. Am Abend kamen wir nur mit Mühe gegen die Strömung vor— wärts, und wir übernachteten in einem Gehölz etwas ober— halb Mendaxari. Hier iſt wieder ein Granitfels, durch den eine Quarzſchicht läuft; wir fanden eine Gruppe ſchöner, ſchwarzer Schörlkriſtalle darin. Am 29. April. Die Luft war kühler; keine Zancudos, aber der Himmel fortwährend bedeckt und ſternlos. Ich fing an mich wieder auf den unteren Orinoko zu wünſchen. Bei der ſtarken Strömung kamen wir wieder nur langſam vorwärts. Einen großen Teil des Tages hielten wir an, um Pflanzen zu ſuchen, und es war Nacht, als wir in der Miſſion San Baltaſar ankamen, oder, wie die Mönche ſagen (da Baltaſar nur der Name eines indianiſchen Häuptlings iſt), in der Miſſion La divina Paſtora de Baltaſar de Atabapo. Wir wohnten bei einem kataloniſchen Miſſionär, einem munteren, liebens— würdigen Mann, der hier in der Wildnis ganz die ſeinem Volksſtamm eigentümliche Thätigkeit entwickelte. Er hatte einen ſchönen Garten angelegt, wo der europäiſche Feigen— baum der Perſea, der Zitronenbaum dem Mamei zur Seite ſtand. Das Dorf war nach einem regelmäßigen Plan gebaut, wie man es in Norddeutſchland und im proteſtantiſchen Amerika bei den Gemeinden der Mähriſchen Brüder ſieht. Die Pflan— zungen der Indianer ſchienen beſſer gehalten als anderswo. Hier ſahen wir zum erſtenmal den weißen, ſchwammigen Stoff, den ich unter dem Namen Dapicho und Zapis bekannt — 215 — gemacht habe. Wir ſahen gleich, daß derſelbe mit dem „elaſti— ſchen Harz“ Aehnlichkeit hat; da uns aber die Indianer durch Zeichen bedeuteten, man finde denſelben in der Erde, ſo ver— muteten wir, bis wir in die Miſſion Javita kamen, das Da— picho möchte ein foſſiler Kautſchuk ſein, wenn auch ab— weichend vom elaſtiſchen Bitumen in Derbyſhire. In der Hütte des Miſſionärs ſaß ein Poimiſano-Indianer an einem Feuer und verwandelte das Dapicho in ſchwarzen Kautſchuk. Er hatte mehrere Stücke auf ein dünnes Holz geſpießt und briet dieſelben wie Fleiſch. Je weicher und elaſtiſcher das Dapicho wird, deſto mehr ſchwärzt es ſich. Nach dem harzi— gen, aromatiſchen Geruch, der die Hütte erfüllte, rührt dieſes Schwarzwerden wahrſcheinlich davon her, daß eine Verbindung von Kohlenſtoff und Waſſerſtoff zerſetzt und der Kohlenſtoff frei wird, während der Waſſerſtoff bei gelinder Hitze ver— brennt. Der Indianer klopfte die erweichte ſchwarze Maſſe mit einem vorne keulenförmigen Stück Braſilholz, knetete dann den Dapicho zu Kugeln von 8 bis 10 em Durchmeſſer und ließ ihn erkalten. Dieſe Kugeln gleichen vollkommen dem Kautſchuk, wie es in den Handel kommt, ſie bleiben jedoch außen meiſt etwas klebrig. Man braucht ſie in San Bal— taſar nicht zum indianiſchen Ballſpiel, das bei den Einwoh— nern von Uruana und Encaramada in ſo hohem Anſehen ſteht; man ſchneidet ſie cylindriſch zu, um ſie als Stöpſel zu gebrauchen, die noch weit beſſer ſind als Korkſtöpſel. Dieſe Anwendung des Kautſchuk war uns deſto intereſſanter, da uns der Mangel europäiſcher Stöpſel oft in große Verlegen— heit geſetzt hatte. Wie ungemein nützlich der Kork iſt, fühlt man erſt in Ländern, wohin er durch den Handel nicht kommt. In Südamerika kommt nirgends, ſelbſt nicht auf dem Rücken der Anden, eine Eichenart vor, die dem Quercus suber nahe ſtünde, und weder das leichte Holz der Bombax- und Ochroma— Arten und anderer Malvaceen, noch die Maisſpindeln, deren ſich die Indianer bedienen, erſetzen unſere Stöpſel vollkommen. Der Miſſionär zeigte uns vor der Caſa de los Solteros (Haus, wo ſich die jungen, nicht verheirateten Leute verſammeln) eine Trommel, die aus einem 60 em langen und 48 cm dicken hohlen Cylinder beſtand. Man ſchlug dieſelbe mit großen Stücken Dapicho wie mit Trommelſchlägeln; ſie hatte Löcher, die man mit der Hand ſchließen konnte, um höhere oder tiefere Töne hervorzubringen, und hing an zwei leichten Stützen. Wilde Völker lieben rauſchende Muſik. Die Trommel und — 216 — die Botutos oder Trompeten aus gebrannter Erde, 1 bis 1,3 m lange Röhren, die ſich an mehreren Stellen zu Hohl— kugeln erweitern, find bei den Indianern unentbehrliche Sn: Ka wenn es fich davon handelt, mit Muſik Effekt zu machen. Am 30. April. Die Nacht war ziemlich ſchön, ſo daß ich die Meridianhöhen des „ im ſüdlichen Kreuz und der zwei großen Sterne in den Füßen des Centauren beobachten konnte. Ich fand für San Baltaſar eine Breite von 3° 14“ 23, Als Länge ergab ſich aus Stundenwinkeln der Sonne nach dem Chronometer 70° 14 21“. Die Inklination der Magnet⸗ nadel war 27° 80. Wir verließen die Miſſion morgens ziem: lich ſpät und fuhren den Atabapo noch 22,5 km hinauf; ſtatt ihm aber weiter ſeiner Quelle zu gegen Oſten, wo er Atacavi heißt, zu folgen, liefen wir jetzt in den Rio Temi ein. Ehe wir an die Mündung desſelben kamen, beim Einfluß des Guaſacavi, wurden wir auf eine Granitkuppe am weſtlichen Ufer aufmerkſam. Dieſelbe heißt der Fels der Guahiba— Indianerin, oder der Fels der Mutter, Piedra de la madre. Wir fragten nach dem Grund einer ſo ſonderbaren Benennung. Pater Zea konnte unſere Neugier nicht befriedigen, aber einige Wochen ſpäter erzählte uns ein anderer Miſſionär einen Vor: fall, den ich in meinem Tagebuch aufgezeichnet und der den ſchmerzlichſten Eindruck auf uns machte. Wenn der Menſch in dieſen Einöden kaum eine Spur ſeines Daſeins hinter ſich läßt, ſo iſt es für den Europäer doppelt demütigend, daß durch den Namen eines Felſens, durch eines der unvergänglichen Denkmale der Natur, das Andenken an die ſittliche Ver— worfenheit unſeres Geſchlechtes, an den Gegenſatz zwiſchen der Tugend des Wilden und der Barbarei des civilifierten Menſchen verewigt wird. Der Miſſionär von San Fernando! war mit feinen In⸗ dianern an den Guaviare gezogen, um einen jener feindlichen Einfälle zu machen, welche ſowohl die Religion als die ſpa— niſchen Geſetze verbieten. Man fand in einer Hütte eine Mutter vom Stamme der Guahibos mit drei Kindern, von denen zwei noch nicht erwachſen waren. Sie bereiteten Ma— niokmehl. An Widerſtand war nicht zu denken; der Vater war auf dem Fiſchfang, und ſo ſuchte die Mutter mit ihren Einer der Vorgänger des Geiſtlichen, den wir in San Fer— nando als Präſidenten der Miſſionen fanden. Kindern ſich durch die Flucht zu retten. Kaum hatte ſie die Savanne erreicht, ſo wurde ſie von den Indianern aus der Miſſion eingeholt, die auf die Menſchenjagd gehen, wie die Weißen und die Neger in Afrika. Mutter und Kinder wurden gebunden und an den Fluß geſchleppt. Der Ordens— mann ſaß in ſeinem Boot, des Ausgangs der Expedition harrend, die für ihn ſehr gefahrlos war. Hätte ſich die Mutter zu ſtark gewehrt, ſo wäre ſie von den Indianern umgebracht worden; alles iſt erlaubt, wenn man auf die Conquista espiritual auszieht, und man will beſonders der Kinder hab⸗ haft werden, die man dann in der Miſſion als Poitos oder Sklaven der Chriſten behandelt. Man brachte die Gefangenen nach San Fernando und meinte, die Mutter könne zu Land ſich nicht wieder in ihre Heimat zurückfinden. Durch die Trennung von den Kindern, die am Tage ihrer Entführung den Vater begleitet hatten, geriet das Weib in die höchſte Verzweiflung. Sie beſchloß, die Kinder, die in der Gewalt des Miſſionärs waren, zur Familie zurückzubringen; ſie lief mit ihnen mehrere Male von San Fernando fort, wurde aber immer wieder von den Indianern gepackt, und nachdem der Miſſionär ſie unbarmherzig hatte peitſchen laſſen, faßte er den grauſamen Entſchluß, die Mutter von den beiden Kindern, die mit ihr gefangen worden, zu trennen. Man führte ſie allein den Atabapo hinauf, den Miſſionen am Rio Negro zu. Leicht gebunden ſaß ſie auf dem Vorderteil des Fahrzeuges. Man hatte ihr nicht geſagt, welches Los ihrer wartete, aber nach der Richtung der Sonne ſah ſie wohl, daß ſie immer weiter von ihrer Hütte und ihrer Heimat wegkam. Es gelang ihr, ſich ihrer Bande zu entledigen, ſie ſprang in den Fluß und ſchwamm dem linken Ufer des Atabapo zu. Die Strömung trug ſie an eine Felsbank, die noch heute ihren Namen trägt. Sie ging hier ans Land und lief ins Holz; aber der Präſi— dent der Miſſionen befahl den Indianern, ans Ufer zu fahren und den Spuren der Guahiba zu folgen. Am Abend wurde ſie zurückgebracht, auf den Fels (piedra de la madre) gelegt und mit einem Seekuhriemen, die hierzulande als Peitſchen dienen und mit denen die Alkaden immer verſehen ſind, un— barmherzig gepeitſcht. Man band dem unglücklichen Weibe mit ſtarken Mavacureranken die Hände auf den Rücken und brachte ſie in die Miſſion Javita. Man ſperrte ſie hier in eine der Karawanſeraien, die man hier Caſas del Rey nennt. Es war in der Regenzeit — 218 — und die Nacht ganz finſter. Wälder, die man bis da für undurchdringlich gehalten, liegen 112 km in gerader Linie breit, zwiſchen Javita und San Fernando. Man kennt keinen anderen ns als die Flüſſe. Niemals hat ein Menſch ver: ſucht zu Lande von einem Dorfe zum anderen zu gehen, und lägen ſie auch nur ein paar Meilen auseinander. Aber ſolche Schwierigkeiten halten eine Mutter, die man von ihren Kindern getrennt, nicht auf. Ihre Kinder ſind in San Fer— nando am Atabapo; ſie muß zu ihnen, ſie muß ſie aus den Händen der Chriſten befreien, ſie muß ſie dem Vater am Guaviare wiederbringen. Die Guahiba iſt im Karawanſerai nachläſſig bewacht, und da ihre Arme ganz blutig waren, hatten ihr die Indianer von Javita ohne Vorwiſſen des Miſ— ſionärs und des Alkaden die Bande gelockert. Es gelingt ihr, ſie mit den Zähnen vollends loszumachen, und ſie ver- ſchwindet in der Nacht. Und als die Sonne zum viertenmal aufgeht, ſieht man ſie in der Miſſion San Fernando um die Hütte ſchleichen, wo ihre Kinder eingeſperrt ſind. „Was dieſes Weib ausgeführt,“ ſagte der Miſſionär, der uns dieſe traurige Geſchichte erzählte, „der kräftigſte Indianer hätte es ſich nicht getraut, es zu unternehmen.“ Sie ging durch die Wälder in einer Jahreszeit, wo der Himmel immer mit Wolken bedeckt iſt und die Sonne tagelang nur auf wenige Minuten zum Vorſchein kommt. Hatte ſie ſich nach dem En der Waſſer gerichtet? Aber da alles überſchwemmt war, mußte ſie ſich weit von den Flußufern, mitten in den Wäldern halten, wo man das Waſſer faſt gar nicht laufen ſieht. Wie oft mochte ſie von den ſtachligen Lianen aufgehalten worden ſein, welche um die von ihnen umſchlungenen Stämme ein Gitterwerk bilden! Wie oft mußte ſie über die Bäche ſchwimmen, die ſich in den Atabapo ergießen! Man fragte das unglückliche Weib, von was ſie ſich vier Tage lang genährt; ſie ſagte, völlig erſchöpft habe ſie ſich keine andere Nahrung verſchaffen können als die großen ſchwarzen Ameiſen, Vachacos genannt, die in langen Zügen an den Bäumen hinaufkriechen, um ihre harzigen Neſter daran zu hängen. Wir wollten durchaus vom Mij- ſionär wiſſen, ob jetzt die Guahiba in Ruhe des Glückes habe genießen können, um ihre Kinder zu ſein, ob man doch end— lich bereut habe, daß man ſich ſo maßlos vergangen? Er fand nicht für gut, unſere Neugierde zu befriedigen; aber auf der Rückreiſe vom Rio Negro hörten wir, man habe der India⸗ nerin nicht Zeit gelaſſen, von ihren Wunden zu geneſen, ſondern — 219 — ſie wieder von ihren Kindern getrennt und in eine Miſ— ſion am oberen Orinoko gebracht. Dort wies ſie alle Nah— rung von ſich und ſtarb, wie die Indianer in großem Jam— mer thun. Dies iſt die Geſchichte, deren Andenken an dieſem un— ſeligen Geſtein, an der Piedra de la madre, haftet. Es iſt mir in dieſer meiner Reiſebeſchreibung nicht darum zu thun, bei der Schilderung einzelner Unglücksſzenen zu verweilen. Dergleichen Jammer kommt überall vor, wo es Herren und Sklaven gibt, wo civilifierte Europäer unter verſunkenen Völkern leben, wo Prieſter mit unumſchränkter Gewalt über unwiſſende, wehrloſe Menſchen herrſchen. Als Geſchichtſchreiber der Länder, die ich bereiſt, beſchränke ich mich meiſt darauf, anzudeuten, was in den bürgerlichen und religiöſen Einrich— tungen mangelhaft oder der Menſchheit verderblich erſcheint. Wenn ich beim Fels der Guahiba länger verweilt habe, geſchah es nur, um ein rührendes Beiſpiel von Mutterliebe bei einer Menſchenart beizubringen, die man fo lange ver- leumdet hat, und weil es mir nicht ohne Nutzen ſchien, einen Vorfall zu veröffentlichen, den ich aus dem Munde von Fran- ziskanern habe, und der beweiſt, wie notwendig es iſt, daß das Auge des Geſetzgebers über dem Regiment der Miſſio— näre wacht. Oberhalb des Einfluſſes des Guaſacavi liefen wir in den Rio Temi ein, der von Süd nach Nord läuft. Wären wir den Atabapo weiter hinaufgefahren, ſo wären wir gegen Oſt— Süd⸗Oſt vom Guainia oder Rio Negro abgekommen. Der Temi iſt nur 155 bis 175 m breit, und in jedem anderen Lande als Guyana wäre dies noch immer ein bedeutender Fluß. Das Land iſt äußerſt einförmig, nichts als Wald auf völlig ebenem Boden. Die ſchöne Pirijaopalme mit Früchten wie Pfirſiche, und eine neue Art Bache oder Mauritia mit ſtachligem Stamm ragen hoch über den kleineren Bäumen, deren Wachstum, wie es ſcheint, durch das lange Stehen unter Waſſer niedergehalten wird. Dieſe Mauritia aculeata heißt bei den Indianern Juria oder Cauvaja. Sie hat fächer⸗ förmige, gegen den Boden geſenkte Blätter; auf jedem Blatte ſieht man gegen die Mitte, wahrſcheinlich infolge einer Krank— heit des Parenchyms, konzentriſche, abwechſelnd gelbe und blaue Kreiſe; gegen die Mitte herrſcht das Gelb vor. Dieſe Erſcheinung fiel uns ſehr auf. Dieſe wie ein Pfauenſchweif gefärbten Blätter ſitzen auf kurzen, ſehr dicken Stämmen. — 20 — Die Stacheln ſind nicht lang und dünn, wie beim Corozo und anderen ſtachligen Palmen; ſie ſind im Gegenteil ſtark holzig, kurz, gegen die Baſis breiter, wie die Stacheln der Hura crepitans. An den Ufern des Atabapo und Temi ſteht dieſe Palme in Gruppen von 12 bis 15 Stämmen, die ſich ſo nah aneinander drängen, als kämen ſie aus einer Wurzel. Im Habitus, in der Form und der geringen Zahl der Blätter gleichen dieſe Bäume den Fächerpalmen und Chamärops der Alten Welt. Wir bemerkten, daß einige Juria— ſtämme gar keine Früchte trugen, während andere davon ganz voll hingen; dies ſcheint auf eine Palme mit getrennten Ge— ſchlechtern zu deuten. Ueberall, wo der Temi Schlingen bildet, ſteht der Wald über 10 qkm weit unter Waſſer. Um die Krümmungen zu vermeiden und ſchneller vorwärts zu kommen, wird die Schiff— fahrt hier ganz ſeltſam betrieben. Die Indianer bogen aus dem Flußbett ab, und wir fuhren ſüdwärts durch den Wald auf ſogenannten Sendas, das heißt 1,3 bis 1,6 m breiten, offenen Kanälen. Das Waſſer iſt ſelten über einen halben Faden tief. Dieſe Sendas bilden ſich im überſchwemmten Wald wie auf trockenem Boden die Fußſteige. Die Indianer ſchlagen von einer Miſſion zur anderen mit ihren Kanoen wo— möglich immer denſelben Weg ein; da aber der Verkehr gering iſt, ſo ſtößt man bei der üppigen Vegetation zuweilen un— erwartet auf Hinderniſſe. Deshalb ſtand ein Indianer mit einem Machete (ein großes Meſſer mit 37 em langer Klinge) vorne auf unſerem Fahrzeuge und hieb fortwährend die Zweige ab, die ſich auf beiden Seiten des Kanales kreuzten. Im dickſten Walde vernahmen wir mit Ueberraſchung einen ſonder— baren Lärm. Wir ſchlugen an die Büſche, und da kam ein Schwarm 1,3 m langer Toninas (Süßwaſſerdelphine) zum Vorſchein und umgab unſer Fahrzeug. Die Tiere waren unter den Aeſten eines Käſebaumes oder Bombax Ceiba verſteckt geweſen. Sie machten ſich durch den Wald davon und warfen dabei die Strahlen Waſſer und komprimierter Luft, nach denen fie in allen Sprachen Blaſefiſche oder Spritzfiſche, soutf— leurs u. ſ. w. heißen. Ein ſonderbarer Anblick mitten im Lande, 1300 bis 1800 km von den Mündungen des Orinoko und des Amazonenſtroms! Ich weiß wohl, daß Fiſche von der Familie Pleuronectes! aus dem Atlantiſchen Meere in der JLimanda. — 21 — Loire bis Orleans heraufgehen; aber ich bin immer noch der Anſicht, daß die Delphine im Temi, wie die im Ganges und wie die Rochen im Orinoko, von den Seerochen und See— delphinen ganz verſchiedene Arten ſind. In den ungeheuren Strömen Südamerikas und in den großen Seen Nordame— rikas ſcheint die Natur mehrere Typen von Seetieren zu wiederholen. Der Nil hat keine Delphine; ſie gehen aus dem Meere im Delta nicht über Biana und Metonbis, Se— lamun zu, hinauf. Gegen 5 Uhr abends gingen wir nicht ohne Mühe in das eigentliche Flußbett zurück. Unſere Piroge blieb ein paar Minuten lang zwiſchen zwei Baumſtämmen ſtecken. Kaum war ſie wieder losgemacht, kamen wir an eine Stelle, wo mehrere Waſſerpfade oder kleine Kanäle ſich kreuzten, und der Steuermann wußte nicht gleich, welches der befahrenſte Weg war. Wir haben oben geſehen, daß man in der Provinz Varinas im Kanoe über die offenen Savannen von San Fer⸗ nando am Apure bis an den Arauca fährt; hier fuhren wir durch einen Wald, der ſo dicht iſt, daß man ſich weder nach der Sonne noch nach den Sternen orientieren kann. Heute fiel es uns wieder recht auf, daß es in dieſem Landſtriche keine baumartigen Farne mehr gibt. Sie nehmen vom 6. Grad nördlicher Breite an ſichtbar ab, wogegen die Palmen dem Aequator zu ungeheuer zunehmen. Die eigentliche Heimat der baumartigen Farne iſt ein nicht ſo heißes Klima, ein etwas bergiger Boden, Plateaus von 580 m Höhe. Nur wo Berge ſind, gehen diefe prachtvollen Gewächſe gegen die Nie— derungen herab; ganz ebenes Land, wie das, über welches der Caſſiquiare, der Temi, der Inirida und der Rio Negro ziehen, ſcheinen fie zu meiden. Wir übernachteten an einem Felſen, den die Miſſionäre Piedra de Aſtor nennen. Von der Mündung des Guaviare an iſt der geologiſche Charakter des Bodens derſelbe. Es iſt eine weite aus Granit beſtehende Ebene, auf der jede Meile einmal das Geſtein zu Tage kommt und keine Hügel, ſondern kleine ſenkrechte Maſſen bildet, die Pfeilern oder zerfallenen Gebäuden gleichen. 1 Die Delphine, welche in die Nilmündung kommen, fielen indeſſen den Alten ſo auf, daß ſie auf einer Büſte des Flußgottes aus Syenit im Pariſer Muſeum halb verſteckt im wallenden Barte dargeſtellt ſind. — 222 — Am 1. Mai. Die Indianer wollten lange vor Sonnen: aufgang aufbrechen. Wir waren vor ihnen auf den Beinen, weil ich vergeblich auf einen Stern wartete, der im Begriffe war, durch den Meridian zu gehen. Auf dieſem naſſen, dicht bewaldeten Landſtriche wurden die Nächte immer finſterer, je näher wir dem Rio Negro und dem inneren Braſilien kamen. Wir blieben im Flußbett, bis der Tag anbrach; man hätte beſorgen müſſen, ſich unter den Bäumen zu verirren. Sobald die Sonne aufgegangen war, ging es wieder, um der ſtarken Strömung auszuweichen, durch den überſchwemmten Wald. So kamen wir an den Zuſammenfluß des Temi mit einem anderen kleinen Fluſſe, dem Tuamini, deſſen Waſſer gleichfalls ſchwarz iſt, und gingen den letzteren gegen Südweſt hinauf. Damit kamen wir auf die Miſſion Javita zu, die am Tuamini liegt. In dieſer chriſtlichen Niederlaſſung ſollten wir die er— forderlichen Mittel finden, um unſere Piroge zu Land an den Rio Negro ſchaffen zu laſſen. Wir kamen in San An— tonio de Javita erſt um 11 Uhr vormittags an. Ein an ſich unbedeutender Vorfall, der aber zeigt, wie ungemein furchtſam die kleinen Sagoine ſind, hatte uns an der Mün— dung des Tuamini eine Zeitlang aufgehalten. Der Lärm, den die Spritzfiſche machen, hatte unſere Affen erſchreckt, und einer war ins Waſſer gefallen. Da dieſe Affenart, vielleicht weil ſie ungemein mager iſt, ſehr ſchlecht ſchwimmt, ſo koſtete es Mühe, ihn zu retten. Zu unſerer Freude trafen wir in Javita einen ſehr geiſtes— lebendigen, vernünftigen und gefälligen Mönch. Wir mußten uns 4 bis 5 Tage in ſeinem Hauſe aufhalten, da ſo lange zum Transport unſeres Fahrzeuges über den Trageplatz am Pimichin erforderlich war; wir benützten dieſe Zeit nicht allein, um uns in der Gegend umzuſehen, ſondern auch, um uns von einem Uebel zu befreien, an dem wir ſeit zwei Tagen litten. Wir hatten ſehr ſtarkes Jucken in den Fingergelenken und auf dem Handrücken. Der Miſſionär ſagte uns, das ſeien Aradores (Ackerer), die ſich in die Haut gegraben. Mit der Lupe ſahen wir nur Streifen, parallele weißliche Furchen. Wegen der Form dieſer Furchen heißt das Inſekt der Ackerer. Man ließ eine Mulattin kommen, die ſich rühmte, all die kleinen Tiere, welche ſich in die Haut des Menſchen graben, die Nigua, den Nuche, die Coya und den Ackerer, aus dem Fundament zu kennen; es war die Curandera, der Dorfarzt. Sie verſprach uns, die Inſekten, die uns ſo ſchreck— — 223 — liches Jucken verurſachten, eines um das andere herauszuholen. Sie erhitzte an der Lampe die Spitze eines kleinen Splitters ſehr harten Holzes und bohrte damit in den Furchen, die auf der Haut ſichtbar waren. Nach langem Suchen verkündete ſie mit dem pedantiſchen Ernſte, der den Farbigen eigen iſt, da ſei bereits ein Arador. Ich ſah einen kleinen runden Sack, der mir das Ei einer Milbe ſchien. Wenn die Mulattin einmal drei, vier ſolche Aradores heraus hätte, ſollte ich mich erleichtert fühlen. Da ich an beiden Händen die Haut voll Acariden hatte, ging mir die Geduld über der Operation aus, die bereits bis tief in die Nacht gedauert hatte. Am andern Tage heilte uns ein Indianer aus Javita radikal und über— raſchend ſchnell. Er brachte uns einen Zweig von einem Strauch, genannt Uzao, mit kleinen, denen der Caſſia ähn— lichen, ſtark lederartigen, glänzenden Blättern. Er machte von der Rinde einen kalten Aufguß, der bläulich ausſah und wie Süßholz (Glyeirrhyza) ſchmeckte und geſchlagen ſtarken Schaum gab. Auf einfaches Waſchen mit dem Uzaowaſſer hörte das Jucken von den Aradores auf. Wir konnten vom Uzao weder Blüte noch Frucht auftreiben. Der Strauch ſcheint der Familie der Schotengewächſe anzugehören, deren chemiſche Eigenſchaften ſo auffallend ungleichartig ſind. Der Schmerz, den wir aus— zuſtehen gehabt, hatte uns ſo ängſtlich gemacht, daß wir bis San Carlos immer ein paar Uzaozweige im Kanoe mitführten ; der Strauch wächſt am Pimichin in Menge. Warum hat man kein Mittel gegen das Jucken entdeckt, das von den Stichen der Zancudos herrührt, wie man eines gegen das Jucken hat, das die Aradores oder mikroſkopiſchen Acariden verurſuchen? Im Jahre 1755, vor der Grenzexpedition, gewöhnlich Solanos Expedition genannt, wurde dieſer Landſtrich zwiſchen den Miſſionen Javita und San Baltaſar als zu Braſilien gehörig betrachtet. Die Portugieſen waren vom Rio Negro über den Trageplatz beim Cano Pimichin bis an den Temi vorgedrungen. Ein indianiſcher Häuptling, Javita, berühmt wegen ſeines Mutes und ſeines Unternehmungsgeiſtes, war mit den Portugieſen verbündet. Seine Streifzüge gingen vom Rio Jupura oder Caqueta, einem der großen Nebenflüſſe des Amazonenſtromes, über den Rio Uaupe und Tie, bis zu den ſchwarzen Gewäſſern des Temi und Tuamini, über 450 km weit. Er war mit einem Patent verſehen, das ihn ermächtigte, „Indianer aus dem Walde zu holen zur Eroberung der Seelen“, — 224 — Er machte von dieſer Befugnis reichlichen Gebrauch; aber er bezweckte mit ſeinen Einfällen etwas, das nicht ſo ganz geiſtlich war, Sklaven (poitos) zu machen und ſie an die Portugieſen zu verkaufen. Als Solano, der zweite Befehlshaber bei der Grenzexpedition, nach San Fernando de Atabapo kam, ließ er Kapitän Javita auf einem ſeiner Streifzüge am Temi feſt— nehmen. Er behandelte ihn freundlich und es gelang ihm, ihn durch Verſprechungen, die nicht gehalten wurden, für die ſpaniſche Regierung zu gewinnen. Die Portugieſen, die bereits einige feſte Niederlaſſungen im Lande gegründet hatten, wurden bis an den unteren Rio Negro zurückgedrängt, und die Miſſion San Antonio, die gewöhnlich nach ihrem indianiſchen Gründer Javita heißt, weiter nördlich von den Quellen des Tuamini, dahin verlegt, wo ſie jetzt liegt. Der alte Kapitän Javita lebte noch, als wir an den Rio Negro gingen. Er iſt ein Indianer von bedeutender Geiſtes- und Körperkraft. Er ſpricht geläufig ſpaniſch und hat einen gewiſſen Einfluß auf die be— nachbarten Völker behalten. Er begleitete uns immer beim Botaniſieren und erteilte uns mancherlei Auskunft, die wir deſto mehr ſchätzten, da die Miſſionäre ihn für ſehr zuverläſſig halten. Er verſichert, er habe in ſeiner Jugend faſt alle Indianerſtämme, welche auf dem großen Landſtriche zwiſchen dem Orinoko, dem Rio Negro, dem Irinida und Jupura wohnen, Menſchenfleiſch eſſen ſehen. Er hält die Daricavanas, Puchirinavis und Manitibitanos für die ſtärkſten Anthropo— phagen. Er hält dieſen abſcheulichen Brauch bei ihnen nur für ein Stück ſyſtematiſcher Rachſucht: ſie eſſen nur Feinde, die im Gefechte in ihre Hände gefallen. Die Beiſpiele, wo der Indianer in der Grauſamkeit fo weit geht, daß er ſeine Nächſten, ſein Weib, eine ungetreue Geliebte verzehrt, ſind, wie wir weiter unten ſehen werden, ſehr ſelten. Auch weiß man am Orinoko nichts von der ſeltſamen Sitte der ſkythiſchen und maſſagetiſchen Völker, der Capanaguas am Rio Ucayale und der alten Bewohner der Antillen, welche dem Toten zu Ehren die Leiche zum Teil aßen. Auf beiden Kontinenten kommt dieſer Brauch nur bei Völkern vor, welche das Fleiſch eines Gefangenen verabſcheuen. Der Indianer auf Hayti (San Domingo) hätte geglaubt, dem Andenken eines Angehö— rigen die Achtung zu verſagen, wenn er nicht ein wenig von der gleich einer Guanchenmumie getrockneten und gepulverten Leiche in ſein Getränk geworfen hätte. Da kann man wohl mit einem orientaliſchen Dichter jagen, „am ſeltſamſten in — 225 — ſeinen Sitten, am ausſchweifendſten in ſeinen Trieben ſei von allen Tieren der Menſch“. Das Klima in San Antonio de Javita iſt ungemein regneriſch. Sobald man über den dritten Breitengrad hinunter dem Aequator zu kommt, findet man ſelten Gelegenheit, Sonne und Geſtirne zu beobachten. Es regnet faſt das ganze Jahr und der Himmel iſt beſtändig bedeckt. Da in dieſem unermeß— lichen Urwalde von Guyana der Oſtwind nicht zu ſpüren iſt und die Polarſtröme nicht hierher reichen, ſo wird die Luft— ſäule, die auf dieſer Waldregion liegt, nicht durch trockenere Schichten erſetzt. Der Waſſerdunſt, mit dem ſie geſättigt iſt, verdichtet ſich zu äquatorialen Regengüſſen. Der Miſſionär verſicherte uns, er habe hier oft vier, fünf Monate ohne Unter— brechung regnen ſehen. Ich maß den Regen, der am 1. Mai innerhalb 5 Stunden fiel: er ſtand 46,5 mm hoch, und am 3. Mai bekam ich ſogar 30 mm in 3 Stunden. Und zwar, was wohl zu beachten, wurden dieſe Beobachtungen nicht bei ſtarkem, ſondern bei ganz gewöhnlichem Regen angeſtellt. Be— kanntlich fallen in Paris in ganzen Monaten, ſelbſt in den naſſeſten, März, Juli und September, nur 62 bis 66 mm Waſſer. Allerdings kommen auch bei uns Regengüſſe vor, bei denen in der Stunde über 26 mm Waſſer fallen, man darf aber nur den mittleren Zuſtand der Atmoſphäre in der ge— mäßigten und in der heißen Zone vergleichen. Aus den Be— obachtungen, die ich hintereinander im Hafen von Guayaquil an der Südſee und in der Stadt Quito in 2908 m Meeres- höhe angeſtellt, ſcheint hervorzugehen, daß gewöhnlich auf dem Rücken der Anden in der Stunde 2 bis Zmal weniger Waſſer fällt als im Niveau des Meeres. Es regnet im Gebirge öfter, dabei fällt aber in einer gegebenen Zeit weniger Waſſer. Am Rio Negro in Maroa und San Carlos iſt der Himmel bedeutend heiterer als in Javita und am Temi. Dieſer Unterſchied rührt nach meiner Anſicht daher, daß dort die Savannen am unteren Rio Negro in der Nähe liegen, über die der Oſtwind frei wehen kann, und die durch ihre Strah— lung einen ſtärkeren aufſteigenden Luftſtrom verurſachen als bewaldetes Land. Es iſt in Javita kühler als in Maypures, aber bedeutend heißer als am Rio Negro. Der hundertteilige Thermometer ſtand bei Tage auf 26 bis 27°, bei Nacht auf 21°; nördlich von den Katarakten, beſonders nördlich von der Mündung des Meta, war die Temperatur bei Tage meiſt 28 bis 30°, A. v. Humboldt, Reiſe. III. 15 wer 99, bei Nacht 25 bis 26°. Dieſe Abnahme der Wärme am Ata: bapo, Tuamini und Rio Negro rührt ohne Zweifel davon her, daß bei dem beſtändig bedeckten Himmel die Sonne ſo wenig ſcheint und die Verdunſtung auf dem naſſen Boden ſo ſtark iſt. Ich ſpreche nicht vom erkältenden Einfluſſe der Wälder, wo die zahlloſen Blätter ebenſo viele dünne Flächen ſind, die ſich durch Strahlung gegen den Himmel abkühlen. Bei dem mit Wolken umzogenen Himmel kann dieſes Moment nicht viel ausmachen. Auch ſcheint die Meereshöhe von Javita etwas dazu beizutragen, daß die Temperatur niedriger iſt. Mappures liegt wahrſcheinlich 117 bis 136 m, San Fernando de Atabapo 238, Javita 323 m über dem Meere. Da die kleine atmoſphäriſche Ebbe und Flut an der Küſte (in Eu: mana) von einem Tag zum anderen um 1,6 bis 4 mm variiert, und ich das Unglück hatte, das Inſtrument zu zerbrechen, ehe ich wieder an die See kam, ſo ſind dieſe Reſultate nicht ganz zuverläſſig. Als ich in Javita die ſtündlichen Variationen des Luftdruckes beobachtete, bemerkte ich, daß eine kleine Luft— blaſe die Queckſilberſäule zum Teil ſperrte! und durch ihre thermometriſche Ausdehnung auf das Steigen und Fallen Einfluß äußerte. Auf den elenden Fahrzeugen, in die wir eingezwängt waren, ließ ſich der Barometer faſt unmöglich ſenkrecht oder doch ſtark aufwärts geneigt halten. Ich benützte unſeren Aufenthalt in Javita, um das Inſtrument auszu— beſſern und zu berichtigen. Nachdem ich das Niveau gehörig rektifiziert, ſtand der Thermometer bei 23,4 Temperatur morgens 11% Uhr 40 em hoch. Ich lege einiges Gewicht auf dieſe Beobachtung, da es für die Kenntnis der Boden— bildung eines Kontinents von größerem Belang iſt, die Meeres— höhe der Ebenen 900 bis 1300 km von der Küſte zu beſtimmen, als die Gipfel der Kordilleren zu meſſen. Barometriſche Be— obachtungen in Segu am Nigir, in Bornu oder auf den Hochebenen von Khoten und Hami wären für die Geologie wichtiger als die Beſtimmung der Höhe der Gebirge in Abeſ— ſinien und im Muſart. Die ſtündlichen Variationen des Ich führe dieſen geringfügigen Umſtand hier an, um die Reiſenden darauf aufmerkſam zu machen, wie nötig es iſt, nur ſolche Barometer zu haben, bei denen die Röhre der ganzen Länge nach ſichtbar iſt. Eine ganz kleine Luftblaſe kann das Queckſilber zum Teil oder ganz ſperren, ohne daß der Ton beim Anſchlagen des Queckſilbers am Ende der Röhre ſich veränderte. Barometers treten in Javita zu denſelben Stunden ein wie an den Küſten und im Hofe Antiſana, wo mein Inſtrument in 4100 m Meereshöhe hing. Sie betrugen von 9 Uhr morgens bis 4 Uhr abends 3,2 mm, am 4. Mai ſogar faſt 4,4 mm. Der Delueſche auf den Sauſſureſchen reduzierte Hygrometer ſtand fortwährend im Schatten zwiſchen 84 und 92°, wobei nur die Beobachtungen gerechnet ſind, die gemacht wurden, ſolange es nicht regnete. Die Feuchtigkeit hatte ſomit ſeit den großen Katarakten bedeutend zugenommen: ſie war mitten in einem ſtark beſchatteten, von Aequatorialregen überfluteten Lande faſt ſo groß wie auf der See. Vom 29. April bis 4. Mai konnte ich keines Sternes im Meridian anſichtig werden, um die Länge zu beſtimmen. Ich blieb ganze Nächte wach, um die Methode der doppelten Höhen anzuwenden; all mein Bemühen war vergeblich. Die Nebel im nördlichen Europa ſind nicht anhaltender als hier in Guyana in der Nähe des Aequators. Am 4. Mai kam die Sonne auf einige Minuten zum Vorſchein. Ich fand mit dem Chronometer und mittels Stundenwinkeln die Länge von Javita gleich 70° 22° oder 1° 1° 5“ weiter nach Weſt als die Länge der Einmündung des Apure in den Orinoko. Dieſes Ergebnis iſt von Bedeutung, weil wir damit auf unſeren Karten die Lage des gänzlich unbekannten Landes zwiſchen dem Xie und den Quellen des Iſſana angeben können, die auf demſelben Meridian wie die Miſſion Javita liegen. Die Inklination der Magnetnadel war in der Miſſion 26,400; ſie hatte demnach ſeit dem großen nördlichen Katarakt, bei einem Breitenunterſchiede von 3° 50“, um 5,85 abgenommen. Die Abnahme der Intenſität der magnetiſchen Kraft war ebenſo bedeutend. Die Kraft entſprach in Atures 223, in Javita nur 218 Schwingungen in 10 Zeitminuten. Die Indianer in Javita, 160 an der Zahl, ſind gegen— wärtig größtenteils Poimiſanos, Echinavis und Paraginis, und treiben Schiffbau. Man nimmt dazu Stämme einer großen Lorbeerart, von den Miſſionären Saſſafras! genannt, die man mit Feuer und Axt zugleich aushöhlt. Dieſe Bäume ſind über 30 m hoch; das Holz iſt gelb, harzig, verdirbt faſt nie im Waſſer und hat einen ſehr angenehmen Geruch. Wir ſahen es in San Fernando, in Javita, beſonders aber in Ocoten eymbarum, ſehr verſchieden vom Laurus Sassa- fras in Nordamerika. — Esmeralda, wo die meiſten Pirogen für den Orinoko gebaut werden, weil die benachbarten Wälder die dickſten Saſſafras⸗ ſtämme liefern. Man bezahlt den Indianern für 84 em oder eine Vara vom Boden der Piroge, das heißt für den unteren, hauptſächlichen Teil (der aus einem ausgehöhlten Stamme beſteht), einen harten Piaſter, jo daß ein 13,3 m langes Kanoe, Holz und Arbeitslohn des Zimmerers, nur 16 Piaſter koſtet; aber mit den Nägeln und den Seitenwänden, durch die man das Fahrzeug geräumiger macht, kommt es doppelt ſo hoch. Auf dem oberen Orinoko ſah ich 40 Piaſter oder 200 Franken für eine 15,6 m lange Piroge bezahlen. Im Walde zwiſchen Javita und dem Cano Pimichin wächſt eine erſtaunliche Menge rieſenh aſter Baumarten, Oco⸗ teen und echte Lorbeeren (die dritte Gruppe der Laurineen, die Perſea, iſt wild nur in mehr als 1950 m Meereshöhe ge— funden worden), die Amasonia arborea, das Retiniphyllum secundiflorum, der Curvana, der Jacio, der Jacifate, deſſen Holz rot iſt wie Braſilholz, der Guamufate mit ſchönen, 18 bis 21 em langen, denen des Calophyllum ähnlichen Blättern, die Amyris Caranna und der Mani. Alle dieſe Bäume (mit Ausnahme unſerer neuen Gattung Retiniphyllum) waren 32 bis 35 m hoch. Da die Aeſte erſt in der Nähe des Wipfels vom Stamme abgehen, ſo koſtete es Mühe, ſich Blätter und Blüten zu verſchaffen. Letztere lagen häufig unter den Bäumen am Boden; da aber in dieſen Wäldern Arten verſchiedener Familien durcheinander wachſen und jeder Baum mit Schling- pflanzen bedeckt iſt, ſo ſchien es bedenklich, ſich allein auf die Ausſage der Indianer zu verlaſſen, wenn dieſe uns verſicherten, die Blüten gehören dieſem oder jenem Baume an. In der Fülle der Naturſchätze machte uns das Botaniſieren mehr Verdruß als Vergnügen. Was wir uns aneignen konnten, ſchien uns von wenig Belang gegen das, was wir nicht zu erreichen vermochten. Es regnete ſeit mehreren Monaten un— aufhörlich und Bonpland gingen die Exemplare, die er mit künstlicher Wärme zu trocknen ſuchte, größtenteils zu Grunde. Unſere Indianer kauten erſt, wie ſie gewöhnlich thun, das Holz, an nannten dann den Baum. Die Blätter wußten ſie beſſer zu unterſcheiden als Blüten und Früchte. Da ſie nur Bauholz (Stämme zu Pirogen) ſuchen, kümmern ſie ſich wenig um den Blütenſtand. „Alle dieſe großen Bäume tragen weder Blüten noch Früchte,“ ſo lautete fortwährend ihr Be⸗ ſcheid. Gleich den Kräuterkennern im Altertum ziehen ſie in u ad Ben Abrede, was fie nicht der Mühe wert gefunden zu unterſuchen. Wenn unſere Fragen ſie langweilten, ſo machten ſie ihrerſeits uns ärgerlich. Wir haben ſchon oben die Bemerkung gemacht, daß zu— weilen dieſelben chemiſchen Eigenſchaften denſelben Organen in verſchiedenen Pflanzenfamilien zukommen, ſo daß dieſe Familien in verſchiedenen Klimaten einander erſetzen. Die Einwohner des tropiſchen Amerika und Afrika gewinnen von mehreren Palmenarten das Oel „das uns der Olivenbaum gibt. Was die Nadelhölzer für die gemäßigte Zone, das ſind die Terebinthaceen und Guttiferen für die heiße. In dieſen Wäldern des heißen Erdſtriches, wo es keine Fichte, keine Thuia, kein Taxodium, nicht einmal einen Podocarpus gibt, kommen Harze, Balſame, aromatiſches Gummi von den Mo— ronobea-, Jcica-, Amyrisarten. Das Einſammeln dieſer Gummi und Harze iſt ein Erwerbszweig für das Dorf Javita. Das berühmteſte Harz heißt Mani; wir ſahen mehrere Zentner ſchwere Klumpen desſelben, die Kolophonium oder Maſtix glichen. Der Baum, den die Paraginisindianer Mani nennen und den Bonpland für die Moronobea ceoecinca hält, liefert nur einen ſehr kleinen Teil der Maſſe, die in den Handel von Angoſtura kommt. Das meiſte kommt vom Mararo oder Caragna, der eine Amyris iſt. Es iſt ziemlich auf- fallend, daß der Name Mani, den Aublet aus dem Munde der Galibisindianer in Cayenne gehört hat, uns in Javita, 1300 km von franzöſiſch Guyana, wieder begegnete. Die Moronobea oder Symphonia bei Javita gibt ein gelbes Harz, der Caragna ein ſtark riechendes, ſchneeweißes Harz, das gelb wird, wo es innen an alter Rinde ſitzt. Wir gingen jeden Tag in den Wald, um zu ſehen, ob es mit dem Transport unſeres Fahrzeuges zu Land vorwärts ging. Dreiundzwanzig Indianer waren angeſtellt, dasſelbe zu ſchleppen, wobei ſie nacheinander Baumäſte als Walzen unterlegten. Ein kleines Kanoe gelangt in einem oder andert— halb Tagen aus dem Tuamini in den Cano Pimichin, der in den Rio Negro fällt; aber unſere Piroge war ſehr groß, und da ſie noch einmal durch die Katarakte mußte, bedurfte es beſonderer Vorſichtsmaßregeln, um die Reibung am Boden zu vermindern. Der Transport währte auch über vier Tage. Erſt ſeit dem Jahre 1795 iſt ein Weg durch den Wald an— gelegt. Die Indianer in Javita haben denſelben zur Hälfte vollendet, die andere Hälfte haben die Indianer in Maroa, — 230 — Davipe und San Carlos herzuſtellen. Pater Eugenio Cereſo maß den Weg mit einem 83,6 m langen Strick und fand denſelben 14361 m lang. Legte man ſtatt des „Trageplatzes“ einen Kanal an, wie ich dem Miniſterium König Karls IV. vorgeſchlagen, ſo würde die Verbindung zwiſchen dem Rio Negro und Angoſtura, zwiſchen dem ſpaniſchen Orinoko und den portugieſiſchen Beſitzungen am Amazonenſtrom ungemein erleichtert. Die Fahrzeuge gingen dann von San Carlos nicht mehr über den Caſſiquiare, der eine Menge Krümmungen hat und wegen der ſtarken Strömung gerne gemieden wird; ſie gingen nicht mehr den Orinoko von ſeiner Gabelteilung bis San Fernando de Atabapo hinunter. Die Bergfahrt wäre über den Rio Negro und den Cano Pimichin um die Hälfte kürzer. Vom neuen Kanal bei Javita ginge es über den Tuamini, Temi, Atabapo und Orinoko abwärts bis Ango— ſtura. Ich glaube, man könnte auf dieſe Weiſe von der bra— ſilianiſchen Grenze in die Hauptſtadt von Guyana leicht in 24 bis 26 Tagen gelangen; man brauchte unter gewöhnlichen Umſtänden 10 Tage weniger und der Weg wäre für die Ru— derer (Bogas) weniger beſchwerlich, weil man nur halb ſo lang gegen die Strömung anfahren muß, als auf dem Caſſi— quiare. Fährt man aber den Orinoko herauf, geht man von Angoſtura an den Rio Negro, ſo beträgt der Unterſchied in der Zeit kaum ein paar Tage; denn über dem Pimichin muß man dann die kleinen Flüſſe hinauf, während man auf dem alten Wege den Caſſiquiare hinunterfährt. Wie lange die Fahrt von der Mündung des Orinoko nach San Carlos dauert, hängt begreiflich von mehreren wechſelnden Umſtänden ab, ob die Briſe zwiſchen Angoſtura und Carichana ſtärker oder ſchwächer weht, wie in den Katarakten von Atures und May— pures und in den Flüſſen überhaupt der Waſſerſtand iſt. Im November und Dezember iſt die Briſe ziemlich kräftig und die Strömung des Orinoko nicht ſtark, aber die kleinen Flüſſe haben dann ſo wenig Waſſer, daß man jeden Augenblick Ge— fahr läuft, aufzufahren. Die Miſſionäre reiſen am liebſten im April, zur Zeit der Schildkröteneierernte, durch die an ein paar Uferſtriche des Orinoko einiges Leben kommt. Man fürchtet dann auch die Moskiten weniger, der Strom iſt halb voll, die Briſe kommt einem noch zu gute und man kommt leicht durch die großen Katarakte. Aus den Barometerhöhen, die ich in Javita und beim Landungsplatz am Pimichin beobachtet, geht hervor, daß der — 231 — Kanal im Durchſchnitt von Nord nach Süd einen Fall von 58 bis 78 m hätte. Daher laufen auch die vielen Bäche, über die man die Pirogen ſchleppen muß, alle dem Pimichin zu. Wir bemerkten mit Ueberraſchung, daß unter dieſen Bächen mit ſchwarzem Waſſer ſich einige befanden, deren Waſſer bei reflektiertem Licht jo weiß war als das Drinofo- waſſer. Woher mag dieſer Unterſchied rühren? Alle dieſe Quellen entſpringen auf denſelben Savannen, aus denſelben Sümpfen im Walde. Pater Cereſo hat bei ſeiner Meſſung nicht die gerade Linie eingehalten und iſt zu weit nach Oſt gekommen, der Kanal würde daher nicht 11,7 km lang. Ich ſteckte den kürzeſten Weg mittels des Kompaſſes ab und man hieb hie und da in die älteſten Waldbäume Marken. Der Boden iſt völlig eben; auf 22,5 km in der Runde findet ſich nicht die kleinſte Erhöhung. Wie die Verhältniſſe jetzt find, ſollte man das „Tragen“ wenigſtens dadurch erleichtern, daß man den Weg beſſerte, die Pirogen auf Wagen führte und Brücken über die Bäche ſchlüge, durch welche die Indianer oft tagelang aufgehalten werden. In dieſem Walde erhielten wir endlich auch genaue Aus— kunft über den vermeintlichen foſſilen Kautſchuk, den die Indianer Dapicho nennen. Der alte Kapitän Javita führte uns an einen Bach, der in den Tuamini fällt. Er zeigte uns, wie man, um dieſe Subſtanz zu bekommen, im ſumpfigen Erd⸗ reich 60 bis 90 em zwiſchen den Wurzeln zweier Bäume, des Jacio und des Curvana graben muß. Erſterer ift Aublets Hevea oder die Siphonia der neueren Botaniker, von der, wie man weiß, der Kautſchuk kommt, der in Cayenne und Gran Para im Handel iſt; der zweite hat gefiederte Blätter; ſein Saft iſt milchig, aber ſehr dünn und faſt gar nicht klebrig. Der Dapicho ſcheint ſich nun dadurch zu bilden, daß der Saft aus den Wurzeln austritt, und dies geſchieht beſonders, wenn die Bäume ſehr alt find, und der Stamm hohl zu werden anfängt. Rinde und Splint be- kommen Riſſe, und ſo erfolgt auf natürlichem Wege, was der Menſch künſtlich thut, um den Milchſaft der Hevea, der Ca⸗ ſtilloa und der Kautſchuk gebenden Feigenbäume in Menge zu ſammeln. Nach Aublets Bericht machen die Galibi und Garipon in Cayenne zuerſt unten am Stamm einen tiefen Schnitt bis ins Holz; bald darauf machen ſie ſenkrechte und ſchiefe Einſchnitte, jo daß dieſe von oben am Stamm bis nahe über der Wurzel in jenen horizontalen Einſchnitt zu- ſammenlaufen. Alle dieſe Rinnen leiten den Milchſaft der Stelle zu, wo das Thongefäß ſteht, in dem der Kautſchuk aufgefangen wird. Die Indianer in Garichana ſahen wir ungefähr ebenſo verfahren. Wenn, wie ich vermute, die Anhäufung und das Aus- treten der Milch beim Jacio und Curvana ein patholo— giſche Erſcheinung iſt, ſo muß der Prozeß zuweilen durch die Spitzen der längſten Wurzeln vor ſich gehen; denn wir fanden 60 cm breite und 10 em dicke Maſſen Dapicho 2,6 m vom Stamme entfernt. Oft ſucht man unter abgeſtorbenen Bäumen vergebens, andere Male findet man Dapicho unter noch grü— nenden Hevea- oder Jacioſtämmen. Die Subſtanz iſt weiß, korkartig, zerbrechlich und gleicht durch die aufeinanderliegen— den Blätter und die gewellten Ränder dem Boletus igniarius. Vielleicht iſt zur Bildung des Dapicho lange Zeit erforderlich; der Hergang dabei iſt wahrſcheinlich der, daß infolge eines eigentümlichen Zuſtandes des vegetabiliſchen Gewebes der Saft ſich verdickt, austritt und im feuchten Boden ohne Zutritt von Licht gerinnt; es iſt ein eigentümlich beſchaffener, ich möchte faſt ſagen „vergeilter“ Kautſchuk. Aus der Feuchtigkeit des Bodens ſcheint ſich das wellige Anſehen der Ränder des Da— picho und ſeine Blätterung zu erklären. Ich habe in Peru oft beobachtet, daß, wenn man den Milchſaft der Hevea oder den Saft der Carica langſam in vieles Waſſer gießt, das Gerinnſel wellenförmige Umriſſe zeigt. Das Dapicho kommt ſicher nicht bloß in dem Walde zwiſchen Javita und dem Pimichin vor, obgleich es bis jetzt nur hier gefunden worden iſt. Ich zweifle nicht, daß man in franzöſiſch Guyana, wenn man unter den Wurzeln und alten Stämmen der Hevea nachſuchte, zuweilen gleichfalls ſolche ungeheure Klumpen von korkartigem Kautſchuk fände, wie wir ſie eben beſchrieben. In Europa macht man die Beobachtung, daß, wenn die Blätter fallen, der Saft ſich gegen die Wurzeln zieht; es wäre intereſſant, zu unterſuchen, ob etwa unter den Tropen die Milchſäfte der Urticeen, der Eu— phorbien, und der Apocyneen in gewiſſen Jahreszeiten gleich— falls abwärts gehen. Trotz der großen Gleichförmigkeit der Temperatur durchlaufen die Bäume in der heißen Zone einen Vegetationscyklus, unterliegen Veränderungen mit periodiſcher Wiederkehr. Der Dapicho iſt wichtiger für die Pflanzen— phyſiologie als für die organiſche Chemie. Wir haben eine Abhandlung Allens über den Unterſchied zwiſchen dem Kaut— — 233 — ſchuk in ſeinem gewöhnlichen Zuſtande und der bei Javita gefundenen Subſtanz, von der ich Sir Joſeph Banks geſendet hatte. Gegenwärtig kommt im Handel ein gelblich-weißer Kautſchuk vor, den man leicht vom Dapicho unterſcheidet, da er weder trocken wie Kork, noch zerreiblich iſt, ſondern ſehr elaſtiſch, glänzend und ſeifenartig. Ich ſah kürzlich in London anſehnliche Maſſen, die zwiſchen 6 und 15 Frank das Pfund im Preiſe ſtanden. Dieſer weiße, fett anzufühlende Kautſchuk kommt aus Oſtindien. Er hat den tieriſchen, nauſeoſen Ge— ruch, den ich weiter oben von einer Miſchung von Käſeſtoff und Eiweißſtoff abgeleitet habe. Wenn man bedenkt, wie unendlich viele und mannigfaltige tropiſche Gewächſe Kaut⸗ ſchuk geben, ſo muß man bedauern, daß dieſer ſo nützliche Stoff bei uns nicht wohlfeiler iſt. Man brauchte die Bäume mit Milchſaft gar nicht künſtlich zu pflanzen; allein in den Miſſionen am Orinoko ließe ſich ſo viel Kautſchuk „gewinnen, als das civiliſierte Europa immer bedürfen mag. Im König: reich Neugranada iſt hie und da mit Glück verſucht worden, aus dieſer Subſtanz Stiefeln und Schuhe ohne Naht zu machen. Unter den amerikaniſchen Völkern verſtehen ſich die Omaguas am Amazonenſtrom am beſten auf die Verarbeitung des Kautſchuk. Bereits waren vier Tage verfloſſen und unſere Piroge hatte den Landungsplatz am Rio Pimichin immer noch nicht erreicht. „Es fehlt Ihnen an nichts in meiner Miſſion,“ ſagte Pater Cereſo; „Sie haben Bananen und Fiſche, bei Nacht werden Sie nicht von den Moskiten geſtochen, und je länger Sie bleiben, deſto wahrſcheinlicher iſt es, daß Ihnen auch noch die Geſtirne meines Landes zu Geſicht kommen. Zerbricht Ihr Fahrzeug beim Tragen', ſo geben wir Ihnen ein anderes, und mir wird es ſo gut, daß ich ein paar Wochen con gente blanca Y de razon lebe.“ Trotz unſerer Unge⸗ duld, hörten wir die Schilderungen des guten Miſſionärs mit großem Intereſſe an. Er beſtätigte alles, was wir bereits über die ſittlichen Zuſtände der Eingeborenen dieſer Landſtriche vernommen hatten. Sie leben in einzelnen Horden von 40 bis 50 Köpfen unter einem Familienhaupte; einen gemein— ſamen Häuptling (apoto, sibierene) erkennen ſie nur an, ſo— „Mit weißen und vernünftigen Menſchen“. Die europäiſche Eigenliebe ſtellt gemeiniglich die Gente de razon und die Gente parda einander gegenüber. — 234 — bald ſie mit ihren Nachbarn in Fehde geraten. Das gegen— feitige Mißtrauen iſt bei dieſen Horden um jo ſtärker, da ſelbſt die, welche einander zunächſt hauſen, gänzlich verſchiedene Sprachen ſprechen. Auf offenen Ebenen oder in Ländern mit Grasfluren halten ſich die Völkerſchaften gerne nach der Stamm— verwandtſchaft, nach der Aehnlichkeit der Gebräuche und Mund— arten zuſammen. Auf dem tatariſchen Hochland wie in Nord— amerika ſah man große Völkerfamilien in mehreren Marſch— kolonnen über ſchwach bewaldete, leicht zugängliche Länder fortziehen. Derart waren die Züge der toltekiſchen und azteki— ſchen Raſſe über die Hochebenen von Mexiko vom 6. bis zum 11. Jahrhundert unſerer Zeitrechnung; derart war vermut— lich auch die Völkerſtrömung, in der ſich die kleinen Stämme in Kanada, die Mengwe (Irokeſen) oder fünf Nationen, die Algonkin oder Lenni-Lenape, die Chikeſaws und die Mus— kohgees vereinigten. Da aber der unermeßliche Landſtrich zwiſchen dem Aequator und dem 8. Breitengrad nur ein Wald iſt, ſo zerſtreuten ſich darin die Horden, indem ſie den Flußverzweigungen nachzogen, und die Beſchaffenheit des Bodens nötigte ſie mehr oder weniger Ackerbauer zu werden. So wirr iſt das Labyrinth der Flüſſe, daß die Familien ſich niederließen, ohne zu wiſſen, welche Menſchenart zunächſt neben ihnen wohnte. In ſpaniſch Guyana trennt zuweilen ein Berg, ein 2 bis 3 km breiter Forſt Horden, die zwei Tage zu Waſſer fahren müßten, um zuſammenzukommen. So wirken denn in offenen oder in der Kultur ſchon vorgeſchrittenen Ländern Flußverbindungen mächtig auf Verſchmelzung der Sprachen, der Sitten und der politiſchen Einrichtungen; da— gegen in den undurchdringlichen Wäldern des heißen Land— ſtriches, wie im rohen Urzuſtand unſeres Geſchlechtes, zer— ſchlagen ſie große Völker in Bruchſtücke, laſſen ſie Dialekte zu Sprachen werden, die wie grundverſchieden ausſehen, nähren ſie das Mißtrauen und den Haß unter den Völkern. Zwi— ſchen dem Caura und dem Padamo trägt alles den Stempel der Zwietracht und der Schwäche. Die Menſchen fliehen einander, weil ſie einander nicht verſtehen; ſie haſſen ſich, weil ſie einander fürchten. Betrachtet man dieſes wilde Gebiet Amerikas mit Auf— merkſamkeit, ſo glaubt man ſich in die Urzeit verſetzt, wo die Erde ſich allmählich bevölkerte; man meint die früheſten ge— ſellſchaftlichen Bildungen vor ſeinen Augen entſtehen zu ſehen. In der Alten Welt ſehen wir, wie das Hirtenleben die Jäger— völfer zum Leben des Ackerbaues erzieht. In der Neuen jehen wir uns vergeblich nach dieſer allmählichen Kulturentwickelung um, nach dieſen Ruhe- und Haltpunkten im Leben der Völker. Der üppige Pflanzenwuchs iſt den Indianern bei ihren Jagden hinderlich; da die Ströme Meeresarmen gleichen, ſo hört des tiefen Waſſers wegen der Fiſchfang monatelang auf. Die Arten von Wiederkäuern, die der koſtbarſte Beſitz der Völker der Alten Welt ſind, fehlen in der Neuen; der Biſon und der Moſchusochſe ſind niemals Haustiere geworden. Die Vermehrung der Lama und Guanako führte nicht zu den Sitten des Hirtenlebens. In der gemäßigten Zone, an den Ufern des Miſſouri wie auf dem Hochland von Neumexiko, iſt der Amerikaner ein Jäger; in der heißen Zone dagegen, in den Wäldern von Guyana pflanzt er Maniok, Bananen, zuweilen Mais. Die Natur iſt ſo überſchwenglich freigebig, daß die Ackerflur des Eingeborenen ein Fleckchen Boden iſt, daß das Urbarmachen darin beſteht, daß man die Sträucher wegbrennt, das Ackern darin, daß man ein paar Samen oder Steckreiſer dem Boden anvertraut. So weit man ſich in Ge— danken in der Zeit zurückverſetzt, nie kann man in dieſen dicken Wäldern die Völker anders denken als ſo, daß ihnen der Boden vorzugsweiſe die Nahrung lieferte; da aber dieſer Boden auf der kleinſten Fläche faſt ohne Arbeit ſo reichlich trägt, ſo hat man ſich wiederum vorzuſtellen, daß dieſe Völker immer einem und demſelben Gewäſſer entlang häufig ihre Wohnplätze wechſelten. Und der Eingeborene am Orinoko wandert ja mit ſeinem Saatkorn noch heute, und legt wan— dernd ſeine Pflanzung (eonuco) an, wie der Araber ſein Zelt aufſchlägt und die Weide wechſelt. Die Menge von Kultur: gewächſen, die man mitten im Walde findet, weiſen deut⸗ lich auf ein ackerbauendes Volk mit nomadiſcher Lebensweiſe hin. Kann man ſich wundern, daß bei ſolchen Sitten vom Segen der feſten Niederlaſſung, des Getreidebaues, der weite Flächen und viel mehr Arbeit erfordert, ſo gut wie nichts übrig bleibt? Die Völker am oberen Orinoko, am Atabapo und Ini— rida verehren, gleich den alten Germanen und Perſern, keine anderen Gottheiten als die Naturkräfte. Das gute Prinzip nennen ſie Cachimana; das iſt der Manitu, der große Geiſt, der die Jahreszeiten regiert und die Früchte reifen läßt. Neben dem Cachimana ſteht ein böſes Prinzip, der Jolokiamo, der nicht ſo mächtig iſt, aber ſchlauer und beſonders rühriger. — 236 — Die Indianer aus den Wäldern, wenn ſie zuweilen in die Miſſionen kommen, können ſich von einem Tempel oder einem Bilde ſehr ſchwer einen Begriff machen. „Die guten Leute,“ ſagte der Miſſionär, „lieben Prozeſſionen nur im Freien. Jüngſt beim Feſt meines Dorfpatrons, des heiligen Antonius, wohnten die Indianer von Inirida der Meſſe bei. Da ſagten fie zu mir: ‚Euer Gott ſchließt ſich in ein Haus ein, als wäre er alt und krank; der unſerige iſt im Wald, auf dem Feld, auf den Sipabubergen, woher der Regen kommt.“ Bei zahl: reicheren und eben deshalb weniger barbariſchen Völkerſchaften bilden ſich ſeltſame religiöſe Vereine. Ein paar alte Indianer wollen in die göttlichen Dinge tiefer eingeweiht ſein als die anderen, und dieſe haben das berühmte Botuto in Ber: wahrung, von dem oben die Rede war, und das unter den Palmen geblaſen wird, damit ſie reichlich Früchte tragen. An den Ufern des Orinoko gibt es kein Götzenbild, wie bei allen Völkern, die beim urſprünglichen Naturgottesdienſt ſtehen ge— blieben ſind; aber der Botuto, die heilige Trompete, iſt zum Gegenſtand der Verehrung geworden. Um in die Myſterien des Botuto eingeweiht zu werden, muß man rein von Sitten und unbeweibt ſein. Die Eingeweihten unterziehen ſich der Geißelung, dem Faſten und anderen angreifenden Andachts— übungen. Dieſer heiligen Trompeten ſind nur ganz wenige und die altberühmteſte befindet ſich auf einem Hügel beim Zuſammenfluß des Tomo mit dem Rio Negro. Sie ſoll zu— gleich am Tuamini und in der Miſſion San Miguel de Davipe, 45 km weit gehört werden. Nach Pater Cereſos Bericht ſprechen die Indianer von dieſem Botuto am Rio Tomo ſo, als wäre derſelbe für mehrere Völkerſchaften in der Nähe ein Gegenſtand der Verehrung. Man ſtellt Früchte und be— rauſchende Getränke neben die heilige Trompete. Bald bläſt der Große Geiſt (Cachimana) ſelbſt die Trompete, bald läßt er nur ſeinen Willen durch den kund thun, der das heilige Werkzeug in Verwahrung hat. Da dieſe Gaukeleien ſehr alt ſind (von den Vätern unſerer Väter her, ſagen die Indianer), ſo iſt es nicht zu verwundern, daß es bereits Menſchen gibt, die nicht mehr daran glauben; aber dieſe Ungläubigen äußern nur ganz leiſe, was ſie von den Myſterien des Botuto halten. Die Weiber dürfen das wunderbare Inſtrument gar nicht ſehen; ſie ſind überhaupt von jedem Gottesdienſte ausge— ſchloſſen. Hat eine das Unglück, die Trompete zu erblicken, ſo wird ſie ohne Gnade umgebracht. Der Miſſionär erzählte — 237 — uns, im Jahr 1798 habe er das Glück gehabt, ein junges Mädchen zu retten, der ein eiferſüchtiger rachſüchtiger Lieb— haber ſchuld gegeben, ſie ſei aus Vorwitz den Indianern nachgeſchlichen, die in den Pflanzungen den Botuto blieſen. „Oeffentlich hätte man ſie nicht umgebracht,“ ſagte Pater Cereſo, „aber wie ſollte man ſie vor dem Fanatismus der Eingeborenen ſchützen, da es hierzulande ſo leicht iſt, einem Gift beizubringen? Das Mädchen äußerte ſolche Beſorgnis gegen mich und ich ſchickte ſie in eine Miſſion am unteren Orinoko.“ Wären die Völker in Guyana Herren dieſes großen Landes geblieben, könnten ſie, ungehindert von den chriſtlichen Niederlaſſungen, ihre barbariſchen Gebräuche frei entwickeln, ſo erhielte der Botutodienſt ohne Zweifel eine po— litiſche Bedeutung. Dieſer geheimnisvolle Verein von Ein— geweihten, dieſe Hüter der heiligen Trompete würden zu einer mächtigen Prieſterkaſte und das Orakel am Rio Tomo ſchlänge nach und nach ein Band um benachbarte Völker. Auf dieſe Weiſe ſind durch gemeinſam Gottesverehrung (communia sacra), durch religiöſe Gebräuche und Myſterien ſo viele Völker der Alten Welt einander näher gebracht, miteinander verſöhnt und vielleicht der Geſittung zugeführt worden. Am 4. Mai abends meldete man uns, ein Indianer, der beim Schleppen unſerer Piroge an den Pimichin beſchäftigt war, ſei von einer Natter gebiſſen worden. Der große, ſtarke Mann wurde in ſehr bedenklichem Zuſtande in die Miſſion gebracht. Er war bewußtlos rücklings zu Boden geſtürzt, und auf die Ohnmacht waren Uebelkeit, Schwindel, Kongeſtionen gegen den Kopf gefolgt. Die Liane Vejuco de Guaco, die durch Mutis ſo berühmt geworden, und die das ſicherſte Mittel gegen den Biß giftiger Schlangen iſt, war hierzulande noch nicht bekannt. Viele Indianer liefen zur Hütte des Kranken und man heilte ihn mit dem Aufguß von Raiz de Mato. Wir können nicht mit Beſtimmtheit angeben, von welcher Pflanze dieſes Gegengift kommt. Der reiſende Bo— taniker hat nur zu oft den Verdruß, daß er von den nutz— barſten Gewächſen weder Blüte noch Frucht zu Geſichte be— kommt, während er ſo viele Arten, die ſich durch keine be— ſonderen Eigenſchaften auszeichnen, täglich mit allen Frukti— fifationsorganen vor Augen hat. Der Raiz de Mats iſt vermutlich ein Apocynee, vielleicht die Cerbera thevethia, welche die Einwohner von Cumana Lengua de Mate oder Contra-Culebra nennen und gleichfalls gegen Schlangen: — 238 — biß brauchen. Eine der Cerbera ſehr naheſtehende Gattung (Ophioxylon serpentinum) leiſtet in Indien denſelben Dienſt. Ziemlich häufig findet man in derſelben Pflanzenfamilie vege— tabiliſche Gifte und Gegengifte gegen den Biß der Reptilien. Da viele tropiſche und narkotiſche Mittel mehr oder minder wirkſame Gegengifte ſind, ſo kommen dieſe in weit auseinder— ſtehenden Familien vor, bei den Ariſtolochien, Apocyneen, Gen— tianen, Polygalen, Solaneen, Malvaceen, Drymyrhizeen, bei den Pflanzen mit zuſammengeſetzten Blüten, und was noch auffallender iſt, bei den Palmen. In der Hütte des Indianers, der von einer Natter ge— biſſen worden, fanden wir 5 bis 8 em große Kugeln eines erdigen, unreinen Salzes, Chivi genannt, das von den Ein— geborenen ſehr ſorgfältig zubereitet wird. In Maypures ver— brennt man eine Konferve, die der Orinoko, wenn er nach dem Hochgewäſſer in ſein Bett zurückkehrt, auf dem Geſtein ſitzen läßt. In Javita bereitet man Salz durch Einäſcherung des Blütenkolbens und der Früchte der Seje oder Chimu— palme. Dieſe ſchöne Palme, die am Ufer des Auvena beim Katarakt Guarinuma und zwiſchen dem Javita und dem Pi— michin ſehr häufig vorkommt, ſcheint eine neue Art Kokos— palme zu fein. Bekanntlich iſt das in der gemeinen Kokos— nuß eingeſchloſſene Waſſer häufig ſalzig, ſelbſt wenn der Baum weit von der Meeresküſte wächſt. Auf Madagaskar gewinnt man Salz aus dem Saft einer Palme Namens Cira. Außer den Blütenkolben und den Früchten der Sejepalme laugen die Indianer in Javita auch die Aſche des vielbe— rufenen Schlinggewächſes Cupana aus. Es iſt dies eine neue Art der Gattung Paullinia, alſo eine von Linnss Cu: pania ſehr verſchiedene Pflanze. Ich bemerke bei dieſer Ge— legenheit, daß ein Miſſionär ſelten auf die Reiſe geht, ohne den zubereiteten Samen der Liane Cupana mitzunehmen. Dieſe Zubereitung erfordert große Sorgfalt. Die Indianer zerreiben den Samen, miſchen ihn mit Maniokmehl, wickeln die Maſſe in Bananenblätter und laſſen ſie im Waſſer gären, bis ſie ſafrangelb wird. Dieſer gelbe Teig wird an der Sonne getrocknet, und mit Waſſer angegoſſen genießt man ihn mor— gens ſtatt Thee. Das Getränk iſt bitter und magenſtärkend, ich fand aber den Geſchmack ſehr widrig. Am Nigir und in einem großen Teile des inneren Afrika, wo das Salz ſehr ſelten iſt, heißt es von einem reichen Mann: „Es geht ihm ſo gut, daß er Salz zu ſeinen Speiſen ißt.“ — 239 — Dieſes Wohlergehen iſt auch im Inneren Guyanas nicht allzu häufig. Nur die Weißen, beſonders die Soldaten im Fort San Carlos, wiſſen ſich reines Salz zu verſchaffen, entweder von der Küfte von Caracas oder von Chita, am Oſtabhange der Kordilleren von Neugranada, auf dem Rio Meta. Hier, wie in ganz Amerika, eſſen die Indianer wenig Fleiſch und verbrauchen faſt kein Salz. Daher trägt auch die Salzſteuer allerorten, wo die Zahl der Eingeborenen bedeutend vorſchlägt, wie in Mexiko und Guatemala, der Staatskaſſe wenig ein. Der Chivi in Javita iſt ein Gemenge von ſalzſaurem Kali und ſalzſaurem Natron, Aetzkalk und verſchiedenen erdigen Salzen. Man löſt ein ganz klein wenig davon in Waſſer auf, füllt mit der Auflöſung ein dütenförmig aufgewickeltes Helikonienblatt und läßt wie aus der Spitze eines Filtrums ein paar Tropfen auf die Speiſen fallen. Am 5. Mai machten wir uns zu Fuß auf den Weg, um unſere Piroge einzuholen, die endlich über den Trageplatz im Cano Pimichin angelangt war. Wir mußten über eine Menge Bäche waten, und es iſt dabei wegen der Nattern, von denen die Sümpfe wimmeln, einige Vorſicht nötig. Die Indianer zeigten uns auf dem naſſen Thon die Fährte der kleinen ſchwarzen Bären, die am Temi ſo häufig vorkommen. Sie unterſcheiden ſich wenigſtens in der Größe vom Ursus ame— ricanus; die Miſſionäre nennen fie Oso carnicero zum Unterſchiede vom Oso palmero (Myrmecophaga jubata) und dem Oso hormigero oder Tamandua-Ameiſenfreſſer. Dieſe Tiere ſind nicht übel zu eſſen; die beiden erſtgenannten ſetzen ſich zur Wehre und ſtellen ſich dabei auf die Hinter— beine. Buffons Tamanoir heißt bei den Indianern Uaraca; er iſt reizbar und beherzt, was bei einem zahnloſen Tiere ziemlich auffallend erſcheint. Im Weitergehen kamen wir auf einige Lichtungen im Walde, der uns deſto reicher erſchien, je zugänglicher er wurde. Wir fanden neue Arten von Coffea (die amerikaniſche Gruppe mit Blüten in Riſpen bildet wahr— ſcheinlich eine Gattung für ſich), die Galega piscatorum, deren ſowie der Jacquinia und einer Pflanze mit zuſammen— geſetzter Blüte vom Rio Temi! die Indianer ſich als Bar— basco bedienen, um die Fiſche zu betäuben, endlich die hier Vejuco de Mavacure genannte Liane, von der das viel— I Bailliera Barbasco. rl berufene Gift Curare kommt. Es iſt weder ein Phyllanthus, noch eine Coriaria, wie Willdenow gemeint, ſondern nach Kunths Unterſuchungen ſehr wahrſcheinlich ein Strychnos. Wir werden unten Gelegenheit haben, von dieſer giftigen Subſtanz zu ſprechen, die bei den Wilden ein wichtiger Handels— artikel iſt. Wenn ein Reiſender, der ſich gleich uns durch die Gaſtfreundſchaft der Miſſionäre gefördert ſähe, ein Jahr am Atabapo, Tuamini und Rio Negro, und ein weiteres Jahr in den Bergen bei Esmeralda und am oberen Drinofo zubrächte, könnte er gewiß die Zahl der von Aublet und Richard beſchriebenen Gattungen verdreifachen. Auch im Walde am Pimichin haben die Bäume die rieſige Höhe von 26 bis 40 m. Es ſind dies die Laurineen und Amyris, die in dieſen heißen Himmelsſtrichen das ſchöne Bau— holz liefern, das man an der Nordweſtküſte von Amerika, in den Bergen, wo im Winter der Thermometer auf 20° unter Null fällt, in der Familie der Nadelhölzex findet. In Amerika iſt unter allen Himmelsſtrichen und in allen Pflanzenfamilien die Vegetationskraft ſo ausnehmend ſtark, daß unter dem 57. Grad nördlicher Breite, auf derſelben Iſotherme wie Petersburg und die Orkneyinſeln, Pinus canadensis 48 m hohe und 2m dicke Stämme hat.! Wir kamen gegen Nacht in einem kleinen Hofe an, dem Puerto oder Landungsplatz am Pimichin. Man zeigte uns ein Kreuz am Wege, das die Stelle bezeichnet, „wo ein armer Miſſionär, ein Kapuziner, von den Weſpen umgebracht worden“. Ich ſpreche dies dem Mönch in Javita und den Indianern nach. Man ſpricht hier: zulande viel von giftigen Weſpen und Ameiſen; wir konnten aber keines von dieſen beiden Inſekten auftreiben. Bekanntlich verurſachen im heißen Erdſtrich unbedeutende Stiche nicht ſelten Fieberanfälle, faſt ſo heftig wie die, welche bei uns bei ſehr bedeutenden organischen Verletzungen eintreten. Der Tod des armen Mönchs wird wohl eher eine Folge der Erſchöpfung und der Feuchtigkeit geweſen ſein, als des Giftes im Stachel der Weſpen, vor deren Stich die nackten Indianer große Furcht haben. Dieſe Weſpen bei Javita find nicht mit den Honig— bienen zu verwechſeln, welche die Spanier Engelchen nennen Langsdorf ſah bei den Bewohnern der Norfolkbucht Kanden aus einem Stück 16 m lang, 1,45 m breit und an den Rändern Um hoch; fie faßten 30 Menſchen. Auch Populus balsamifera wird auf den Bergen um Norfolkbucht ungeheuer hoch. EEE 1 a und die ſich auf dem Gipfel der Silla bei Caracas uns haufen— weiſe auf Geſicht und Hände ſetzten. Der Landungsplatz am Pimichin liegt in einer kleinen Pflanzung von Kakaobäumen. Die Bäume ſind ſehr kräftig und hier wie am Atabapo und Rio Negro in allen Jahres zeiten mit Blüten und Früchten bedeckt. Sie fangen im vierten Jahre an zu tragen, auf der Küſte von Caracas erſt im ſechſten bis achten. Der Boden iſt am Tuamini und Pimichin überall, wo er nicht ſumpfig iſt, leichter Sandboden, aber ungemein fruchtbar. Bedenkt man, daß der Kakaobaum in dieſen Wäl⸗ dern der Parime, ſüdlich vom 6. Breitengrade, eigentlich zu Hauſe iſt, und daß das naſſe Klima am oberen Orinoko dieſem koſtbaren Baume weit beſſer zuſagt als die Luft in den Pro⸗ vinzen Caracas und Barcelona, die von Jahr zu Jahr trockener wird, ſo muß man bedauern, daß dieſes ſchöne Stück Erde in den Händen von Mönchen iſt, von denen keinerlei Kultur befördert wird. Die Miſſionen der Obſervanten allein könnten 4600 000 kg Kakao in den Handel bringen, deſſen Wert ſich in Europa auf mehr als 6 Millionen Franken be- liefe. Um die Conucos am Pimichin wächſt wild der Igua, ein Baum, ähnlich dem Caryocar nuciferum, den man in holländiſch und franzöſiſch Guyana baut, und von dem neben dem Almendron von Mariquita (Caryocar amygdaliferum), dem Juvia von Esmeralda (Bertholletia excelsa) und der Geoffräa vom Amazonenſtrome die geſuchteſten Mandeln in Südamerika kommen. Die Früchte des Igua kommen hier gar nicht in den Handel; dagegen ſah ich an den Küſten von Terra Firma Fahrzeuge, die aus Demerary die Früchte des Caryocar tomentosum, Aublets Pekea tuberculosa, ein- führten. Dieſe Bäume werden 30 m hoch und nehmen ſich mit ihrer ſchönen Blumenkrone und ihren vielen Staubfäden prachtvoll aus. Ich müßte den Leſer ermüden, wollte ich die Wunder der Pflanzenwelt, welche dieſe großen Wälder auf⸗ zuweiſen haben, noch weiter herzählen. Ihre erſtaunliche Mannigfaltigkeit rührt daher, daß hier auf kleiner Bodenfläche ſo viele Pflanzenfamilien nebeneinander vorkommen, und daß bei dem mächtigen Reiz von Licht und Wärme die Säfte, die in dieſen rieſenhaften Gewächſen zirkulieren, ſo vollkommen ausgearbeitet werden. Wir übernachteten in einer Hütte, welche erſt ſeit kurzem verlaſſen ſtand. Eine indianiſche Familie hatte darin Fiſcher⸗ geräte zurückgelaſſen, irdenes Geſchirr, aus Palmblattſtielen A. v. Humboldt, Reiſe. III. 16 — 242 — geflochtene Matten, den ganzen Hausrat dieſer ſorgloſen, um Eigentum wenig bekümmerten Menſchenart. Große Vorräte von Mani (eine Miſchung vom Harz der Moronobea und der Amyris Carala) lagen um die Hütte. Die Indianer bedienen ſich desſelben hier wie in Cayenne zum Teeren der Pirogen und zum Befeſtigen des knöchernen Stachels der Rochen an die Pfeile. Wir fanden ferner Näpfe voll vege: tabiliſcher Milch, die zum Firniſſen dient und in den Miſſionen als Leche para pindar viel genannt wird. Man beſtreicht mit dieſem klebrigen Safte das Geräte, dem man eine ſchöne weiße Farbe geben will. An der Luft verdickt er ſich, ohne gelb zu werden, und nimmt einen bedeutenden Glanz an. Wie oben bemerkt worden,! iſt der Kautſchuk der fette Teil, die Butter in jeder Pflanzenmilch. Dieſes Gerinnſel nun, dieſe weiße Haut, die glänzt, als wäre ſie mit Kopalfirnis über⸗ zogen, iſt ohne Zweifel eine eigene Form des Kautſchuk. Könnte man dieſem milchigen Firnis verſchiedene Farben geben, ſo hätte man damit, ſollte ich meinen, ein Mittel, um unſere Kutſchenkaſten raſch, in einer Handlung zu bemalen und zu firniſſen. Je genauer man die chemiſchen Verhältniſſe der Gewächſe der heißen Zone kennen lernt, deſto mehr wird man hie und da an abgelegenen, aber dem europäiſchen Handel zugänglichen Orten in den Organen gewiſſer Gewächſe halb: fertige Stoffe entdecken, die nach der bisherigen Anſicht nur dem Tierreiche angehören, oder die wir auf künſtlichem, zwar ſicherem, oft aber langem und mühſamem Wege hervorbringen. So hat man bereits das Wachs gefunden, das den Palm⸗ baum der Anden von Quindiu überzieht, die Seide der Mocoapalme, die nahrhafte Milch des Palo de Vaca, den afrikaniſchen Butterbaum, den käſeartigen Stoff im faſt ani⸗ maliſchen Safte der Carica Papaya. Dergleichen Entdeckungen werden ſich häufen, wenn, wie nach den gegenwärtigen poli— tiſchen Verhältniſſen in der Welt wahrſcheinlich iſt, die euro— päiſche Kultur großenteils in die Aequinoktialländer des neuen Kontinents überfließt. Wie ich oben erwähnt, iſt die ſumpfige Ebene zwiſchen Javita und dem Landungsplatze am Pimichin wegen ihrer vielen Nattern im Lande berüchtigt. Bevor wir von der ver— laſſenen Hütte Beſitz nahmen, ſchlugen die Indianer zwei große, 1,3 bis 2,6 m lange Mapanareſchlangen tot. Sie 1 S. Band II, Seite 247. 8 ſchienen mir von derſelben Art wie die vom Rio Magdalena, die ich beſchrieben habe. Es iſt ein ſchönes, aber ſehr giftiges Tier, am Bauche weiß, auf dem Rücken braun und rot ge— fleckt. Da in der Hütte eine Menge Kraut lag und wir am Boden ſchliefen (die Hängematten ließen ſich nicht befeſtigen), ſo war man in der Nacht nicht ohne Beſorgnis; auch fand man morgens, als man das Jaguarfell aufhob, unter dem einer unſerer Diener am Boden gelegen, eine große Natter. Wie die Indianer ſagen, ſind dieſe Reptilien langſam in ihren Bewegungen, wenn ſie nicht verfolgt werden, und machen ſich an den Menſchen, weil ſie der Wärme nachgehen. Am Mag— dalenenſtrome kam wirklich eine Schlange zu einem unſerer Reiſebegleiter ins Bett und brachte einen Teil der Nacht darin zu, ohne ihm etwas zuleide zu thun. Ich will hier keineswegs Nattern und Klapperſchlangen das Wort reden, aber das läßt ſich behaupten, wären dieſe giftigen Tiere fo angriffsluſtig, als man glaubt, ſo hätte in manchen Strichen Amerikas, z. B. am Orinoko und in den feuchten Bergen von Choco, der Menſch ihrer Unzahl erliegen müſſen. Am 6. Mai. Wir ſchifften uns bei Sonnenaufgang ein, nachdem wir den Boden unſerer Piroge genau unterſucht hatten. Er war beim „Tragen“ wohl dünner geworden, aber nicht geſprungen. Wir dachten, das Fahrzeug könne die 1300 km, die wir den Rio Negro hinab, den Caſſiquiare hinauf und den Orinoko wieder hinab bis Angoſtura noch zu machen hatten, wohl aushalten. Der Pimichin, der hier ein Bach (Cano) heißt, iſt ſo breit wie die Seine, der Galerie der Tuilerien gegenüber, aber kleine, gerne im Waſſer wachſende Bäume, Coroſſols (Anona) und Achras, engen ſein Bett ſo ein, daß nur ein 30 bis 40 m breites Fahrwaſſer offen bleibt. Er gehört mit dem Rio Chagre zu den Gewäſſern, die in Amerika wegen ihrer Krümmungen berüchtigt ſind. Man zählt deren 85, wodurch die Fahrt bedeutend verlängert wird. Sie bilden oft rechte Winkel und liegen auf einer Strecke von 9 bis 13 km hintereinander. Um den Längenunterſchied zwiſchen dem Landungsplatze und dem Punkte, wo wir in den Rio Negro einliefen, zu beſtimmen, nahm ich mit dem Kompaß den Lauf des Cano Pimichin auf und bemerkte, wie lange wir in derſelben Richtung fuhren. Die Strömung war nur 664 mm in der Sekunde, aber unſere Piroge legte beim Rudern 1,32 m zurück. Meiner Schätzung nach liegt der Landungs— platz am Pimichin 2140 m weſtwärts von ſeiner Mündung — 244 — und 02“ weſtwärts von der Miſſion Javita. Der Caito tft das ganze Jahr ſchiffbar; er hat nur einen einzigen Raudal, über den ziemlich ſchwer heraufzukommen iſt; ſeine Ufer ſind niedrig, aber felſig. Nachdem wir fünftehalb Stunden lang den Krümmungen des ſchmalen Fahrwaſſers gefolgt waren, liefen wir endlich in den Rio Negro ein. Der Morgen war kühl und ſchön. 36 Tage waren wir in einem ſchmalen Kanoe eingeſperrt geweſen, das jo unſtät war, daß es umgeſchlagen hätte, wäre man unvorſichtig auf— geſtanden, ohne den Ruderern am anderen Bord zuzurufen, ſich überzulehnen und das Gleichgewicht herzuſtellen. Wir hatten vom Inſektenſtiche furchtbar gelitten, aber das un: geſunde Klima hatte uns nichts angehabt; wir waren, ohne umzuſchlagen, über eine ganze Menge Waſſerfälle und Fluß— dämme gekommen, welche die Stromfahrt ſehr beſchwerlich und oft gefährlicher machen als lange Seereiſen. Nach allem, was wir bis jetzt durchgemacht, wird es mir hoffentlich ge— ſtattet ſein auszuſprechen, wie herzlich froh wir waren, daß wir die Nebenflüſſe des Amazonenſtromes erreicht, daß wir die Landenge zwiſchen zwei großen Flußſyſtemen hinter uns hatten und nunmehr mit Zuverſicht der Erreichung des Haupt— zweckes unſerer Reiſe entgegenſehen konnten, der aſtronomiſchen Aufnahme jenes Armes des Orinoko, der ſich in den Rio Negro ergießt, und deſſen Exiſtenz ſeit einem halben Jahr— hundert bald bewieſen, bald wieder in Abrede gezogen worden. Ein Gegenſtand, den man lange vor dem inneren Auge gehabt, wächſt uns an Bedeutung, je näher wir ihm kommen. Jene unbewohnten, mit Wald bedeckten, geſchichtsloſen Ufer des Caſſiquiare beſchäftigten damals meine Einbildungskraft, wie die in der Geſchichte der Kulturvölker hochberühmten Ufer des Euphrat und des Oxus. Hier, inmitten des neuen Kontinents, gewöhnt man ſich beinahe daran, den Menſchen als etwas zu betrachten, das nicht notwendig zur Naturordnung gehört. Der Boden iſt dicht bedeckt mit Gewächſen, und ihre freie Entwickelung findet nirgends ein Hindernis. Eine mächtige Schicht Dammerde weiſt darauf hin, daß die organiſchen Kräfte hier ohne Unterbrechung fort und fort gewaltet haben. Kro— kodile und Boa ſind die Herren des Stromes; der Jaguar, der Pecari, der Tapir und die Affen ſtreifen durch den Wald, ohne Furcht und ohne Gefährde; ſie hauſen hier wie auf ihrem angeſtammten Erbe. Dieſer Anblick der lebendigen Natur, in der der Menſch nichts iſt, hat etwas Befremdendes — 245 — und Niederſchlagendes. Selbſt auf dem Ozean und im Sande Afrikas gewöhnt man ſich nur ſchwer daran, wenn einem auch da, wo nichts an unſere Felder, unſere Gehölze und Bäche erinnert, die weite Einöde, durch die man ſich bewegt, nicht ſo ſtark auffällt. Hier, in einem fruchtbaren Lande, geſchmückt mit unvergänglichem Grün, ſieht man ſich umſonſt nach einer Spur von der Wirkſamkeit des Menſchen um; man glaubt ſich in eine andere Welt verſetzt, als die uns geboren. Ein Soldat, der ſein ganzes Leben in den Miſſionen am oberen Orinoko zugebracht hatte, war einmal mit uns am Strome gelagert. Es war ein geſcheiter Menſch, und in der ruhigen, heiteren Nacht richtete er an mich Frage um Frage über die Größe der Sterne, über die Mondbewohner, über tauſend Dinge, von denen ich ſo viel wußte als er. Meine Antworten konnten ſeiner Neugier nicht genügen, und ſo ſagte er in zu— verſichtlichem Tone: „Was die Menſchen anlangt, ſo glaube ich, es gibt da oben nicht mehr, als ihr angetroffen hättet, wenn ihr zu Lande von Javita an den Caſſiquiare gegangen wäret. In den Sternen, meine ich, iſt eben wie hier eine weite Ebene mit hohem Gras und ein Wald (mucho monte), durch den ein Strom fließt.“ Mit dieſen Worten iſt ganz der Eindruck geſchildert, den der eintönige Anblick dieſer Ein— öde hervorbringt. Möchte dieſe Eintönigkeit nicht auch auf das Tagebuch unſerer Flußfahrt übergehen! Möchten Leſer, die an die Beſchreibung der Landſchaften und an die geſchicht— lichen Erinnerungen des alten Kontinents gewöhnt ſind, es nicht ermüdend finden! Dreiundzwanzigſtes Kapitel. Der Rio Negro. — Die braſilianiſche Grenze. Der Rio Negro iſt dem Amazonenſtrome, dem Rio de la Plata und dem Orinoko gegenüber nur ein Fluß zweiten Ranges. Der Beſitz desſelben war aber ſeit Jahrhunderten für die ſpaniſche Regierung von großer politiſcher Wichtigkeit, weil er für einen eiferſüchtigen Nachbar, für Portugal, eine offene Straße iſt, um ſich in die Miſſionen in Guyana ein— zudrängen und die ſüdlichen Grenzen der Capitania general von Caracas zu beunruhigen. 300 Jahre verfloſſen über zu nichts führenden Grenzſtreitigkeiten. Je nach dem Geiſt der Zeiten und dem Kulturgrade der Völker hielt man ſich bald an die Autorität des heiligen Vaters, bald an die Hilfsmittel der Aſtronomie. Da man es meiſt vorteilhafter fand, den Streit zu verſchleppen, als ihm ein Ende zu machen, ſo haben nur die Nautik und die Geographie des neuen Kontinents bei dieſem endloſen Prozeß gewonnen. Es iſt bekannt, daß durch die Bullen der Päpſte Nikolaus V. und Alexander VI., durch den Vertrag von Tordeſillas und die Notwendigkeit, eine feſte Grenzlinie zu ziehen, der Eifer, das Problem der Längen zu löſen, die Ephemeriden zu verbeſſern und die In— ſtrumente zu vervollkommnen, bedeutend geſtachelt worden iſt. Als die Händel in Paraguay und der Beſitz der Kolonie am Sacramento für die beiden Höfe zu Madrid und Liſſabon Sachen von großem Belang wurden, ſchickte man Grenz— kommiſſäre an den Orinoko, an den Amazonenſtrom und an den Rio de la Plata. Unter den Müßiggängern, welche die Archive mit Ver— rechnungen und Protokollen füllten, fand ſich hie und da auch ein unterrichteter Ingenieur, ein Marineoffizier, der mit den Methoden, nach denen man weit von den Küſten Ortsbeſtim— mungen vornehmen kann, Beſcheid wußte. Das Wenige, was — 27 — wir am Schluſſe des vorigen Jahrhunderts von der aftro- nomiſchen Geographie des neuen Kontinents wußten, verdankt man dieſen achtbaren, fleißigen Männern, den franzöſiſchen und ſpaniſchen Akademikern, die in Quito den Meridian ge⸗ meſſen, und Offizieren, welche von Valparaiſo nach Buenos Ayres gegangen waren, um ſich Malaſpinas Expedition anzu⸗ ſchließen. Mit Befriedigung gedenkt man, wie ſehr die Wiſſen— ſchaften faſt zufällig durch jene „Grenzkommiſſionen“ gefördert worden ſind, die für den Staat eine große Laſt waren und von denen, die ſie ins Leben gerufen, noch öfter vergeſſen als aufgelöſt wurden. Weiß man, wie unzuverläſſig die Karten von Amerika ſind, kennt man aus eigener Anſchauung die unbewohnten Landſtriche zwiſchen dem Jupura und Rio Negro, dem Ma— deira und Ucayale, dem Rio Branco und der Küſte von Cayenne, die man ſich in Europa bis auf dieſen Tag allen Ernſtes ſtreitig gemacht, ſo kann man ſich über die Beharr— lichkeit, mit der man ſich um ein paar Quadratmeilen zankte, nicht genug wundern. Zwiſchen dieſem ſtreitigen Gebiet und den angebauten Strichen der Kolonieen liegen meiſt Wüſten, deren Ausdehnung ganz unbekannt iſt. Auf den berühmten Konferenzen in Puente de Caya (vom 4. November 1681 bis 22. Januar 1682) wurde die Frage verhandelt, ob der Papſt, als er die Demarkationslinie 370 ſpaniſche Meilen! weſtwärts von den Inſeln des Grünen Vorgebirges zog, gemeint habe, der erſte Meridian ſolle vom Mittelpunkt der Inſel San Ni— colas aus, oder aber (wie der portugieſiſche Hof behauptete) vom weſtlichen Ende der kleinen Inſel San Antonio gezählt werden. Im Jahre 1754, zur Zeit von Ituriagas und So— lanos Expedition, unterhandelte man über den Beſitz der da— mals völlig unbewohnten Ufer des Tuamini und um ein Stück Sumpfland, über das wir zwiſchen Javita und dem Pimichin an einem Abend gegangen. Noch in neueſter Zeit wollten die ſpaniſchen Kommiſſäre die Scheidungslinie an die Einmündung des Apoporis in den Jupura legen, während die portugieſiſchen Aſtronomen ſie bis zum Salto Grande zu⸗ rückſchoben. Die Miſſionäre und das Publikum überhaupt beteiligten ſich ſehr lebhaft an dieſen Grenzſtreitigkeiten. In den ſpaniſchen wie in den portugieſiſchen Kolonieen beſchuldigt Oder 22 Grad 14 Minuten, auf dem Aequator gezählt. — 248 — man die Regierung der Gleichgültigkeit und Läſſigkeit. Ueberall wo die Völker keine Verfaſſung haben, deren Grundlage die Freiheit iſt, geraten die Gemüter nur dann in Aufregung, wenn es ſich davon handelt, die Grenzen des Landes weiter oder enger zu machen. Der Rio Negro und der Jupura ſind zwei Nebenflüſſe des Amazonenſtromes, die in Länge der Donau wenig nach— geben, und deren oberer Lauf den Spaniern gehört, während der untere in den Händen der Portugieſen iſt. An dieſen zwei majeſtätiſchen Strömen hat ſich die Bevölkerung nur in der Nähe des älteſten Mittelpunktes der Kultur bedeutend vermehrt. Die Ufer des oberen Jupura oder Caqueta wurden von Miſſionären kultiviert, die aus den Kordilleren von Po— payan und Neiva gekommen waren. Von Macoa bis zum Einfluß des Caguan gibt es ſehr viele chriſtliche Nieder— laſſungen, während am unteren Jupura die Portugieſen kaum ein paar Dörfer gegründet haben. Am Rio Negro dagegen konnten es die Spanier ihren Nachbarn nicht gleich thun. Wie kann man ſich auf eine Bevölkerung ſtützen, wenn ſie ſo weit abliegt als die in der Provinz Caracas? Faſt völlig unbewohnte Steppen und Wälder liegen, 720 km breit, zwi— ſchen dem angebauten Küſtenſtrich und den vier Miſſionen Macoa, Tomo, Davipe und San Carlos, den einzigen, welche die ſpaniſchen Franziskaner längs des Rio Negro zuſtande gebracht. Bei den Portugieſen in Braſilien hat das mili— täriſche Regiment, das Syſtem der Presides und Capitanes pobladores dem Miſſionsregiment gegenüber die Oberhand gewonnen. Von Gran: Para iſt es allerdings ſehr weit zur Einmündung des Rio Negro; aber bei der bequemen Schiff— fahrt auf dem Amazonenſtrom, der wie ein ungeheurer Kanal von Weſt nach Oſt gerade fortläuft, konnte ſich die portu— gieſiſche Bevölkerung längs des Stromes raſch ausbreiten. Die Ufer des unteren Amazonenſtromes von Viſtoza bis Serpa, ſowie die des Rio Negro von Forte da Bara bis San Joſe de Marabitanos ſind geſchmückt mit reichem An— bau und mit zahlreichen Städten und anſehnlichen Dörfern bedeckt. An dieſe Betrachtungen über die örtlichen Verhältniſſe reihen ſich andere an, die ſich auf die moraliſche Verfaſſung In gerader Linie 675 km. — 249 — der Völker beziehen. Auf der Nordweſtküſte Amerikas ſind bis auf dieſen Tag keine feſten Niederlaſſungen außer den ruſſiſchen und den ſpaniſchen Kolonieen. Noch ehe die Be— völkerung der Vereinigten Staaten auf ihrem Zuge von Oſt nach Weſt den Küſtenſtrich erreicht hatte, der zwiſchen dem 41. bis 50. Breitengrad lange die kaſtilianiſchen Mönche und die ſibiriſchen Jäger! getrennt, ließen ſich letztere ſüdlich vom Rio Colombia nieder. So waren denn in Neukalifornien die Miſſionäre vom Orden des heil. Franz, deren Lebenswandel und deren Eifer für den Ackerbau alle Achtung verdienen, nicht wenig erſtaunt, als ſie hörten, in ihrer Nachbarſchaft ſeien griechiſche Prieſter eingetroffen, ſo daß die beiden Völker, welche das Oſt- und das Weſtende von Europa bewohnen, auf den Küſten Amerikas, China gegenüber, Nachbarn ge— worden waren. Anders wiederum geſtalteten ſich die Ver— hältniſſe in Guyana. Hier fanden die Spanier an ihren Grenzen dieſelben Portugieſen wieder, die mit ihnen durch Sprache und Gemeindeverfaſſung einen der edelſten Reſte des römiſchen Europa bilden, die aber durch das Mißtrauen, wie es aus Ungleichheit der Kräfte und allzu naher Berührung gefloſſen, zu einer nicht ſelten feindſeligen, immer aber eifer— ſüchtigen Macht geworden waren. Geht man von der Küſte von Venezuela (wo, wie in der Havana und auf den Antillen überhaupt, die europäiſche Handelspolitik der tägliche Gegen— ſtand des Intereſſes iſt) nach Süd, ſo fühlt man ſich mit jedem Tage mehr und mit wachſender Geſchwindigkeit allem entrückt, was mit dem Mutterlande zuſammenhängt. Mitten in den Steppen oder Llanos, in den mit Ochſenhäuten ge— deckten Hütten inmitten wilder Herden unterhält man ſich von nichts als von der Pflege des Viehes, von der Trocken— heit des Landes, die den Weiden Eintrag thut, vom Schaden, den die Fledermäuſe an Färſen und Füllen angerichtet. Kommt man auf dem Orinoko in die Miſſionen in den Wäldern, ſo findet man die Einwohnerſchaft wieder mit anderen Dingen beſchäftigt, mit der Unzuverläſſigkeit der Indianer, die aus Dieſe Jäger gehören zu Militärpoſten und hängen von der ruſſiſchen Geſellſchaft ab, deren Hauptaktionäre in Irkutsk ſind. Im Jahre 1804 war die kleine Feſtung (Krepoſt) in der Bucht von Jakutal noch 2700 km von den nördlichſten mexikaniſchen Beſitzungen entfernt. — 250 — den Dörfern fortlaufen, mit der mehr oder minder reichen Ernte der Schildkröteneier, mit den Beſchwerden eines heißen, ungeſunden Klimas. Kommen die Mönche über der Plage der Moskiten noch zu einem anderen Gedanken, ſo beklagt man ſich leiſe über den Präſidenten der Miſſionen, ſo ſeufzt man über die Verblendung der Leute, die im nächſten Kapitel den Guardian des Kloſters in Nueva Barcelona wieder wäh— len wollen. Alles hat hier ein rein örtliches Intereſſe, und zwar beſchränkt ſich dasſelbe auf die Angelegenheiten des Ordens, „auf dieſe Wälder, wie die Mönche ſagen, estas selvas, die Gott uns zum Wohnſitz angewieſen“. Dieſer etwas enge, aber ziemlich trübſelige Ideenkreis erweitert ſich, wenn man vom oberen Orinoko an den Rio Negro kommt und ſich der Grenze Braſiliens nähert. Hier ſcheinen alle Köpfe vom Dämon ewropaiſcher Politik beſeſſen. Das Nach⸗ barland jenſeits des a heißt in der Sprache der ſpaniſchen Miſſionen weder Braſilien noch Capitania general von Gran-Para, ſondern Portugal; die fupfer: farbigen Indianer, die halbſchwarzen Mulatten, die ich von Barcelos zur ſpaniſchen Schanze San Carlos heraufkommen ſah, ſind Portugieſen. Dieſe Namen ſind im Munde des Volkes bis an die Küſte von Cumana, und mit Behagen er— zählt man den Reiſenden, welche Verwirrung ſie im Kopfe eines alten, aus den Bergen von Bierzo gebürtigen Kom— mandanten von Vieja Guyana angerichtet hatten. Der alte Kriegsmann beſchwerte ſich, daß er zur See habe an den Orinoko kommen müſſen. „Iſt es wahr,“ ſprach er, „wie ich hier höre, daß ſpaniſch Guyana, dieſe große Provinz, ſich bis nach Portugal erſtreckt (zu los Portugueses), ſo möchte ich wiſſen, warum der Hof mich in Cadiz ſich hat einſchiffen laſſen? Ich hätte gerne ein paar Meilen weiter zu Lande gemacht.“ Dieſe Aeußerung von naiver Unwiſſenheit erinnert an eine verwunderliche Meinung des Kardinals Lorenzana. Dieſer Prälat, der übrigens in der Geſchichte ganz zu Hauſe iſt, ſagt in einem in neuerer Zeit in Mexiko gedruckten Buche, die Beſitzungen des Königs von Spanien in Neukalifornien und Neumexiko (ihr nördliches Ende liegt unter 37“ 48° der Breite) „hängen über Land mit Sibirien zuſammen“. Wenn zwei Völker, die in Europa nebeneinander wohnen, Spanier und Portugieſen, auch auf dem neuen Kontinent Nachbarn geworden ſind, ſo verdanken ſie dieſes Verhältnis, um nicht zu ſagen dieſen Uebelſtand, dem Unternehmungs— — 251 — geiſt, dem kecken Thatendrang, den beide zur Zeit ihres kriege— riſchen Ruhmes und ihrer politiſchen Größe entwickelt. Die kaſtilianiſche Sprache wird gegenwärtig in Süd- und Nord— amerika auf einer 8850 km langen Strecke geſprochen; be— trachtet man aber Südamerika für ſich, ſo zeigt ſich, daß das Portugieſiſche über einen größeren Flächenraum verbreitet iſt, aber von nicht ſo vielen Menſchen geſprochen wird als das Kaſtilianiſche. Das innige Band, das die ſchönen Sprachen eines Camoens und Lope de Vega verknüpft, hat, ſollte man meinen, Völker, die widerwillig Nachbarn geworden, nur noch weiter auseinander gebracht. Der Nationalhaß richtet ſich keineswegs nur nach der Verſchiedenheit in Abſtammung, Sitten und Kulturſtufe; überall, wo er ſehr ſtark ausge— ſprochen iſt, erſcheint er als die Folge geographiſcher Ver— hältniſſe und der damit gegebenen widerſtreitenden Intereſſen. Man verabſcheut ſich etwas weniger, wenn man weit aus— einander iſt und bei weſentlich verſchiedenen Sprachen gar nicht in Verſuchung kommt, miteinander zu verkehren. Dieſe Abſtufungen in der gegenſeitigen Stimmung nebeneinander lebender Völker fallen jedem auf, der Neukalifornien, die inneren Provinzen von Mexiko und die Nordgrenzen Bra— ſiliens bereiſt. Als ich mich am ſpaniſchen Rio Negro befand, war, in— folge der auseinandergehenden Politik der beiden Höfe von Liſſabon und Madrid, das ſyſtematiſche Mißtrauen, dem die Kommandanten der benachbarten kleinen Forts auch in den ruhigſten Zeiten gerne Nahrung geben, noch ſtärker als ge— wöhnlich. Die Kanoen kamen von Barcellos bis zu den ſpa— niſchen Miſſionen herauf, aber der Verkehr war gering. Der Befehlshaber einer Truppenabteilung von 16 bis 18 Mann plagte „die Garniſon“ mit Sicherheitsmaßregeln, welche „der Ernſt der Lage“ erforderlich machte, und im Falle eines An— griffes hoffte er „den Feind zu umzingeln“. Sprachen wir davon, daß die portugieſiſche Regierung in Europa die vier kleinen Dörfer, welche die Franziskaner am oberen Rio Negro angelegt, ohne Zweifel ſehr wenig beachte, ſo fühlten ſich die Leute durch die Gründe, mit denen wir ſie beruhigen wollten, nur verletzt. Völkern, die durch alle Wechſel im Laufe von Jahrhunderten ihren Nationalhaß ungeſchwächt erhalten haben, iſt jede Gelegenheit erwünſcht, die demſelben neue Nahrung gibt. Dem Menſchen iſt bei allem wohl, was ſein Gemüt aufregt, was ihm eine lebhafte Empfindung zum Bewußtſein a bringt, ſei es nun ein Gefühl der Zuneigung, oder jener eiferſüchtige Neid, wie er aus althergebrachten Vorurteilen entſpringt. Die ganze Perſönlichkeit der Völker iſt aus dem Mutterlande in die entlegenſten Kolonieen übergegangen, und der gegenſeitige Widerwille der Nationen hat nicht einmal da ein Ende, wo der Einfluß der gleichen Sprache wegfällt. Wir wiſſen aus Kruſenſterns anziehendem Reiſebericht, daß der Haß zweier flüchtigen Matroſen, eines Franzoſen und eines Engländers, zu einem langen Krieg zwiſchen den Bewohnern der Marqueſasinſeln Anlaß gab. Am Amazonenſtrom und Rio Negro können die Indianer in den benachbarten portu— gieſiſchen und ſpaniſchen Dörfern einander nicht ausſtehen. Dieſe armen Menſchen ſprechen nur amerikaniſche Sprachen, ſie wiſſen gar nicht, was „am anderen Ufer des Ozeans, drüben über der großen Salzlache“ vorgeht; aber die Kutten ihrer Miſſionäre ſind von verſchiedener Farbe, und dies miß— fällt ihnen im höchſten Grade. Ich habe bei der Schilderung der Folgen des National- haſſes verweilt, den kluge Beamte zu mildern ſuchten, ohne ihn ganz beſchwichtigen zu können. Dieſe Eiferſucht iſt nicht ohne Einfluß auf den Umſtand geweſen, daß unſere geogra— phiſche Kunde von den Nebenflüſſen des Amazonenſtroms bis jetzt ſo mangelhaft iſt. Wenn der Verkehr unter den Ein— geborenen gehemmt iſt, und die eine Nation an der Mündung, die andere im oberen Flußgebiet ſitzt, ſo fällt es den Karten— zeichnern ſehr ſchwer, genaue Erkundigungen einzuziehen. Die periodiſchen Ueberſchwemmungen, beſonders aber die Trage— plätze, über die man die Kanoen von einem Nebenfluß zum anderen ſchafft, deſſen Quellen in der Nähe liegen, verleiten zur Annahme von Gabelungen und Verzweigungen der Flüſſe, die in Wahrheit nicht beſtehen. Die Indianer in den portu— gieſiſchen Miſſionen zum Beiſpiel ſchleichen ſich (wie ich an Ort und Stelle erfahren) einerſeits auf dem Rio Guaicia und Rio Temo in den ſpaniſchen Rio Negro, andererſeits über die Trageplätze zwiſchen dem Cababuri, dem Paſimoni, dem Idapa und dem Mavaca in den oberen Orinoko, um hinter Esmeralda den aromatiſchen Samen des Puchery— lorbeers zu ſammeln. Die Eingeborenen, ich wiederhole es, ſind vortreffliche Geographen; ſie umgehen den Feind trotz der Grenzen, wie ſie auf den Karten gezogen ſind, trotz der Schanzen und Eſtacamientos, und wenn die Miſſionäre ſie von ſo weit her, und zwar in ſo verſchiedenen Jahreszeiten — 253 — kommen ſehen, ſo machen ſie ſich daran, Hypotheſen über ver— meintliche Flußverbindungen zu ſchmieden. Jeder Teil hat ein Intereſſe dabei, nicht zu ſagen, was er ganz gut weiß, und der Hang zu allem Geheimnisvollen, der bei rohen Men— ſchen ſo gemein und ſo lebendig iſt, thut das Seinige dazu, um die Sache im Dunkeln zu laſſen. Noch mehr, die ver— ſchiedenen Indianerſtämme, welche dieſes Waſſerlabyrinth be— fahren, geben den Flüſſen ganz verſchiedene Namen, und dieſe Namen werden durch Endungen, welche „Waſſer, großes Waſſer, Strömung“ bedeuten, unkenntlich gemacht und ver— längert. Wie oft bin ich beim notwendigen Geſchäft, die Synonymie der Flüſſe ins reine zu bringen, in größter Ver— legenheit geweſen, wenn ich die geſcheiteſten Indianer vor mir hatte und ſie mittels eines Dolmetſchers über die Zahl der Nebenflüſſe, die Quellen und die Trageplätze befragte! Da in derſelben Miſſion drei, vier Sprachen geſprochen werden, ſo hält es ſehr ſchwer, die Ausſagen in Uebereinſtimmung zu bringen. Unſere Karten wimmeln von willkürlich abgekürzten oder entſtellten Namen. Um herauszubringen, was darauf richtig iſt, muß man ſich von der geographiſchen Lage der Nebenflüſſe, faſt möchte ich jagen von einem gewiſſen etymo— logiſchen Takt leiten laſſen. Der Rio Uaupe oder Uapes der portugieſiſchen Karten iſt der Guapue der ſpaniſchen und der Ucayari der Eingeborenen. Der Anava der älteren Geo— graphen iſt Arrowſmiths Anauahu, und der Unanauhau oder Guanauhu der Indianer. Man ließ nicht gerne einen leeren Raum auf den Karten, damit ſie recht genau ausſehen möchten, und ſo erſchuf man Flüſſe und legte ihnen Namen bei, ohne zu wiſſen, daß dieſelben nur Synonyme waren. Erſt in der neueſten Zeit haben die Reiſenden in Amerika, in Perſien und Indien eingeſehen, wie viel darauf ankommt, daß man in der Namengebung korrekt iſt. Lieſt man die Reiſe des berühmten Ralegh, ſo iſt es eben nicht leicht, im See Mrecabo den See Maracaybo und im Marquis Paraco den Namen Pizarros, des Zerſtörers des Reichs der Inka, zu erkennen. Die großen Nebenflüſſe des Amazonenſtromes heißen, ſelbſt bei den Miſſionären von europäiſcher Abſtammung, in ihrem oberen Laufe anders als im unteren. Der Ica heißt weiter oben Putumayo; der Jupura führt ſeinen Quellen zu den Namen Caqueta. Wenn man in den Miſſionen der An— daquies ſich nach dem wahren Urſprung des Rio Negro um— ſah, ſo konnte dies um ſo weniger zu etwas führen, da man — 254 — den indianiſchen Namen des Fluſſes nicht kannte. In Javita, Maroa und San Carlos hörte ich ihn Guainia nennen. Southey, der gelehrte Geſchichtſchreiber Braſiliens, den ich überall ſehr genau fand, wo ich ſeine geographiſchen Angaben mit dem, was ich ſelbſt auf meinen Reiſen geſammelt, ver— gleichen konnte, ſagt ausdrücklich, der Rio Negro heiße auf ſeinem unteren Laufe bei den Eingeborenen Guiari oder Cu⸗ rana, auf ſeinem oberen Laufe Ueneya. Das iſt ſoviel wie Gueneya ſtatt Guainia; denn die Indianer in dieſen Land— ſtrichen ſprechen ohne Unterſchied Guanaracua und Uanaracua, Guarapo und Uarapo. Aus dem letzteren haben Hondius! und alle alten Geographen durch ein komiſches Mißver— ſtändnis ihren Europa fluvius gemacht. Es iſt hier der Ort, von den Quellen des Rio Negro zu ſprechen, über welche die Geographen ſchon ſo lange im Streit liegen. Dieſe Frage erſcheint nicht allein darum wichtig, weil es ſich vom Urſprung eines mächtigen Stromes handelt, was ja immer von Intereſſe iſt; ſie hängt mit einer Menge anderer Fragen zuſammen, mit den angeblichen Gabelungen des Caqueta, mit den Verbindungen zwiſchen dem Rio Negro und dem Orinoko, und mit dem örtlichen Mythus vom Dorado, früher Enim oder das Reich des Großen Paytiti geheißen. Studiert man die alten Karten dieſer Länder und die Geſchichte der geographiſchen Irrtümer genau, ſo ſieht man, wie der Mythus vom Dorado mit den Quellen des Orinoko allmählich nach Weſten rückt. Er entſtand auf dem Oſtabhang der Anden und ſetzte ſich zuerſt, wie ich ſpäter nachweiſen werde, im Südweſten vom Rio Negro feſt. Der tapfere Philipp de Urre ging, um die große Stadt Manoa zu entdecken, über den Guaviare. Noch jetzt erzählen die In⸗ dianer in San Joſe de Maravitanos, „fahre man 14 Tage lang auf dem Guape oder Uaupe nach Nordoſt, ſo komme man zu einer berühmten Laguna de Oro, die von Bergen umgeben und ſo groß ſei, daß man das Ufer gegenüber nicht ſehen könne. Ein wildes Volk, die Guanes, leide nicht, daß man im Sandboden um den See Gold ſammle.“ Pater Acuna ſetzt den See Manoa oder Menefiti zwiſchen den a: pura und den Rio Negro. Manaosindianer (dies iſt das Wort Manoa mit Verſchiebung der Vokale, was bei fo vielen Auf feiner Karte zu Raleghs Reiſe. — 255 — amerikaniſchen Völkern vorkommt) brachten dem Pater Iritz im Jahre 1687 viele Blätter geſchlagenen Goldes. Dieſe Nation, deren Namen noch heute am Urarira zwiſchen Lama— longa und Moreira bekannt iſt, ſaß am Jurubeſh (Yurubech, Yurubets). La Condamine jagt mit Recht, dieſes Meſopo⸗ tamien zwiſchen dem Caqueta, dem Rio Negro, dem Juru— beſh und dem Iquiare ſei der erſte Schauplatz des Dorado. Wo ſoll man aber die Namen Jurubeſh und Iquiare der Patres Acuna und Fritz ſuchen? Ich glaube fie in den Flüſſen Urubaxi und Iguari der handſchriftlichen portugieſi— ſchen Karten wieder zu finden, die ich beſitze und die im hydro— graphiſchen Depot zu Rio Janeiro gezeichnet wurden. Seit vielen Jahren habe ich nach den älteſten Karten und einem anſehnlichen, von mir geſammelten, nicht veröffentlichten Ma- terial mit anhaltendem Eifer Unterſuchungen über die Geo— graphie Südamerikas nördlich vom Amazonenſtrom angeſtellt. Da ich meinem Werke den Charakter eines wiſſenſchaftlichen Werkes bewahren möchte, darf ich mich nicht ſcheuen, von Gegenſtänden zu handeln, über die ich hoffen kann einiges Licht zu verbreiten, nämlich von den Quellen des Rio Negro und des Orinoko, von der Verbindung dieſer Flüſſe mit pen Amazonenſtrom, und vom Problem vom Goldlande, das den Bewohnern der Neuen Welt ſo viel Blut und ſo viel Thränen gekoſtet hat. Ich werde diese d Fragen nacheinander behandeln, wie ich in meinem Reiſetagebuche an die Orte komme, wo ſie von den Einwohnern ſelbſt am lebhafteſten beſprochen werden. Da ich aber ſehr ins Einzelne gehen müßte, wenn ich alle Beweiſe für meine Aufſtellungen beibringen wollte, ſo be— ſchränke ich mich hier darauf, die hauptſächlichſten Ergebniſſe mitzuteilen, und verſchiebe die weitere Ausführung auf die „Analyse des Cartes“ und den „Essai sur la géographie astronomique du Nouveau - Continent“, welche den geogra— phiſchen Atlas eröffnen ſollen. Dieſe meine Unterſuchungen führen zum allgemeinen Schluß, daß die Natur bei der Verteilung fließender Gewäſſer auf der Erdoberfläche, wie beim Bau der organiſchen Körper, lange nicht nach einem ſo verwickelten Plane verfahren iſt, als man unter dem Einfluß unbeſtimmter Anſchauungen und des Hangs zum Wunderbaren geglaubt hat. Es geht auch daraus hervor, daß alle jene Anomalieen, alle jene Ausnahmen von den Geſetzen der Hydrographie, die im Inneren Amerikas vorkommen, nur ſcheinbar ſind; daß in der Alten Welt beim — 256 — Laufe fließender Gewäſſer gleich außerordentliche Erſcheinungen vorkommen, daß aber dieſe Erſcheinungen vermöge ihres un— bedeutenden Umfanges den Reiſenden weniger aufgefallen ſind. Wenn ungeheure Ströme betrachtet werden können als aus mehreren, untereinander parallelen, aber ungleich tiefen Rinnen beſtehend, wenn dieſe Ströme nicht in Thäler eingeſchloſſen ſind, und wenn das Innere eines großen Feſtlandes ſo eben iſt als bei uns das Meeresufer, ſo müſſen die Verzweigungen, die Gabelungen, die netzförmigen Verſchlingungen ſich ins Un— endliche häufen. Nach allem, was wir vom Gleichgewicht der Meere wiſſen, kann ich nicht glauben, daß die Neue Welt ſpäter als die Alte dem Schoße des Waſſers entſtiegen, daß das organiſche Leben in ihr jünger, friſcher ſein ſollte; wenn man aber auch keine Gegenſätze zwiſchen den zwei Halbkugeln desſelben Planeten gelten läßt, ſo begreift ſich doch, daß auf derjenigen, welche die größte Waſſerfülle hat, die verſchiedenen Flußſyſteme längere Zeit gebraucht haben, ſich voneinander zu ſcheiden, ſich gegenſeitig völlig unabhängig zu machen. Die Anſchwemmungen, die ſich überall bilden, wo fließendes Waſſer an Geſchwindigkeit abnimmt, tragen allerdings dazu bei, die großen Strombetten zu erhöhen und die Ueberſchwemmungen ſtärker zu machen; aber auf die Länge werden die Flußarme und ſchmalen Kanäle, welche benachbarte Flüſſe miteinander verbinden, durch dieſe Anſchwemmungen ganz verſtopft. Was das Regenwaſſer zuſammenſpült, bildet, indem es ſich auf— häuft, Schwellen, isthmes d’atterissement, Waſſerſcheiden, die zuvor nicht vorhanden waren. Die Folge davon iſt, daß die natürlichen, urſprünglichen Verbindungskanäle nach und nach in zwei Waſſerläufe zerfallen, und durch die Aufhöhung des Bodens in der Quere zwei Gefälle nach entgegengeſetzten Richtungen erhalten. Ein Teil ihres Waſſers fällt in den Hauptwaſſerbehälter zurück, und zwiſchen zwei parallelen Becken erhebt ſich eine Böſchung, ſo daß die ehemalige Verbindung ſpurlos verſchwindet. Sofort beſtehen zwiſchen verſchiedenen Flußſyſtemen keine Gabelungen mehr, und wo ſie zur Zeit der großen Ueberſchwemmungen noch immer vorhanden ſind, tritt das Waſſer vom Hauptbehälter nur weg, um nach größeren oder kleineren Umwegen wieder dahin zurückzukehren. Die Gebiete, deren Grenzen anfangs ſchwankend durcheinander liefen, ſchließen ſich nach und nach ab, und im Laufe der Jahrhunderte wirkt alles, was an der Erdoberfläche beweglich iſt, Waſſer, Schwemmung und Sand zuſammen, um die Flußbetten zu trennen, wie die großen Seen in mehrere zer fallen und die Binnenmeere ihre alten Verbindungen ver— lieren. Da die Geographen ſchon im 16. Jahrhundert die Ueber— zeugung gewonnen hatten, daß in Südamerika zwiſchen ver— ſchiedenen Flußſyſtemen Gabelteilungen beſtehen, die ſie gegen— ſeitig voneinander abhängig machen, ſo nahmen ſie an, daß die fünf großen Nebenflüſſe des Orinoko und des Amazonen— ſtromes, Guaviare, Inirida, Rio Negro, Caqueta oder Hya— pura, und Putumayo oder Ica untereinander zuſammenhängen. Dieſe Hypotheſen, welche auf unſeren Karten in verſchiedenen Geſtalten dargeſtellt ſind, entſtanden zum Teil in den Miſ— ſionen in den Ebenen, zum Teil auf dem Rücken der Kor— dilleren der Anden. Reiſt man von Santa Fe de Bogota über Fuſagaſuga nach Popayan und Paſto, ſo hört man die Gebirgsbewohner behaupten, am Oſtabhange der Paramos de la Suma Paz (des ewigen Friedens), des Iscancè und Aponte entſpringen alle Flüſſe, die zwiſchen dem Meta und dem Putumayo durch die Wälder von Guyana ziehen. Da man die Nebenflüſſe für den Hauptſtrom hält und man alle Flüſſe rückwärts bis zur Bergkette reichen läßt, ſo wirft man dort die Quellen des Orinoko, des Rio Negro und des Gua— viare zuſammen. Am ſteilen Oſtabhange der Anden iſt ſehr ſchwer herunterzukommen, eine engherzige Politik hat dem Handel mit den Llanos am Meta, am San Juan und Caguan Feſſeln angelegt, man hat wenig Intereſſe, die Flüſſe zu ver- folgen, um ihre Verzweigungen kennen zu lernen; durch all dieſe Umſtände iſt die geographiſche Verwirrung noch größer geworden. Als ich in Santa Fe de Bogota war, kannte man kaum den Weg, der über die Dörfer Usme, Ubaque und Ca— queza nach Apiay und zum Landungsplatze am Rio Meta führt. Erſt in neueſter Zeit konnte ich die Karte dieſes Fluſſes nach den Reiſetagebüchern des Kanonikus Cortez Madariaga »Die geologiſche Bodenbeſchaffenheit ſcheint, trotz der gegen— wärtigen Verſchiedenheit in der Höhe des Waſſerſpiegels, darauf hinzudeuten, daß in vorgeſchichtlicher Zeit das Schwarze Meer, das Kaſpiſche Meer und der Aralſee miteinander in Verbindung ge— ſtanden haben. Der Ausfluß des Arals in das Kaſpiſche Meer ſcheint zum Teil ſogar jünger und unabhängig von der Gabel— teilung des Gihon (Oxus), über die einer der gelehrteſten Geo— graphen unſerer Zeit, Ritter, neues Licht verbreitet hat. A. v. Humboldt, Reiſe. III. 17 und nach den Ermittelungen während des Unabhängigkeits— krieges in Venezuela berichtigen. Ueber die Lage der Quellen am Fuße der Kordilleren zwiſchen 4° 20“ und 1° 10“ nördlicher Breite wiſſen wir zuverläſſig, was folgt. Hinter dem Paramo de la Suma Paz, den ich von Pandi an aufnehmen konnte, entſpringt der Rio de Aguas Blancas, der mit dem Pachaquiaro oder Rio Negro von Apiay den Meta bildet; weiter nach Süden kommt der Rio Ariari, ein Nebenfluß des Guaviare, deſſen Mündung ich bei San Fernando de Atabapo geſehen. Geht man auf dem Rücken der Kordillere weiter gegen Ceja und den Paramo von Aponte zu, ſo kommt man an den Rio Guayavero, der am Dorfe Aramo vorbeiläuft und ſich mit dem Ariari verbindet; unterhalb ihrer Vereinigung bekommen die Flüſſe den Namen Guaviare. Südweſtlich vom Paramo de Aponte entſpringen am Fuße der Berge bei Santa Roſa der Rio Caqueta, und auf der Kordillere ſelbſt der Rio de Mocoa, der in der Geſchichte der Eroberung eine große Rolle ſpielt. Dieſe beiden Flüſſe, die ſich etwas oberhalb der Miſſion San Auguſtin de Nieto vereinigen, bilden den Japura oder Caqueta. Der Cerro del Portachuelo, ein Berg, der ſich auf der Hochebene der Kordilleren ſelbſt erhebt, liegt zwiſchen den Quellen des Mocoa und dem See Sebondoy, aus dem der Rio Putumayo oder Jsa entſpringt. Der Meta, der Guaviare, der Caqueta und der Putumayo ſind alſo die ein— zigen großen Flüſſe, die unmittelbar am Oſtabhange der Anden von Santa Fe, Popayan und Paſto entſpringen. Der Vichada, der Zama, der Inirida, der Rio Negro, der Uaupe und der Apoporis, die unſere Karten gleichfalls weſtwärts bis zum Gebirge fortführen, entſpringen weit weg von demſelben ent— weder in den Savannen zwiſchen Meta und Guaviare oder im bergigen Lande, das, nach den Ausſagen der Eingeborenen, fünf, ſechs Tagereiſen weſtwärts von den Miſſionen am Javita und Maroa anfängt und ſich als Sierra Tunuhy jenſeits des ie dem Iſſana zu erſtreckt. Es erſcheint ziemlich auffallend, daß dieſer Kamm der Kordillere, dem ſo viele majeſtätiſche Flüſſe entſpringen (Meta, Guaviare, Caqueta, Putumayo), ſo wenig mit Schnee bedeckt iſt als die abeſſiniſchen Gebirge, aus denen der blaue Nil kommt; dagegen trifft man, wenn man die Gewäſſer, die über die Ebenen ziehen, hinaufgeht, bevor man an die Kor— dillere der Anden kommt, einen noch thätigen Vulkan. Der— jelbe wurde erſt in neueſter Zeit von den Franziskanern entdeckt, die von Ceja über den Rio Fragua an den Caqueta herunterkommen. Nordöſtlich von der Miſſion Santa Roſa, weſtlich vom Puerto del Pescado, liegt ein einzeln ſtehender Hügel, der Tag und Nacht Rauch ausſtößt. Es rührt dies von einem Seitenausbruche der Vulkane von Popayan und Paſto her, wie der Guacamayo und der Sangay, die gleich— falls am Fuße des Oſtabhanges der Anden liegen, von Seiten— ausbrüchen des Vulkanſyſtemes von Quito herrühren. Iſt man mit den Ufern des Orinoko und des Rio Negro bekannt, wo überall das Granitgeſtein zu Tage kommt, bedenkt man, daß in Braſilien, in Guyana, auf dem Küſtenlande von Vene— zuela, vielleicht auf dem ganzen Kontinent oſtwärts von den Anden, ſich gar kein Feuerſchlund findet, ſo erſcheinen die drei thätigen Vulkane an den Quellen des Caqueta, des Napo und des Rio Macas oder Morona ſehr intereſſant. Die impoſante Größe des Rio Negro fiel ſchon Orellana auf, der ihn im Jahre 1539 bei ſeinem Einfluß in den Ama— zonenſtrom ſah, undas nigras spargens; aber erſt ein Jahr— hundert ſpäter ſuchten die Geographen ſeine Quellen am Abhange der Kordilleren auf. Acunas Reiſe gab Anlaß zu Hypotheſen, die ſich bis auf unſere Zeit erhalten haben und von La Condamine und d'Anville maßlos gehäuft wurden. Acuna hatte im Jahre 1638 an der Einmündung des Rio Negro gehört, einer ſeiner Zweige ſtehe mit einem anderen großen Strome in Verbindung, an dem die Holländer ſich niedergelaſſen. Southey bemerkt ſcharfſinnig, daß man ſo etwas in ſo ungeheurer Entfernung von der Küſte gewußt, beweiſe, wie ſtark und vielfach damals der Verkehr unter den barbariſchen Völkern dieſer Länder (beſonders unter denen von karibiſchem Stamme) geweſen. Es bleibt unentſchieden, ob die Indianer, die Acuña Rede ſtanden, den Caſſiguiare meinten, den natürlichen Kanal zwiſchen Orinoko und Rio Negro, den ich von San Carlos nach Esmeralda hinaufgefahren bin, oder ob ſie ihm nur unbeſtimmt die Trageplätze zwiſchen den Quellen des Rio Branco! und des Rio Eſſequibo andeuten wollten. Acuna ſelbſt dachte nicht daran, daß der große Strom, deſſen Mündung die Holländer beſaßen, der Orinoko ſei; er nahm Dies iſt der Rio Parime, Rio Blanco, Rio de Aguas Blancas unſerer Karten, der unterhalb Barcellos in den Rio Negro fällt. — 260 — vielmehr eine Verbindung mit dem Rio San Felipe an, der weſtlich vom Kap Nord ins Meer fällt, und auf dem nach ſeiner Anſicht der Tyrann Lopez de Aguirre ſeine lange Fluß— fahrt beſchloſſen hatte. Letztere Annahme ſcheint mir ſehr gewagt, wenn auch der Tyrann in ſeinem närriſchen Briefe an Philipp II. ſelbſt geſteht, „er wiſſe nicht, wie er und die Seinigen aus der großen Waſſermaſſe herausgekommen“. Bis zu Acunas Reiſe und den ſchwankenden Angaben, die er über Verbindungen mit einem anderen großen Fluſſe nordwärts vom Amazonenſtrome erhielt, ſahen die unterrich— tetſten Miſſionäre den Orinoko für eine Fortſetzung des Ca— queta (Kaqueta, Caketa) an. „Dieſer Strom,“ ſagte Fray Pedro Simon im Jahre 1625, „entſpringt am Weſtabhange des Paramo d' Iscancés. Er nimmt den Papamene auf, der von den Anden von Neiva herkommt, und heißt nacheinander Rio Iscancè, Tama (wegen des angrenzenden Gebietes der Tamasindianer), Guayare, Baraguan und Orinoko.“ Nach der Lage des Paramo d'Iscancè, eines hohen Kegelberges, den ich auf der Hochebene von Mamendoy und an den ſchönen Ufern des Mayo geſehen, muß in dieſer Beſchreibung der Caqueta gemeint ſein. Der Rio Papamene iſt der Rio de la Fragua, der mit dem Rio Mocoa ein Hauptzweig des Caqueta iſt; wir kennen denſelben von den ritterlichen Zügen Georgs von Speier und Philipps von Hutten her.! Die beiden Kriegs— männer kamen an den Papamene erſt, nachdem ſie über den Ariari und den Guayavero gegangen. Die Tamasindianer ſind noch jetzt am nördlichen Ufer des Caqueta eine der ſtärkſten Nationen; es iſt alſo nicht zu verwundern, daß, wie Fray Pedro Simon ſagt, dieſer Fluß Rio Tama genannt wurde. Da die Quellen der Nebenflüſſe des Caqueta und die Neben— flüſſe des Guaviare nahe beiſammen liegen, und da dieſer einer der großen Flüſſe iſt, die in den Orinoko fallen, ſo bildete ſich mit dem Anfange des 17. Jahrhunderts die irrige Anſicht, Caqueta (Rio de Jscance und Papamene), Guaviare (Guayare) und Orinoko ſeien ein und derſelbe Fluß. Niemand war den Caqueta dem Amazonenſtrome zu hinabgefahren, ſonſt hätte man geſehen, daß der Fluß, der weiter unten Jupupa Den berühmten Namen Hutten erkennt man in den ſpani⸗ ſchen Geſchichtſchreibern kaum wieder. Sie nennen Philipp von Hutten, mit Wegwerfung des aſpirierten H, Felipe de Uten, de Urre, oder de Utre. — 261 — heißt, eben der Caqueta iſt. Eine Sage, die ſich bis jetzt unter der Bevölkerung dieſes Landſtriches erhalten hat, der zufolge ein Arm des Caqueta oberhalb des Einfluſſes des Caguan und des Payoya zum Irinida und Rio Negro geht, muß auch zu der Meinung beigetragen haben, daß der Orinoko am Abhange der Gebirge von Paſto entſpringe. Wie wir geſehen, ſetzte man in Neugranada voraus, die Waſſer des Caqueta laufen, wie die des Ariari, Meta und Apure, dem großen Orinokobecken zu. Hätte man genauer auf die Richtung dieſer Nebenflüſſe geachtet, ſo wäre man gewahr geworden, daß allerdings das ganze Land im großen nach Oſten abfällt, daß aber die Bodenpolyeder, aus denen die Niederungen beſtehen, ſchiefe Flächen zweiter Ordnung bilden, die nach Nordoſt und Südoſt geneigt ſind. Eine faſt unmerkliche V aſſerſcheide läuft unter dem 2. Breitengrade von den Anden von Timana zu der \ Landenge zwiſchen Javita und dem Cano Pimichin, über die unſere Piroge geſchaff worden. Nördlich vom Parallel von Timana laufen die Ge— wäſſer! nach Nordoſt und Dit: es ſind die Nebenflüſſe des Orinoko oder die Nebenflüſſe ſeiner Nebenflüſſe. Aber ſüdlich vom Parallel von Timana, auf den Ebenen, welche denen von San Juan vollkommen zu gleichen ſcheinen, laufen der Caqueta oder Jupura, der Putumayo oder ca, der Napo, der Paſtaca und der Morona nach Südoſt und Süd-Südoſt und ergießen ſich ins Becken des Amazonenſtromes. Dabei iſt ſehr merkwürdig, daß dieſe Waſſerſcheide ſelbſt nur als eine Fortſetzung derjenigen erſcheint, die ich in den Kordilleren auf dem Wege von Popayan nach Paſto gefunden. Zieht man den Landhöhen nach eine Linie über Ceja (etwas ſüdlich von Timana) und den Paramo de las Papas zum Alto del Roble, zwiſchen 1° 45° und 2° 20° der Breite, in 1890 m Meeres: höhe, ſo findet man die divortia aquarum zwiſchen dem Meere der Antillen und dem Stillen Ozean. Vor Acunas Reiſe herrſchte bei den Miſſionären die An— ſicht, Caqueta, Guaviare und Orinoko ſeien nur verſchiedene Benennungen desſelben Fluſſes; aber der Geograph Sanſon ließ auf den Karten, die er nach Acunas Beobachtungen ent— warf, den Caqueta ſich in zwei Arme teilen, deren einer der Orinoko, der andere der Rio Negro oder Curiguacuru ſein Inirida, Guaviare, Vichada, Zama, Meta, Caſamare, Apure. — 262 — ſollte. Dieſe Gabelteilung unter rechtem Winkel erſcheint auf allen Karten von Sanſon, Coronelli, du Val und de l'Isle von 1656 bis 1730. Man glaubte auf dieſe Weiſe die Ver⸗ bindungen zwiſchen den großen Strömen zu erklären, von denen Acuna die erſte Kunde von der Mündung des Rio Negro mitgebracht, und man ahnte nicht, daß der Jupura die Fortſetzung des Caqueta ſei. Zuweilen ließ man den Namen Caqueta ganz weg und nannte den Fluß, der ſich gabelt, Rio Paria oder Yuyapari, wie der Orinoko ehemals hieß. De l'Isle ließ in ſeiner letzten Zeit den Caqueta ſich nicht mehr gabeln, zum großen Verdruß La Condamines; er machte den Putumayo, den Jupura und Rio Negro zu völlig unab- hängigen Flüſſen, und als wollte er alle Ausſicht auf eine Verbindung zwiſchen Orinoko und Rio Negro abſchneiden, geiynete er zwiſchen beiden Strömen eine hohe Bergkette. Bereits Pater Fritz hatte dasſelbe Syſtem und zur Zeit des Hondius galt es für das wahrſcheinlichſte. La Condamines Reiſe, die über verſchiedene Striche Amerikas ſo viel Licht verbreitet, hat in die ganze Angelegen— heit vom Laufe des Caqueta, Orinoko und Rio Negro nur noch mehr Verwirrung gebracht. Der berühmte Gelehrte ſah allerdings wohl, daß der Caqueta (bei Mocoa) der Fluß iſt, der am Amazonenſtrome Jupura heißt; dennoch nahm er nicht allein Sanſons Hypotheſe an, er brachte die Zahl der Gabel— teilungen des Caqueta ſogar auf drei. Durch die erſte gibt der Caqueta einen Arm (den Jaoya) an den Putumayo ab; eine zweite bildet den Rio Jupura und den Rio Paragua; in einer dritten teilt ſich der Rio Paragua wiederum in zwei Flüſſe, den Orinoko und den Rio Negro. Dieſes rein er— ſonnene Syſtem ſieht man in der erſten Ausgabe von d'An⸗ villes ſchöner Karte von Amerika dargeſtellt. Es ergibt ſich daraus, daß der Rio Negro vom Orinoko unterhalb der großen Katarakte abgeht, und daß man, um an die Mündung des Guaviare zu kommen, den Caqueta über die Gabelung, aus der der Rio Jupura entſpringt, hinauf muß. Als La Con- damine erfuhr, daß der Orinoko keineswegs am Fuße der Anden von Paſto, ſondern auf der Rückſeite der Berge von Cayenne entſpringe, änderte er ſeine Vorſtellungen auf ſehr ſinnreiche Weiſe ab. Der Rio Negro geht jetzt nicht mehr vom Orinoko ab; Guaviare, Atabapo, Caſſiquiare und die Mündung des Inirida (unter dem Namen Iniricha) erſchienen auf d'Anvilles zweiter Karte ungefähr in ihrer wahren Geſtalt, — 263 — aber aus der dritten Gabelung des Caqueta entſtehen der Inirida und der Rio Negro. Dieſes Syſtem wurde von Pater Caulin gut geheißen, auf der Karte von La Cruz dar: geſtellt und auf allen Karten bis zum Anfang des 19. Jahr: hunderts kopiert. Dieſe Namen: Caqueta, Orinoko, Inirida, haben allerdings nicht ſo viel Anziehendes, wie die Flüſſe im Inneren Nigritiens; es knüpfen ſich eben keine geſchichtlichen Erinnerungen daran; aber die mannigfaltigen Kombinationen der Geographen der Neuen Welt erinnern an die krauſen Zeichnungen vom Laufe des Nigir, des Weißen Nil, des Gambaro, des Dſcholiba und des Zaire. Von Jahr zu Jahr nimmt das Bereich der Hypotheſen an Umfang ab; die Pro⸗ bleme ſind bündiger gefaßt und das alte Stück Geographie, das man ſpekulative, um nicht zu ſagen divinatoriſche Geo— graphie nennen könnte, zieht ſich in immer engere Grenzen zuſammen. 5 Alſo nicht am Caqueta, ſondern am Guainia oder Rio Negro kann man genaue Auskunft über die Quellen des letzteren Fluſſes erhalten. Die Indianer in den Miſſionen Maroa, Tomo und San Carlos wiſſen nichts von einer oberen Verbindung des Guainia mit dem Jupura. Ich habe ſeine Breite bei der Schanze San Agoſtino gemeſſen; es ergaben ſich 569 m; die mittlere Breite war 380 bis 485 m. La Condamine ſchätzt dieſelbe in der Nähe der Ausmündung in den Amazonenſtrom an der ſchmälſten Stelle auf 2340 m; der Fluß wäre alſo auf einem Laufe von 10 Grad in gerader Linie um 1950 m breiter geworden. Obgleich die Waſſer— maſſe, wie wir ſie zwiſchen Maroa und San Carlos geſehen, ſchon ziemlich bedeutend iſt, verſichern die Indianer dennoch, der Guainia entſpringe fünf Tagereiſen zu Waſſer nordweſt— wärts von der Mündung des Pimichin in einem bergigen Landſtriche, wo auch die Quellen des Inirida liegen. Da man den Caſſiquiare von San Carlos bis zum Punkte der Gabel— teilung am Orinoko in 10 bis 11 Tagen hinauffährt, ſo kann man fünf Tage Bergfahrt gegen eine lange nicht ſo ſtarke Strömung zu etwas über 1° 20° in gerader Richtung anneh— men, womit die Quellen des Guainia, nach meinen Längen⸗ beobachtungen in Javita und San Carlos, unter 71° 35“ weſtlich vom Meridian von Paris zu liegen kämen. Obgleich Dies iſt dreimal die Breite der Seine beim Jardin des plantes. — 264 — die Ausſagen der Eingeborenen vollkommen übereinſtimmten, liegen die Quellen wohl noch weiter nach Weſten, da die Kanoen nur fo weit hinaufkommen, als das Flußbett es ge: ſtattet. Nach der Analogie der europäiſchen Flüſſe läßt ſich das Verhältnis zwiſchen der Breite und Länge des oberen Flußſtückes! nicht beſtimmt beurteilen. In Amerika nimmt häufig die Waſſermaſſe in den Flüſſen auf kurzen Strecken ſehr auffallend zu. Der Guainia iſt in ſeinem oberen Laufe vorzüglich dadurch ausgezeichnet, daß er keine Krümmungen hat; er erſcheint wie ein breiter Kanal, der durch einen dichten Wald gezogen iſt. So oft der Fluß die Richtung verändert, liegt eine gleich lange Waſſerſtrecke vor dem Auge. Die Ufer ſind hoch, aber eben und ſelten felſig. Der Granit, den ungeheure Quarz: gänge durchſetzen, kommt meiſt nur mitten im Bett zu Tage. Fährt man den Guainia nach Nordweſt hinauf, ſo wird die Strömung mit jeder Tagereiſe reißender. Die Flußufer ſind unbewohnt; erſt in der Nähe der Quellen (las cavezeras), im bergigen Lande, hauſen die Maniva- oder Poignave-India⸗ ner. Die Quellen des Inirida (Iniricha) liegen, nach der Ausſage der Indianer, nur 9 bis 13 km von denen des Guainia und es ließe ſich dort ein Trageplatz anlegen. Pater Caulin hörte in Cabruta aus dem Munde eines indianiſchen Häuptlings Namens Tapo, der Inirida ſei ſehr nahe beim Patavida (Paddavida auf der Karte von La Cruz), der ein Nebenfluß des Rio Negro iſt. Die Eingeborenen am oberen Guainia kennen dieſen Namen nicht, ſo wenig als den eines Sees (laguna del Rio Negro), der auf alten portugieſiſchen Karten vorkommt. Dieſer angebliche Rio Patavita iſt wahr— ſcheinlich nichts als der Guainia der Indianer in Maroa; denn ſolange die Geographen an die Gabelteilung des Caqueta glaubten, ließen ſie den Rio Negro aus dieſem Arme und einem Fluſſe entſtehen, den ſie Patavita nannten. Nach dem Berichte der Eingeborenen ſind die Berge bei den Quellen des Inirida und Guainia nicht höher als der Baraguan, der nach meiner Meſſung 240 m hoch iſt. Portugieſiſche handſchriftliche Karten, die in neueſter Zeit im hydrographiſchen Depot zu Rio Janeiro entworfen worden ſind, beſtätigen, was ich an Ort und Stelle in Erfahrung ! Bei Seine und Marne z. B. find es von Paris bis zu den Quellen in gerader Richtung mehr als 2°, — 265 — gebracht. Sie geben keine der vier Verbindungen des Caqueta oder Japura mit dem Guainia (Rio Negro), dem Inirida, dem Uaupes (Guapue) und dem Putumayo an; ſie ſtellen jeden dieſer Nebenflüſſe als einen unabhängigen Strom dar; ſie laſſen den Rio Patavita weg und ſetzen die Quellen des Guainia nur 2° 15° weſtwärts vom Meridian von Javita. Der Rio Uaupes, ein Nebenfluß des Guainia, ſcheint viel weiter aus Weſten herzukommen als der Guainia ſelbſt; und ſeine Richtung iſt ſo, daß kein Arm des Caqueta in den oberen Guainia kommen könnte, ohne ihn zu ſchneiden. Ich bringe zum Schluß dieſer Erörterung einen Beweis bei, der direkt gegen die Annahme ſpricht, nach welcher der Guainia, wie der Guaviare und der Caqueta, am Oſtabhange der Kordilleren der Anden entſpringen ſoll. Während meines Aufenthaltes in Popayan machte mir der Guardian des Franziskanerkloſters, Fray Francisco Pugnet, ein liebenswürdiger, verſtändiger Mann, zuverläſſige Mittei— lungen über die Miſſionen der Adaquies, in denen er lange gelebt hat. Der Pater hatte eine beſchwerliche Reiſe vom Caqueta zum Guaviare unternommen. Seit Philipp von Hutten (Urre) und den erſten Zeiten der Eroberung war kein Europäer durch dieſes unbekannte Land gekommen. Pater Pugnet kam von der Miſſion Caguan am Fluſſe dieſes Namens, der in den Caqueta fällt, über eine unermeßliche, völlig baum: loſe Savanne, in deren öſtlichem Striche die Tamas- und Co— reguajesindianer hauſen. Nach ſechstägigem Marſche nord— wärts kam er in einen kleinen Ort Namens Aramo am Guayavero, etwa 67 km weſtlich vom Punkte, wo der Guaya— vero und der Ariari den großen Guaviareſtrom bilden. Aramo iſt das am weiteſten nach Weſt gelegene Dorf der Miſſionen von San Juan de los Llanos. Pater Pugnet hörte dort von den großen Katarakten des Rio Guaviare (ohne Zweifel denſelben, die der Präſident der Miſſionen am Orinoko auf ſeiner Fahrt von San Fernando de Apure den Guaviare hinauf geſehen); aber er kam zwiſchen Caguan und Aramo über keinen Fluß. Es iſt alſo erwieſen, daß unter dem 75. Grad der Länge, auf 180 km vom Abhange der Kordil— leren, mitten in den Llanos weder Rio Negro (Patavita, Guainia), noch Guapue (Uaẽupe), noch Inirida zu finden ſind und daß dieſe drei Flüſſe oſtwärts von dieſem Meridian ent— ſpringen. Dieſe Angaben ſind von großem Wert; denn im inneren Afrika iſt die Geographie kaum ſo verworren als hier — 266 — zwiſchen dem Atabapo und den Quellen des Meta, Guaviare und Caqueta. „Man glaubt es kaum,“ ſagt Caldas in einer wiſſenſchaftlichen Zeitſchrift, die in Santa Fe de Bogota er⸗ ſcheint, „daß wir noch keine Karte von den Ebenen beſitzen, die am Oſtabhange der Gebirge beginnen, die wir täglich vor Augen haben und auf denen die Kapellen Guadeloupe und Monſerrate ſtehen. Kein Menſch weiß, wie breit die Kor— dilleren ſind, noch wie die Flüſſe laufen, die in den Orinoko und in den Amazonenſtrom fallen, und doch werden einſt in beſſeren Zeiten eben auf dieſen Nebenflüſſen, dem Meta, dem Guaviare, dem Rio Negro; dem Caqueta, die Einwohner von Cundinamarca mit Braſilien und Paraguay verkehren.“ Ich weiß wohl, daß in den Miſſionen der Andaquies ziemlich allgemein der Glaube herrſcht, der Caqueta gebe zwiſchen dem Einfluſſe des Rio Fragua und des Caguan einen Arm an den Putumayo, und weiter unten, unterhalb der Einmündung des Rio Payoya, einen anderen an den Orinoko ab; aber dieſe Meinung ſtützt ſich nur auf eine unbeſtimmte Sage der Indianer, welche häufig Trageplätze und Gabel: teilungen verwechſeln. Wegen der Katarakte an der Mundung des Payoya und der wilden Huaquesindianer, auch „Murcie: lagos“ (Fledermäuſe) genannt, weil ſie den Gefangenen das Blut ausſaugen, können die ſpaniſchen Miſſionäre nicht den Caqueta hinabfahren. Nie hat ein weißer Menſch den Weg von San Miguek de Mocoa zum Einfluſſe des Caqueta in den Amazonenſtrom gemacht. Bei der letzten Grenzkommiſſion fuhren die portugieſiſchen Aſtronomen zuerſt den Caqueta bis zu 0° 36“ ſüdlicher Breite, dann den Rio de los Enganos (den trügeriſchen Fluß) und den Rio Cunare, die in den Caqueta fallen, bis zu 0° 28° nördlicher Breite hinauf. Auf dieſer Fahrt ſahen ſie nordwärts keinen Arm vom Caqueta abgehen. Der Amu und der Nabilla, deren Quellen fie genau unterſucht, ſind Flüßchen, die in den Rio de los Enganos und mit dieſem in den Caqueta fallen. Findet alſo wirklich eine Gabelteilung ſtatt, ſo wäre ſie nur auf der ganz kurzen Strecke zwiſchen dem Einfluſſe des Payoya und dem zweiten Katarakt oberhalb des Einfluſſes des Rio de los Enganos zu ſuchen; aber, ich wiederhole es, wegen dieſes Fluſſes, wegen des Cunare, des Apoporis und des Uaupes könnte dieſer an— gebliche Arm des Caqueta gar nicht zum oberen Guainia ge⸗ langen. Alles ſcheint vielmehr darauf hinzuweiſen, daß zwiſchen den Zuflüſſen des Caqueta und denen des Uaupes und Rio — 267 — Negro eine Waſſerſcheide iſt. Noch mehr: Durch barometriſche Beobachtung haben wir für das Ufer des Pimichin 253 m Meereshöhe gefunden. Vorausgeſetzt, das bergige Land an den Quellen des Guainia liege 97 m über Javita, jo folgt daraus, daß das Bett des Fluſſes in ſeinem oberen Laufe wenigſtens 390 m über dem Meere liegt, alſo nur ſo hoch, als wir mit dem Barometer das Ufer des Amazonenſtroms bei Tomependa in der Provinz Jaen de Bracamoros gefunden. Bedenkt man nun, wie ſtark dieſer ungeheure Strom von Tomependa bis zum Meridian von 75° fällt und wie weit es von den Miſſionen am Rio Caguan bis zur Kordillere iſt, jo bleibt kein Zweifel, daß das Bett des Caqueta unterhalb der Mündungen des Caguan und des Payoya viel tiefer liegt als das Bett des oberen Guainia, an den er einen Teil feines Waſſers abgeben ſoll. Ueberdies iſt das Waſſer des Caqueta durchaus weiß, das des Guainia dagegen ſchwarz oder kaffee⸗ braun; man hat aber tern Beifpiel, Daß ein weißer Fluß auf ſeinem Laufe ſchwarz würde. Der obere Guainia kann aljo in Arm des Caqueta ſein. Ich zweifle ſogar, daß man Grund hat anzunehmen, dem Guainia, als vornehmſten und unabhängigen Waſſerbehälter, komme ſüdwärts durch einen Seitenzweig einiges Waſſer zu. Die kleine Berggruppe an den Quellen des Guainia, die wir haben kennen lernen, iſt um ſo intereſſanter, da ſie einzeln in der Ebene liegt, die ſich ſüdweſtlich vom Orinoko ausdehnt. Nach der Länge, unter der ſie liegt, könnte man vermuten, von ihr gehe ein Kamm ab, der zuerſt die Stromenge (Ango— ſtura) des Guaviare und dann die großen Katarakte des Uaupes und des Jupura bildet. Kommt vielleicht dort, wo die Gebirgsart wahrſcheinlich, wie im Oſten, Granit iſt, Gold in kleinen Teilen im Boden vor? Gibt es vielleicht weiter nach Süden, dem Uaupes zu, am Iquiare (Iguiari, Iguari) und am Nurubeſh (Purubach, Urubaxi) Goldwäſchen? Dort ſuchte Philipp von Hutten zuerſt den Dorado und lieferte mit einer Handvoll Leute den Omagua das im ſechzehnten Jahrhundert vielberufene Gefecht. Entkleidet man die Be— richte der Konquiſtadoren des Fabelhaften, ſo erkennt man an den erhaltenen Ortsnamen immerhin, daß geſchichtliche Wahrheit zu Grunde liegt. Man folgt dem Zuge Huttens über den Guaviare und den Caqueta, man erkennt in den Guaypes unter dem Kaziken von Macatoa die Anwohner des Uaupes, der auch Guape oder Guapue heißt; man er— innert ſich, daß Pater Acuna den Iquiari (Quiguiare) einen Goldfluß nennt, und daß fünfzig Jahre ſpäter Pater Fritz, ein ſehr glaubwürdiger Miſſionär, in ſeiner Miſſion Yurt: maguas von den Manaos (Manoas) beſucht wurde, die mit Goldblechen geputzt waren und aus dem Landſtriche zwiſchen dem Uaupe und dem Caqueta oder Jupura kamen. Die Flüſſe, die am Oſtabhange der Anden entſpringen (3. B. der Napo), führen viel Gold, auch wenn ihre Quellen im Trachyt— geſtein liegen: warum ſollte es oſtwärts von den Kordilleren nicht ſo gut goldhaltiges aufgeſchwemmtes Land geben, wie weſtwärts bei Sonora, Chocos und Barbacoas? Ich bin weit entſernt, den Reichtum dieſes Landſtriches übertreiben zu wollen; aber ich halte mich nicht für berechtigt, das Vorkom— men edler Metalle im Urgebirge von Guyana nur deshalb in Abrede zu ziehen, weil wir auf unſerer Reiſe durch das Land keinen Erzgang gefunden haben. Es iſt auffallend, daß die Eingeborenen am Orinoko in ihren Sprachen ein Wort für Gold haben (karibiſch Carucuru, tamanakiſch Caricuri, maypuriſch Cavitta), während das Wort, das ſie für Silber gebrauchen, Prata, offenbar dem Spaniſchen entlehnt iſt. Die Nachrichten über Goldwäſchen ka und nördlich vom Rio Uaupes, die Acuna, Pater Fritz und La Condamine geſammelt, ſtimmen mit dem überein, was ich über die Goldlager in dieſem Landſtriche in Erfahrung gebracht. So ſtark man ſich auch den Verkehr unter den Völkern am Orinoko vor der Ankunft der Europäer denken mag, ſo haben ſie doch ihr Gold gewiß nicht vom Oſtabhang der Kordilleren geholt. Dieſer Abhang iſt arm an Erzgruben, zumal an ſolchen, die ſchon von alters her in B Deizieb waren; er beſteht in den Provinzen Popayan, Paſto und Quito faſt ganz aus vulkaniſchem Ge— ſtein. Wahrſcheinlich kam das Gold nach Guyana aus dem Lande oſtwärts von den Anden. Noch zu unſerer Zeit wurde in einer Schlucht bei der Miſſion Encaramada ein Gold— geſchiebe gefunden, und man darf ſich nicht wundern, daß man, ſobald ſich Europäer in dieſen Einöden niederlaſſen, weniger von Goldblech, Goldſtaub und Amuletten aus Nephrit ſprechen hört, die man ſich früher von den Kariben und anderen umherziehenden Völkern im Tauſchhandel verſchaffen konnte. Die edlen Metalle waren am Orinoko, Rio Negro und Amazonenſtrom nie ſehr häufig, und ſie verſchwinden faſt ganz, ſobald die Zucht in den Miſſionen dem Verkehr der Eingeborenen über weite Strecken ein Ende macht. ee Am oberen Guainia iſt das Klima nicht ſo heiß, vielleicht auch etwas weniger feucht als am Tuamini. Ich fand das Waſſer des Rio Negro im Mai 23,9 warm, während der Thermometer in der Luft bei Tage auf 22,7“ bei Nacht 21,8“ ſtand. Dieſe Kühle des Waſſers, die faſt ebenſo beim Kongo— fluſſe beobachtet wird, iſt jo nahe beim Aequator (1° 55° bis 2° 15° nördliche Breite) ſehr auffallend. Der Orinoko iſt zwi— ſchen dem 4. und 8. Grad der Breite meiſt 27,5“ bis 29,5“ warm. Die Quellen, die bei Maypures aus dem Granit kommen, haben 27,8“. Dieſe Abnahme der Wärme dem Aequa— tor zu ſtimmt merkwürdig mit den Hypotheſen einiger Phyſiker des Altertums; es iſt indeſſen nur eine örtliche Erſcheinung und nicht ſowohl eine Folge der Meereshöhe des Landſtriches, als vielmehr des beſtändig bedeckten, regneriſchen Himmels, der Feuchtigkeit des Bodens, der dichten Wälder, der ſtarken Ausdünſtung der Gewächſe und des Umſtandes, daß kein ſan— diges Ufer den Wärmeſtoff anzieht und durch Strahlung wie— der von ſich gibt. Der Einfluß eines bezogenen Himmels zeigt ſich recht deutlich am Küſtenſtriche in Peru, wo niemals Regen fällt und die Sonne einen großen Teil des Jahres, zur Zeit der Garua (Nebel), dem bloßen Auge wie die Mondſcheibe erſcheint. Dort zwiſchen dem 10. und 12. Grad ſüdlicher Breite iſt die mittlere Temperatur kaum höher als in Algier und Kairo. Am Rio Negro regnet es faſt das ganze Jahr, Dezember und Januar ausgenommen, und ſelbſt in der trockenen Jahreszeit ſieht man das Blau des Himmels ſelten zwei, drei Tage hintereinander. Bei heiterer Luft erſcheint die Hitze deſto größer, da ſonſt das Jahr über die Einwohner ſich bei Nacht über Froſt beklagen, obgleich die Temperatur immer noch 21° beträgt. Ich ſtellte in San Carlos, wie früher in Javita, Beobachtungen über die Regen— menge an, die in einer gegebenen Zeit fällt. Dieſe Unter— ſuchungen ſind von Belang, wenn es ſich davon handelt, die ungeheure Anſchwellung der Flüſſe in der Nähe des Aequa— tors zu erklären, von denen man lange glaubte, ſie werden von den Kordilleren mit Schneewaſſer geſpeiſt. Ich ſah zu verſchiedenen Zeiten in 2 Stunden 16 mm, in 3 Stunden 40 mm, in 9 Stunden 106,8 mm Regen fallen. Da es un— aufhörlich fort regnet (der Regen iſt fein, aber ſehr dicht), ſo können, glaube ich, in dieſen Wäldern jährlich nicht wohl Geminus, Isagoge in Aratum cap. 13. Strabo lib. II. — 270 — unter 2,43 bis 2,71 m Waſſer fallen. So außerordentlich viel dies auch ſcheinen mag, ſo wird dieſe Schätzung doch durch die ſorgfältigen Beobachtungen des Ingenieuroberſten Conſtanzo in Neuſpanien beſtätigt. In Veracruz fielen allein in den Monaten Juli, Auguſt und September 948 mm im ganzen Jahre 1,677 m Regenwaſſer; aber zwiſchen dem Klima der dürren, kahlen mexikaniſchen Küſten und dem Klima in den Wäldern iſt ein großer Unterſchied. Auf jenen Küſten fällt in den Monaten Dezember und Januar kein Tropfen Regen und im Februar, April und Mai meiſt nur 5 bis 6,1 em; in San Carlos dagegen iſt es neun, zehn Monate hintereinan— der, als ob die Luft ſich in Waſſer auflöſte. In dieſem naſſen Himmelsſtriche würde ohne die Verdunſtung und den Abzug der Waſſer der Boden im Verlauf eines Jahres mit einer 2,6 m hohen Waſſerſchichte bedeckt. Dieſe Aequatorialregen, welche die majeſtätiſchen Ströme Amerikas ſpeiſen, ſind von elektriſchen Entladungen begleitet, und während man am Ende desſelben Kontinents, auf der Weſtküſte von Grönland,! in fünf und ſechs Jahren nicht einmal donnern hört, toben in der Nähe des Aequators die Gewitter faſt Tag für Tag. Die Gleichzeitigkeit der elektriſchen Entladungen und der Regengüſſe unterſtützt übrigens keineswegs die alte Hypotheſe, nach der ſich in der Luft durch Verbindung von Sauerſtoff und Waſſer— ſtoff Waſſer bildet. Man hat bis zu 7016 m Höhe vergeb— lich Waſſerſtoff geſucht. Die Menge des in der geſättigten Luft enthaltenen Waſſers nimmt von 20 bis 25° weit raſcher zu als von 10 bis 15%. Unter der heißen Zone bildet ſich daher, wenn ſich die Luft um einen einzigen Grad abkühlt, weit mehr ſichtbarer Waſſerdunſt als in der gemäßigten. Eine durch die Strömungen fortwährend erneuerte Luft kann ſomit alles Waſſer liefern, das bei den Aequatorialregen fällt und dem Phyſiker ſo erſtaunlich groß dünkt. Das Waſſer des Rio Negro iſt (bei reflektiertem Lichte) dunkler von Farbe als das des Atabapo und des Tuamini. Ja die Maſſe weißen Waſſers, die der Caſſiquiare hereinbringt, Der Ritter Giſeke, der ſieben Jahre unter dem 70. Breiten— grad gelebt hat, ſah in der langen Verbannung, der er ſich aus Liebe zur Wiſſenſchaft unterzogen, nur ein einzigesmal blitzen. Auf der Küſte von Grönland verwechſelt man häufig das Getöſe der Lawinen oder ſtürzenden Eismaſſen mit dem Donner. r — 271 — ändert unterhalb der Schanze San Carlos fo wenig an der Farbe, daß es mir auffiel. Der Verfaſſer der Chorographie moderne du Bresil jagt ganz richtig, der Fluß habe überall, wo er nicht tief ſei, eine Bernſteinfarbe, wo das Waſſer aber ſehr tief ſei, erſcheine es ſchwarzbraun, wie Kaffeeſatz. Auch bedeutet Curana, wie die Eingeborenen den unteren Guainia nennen, wen Waſſer. Die Vereinigung des Guainia oder Rio Negro mit dem Amazonenſtrom gilt in der Statt— halterſchaft Gran-Para für ein ſo wichtiges Moment, daß der Rio das Amazonas weſtlich vom Rio Negro ſeinen Namen ablegt und fortan Rio dos Solimbes heißt (eigentlich Sori— moes, mit Anſpielung auf das Gift der Nation der Sorimans). Weſtlich von Ucayale nimmt der Amazonenſtrom den Namen Rio Maranhäß oder Maranon an. Die Ufer des oberen Guainia ſind im ganzen ungleich weniger von Waſſervögeln bevölkert als die des Caſſiquiare, Meta und Arauca, wo die Ornithologen die reichſte Ausbeute für die europäiſchen Samm— lungen finden. Daß dieſe Tiere ſo ſelten ſind, rührt ohne Zweifel daher, daß der Strom keine Untiefen und keine offenen Geſtade hat, ſowie von der Beſchaffenheit des ſchwarzen Waſſers, in dem (gerade wegen ſeiner Reinheit) Waſſerinſekten und Fiſche weniger Nahrung finden. Trotzdem nähren ſich die Indianer in dieſem Landſtriche zweimal im Jahre von Zug— vögeln, die auf ihrer langen Wanderung am Ufer des Rio Negro ausruhen. Wenn der Orinoko zu ſteigen anfängt, alſo nach der Frühlings-Tag- und Nachtgleiche, ziehen die Enten (Patos careteros) in ungeheuern Schwärmen vom 8. bis 3. Grad nördlicher zum 1. bis 4. Grad ſüdlicher Breite gegen Süd⸗Südoſt. Dieſe Tiere verlaſſen um dieſe Zeit das Thal des Orinoko, ohne Zweifel weil ſie, wenn das Waſſer ſteigt und die Geſtade überflutet, keine Fiſche, Waſſerinſekten und Würmer mehr fangen können. Man erlegt ſie zu Tauſenden, wenn ſie über den Rio Negro ziehen. Auf der Wanderung zum Aequator find ſie ſehr fett und wohlſchmeckend, aber im September, wenn der Orinoko fällt und in ſein Bett zurück— tritt, ziehen die Enten, ob ſie nun der Ruf der erfahrenſten Zugvögel dazu antreibt, oder jenes innere Gefühl, das man Inſtinkt nennt, weil es nicht zu erklären iſt, vom Amazonen— ſtrome und Rio Branco wieder nach Norden. Sie ſind zu mager, als daß die Indianer am Rio Negro lüſtern danach wären, und ſie entgehen ihren Nachſtellungen um ſo eher, da eine Reiherart (Gavanes) mit ihnen wandert, die ein vortreff— — 272 — liches Nahrungsmittel abgibt. So eſſen denn die Eingeborenen im März Enten, im September Reiher. Sie konnten uns nicht ſagen, was aus den Gavanes wird, wenn der Drinofo ausgetreten iſt, und warum ſie die Patos carateros auf ihrer Wanderung vom Orinoko an den Rio Branco nicht be— gleiten. Dieſes regelmäßige Ziehen der Vögel aus einem Striche der Tropen in den anderen, in einer Zone, die das ganze Jahr über dieſelbe Temperatur hat, iſt eine ziemlich auffallende Erſcheinung. So kommen auch jedes Jahr, wenn in Terra Firma die großen Flüſſe austreten, viele Schwärme von Waſſervögeln vom Orinoko und ſeinen Nebenflüſſen an die Südküſten der Antillen. Man muß annehmen, daß unter den Tropen der Wechſel von Trockenheit und Näſſe auf die Sitten der Tiere denſelben Einfluß hat, wie in unſerem Himmelsſtriche bedeutende Temperaturwechſel. Die Sonnen: wärme und die Inſektenjagd locken in den nördlichen Ländern der Vereinigten Staaten und in Kanada die Kolibri bis zur Breite von Paris und Berlin herauf; gleicherweiſe zieht der leich— tere Fiſchfang die Schwimmvögel und die Stelzenläufer von Nord nach Süd, vom Orinoko zum Amazonenſtrom. Nichts iſt wunderbarer, und in geographiſcher Beziehung noch ſo dunkel als die Wanderungen der Vögel nach ihrer Richtung, ihrer Ausdehnung und ihrem Endziel. Sobald wir aus dem Pimichin in den Rio Negro ge— langt und durch den kleinen Katarakt am Zuſammenfluß ge: gangen waren, lag auf etwa I km die Miſſion Maroa vor uns. Dieſes Dorf mit 150 Indianern ſieht ſo ſauber und wohlhabend aus, daß es angenehm auffällt. Wir kauften daſelbſt ſchöne lebende Exemplare einiger Tucanarten (Pia- poco), mutiger Vögel, bei denen ſich die Intelligenz wie bei unſeren zahmen Raben entwickelt. Oberhalb Maroa kamen wir zuerſt rechts am Einfluſſe des Aquio, dann an dem des Tomo vorbei; an letzterem Fluſſe wohnen die Cheruvichahenas— indianer, von denen ich in San Francisco Solano ein paar Familien geſehen habe. Derſelbe iſt ferner dadurch intereſſant, daß er den heimlichen Verkehr mit den portugieſiſchen Be— ſitzungen vermitteln hilft. Der Tomo kommt auf ſeinem Laufe dem Rio Guaicia (Kie) ſehr nahe, und auf dieſem Wege gelangen zuweilen flüchtige Indianer vom unteren Rio Negro in die Miſſion Tomo. Wir betraten die Miſſion nicht, Pater. Zea erzählte uns aber lächelnd, die Indianer in Tomo und in Maroa ſeien einmal in vollem Aufruhr geweſen, weil man fie zwingen wollte, den vielberufenen „Teufelstanz“ zu tanzen. Der Miſſionär hatte den Einfall gehabt, die Ceremonien, womit die Piaches, die Prieſter, Aerzte und Zauberer zu— gleich ſind, den böſen Geiſt Jolokiamo beſchwören, in bur— leskem Stil darſtellen zu 1 Er hielt den „Teufelstanz“ für ein treffliches Mittel, ſeinen Neubekehrten darzuthun, daß Jolokiamo keine Gewalt mehr über ſie habe. Einige junge Indianer ließen ſich durch die Verſprechungen des Miſſionärs bewegen, die Teufel vorzuſtellen, und ſie hatten ſich bereits mit ſchwarzen und gelben Federn geputzt 05 die Jaguarfelle mit lang nachſchleppenden Schwänzen umgenommen. Die Soldaten, die in den Miſſionen liegen, um die Ermahnungen der Ordensleute eindringlicher zu machen, ſtellte man um den Platz vor der Kirche auf und führte die Indianer zur Feſt⸗ lichkeit herbei, die aber hinſichtlich der Folgen des Tanzes und der Ohnmacht des böſen Geiſtes nicht ſo ganz beruhigt waren. Die Partei der Alten und Furchtſamen gewann die Oberhand; eine abergläubiſche Angſt kam über ſie, alle wollten al monte laufen, und der Miſſionär legte ſeinen Plan, den Teufel der Eingeborenen lächerlich zu machen, zurück. Was für wunderliche Einfälle doch einem müßigen Mönche kommen, der ſein Leben in den Wäldern zubringt, be von allen, was ihn an menschliche Kultur mahnen könnte! Daß man in Tomo den geheimnisvollen Teufelstanz mit aller Gewalt öffentlich wollte aufführen laſſen, iſt um ſo auffallender, da in allen von Miſſionären geſchriebenen Büchern davon die Rede iſt, wie ſie ſich bemüht, daß keine Tänze aufgeführt werden, keine „Totentänze“, keine „Tänze der heiligen Trompete“, auch nicht der alte „Schlangentanz“ 2 der Queti, bei dem vorgeſtellt wird, wie dieſe liſtigen Tiere aus dem Wald kommen und mit den M enſchen trinken, um ſie zu hintergehen und ihnen die Weiber zu entführen. Nach zweiſtündiger Fahrt kamen wir von der Mündung des Tomo zu der kleinen Miſſion San Miguel da Davipe, die im Jahr 1775 nicht von Mönchen, ſondern von einem Milizlieutenant, Don Francisco Bobadilla, gegründet worden. Der Miſſionär Pater Morillo, bei dem wir ein paar Stun— den verweilten, nahm uns ſehr gaſtfreundlich auf und ſetzte uns ſogar Maderawein vor. Als Tafelluxus wäre uns Weizen⸗ brot lieber geweſen. Auf die Länge fällt es einem weit ſchwerer, das Brot zu entbehren als geiſtige Getränke. Durch die Portu— gieſen am Amazonenſtrom kommt hie und da etwas Madera— A. v. Humboldt, Reiſe. III. 18% — 274 — wein an den Rio Negro, und da Madera auf ſpaniſch Holz bedeutet, ſo hatten ſchon arme, in der Geographie nicht ſehr bewanderte Miſſionäre Bedenken, ob fie mit Maderawein das Meßopfer verrichten dürften; ſie hielten denſelben für ein irgend einem Baume abgezapftes gegorenes Getränk, wie Palmwein, und forderten den Guardian der Miſſionen auf, ſich darüber auszuſprechen, ob der vino de Madera Wein aus Trauben (de uvas) fer oder aber der Saft eines Baumes (vino de algun palo). Schon zu Anfang der Eroberung war die Frage aufgeworfen worden, ob es den Prieſtern ge— ſtattet ſei, mit einem gegorenen, dem Traubenwein ähnlichen Saft das Meßopfer zu verrichten. Wie vorauszuſehen, wurde die Frage verneint. i ; Wir kauften in Davipe einigen Mundvorrat, namentlich Hühner und ein Schwein. Dieſer Einkauf war unſeren In— dianern ſehr wichtig, da ſie ſchon lange kein Fleiſch mehr ge— geſſen hatten. Sie drängten zum Aufbruch, damit wir zeitig auf die Inſel Dapa kämen, wo das Schwein geſchlachtet und in der Nacht gebraten werden ſollte. Kaum hatten wir Zeit, im Kloſter (convento) große Haufen Maniharz zu betrach— ten, ſowie Seilwerk aus der Chiquichiquipalme, das in Europa beſſer bekannt zu ſein verdiente. Dasſelbe iſt ausnehmend leicht, ſchwimmt auf dem Waſſer und iſt auf der Flußfahrt dauerhafter als Tauwerk aus Hanf. Zur See muß man es, wenn es halten ſoll, öfter anfeuchten und es nicht oft der tropiſchen Sonne ausſetzen. Don Antonio Santos, der im Lande wegen ſeiner Reiſe zur Auffindung des Parimeſees viel genannt wird, lehrte die Indianer am ſpaniſchen Rio Negro die Blattſtiele des Chiquichiqui benützen, einer Palme mit gefiederten Blättern, von der wir weder Blüten noch Früchte zu Geſicht bekommen haben. Dieſer Ofſizier iſt der einzige weiße Menſch, der, um von Angoſtura nach Gran-Para zu kommen, von den Quellen des Rio Carony zu denen des Rio Branco den Landweg gemacht hat. Er hatte ſich in den portugieſiſchen Kolonien mit der Fabrikation der Chiquichiqui— taue bekannt gemacht und führte, als er vom Amazonenſtrom zurückkam, den Gewerbszweig in den Miſſionen in Guyana ein. Es wäre zu wünſchen, daß am Rio Negro und Caſſi— quiare große Seilbahnen angelegt werden könnten, um dieſe Taue in den europäiſchen Handel zu bringen. Etwas weniges wird bereits von Angoſtura auf die Antillen ausgeführt. Sie koſten dort 50 bis 60 Prozent weniger als Hanf— — 275 taue.! Da man nur junge Palmen benützt, müßten ſie an. gepflanzt und kultiviert werden. / Etwas oberhalb der Miſſion Davipe nimmt der Rio Negro einen Arm des Caſſiquiare auf, der in der Geſchichte der Flußverzweigungen eine merkwürdige Erſcheinung it. Dieſer Arm geht nördlich von Vaſiva unter dem Namen Sti: nivini vom Caſſiquiare ab, läuft 102 km lang durch ein ebenes, faſt ganz unbewohntes Land und fällt unter dem Namen Conorichite in den Rio Negro. Er ſchien mir an der Mün— dung über 234 m breit und bringt eine bedeutende Maſſe weißen Waseers in das ſchwarze Gewäſſer. Obgleich die ömung im Gonorichite ſehr ſtark iſt, kürzt dieſer natürliche Kanal dennoch die Fahrt von Davipe nach Esmeralda um drei Tage ab. Eine doppelte Verbindung zwiſchen Caſſiquiare und Nio Negro kann nicht auffallen, wenn man weiß, wie viele Flüſſe in Amerika beim Zuſammenfluß mit anderen Deltas bilden. So ergießen ſich der Rio Branco und der Jupura mit zahlreichen Armen in den Rio Negro und in den Ama— zonenjtrom. Beim Einfluß des Jupura kommt noch etwas weit Auffallenderes vor. Ehe dieſer Fluß ſich mit dem Ama— zonenſtrom vereinigt, ſchickt dieſer, der Hauptwaſſerbehälter, drei Arme, genannt Uarana u, Manhama und Auygtepexgna, zum Jupura, alſo zur Nöbenflüg er portugieſiſche Aſtronom Ribeiro hat dieſen Umſtand außer Zweifel geſetzt. Der Ama: zonenſtrom gibt Waſſer an den Jupura ab, ehe er dieſen en Nebenfluß felbit aufnimmt, Der Rio Condrichite oder Itinivini ſpielte früher im Sklavenhandel, den die Rod auf ſpaniſchem Gebiet trieben, eine bedeutende Rolle. Die Sklavenhändler fuhren auf dem Caſſiquiare und dem Cano Mee in den Conorichite hinauf, ſchleppten von da ihre Pirogen über einen Trage— platz zu den Rochelas von Manuteſo und kamen ſo in den Atabapo. Ich habe dieſen Weg auf meiner Reiſekarte des Orinoko ben Dieſer ſchändliche Handel dauerte bis um das Jahr 1756. Solanos Expedition und die Errichtung —— Ein Chiquichiquitau, 55 m lang und 14 cm im Durchmeſſer, koſtet den Miſſionär 12 harte Piaſter, . es wird in Angoſtura für 25 Piaſter verkauft. Ein Stück von 25 mm Durchmeſſer, 58,5 m lang, wird in den Miſſionen für 3 Piaſter, an der Küſte für 5 verkauft. — 276 — der Miſſionen am Rio Negro machten demſelben ein Ende. Alte Geſetze von Karl V. und Philipp III. verboten unter Androhung der ſchwerſten Strafen (wie Verluſt bürgerlicher Aemter und 2000 Piaſter Geldbuße), „Eingeborene durch ge— waltſame Mittel zu bekehren und Bewaffnete gegen ſie zu ſchicken“; aber dieſen weiſen, menſchenfreundlichen Geſetzen zum Trotz hatte der Rio Negro noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, wie ſich La Condamine ausdrückt, für die europäiſche Politik nur inſofern Intereſſe, als er die Entra— das oder feindlichen Einfälle erleichterte und dem Sklaven— handel Vorſchub that. Die Kariben, ein kriegeriſches Handels— volk, erhielten von den Portugieſen und den Holländern Meſſer, Fiſchangeln, kleine Spiegel und Glaswaren aller Art. Dafür hetzten ſie die indianiſchen Häuptlinge gegeneinander auf, ſo daß es zum Kriege kam; ſie kauften ihnen die Ge— fangenen ab und ſchleppten ſelbſt mit Liſt oder Gewalt alles fort, was ihnen in den Weg kam. Dieſe Streifzüge der Kariben erſtreckten ſich über ein ungeheures Gebiet. Dieſelben gingen vom Eſſequibo und Carony aus auf dem Rupunuri und dem Paraguamuzi einerſeits gerade nach Süd dem Rio Branco zu, andererſeits nach Südweſt über die Trageplätze zwiſchen dem Rio Paragua, dem Caura und dem Ventuario. Waren ſie einmal bei den zahlreichen Völkerſchaften am oberen Orinoko, ſo teilten ſie ſich in mehrere Banden und kamen über den Caſſiquiare, Cababury, Itinivini und Atabapo an vielen Punkten zugleich an den Guainia oder Rio Negro und trieben mit den Portugieſen Sklavenhandel. So empfanden die unglücklichen Eingeborenen die Nachbarſchaft der Europäer ſchwer, lange ehe ſie mit dieſen ſelbſt in Berührung kamen. Dieſelben Urſachen haben überall dieſelben Folgen. Der bar— bariſche Handel, den die civiliſierten Völker an der afrikani— ſchen Küſte trieben und zum Teil noch treiben, wirkt ver— derbenbringend bis in die Länder zurück, wo man vom Daſein weißer Menſchen gar nichts weiß. Nachdem wir von der Mündung des Conorichite und der Miſſion Davipe aufgebrochen, langten wir bei Sonnenunter— gang bei der Inſel Dapa an, die ungemein maleriſch mitten im Strome liegt. Wir fanden daſelbſt zu unſerer nicht ge— ringen Verwunderung einige angebaute Grundſtücke und auf einem kleinen Hügel eine indianiſche Hütte. Vier Eingeborene ſaßen um ein Feuer von Buſchwerk und aßen eine Art weißen, ſchwarzgefleckten Teigs, der unſere Neugierde nicht wenig reizte. Es waren Vachacos, große Ameiſen, deren Hinter: teil einem Fettknopf gleicht. Sie waren am Feuer getrocknet und vom Rauch geſchwärzt. Wir ſahen mehrere Säcke voll über dem Feuer hängen. Die guten Leute achteten wenig auf uns, und doch lagen in der engen Hütte mehr als vier— zehn Menſchen ganz nackt in Hängematten übereinander. Als aber Pater Zea erſchien, wurde er mit großen Freudenbezei— gungen empfangen. Am Rio Negro ſtehen wegen der Grenz— wache mehr Soldaten als am Orinoko, und überall, wo Sol— daten und Mönche ſich die Herrſchaft über die Indianer ſtreitig machen, haben dieſe mehr Zuneigung zu den Mönchen. Zwei junge Weiber ſtiegen aus den Hängematten, um uns Caſavekuchen zu bereiten. Man fragte ſie durch einen Dol— metſcher, ob der Boden der Inſel fruchtbar ſei; ſie erwiderten, der Maniok gerate ſchlecht, dagegen ſei es ein gutes Amei— ſenland, man habe gut zu leben. Dieſe Vachacos dienen den Indianern am Rio Negro wirklich zur Nahrung. Man ißt die Ameiſen nicht aus Leckerei, ſondern weil, wie die Miſſionäre ſagen, das Ameiſenfett (der weiße Teil des Unterleibs) ſehr nahrhaft iſt. Als die Caſavekuchen fertig waren, ließ ſich Pater Zea, bei dem das Fieber die Eßluſt viel mehr zu reizen als zu ſchwächen ſchien, einen kleinen Sack voll geräucherter Vachacos geben. Er miſchte die zerdrückten Inſekten mit Maniokmehl und ließ nicht nach, bis wir davon koſteten. Es ſchmeckte ungefähr wie ranzige Butter, mit Brot— krumen geknetet. Der Maniok ſchmeckte nicht ſauer, es klebte uns aber noch ſo viel europäiſches Vorurteil an, daß wir mit dem guten Miſſionär, wenn er das Ding eine vor— treffliche Ameiſenpaſtete nannte, nicht einverſtanden ſein konnten. | Da der Regen in Strömen herabgoß, mußten wir in der überfüllten Hütte übernachten. Die Indianer ſchliefen nur von acht bis zwei Uhr; die übrige Zeit ſchwatzten ſie in ihren Hängematten, bereiteten ihr bitteres Getränk Cupana, ſchürten das Feuer und klagten über die Kälte, obgleich die Lufttemperatur 21° war. Dieſe Sitte, vier, fünf Stunden vor Sonnenaufgang wach, ja auf den Beinen zu ſein, herrſcht bei den Indianern in Guyana allgemein. Wenn man daher bei den „Entradas“ die Eingeborenen überraſchen will, wählt man dazu die Zeit, wo ſie im erſten Schlafe liegen, von neun Uhr bis Mitternacht. Wir verließen die Inſel Dapa lange vor der Morgen— dämmerung und kamen trotz der ſtarken Strömung und des Fleißes unſerer Ruderer erſt nach zwölfſtündiger Fahrt bei der Schanze San Carlos del Rio Negro an. Links ließen wir die Einmündung des Caſſiquiare, rechts die kleine Inſel Cumarai. Man glaubt im Lande, die Schanze liege gerade unter dem Aequator; aber nach meinen Beobachtungen am Felſen Culimacari liegt fie unter 1° 54 11“. Jede Nation hat die Neigung, den Flächenraum ihrer Beſitzungen auf den Karten zu vergrößern und die Grenzen hinauszurücken. Da man es — die Reiſeentfernungen auf Entfernungen in gerader Linie zu reduzieren, ſo ſind immer die Grenzen am meiſten verunſtaltet. Die Portugieſen ſetzen, vom Ama⸗ zonenſtrom ausgehend, San Carlos und San Joſe de Mara⸗ vitanos zu weit nach Nord, wogegen die Spanier, die von der Küſte von Caracas aus rechnen, die Orte zu weit nach Süd ſchieben. Dies gilt von allen Karten der Kolonieen. Weiß man, wo ſie gezeichnet worden und in welcher Richtung man an die Grenzen gekommen, ſo weiß man zum voraus, nach welcher Seite hin die Irrtümer in Länge und Breite laufen. In San Carlos fanden wir Quartier beim Komman— danten des Forts, einem Milizlieutenant. Von einer Galerie des Hauſes hatte man eine ſehr hübſche Ausſicht auf drei ſehr lange, dicht bewachſene Inſeln. Der Strom läuft gerade— aus von Nord nach Süd, als wäre ſein Bett von Menſchen— hand gegraben. Der beſtändig bedeckte Himmel gibt den Landſchaften hier einen ernſten, finſtern Charakter. Wir fan: den im Dorfe ein paar Juviaſtämme; es iſt dies das maje— ſtätiſche Gewächs, von dem die dreieckigen Mandeln kommen, die man in Europa Mandeln vom Amazonenſtrom nennt. Wir haben dasſelbe unter dem Namen Bertholletia ex- celsa bekannt gemacht. Die Bäume werden in acht Jahren 10 m Hoch. Die bewaffnete Macht an der Grenze hier beſtand aus ſiebzehn Mann, wovon zehn zum Schutz der Miſſionäre in der Nachbarſchaft detachiert waren. Die Luft iſt ſo feucht, daß nicht vier Gewehre ſchußfertig ſind. Die Portugieſen haben ee wanzig bis dreißig beſſer gekleidete und be— waffnete Leute in der Schanze San Joſe de Maravitanos. In der Miſſion San Carlos fanden wir nur eine Garita, ein viereckiges Gebäude aus ungebrannten Backſteinen, in dem ſechs Feldſtücke ſtanden. Die Schanze, oder, wie man hier — 279 — gern ſagt, das Caſtillo de San Felipe, liegt San Carlos gegenüber am weſtlichen Ufer des Rio Negro. Der Kommandant trug Bedenken, Bonpland und mich die Forta— leza ſehen zu laſſen; in unſeren Päſſen ſtand wohl, daß ich ſollte Berge meſſen und überall im Lande, wo es mir gefiele, trigonometriſche Operationen vornehmen dürfen, aber vom Be— ſehen feſter Plätze ſtand nichts darin. Unſer Reiſebegleiter, Don Nicolas Soto, war als ſpaniſcher Offizier glücklicher als wir. Man erlaubte ihm, über den Fluß zu gehen, und er fand auf einer kleinen abgeholzten Ebene die Anfänge eines Erdwerkes, das, wenn es vollendet wäre, zur Verteidigung 500 Mann erforderte. Es iſt eine viereckige Verſchanzung mit kaum ſichtbarem Graben. Die Bruſtwehr iſt 1,6 m hoch und mit großen Steinen verſtärkt. Dem Fluſſe zu liegen zwei Baſtionen, in denen man vier bis fünf Stücke aufſtellen könnte. Im ganzen Werk ſind 14 bis 15 Geſchütze, meiſt ohne Lafetten und von zwei Mann bewacht. Um die Schanze her ſtehen drei oder vier indianiſche Hütten. Dies heißt das Dorf San Felipe, und damit das Miniſterium in Madrid wunder meine, wie ſehr dieſe chriſtlichen Niederlaſſungen ge— deihen, führt man für das angebliche Dorf ein eigenes Kirchen— buch. Abends nach dem Angelus wurde dem Kommandanten Rapport erſtattet und ſehr ernſthaft gemeldet, daß es überall um die Feſtung ruhig ſcheine; dies erinnerte mich an die Schanzen an der Küſte von Guinea, von denen man in Reiſe— beſchreibungen lieſt, die zum Schutz der europäiſchen Faktoreien dienen ſollen und in denen vier bis fünf Mann Garniſon liegen. Die Soldaten in San Carlos ſind nicht beſſer daran als die in den afrikaniſchen Faktoreien, denn überall an ſo entlegenen Punkten herrſchen dieſelben Mißbräuche in der Militärverwaltung. Nach einem Brauche, der ſchon ſehr lange geduldet wird, bezahlen die Kommandanten die Truppen nicht in Geld, ſondern liefern ihnen zu hohen Preiſen Kleidung (Ropa), Salz und Lebensmittel. In Angoſtura fürchtet man ſich ſo ſehr davor, in die Miſſionen am Carony, Caura und Rio Negro detachiert oder vielmehr verbannt zu werden, daß die Truppen ſehr ſchwer zu rekrutieren ſind. Die Lebens— mittel ſind am Rio Negro ſehr teuer, weil man nur wenig . und Bananen baut 1 ba Wie beste Zu 5 aren Gewäſſer) wenig Fiſche hat. Die beſte Zufuhr kommt von den far Niederlaſſungen am Rio Negro, wo die Indianer regſamer und wohlhabender ſind. Indeſſen — 280 — werden bei dieſem Handel mit den Portugieſen jährlich kaum für 3000 Piaſter Waren eingeführt. Die Ufer des oberen Rio Negro werden mehr ertragen, wenn einmal mit Ausrodung der Wälder die übermäßige Feuchtigkeit der Luft und des Bodens abnimmt und die In— ſekten, welche Wurzeln und Blätter der krautartigen Gewächſe verzehren, ſich vermindern. Beim gegenwärtigen Zuſtand des Ackerbaues kommt der Mais faſt gar nicht fort; der Tabak, der auf den Küſten von Caracas von ausgezeichneter Güte und ſehr geſucht iſt, kann eigentlich nur auf alten Bau— ſtätten, bei zerfallenen Hütten, bei pueblo vie o, gebaut werden. Infolge der nomadiſchen Lebensweiſe der Eingeborenen fehlt es nun nicht an ſolchen Bauſtätten, wo der Boden um: gebrochen worden und der Luft ausgeſetzt geweſen, ohne daß etwas darauf wuchs. Der Tabak, der in friſch ausgerodeten Wäldern gepflanzt wird, iſt wäſſerig und ohne Arom. Bei den Dörfern Maroa, Davipe und Tomo iſt der Indigo ver— wildert. Unter einer anderen Verwaltung, als wir ſie im Lande getroffen, wird der Rio Negro eines Tages Indigo, Kaffee, Kakao, Mais und Reis im Ueberfluß erzeugen. Da man von der Mündung des Rio Negro nach Gran— Para in 20 bis 25 Tagen fährt, jo hätten wir den Amazonen— ſtrom hinab bis zur Küſte von Braſilien nicht viel mehr Zeit gebraucht, als um über den Caſſiquiare und den Orinoko an die Nordküſte von Caracas zurückzukehren. Wir hörten in San Carlos, der politiſchen Verhältniſſe wegen ſei im Augen: blick aus den ſpaniſchen Beſitzungen ſchwer in die portugie— ſiſchen zu kommen; aber erſt nach unſerer Rückkehr nach Europa ſahen wir in vollem Umfang, welcher Gefahr wir uns ausgeſetzt hätten, wenn wir bis Barcellos hinabgegangen wären. Man hatte in Braſilien, vielleicht aus den Zeitungen, deren wohlwollender, unüberlegter Eifer ſchon manchem Reifen: den Unheil gebracht hat, erfahren, ich werde in die Miſſionen am Rio Negro kommen und den natürlichen Kanal unter— ſuchen, der zwei große Stromſyſteme verbindet. In dieſen öden Wäldern hatte man Inſtrumente nie anders als in den Händen der Grenzkommiſſion geſehen, und die Unterbeamten der portugieſiſchen Regierung hatten bis dahin ſo wenig als der gute Miſſionär, von dem in einem früheren Kapitel die Rede war, einen Begriff davon, wie ein vernünftiger Menſch eine lange, beſchwerliche Reiſe unternehmen kann, „um Land zu vermeſſen, das nicht ſein gehört“. Es war der Befehl ergangen, ſich meiner Perſon und meiner Inſtrumente zu ver ſichern, ganz beſonders aber der Verzeichniſſe aſtronomiſcher Beobachtungen, welche die Sicherheit der Staaten ſo ſehr ge— fährden könnten. Man hätte uns auf dem Amazonenfluß nach Gran⸗Para geführt und uns von dort nach Liſſabon ge: ſchickt. Dieſe Abſichten, die, wären ſie in Erfüllung gegangen, eine auf fünf Jahre berechnete Reiſe ſtark gefährdet hätten, erwähne ich hier nur, um zu zeigen, wie in den Kolonial— regierungen meiſt ein ganz anderer Geiſt herrſcht als an der Spitze der Verwaltung im Mutterland. Sobald das Mini— ſterium in Liſſabon vom Dienſteifer ſeiner Untergebenen Kunde erhielt, erließ es den Befehl, mich in meinen Arbeiten nicht zu ſtören, im Gegenteil ſollte man mir hilfreich an die Hand gehen, wenn ich durch einen Teil der portugieſiſchen Beſitzungen käme. Von dieſem aufgeklärten Miniſterium ſelbſt wurde mir kundgethan, welch freundliche Rückſicht man mir zugedacht, um 5 ich mich in ſo großer Entfernung nicht hatte bewerben önnen. Unter den Portugieſen, die wir in San Carlos trafen, befanden ſich mehrere Offiziere, welche die Reiſe von Barcellos nach Gran-Para gemacht hatten. Ich ſtelle hier alles zuſam— men, was ich über den Lauf des Rio Negro in Erfahrung bringen konnte. Selten kommt man aus dem Amazonenſtrom über den Einfluß des Cababuri herauf, der wegen der Sarſa— parilleernte weitberufen iſt, und ſo iſt alles, was in neuerer Zeit über die Geographie dieſer Länder veröffentlicht worden, ſelbſt was von Rio Janeiro ausgeht, in hohem Grade ver— worren. Weiter den Rio Negro hinab läßt man rechts den Cano Maliapo, links die Canos Dariba und Eny. 22,5 km weiter, alſo etwa unter 1° 38° nördlicher Breite, liegt die Inſel San Joſef, die proviſoriſch (denn in dieſem endloſen Grenzprozeß iſt alles proviſoriſch) als ſüdlicher Endpunkt der ſpaniſchen Beſitzungen gilt. Etwas unterhalb dieſer Inſel, an einem Ort, wo es viele verwilderte Orangebäume gibt, zeigt man einen kleinen, 65 m hohen Felſen mit einer Höhle, welche bei den Miſſionären „Cocuys Glorieta“ heißt. Dieſer Luſt— ort, denn ſolches bedeutet das Wort Glorieta im Spaniſchen, weckt nicht die angenehmſten Erinnerungen. Hier hatte Cocuy, der Häuptling der Manitivitanos, von dem oben die Rede war, ſein Harem, und hier verſpeiſte er — um alles zu ſagen — aus beſonderer Vorliebe die ſchönſten und fetteſten — 282 — ſeiner Weiber. Ich zweifle nicht, daß Cocuy allerdings ein wenig ein Menſchenfreſſer war; „es iſt dies,“ ſagt Pater Gili mit der Naivität eines amerikaniſchen Miſſionärs, „eine üble Gewohnheit dieſer Völker in Guyana, die ſonſt ſo ſanft und gutmütig ſind“; aber zur Steuer der Wahrheit muß ich hinzufügen, daß die Sage vom Harem und den abſcheulichen Ausſchweifungen Cocuys am unteren Orinoko weit verbreiteter iſt als am Rio Negro. Ja in San Carlos läßt man nicht einmal den Verdacht gelten, als hätte er eine die Menſchheit entehrende Handlung begangen; geſchieht ſolches vielleicht, weil Cocuys Sohn, der Chriſt geworden und der mir ein verſtän— diger, civiliſierter Menſch ſchien, gegenwärtig Hauptmann der Indianer in San Carlos iſt? Unterhalb der Glorieta kommen auf portugieſiſchem Ge— biet das Port San Joſef de Maravitanos, die Dörfer Joam Baptiſta de Mabbe, San Marcellino (beim Einfluß des Guaiſia oder Uexie, von dem oben die Rede war), Noſſa Senhora da Guya, Boaviſta am Rio Icanna, San Felipe, San Joaquin de Coanne beim Einfluß des vielberufenen Rio Guape, Cal: deron, San Miguel de Iparanna mit einer Schanze, San Francisco de las Caculbaes, und endlich die Feſtung San Gabriel de Cachoeiras. Ich zähle die Ortsnamen abſichtlich auf, um zu zeigen, wie viele Niederlaſſungen die portugiefiiche , Regierung ſogar in dieſem abgelegenen Winkel von Braſilien gegründet hat. Auf einer Strecke von 100 km liegen elf Dörfer, und bis zum Ausfluß des Rio Negro kenne ich noch neunzehn weitere, außer den ſechs Dörfern Thomare, Moreira (am Rio Demenene oder Uaraca, wo ehemals die Guyana— indianer wohnten), Barcellos, San Miguel del Rio Branco, am Fluſſe desſelben Namens, der in den Fabeln vom Dorado eine ſo große Rolle ſpielt, Moura und Villa de Rio Negro. Die Ufer dieſes Nebenfluſſes des Amazonenſtroms allein ſind daher zehnmal bevölkerter als die Ufer des oberen und des unteren Orinoko, des Caſſiquiare, des Atabapo und des ſpani— ſchen Rio Negro zuſammen. Dieſer Gegenſatz beruht keines— wegs bloß auf dem Unterſchied in der Fruchtbarkeit des Bodens, noch darauf, daß der Rio Negro, weil er fortwährend von Nordweſt nach Südoſt läuft, leichter zu befahren iſt; er iſt vielmehr Folge der politiſchen Einrichtungen. Nach der Kolonialverfaſſung der Portugieſen ſtehen die Indianer unter Givil- und Militärbehörden und unter den Mönchen vom Berge Karmel zumal. Es iſt eine gemiſchte Regierung, wo— — 283 — bei die weltliche Gewalt ſich unabhängig erhält. Die Ob— ſervanten dagegen, unter denen die Miſſionen am Orinoko ſtehen, vereinigen alle Gewalten in einer Hand. Die eine wie die andere dieſer Regierungsweiſen iſt drückend in mehr als einer Beziehung; aber in den portugieſiſchen Kolonieen wird für den Verluſt der Freiheit wenigſtens durch etwas mehr Wohlſtand und Kultur Erſatz geleiſtet. Unter den Zuflüſſen, die der Rio Negro von Norden her erhält, nehmen drei beſonders unſere Aufmerkſamkeit in Anſpruch, weil ſie wegen ihrer Verzweigungen, ihrer Trage— plätze und der Lage ihrer Quellen bei der ſo oft vorhandenen Frage nach dem Urſprung des Orinoko ſtark in Betracht kommen. Die am weiteſten ſüdwärts gelegenen dieſer Neben— flüſſe ſind der Rio Branco, von dem man lange glaubte, er entſpringe mit dem Orinoko aus dem Parimeſee, und der Rio Padaviri, der mittels eines Trageplatzes mit dem Ma: vaca und ſomit dem oberen Orinoko oſtwärts von der Miſſion Esmeralda in Verbindung ſteht. Wir werden Gelegenheit haben, vom Rio Branco und dem Padaviri zu ſprechen, wenn wir in der letztgenannten Miſſion angelangt ſind; hier brau— chen wir nur beim dritten Nebenfluß des Rio Negro, dem Cababuri, zu verweilen, deſſen Verzweigungen mit dem Caſſi— quiare in hydrographiſcher Beziehung und für den Sarſaparille— handel gleich wichtig ſind. Von den hohen Gebirgen der Pa— rime, die am Nordufer des Orinoko in ſeinem oberen Lauf oberhalb Esmeralda hinſtreichen, geht ein Zug nach Süden ab, in dem der Cerro de Unturan einer der Hauptgipfel iſt. Dieſer gebirgige Landſtrich iſt nicht ſehr groß, aber reich an vegetabiliſchen Produkten, beſonders an Mavacure-Lianen, die zur Bereitung des Curaregiftes dienen, an Mandelbäumen (Juvia oder Bertholletia excelsa), aromatiſchem Pucher y und wildem Kakao, und bildet eine Waſſerſcheide zwiſchen den Gewäſſern, die in den Orinoko, in den Caſſiquiare und in den Rio Negro gehen. Gegen Norden oder dem Orinoko zu fließen der Mavaca und der Daracapo, nach Weſten oder zum Caſſiquiare der Idapa und der Pacimoni, nach Süden oder zum Rio Negro der Padaviri und der Cababuri. Der letztere teilt ſich in der Nähe ſeiner Quelle in zwei Arme, von denen der weſtlichſte unter dem Namen Baria bekannt iſt. In der Miſſion San Francisco Solano gaben uns die Indianer die umſtändlichſten Nachrichten über ſeinen Lauf. Er verzweigt ſich, was ſehr ſelten vorkommt, ſo, daß zu einem = unteren Zufluß das Waſſer eines oberen nicht herunterkommt, ſondern daß im Gegenteil jener dieſem einen Teil ſeines Waſſers in einer der Richtung des Hauptwaſſerbehälters ent— gegengeſetzten Richtung zuſendet. Ich habe mehrere Beiſpiele dieſer Verzweigungen mit Gegenſtrömungen, dieſes ſcheinbaren Waſſerlaufs bergan, dieſer Flußgabelungen, derer Kenntnis für die Hydrographen von Intereſſe iſt, auf einer Tafel meines Atlas zuſammengeſtellt. Dieſelbe mag ihnen zeigen, daß man nicht geradezu alles für Fabel erklären darf, was von dem Typus abweicht, den wir uns nach Beobachtungen gebildet, die einen zu unbedeutenden Teil der Erdoberfläche umfaſſen. Der Cababuri fällt bei der Miſſion Noſſa Senhora das Caldas in den Rio Negro; aber die Flüſſe Ya und Dimity, die weiter oben hereinkommen, ſtehen auch mit dem Cababuri in Verbindung, ſo daß von der Schanze San Gabriel de Cachoeiras an bis San Antonio de Caſtanheira die Indianer aus den portugieſiſchen Beſitzungen auf dem Baria und dem Pacimoni auf das Gebiet der ſpaniſchen Miſſionen ſich ein— ſchleichen können. Wenn ich ſage Gebiet, ſo brauche ich den gewöhnlichen Ausdruck der Obſervanten. Es iſt ſchwer zu ſagen, auf was ſich das Eigentumsrecht in unbewohnten Län— dern gründet, deren natürliche Grenzen man nicht kennt und die man nicht zu kultivieren verſucht hat. In den portu— gieſiſchen Miſſionen behaupten die Leute, ihr Gebiet erſtrecke ſich überall jo weit, als fie im Kanoe auf einem Fluß, deſſen Mündung in portugieſiſchem Beſitz iſt, gelangen können. Aber Beſtitzergreifung iſt eine Handlung, die durchaus nicht immer ein Eigentumsrecht begründet, und nach den obigen Bemer— kungen über die vielfachen Verzweigungen der Flüſſe dürfte es für die Höfe von Madrid und Liſſabon gleich gefährlich ſein, dieſen ſeltſamen Satz der Miſſionsjurisprudenz gelten zu laſſen. Der Hauptzweck bei den Einfällen auf dem Rio Caba— buri iſt, Sarſaparille und die aromatischen Samen des Bu: cherylorbeers (Laurus Pichurim) zu ſammeln. Man geht dieſer koſtbaren Produkte wegen bis auf zwei Tagereiſen von Esmeralda an einen See nördlich von Cerro Unturan hinauf, und zwar über die Trageplätze zwiſchen dem Pacimoni und Idapa, und dem Idapa und dem Mavaca, nicht weit vom See desſelben Namens. Die Sarſaparille von dieſem Land— ſtrich ſteht in Gran-Para, in Angoſtura, Cumana, Nueva de RE Barcelona und anderen Orten von Terra Firma unter dem Namen Zarza del Rio Negro in hohem Ruf. Es iſt die wirkſamſte von allen, die man kennt; man zieht ſie der Zarza aus der Provinz Caracas und von den Bergen von Merida weit vor. Sie wird ſehr ſorgfältig getrocknet und abſichtlich dem Rauch ausgeſetzt, damit ſie ſchwärzer wird. Dieſe Schling— pflanze wächſt in Menge an den feuchten Abhängen der Berge Unturan und Achivaquery. De Candolle vermutet mit Recht, daß verſchiedene Arten von Smilax unter dem Namen Sarſa— parille geſammelt werden. Wir fanden zwölf neue Arten, von denen Smilax syphilitica vom Caſſiquiare und Smilax officinalis vom Magdalenenſtrom wegen ihrer harntreibenden Eigenſchaften die geſuchteſten ſind. Da ſyphilitiſche Uebel hierzulande unter Weißen und Farbigen ſo gemein als gut— artig ſind, ſo wird in den ſpaniſchen Kolonieen eine ſehr bedeutende Menge Sarſaparille als Hausmittel verbraucht. Wir erſehen aus den Werken des Cluſius, daß Europa in den erſten Zeiten der Eroberung dieſe heilſame Arznei von der mexikaniſchen Küſte bei Honduras und aus dem Hafen von Guayaquil bezog. Gegenwärtig iſt der Handel mit Zarza lebhafter in den Häfen, die mit dem Orinoko, Rio Negro und dem Amazonenſtrom Verbindungen haben. Verſuche, die in mehreren botaniſchen Gärten in Europa angeſtellt worden, thun dar, daß Smilax glauca aus Virgi— nien, die man für Linnés Smilax Sarsaparilla erklärt, überall im Freien gebaut werden kann, wo die mittlere Temperatur des Winters mehr als 6 bis 7° des hundertteiligen Thermo— meters beträgt; aber die wirkſamſten Arten gehören aus: ſchließlich der heißen Zone an und verlangen einen weit höheren Wärmegrad. Wenn man des Cluſius Werke lieſt, begreift man nicht, warum in unſeren Handbüchern der ma— teria medica ein Gewächs der Vereinigten Staaten für den älteſten Typus der offizinellen Smilaxarten gilt. Wir fanden bei den Indianern am Rio Negro einige der grünen Steine, die unter dem Namen Amazonenſteine bekannt ſind, weil die Indianer nach einer alten Sage ı Wintertemperatur in London und Paris 4,2“ und 3,7, in Montpellier 7,7“, in Rom 7,7, in dem Teile von Mexiko und Terra Firma, wo wir die wirkſamſten Sarſaparillearten (die— jenigen, welche aus den ſpaniſchen und portugieſiſchen Kolonieen in den Handel kommen) haben wachſen ſehen, 20 bis 26°, — — 286 — behaupten, ſie kommen aus dem Lande der „Weiber ohne Männer“ (Cougnantainsecouima oder Aikeambenano — Weiber, die allein leben). In San Carlos und den benad): barten Dörfern nannte man uns die Quellen des Orinoko öſtlich von Esmeralda, in den Miſſionen am Carony und in Angoſtura die Quellen des Rio Branco als die natürlichen Lagerſtätten der grünen Steine. Dieſe Angaben beſtätigen den Bericht eines alten Soldaten von der Garniſon von Cayenne, von dem La Condamine ſpricht und demzufolge dieſe Mine— ralien aus dem Lande der Weiber weſtwärts von den Stromſchnellen des Oyapoc kommen. Die Indianer im Fort Topayos am Amazonenſtrom, 5“ oſtwärts vom Einfluß des Rio Negro, beſaßen früher ziemlich viele Steine der Art. Hatten ſie dieſelben von Norden her bekommen, das heißt aus dem Lande, das die Indianer am Rio Negro angeben und das ſich von den Bergen von Cayenne an bis an die Quellen des Eſſequibo, des Carony, des Orinoko, des Parime und des Rio Trombetas erſtreckt, oder ſind dieſe Steine aus dem Süden gekommen, über den Rio Topayos, der von der großen Hochebene der Campos Parecis herabkommt? Der Aberglaube legt dieſen Steinen große Wichtigkeit bei; man trägt ſie als Amulette am Hals, denn ſie ſchützen nach dem Volksglauben vor Nervenleiden, Fiebern und dem Biß giftiger Schlangen. Sie waren daher auch ſeit Jahrhunderten bei den Eingeborenen nördlich und ſüdlich vom Orinoko ein Handels— artikel. Durch die Kariben, die für die Bocharen der Neuen Welt gelten können, lernte man ſie an der Küſte von Guyana kennen, und da dieſelben Steine, gleich dem umlaufenden Geld, in entgegengeſetzten Richtungen von Nation zu Nation gewandert ſind, ſo kann es wohl ſein, daß ſie ſich nicht vermehren und daß man ihre Lagerſtätte nicht verheimlicht, ſondern gar nicht kennt. Vor wenigen Jahren wurden mitten im hochgebildeten Europa, aus Anlaß eines lebhaften Streites über die ein— heimiſche China, allen Ernſtes die grünen Steine vom Orinoko als ein kräftiges Fiebermittel in Vorſchlag gebracht; wenn man der Leichtgläubigkeit der Europäer ſo viel zutraut, kann es nicht wunder nehmen, wenn die ſpaniſchen Koloniſten auf dieſe Amulette ſo viel halten als die Indianer und ſie zu ſehr bedeutenden Preiſen verkauft werden.! Gewöhnlich gibt ! Ein Sem langer Cylinder koſtet 12 bis 15 Piaſter. — 287 — man ihnen die Form der der Länge nach durchbohrten und mit Inſchriften und Bildwerk bedeckten perſepolitaniſchen Cy— linder. Aber nicht die heutigen Indianer, nicht dieſe ſo tief verſunkenen Eingeborenen am Orinoko und Amazonenſtrom haben ſo harte Körper burchbohrt und Figuren von Tieren und Früchten daraus geſchnitten. Dergleichen Arbeiten, wie auch die durchbohrten und geſchnittenen Smaragde, die in den Kordilleren von Neugranada und Quito vorkommen, weiſen auf eine 1 zurück. Die gegenwärtigen Bewohner dieſer Länder, beſonders der heißen Zone, haben ſo wenig einen Begriff davon, wie man harte Steine (Smaragd, Nephrit, dichten Feldſpat und Bergkriſtall) ſchneiden kann, daß ſie ſich vorſtellen, der „grüne Stein“ komme urſprünglich weich aus dem Boden und werde erſt hart, nachdem er bearbeitet worden. Aus dem hier Angeführten erhellt, daß der Amazonen— ſtein nicht im Thale des Amazonenſtromes ſelbſt vorkommt und daß er keineswegs von dieſem Fluſſe den Namen hat, ſondern, wie dieſer ſelbſt, von einem Volke kriegeriſcher Weiber, welche Pater Acuna und Oviedo in feinem Brief an den Kardinal Bembo mit den Amazonen der Alten Welt vergleichen. Was man in unſeren Sammlungen unter dem falſchen Namen „Amazonenſtein“ ſieht, iſt weder Nephrit noch dichter Feld— ſpat, ſondern gemeiner apfelgrüner Feldſpat, der vom Ural am Onegaſee in Rußland kommt und den ich im Granitgebirge von Guyana niemals geſehen habe. Zuweilen verwechſelt man auch mit dem ſo ſeltenen und ſo harten Amazonenſtein Werners Beilftein,! der lange nicht jo zäh iſt. Das Mineral, das ich aus der Hand der Indianer habe, iſt zum Sauſſurit' zu ſtellen, zum eigentlichen Nephrit, der ſich oryktognoſtiſch dem dichten Feldſpat nähert und ein Beſtand— teil des Verde de Corſica oder des Gabbro iſt. Er nimmt eine ſchöne Politur an und geht vom Apfelgrünen ins Smaragdgrüne über; er iſt an den Rändern durchſcheinend, Punamuſtein, Jade axinien. Die Steinäxte, die man in Amerika, z. B. in Mexiko, findet, ſind kein Beilſtein, ſondern dichter Feldſpat. Jade de Saussure nach Brongniarts Syſtem, Jade tenace und Feldspat compacte tenace nach Haüy, einige Varietäten des Varioliths nach Werner. — 288 — ungemein zäh und klingend, ſo daß von den Eingeborenen in alter Zeit geſchliffene, ſehr dünne, in der Mitte durch— bohrte Platten, wenn man ſie an einem Faden aufhängt und mit einem anderen harten Körper! anſchlägt, faſt einen me— talliſchen Ton geben. Bei den Völkern beider Welten finden wir auf der erſten Stufe der erwachenden Kultur eine beſondere Vorliebe für gewiſſe Steine, nicht allein für ſolche, die dem Menſchen wegen ihrer Härte als ſchneidende Werkzeuge dienen können, ſondern auch für Mineralien, die der Menſch wegen ihrer Farbe oder wegen ihrer natürlichen Form mit organiſchen Verrichtungen, ja mit pſychiſchen Vorgängen verknüpft glaubt. Dieſer uralte Steinkultus, dieſer Glaube an die heilſamen Wirkungen des Nephrits und des Blutſteins kommen den Wilden Amerikas zu, wie den Bewohnern der Wälder Thrakiens, die wir wegen der ehrwürdigen Inſtitutionen des Orpheus und des Urſprungs der Myſterien nicht wohl als Wilde anſprechen können. Der Menſch, ſolange er ſeiner Wiege noch näher ſteht, empfindet ſich als Autochthone; er fühlt ſich wie gefeſſelt an die Erde und die Stoffe, die ſie in ihrem Schoße birgt. Die Natur— kräfte, und mehr noch die zerſtörenden als die erhaltenden, ſind die früheſten Gegenſtände ſeiner Verehrung. Und dieſe Kräfte offenbaren ſich nicht allein im Gewitter, im Getöſe, das dem Erdbeben vorangeht, im Feuer der Vulkane; der leb— loſe Fels, die glänzenden, harten Steine, die gewaltigen, frei aufſteigenden Berge wirken auf die jugendlichen Gemüter mit einer Gewalt, von der wir bei vorgeſchrittener Kultur keinen Begriff mehr haben. Beſteht dieſer Steinkultus einmal, ſo erhält er ſich auch fort neben ſpäteren Kultusformen, und aus einem Gegenſtand religiöſer Verehrung wird ein Gegenſtand abergläubiſchen Vertrauens. Aus Götterſteinen werden Amu— lette, die vor allen Leiden Körpers und der Seele bewahren. Obgleich zwiſchen dem Amazonenſtrom und dem Orinoko und der mexikaniſchen Hochebene 2250 km liegen, obgleich die Ge— ſchichte von keinem Zuſammenhang zwiſchen den wilden Völkern von Guyana und den civiliſierten von Anahuac weiß, fand ! Brongniart, dem ich nach meiner Rückkehr nach Curopa ſolche Platten zeigte, verglich dieſe Nephrite aus der Parime ganz richtig nit den klingenden Steinen, welche die Chineſen zu ihren muſika— liſchen Inſtrumenten, den ſogenannten King, verwenden. . ’ * — 289 — doch in der erſten Zeit der Eroberung der Mönch Bernhard von Sahagun in Cholula grüne Steine, die einſt Quetzal— cohuatl angehört und die als Reliquien aufbewahrt wurden. Dieſe geheimnisvolle Perſon iſt der Buddha der Mexikaner; er trat auf im Zeitalter der Tolteken, ſtiftete die erſten religiöſen Vereine und führte eine Regierungsweiſe ein, die mit der in Meroe und Japan Aehnlichkeit hat. Die Geſchichte des Nephrits oder grünen Steins in Guyana ſteht in inniger Verbindung mit der Geſchichte der kriegeriſchen Weiber, welche die Reiſenden des 16. Jahrhun— derts die Amazonen der Neuen Welt nennen. La Condamine bringt viele Zeugniſſe zur Unterſtützung dieſer Sage bei. Seit meiner Rückkehr vom Orinoko und Amazonenſtrom bin ich in Paris oft gefragt worden, ob ich die Anſicht dieſes Gelehrten teile, oder ob ich mit mehreren Zeitgenoſſen desſelben glaube, er habe den Cougnantainsecouima, den unabhängigen Weibern, die nur im Monat April Männer unter ſich auf— nahmen, nur deshalb das Wort geredet, um in einer öffent— lichen Sitzung der Akademie einer Verſammlung, die gar nicht ungern etwas Neues hört, ſich angenehm zu machen. Es iſt hier der Ort, mich offen über eine Sage auszuſprechen, die einen jo romantiſchen Anblick hat, um jo mehr, als La Con: damine behauptet, die Amazonen vom Rio Cayame ſeien über den Maranon gegangen und haben ſich am Rio Negro nieder: gelaſſen. Der Hang zum Wunderbaren und das Verlangen, die Beſchreibung der Neuen Welt hie und da mit einem Zuge aus dem klaſſiſchen Altertum aufzuputzen, haben ohne Zweifel dazu beigetragen, daß Orellanas erſte Berichte ſo wichtig ge— nommen wurden. Lieſt man die Schriften des Vespucci, Ferdinand Kolumbus, Geraldini, Oviedo, Peter Martyr von Anghiera, ſo begegnet man überall der Neigung der Schrift— ſteller des 16. Jahrhunderts, bei neu entdeckten Völkern alles wiederzufinden, was uns die Griechen vom erſten Zeitalter der Welt und von den Sitten der barbariſchen Skythen und Afrikaner erzählen. An der Hand dieſer Reiſenden, die uns in eine andere Halbkugel verſetzen, glauben wir durch Zeiten zu wandern, die längſt dahin ſind; denn die amerikaniſchen Horden in ihrer primitiven Einfalt ſind ja für Europa „eine Art Altertum, dem wir faſt als Zeitgenoſſen gegenüberſtehen“. Was damals nur Stilblume und Geiſtesergötzlichkeit war, iſt heutzutage zum Gegenſtand ernſter Erörterungen geworden. In einer in Louiſiana erſchienenen Abhandlung wird die ganze A. v. Humboldt, Reiſe. III. 19 \ — Oelen ſalben und ihm dann aus langen Blaſerohren den — 290 — griechiſche Mythologie, die Amazonen eingeſchloſſen, aus den Oertlichkeiten am Nicaraguaſee und einigen anderen Gegenden in Amerika entwickelt. Wenn Oviedo in ſeinen Briefen an Kardinal Bembo dem Geſchmack eines mit dem Studium des Altertums ſo vertrauten Mannes ſchmeicheln zu müſſen glaubte, ſo hatte der Seefahrer Sir Walter Ralegh einen minder poetiſchen Zweck. Ihm war es darum zu thun, die Aufmerkſamkeit der Königin Eliſabeth auf das große Reich Guyana zu lenken, das nach ſeinem Plan England erobern ſollte. Er beſchrieb die Morgentoilette des vergoldeten Königs (el dorado!), wie ihn jeden Tag ſeine Kammerherren mit wohlriechenden Goldſtaub auf den Leib blaſen; nichts mußte aber die Ein— bildungskraft Eliſabeths mehr anſprechen als die kriegeriſche Republik der Weiber ohne Männer, die ſich gegen die kaſti— lianiſchen Helden wehrten. Ich deute hiermit die Gründe an, welche die Schriftſteller, die die amerikaniſchen Amazonen vorzugsweiſe in Ruf gebracht, zur Ueberzeugung verführt haben; aber dieſe Gründe berechtigen uns nach meiner Anſicht nicht, eine Sage, die bei verſchiedenen, in gar keinem Verkehr miteinander ſtehenden Völkern verbreitet iſt, gänzlich zu ver— werfen. Sie Zeugniſſe, die La Condamine geſammelt, find ſehr merkwürdig; er hat dieſelben ſehr umſtändlich bekannt gemacht, und mit Vergnügen bemerke ich noch, daß dieſer Reiſende, wenn er in Frankreich und England für einen Mann von der unermüdlichſten Neugier galt, in Quito, im Lande, das er beſchrieben, im Ruf des redlichſten, wahrheitsliebendſten Mannes ſteht. Dreißig Jahre nach La Condamine hat ein portugieſiſcher Aſtronom, der den Amazonenſtrom und ſeine nördlichen Nebenflüſſe befahren, Ribeiro, alles, was der ge— lehrte Franzoſe vorgebracht, an Ort und Stelle beſtätigt ge— funden. Er fand bei den Indianern dieſelben Sagen und ſammelte ſie deſto unparteiiſcher, da er ſelbſt nicht an Amazonen glaubt, die eine beſondere Völkerſchaft gebildet hätten. Da ich keine der Sprachen verſtehe, die am Orinoko und Rio Negro geſprochen werden, ſo konnte ich hinſichtlich der Volks— — Dorado ift nicht der Name eines Landes; es bedeutet nur den Vergoldeten, el rey dorado. du — 291 — fagen von den Weibern ohne Männer und der Herkunft der grünen Steine, die damit in genauer Verbindung ſtehen ſollen, nichts Sicheres in Erfahrung bringen. Ich führe aber ein neueres Zeugnis an, das nicht ohne Gewicht iſt, das des Pater Gili. Dieſer gebildete Miſſionär ſagt: „Ich fragte einen Quaquaindianer, welche Völker am Rio Cuchivero lebten, und er nannte mir die Achirigotos, Pajuros und Aikeam— bengnos. Da ich gut tamanakiſch verſtand, war mir glei der Sinn des letzteren Wortes klar: es iſt ein zuſammengeſetztes Wort und bedeutet: Weiber, die allein leben. Der In— dianer beſtätigte dies auch und erzählte, die Aikeam-benanos ſeien eine Geſellſchaft von Weibern, die lange Blaſerohre und anderes Kriegsgerät verfertigten. Sie nehmen nur ein—⸗ mal im Jahre Männer vom anwohnenden Stamme der Vo: kearos bei ſich auf und machen ihnen zum Abſchied Blaſerohre zum Geſchenk. Alle männlichen Kinder, welche in dieſer Weiberhorde zur Welt kommen, werden ganz jung umgebracht.“ Dieſe Geſchichte erſcheint wie eine Kopie der Sagen, welche bei den Indianern am Maranon und bei den Kariben in Um: lauf ſind. Der Quaquaindianer, von dem Pater Gili ſpricht, verſtand aber nicht ſpaniſch; er hatte niemals mit Weißen verkehrt und wußte ſicher nicht, daß es ſüdlich vom Orinoko einen anderen Fluß gibt, der der Fluß der Aikeam-benanos oder der Amazonen heißt. Was folgt aus dieſem Bericht des alten Miſſionärs von Encaramada? Keineswegs, daß es am Cuchivero Amazonen gibt, wohl aber, daß in verſchiedenen Landſtrichen Amerikas Weiber, müde der Sklavendienſte, zu denen die Männer ſie verurteilen, ſich wie die flüchtigen Neger in ein Palenque zuſammengethan; daß der Trieb, ſich die Unabhängigkeit zu erhalten, ſie kriegeriſch gemacht; daß ſie von einer befreundeten Horde in der Nähe Beſuche bekamen, nur vielleicht nicht ganz jo methodiſch als in der Sage. Ein ſolcher Weiberverein durfte nur irgendwo in Guyana einmal zu einer gewiſſen Feſtigkeit gediehen ſein, ſo wurden ſehr einfache Vorfälle, wie ſie an verſchiedenen Orten vorkommen mochten, nach einem Muſter gemodelt und übertrieben. Dies iſt ja der eigentliche Charakter der Sage, und hätte der große Sklavenaufſtand, von dem oben die Rede war, nicht auf der Küſte von Venezuela, ſondern mitten im Kontinent ſtattgefunden, ſo hätte das leichtgläubige Volk in jedem Palenque von Marronnegern den Hof des Königs Miguel, ſeinen Staats: — — 292 — rat und den ſchwarzen Biſchof von Buria geſehen. Die Kariben in Terra Firma ſtanden mit denen auf den Inſeln im Verkehr, und höchſt wahrſcheinlich haben ſich auf dieſem Wege die Sagen vom Maranon und Orinoko gegen Norden verbreitet. Schon vor Orellanas Flußfahrt glaubte Chriſtoph Kolumbus auf den Antillen Amazonen gefunden zu haben. Man erzählte dem großen Manne, die kleine Inſel Mada⸗ nino (Montſerrate) ſei von kriegeriſchen Weibern bewohnt, die den größten Teil des Jahres feinen Verkehr mit Män- nern hätten. Andere Male ſahen die Konquiſtadoren einen Amazonenfreiſtaat, wo ſie nur Weiber vor ſich hatten, die in Abweſenheit der Männer ihre Hütten verteidigten, oder auch — und dieſes Mißverſtändnis iſt ſchwerer zu entſchul⸗ digen — jene religiöſen Vereine, jene Klöſter mexikaniſcher Jungfrauen, die zu keiner Zeit im Jahre Männer bei ſich aufnahmen, ſondern nach der ſtrengen Regel Quetzalcohuatls lebten. Die allgemeine Stimmung brachte es mit ſich, daß von den vielen Reiſenden, die nacheinander in der Neuen Welt Entdeckungen machten und von den Wundern derſelben berichteten, jeder auch geſehen haben wollte, was ſeine Vor⸗ gänger gemeldet hatten. Wir brachten in San Carlos del Rio Negro drei Nächte zu. Ich zähle die Nächte, weil ich ſie in der Hoffnung, den Durchgang eines Sterns durch den Meridian beobachten zu können, faſt ganz durchwachte. Um mir keinen Vorwurf machen zu dürfen, waren die Inſtrumente immer zur Beobach⸗ tung hergerichtet; ich konnte aber nicht einmal doppelte Höhen bekommen, um nach der Methode von Douwes die Breite zu berechnen. Welch ein Kontraſt zwiſchen zwei Strichen der: ſelben Zone! Dort der Himmel Cumanas, ewig heiter wie in Perſien und Arabien, und hier der Himmel am Rio Negro, dick umzogen wie auf den Faröerinſeln, ohne Sonne, Mond und Sterne! Ich verließ die Schanze San Carlos mit deſto größerem Verdruß, da ich keine Ausſicht hatte, in der Nähe des Orts eine gute Breitenbeobachtung machen zu können. Die Inklination der Magnetadel fand ich in San Carlos gleich 20° 60“; 216 Schwingungen in zehn Zeitminuten gaben das Maß der magnetiſchen Kraft. Da die magnetiſchen Ba: rallelen gegen Weſt aufwärts gehen und ich auf dem Rücken der Kordilleren zwiſchen Santa Fe de Bogota und Popayan dieſelben Inklinationswinkel beobachtet ale wie am oberen Orinoko und am Rio Negro, ſo ſind dieſe Beobachtungen für — 293 — die Theorie der Linien von gleicher Intenſität oder iſodynamiſchen Linien von großer Bedeutung geworden. Die Zahl der Schwingungen iſt in Javita und Quito dieſelbe, und doch iſt die magnetiſche Inklination am erſteren Ort 26° 40°, am zweiten 14° 85°. Nimmt man die Kraft unter dem magnetiſchen Aequator (in Peru) gleich 1 an, fo ergibt ſich für Cumana 1,1779, für Carichana 1,1575, für Javita 1,0675, für San Carlos 1,0480. In dieſem Verhältniſſe nimmt die Kraft von Nord nach Süd auf acht Breiten— graden zwiſchen 66 ¾ und 69° weſtlicher Länge von Paris ab. Ich gebe abſichtlich die Meridianunterſchiede an; denn ein Mathematiker, der auf dem Gebiete des Erdmagnetis— mus große Erfahrung beſitzt, Hanſteen, hat meine iſodyna— miſchen Beobachtungen einer neuen Prüfung unter— worfen und gefunden, daß die Intenſität der Kraft auf demſelben magnetiſchen Parallel nach ſehr konſtanten Geſetzen wechſelt und daß die ſcheinbaren Anomalieen der Erſcheinung größtenteils verſchwinden, wenn man dieſe Geſetze kennt. Im allgemeinen ſteht feſt, was für mich aus der ganzen Reihe meiner Beobachtungen hervorgeht, daß die Intenſität der Kraft vom magnetiſchen Aequator gegen den Pol zunimmt; aber dieſe Zunahme ſcheint unter verſchiedenen Meridianen mit ungleicher Geſchwindigkeit zu erfolgen. Wenn zwei Orte dieſelbe Inklination haben, ſo iſt die Intenſität weſtwärts vom Meridian, der mitten durch Südamerika läuft, am jtärk- ſten, und ſie nimmt unter demſelben Parallel oſtwärts, Europa zu, ab. In der ſüdlichen Halbkugel ſcheint ſie ihr Minimum an der Oſtküſte von Afrika zu erreichen; ſie nimmt dann unter demſelben magnetiſchen Parallel gegen Neuholland hin wieder zu. Ich fand die Intenſität der Kraft in Mexiko beinahe ſo groß wie in Paris, aber der Unterſchied in der Inklination beträgt mehr als 31°. Meine Nadel, die unter dem magne— tiſchen Aequator (in Peru) 211mal ſchwang, hätte unter demſelben Aequator auf dem Meridian der Philippinen nur 202 oder 203mal geſchwungen. Dieſer auffallende Unter⸗ ſchied ergibt ſich aus der Zuſammenſtellung meiner Beobach— tungen der Intenſität in Santa Cruz auf Tenerifa mit denen, die Roſſel daſelbſt ſieben Jahre früher gemacht. Die magnetiſchen Beobachtungen am Rio Negro ſind unter allen, die aus einem großen Feſtlande bekannt geworden, die nächſten am magnetiſchen Aequator. Sie dienten ſomit dazu, die Lage dieſes Aequators zu beſtimmen, über den ich — 294 — weiter weſtwärts auf dem Kamm der Anden zwiſchen Micui⸗ pampa und Caxamarca unter dem 7. Grad ſüdlicher Breite gegangen bin. Der magnetiſche Parallel von San Carlos (der von 22° 60) läuft durch Popayan und in die Südſee an einem Punkt (unter 3° 12° nördlicher Breite und 8936“ weſtlicher Länge), wo ich ſo glücklich war, bei ganz ſtiller Luft beobachten zu können. Geſammelte Werke Alexander von Humboldt, Achter Band. Reiſe IV. Stuttgart. Perlag der J. G. Cokka'ſchen Buchhandlung Nachfolger. Alexander von Humboldts Reiſe in die Aeguinoktial⸗Gegenden des neuen Kontinents. ü ſcher Bearbeitung von Hermann Hauff. Nach der Anordnung und unter Mitwirkung des Verfaſſers. Einzige von A. von Humboldt anerkannte Ausgabe in deutſcher Sprache. Vierter Band. Stuttgart. Perlag der I. G. Cokta'ſchen Buchhandlung Nachfolger. Reiſe in die Arguinoktial-Hegenden. A. v. Humboldt, Reife IV. 1 i 1 ich, l 7 10 HE Mn Fi f' Vierundzwanzigſtes Kapitel. Der Caſſiquiare — Gabelteilung des Orinoko. Am 10. Mai. In der Nacht war unſere Piroge ge: laden worden, und wir ſchifften uns etwas vor Sonnenauf— gang ein, um wieder den Rio Negro bis zur Mündung des Caſſiquiare hinaufzufahren und den wahren Lauf dieſes Fluſſes, der Orinoko und Amazonenſtrom verbindet, zu unterſuchen. Der Morgen war ſchön; aber mit der ſteigenden Wärme fing auch der Himmel an ſich zu bewölken. Die Luft iſt in dieſen Wäldern ſo mit Waſſer geſättigt, daß, ſobald die Verdunſtung an der Oberfläche des Bodens auch noch ſo wenig zunimmt, die Dunſtbläschen ſichtbar werden. Da der Oſtwind faſt niemals zu ſpüren iſt, ſo werden die feuchten Schichten nicht durch trockenere Luft erſetzt. Dieſer bedeckte Himmel machte uns mit jedem Tage verdrießlicher. Bonpland verdarben bei der übermäßigen Feuchtigkeit ſeine geſammelten Pflanzen und ich beſorgte auch im Thal des Caſſiquiare das trübe Wetter des Rio Negro anzutreffen. Seit einem halben Jahrhundert zwei— felte kein Menſch in dieſen Miſſionen mehr daran, daß hier wirklich zwei große Stromſyſteme miteinander in Verbindung ſtehen; der Hauptzweck unſerer Flußfahrt beſchränkte ſich alſo darauf, mittels aſtronomiſcher Beobachtungen den Lauf des Caſſiquiare aufzunehmen, beſonders den Punkt, wo er in den Rio Negro tritt, und den anderen, wo der Orinoko ſich gabelt. Waren weder Sonne noch Sterne ſichtbar, ſo war dieſer Zweck nicht zu erreichen und wir hatten uns vergeblich langen, ſchweren Mühſeligkeiten unterzogen. Unſere Reiſegefährten wären gern auf dem kürzeſten Wege über den Pimichin und die kleinen Flüſſe heimgekehrt; aber Bonpland beharrte mit mir auf dem Reiſeplane, den wir auf der Fahrt durch die großen Katarakte entworfen. Bereits hatten wir von San Fernando de Apure nach San Carlos (über den Apure, . Orinoko, Atabapo, Temi, Tuamini und Rio Negro) 810 km zurückgelegt. Gingen wir auf dem Caſſiquiare in den Orinoko zurück, ſo hatten wir von San Carlos bis Angoſtura wieder 1440 km zu machen. Auf dieſem Wege hatten wir zehn Tage lang mit der Strömung zu kämpfen, im übrigen ging es immer den Orinoko hinab. Es wäre eine Schande für uns geweſen, hätte uns der Aerger wegen des trüben Himmels oder die Furcht vor den Moskiten auf dem Caſſiquiare den Mut benommen. Unſer indianiſcher Steuermann, der erſt kürzlich in Mandavaca geweſen war, ſtellte uns die Sonne und „die großen Sterne, welche die Wolken eſſen“, in Ausſicht, ſobald wir die ſchwarzen Waſſer des Rio Negro hinter uns haben würden. So brachten wir denn unſer erſtes Vorhaben, über den Caſſiquiare nach San Fer: nando am Atabapo zurückzugehen, in Ausführung, und zum Glück für unſere Arbeiten ging die Prophezeiung des In— dianers in Erfüllung. Die weißen Waſſer brachten uns nach und nach wieder heiteren Himmel, Sterne, Moskiten und Krokodile. Wir fuhren zwiſchen den dichtbewachſenen Inſeln Zaruma und Mini oder Mibita durch, und liefen, nachdem wir die Stromſchnellen an der Piedra de Uinumane hinaufgegangen, 15 km weit von der Schanze San Carlos in den Rio Caſſiquiare ein. Jene Piedra, das Granitgeſtein, das den kleinen Katarakt bildet, zog durch die vielen Quarzgänge darin unſere Aufmerkſamkeit auf ſich. Die Gänge waren mehrere Zoll breit, und ihren Maſſen nach waren ſie augenſcheinlich nach Alter und Formation untereinander ſehr verſchieden. Ich ſah deutlich, daß überall an den Kreuzungsſtellen die Gänge, welche Glimmer und ſchwarzen Schörl führten, die anderen, welche nur weißen Quarz und Feldſpat enthielten, durchſetzten und verwarfen. Nach Werners Theorie waren alſo die ſchwarzen Gänge von neuerer Formation als die weißen. Als Zögling der Freiberger Bergſchule mußte ich mit einer ge— wiſſen Befriedigung beim Fels Uinumane verweilen und in der Nähe des Aequators Erſcheinungen beobachten, die ich in den heimiſchen Bergen ſo oft vor Augen gehabt. Ich geſtehe, die Theorie, nach welcher die Gänge Spalten ſind, die mit verſchiedenen Subſtanzen von oben her ausgefüllt worden, behagt mir jetzt nicht mehr ſo ganz wie damals; aber dieſes ſich Durchkreuzen und Verwerfen von Geſtein- und Metall— adern verdient darum doch, als eines der allgemeinſten und * — gleichförmigſten geologiſchen Phänomene, die volle Aufmerkſam— keit des Reiſenden. Oſtwärts von Javita, längs des ganzen Caſſiquiare, beſonders aber in den Bergen von Duida ver— mehren ſich die Gänge im Granit. Dieſelben ſind voll von Druſen, und ihr häufiges Vorkommen ſcheint auf ein nicht ſehr hohes Alter des Granites in dieſem Landſtriche hinzu— deuten. Wir fanden einige Flechten auf dem Felſen Uinumane, der Inſel Chamanare gegenüber, am Rande der Stromſchnellen; und da der Caſſiquiare bei ſeiner Mündung eine raſche Wen— dung von Oſt nach Südweſt macht, ſo lag jetzt zum erſtenmal dieſer majeſtätiſche Arm des Orinoko in ſeiner ganzen Breite vor uns da. Er gleicht, was den allgemeinen Charakter der Landſchaft betrifft, ſo ziemlich dem Rio Negro. Wie im Becken dieſes Fluſſes laufen die Waldbäume bis ans Ufer vor und bilden ein Dickicht; aber der Caſſiquiare hat weißes Waſſer und ändert ſeine Richtung öfter. Bei den Strom— ſchnellen am Uinamare iſt er faſt breiter als der Rio Negro und bis über Vaſiva hinauf fand ich ihn überall 490 bis 545 m breit. Ehe wir an der Inſel Garigave vorbei kamen, ſahen wir gegen Nordoſten beinahe am Horizont einen Hügel mit halbkugeligem Gipfel. Dieſe Form iſt in allen Himmels— ſtrichen den Granitbergen eigentümlich. Da man fortwährend von weiten Ebenen umgeben iſt, ſo hängt ſich die Aufmerk— ſamkeit des Reiſenden an jeden freistehenden Fels und Hügel. Zuſammenhängende Berge kommen erſt weiter nach Oſt, den Quellen des Pacimoni, Siapa und Mavaca zu. Südlich vom Raudal von Caravine bemerkten wir, daß der Caſſiquiare auf ſeinem gekrümmten Laufe San Carlos wieder nahe kommt. Von der Schanze in die Miſſion San Francisco, wo wir übernachteten, ſind es zu Lande nur 11 bis 12 km, während man auf dem Fluſſe 30 bis 36 km rechnet. Ich verweilte einen Teil der Nacht im Freien in der vergeblichen Hoffnung, die Sterne zum Vorſchein kommen zu ſehen. Die Luft war nebelig trotz der weißen Waſſer, die uns einem allezeit ſternenhellen Himmel entgegenführen ſollten. Die Miſſion San Francisco Solano auf dem linken Ufer des Caſſiquiare heißt ſo zu Ehren eines der Befehlshaber bei der „Grenzexpedition“, Don Joſeph Solano, von dem wir in dieſem Werke ſchon öfter zu Sprechen Gelegenheit gehabt. Dieſer gebildete Offizier iſt nie über das Dorf San Fernando am Atabapo hinausgekommen; er hat weder die Gewäſſer — 6 des Rio Negro und des Caſſiquiare, noch den Orinoko oſt— wärts vom Einfluſſe des Guaviare geſehen. Infolge eines Mißverſtändniſſes, das aus der Unkenntnis der ſpaniſchen Sprache entſprang, meinten manche Geographen auf La Cruz Olmedillas berühmter Karte einen 1800 km langen Weg an— gegeben zu finden, auf dem Don Joſeph Solano zu den Quellen des Orinoko, an den See Parime oder das Weiße Meer, an die Ufer des Cababury und Uteta gekommen ſein ſollte. Die Miſſion San Francisco wurde, wie die meiſten chriſtlichen Niederlaſſungen ſüdlich von den großen Katarakten des Orinoko, nicht von Mönchen, ſondern von Militärbehör— den gegründet. Bei der Grenzexpedition legte man Dörfer an, wo ein Subteniente oder Korporal mit feiner Mann: ſchaft Poſto gefaßt hatte. Die Eingeborenen, die ihre Un— abhängigkeit behaupten wollten, zogen ſich ohne Gefecht zurück, andere, deren einflußreichſte Häuptlinge man gewonnen, ſchloſſen ſich den Miſſionen an. Wo man keine Kirche hatte, richtete man nur ein großes Kreuz aus rotem Holze auf und baute daneben eine Casa fuerte, das heißt ein Haus, deſſen Wände aus ſtarken, wagerecht übereinander gelegten Balken beſtanden. Dasſelbe hatte zwei Stockwerke; im oberen ſtanden zwei Stein— böller oder Kanonen von kleinem Kaliber; zu ebener Erde hauſten zwei Soldaten, die von einer indianiſchen Familie bedient wurden. Die Eingeborenen, mit denen man im Frieden lebte, legten ihre Pflanzungen um die Casa fuerte an. Hatte man einen feindlichen Angriff zu fürchten, ſo wurden ſie von den Soldaten mit dem Horn oder einem Botuto aus ge— brannter Erde zuſammengerufen. So waren die neunzehn angeblichen chriſtlichen Niederlaſſungen beſchaffen, die Don Antonio Santos auf dem Wege von Esmeralda bis zum Everato gegründet. Militärpoſten, die mit der Civiliſation der Eingeborenen gar nichts zu thun hatten, waren auf den Karten und in den Schriften der Miſſionäre als Dörfer (pueblos) und rediceiones apostolicas angegeben. Die Mili— tärbehörde behielt am Orinoko die Oberhand bis zum Jahre 1785, mit dem das Regiment der Franziskaner ſeinen Anfang nimmt. Die wenigen Miſſionen, die ſeitdem gegründet oder vielmehr wiederhergeſtellt worden, ſind das Werk der Obſer— vanten, und die Soldaten, die in den Miſſionen liegen, ſtehen jetzt unter den Miſſionären, oder die geiſtliche Hierarchie maßt ſich doch dieſes Verhältnis an. Die Indianer, die wir in San Francisco Solano trafen, vo gehörten zwei Nationen an, den Pacimonales und den Cheru: vichahenas. Da letztere Glieder eines anſehnlichen Stammes ſind, der am Rio Tomo in der Nachbarſchaft der Manivas am oberen Rio Negro hauſt, ſo ſuchte ich von ihnen über den oberen Lauf und die Quellen dieſes Fluſſes Erkundigung einzuziehen; aber mein Dolmetſcher konnte ihnen den Sinn meiner Fragen nicht deutlich machen. Sie wiederholten nur zum Ueberdruß, die Quellen des Rio Negro und des Inirida ſeien ſo nahe beiſammen, „wie die Finger der Hand“. In einer Hütte der Pacimonales kauften wir zwei ſchöne, große Vögel, einen Tukan (Piapoco), der dem Ramphastos erythro- rynchos nahe ſteht, und den Ana, eine Art Ara, 45 em lang, mit durchaus purpurrotem Gefieder, gleich dem Psittacus Macao. Wir hatten in unſerer Piroge bereits ſieben Papa— geien, zwei Felshühner, einen Motmot, zwei Guane oder Pavas de Monte, zwei Manaviri (Cercoleptes oder Viverra caudivolvula) und acht Affen, nämlich zwei Atelen (die Marimonda von den großen Katarakten, Briſſots Simia Belzebuth), zwei Titi (Simia sciurea, Buffons Saimiri), eine Viudita (Simia lugens), zwei Douroucouli oder Nacht: affen (Cuſicuſi oder Simia trivirgata), und den Cacajao mit kurzem Schwanz (Simia melanocephala).“ Pater Zea war auch im ſtillen ſehr ſchlecht damit zufrieden, daß ſich unſere wandernde Menagerie mit jedem Tage vermehrte. Der Tukan gleicht nach Lebensweiſe und geiſtiger Anlage dem Raben; es iſt ein mutiges, leicht zu zähmendes Tier. Sein langer Schnabel dient ihm als Verteidigungswaffe. Er macht ſich zum Herrn im Hauſe, ſtiehlt, was er erreichen kann, badet ſich oft und fiſcht gern am Ufer des Stromes. Der Tukan, den wir gekauft, war ſehr jung, dennoch neckte er auf der ganzen Fahrt mit ſichtbarer Luſt die Cuſicuſi, die trübſeligen, zornmütigen Nachtaffen. Ich habe nicht bemerkt, daß, wie in manchen naturgeſchichtlichen Werken ſteht, der Tukan in— folge des Baues ſeines Schnabels ſein Futter in die Luft werfen und ſo verſchlingen müßte. Allerdings nimmt er das— ſelbe etwas ſchwer vom Boden auf; hat er es aber einmal mit der Spitze ſeines ungeheuren Schnabels gefaßt, ſo darf er nur den Kopf zurückwerfen und den Schnabel, ſolange er ſchlingt, aufrecht halten. Wenn er trinken will, macht der 1 Die drei letztgenannten Arten ſind neu. en Vogel ganz ſeltſame Gebärden. Die Mönche jagen, er mache das Zeichen des Kreuzes über dem Waſſer, und wegen dieſes Volksglaubens haben die Kreolen dem Tukan den ſonderbaren Namen Diostede (Gott vergelt's dir) geſchöpft. Unſere Tiere waren meiſt in kleinen Holzkäfigen, manche liefen aber frei überall auf der Piroge herum. Wenn Regen drohte, erhoben die Ara ein furchtbares Geſchrei, und der Tukan wollte ans Ufer, um Fiſche zu fangen, die kleinen Titiaffen liefen Pater Zea zu und krochen in die ziemlich weiten Aermel ſeiner Franziskanerkutte. Dergleichen Auftritte kamen oft vor und wir vergaßen darüber der Plage der Mos— kiten. Nachts im Biwak ſtellte man in die Mitte einen ledernen Kaſten (petaca) mit dem Mundvorrat, daneben unſere Inſtrumente und die Käfige mit den Tieren, ringsum wurden unſere Hängematten befeſtigt und weiterhin die der Indianer. Die äußerſte Grenze bildeten die Feuer, die man anzündet, um die Jaguare im Walde ferne zu halten. So war unſer Nachtlager am Ufer des Caſſiquiare angeordnet. Die Indianer ſprachen oft von einem kleinen Nachttier mit langer Naſe, das die jungen Papageien im Neſte überfalle und mit den Händen freſſe wie die Affen und die Manaviri oder Kin— kaju. Sie nannten es Guachi; es iſt wahrſcheinlich ein Coati, vielleicht Viverra nasua, die ich in Mexiko im freien Zuſtande geſehen, nicht aber in den Strichen von Südamerika, die ich bereiſt. Die Miſſionäre verbieten den Eingeborenen alles Ernſtes, das Fleiſch des Guachi zu eſſen, da ſie einen weit verbreiteten Glauben teilen und dieſem Fleiſche ſtimulie— rende Eigenſchaften zuſchreiben, wie die Orientalen dem Fleiſche der Skinko (Lacerta seineus) und die Amerikaner dem der Kaimane. Am 11. Mai. Wir brachen ziemlich ſpät von der Miſſion San Francisco Solano auf, da wir nur eine kleine Tagereiſe machen wollten. Die untere Dunſtſchicht fing an, ſich in Wolken mit feſten Umriſſen zu teilen, und in den oberen Luftregionen ging etwas Oſtwind. Dieſe Zeichen deuteten auf einen bevorſtehenden Witterungswechſel, und wir wollten uns nicht weit von der Mündung des Caſſiquiare entfernen, da wir hoffen durften, in der folgenden Nacht den Durchgang eines Sternes durch den Meridian beobachten zu können. Wir ſahen ſüdwärts den Cano Daquiapo, nordwärts den Guacha— paru und einige Seemeilen weiterhin die Stromſchnellen von Cananivacari. Die Strömung betrug 2,05 m in der Sekunde, Au re und ſo hatten wir im Raudal mit Wellen zu kämpfen, die ein ziemlich ſtarkes Scholken verurſachten. Wir ſtiegen aus und Bonpland entdeckte wenige Schritte vom Ufer einen Al— mandron (Juvia), einen prachtvollen Stamm der Berthol- letia excelsa. Die Indianer verſicherten uns, in San Fran: cisco Solano, Vaſiva und Esmeralda wiſſe man nichts davon, daß dieſer koſtbare Baum am Caſſiquiare wachſe. Sie glaub— ten übrigens nicht, daß der Baum, der über 20 m hoch war, aus Samen aufgewachſen, die zufällig ein Reiſender verſtreut. Nach Verſuchen, die man in San Carlos gemacht, weiß man, daß die Bertholletia wegen der holzigen Fruchthülle und des leicht ranzig werdenden Oeles der Mandel ſehr ſelten zum Keimen zu bringen iſt. Vielleicht war dieſer Stamm ein An— zeichen, daß tiefer im Lande gegen Oſt und Nordoſt eine Waldung von Bertholletia beſteht. Wir wiſſen wenigſtens beſtimmt, daß dieſer ſchöne Baum unter dem 3. Grade der Breite in den Cerros von Guyana wild vorkommt. Die geſellig lebenden Gewächſe haben ſelten ſcharf abgeſchnittene Grenzen, und häufig ſtößt man, bevor man zu einem Palmar oder einem Pinal! gelangt, auf einzelne Palmen oder Fichten. Dieſelben gleichen Koloniſten, die in ein mit anderen Gewächſen bevölkertes Land ſich hinausgewagt haben. Sieben bis acht Kilometer von den Stromſchnellen von Cananivacari ſtehen mitten in der Ebene ſeltſam geſtaltete Felſen. Zuerſt kommt eine ſchmale, 26 m hohe ſenkrechte Mauer, und dann, am ſüdlichen Ende derſelben, erſcheinen zwei Türmchen mit faſt horizontalen Granitſchichten. Dieſe Felſen von Gua— nari ſind ſo ſymmetriſch gruppiert, daß ſie wie die Trümmer eines alten Gebäudes erſcheinen. Sind es Ueberbleibſel von Eilanden in einem Binnenmeere, das einſt das völlig ebene Land zwiſchen der Sierra Parime und der Sierra dos Parecis bedeckte, oder wurden dieſe Felswände, dieſe Granittürme von den elaſtiſchen Kräften, die noch immer im Inneren unſeres Planeten thätig ſind, emporgehoben? Von ſelbſt Zwei ſpaniſche Worte, die, entſprechend einer lateiniſchen Form, Palmwälder (palmetum) und Fichtenwälder (pinetum) be— deuten. Ich nenne hier die zwei von Oſten nach Weſten ſtreichen— den Bergketten, welche zwiſchen 3“ 30° nördlicher und 14° ſüd— licher Breite die Thäler oder Becken des Caſſiquiare, Rio Negro und Amazonenſtromes begrenzen. ar grübelt der Gedanke über die Entſtehung der Berge, wenn man in Mexiko Vulkane und Trachytgipfel auf einer langen Spalte ſtehen, in den Anden von Südamerika Urgebirgs- und vulkaniſche Bildungen in einer Bergkette lang hingeſtreckt ſah, wenn man der ungemein hohen Inſel von 5,6 km Umfang gedenkt, die in jüngſter Zeit bei Unalaſchka vom Boden des Weltmeeres aufgeſtiegen. Eine Zierde der Ufer des Caſſiquiare iſt die Chiriva— palme mit gefiederten, an der unteren Fläche ſilberweißen Blättern. Sonſt beſteht der Wald nur aus Bäumen mit großen, lederartigen, glänzenden, nicht gezahnten Blättern. Dieſen eigentümlichen Charakter erhält die Vegetation am Rio Negro, Tuamini und Caſſiquiare dadurch, daß in der Nähe des Aequators die Familien der Guttiferen, der Sapotillen und der Lorbeeren vorherrſchen. Da der heitere Himmel uns eine ſchöne Nacht verhieß, ſchlugen wir ſchon um fünf Uhr abends unſer Nachtlager bei der Piedra de Culimacari auf, einem freiſtehenden Granitfelſen, gleich allen zwiſchen Atabapo und Caſſiquiare, deren ich Erwähnung gethan. Da wir die Flußkrümmungen aufnahmen, zeigte es ſich, daß dieſer Fels ungefähr unter dem Parallel der Miſſion San Francisco Solano liegt. In dieſen wüſten Ländern, wo der Menſch bis jetzt nur flüchtige Spuren ſeines Dafeins hinterlaſſen hat, ſuchte ich meine Beobachtungen immer an einer Flußmündung oder am Fuße eines an ſeiner Geſtalt leicht kenntlichen Felſens anzuſtellen. Nur ſolche von Natur unverrückbare Punkte können bei Entwerfung geographiſcher Karten als Grundlagen dienen. In der Nacht vom 10. zum 11. Mai konnte ich an 4 des ſüdlichen Kreuzes die Breite gut beobachten; die Länge wurde, indeſſen nicht ſo genau, nach den zwei ſchönen Sternen an den Füßen des Kentauren chronometriſch beſtimmt. Durch dieſe Beobachtung wurde, und zwar für geographiſche Zwecke hinlänglich genau, die Lage der Mündung des Rio Paeimoni, der Schanze San Carlos und des Einfluſſes des Caſſiquiare in den Rio Negro zumal ermittelt. Der Fels Culimacari liegt ganz genau, unter 20,42“ der Breite und wahrſchein⸗ lich unter 69“ 33° 50“ der Länge. In zwei ſpaniſch ge— ſchriebenen Abhandlungen, die ich dem Generalkapitän von Caracas und dem Miniſter Staatsſekretär d'Urquijo überreicht, habe ich den Wert dieſer aſtronomiſchen Beſtimmungen für die Berichtigung der Grenzen der portugieſiſchen Kolonieen auseinandergeſetzt. Zur Zeit von Solanos Expedition ſetzte ze Ri man den Einfluß des Caſſiquiare in den Rio Negro einen en Grad nördlich vom Aequator, und obgleich die Grenz: ommiſſion niemals zu einem Endreſultate gelangte, galt in den Kommiſſionen immer der Aequator als vorläufig anerkannte Grenze. Aus meinen Beobachtungen ergibt ſich nun aber, daß San Carlos am Rio Negro, oder, wie man ſich hier vornehm ausdrückt, die Grenzfeſtung keineswegs unter 020“, wie Pater Caulin behauptet, noch unter 0° 53°, wie La Cruz und Surville (die offiziellen Geographen der Real Expedicion de limites) annehmen, ſondern unter 1° 53“ 42“ der Breite liegt. Der Aequator läuft alſo nicht nördlich vom portugie— ſiſchen Fort San Joſe de Marabitanos, wie bis jetzt alle Karten mit Ausnahme der neuen Ausgabe der Arrowſmitſchen Karte angeben, ſondern 112 km weiter gegen Süd zwiſchen San Felipe und der Mündung des Rio Guape. Aus der handſchriftlichen Karte Requenas, die ich beſitze, geht hervor, daß dieſe Thatſache den portugieſiſchen Aſtronomen ſchon im Jahre 1783 bekannt war, alſo 35 Jahre bevor man in Europa anfing, dieſelbe in die Karten aufzunehmen. Da man in der Capitania general von Caracas von jeher der Meinung war, der geſchickte Ingenieur Don Gabriel Clavero habe die Schanze San Carlos del Rio Negro gerad: auf die Aequinoktiallinie gebaut, und da in der Nähe der— ſelben die beobachteten Breiten, nach La Condamine, gegen Süd zu groß angenommen waren, ſo war ich darauf gefaßt, den Aequator 1“ nördlich von San Carlos, demnach an den Ufern des Temi und Tuamini zu finden. Schon die Beobach— tungen in der Miſſion San Baltaſar (Durchgang dreier Sterne durch den Meridian) ließen mich vermuten, daß dieſe Annahme unrichtig ſei; aber erſt durch die Breite der Piedra Culimacari lernte ich die wirkliche Lage der Grenze kennen. Die Inſel San Joſe im Rio Negro, die bisher als Grenze zwiſchen den ſpaniſchen und portugieſiſchen Beſitzungen galt, liegt wenigſtens unter 1° 38° nördlicher Breite, und hätte Ituriagas und Solanos Kommiſſion ihre langen Verhand— lungen zum Abſchluß gebracht, wäre der Aequator vom Hofe zu Liſſabon definitiv als Grenze beider Staaten anerkannt worden, ſo gehörten jetzt ſechs portugieſiſche Dörfer und das Fort San Joſe ſelbſt, die nördlich vom Rio Guape liegen, der ſpaniſchen Krone. Was man damals mit ein paar ge— nauen aſtronomiſchen Beobachtungen erworben hätte, iſt von größerem Belang, als was man jetzt beſitzt; es iſt aber zu hoffen, daß zwei Völker, welche auf einer ungeheuren Land: ſtrecke Südamerikas oſtwärts von den Anden die erſten Keime der Kultur gelegt haben, den Grenzſtreit um einen 148 km breiten Landſtrich und um den Beſitz eines Fluſſes, auf dem die Schiffahrt frei ſein muß, wie auf dem Orinoko und dem Amazonenſtrom, nicht wieder aufnehmen werden. Am 12. Mai. Befriedigt vom Erfolge unſerer Beobach— tungen, brachen wir um halb zwei Uhr in der Nacht von der Piedra Culimacari auf. Die Plage der Moskiten, der wir jetzt wieder unterlagen, wurde ärger, je weiter wir vom Rio Negro wegkamen. Im Thale des Caſſiquiare gibt es keine Zancudos (Culex), aber die Inſekten aus der Gattung Si— mulium und alle anderen aus der Familie der Tibulä ſind um ſo häufiger und giftiger. Da wir, ehe wir in die Miſſion Esmeralda kamen, in dieſem naſſen, ungeſunden Klima noch acht Nächte unter freiem Himmel zuzubringen hatten, ſo war es der Steuermann wohl zufrieden, die Fahrt ſo einzurichten, daß wir die Gaſtfreundſchaft des Miſſionärs von Mandavaca in Anſpruch nehmen und im Dorfe Vaſiva Obdach finden konnten. Nur mit Anſtrengung kamen wir gegen die Strö— mung vorwärts, die 2,9 m, an manchen Stellen, wo ich ſie genau gemeſſen, 3,78 m in der Sekunde, alſo gegen 15 km in der Stunde betrug. Unſer Nachtlager war in gerader Linie ſchwerlich 3 qkm von der Miſſion Mandavaca ent— fernt, unſere Ruderer waren nichts weniger als unfleißig, und doch brauchten wir 14 Stunden zu der kurzen Strecke. Gegen Sonnenuntergang kamen wir an der Mündung des Rio Pacimoni vorüber. Es iſt dies der Fluß, von dem oben bei Gelegenheit des Handels mit Sarſaparille die Rede war und der in ſo auffallender Weiſe (durch den Baria) mit dem Cababuri verzweigt iſt. Der Pacimoni entſpringt in einem bergigen Landſtriche und aus der Vereinigung dreier kleiner Gewäſſer, die auf den Karten der Miſſionäre nicht verzeichnet ſind. Sein Waſſer iſt ſchwarz, doch nicht ſo ſtark als das des Sees bei Vaſiva, der auch in den Caſſiquiare mündet. Zwiſchen dieſen beiden Zuflüſſen von Oſt her liegt die Mündung des Rio Idapa, der weißes Waſſer hat. Ich komme nicht darauf zurück, wie ſchwer es zu erklären iſt, daß dicht nebeneinander verſchieden gefärbte Flüſſe vorkommen; ich erwähne nur, daß uns an der Mündung des Pacimoni und am Ufer des Sees Vaſiva die Reinheit und ungemeine Durch— ſichtigkeit dieſer braunen Waſſer von neuem auffiel. Bereits ee alte arabiſche Reiſende haben die Bemerkung gemacht, daß der aus dem Hochgebirge kommende Nilarm, der ſich bei Halfaja mit dem Bahr el Abiad vereinigt, grünes Waſſer hat, das ſo durchſichtig iſt, daß man die Fiſche auf dem Grunde des Fluſſes ſieht.! Ehe wir in die Miſſion Mandavaca kamen, liefen wir durch ziemlich ungeſtüme Stromſchnellen. Das Dorf, das auch Quirabuena heißt, zählt nur 60 Eingeborene. Dieſe chriſtlichen Niederlaſſungen befinden ſich meiſt in ſo kläglichem Zuſtande, daß längs des ganzen Caſſiquiare auf einer Strecke von 225 km keine 200 Menſchen leben. Ja die Ufer des Fluſſes waren bevölkerter, ehe die Miſſionäre ins Land kamen. Die Indianer zogen ſich in die Wälder gegen Oſt, denn die Ebenen gegen Weſt ſind faſt menſchenleer. Die Eingeborenen leben einen Teil des Jahres von den großen Ameiſen, von denen oben die Rede war. Dieſe Inſekten ſind hierzulande ſo ſtark geſucht wie in der ſüdlichen Halbkugel die Spinnen der Sippe Epeira, die für die Wilden auf Neuholland ein Leckerbiſſen ſind. In Mandavaca fanden wir den guten alten Miſſionär, der Verte „ſeine zwanzig Moskitojahre in den Bosques del Caſſiquiare“ zugebracht hatte und deſſen Beine von den Stichen der Inſekten ſo gefleckt waren, daß man kaum ſah, daß er eine weiße Haut hatte. Er ſprach uns von ſeiner Verlaſſenheit, und wie er ſich in der traurigen Notwendigkeit ſehe, in den beiden Miſſionen Mandavaca und Vaſiva häufig die abſcheulichſten Verbrechen ſtraflos zu laſſen. Es iſt auffallend, daß der Blaue Nil (Bahr el azrek) bei manchen arabiſchen Geographen der Grüne Nil heißt, und daß die perſiſchen Dichter zuweilen den Himmel grün (akhzar), ſowie den Beryll blau (zark) nennen. Man kann doch nicht annehmen, daß die Völker vom ſemitiſchen Namen in ihren Sinneseindrücken grün und blau verwechſeln, wie nicht ſelten ihr Ohr die Vokale o und u, e und i verwechſelt. Das Wort azrek wird von jedem ſehr klaren, nicht milchigen Waſſer gebraucht, und abirank (waſſer— farbig) bedeutet blau. Abd-Allatif, wo er vom klaren grünen Arm des Nil ſpricht, der aus einem See im Gebirge ſüdöſtlich von Sennaar entſpringt, ſchreibt bereits die grüne Farbe dieſes Alpenſees „vegetabiliſchen Subſtanzen zu, die ſich in den ſtehen— den Waſſern in Menge finden“. Weiter oben habe ich die ge— färbten, unrichtig aguas negras genannten Waſſer ebenſo erklärt. Ueberall ſind die klarſten, durchſichtigſten Waſſer gerade ſolche, die nicht weiß ſind. — 1 Vor wenigen Jahren hatte im letzteren Ort ein indianiſcher Alkade eines ſeiner Weiber verzehrt, die er in ſeinen Conuco! hinausgenommen und gut genährt hatte, um ſie fett zu machen. Wenn die Völker in Guyana Menſchenfleiſch eſſen, ſo werden ſie nie durch Mangel oder durch gottesdienſtlichen Aberglauben dazu getrieben, wie die Menſchen auf den Süd— ſeeinſeln; es beruht meiſt auf Rachſucht des Siegers und — wie die Miſſionäre ſagen — auf „Verirrung des Appetites“. Der Sieg über eine feindliche Horde wird durch ein Mahl gefeiert, wobei der Leichnam eines Gefangenen zum Teil ver— zehrt wird. Ein andermal überfällt man bei Nacht eine wehrloſe Familie oder tötet einen Feind, auf den man zufällig im Walde ſtößt, mit einem vergifteten Pfeil. Der Leichnam wird zerſtückt und als Trophäe nach Hauſe getragen. Erſt die Kultur hat dem Menſchen die Einheit des Menſchen— geſchlechtes zum Bewußtſein gebracht und ihm offenbart, daß ihn auch mit Weſen, deren Sprache und Sitten ihm fremd ſind, ein Band der Blutsverwandtſchaft verbindet. Die Wil— den kennen nur ihre Familie, und ein Stamm erſcheint ihnen nur als ein größerer Verwandtſchaftskreis. Kommen Indianer, die ſie nicht kennen, aus dem Walde in die Miſſion, ſo brauchen ſie einen Ausdruck, deſſen naive Einfalt mir oft aufgefallen iſt: „Gewiß ſind dies Verwandte von mir, denn ich verſtehe ſie, wenn ſie mit mir ſprechen.“ Die Wilden verabſcheuen alles, was nicht zu ihrer Familie oder ihrem Stamme gehört, und Indianer einer benachbarten Völkerſchaft, mit der ſie im Kriege leben, jagen ſie, wie wir das Wild. Die Pflichten gegen Familie und Verwandtſchaft ſind ihnen wohl bekannt, keineswegs aber die Pflichten der Menſchlichkeit, die auf dem Bewußtſein beruhen, daß alle Weſen, die ge— ſchaffen ſind wie wir, ein Band umſchlingt. Keine Regung von Mitleid hält ſie ab, Weiber oder Kinder eines feindlichen Stammes ums Leben zu bringen. Letztere werden bei den Mahlzeiten nach einem Gefecht oder einem Ueberfall vorzugs— weiſe verzehrt. Der Haß der Wilden faſt gegen alle Menſchen, die eine andere Sprache reden und ihnen als Barbaren von nied— rigerer Raſſe als ſie ſelbſt erſcheinen, bricht in den Miſſionen Eine Hütte auf einem angebauten Grundſtücke, eine Art Landhaus, wo ſich die Eingeborenen lieber aufhalten als in den Miſſionen. 2 „ a nicht ſelten wieder zu Tage, nachdem er lange geſchlummert. Wenige Monate vor unſerer Ankunft in Esmeralda war ein im Walde! hinter dem Duida geborener Indianer allein unter: wegs mit einem anderen, der von den Spaniern am Ventuario gefangen worden war und ruhig im Dorfe, oder, wie man hier jagt, „unter der Glocke“, „debaxo de la campana“, lebte. Letzterer konnte nur langſam gehen, weil er an einem Fieber litt, wie ſie die Eingeborenen häufig befallen, wenn ſie in die Miſſionen kommen und raſch die Lebensweiſe ändern. Sein Reiſegefährte ärgerlich über den Aufenthalt, ſchlug ihn tot und verſteckte den Leichnam in dichtem Gebüſch in der Nähe von Esmeralda. Dieſes Verbrechen, wie ſo manches dergleichen, was unter den Indianern vorfällt, wäre unent— deckt geblieben, hätte nicht der Mörder Anſtalt gemacht, tags darauf eine Mahlzeit zu halten. Er wollte ſeine Kinder, die in der Miſſion geboren und Chriſten geworden waren, be— reden, mit ihm einige Stücke des Leichnams zu holen. Mit Mühe brachten ihn die Kinder davon ab, und durch den Zank, zu dem die Sache in der Familie führte, erfuhr der Sol— dat, der in Esmeralda lag, was die Indianer ihm ſo gerne verborgen hätten. Anthropophagie und Menſchenopfer, die ſo oft damit verknüpft ſind, kommen bekanntlich überall auf dem Erdballe und bei Völkern der verſchiedenſten Raſſen vor;? aber bejon- ders auffallend erſcheint in der Geſchichte der Zug, daß die Menſchenopfer ſich auch bei bedeutendem Kulturfortſchritt er— Eu el monte. Man unterſcheidet zwiſchen Indianern, die in den Miſſionen, und ſolchen, die in den Wäldern geboren ſind. Das Wort monte wird in den Kolonieen häufiger für Wald (bosque) gebraucht als für Berg, und dieſer Umſtand hat auf unſeren Karten große Irrtümer veranlaßt, indem man Bergketten (sierras) einzeichnete, wo nichts als dicker Wald, monte espeso, iſt. Einige Fälle, wo von Negern auf Cuba Kinder geraubt wurden, gaben in den ſpaniſchen Kolonieen Anlaß zum Glauben, als gäbe es unter den afrikaniſchen Völkerſchaften Anthropophagen. Einige Reiſende behaupten ſolches, es wird aber durch Barrows Beobachtungen im inneren Afrika widerlegt. Abergläubiſche Ge— bräuche mögen Anlaß zu Beſchuldigungen gegeben haben, die wohl ſo ungerecht ſind als die, unter denen in den Zeiten der Intoleranz und der Verfolgungsſucht die Juden zu leiden hatten. [Die Exiſtenz von Kannibalenvölkern in Afrika iſt durch die neueren Forſchungen jeglichem Zweifel entrückt. — D. Herausg.] a halten, und daß die Völker, die eine Ehre darin ſuchen, ihre Gefangenen zu verzehren, keineswegs immer die verſunkenſten und wildeſten ſind. Dieſe Bemerkung hat etwas peinlich Er— greifendes, Niederſchlagendes; ſie entging auch nicht den Miſ— ſionären, die gebildet genug ſind, um über die Sitten der Völkerſchaften, unter denen ſie leben, nachzudenken. Die Cabres, die Guipunavis und die Kariben waren von jeher mächtiger und civiliſierter als die anderen Horden am Orinoko, und doch ſind die beiden erſteren Menſchenfreſſer, während es die letzteren niemals waren. Man muß zwiſchen den ver— ſchiedenen Zweigen, in welche die große Familie der karibiſchen Völker zerfällt, genau unterſcheiden. Dieſe Zweige ſind ſo zahlreich, wie die Stämme der Mongolen und weſtlichen Ta— taren oder Turkomannen. Die Kariben auf dem Feſtlande, auf den Ebenen zwiſchen dem unteren Orinoko, dem Rio Branco, dem Eſſequibo und den Quellen des Oyapoe verab— ſcheuen die Sitte, die Gefangenen zu verzehren. Dieſe bar— bariſche Sitte! beſtand bei der Entdeckung von Amerika nur bei den Kariben auf den antilliſchen Inſeln. Durch ſie ſind die Worte Kannibalen, Kariben und Menſchenfreſſer gleich— bedeutend geworden, und die von ihnen verübten Grauſam— keiten veranlaßten das im Jahre 1504 erlaſſene Geſetz, das den Spaniern geſtattet, jeden Amerikaner, der erweislich kari— biſchen Stammes iſt, zum Sklaven zu machen. Ich glaube übrigens, daß die Menſchenfreſſerei der Bewohner der An— tillen in den Berichten der erſten Seefahrer ſtark übertrieben iſt. Ein ernſter, ſcharfſinniger Geſchichtſchreiber, Herrera, hat ſich nicht geſcheut, dieſe Geſchichten in die Decades historicas Kardinal Bembo ſagt: „Insularem partem homines in- colebant feri trucesque, qui puerorum et virorum carnibus, quos aliis in insulis bello aut latrociniis coepissent, vescebantur; a feminis abstinebant, Canibales appellati.* Iſt das Wort Kannibale, das hier von den Kariben auf den Antillen ge: braucht wird, aus einer der Sprachen dieſes Archipels (der haytiſchen), oder hat man es in einer Mundart zu ſuchen, die in Florida zu Hauſe iſt, das nach einigen Sagen die urſprüngliche Heimat der Kariben ſein ſoll? Hat das Wort überhaupt einen Sinn, ſo ſcheint es vielmehr „ſtarke, tapfere Fremde“ als Menſchenfreſſer zu bedeuten. Garcia in ſeinen etymologiſchen Phantaſieen erklärt es geradezu für phöniziſch. Annibal und Cannibal können nach ihm nur von derſelben ſemitiſchen Wurzel herkommen. — 17 — aufzunehmen; er glaubte ſogar an den merkwürdigen Fall, der die Kariben veranlaßt haben ſoll, ihrer barbariſchen Sitte zu entſagen. „Die Eingeborenen einer kleinen Inſel hatten einen Dominikanermönch verzehrt, den ſie von der Küſte von Portorico fortgeſchleppt. Sie wurden alle krank, und mochten fortan weder Mönch noch Laien verzehren.“ Wenn die Kariben am Orinoko ſchon zu Anfang des 16. Jahrhunderts andere Sitten hatten als die auf den An— tillen, wenn ſie immer mit Unrecht der Anthropophagie be— ſchuldigt worden ſind, ſo iſt dieſer Unterſchied nicht wohl daher zu erklären, daß ſie geſellſchaftlich höher ſtanden. Man begegnet den ſeltſamſten Kontraſten in dieſem Völkergewirre, wo die einen nur von Fiſchen, Affen und Ameiſen leben, an— dere mehr oder weniger Ackerbauer ſind, mehr oder weniger das Verfertigen und Bemalen von Geſchirren, die Weberei von Hängematten und Baumwollenzeug als Gewerbe treiben. Manche der letzteren halten an unmenſchlichen Gebräuchen feſt, von denen die erſteren gar nichts wiſſen. Im Charakter und in den Sitten eines Volkes wie in ſeiner Sprache ſpiegeln ſich ſowohl ſeine vergangenen Zuſtände als die gegenwärtigen: man müßte die ganze Geſchichte der Geſittung oder der Ver— wilderung einer Horde kennen, man müßte den menſchlichen Vereinen in ihrer ganzen Entwickelung und auf ihren ver— ſchiedenen Lebensſtufen nachgehen können, wollte man Pro: bleme löſen, die ewig Rätſel bleiben werden, wenn man nur die gegenwärtigen Verhältniſſe ins Auge faſſen kann. „Sie machen ſich keine Vorſtellung davon,“ ſagte der alte Miſſionär in Mandavaca, „wie verdorben dieſe familia de Indios iſt. Man nimmt Leute von einem neuen Stamme im Dorfe auf; ſie ſcheinen ſanftmütig, redlich, gute Arbeiter; man erlaubt ihnen einen Streifzug (entrada) mitzumachen, um Eingeborene einzubringen, und hat genug zu thun, zu verhindern, daß ſie nicht alles, was ihnen in die Hände kommt, umbringen und Stücke der Leichname verſtecken.“ Denkt man über die Sitten dieſer Indianer nach, ſo erſchrickt man ordent— lich über dieſe Verſchmelzung von Gefühlen, die ſich auszu— ſchließen ſcheinen, über die Unfähigkeit dieſer Völker, ſich an— ders als nur teilweiſe zu humaniſieren, über dieſe Uebermacht der Bräuche, Vorurteile und Ueberlieferungen über die natür— lichen Regungen des Gemütes. Wir hatten in unſerer Piroge einen Indianer, der vom Rio Guaiſia entlaufen war und ſich in wenigen Wochen ſo weit civiliſiert hatte, daß er uns A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 2 — 18 beim Aufſtellen der Inſtrumente zu den nächtlichen Beobach⸗ tungen gute Dienſte leiſten konnte. Er ſchien ſo gutmütig als geſcheit und wir hatten nicht übel Luſt, ihn in unſeren Dienſt zu nehmen. Wie groß war unſer Verdruß, als wir im Gespräch mittels eines Dolmetſchers von ihm hören mußten, „das Fleiſch der Manimodasaffen ſei allerdings ſchwärzer, er meine aber doch, es ſchmecke wie Menſchen— fleiſch“. Er verſicherte, „ſeine Verwandten (das heißt ſeine Stammverwandten) eſſen vom Menſchen wie vom Bären die Handflächen am liebſten“. Und bei dieſem Ausſpruch äußerte er durch Gebärden ſeine rohe Luſt. Wir ließen den ſonſt ſehr ruhigen und bei den kleinen Dienſten, die er uns leiſtete, ſehr gefälligen jungen Mann fragen, ob er hie und da noch Luſt ſpüre, „Cheruvichahenafleiſch zu eſſen“; er erwiderte ganz un— befangen, in der Miſſion werde er nur eſſen, was er los padres eſſen ſehe. Den Eingeborenen wegen des abſcheulichen Brauchs, von dem hier die Rede iſt, Vorwürfe zu machen, hilft rein zu nichts; es iſt gerade, als ob ein Brahmane vom Ganges, der in Europa reiſte, uns darüber anließe, daß wir das Fleiſch der Tiere eſſen. In den Augen des Indianers vom Rio Guaiſia war der Cheruvichahena ein von ihm ſelbſt völlig verſchiedenes Weſen; ihn umzubringen war ihm kein größeres Unrecht, als die Jaguare im Walde umzubringen. Es war nur Gefühl für Anſtand, wenn er, ſolange er in der Miſſion war, nur eſſen wollte, was los padres genoſſen. Entlaufen die Eingeborenen zu den Ihrigen (al monte), oder treibt ſie der Hunger, ſo werden ſie alsbald wieder Menſchen— freſſer wie zuvor. Und wie ſollten wir uns über dieſen Un— beſtand der Völker am Orinoko wundern, da uns aufs glaub— würdigſte bezeugt iſt, was ſich in Hungersnot bei civiliſierten Völkern ſchon Gräßliches ereignet hat? In Aegypten griff im 13. Jahrhundert die Sucht, Menſchenfleiſch zu eſſen, unter allen Ständen um ſich; beſonders aber ſtellte man den Aerzten nach. Hatte einer Hunger, ſo gab er ſich für krank aus und ließ einen Arzt rufen, aber nicht, um ſich bei ihm Rats zu erholen, ſondern um ihn zu verzehren. Ein ſehr glaub— würdiger Schriftſteller, Abd-Allatif, erzählt uns, „wie eine Sitte, die anfangs Abſcheu und Entſetzen einflößte, bald gar nicht mehr auffiel”. m Abd-Allatif, Medeein, de Bagdad, Relation de IEgypte, traquite par Silvestre de Sacy. — „Als die Armen anfingen — — So leicht die Indianer am Caſſiquiare in ihre barbari— ſchen Gewohnheiten zurückfallen, ſo zeigen ſie doch in den Miſſionen Verſtand und einige Luſt zur Arbeit, beſonders aber große Fertigkeit, ſich ſpaniſch auszudrücken. Da in den Dörfern meiſt drei, vier Nationen beiſammen leben, die ein— ander nicht verſtehen, ſo hat eine fremde Sprache, die zugleich die Sprache der bürgerlichen Behörde, des Miſſionärs iſt, den Vorteil, daß ſie als allgemeines Verkehrsmittel dient. Ich ſah einen Poignaveindianer ſich ſpaniſch mit einem Guahibo— indianer unterhalten, und doch hatten beide erſt ſeit drei Mo— naten ihre Wälder verlaſſen. Alle Viertelſtunden brachten ſie einen mühſelig zuſammengeſtoppelten Satz zu Tage, und dabei war das Zeitwort, ohne Zweifel nach der Syntax ihrer eigenen Sprachen, immer im Gerundium geſetzt. (Quando io mirando Padre, Padre, me diciendo, ſtatt: als ich den Pater ſah, ſagte er mir.) Ich habe oben erwähnt, wie verſtändig mir die Idee der Jeſuiten ſchien, eine der kultivierten amerikani— ſchen Sprachen, etwa das Peruaniſche, die Lingua del Inca, zur allgemeinen Sprache zu machen und die Indianer in einer Mundart zu unterrichten, die wohl in den Wurzeln aber nicht Menſchenfleiſch zu eſſen, war der Abſcheu und das Entſetzen über ſo gräßliche Gerichte ſo groß, daß von nichts als von dieſen Greueln geſprochen wurde; man gewöhnte ſich aber in der Folge dergeſtalt daran und man fand ſo großen Geſchmack an der entſetzlichen Speiſe, daß man reiche und ganz ehrbare Leute ſie für gewöhnlich genießen, zum Feſteſſen machen, ja Vorräte davon anlegen ſah. Es kamen verſchiedene Zubereitungsarten des Fleiſches auf, und da der Brauch einmal beſtand, verbreitete er ſich auch über die Provinzen, ſo daß allerorten in Aegypten Fälle vorkamen. Und da verwunderte man ſich gar nicht mehr darüber; das Entſetzen, das man zu Anfang darob empfunden, ſchwand ganz und gar, und man ſprach davon und hörte davon ſprechen als von etwas ganz Gleich— gültigem und Alltäglichem. Die Sucht, einander aufzueſſen, griff unter den Armen dergeſtalt um ſich, daß die meiſten auf dieſe Weiſe umkamen. Die Elenden brauchten alle möglichen Liſten, um Menſchen zu überfallen oder ſie unter falſchem Vorgeben zu ſich ins Haus zu locken. Von den Aerzten, die zu mir kamen, ver— fielen drei dieſem Loſe, und ein Buchhändler, der Bücher an mich verkaufte, ein alter, ſehr fetter Mann, fiel in ihre Netze und kam nur mit knapper Not davon. Alle Vorfälle, von denen wir als Augenzeugen berichten, ſind uns zufällig vor Augen gekommen, denn meiſt gingen wir einem Anblicke aus dem Wege, der uns mit ſolchem Entſetzen erfüllte.“ 2 im Bau und in den grammatiſchen Formen von den ihrigen abweicht. Man that damit nur, was die Inka oder die prieſterlichen Könige von Peru ſeit Jahrhunderten zur Aus: führung gebracht, um die barbariſchen Völkerſchaften am oberen Amazonenſtrom unter ihrer Gewalt zu behalten und zu humaniſieren, und ſolch ein Syſtem iſt doch nicht ganz ſo ſeltſam als der Vorſchlag, der auf einem Provinzialkonzil in Mexiko alles Ernſtes gemacht worden, man ſolle die Einge— borenen Amerikas lateiniſch ſprechen lehren. Wie man uns ſagte, zieht man am unteren Orinoko, beſonders in Angoſtura, die Indianer vom Caſſiquiare und Rio Negro wegen ihres Verſtandes und ihrer Rührigkeit den Bewohnern der anderen Miſſionen vor. Die in Mandavaca ſind bei den Völkern ihrer Raſſe berühmt, weil ſie ein Curare⸗ gift bereiten, das in der Stärke dem von Esmeralda nicht nachſteht. Leider geben ſich die Eingeborenen damit weit mehr ab als mit dem Ackerbau, und doch iſt an den Ufern des Caſſiquiare der Boden ausgezeichnet. Es findet ſich da— ſelbſt ein ſchwarzbrauner Granitſand, der in den Wäldern mit dicken Humusſchichten, am Ufer mit einem Thon bedeckt iſt, der faſt kein Waſſer durchläßt. Am Caſſiquiare ſcheint der Boden fruchtbarer als im Thale des Rio Negro, wo der Mais ziemlich ſchlecht gerät. Reis, Bohnen, Baumwolle, Zucker und Indigo geben reichen Ertrag, wo man ſie nur anzubauen verſucht hat. Bei den Miſſionen San Miguel de Davipe, San Carlos und Mandavaca ſahen wir Indigo wild wachſen. Es läßt ſich nicht in Abrede ziehen, daß mehrere amerikaniſche Völker, namentlich die Mexikaner, ſich lange vor der Eroberung zu ihren hieroglyphiſchen Malereien eines wirk⸗ lichen Indigos bedienten, und daß dieſer Farbſtoff in kleinen Broten auf dem großen Markte von Tenochtitlan verkauft wurde. Aber ein chemiſch identiſcher Farbſtoff kann aus Pflanzen gezogen werden, die einander nahe ſtehenden Gat— tungen angehören, und io möchte ich jetzt nicht entſcheiden, ob die in Amerika einheimiſchen Indigofera ſich nicht generiſch von Indigofera anil und Indigofera argentea der Alten Welt unterſcheiden. Bei den Kaffeebäumen der beiden Welten iſt ein: ſolcher Unterſchied wirklich beobachtet. Die feuchte Luft und, als natürliche Folge davon, die Maſſe von Inſekten laſſen hier wie am Rio Negro neue Kulturen faſt gar nicht aufkommen. Selbſt bei hellem, blauem Himmel ſahen wir das Delueſche Hygrometer niemals unter 8 52° ſtehen. Ueberall trifft man jene großen Ameiſen, die in gedrängten Haufen einherziehen und ſich deſto eifriger über die Kulturpflanzen hermachen, da dieſelben krautartig und ſaftreich ſind, während in den Wäldern nur Gewächſe mit holzigen Stengeln ſtehen. Will ein Miſſionär verſuchen, Salat oder irgend ein europäisches Küchenkraut zu ziehen, fo muß er ſeinen Garten gleichſam in die Luft hängen. Er füllt ein altes Kanoe mit gutem Boden und hängt es 1,3 m über dem Boden an Chiquichiquiſtricken auf; meiſt aber ſtellt er es auf ein leichtes Gerüſte. Die jungen Pflanzen find dabei vor Unkraut, vor Erdwürmern und vor den Ameiſen geſchützt, die immer geradeaus ziehen, und da ſie nicht wiſſen, was über ihnen wächſt, nicht leicht von ihrem Wege ablenken, um an Pfählen ohne Rinde hinaufzukriechen. Ich erwähne dieſes Umſtandes zum Beweiſe, wie ſchwer es unter den Tro— pen, an den Ufern der großen Ströme dem Menſchen an— fangs wird, wenn er es verſucht, in dieſem unermeßlichen Naturgebiete, wo die Tiere herrſchen und der wilde Pflanzen— wuchs den Boden überwuchert, einen kleinen Erdwinkel ſich zu eigen zu machen. Am 13. Mai. Ich hatte in der Nacht einige gute Stern— beobachtungen machen können, leider die letzten am Caſſiquiare, Mandavaca liegt unter 2° 47 der Breite und, nach dem Chronometer, 69° 27“ der Länge. Die Inklination der Mag— netnadel fand ich gleich 25 25“. Dieſelbe hatte alſo ſeit der Schanze San Cartos bedeutend zugenommen. Das an— ſtehende Geſtein war indeſſen derſelbe, etwas hornblendehal— tige Granit, den wir in Javita getroffen, und der ſyenitartig ausſieht. Wir brachen von Mandavaca um 2% Uhr in der Nacht auf. Wir hatten noch acht ganze Tage mit der Strö— mung des Caſſiquiare zu kämpfen, und das Land, durch das wir zu fahren hatten, bis wir wieder nach San Fernando de Atabapo kamen, iſt ſo menſchenleer, daß wir erſt nach 13 Tagen hoffen durften, wieder zu einem Obſervanten, zum Miſſionär von Santa Barbara zu gelangen. Nach ſechsſtün— diger Fahrt liefen wir am Einfluſſe des Rio Idapa oder Siapa vorbei, der oſtwärts auf dem Berge Unturan entſpringt und zwiſchen deſſen Quellen und dem Rio Mavaca, der in den Orinoko läuft, ein Trageplatz iſt. Dieſer Fluß hat weißes Waſſer; er iſt nur halb ſo breit als der Pacimoni, deſſen Waſſer ſchwarz iſt Sein oberer Lauf iſt auf den Karten von La Cruz und Surville, die allen ſpäteren als Vorbild N gedient haben, ſeltſam entſtellt. Ich werde, wenn von den Juellen des Orinoko die Rede iſt, Gelegenheit finden, von den Vorausſetzungen zu ſprechen, die zu dieſen Irrtümern Anlaß gegeben haben. Hätte Pater Caulin die Karte ſehen können, die man ſeinem Werke beigegeben, ſo hätte er ſich nicht wenig gewundert, daß man darin die Fiktionen wieder aufgenommen, die er mit zuverläſſigen, an Ort und Stelle eingezogenen Nachrichten widerlegt hat. Dieſer Miſſionär ſagt lediglich, der Idapa entſpringe in einem bergigen Lande, bei dem die Amuifanasindianer haufen. Aus dieſen In⸗ dianern wurden Amoizanas oder Amazonas gemacht, und den Rio Idapa ließ man aus einer Quelle entſpringen, die am Flecke ſelbſt, wo ſie aus der Erde ſprudelt, ſich in zwei Zweige teilt, die nach gerade entgegengeſetzten Seiten laufen. Eine ſolche Gabelung einer Quelle iſt ein reines Phantaſiebild. Wir übernachteten unter freiem Himmel beim Raudal des Cunuri. Das Getöfe des kleinen Kataraktes wurde in der Nacht auffallend ſtärker. Unſere Indianer behaupteten, dies ſei ein ſicheres Vorzeichen des Regens. Ich erinnerte mich, daß auch die Bewohner der Alpen auf dieſes Wetterzeichen! ſehr viel halten. Wirklich regnete es lange vor Sonnenauf— gang. Uebrigens hatte uns das lange anhaltende Geheul der Araguaten, lange bevor der Waſſerfall lauter wurde, ver fündet, daß ein Regenguß im Anzug ſei. — — — „Es gibt Regen, weil man die Gießbäche näher rauſchen hört,“ heißt es in den Alpen wie in den Anden. Deluc hat die Erſcheinung dadurch zu erklären verſucht, daß infolge eines Wechſels im barometriſchen Druck mehr Luſtblaſen an der Waſſerfläche platzen. Dieſe Erklärung iſt ſo gezwungen als unbefriedigend. Ich will ihr keine andere Hypotheſe entgegenſtellen, ich mache nur darauf auf: merkſam, daß die Erſcheinung auf einer Modifikation der Luft be⸗ ruht, welche auf die Schallwellen und auf die Lichtwellen zumal Einfluß äußert. Wenn die Verſtärkung des Schalles als Wetterzeichen gilt, ſo hängt dies ganz genau damit zuſammen, daß man der geringeren Schwächung des Lichtes dieſelbe Bedeutung bei— legt. Die Aelpler behaupten mit Zuverſicht, das Wetter ändere ſich, wenn bei ruhiger Luft die mit ewigem Schnee bedeckten Alpen dem Beobachter auf einmal nahe gerückt ſcheinen und ſich ihre Umriſſe ungewöhnlich ſcharf vom Himmelsblau abheben. Was iſt die Ur: ſache, daß in den vertikalen Luſtſchichten der Mangel an Homogeneität ſo raſch aufgehoben wird? — u Am 14. Mai. Die Moskiten und mehr noch die Ameiſen jagten uns vor 2 Uhr in der Nacht vom Ufer. Wir hatten bisher geglaubt, die letzteren kriechen nicht an den Stricken der Hängematten hinauf; ob dies nun aber unbegründet iſt, oder ob die Ameiſen aus den Baumgipfeln auf uns herab fielen, wir hatten vollauf zu thun, uns dieſer läſtigen In⸗ ſekten zu entledigen. Je weiter wir fuhren, deſto ſchmäler wurde der Fluß und die Ufer waren ſo ſumpfig, daß Bon⸗ pland ſich nur mit großer Mühe an den Fuß einer mit großen purpurroten Blüten bedeckten Carolinea princeps durcharbeiten konnte. Dieſer Baum iſt die herrlichſte Zierde der Wälder hier und am Rio Negro. Wir unterſuchten mehrmals am Tage die Temperatur des Caſſiauiare, Das Waſſer zeigte an der Oberfläche nur 24° (in der Luft ſtand der Thermo: meter auf 25,6), alſo ungefähr jo viel als der Rio Negro, aber 4 bis 5 weniger als der Orinoko. Nachdem wir weſtwärts die Mündung des Cano Caterico, der ſchwarzes, ungemein durchſichtiges Waſſer hat, hinter uns gelaſſen, verließen wir das Flußbett und landeten an einer Inſel, auf der die Miſſion Vaſiva liegt. Der See, der die Miſſion umgibt, iſt 4,5 km breit und . durch drei Kanäle mit dem Cafſiquiare zu⸗ ſammen. Das Land umher iſt ſehr ſumpfig und fiebererzeu— gend. Der See, deſſen Waſſer bei durchgehendem Lichte gelb iſt, trocknet in der heißen Jahreszeit aus und dann können es ſelbſt die Indianer in den Miasmen, welche ſich aus dem Schlamme entwickeln, nicht aushalten. Daß gar kein Wind weht, trägt viel dazu bei, daß dieſe Landſtriche ſo ungemein ungeſund ſind. Ich habe die Zeichnung des Grundriſſes von Vaſiva, den ich am Tage unſerer Ankunft aufgenommen, ſtechen laſſen. Das Dorf wurde zum Teil an einen trockeneren Platz gegen Nord verlegt, und daraus entſpann ſich ein langer Streit zwiſchen dem Statthalter von Guyana und den Mön— chen. Der Statthalter behauptete, letzteren ſtehe nicht das Recht zu, ohne Genehmigung der bürgerlichen Behörde ihre Dörfer zu verlegen; da er aber gar nicht wußte, wo der Caſſi⸗ quiare liegt, richtete er ſeine Beſchwerde an den Miſſionär von Carichana, der 675 km von Vaſiva hauſt und nicht be— griff, von was es ſich handelte. Dergleichen geographiſche Mißverſtändniſſe kommen ſehr häufig vor, wo die Leute faſt nie im Beſitz einer Karte der Länder ſind, die ſie zu regieren haben. Im Jahre 1785 übertrug man die Miſſion Padamo dem Pater Valor mit der Weiſung, „ſich unver— züglich zu den Indianern zu verfügen, die ohne Seelen: hirten ſeien.“ Und ſeit länger als fünfzehn Jahren gab es kein Dorf Padamo mehr und die Indianer waren al monte gelaufen. Vom 14. bis 21. Mai brachten wir die Nacht immer unter freiem Himmel zu, ich kann aber die Orte, wo wir unſer Nachtlager aufſchlugen, nicht angeben. Dieſer Landſtrich iſt ſo wild und ſo wenig von Menſchen betreten, daß die Indianer, ein paar Flüſſe ausgenommen, keinen der Punkte, die ich mit dem Kompaß aufnahm, mit Namen zu nennen wußten. Einen ganzen Grad weit konnte ich durch keine Sternbeobachtung die Breite beſtimmen. Oberhalb des Punktes, wo der Itinivini vom Caſſiquiare abgeht und weſtwärts den Granithügeln von Daripabo zuläuft, ſahen wir die ſumpfigen Ufer des Stromes mit Bamburohr bewachſen. Dieſe baum: artigen Gräſer werden 6,5 m hoch; ihr Halm iſt gegen die Spitze immer umgebogen. Es iſt eine neue Art Bambuſa mit ſehr breiten Blättern. Bonpland war ſo glücklich, ein blühendes Exemplar zu finden. Ich erwähne dieſes Um: ſtandes, weil die Gattungen Naſtus und Bambuſa bis jetzt ſehr ſchlecht auseinander gehalten waren, und man in der Neuen Welt dieſe gewaltigen Gräſer ungemein ſelten blühend antrifft. Mutis botaniſierte zwanzig Jahre in einem Lande, wo die Bambusa Guadua mehrere Meilen breite ſumpfige Wälder bildet, und war nie im ſtande, einer Blüte habhaft zu werden. Wir ſchickten dieſem Gelehrten die erſten Bam— buſaähren aus den gemäßigten Thälern von Popayan. Wie kommt es, daß ſich die Befruchtungsorgane ſo ſelten bei einer Pflanze entwickeln, die im Lande zu Hauſe iſt und vom Meeresſpiegel bis in 1750 m Höhe äußerſt kräftig wächſt, alſo in eine ſubalpiniſche Region hinaufreicht, wo unter den Tropen das Klima dem des mittägigen Spaniens gleicht? Die Bambusa latifolia ſcheint den Becken des oberen Orinoko, des Caſſiquiare und des Amazonenſtromes eigentümlich zu ſein; es iſt ein geſelliges Gewächs, wie alle Gräſer aus der Familie der Naſtoiden; aber in dem Striche von Spaniſch— Guyana, durch den wir gekommen, tritt ſie nicht in den ge— waltigen Maſſen auf, welche die Hiſpanoamerikaner Gua— duales oder Bambuwälder nennen. Unſer erſtes Nachtlager oberhalb Vaſiva war bald auf— geſchlagen. Wir trafen einen kleinen trockenen, von Büſchen freien Fleck ſüdlich vom Cano Curamuni, an einem Orte, wo — 5 — wir Kapuzineraffen,! kenntlich am ſchwarzen Barte und der trübjeligen ſcheuen Miene, langſam auf den horizontalen Aeſten einer Genipa hin und her gehen ſahen. Die fünf folgenden Nächte wurden immer beſchwerlicher, je näher wir der Gabel— teilung des Orinoko kamen. Die Ueppigkeit des Pflanzen: wuchſes ſteigerte ſich in einem Grade, von dem man ſich keinen Begriff macht, ſelbſt wenn man mit dem Anblick der tropi— ſchen Wälder vertraut iſt. Ein Gelände iſt gar nicht mehr vorhanden; ein Pfahlwerk aus dichtbelaubten Bäumen bildet das Flußufer. Man hat einen 390 m breiten Kanal vor ſich, den zwei ungeheure, mit Laub und Lianen bedeckte Wände einfaſſen. Wir verſuchten öfters zu landen, konnten aber nicht aus dem Kanoe kommen. Gegen Sonnenuntergang fuhren wir zuweilen eine Stunde lang am Ufer hin, um, nicht eine Lichtung (dergleichen gibt es gar nicht), ſondern nur einen weniger dicht bewachſenen Fleck zu entdecken, wo unſere In— dianer mit der Axt ſo weit aufräumen konnten, um für 12 bis 13 Perſonen ein Lager aufzuſchlagen. In der Piroge konnten wir die Nacht nicht zubringen. Die Moskiten, die uns den Tag über plagten, ſetzten ſich haufenweiſe unter den Toldo, d. h. unter das Dach aus Palmblättern, das uns vor dem Regen ſchützte. Nie waren uns Hände und Geſicht ſo ſtark geſchwollen geweſen. Pater Zea, der ſich bis dahin immer gerühmt, er habe in ſeinen Miſſionen an den Katarakten die größten und wildeſten (las mas feroces) Mos— kiten, gab nach und nach zu, nie haben ihn die Inſektenſtiche ärger geſchmerzt als hier am Caſſiquiare. Mitten im dicken Walde konnten wir uns nur mit ſchwerer Mühe Brennholz verſchaffen; denn in dieſen Ländern am Aequator, wo es be— ſtändig regnet, ſind die Baumzweige ſo ſaftreich, daß ſie faſt gar nicht brennen. Wo es keine trockenen Ufer gibt, findet man auch ſo gut wie kein altes Holz, das, wie die Indianer ſagen, an der Sonne gekocht iſt. Feuer bedurften wir übrigens nur als Schutzwehr gegen die Tiere des Waldes; unſer Vorrat an Lebensmitteln war ſo gering, daß wir zur Zubereitung der Speiſen des Feuers ziemlich hätten entbehren können. Am 18. Mai gegen Abend kamen wir an einen Ort, wo wilde Kakaobäume das Ufer ſäumen. Die Bohne derſelben iſt klein und bitter; die Indianer in den Wäldern ſaugen ! Simia chiropotes, eine neue Art. das Mark aus und werfen die Bohnen weg, und dieſe wer: den von den Indianern in den Miſſionen aufgeleſen und an ſolche verkauft, die es bei der Bereitung ihrer Schokolade nicht genau nehmen. „Hier iſt der Puerto del Cacao,“ jagte der Steuermaun, „hier übernachten los padres, wenn ſie nach Esmeralda fahren, um Blaſeröhren und Juvia (die wohlſchmeckenden Mandeln der Bertholletia) zu kaufen.“ Indeſſen befahren im Jahre nicht fünf Kanoen den Caſſi— quiare, und ſeit Maypures, alſo ſeit einem Monate, war uns auf den Flüſſen, die wir hinauffuhren, keine Seele begegnet, außer in der nächſten Nähe der Miſſionen. Süd— wärts vom See Duractumini übernachteten wir in einem Palmenwalde. Der Regen goß in Strömen herab; aber die Pothos, die Arum und die Schlinggewächſe bildeten eine natürliche, ſo dichte Laube, daß wir darunter Schutz fanden wie unter dichtbelaubten Bäumen. Die | Indianer, die am Ufer lagen, hatten Helikonien und Waal ineinander ver- ſchlungen und damit über ihren Hängematten eine Art Dach gebildet. Unſere Feuer beleuchteten auf 16 bis 20 m Höhe die Palmſtämme, die mit Blüten bedeckten Schlinggewächſe und die weißlichten Rauchſäulen, die gerade gen Himmel ſtiegen; ein prachtvoller Anblick, aber um desſelben mit Ruhe zu RG nießen, hätte man eine Luft atmen müſſen, die nicht von In— ſekten wimmelte. Unter allen körperlichen Leiden wirken diejenigen am niederſchlagendſten, die in ihrer Dauer immer dieſelben ſind, und gegen die es kein Mittel gibt als Geduld. Die Aus— dünſtungen in den Wäldern am Caſſiquiare haben wahrſchein— lich bei Bonpland den Keim zu der ſchweren Krankheit gelegt, der er bei unſerer Ankunft in Angoſtura beinahe erlegen wäre. Zu unſerem Glück ahnte er ſo wenig als ich die Gefahr, die ihm drohte. Der Anblick des Fluſſes und das Summen der Moskiten kamen uns allerdings etwas einförmig vor; aber unſer natürlicher Frohſinn war nicht ganz gebrochen und half uns über die lange Oede weg. Wir machten die Bemerkung, daß wir uns den Hunger auf mehrere Stunden vertrieben, wenn wir etwas trockenen geriebenen Kakao ohne Zucker aßen. Die Ameiſen und die Moskiten machten uns mehr zu ſchaffen als die Näſſe und der Mangel an Nahrung. So großen Entbehrungen wir auch auf unſeren Zügen in den Kordilleren ausgeſetzt geweſen, die Flußfahrt von Mandavaca nach Es— meralda erſchien uns immer als das beſchwerdereichſte Stück 9 — unſeres Aufenthaltes in Amerika. Ich rate den Reiſen— den, den Weg über den Caſſiquiare dem über den Atabapo nicht vorzuziehen, ſie müßten denn ſehr großes Verlangen eg die große Gabelteilung des Orinoko mit eigenen Augen zu ſehen. Oberhalb des Cano Duractumuni läuft der Caſſiquiare geradeaus von Nordoſt nach Südweſt. Hier hat man am rechten Ufer mit dem Bau des Dorfes Vaſiva begonnen. Die Miſſionen Pacimona, Capivari, Buenaguardia, ſowie die angebliche Schanze am See bei Vaſiva auf unſeren Karten ſind lauter Fiktionen. Es fiel uns auf, wie ſtark durch die raſchen Anſchwellungen des Caſſiquiare die beiderſeitigen Ufer— abhänge unterhöhlt waren. Entwurzelte Bäume bilden natür— liche Flöße; ſie ſtecken halb im Schlamme und können den Pirogen ſehr gefährlich werden. Hätte man das Unglück, in dieſen unbewohnten Strichen zu ſcheitern, ſo verſchwände man ohne Zweifel, ohne daß eine Spur des Schiffbruches verriete, wo und wie man untergegangen. Man erführe nur an der Küſte, und das ſehr ſpät, ein Kanoe, das von Vaſiva abgegangen, ſei 450 km weiterhin, in den Miſſionen Santa Barbara und San Fernando de Atabapo nicht geſehen worden. Die Nacht des 20. Mai, die letzte unſerer Fahrt auf dem Caſſiquiare, brachten wir an der Stelle zu, wo der Ori— noko ſich gabelt. Wir hatten einige Ausſicht, eine aſtrono— miſche Beobachtung machen zu können; denn ungewöhnlich große Sternſchnuppen ſchimmerten durch die Dunſthülle, die den Himmel umzog. Wir ſchloſſen daraus, die Dunſtſchicht müſſe ſehr dünn ſein, da man ſolche Meteore faſt niemals unter dem Gewölk ſieht. Die uns zu Geſicht kamen, liefen nach Nord und folgten aufeinander faſt in gleichen Pauſen. Die Indianer, welche die Zerrbilder ihrer Phantaſie nicht leicht durch den Ausdruck veredeln, nennen die Sternſchnuppen den Urin, und den Tau den Speichel der Sterne. Aber das Gewölk wurde wieder dicker und wir ſahen weder die Meteore mehr noch die wahren Sterne, deren wir ſeit mehreren Tagen mit ſo großer Ungeduld harrten. Man hatte uns geſagt, in Esmeralda werden wir die Inſekten „noch grauſamer und gieriger“ finden als auf dem Arm des Orinoko, den wir jetzt hinauffuhren; trotz dieſer Ausſicht erheiterte uns die Hoffnung, endlich einmal wieder an einem bewohnten Orte ſchlafen und uns beim Botaniſieren 28 einige Bewegung machen zu können. Beim letzten Nachtlager am Caſſiquiare wurde unſere Freude getrübt. Ich nehme keinen Anſtand, hier einen Vorfall zu erzählen, der für den Leſer von keinem großen Belang iſt, der aber in einem Tagebuche, das die Begebniſſe auf der Fahrt durch ein ſo wildes Land ſchil— dert, immerhin eine Stelle finden mag. Wir lagerten am Waldſaume. Mitten in der Nacht meldeten uns die Indianer, man höre den Jaguar ganz in der Nähe brüllen, und zwar von den naheſtehenden Bäumen herab. Die Wälder ſind hier ſo dicht, daß faſt keine anderen Tiere darin vorkommen, als ſolche, die auf die Bäume klettern, Vierhänder, Cercolepten, Viverren und verſchiedene Katzenarten. Da unſere Feuer hell brannten, und da man durch lange Gewöhnung Gefahren, die durchaus nicht eingebildet ſind, ich möchte ſagen ſyſtema— tiſch nicht achten lernt, ſo machten wir uns aus dem Brüllen des Jaguars nicht viel. Der Geruch und die Stimme unſeres Hundes hatten ſie hergelockt. Der Hund leine große Dogge) bellte anfangs; als aber der Tiger näher kam, fing er an zu heulen und kroch unter unſere Hängematten, als wollte er beim Menſchen Schutz ſuchen. Seit unſeren Nachtlagern am Rio Apure waren wir daran gewöhnt, bei dem Tiere, das jung, ſanftmütig und einſchmeichelnd war, in dieſer Weiſe Mut und Schüchternheit wechſeln zu ſehen. Wie groß war unſer Verdruß, als uns am Morgen, da wir eben das Fahr— zeug beſteigen wollten, die Indianer meldeten, der Hund ſei verſchwunden! Es war kein Zweifel, die Jaguare hatten ihn fortgeſchleppt. Vielleicht war er, da er ſie nicht mehr brüllen hörte, von den Feuern weg dem Ufer zu gegangen; vielleicht aber auch hatten wir den Hund nicht winſeln hören, da wir im tiefſten Schlafe lagen. Am Orinoko und am Magdalenenftrome verſicherte man uns oft, die älteſten Jaguare (alſo ſolche, die viele Jahre bei Nacht gejagt haben) ſeien ſo verſchlagen, daß ſie mitten aus einem Nachtlager Tiere herausholen, indem ſie ihnen den Hals zudrücken, damit ſie nicht ſchreien können. Wir warteten am Morgen lange, in der Hoffnung, der Hund möchte ſich nur verlaufen haben. Drei Tage ſpäter kamen wir an denſelben Platz zurück. Auch jetzt hörten wir die Jaguare wieder brüllen, denn dieſe Tiere haben eine Vorliebe für gewiſſe Orte, aber all unſer Suchen war vergeblich. Die Dogge, die ſeit Caracas unſer Begleiter geweſen und ſo oft ſchwimmend den Krokodilen entgangen war, war im Walde zerriſſen worden. Ich erwähne dieſes er Vorfalles nur, weil er einiges Licht auf die Kunſtgriffe dieſer großen Katzen mit geflecktem Fell wirft. Am 21. Mai liefen wir 13,5 km unterhalb der Miſſion Esmeralda wieder in das Bett des Orinoko ein. Vor einem Monate hatten wir dieſen Fluß bei der Einmündung des Guaviare verlaſſen. Wir hatten nun noch 1390 km nach Angoſtura, aber es ging den Strom abwärts, und dieſer Ge— danke war geeignet, uns unſere Leiden erträglicher zu machen. Fährt man die großen Ströme hinab, ſo bleibt man im Thal— wege, wo es nur wenige Moskiten gibt; ſtromaufwärts dagegen muß man ſich, um die Wirbel und Gegenſtrömungen zu be— nutzen, nahe am Ufer halten, wo es wegen der Nähe der Walder und des organiſchen Detritus, der aufs Ufer geworfen wird, von Mücken wimmelt. Der Punkt, wo die vielberufene Gabelteilung des Orinoko ſtattfindet, gewährt einen ungemein großartigen Anblick. Am nördlichen Ufer erheben ſich hohe Granitberge; in der Ferne erkennt man unter denſelben den Maraguaca und den Duida. Auf dem linken Ufer des Ori⸗ noko, weſtlich und ſüdlich von der Gabelung, ſind keine Berge bis dem Einfluſſe des Tamatama gegenüber. Hier liegt der Fels Guaraco, der in der Regenzeit zuweilen Feuer ſpeien ſoll. Da wo der Orinoko gegen Süd nicht mehr von Bergen umgeben iſt und er die Oeffnung eines Thales oder vielmehr einer Senkung erreicht, welche ſich nach dem Rio Negro hin— unterzieht, teilt er ſich in zwei Aeſte. Der Hauptaſt (der Rio Paragua der Indianer) ſetzt ſeinen Lauf weſt-nord-weſt⸗ wärts um die Berggruppe der Parime herum fort; der Arm, der die Verbindung mit dem Amazonenſtrome herſtellt, läuft über Ebenen, die im ganzen ihr Gefäll gegen Süd haben, wobei aber die einzelnen Gehänge im Caſſiquiare gegen Süd: weſt, im Becken des Rio Negro gegen Südoſt fallen. Eine ſcheinbar ſo auffallende Erſcheinung, die ich an Ort und Stelle unterſucht habe, verdient ganz beſondere Aufmerkſamkeit, um ſo mehr, als ſie über ähnliche Fälle, die man im inneren Afrika beobachtet zu haben glaubt, einigen Aufſchluß geben kann. Ich beſchließe dieſes Kapitel mit allgemeinen Betrach— tungen über das hydrauliſche Syſtem von Spaniſch-Gu— yana, und verſuche es, durch Anführung von Fällen auf dem alten Kontinent darzuthun, daß dieſe Gabelteilung, die für Orellana hat auf dem Amazonenſtrome dieſelbe Beobachtung gemacht. 8 ae die Geographen, welche Karten von Amerika entwarfen, fo lange ein Schreckbild war, immerhin etwas Seltenes iſt, aber in beiden Halbkugeln vorkommt. Wir ſind gewöhnt, die europäiſchen Flüſſe nur in dem Teile ihres Laufes zu betrachten, wo ſie zwiſchen zwei Waſſer— ſcheiden liegen, ſomit in Thäler eingeſchloſſen ſind; wir be— achten nicht, daß die Bodenhinderniſſe, welche Nebenflüſſe und Hauptwaſſerbehälter ablenken, gar nicht ſo oft Bergketten ſind, als vielmehr ſanfte Böſchungen von Gegenhängen; und ſo fällt es uns ſchwer, uns eine Vorſtellung davon zu machen, wie in der Neuen Welt die Ströme ſich ſo ſtark krümmen, ſich gabelig teilen und ineinander münden ſollen. An dieſem ungeheuren Kontinent fällt die weite Erſtreckung und Ein: förmigkeit ſeiner Ebenen noch mehr auf als die rieſenhafte Höhe ſeiner Kordilleren. Erſcheinungen, wie wir ſie in unſerer Halbkugel an den Meeresküſten oder in den Steppen von Bactriana um Binnenmeere, um den Aral und das Kaſpiſche Meer beobachten, kommen in Amerika 1300 bis 1800 km von den Strommündungen vor. Die kleinen Bäche, die ſich durch unſere Wieſengründe (die vollkommenſten Ebenen bei uns) ſchlängeln, geben im kleinen ein Bild jener Verzweigungen und Gabelteilungen; man hält es aber nicht der Mühe wert, bei ſolchen Kleinigkeiten zu verweilen, und ſo fällt einem bei den hydrauliſchen Syſtemen der beiden Welten mehr der Kontraſt auf als die Analogie. Die Vorſtellung, der Rhein könnte an die Donau, die Weichſel an die Oder, die Seine an die Loire einen Arm abgeben, erſcheint uns auf den erſten Blick ſo ausſchweifend, daß wir, wenn wir auch nicht daran zweifeln, daß Orinoko und Amazonenſtrom in Verbindung ſtehen, den Beweis verlangen, daß was wirklich iſt, auch möglich iſt. Fährt man über das Delta des Orinoko nach Angoſtura und zum Einfluſſe des Rio Apure hinauf, ſo hat man die hohe Gebirgskette der Parime fortwährend zur Linken. Dieſe Kette bildet nun keineswegs, wie mehrere berühmte Geographen angenommen haben, eine Waſſerſcheide zwiſchen dem Becken des Orinoko und dem des Amazonenſtroms, vielmehr ent— ſpringen am Südabhange derſelben die Quellen des erſteren Stromes. Der Orinoko beſchreibt (ganz wie der Arno in der bekannten Voltata zwiſchen Bibieno und Ponta Sieve) drei Vierteile eines Ovals, deſſen große Achſe in der Richtung eines Parallels liegt. Er läuft um einen Bergſtock herum, von deſſen beiden entgegengeſetzten Abhängen die Gewäſſer ihm zulaufen. Von den Alpenthälern des Maraguaca an läuft der Fluß zuerſt gegen Weſt oder Weſt-Nord-Weſt, als ſollte er ſich in die Südſee ergießen; darauf, beim Einfluſſe des Guaviare, fängt er an, nach Nord umzubiegen und läuft in der Richtung eines Meridians bis zur Mündung des Apure, wo ein zweiter „Wiederkehrungspunkt“ liegt. Auf dieſem Stücke ſeines Laufes füllt der Orinoko eine Art Rinne, die durch das ſanfte Gefälle, das ſich von der ſehr fernen Andenkette von Neugranada herunterzieht und durch den ganz kurzen Gegenhang, der oſtwärts zur ſteilen Gebirgs— wand der Parime hinaufläuft, gebildet wird. Infolge dieſer Bodenbildung kommen die bedeutendſten Zuflüſſe dem Orinoko von Weſten her zu. Da der Hauptbehälter ganz nahe an den Gebirgen der Parime liegt, um die er ſich von Süd nach Nord herumbiegt (als ſollte er Portocabello an der Nordküſte von Venezuela zu laufen), ſo iſt ſein Bett von Felsmaſſen verſtopft. Dies iſt der Strich der großen Katarakte; der Strom bricht ſich brüllend Bahn durch die Ausläufer, die gegen Weſt fortſtreichen, ſo daß auf der großen „Land-Meer— enge“! (detroit terrestre) zwiſchen den Kordilleren von Neu— granada und der Sierra Parime die Felſen am weſtlichen Ufer des Stromes nach dieſer Sierra angehören. Beim Ein— fluſſe des Rio Apure ſieht man nun den Orinoko zum zweiten— mal, und faſt plötzlich, aus ſeiner Richtung von Süd nach Nord in die von Weſt nach Oſt umbiegen, wie weiter oben der Einfluß des Guaviare den Punkt bezeichnet, wo der weſt— liche Lauf raſch zum nördlichen wird. Bei dieſen beiden Bie— gungen wird die Richtung des Hauptbehälters nicht allein durch den Stoß der Gewäſſer des Nebenfluſſes beſtimmt, ſon— Es iſt dies eine 360 km breite Oeffnung, die einzige, durch welche die vereinigten Becken des oberen Orinoko und des Amazonenſtromes mit dem Becken des unteren Orinoko oder den Llanos von Venezuela in Verbindung ſtehen. Wir betrachten dieſe Oeffnung geologiſch als ein detroit terrestre, als eine Land-Meerenge, weil ſie macht, daß aus einem dieſer Becken in das andere Gewäſſer ſtrömen, und weil ohne ſie die Bergkette der Parime, die, gleich den Ketten des Küſtenlandes von Caracas und denen von Mato-Groſſo oder Chiquitos, von Oſten nach Weſten ſtreicht, unmittelbar mit den Anden von Neu— granada zuſammenhinge. — 32 — dern auch durch die eigentümliche Lage der Hänge und Gegen— hänge, die ſowohl auf die Richtung der Nebenflüſſe als auf die des Orinoko ſelbſt ihren Einfluß äußern. Umſonſt ſieht man ſich bei den geographiſch jo wichtigen „Wiederkehrungs— punkten“ nach Bergen oder Hügeln um, die den Strom ſeinen bisherigen Lauf nicht fortſetzen ließen. Beim Einfluſſe des Guaviare ſind keine vorhanden, und bei der Mündung des Apure konnte der niedrige Hügel von Cabruta auf die Rich— tung des Orinoko ſicher keinen Einfluß äußern. Dieſe Ver— änderungen der Richtung ſind Folgen allgemeinerer Urſachen; ſie rühren her von der Lage der großen geneigten Ebenen, aus denen die polyedriſche Fläche der Niederungen beſteht. Die Bergketten ſteigen nicht wie Mauern auf wagerechten Grundflächen empor; ihre mehr oder weniger prismatiſchen Stöcke ſtehen immer auf Plateaus, und dieſe Plateaus ſtreichen mit ſtärkerer oder geringerer Abdachung dem Thalwege des Stromes zu. Der Umſtand, daß die Ebenen gegen die Berge anſteigen, iſt ſomit die Urſache, daß ſich die Flüſſe ſo ſelten an den Bergen ſelbſt brechen und den Einfluß dieſer Waſſer— ſcheiden, ſozuſagen, in bedeutender Entfernung fühlen. Geo— graphen, welche Topographie nach der Natur ſtudiert und ſelbſt Bodenvermeſſungen vorgenommen haben, können ſich nicht wundern, daß auf Karten, auf denen wegen ihres Maß: ſtabes ein Gefälle von 3 bis 5“ ſich nicht angeben läßt, die Urſachen der großen Flußkrümmungen materiell gar nicht er— ſichtlich ſind. Der Orinoko läuft von der Mündung des Apure bis zu ſeinem Ausfluſſe an der Oſtküſte von Amerika parallel mit ſeiner anfänglichen Richtung, aber derſelben entgegen; ſein Thalweg wird dort gegen Norden durch eine faſt unmerkliche Abdachung, die ſich gegen die Küſtenkette von Venezuela hin— aufzieht, gegen Süden durch den kurzen ſteilen Gegenhang an der Sierra Parime gebildet. Infolge dieſer eigentümlichen Terrainbildung umgibt der Orinoko denſelben granitiſchen Ge— birgsſtock in Süd, Weſt und Nord, und befindet ſich nach einem Laufe von 2500 km 556 km von ſeinem Urſprunge. Es iſt ein Fluß, deſſen Mündung bis auf 2° im Meridian ſeiner Quellen liegt. Der Lauf des Orinoko, wie wir ihn hier flüchtig geſchil— dert, zeigt drei ſehr bemerkenswerte Eigentümlichkeiten: J) daß er dem Bergſtock, um den er in Süd, Weſt und Nord her— läuft, immer ſo nahe bleibt; 2) daß ſeine Quellen in einem Landſtriche liegen, der, wie man glauben ſollte, dem Becken a des Rio Negro und des Amazonenſtromes angehört; 3) daß er ſich gabelt und einem anderen Flußſyſteme einen Arm zu— ſendet. Nach bloß theoretiſchen Vorſtellungen ſollte man an— nehmen, die Flüſſe, wenn fie einmal aus den Alpenthälern heraus ſind, in deren oberen Enden ſie entſprungen, müßten raſch von den Bergen weg auf einer mehr oder weniger ge— neigten Ebene fortziehen, deren ſtärkſter Fall ſenkrecht iſt auf die große Achſe der Kette oder die Hauptwaſſerſcheide. Eine ſolche Vorausſetzung widerſpräche aber dem Verhalten der großartigſten Ströme Indiens und Chinas. Es iſt eine Eigen— tümlichkeit dieſer Flüſſe, daß ſie nach ihrem Austritte aus dem Gebirge mit der Kette parallel laufen. Die Ebenen, deren Gehänge gegen die Gebirge anſteigen, ſind am Fuße derſelben unregelmäßig geſtaltet. Nicht ſelten mag die Erſcheinung, von der hier die Rede iſt, von der Beſchaffenheit des geſchich— teten Geſteines und daher rühren, daß die Schichten den großen Ketten parallel ſtreichen; da aber der Granit der Sierra Parime faſt durchaus maſſig, nicht geſchichtet iſt, ſo deutet der Umſtand, daß der Orinoko ſich ſo nahe um dieſen Gebirgsſtock herumſchlingt, auf eine Terrainſenkung hin, die mit einer allgemeineren geologiſchen Erſcheinung zuſammen— hängt, auf eine Urſache, die vielleicht bei der Bildung der Kordilleren ſelbſt im Spiele war. In den Meeren und den Binnenſeen finden ſich die tiefſten Stellen da, wo die Ufer am höchſten und ſteilſten ſind. Fährt man von Esmeralda nach Angoſtura den Orinoko hinab, jo ſieht man (ob die Rich— tung Weſt, Nord oder Oſt iſt) 1125 km weit am rechten Ufer beſtändig ſehr hohe Berge, am linken dagegen Ebenen, ſo weit das Auge reicht. Die Linie der größten Tiefen, die Maxima der Senkung, liegen alſo am Fuße der Kordillere ſelbſt, am Umriſſe der Sierra Parime. Eine andere Eigentümlichkeit, die uns auf den erſten Anblick am Laufe des Orinoko auffällig erſcheint, iſt, daß das Becken dieſes Stromes urſprünglich mit dem Becken eines anderen, des Amazonenſtromes, zuſammenzufallen ſcheint. Wirft man einen Blick auf die Karte, ſo ſieht man, daß der obere Orinoko von Oſt nach Weſt über dieſelbe Ebene läuft, durch die der Amazonenſtrom parallel mit ihm, aber in ent- gegengeſetzter Richtung, von Weſt nach Oſt zieht. Aber das Becken iſt nur ſcheinbar ein gemeinſchaftliches; man darf nicht vergeſſen, daß die großen Bodenflächen, die wir Ebenen nen⸗ nen, ihre Thäler haben, ſo gut wie die Berge. Jede Ebene A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 3 — 34 — beſteht aus verſchiedenen Syſtemen alternativer Hänge,! und dieſe Syſteme ſind voneinander durch ſekundäre Waſſer⸗ ſcheiden von ſo geringer Höhe getrennt, daß das Auge ſie faſt nicht bemerkt. Eine ununterbrochene, waldbedeckte Ebene füllt den ungeheuren Raum zwiſchen 3 ½“ nördlicher und dem 14. Grad ſüdlicher Breite, zwiſchen der Kordillere der Parime und der Kordillere von Chiquitos und der braſilia— niſchen. Bis zum Parallel der Quellen des Rio Temi (2° 45° nördlicher Breite), auf einer Oberfläche von 4131000 qkm, laufen alle Gewäſſer dem Amazonenſtrom als Hauptbehälter zu; aber weiter gegen Norden hat infolge eigentümlicher Ter— rainbildung auf einer Fläche von nicht 30000 qkm ein anderer großer Strom, der Orinoko, ſein eigenes hydrauliſches Syſtem. Die Centralebene von Südamerika umfaßt alſo zwei Strom— becken; denn ein Becken iſt die Geſamtheit aller umliegenden Bodenflächen, deren ſtärkſte Falllinien dem Thalwege, das heißt der Längenvertiefung, welche das Bett des Hauptbehälters bildet, zulaufen. Auf dem kurzen Striche zwiſchen dem 68. und 70. Grad der Länge nimmt der Orinoko die Gewäſſer auf, die vom Südabhange der Kordillere der Parime herab— kommen; aber die Nebenflüſſe, die am ſelben Abhange öſtlich vom Meridian von 68° zwiſchen dem Berge Maraguaca und den Bergen des portugieſiſchen Guyana entſpringen, gehen in den Amazonenſtrom. Alſo nur auf einer 225 km langen Strecke haben in dieſem ungeheuren Thale unter dem Aequator die Bodenflächen zunächſt am Fuße der Kordillere der Parime ihren ſtärkſten Fall in einer Richtung, die aus dem Thale hinaus zuerſt nordwärts, dann oſtwärts weiſt. In Ungarn ſehen wir einen ähnlichen, ſehr merkwürdigen Fall, wo Flüſſe, die ſüdwärts von einer Bergkette entſpringen, dem hydrau⸗ liſchen Syſteme des Nordhanges angehören. Die Waſſerſcheide zwiſchen dem Baltiſchen und dem Schwarzen Meere liegt ſüdlich der Tatra, einem Ausläufer der Karpathen, zwiſchen Teplicz und Ganocz, auf einem nur 580 m hohen Plateau. Waag und Hernad laufen ſüdwärts der Donau zu, während der Poprad um das Tatragebirge gegen Weſt herumläuft und mit dem Dunajetz nordwärts der Weichſel zufließt. Der Poprad, der ſeiner Lage nach zu den Gewäſſern zu gehören Hänge, die in entgegengeſetzter Richtung gegen den Horizont geneigt ſind. Eine Oberfläche zehnmal größer als Frankreich. r ſcheint, die dem Schwarzen Meere zufließen, trennt ſich ſchein— bar vom Becken derſelben los und wendet ſich dem Baltiſchen Meere zu. In Südamerika enthält eine ungeheure Ebene das Becken des Amazonenſtromes und einen Teil des Beckens des Orinoko; aber in Deutſchland, zwiſchen Melle und Osnabrück, haben wir den ſeltenen Fall, daß ein ſehr enges Thal die Becken zweier kleiner, voneinander unabhängiger Flüſſe verbindet. Die Elſe und die Haaſe laufen anfangs nahe bei einander und parallel von Süd nach Nord; wo ſie aber in die Ebene treten, weichen ſie von Oſt nach Weſt auseinander und ſchließen ſich zwei ganz geſonderten Flußſyſtemen, dem der Werra und dem der Ems, an. Ich komme zur dritten Eigentümlichkeit im Laufe des Orinoko, zu jener Gabelteilung, die man im Moment, da ich nach Amerika abreiſte, wieder in Zweifel gezogen hatte. Dieſe Gabelteilung (divergium amnis) liegt nach meinen aſtronomiſchen Beobachtungen in der Miſſion Esmeralda unter 3° 10“ nördlicher Breite und 68“ 37° weſtlicher Länge vom Meridian von Paris. Im Inneren von Südamerika erfolgt dasſelbe, was wir unter allen Landſtrichen an den Küſten vorkommen ſehen. Nach den einfachſten geometriſchen Grundſätzen haben wir anzunehmen, daß die Bodenbildung und der Stoß der Zuflüſſe die Richtung der ſtrömenden Ge— wäſſer nach feſten, gleichförmigen Geſetzen beſtimmen. Die Delta entſtehen dadurch, daß auf der Ebene eines Küſten— landes eine Gabelteilung erfolgt, und bei näherer Betrachtung zeigen ſich zuweilen in der Nähe dieſer ozeaniſchen Gabelung Verzweigungen mit anderen Flüſſen, von denen Arme nicht weit abliegen. Kommen nun aber Bodenflächen, ſo eben wie das Küſtenland im Inneren der Feſtländer gleichfalls vor, ſo müſſen ſich dort auch dieſelben Erſcheinungen wiederholen. Aus denſelben Urſachen, welche an der Mündung eines großen Stromes Gabelteilungen herbeiführen, können dergleichen auch an ſeinen Quellen und in ſeinem oberen Laufe entſtehen. Drei Umſtände tragen vorzugsweiſe dazu bei: die höchſt un— bedeutenden wellenförmigen Steigungen und Senkungen einer Ebene, die zwei Strombecken zugleich umfaßt, die Breite des einen der Hauptbehälter, und die Lage des Thalweges am Rande ſelbſt, der beide Becken ſcheidet. Wenn die Linie des ſtärkſten Falles durch einen gegebenen Punkt läuft, und wenn ſie, noch ſo weit verlängert, nicht auf — 36 — den Fluß trifft, ſo kann dieſer Punkt, er mag noch ſo nahe am Thalwege liegen, nicht wohl demſelben Becken angehören. In anſtoßenden Becken ſehen wir häufig die Zuflüſſe des einen Behälters ganz nahe bei dem anderen zwiſchen zwei Zuflüſſen des letzteren entſpringen. Infolge dieſer eigentüm— lichen Koordinationsverhältniſſe zwiſchen den alternativen Ge— hängen werden die Grenzen der Becken mehr oder weniger gekrümmt. Die Längenfurche oder der Thalweg iſt keines— wegs notwendig in der Mitte des Beckens; er befindet ſich nicht einmal immer an den tiefſten Stellen, denn dieſe können von Kämmen umgeben ſein, ſo daß die Linien des ſtärkſten Falles nicht hinlaufen. Nach der ungleichen Länge der Zu— flüſſe an beiden Ufern eines Fluſſes ſchätzen wir ziemlich ſicher, welche Lage der Thalweg den Grenzen des Beckens gegenüber hat. Am leichteſten erfolgt nun eine Gabelteilung, wenn der Hauptbehälter einer dieſer Grenzen nahe gerückt iſt, wenn er längs dem Kamme hinläuft, der die Waſſerſcheide zwiſchen beiden Becken bildet. Die geringſte Erniedrigung dieſes Kammes kann dann die Erſcheinung herbeiführen, von der hier die Rede iſt, wenn nicht der Fluß, vermöge der einmal angenommenen Geſchwindigkeit, ganz in ſeinem Bette zurückbleibt. Erfolgt aber die Gabelteilung, ſo läuft die Grenze zwiſchen beiden Becken der Länge nach durch das Bett des Hauptbehälters, und ein Teil des Thalweges von a ent- hält Punkte, von denen die Linien des ſtärkſten Falles zum Thalwege von b weiſen. Der Arm, der ſich abſondert, kann nicht mehr zu a zurückkommen, denn ein Waſſerfaden, der einmal in ein Becken gelangt iſt, kann dieſem nicht mehr ent— weichen, ohne durch das Bett des Fluſſes, der alle Gewäſſer desſelben vereinigt, hindurchzugehen. Es iſt nun noch zu betrachten, inwiefern die Breite eines Fluſſes unter ſonſt gleichen Umſtänden die Bildung ſolcher Gabelteilungen begünſtigt, welche, gleich den Kanälen mit Teilungspunkten, infolge der natürlichen Bodenbildung eine ſchiffbare Linie zwiſchen zwei benachbarten Strombecken herſtellen. Sondiert man einen Fluß nach dem Querdurch— ſchnitt, ſo zeigt ſich, daß ein Bett gewöhnlich aus mehreren Rinnen von ungleicher Tiefe beſteht. Je breiter der Strom iſt, deſto mehr ſind dieſer Rinnen, ſie laufen ſogar große Strecken weit mehr oder weniger einander parallel. Es folgt hieraus, daß die meiſten Flüſſe betrachtet werden können als aus dicht aneinander gerückten Kanälen beſtehend, und daß eine ee Gabelung ſich bildet, wenn ein kleiner Bodenabſchnitt am Ufer niedriger liegt als der Grund einer Seitenrinne. Den hier auseinander geſetzten Verhältniſſen zufolge bilden ſich Flußgabelungen entweder im ſelben Becken oder auf der Waſſerſcheide zwiſchen zweien. Im erſteren Falle ſind es ent— weder Arme, die in den Thalwegen, von dem fie ſich abgezweigt, früher oder ſpäter wieder einmünden, oder aber Arme, die ſich mit weiter abwärts gelegenen Nebenflüſſen vereinigen. Zuweilen ſind es auch Delta, die ſich entweder nahe der Mündung der Flüſſe ins Meer oder beim Zuſammenfluſſe mit einem anderen Strome bilden. Erfolgt die Gabelung an der Grenze zweier Becken und läuft dieſe Grenze durch das Bett des Hauptbehälters ſelbſt, ſo ſtellt der ſich abzweigende Arm eine hydrauliſche Verbindung zwiſchen zwei Flußſyſtemen her und verdient deſto mehr unſere Aufmerlſamkeit, je breiter und ſchiffbarer er iſt. Nun iſt aber der Caſſiquiare zwei— bis dreimal breiter als die Seine beim Jardin des plantes in Paris, und zum Beweiſe, wie merkwürdig dieſer Fluß iſt, bemerke ich, daß eine ſorgfältige Forſchung nach Fällen von Gabelteilungen im Inneren der Länder, ſelbſt zwiſchen weit weniger bedeutenden Flüſſen, ihrer bis jetzt nur drei bis vier unzweifelhaft zu Tage gefördert hat. Ich ſpreche nicht von den Verzweigungen der großen indiſch'chineſiſchen Flüſſe, von den naturlichen Kanälen, durch welche die Flüſſe in Ava und Pegu, wie in Siam und Kambodſcha zuſammenzuhängen ſchei— nen; die Art dieſer Verbindungen iſt noch nicht gehörig auf— geklärt. Ich beſchränke mich darauf, einer hydrauliſchen Er— ſcheinung zu erwähnen, welche durch Baron Hermelins ſchöne Karten von Norwegen nach allen Teilen bekannt geworden iſt. In Lappland ſendet der Torneofluß einen Arm (den Tärendoelf) Es gibt 1) ozeaniſche Delta, wie an den Mündungen des Orinoko, des Rio Magdalena, des Ganges; 2) Delta an den Ufern von Binnenmeeren, wie die des Drus und Sihon; 3) Delta von Nebenflüſſen, wie an den Mün— dungen des Apure, des Arauca und des Rio Branco. Fließen mehrere untergeordnete Gewäſſer in der Nähe des Deltas von Nebenflüſſen, ſo wiederholt ſich im Binnenlande ganz, was im Küſtenlande an den ozeaniſchen Delta vorgeht. Die einander zu— nächſt gelegenen Zweige teilen ſich ihre Gewäſſer mit und bilden ein Flußnetz, das zur Zeit der großen Ueberſchwemmungen faſt un⸗ kenntlich wird. — 38 em zum Calixelf, der ein kleines hydrauliſches Syſtem für ſich bildet. Dieſer Caſſiquiare der nördlichen Zone iſt nur 45 bis 54 km lang, er macht aber alles Land am bottniſchen Buſen zu einer wahren Flußinſel. Durch Leopold von Buch wiſſen wir, daß die Exiſtenz dieſes natürlichen Kanales lange ſo hartnäckig geleugnet wurde, wie die eines Armes des Ori— noko, der in das Becken des Amazonenſtromes läuft. Eine andere Gabelteilung, die wegen des alten Verkehres zwiſchen den Völkern Latiums und Etruriens noch mehr Intereſſe hat, ſcheint ehemals am Traſimeniſchen See ſtattgefunden zu haben. Auf ſeiner vielberufenen Voltata von Süd nach Weſt und Nord zwiſchen Bibieno und Ponta Sieve teilte ſich der Arno bei Arezzo in zwei Arme, deren einer, wie jetzt, über Florenz und Piſa dem Meere zulief, während der andere durch das Thal von Chiana floß und ſich mit dem Tiber vereinigte, entweder unmittelbar oder durch die Paglia als Zwiſchenglied. Foſſombroni hat dargethan, wie ſich im Mittelalter durch An— ſchwemmungen im Thale von Chiana eine Waſſerſcheide bildete, und wie jetzt das nördliche Stück des Arno Teverino von Süd nach Nord (auf dem Gegenhange) aus dem kleinen See von Montepulciano in den Arno fließt. So hatte denn der klaſſiſche Boden Italiens neben ſo vielen Wundern der Natur und der Kunſt auch eine Gabelteilung aufzuweiſen, wie ſie in den Wäldern der Neuen Welt in ungleich größerem Maß— ſtabe auftritt. Ich bin nach meiner Rückkehr vom Orinoko oft gefragt worden, ob ich glaube, daß der Kanal des Caſſiquiare allmählich durch Anſchwemmungen verſtopft werden möchte, ob ich nicht der Anſicht ſei, daß die zwei größten Flußſyſteme Amerikas unter den Tropen im Laufe der Jahrhunderte ſich ganz von— einander trennen werden. Da ich es mir zum Geſetz gemacht habe, nur Thatſächliches zu beſchreiben und die Verhältniſſe, die in verſchiedenen Ländern zwiſchen der Bodenbildung und dem Laufe der Gewäſſer beſtehen, zu vergleichen, ſo habe ich alles bloß Hypothetiſche zu vermeiden. Zunächſt bemerke ich, daß der Caſſiquiare in ſeinem gegenwärtigen Zuſtande keines— wegs placidus et mitissimus amnis iſt, wie es bei den Poeten Latiums heißt; er gleicht durchaus nicht dem errans lauguido flumine Cocytus, da er im größten Teile ſeines Laufes die ungemeine Geſchwindigkeit von 1,95 bis 2,6 m in der Sekunde hat. Es iſt alſo wohl nicht zu fürchten, daß er ein mehrere hundert Kilometer breites Bett ganz verſtopft. Dieſer Arm u a des oberen Orinoko iſt eine zu großartige Erſcheinung, als daß die kleinen Umwandlungen, die wir an der Erdoberfläche vorgehen ſehen, demſelben ein Ende machen oder auch nur viel daran verändern könnten. Wir beſtreiten nicht, vollends wenn es ſich von minder breiten und ſehr langſam jtrömen: - den Gewäſſern handelt, daß alle Flüſſe eine Neigung haben, ihre Verzweigungen zu vermindern und ihre Becken zu iſolieren. Die majeſtätiſchten Ströme erſcheinen, wenn man die ſteilen Hänge der alten weitab liegenden Ufer betrachtet, nur als Waſſerfäden, die ſich durch Thäler winden, die ſie ſelbſt ſich nicht haben graben können. Der heutige Zuſtand ihres Bettes weiſt deutlich darauf hin, daß die ſtrömenden Gewäſſer all: mählich abgenommen haben. Ueberall treffen wir die Spuren alter ausgetrockneter Arme und Gabelungen, für die kaum ein hiſtoriſches Zeugnis vorliegt. Die verſchiedenen, mehr oder weniger parallelen Rinnen, aus denen die Betten der amerikaniſchen Flüſſe beſtehen, und die fie weit waſſerreicher erſcheinen laſſen, als ſie wirklich ſind, verändern allgemach ihre Richtung; ſie werden breiter und verſchmelzen dadurch, daß die Längsgräten zwiſchen denſelben abbröckeln. Was an⸗ fangs nur ein Arm war, wird bald der einzige Waſſerbe— hälter, und bei Strömen, die langſam ziehen, verſchwinden die Gabelteilungen oder Verzweigungen zwiſchen zwei hydrau— liſchen Syſtemen auf dreierlei Wegen: entweder der Ver⸗ bindungskanal zieht den ganzen gegabelten Strom in ſein Becken hinüber, oder der Kanal verſtopft ſich durch Anſchwem⸗ mungen an der Stelle, wo er vom Strome abgeht, oder endlich in der Mitte ſeines Laufes bildet ſich ein Querkamm, eine Waſſerſcheide, wodurch das obere Stück einen Gegenhang erhält und das Waſſer in umgekehrter Richtung zurückfließt. Sehr niedrige und großen periodiſchen Ueberſchwemmungen ausgeſetzte Länder, wie Guyana in Amerika und Dar⸗Saley oder Bagirmi in Afrika,! geben uns ein Bild davon, wie viel häufiger dergleichen Verbindungen durch natürliche Kanäle früher geweſen ſein mögen als jetzt. Nachdem ich die Gabelteilung des Orinoko aus dem Ge⸗ ſichtspunkte der vergleichenden Hydrographie betrachtet, 1 Südöſtlich von Bornu und dem See No, in dem Teile von Sudan, wo, nach den letzten Ermittelungen meines unglücklichen Freundes Ritchie, der Nigir den Schari aufnimmt und ſich in den Weißen Nil ergießt. — 40 — habe ich noch kurz die Geſchichte der Entdeckung dieſes merk— würdigen Phänomens zu beſprechen. Es ging mit der Ver— bindung zwiſchen zwei großen Flußſyſtemen wie mit dem Laufe des Nigirs gegen Oſt. Man mußte mehrere Male entdecken, was auf den erſten Anblick der Analogie und angenommenen Hypotheſen widerſprach. Als bereits durch Reiſende ausge— macht war, auf welche Weiſe Orinoko und Amazonenſtrom zuſammenhängen, wurde noch, und zwar zu wiederholten Malen bezweifelt, ob die Sache überhaupt möglich ſei. Eine Berg— kette, die der Geograph Hondius zu Ende des 16. Jahr— hunderts als Grenzſcheide beider Flüſſe gefabelt hatte, wurde bald angenommen, bald geleugnet. Man dachte nicht daran, daß ſelbſt wenn dieſe Berge vorhanden wären, deshalb die beiden hydrauliſchen Syſteme nicht notwendig getrennt ſein müßten, da ja die Gewäſſer durch die Kordillere der Anden und die Himalayakette,! die höchſte bekannte der Welt, ſich Bahn gebrochen haben. Man behauptete, und nicht ohne Grund, Fahrten, die mit demſelben Kane ſollten gemacht worden ſein, ſchließen die Möglichkeit nicht aus, daß die Waſſerſtraße durch Trageplätze unterbrochen geweſen. Ich habe dieſe ſo lange beſtrittene Gabelteilung nach ihrem ganzen Verhalten ſelbſt beobachtet, bin aber deshalb weit entfernt, Gelehrte zu tadeln, die, gerade weil es ihnen nur um die Wahrheit zu thun war, Bedenken trugen, als wirklich gelten zu laſſen, was ihnen noch nicht genau genug unterſucht zu ſein ſchien. Da der Amazonenſtrom von den Portugieſen und den Spaniern ſchon lange befahren wurde, ehe die beiden Neben: buhler den oberen Orinoko kennen lernten, ſo kam die erſte unſichere Kunde von der Verzweigung zweier Ströme von der Mündung des Rio Negro nach Europa. Die Konquiftadoren und mehrere Geſchichtſchreiber, wie Herrera, Fray Pedro Simon und der Pater Garcia verwechſelten unter dem Namen Rio grande und Mar dulce den Orinoko und den Marafon. Der Name des erſteren Fluſſes kommt noch nicht einmal auf Diego Riberos vielberufener Karte von Amerika aus dem Der Sudledge, der Gogra, der Gunduk, der Arun, der Theesla und der Brahmaputra laufen durch Querthäler, d. h. ſenk⸗ recht auf die große Achſe der Himalayakette. Alle dieſe Flüſſe durchbrechen alſo die Kette, wie der Amazonenſtrom, der Paute und der Paſtaza die Kordillere der Anden. a Jahre 1529 vor. Durch die Expeditionen des Orellana (1540) und des Lope de Aguirre (1560) erfuhr man nichts über die Gabelteilung des Orinoko; da aber Aguirre fo auffallend ſchnell die Inſel Margarita erreicht hatte, glaubte man lange, derſelbe ſei nicht durch eine der großen Mündungen des „Amazonen: ſtromes, ſondern durch eine Flußverbindung im Inneren auf die See gelangt. Der Jeſuit Acuna hat ſolches als Be— hauptung aufgeſtellt; aber das Ergebnis meiner Nachforſchungen in den Schriften der früheſten Geſchichtſchreiber der Eroberung ſpricht nicht dafür. „Wie kann man glauben,“ ſagt dieſer Miſſionär, „daß Gott es zugelaſſen, daß ein Tyrann es hinausführe und die ſchöne Entdeckung der Mündung des Maranon mache!“ Acuna jeßt voraus, Aguirre ſei durch den Rio Felipe an die See gelangt, und dieſer Fluß „ſei nur wenige Meilen von Cabo del Norte entfernt.“ Ralegh brachte auf verſchiedenen Fahrten, die er ſelbſt gemacht oder die auf ſeine Koſten unternommen worden, nichts über eine hydrauliſche Verbindung zwiſchen Orinoko und Ama- zonenſtrom in Erfahrung; aber ſein Unterbefehlshaber Keymis, der aus Schmeichelei (beſonders aber wegen des Vorganges, daß der Maranon nach Orellana benannt worden) dem Ori— noko den Namen Raleana beigelegt, bekam zuerſt eine un— beſtimmte Vorſtellung von den Trageplätzen zwiſchen dem Eſſequibo, dem Carony und dem Rio Branco oder Parime. Aus dieſen Trageplätzen machte er einen großen Salzſee, und in dieſer Geſtalt erſchienen ſie auf der Karte, die 1599 nach Raleghs Berichten entworfen wurde. Zwiſchen Orinoko und Amazonenſtrom zeichnet man eine Kordillere ein, und ſtatt der wirklichen Gabelung gibt Hondius eine andere, völlig ein— gebildete an: er läßt den Amazonenſtrom (mittels des Rio Tocantins) mit dem Parana und dem San Francisco in Verbindung treten. Dieſe Verbindung blieb über ein Jahr— hundert auf den Karten ſtehen, wie auch eine angebliche Gabel— teilung des Magdalenenſtromes, von dem ein Arm zum Eolf von Maracaybo laufen ſollte. Im Jahre 1639 machten die Jeſuiten Chriſtoval de Acuna und Andres de Artedia, im Gefolge des Kapitäns Texeira, die Fahrt von Quito nach Gran-Para. Am Einfluſſe des Rio Negro in den Amazonenſtrom erfuhren ſie, „erſterer Fluß, von den Eingeborenen wegen der braunen Farbe ſeines Waſſers Curiguacura oder Uruna genannt, gebe einen Arm an den Rio Grande ab, der ſich in die nördliche See ergießt, a ge und an deſſen Mündung fich holländische Niederlaſſungen be: finden.“ Acuna gibt den Rat, „nicht am Einfluſſe des Rio Negro in den Amazonenſtrom, ſondern am Punkte, wo der Verbindungsaſt abgeht“, eine Feſtung zu bauen. Er beſpricht die Frage, was wohl dieſer Rio Grande ſein möge, und kommt zum Schluſſe, der Orinoko ſei es ſicher nicht, vielleicht aber der Rio Dulce oder der Rio de Felipe, derſelbe, durch den Aguirre zur See gekommen. Letztere dieſer An— nahmen ſcheint ihm die wahrſcheinlichſte. Man muß bei der— gleichen Angaben unterſcheiden zwiſchen dem, was die Reiſen— den an der Mündung des Rio Negro von den Indianern erfahren, und dem, was jene nach den Vorſtellungen, die ihnen der Zuſtand der Geographie zu ihrer Zeit an die Hand gab, ſelbſt hinzuſetzten. Ein Flußarm, der vom Rio Negro ab— geht, ſoll ſich in einen ſehr großen Fluß ergießen, der in das nördliche Meer läuft an einer Küſte, auf der Menſchen mit roten Haaren wohnen; ſo bezeichneten die Indianer die Holländer, da ſie gewöhnt waren, nur Weiße mit ſchwarzen oder braunen Haaren, Spanier oder Portu— gieſen, zu ſehen. Wir kennen nun aber jetzt, vom Einfluſſe des Rio Negro in den Amazonenſtrom bis zum Cano Pimichin, auf dem ich in den erſteren Fluß gekommen, alle Nebenflüſſe von Nord und Oſt her. Nur ein einziger darunter, der Caſſiquiare, ſteht mit einem anderen Fluſſe in Verbindung. Die Quellen des Rio Branco ſind auf den neuen Karten des braſilianiſchen hydrographiſchen Depots ſehr genau aufgenom— men, und wir wiſſen, daß dieſer Fluß keineswegs durch einen See mit dem Carony, dem Eſſequibo oder irgend einem an— deren Gewäſſer der Küſte von Surinam und Cayenne in Ver— bindung ſteht. Eine hohe Bergkette, die von Pacaraymo, liegt zwiſchen den Quellen des Paraguamuſi (eines Neben: fluſſes des Carony) und denen des Rio Branco, wie es von Don Antonio Santos auf ſeiner Reiſe von Angoſtura nach Gran-Para im Jahre 1775 ausgemacht worden. Südwärts von der Bergkette Pacaraymo und Quimiropaca befindet ſich ein Trageplatz von drei Tagereiſen zwiſchen dem Sarauri (einem Arme des Rio Branco) und dem Rupunuri (einem Arme des Eſſequibo). Ueber dieſen Trageplatz kam im Jahre 1759 der Chirurg Nikolas Hortsmann, ein Hildesheimer, deſſen Tagebuch ich in Händen gehabt; es iſt dies derſelbe Weg, auf dem Don Francisco Joſe Rodriguez Barata, Oberſt— lieutenant des erſten Linienregimentes in Para, im Jahre 1793 „ cc ( . 2er im Auftrage feiner Regierung zweimal vom Amazonenſtrome nach Surinam ging. In noch neuerer Zeit, im Februar 1811, kamen engliſche und holländiſche Koloniſten zum Trageplatz am Rupunuri und ließen den Befehlshaber am Rio Negro um die Erlaubnis bitten, zum Rio Branco ſich begeben zu dürfen; der Kommandant willfahrte dem Geſuch und jo kamen die Koloniſten in ihren Kanoen zum Fort San Joaquin am Rio Branco. Wir werden in der Folge noch einmal auf dieſe Landenge zurückkommen, einen teils bergigen, teils fumpfigen Landſtrich, auf den Keymis (der Verfaſſer des Berichtes von Raleghs zweiter Reiſe) den Dorado und die große Stadt Manoa verlegt, der aber, wie wir jetzt beſtimmt wiſſen, die Quellen des Carony, des Rupunuri und des Rio Branco trennt, die drei verſchiedenen Flußſyſtemen an— gehören, dem Orinoko, dem Eſſequibo und dem Rio Negro oder Amazonenſtrom. Aus dem Bisherigen geht hervor, daß die Eingeborenen, die Texeira und Acuna von der Verbindung zweier großer Ströme ſprachen, vielleicht ſelbſt über die Richtung des Caſſi— quiare im Irrtum waren, oder daß Acuna ihre Aeußerungen mißverſtanden hat. Letzteres iſt um ſo wahrſcheinlicher, da ich, wenn ich mich, gleich dem ſpaniſchen Reiſenden, eines Dolmetſchers bediente, oft ſelbſt die Erfahrung gemacht habe, wie leicht man etwas falſch auffaßt, wenn davon die Rede iſt, ob ein Fluß Arme abgibt oder aufnimmt, ob ein Neben— fluß mit der Sonne geht oder „gegen die Sonne“ läuft. Ich bezweifle, daß die Indianer mit dem, was fie gegen Acuna geäußert, die Verbindung mit den holländiſchen Beſitzungen über die Trageplätze zwiſchen dem Rio Branco und dem Rio Eſſequibo gemeint haben. Die Kariben kamen an den Rio Negro auf beiden Wegen, über die Landenge beim Rupunuri und auf dem Caſſiquiare; aber eine ununterbrochene Waſſer— ſtraße mußte den Indianern als etwas erſcheinen, das für die Fremden ungleich mehr Belang habe, und der Orinoko mündet allerdings nicht in den holländiſchen Beſitzungen aus, liegt aber doch denſelben ſehr nahe. Acunas Aufenthalt an der Mündung des Rio Negro verdankt Europa nicht nur die erſte Kunde von der Verbindung zwiſchen Amazonenſtrom und Ori— noko, derſelbe hatte auch aus dem Geſichtspunkte der Huma⸗ nität gute Folgen. Texeiras Mannſchaft wollte den Befehls— haber zwingen, in den Rio Negro einzulaufen, um Sklaven zu holen. Die beiden Geiſtlichen, Acuna und Artedia, legten AR ſchriftliche Verwahrung gegen ein ſolch ungerechtes und politiſch unkluges Unternehmen ein. Sie behaupteten dabei (und der Satz iſt ſonderbar genug), „das Gewiſſen geſtatte den Chriſten nicht, Eingeborene zu Sklaven zu machen, ſolche ausgenommen, die als Dolmetſcher zu dienen hätten“. Was man auch von dieſem Satze halten mag, auf die hochherzige, mutvolle Ver⸗ wahrung der beiden Geiſtlichen unterblieb der beabſichtigte Raubzug. Im Jahre 1680 entwarf der Geograph Sanſon nach Acunas Reiſebericht eine Karte vom Orinoko und dem Ama⸗ zonenſtrome. Sie iſt für den Amazonenſtrom, was Gumillas Karte ſo lange für den unteren Orinoko geweſen. Im ganzen Striche nördlich vom Aequator iſt fie rein hypothetiſch, und der Caqueta, wie ſchon oben bemerkt, gabelt ſich darauf unter einem rechten Winkel. Der eine Arm des Caqueta iſt der Orinoko, der andere der Rio Negro. In dieſer Weiſe glaubte Sanſon auf der erwähnten Karte, und auf einer anderen von ganz Südamerika aus dem Jahre 1656, die unbeſtimm⸗ ten Nachrichten, welche Acuna im Jahre 1639 über die Verzweigungen des Caqueta und über die Verbindungen zwiſchen Amazonenſtrom und Orinoko erhalten, vereinigen zu können. Die irrige Vorſtellung, der Rio Negro ent— ſpringe aus dem Orinoko oder aus dem Caqueta, von dem der Orinoko nur ein Zweig wäre, hat ſich bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts erhalten, wo der Caſſiquiare entdeckt wurde. Pater Fritz war mit einem anderen deutſchen Jeſuiten, dem Pater Richler, nach Quito gekommen; er entwarf im Jahre 1690 eine Karte des Amazonenſtromes, die beſte, die man vor La Condamines Reiſe beſaß. Nach dieſer Karte richtete ſich der franzöſiſche Akademiker auf ſeiner Flußfahrt, wie ich auf dem Orinoko nach den Karten von La Cruz und Caulin. Es iſt auffallend, daß Pater Fritz bei ſeinem langen Aufenthalt am Amazonenſtrom (der Kommandant eines por— tugieſiſchen Forts hielt ihn zwei Jahre gefangen) keine Kunde vom Caſſiquiare erhalten haben ſoll. Die geſchichtlichen Notizen, die er auf dem Rande ſeiner handſchriftlichen Karte beigefetz und die ich in neueſter Zeit ſorgfältig unterſucht habe, ſind ſehr mangelhaft; auch ſind ihrer nicht viele. Er läßt eine Bergkette zwiſchen den beiden Flußſyſtemen ſtreichen und rückt nur einen der Zweige, die den Rio Negro bilden, nahe an einen Nebenfluß des Orinoko, der, der Lage nach, der Rio Caura zu fein Scheint. In den 100 Jahren zwiſchen Acufias Reiſe und der Entdeckung des Caſſiquiare durch Pater Roman blieb alles im Ungewiſſen. Die Verzweigung des Orinoko und des Amazonenſtromes durch den Rio Negro und eine Gabelteilung des Caqueta, die Sanſon aufgebracht und die Pater Fritz und Blaeuw ver— warfen, erſchienen auf de l' Isles erſten Karten wieder; aber gegen das Ende ſeines Lebens gab der berühmte Geograph ſie wieder auf. Da man ſich hinſichtlich der Art und Weiſe der Verbindung geirrt, war man ſchnell bei der Hand und zog die Verbindung ſelbſt in Abrede. Es iſt wirklich ſehr merkwürdig, daß zur Zeit, wo die Portugieſen am häufigſten den Amazonenſtrom, den Rio Negro und den Caſſiquiare hinauffuhren, und wo Pater Gumillas Briefe (durch die natürliche Flußverzweigung) vom unteren Orinoko nach Gran— Para gelangten, dieſer ſelbe Miſſionär ſich alle Mühe gab, in Europa die Meinung zu verbreiten, daß die Becken des Orinoko und des Amazonenſtromes völlig voneinander geſchieden ſeien. Er verſichert, „er ſei öfters erſteren Fluß bis zum Raudal von Tabaje, unter 1° 4 der Breite, hinauf: gefahren und habe niemals einen Fluß, den man für den Rio Negro hätte halten können, abgehen oder hereinkommen ſehen“. „Zudem,“ fährt er fort, „läuft eine große Kotdillere! von Oſt und Weſt und läßt die Gewäſſer nicht ineinander münden, wie ſie auch alle Erörterung über die angebliche Verbindung beider Ströme ganz überflüſſig macht.“ Pater Gumillas Irrtümer entſpringen daher, daß er der feſten Ueber— zeugung war, auf dem Orinoko bis zum Parallel von 1° 4° gekommen zu ſein. Er irrte ſich um mehr als fünf Grad zehn Minuten in der Breite; denn in der Miſſion Atures, 1 Pater Caulin, der im Jahre 1759 ſchrieb, obgleich ſein wahrheitgetreues, ſehr wertvolles Buch (Historia corografica de la Nueva Andalusia y vertientes del Rio Orinoco) erſt 1779 erſchien, beſtreitet mit vielem Scharfſinn die Vorſtellung, daß eine Bergkette jede Verbindung zwiſchen den Becken des Orinoko und des Amazonenſtromes ausſchließe. „Pater Gumillas Irrtum,“ ſagt er, „beſteht darin, daß er ſich vorſtellt, von den Grenzen von Neugranada bis Cayenne müſſe ſich eine Kordillere ununter— brochen, wie eine ungeheure Mauer fortziehen. Er beachtet nicht, daß Bergketten häufig von tiefen (Quer-)TThälern durchſchnitten find, während fie, aus der Ferne geſehen, fi als contiguas ô indivisas darſtellen.“ — 46 — 58,5 km ſüdwärts von den Stromſchnellen von Tabaje, fand: ich die Breite 5° 37° 34“. Da Pater Gumilla nicht weit über den Einfluß des Meta hinaufgekommen, ſo iſt es nicht zu verwundern, daß er die Gabelteilung des Orinako nicht gekannt hat, die, den Krümmungen des Fluſſes nach, 540 km vom Raudal von Tabaje liegt. Dieſer Miſſionär, der drei Jahre am unteren Orinoko gelebt hat (nicht dreißig, wie durch ſeine Ueberſetzer in Umlauf gekommen), hätte ſich darauf be— ſchränken ſollen, zu berichten, was er bei ſeinen Fahrten auf dem Apure, dem Meta und Orinoko von Guyana Vieja bis in die Nähe des erſten großen Kataraktes mit eigenen Augen geſehen. Sein Werk (das erſte über dieſe Länder vor Cau— lins und Gilis Schriften) wurde anfangs gewaltig erhoben, und ſpäter in den ſpaniſchen Kolonieen um ſo weiter und zu weit herabgeſetzt. Allerdings begegnet man im Orinoco ilustrado nicht der genauen Kenntnis der Oertlichkeiten, der naiven Einfalt, wodurch die Berichte der Miſſionäre einen gewiſſen Reiz erhalten; der Stil iſt gekünſtelt und die Sucht zu übertreiben gibt ſich überall kund; trotz dieſer Fehler fin— den ſich in Pater Gumillas Buch ſehr richtige Anſichten über die Sitten und die natürlichen Anlagen der verſchiedenen Völker— ſchaften am unteren Orinoko und in den Llanos am Caſanare. Auf ſeiner denkwürdigen Fahrt auf dem Amazonenſtrom im Jahre 1743 hatte La Condamine zahlreiche Belege für die vom ſpaniſchen Jeſuiten geleugnete Verbindung zwiſchen bei— den Strömen geſammelt. Als den bündigſten derſelben ſah er damals die nicht verdächtige Ausſage einer Cauriacani— indianerin an, mit der er geſprochen und die vom Orinoko (von der Miſſion Pararuma) im Kanoe nach Gran-Para gelangt war. Ehe La Condamine in das Vaterland zurück— kam, ſetzten die Fahrt des Pater Manuel Roman und der Umſtand, daß Miſſionäre vom Orinoko und vom Ama— zonenſtrom ſich zufällig begegneten, die Thatſache, die zuerſt Acuna kund geworden, außer allen Zweifel. Auf den Streifzügen zur Sklavenjagd, welche ſeit der Mitte des 17. Jahrhunderts unternommen wurden, waren die Portugieſen nach und nach aus dem Rio Negro über den Caſſiquiare in das Bett eines großen Stromes gekommen, von dem ſie nicht wußten, daß es der Orinoko ſei. Ein flie— gendes Lager der Tropa de rescate! leiſtete dieſem un: 1 Von rescatar, loskauſen. 1 menſchlichen Handel Vorſchub. Man hetzte die Eingeborenen, ſich zu bekriegen, und kaufte dann die Gefangenen los; und um dem Sklavenhandel einen Anſtrich von Rechtmäßigkeit zu geben, gingen Geiſtliche mit der Tropa de rescate, die unter: ſuchten, „ob diejenigen, welche Sklaven verkauften, auch dazu berechtigt ſeien, weil ſie dieſelben in offenem Kampfe zu Ge— fangenen gemacht“. Vom Jahre 1737 an wiederholten ſich dieſe Züge der Portugieſen an den oberen Orinoko ſehr oft. Die Gier, Sklaven (poitos) gegen Beile, Fiſchangeln und Glaswaren zu vertauſchen, trieb die indianiſchen Völkerſchaften zum blutigen Streite gegeneinander. Die Quipunave, unter ihrem tapferen und grauſamen Häuptling Macapu, waren vom Inirida zum Zuſammenfluſſe des Atabapo und des Orinoko herabgekommen. „Sie verkauften,“ ſagt der Miſſionär Gili, „die Gefangenen, die ſie nicht verzehrten.“ Ueber dieſem Treiben wurden die Jeſuiten am unteren Orinoko unruhig, und der Superior der ſpaniſchen Miſſionen, Pater Roman, ein vertrauter Freund Gumillas, faßte mutig den Entſchluß, ohne Begleitung von ſpaniſchen Soldaten über die großen Katarakte hinoufzugehen und die Quipunave heimzuſuchen. Er ging am 4. Februar 1744 von Carichana ab; angelangt am Zuſammenfluſſe des Guaviare, des Atabapo und des Ori— noko, an der Stelle, wo letzterer Fluß aus ſeiner Richtung von Oſt nach Weſt in die von Süd nach Nord übergeht, ſah er von weitem eine Piroge, ſo groß wie die ſeinige, voll von europäiſch gekleideten Leuten. Er ließ, gemäß der Sitte der Miſſionäre, wenn ſie in unbekanntem Lande auf dem Waſſer ſind, als Friedenszeichen das Kruzifix am Vorderteile ſeines Fahrzeuges aufpflanzen. Die Weißen (es waren por— tugieſiſche Sklavenhändler vom Rio Negro) erkannten mit Jubel das Ordenskleid des heiligen Ignatius. Sie verwun— derten ſich, als ſie hörten, der Fluß, auf dem dieſe Begeg— nung ſtattgefunden, ſei der Orinoko, und ſie nahmen Pater Roman über den Caſſiquiare in die Niederlaſſungen am Rio Negro mit ſich. Der Superior der ſpaniſchen Miſſionen ſah ſich genötigt, beim fliegenden Lager der Tropa de rescate zu verweilen, bis der portugieſiſche Jeſuit Avogadri, der in Geſchäften nach Gran-Para gegangen, zurück war. Auf dem— ſelben Wege, über den Caſſiquiare und den oberen Orinoko, fuhr Pater Roman mit feinen Salivasindianern nach Para: ruma, etwas nördlich von Carichana, zurück, nachdem er ſieben Monate ausgeweſen. Er iſt der erſte Weiße, der vom Rio — 1 Te Negro, und ſomit aus dem Becken des Amazonenſtromes (ohne feine Kanoen über einen Trageplatz ſchaffen zu laſſen) in das Becken des Orinoko gelangt iſt. Die unge dieſer merkwürdigen Fahrt verbreitete ſich jo raſch, daß La Condamine in einer öffentlichen Sitzung der Akademie ſieben Monate nach Pater Romans Rückkehr nach Pararuma Mitteilung davon machen konnte. Er ſagt: „Die nunmehr beglaubigte Verbindung des Orinoko und des Ama— zonenſtromes kann um ſo mehr für eine geographiſche Ent— deckung gelten, als zwar dieſe Verbindung auf den alten Karten (nach Acunas Berichten) angegeben iſt, aber von den heutigen Geographen auf den neuen Karten, wie auf Verab— redung, weggelaſſen wird. Es iſt dies nicht das erſte Mal, daß etwas für fabelhaft gegolten hat, was doch vollkommen richtig war, daß man die Kritik zu weit trieb, und daß dieſe Verbindung von Leuten für ſchimäriſch erklärt wurde, die am beſten davon hätten wiſſen ſollen.“ Seit Pater Romans Fahrt im Jahre 1744 hat in Spaniſch-Guyana und an den Küſten von Cumana und Caracas kein Menſch mehr die Exi⸗ ſtenz des Caſſiquiare und die Gabelteilung des Orinoko in Zweifel gezogen. Sogar Pater Gumilla, den Bouguer in Cartagena de Indias getroffen hatte, geſtand, daß er ſich geirrt, und kurz vor ſeinem Tode las er Pater Gili ein für eine neue Ausgabe ſeiner Geſchichte des Orinoko beſtimmtes Supplement vor, in dem er munter erzählte, in welcher Weiſe er enttäuſcht worden. Durch Ituriagas und Solanos Grenzexpedition wurden die geographiſchen Verhältniſſe des oberen Orinoko und die Verzweigung dieſes Fluſſes mit dem Rio Negro vollends genau bekannt. Solano ließ ſich im Jahre 1756 an der Mündung des Atabapo nieder, und von nun an fuhren ſpaniſche und portugieſiſche Kommiſſäre mit ihren Pirogen oft über den Caſſiquiare vom unteren Orinoko an den Rio Negro, um ſich in ihren Hauptquartieren Cabruta? ' Lepidamente, al suo solito, ſagt der Miſſionär Gili. General Ituriaga, der zuerſt in Muitaco oder Real Corona, ſpäter in Cabruta krank lag, wurde im Jahre 1760 vom portu— gieſiſchen Oberſten Don Gabriel de Soufa y Figueira beſucht, der von Gran-Para aus gegen 4050 km im Kanoe zurückgelegt hatte. Der ſchwediſche Botaniker Löfling, der dazu auserſehen war, die Grenzexpedition auf Koſten der ſpaniſchen Regierung zu begleiten, häufte in ſeiner lebhaften Phantaſie die Verzweigungen der großen REN. ©, und Mariva zu beſuchen. Seit 1767 kamen regelmäßig jedes Jahr zwei bis drei Pirogen von der Schanze San Carlos uͤber die Gabelteilung des Orinoko nach Angoſtura, um Salz und den Sold für die Truppen zu holen. Dieſe Fahrten von einem Flußbecken in das andere durch den natürlichen Kanal des Caſſiquiare machen jetzt bei den Koloniſten ſo wenig Aufſehen mehr, als wenn Schiffe die Loire herab auf dem Kanal von Orleans in die Seine kommen. Seit Pater Romans Fahrt im Jahre 1744 war man in den ſpaniſchen Beſitzungen in Amerika von der Richtung des oberen Orinoko von Oſt nach Weſt und von der Art ſeiner Verbindung mit dem Rio Negro genau unterrichtet, aber in Europa wurde letztere erſt weit ſpäter bekannt. Noch im Jahre 1750 nahmen La Condamine und d' Anville an, der Orinoko ſei ein Arm des Caqueta, der von Südoſt herkomme, und der Rio Negro entſpringe unmittelbar daraus. Erſt in einer zweiten Ausgabe ſeines Südamerika läßt d'Anville, ohne gleichwohl eine Verzweigung des Caqueta vermittelſt des Iniricha (Inirida) mit dem Orinoko und dem Rio Negro aufzugeben, den Orinoko im Oſten in der Nähe der Quellen des Rio Branco entſpringen und gibt er den Rio Caſſiquiare an, der vom oberen Orinoko zum Rio Negro läuft. Wahr- ſcheinlich hatte ſich der unermüdliche Forſcher durch ſeinen ſtarken Verkehr mit den Miſſionären, die damals, wie noch jetzt, für das eigentliche Herz der Feſtländer die einzigen geo— graphiſchen Autoritäten waren, Nachweiſungen über die Art der Gabelteilung verſchafft. Hinſichtlich des Zuſammenfluſſes des Caſſiquiare mit dem Rio Negro irrte er ſich um 3½ Breiten— grade, aber die Lage des Atabapo und der bewaldeten Land— enge, über die ich von Javita an den Rio Negro gekommen, gibt er ſchon ziemlich richtig an. Durch die in den Jahren 1775 und 1778 veröffentlichten Karten von La Cruz Olme— dilla und Surville ſind, neben Pater Caulins Werke, die Ströme Südamerikas dergeſtalt, daß er überzeugt war, er könnte aus dem Rio Negro und dem Amazonenſtrome in den Rio de la Plata fahren. ! Die Karte von La Cruz liegt allen neuen Karten von Amerika zu Grunde. (Mapa geografica de America meridional por D. Juan de la Cruz Cano y Olmedilla 1775.) Die Original⸗ ausgabe, die ich beſitze, iſt deſto ſeltener, als, wie man allgemein glaubt, die Kupferplatten auf Befehl eines Kolonialminifters zer: A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 4 ee Arbeiten der Grenzexpedition am beiten bekannt geworden; denn die zahlreichen Widerſprüche darauf beziehen ſich auf die Quellen des Orinoko und des Rio Branco, nicht auf den Lauf des Caſſiquiare und des Rio Negro, die ſo richtig an— gegeben ſind, als man es beim gänzlichen Mangel an aſtro— nomiſchen Beobachtungen verlangen kann. So ſtand es mit den hydrographiſchen Entdeckungen im Inneren von Guyana, als kurze Zeit vor meinem Abgang von Europa ein Gelehrter, deſſen Arbeiten die Geographie fo bedeutend gefördert haben, Acunas Bericht, die Karte des Paters Samuel Fritz und La Cruz Olmedillas „Südamerika“ noch einmal näher prüfen zu müſſen glaubte. Die politiſchen Verhältniſſe in Frankreich machten vielleicht, daß ſich Buache nicht verſchaffen oder nicht benutzen konnte, was Caulin und Gili geſchrieben, die zwei Miſſionäre, die am Orinoko lebten, als die Grenzexpedition zwiſchen der ſpaniſchen Schanze am Rio Negro und der Stadt Angoſtura, über den Caſſiquiare und den oberen Orinoko, den Verkehr eröffnete, der über ein halbes Jahrhundert regelmäßig im Gange war. Auf der im Jahre 1798 erſchienenen Carte générale de la Guyane iſt der Caſſiquiare und das Stück des oberen Orinoko oſtwärts von Esmeralda als ein Nebenfluß des Rio Negro, der mit dem Orinoko gar nicht zuſammenhängt, dargeſtellt. Eine Bergkette ſtreicht über die Ebene, welche die Landenge zwiſchen dem Tuamini und dem Pimichin bildet. Dieſe Kette läßt die Karte gegen Nordoſt fortlaufen und zwiſchen den Gewäſſern des Orinoko und denen des Rio Negro und Caſſiquiare, 90 km weſtlich von Esmeralda, eine Waſſerſcheide bilden. In einer An— merkung auf der Karte heißt es: „Die ſchon lange her an— genommene Verbindung zwiſchen dem Orinoko und dem Amazonenſtrom ſei eine geographiſche Ungeheuerlichkeit, die Olmedillas Karte ohne allen Grund in der Welt verbreitet, und um die Vorſtellungen über dieſen Punkt zu berichtigen, habe man die Richtung der großen Bergkette, welche die Waſſerſcheide bilde, zu ermitteln.“ Ich war ſo glücklich, dieſe Bergkette an Ort und Stelle zu ermitteln. Ich übernachtete am 24. Mai mit meiner Piroge am Stücke des Orinoko, wo nach Buaches Annahme brochen worden ſind, weil derſelbe beſorgte, die Karte möchte allzu genau ſein. Ich kann verſichern, daß ſie dieſen Vorwurf nur hin— ſichtlich weniger Punkte verdient. a eine Kordillere über das Flußbett laufen ſollte. Befände ſich an dieſem Punkt eine Waſſerſcheide, ſo hätte ich die erſten 90 km weſtwärts von Esmeralda einen Fluß hinauf, ſtatt, wie ich gethan, mit raſcher Strömung hinab fahren müſſen. Derſelbe Fluß, der oſtwärts von dieſer Miſſion entſpringt und einen Arm (den Caſſiquiare) an den Rio Negro abgibt, läuft ohne Unterbrechung Santa Barbara und San Fernando de Atabapo zu. Es iſt dies das Stück des Orinoko, das von Südoſt nach Nordweſt gerichtet iſt und bei den Indianern Rio Paragua heißt. Nachdem er ſeine Gewäſſer mit denen des Guaviare und des Atabapo vermiſcht, wendet ſich der— ſelbe Fluß gegen Norden und geht durch die großen Kata— rakten. Alle dieſe Punkte ſind auf der großen Karte von La Cruz im ganzen gut angegeben; ohne Zweifel hat aber Buache vorausgeſetzt, bei den verſchiedenen Fahrten, die zwiſchen Amazonenſtrom und Orinoko ausgeführt worden ſein ſollten, ſeien die Kanoen von einem Nebenfluß zum anderen über irgend einen Trageplatz (arastradero) geſchleppt worden. Dem geachteten Geographen lag die Annahme, die Flüſſe laufen in Wirklichkeit nicht ſo, wie die neueren ſpaniſchen Karten angeben, deſto näher, als auf denſelben Karten um den See Parime herum (das angebliche, 12 150 qkm große Weiße Meer) die ſeltſamſten, unwahrſcheinlichſten Flußver— zweigungen vorkommen. Man könnte auf den Orinoko an— wenden, was Pater Acuna vom Amazonenſtrom ſagt, deſſen Wunder er beſchreibt: „Nacieron hermanadas en las cosas grandes la novedad y el descredito.“! Hätten die Völker in den Niederungen von Südamerika teilgehabt an der Kultur, welche in der kalten Alpenregion verbreitet war, ſo hätte dieſes ungeheure Meſopotamien zwiſchen Orinoko und Amazonenſtrom die Entwickelung ihres Gewerbe— fleißes gefördert, ihren Handel belebt, den geſellſchaftlichen Fortſchritt beſchleunigt. In der Alten Welt ſehen wir überall einen ſolchen Einfluß der Oertlichkeit auf die keimende Kultur der Völker. Die Inſel Meroe zwiſchen dem Aſtaboras und dem Nil, das Pendſchab des Indus, das Duab des Ganges, das Meſopotamien des Euphrat ſind glänzende Belege dafür in den Annalen des Menſchengeſchlechts. Aber die ſchwachen In großen Dingen (bei außerordentlichen Naturerſcheinungen) gehen Neuheit und Unglauben Hand in Hand. I ar Völkerſtämme, die auf den Grasfluren und in den Wäldern von Südamerika herumziehen, haben aus den Vorzügen ihres Bodens und den Verzweigungen ihrer Flüſſe gar wenig Nutzen gezogen. Die Einfälle der Kariben, die weither den Orinoko, den Caſſiquiare und Rio Negro heraufkamen, um Sklaven zu rauben, rüttelten ein paar verſunkene Völker— ſchaften aus ihrer Trägheit auf und zwangen ſie, Vereine zur gemeinſamen Verteidigung zu bilden; aber das wenige Gute, das dieſe Kriege mit den Kariben (den Beduinen der Ströme Guyanas) mit ſich gebracht, war ein ſchlechter Erſatz für die Uebel, die ſie zur Folge hatten, Verwilderung der Sitten und Verminderung der Bevölkerung. Unzweifelhaft hat die Terrainbildung Griechenlands, die mannigfaltige Geſtaltung des Landes, ſeine Zerteilung durch kleine Bergketten und Buſen des Mittelmeeres, in den Anfängen der Kultur die geiſtige Entwickelung der Hellenen bedeutend gefördert. Aber dieſer Einfluß des Klimas und der Bodenbildung äußert ſich nur da in ſeiner ganzen Stärke, wo Menſchenſtämme mit glücklicher Begabung nach Geiſt und Gemüt einen An— ſtoß von außen erhalten. Gewinnt man einen Ueberblick über die Geſchichte unſeres Geſchlechtes, ſo ſieht man dieſe Mittelpunkte antiker Kultur da und dort gleich Lichtpunkten über den Erdball verſtreut, und gewahrt mit Ueberraſchung, wie ungleich die Geſittung unter den Völkern iſt, die faſt unter demſelben Himmelsſtriche wohnen und über deren Wohnſitze ſcheinbar die Natur dieſelben Segnungen ver— breitet hat. Seit ich den Orinoko und den Amazonenſtrom verlaſſen habe, bereitet ſich für die geſellſchaftlichen Verhältniſſe der Völker des Occidents eine neue Aera vor. Auf den Jammer der bürgerlichen Zwiſte werden die Segnungen des Friedens und eine freiere Entwickelung aller Gewerbthätigkeit folgen. Da wird denn die europäiſche Handelswelt jene Gabelteilung des Orinoko, jene Landenge am Tuamini, durch die ſo leicht ein künſtlicher Kanal zu ziehen iſt, ins Auge faſſen. Da wird der Caſſiquiare, ein Strom, ſo breit wie der Rhein und 330 km lang, nicht mehr umſonſt eine ſchiffbare Linie zwiſchen zwei Strombecken bilden, die 3850000 qkm Ober: fläche haben. Das Getreide aus Neugranada wird an die Ufer des Rio Negro kommen, von den Quellen des Napo und des Ucayale, von den Anden von Quito und Oberperu wird man zur Mündung des Orinoko hinabfahren, und dies — — iſt ſo weit wie von Timbuktu nach Marſeille. Ein Land, neun: bis zehnmal größer als Spanien und reich an den mannigfaltigſten Produkten, kann mittels des Naturkanals des Caſſiquiare und der Gabelteilung der Flüſſe nach allen Richtungen hin befahren werden. Eine Erſcheinung, die eines Tages von bedeutendem Einfluß auf die politiſchen Verhält— niſſe der Völker ſein muß, verdiente es gewiß, daß man ſie genau ins Auge faßte. Fünfundzwanzigſtes Kapitel. Der obere Orinoko von Esmeralda bis zum Einfluß des Gua— viare. — Zweite Fahrt durch die Katarakte von Atures und May— pures. — Der untere Orinoko zwiſchen der Mündung des Apure und Angoſtura, der Hauptſtadt von Spaniſch-Guyana. Noch habe ich von der einſamſten, abgelegenſten chriſt— lichen Niederlaſſung am oberen Orinoko zu ſprechen. Gegen— über dem Punkte, wo die Gabelteilung erfolgt, auf dem rechten Ufer des Fluſſes erhebt ſich amphitheatraliſch der Granitbergſtock des Duida. Dieſer Berg, den die Miſſionäre einen Vulkan nennen, iſt gegen 2600 m hoch. Er nimmt ſich, da er nach Süd und Weſt ſteil abfällt, äußerſt großartig aus. Sein Gipfel iſt kahl und ſteinig; aber überall, wo auf den weniger ſteilen Abhängen Dammerde haftet, hängen an den Seiten des Duida gewaltige Wälder wie in der Luft. An ſeinem Fuße liegt die Miſſion Esmeralda, ein Dörfchen mit 80 Einwohnern, auf einer herrlichen, von Bächen mit ſchwarzem, aber klarem Waſſer durchzogenen Ebene, einem wahren Wieſengrund, auf dem in Gruppen die Mauritia— palme, der amerikaniſche Sagobaum, ſteht. Dem Berge zu, der nach meiner Meſſung 14,2 km vom Miſſionskreuz liegt, wird die ſumpfige Wieſe zur Savanne, die um die untere Region der Kordillere herläuft. Hier trifft man ungemein große Ananas von köſtlichem Geruch. Dieſe Bromeliaart wächſt immer einzeln zwiſchen den Gräſern, wie bei uns Colchicum autumnale, während der Karatas, eine andere Art derſelben Gattung, ein geſelliges Gewächs iſt gleich un— ſeren Heiden und Heidelbeeren. Die Ananas von Esmeralda ſind in ganz Guyana berühmt. In Amerika wie in Europa gibt es für die verſchiedenen Früchte gewiſſe Landſtriche, wo ſie zur größten Vollkommenheit gedeihen. Man muß auf der Inſel Margarita oder in Cumana Sapotillen (Achras), in — 2 Loxa in Peru Chilimoyas (ſehr verſchieden vom Coroſſol oder der Anona der Antillen), in Caracas Granadillas oder Parchas, in Esmeralda und auf Cuba Ananas gegeſſen haben, um die Lobſprüche, womit die älteſten Reiſenden die Köſt— lichkeit der Produkte der heißen Zone preiſen, nicht übertrieben zu finden. Die Ananas ſind die Zierde der Felder bei der Havana, wo ſie in Reihen nebeneinander gezogen werden; an den Abhängen des Duida ſchmücken ſie den Raſen der Savannen, wenn ihre gelben, mit einem Büſchel ſilberglän— zender Blätter gekrönten Früchte über den Setarien, den Paspalum und ein paar Cyperaceen hervorragen. Dieſes Gewächs, das die Indianer Ana-curua nennen, verbreitete ſich ſchon im 16. Jahrhundert im inneren China, und noch in neueſter Zeit fanden es engliſche Reiſende mit anderen, unzweifelhaft amerikaniſchen Gewächſen (Mais, Maniok, Me— nem, Tabak, Piment) an den Ufern des Rio Kongo in Afrika. f In Esmeralda iſt kein Miſſionär. Der Geiſtliche, der hier Meſſe leſen ſoll, ſitzt in Santa Barbara, über 225 km weit. Er braucht den Fluß herauf vier Tage, er kommt daher auch nur fünf- oder ſechsmal im Jahre. Wir wurden non einem alten Soldaten ſehr freundlich aufgenommen; der Mann hielt uns für kataloniſche Krämer, die in den Miſſionen ihren Kleinhandel treiben wollten. Als er unſere Papier— ballen zum Pflanzentrocknen ſah, lächelte er über unſere naive Unwiſſenheit. „Ihr kommt in ein Land,“ ſagte er, „wo derartige Ware keinen Abſatz findet. Geſchrieben wird hier nicht viel, und trockene Mais-, Platano-(Bananen-) und Vijaho- (Helikonia-) Blätter brauchen wir hier, wie in Europa das Papier, um Nadeln, Fiſchangeln und andere kleine Sachen, die man ſorgfältig aufbewahren will, einzuwickeln.“ Der alte Soldat vereinigte in ſeiner Perſon die bürgerliche und die geiſtliche Behörde. Er lehrte die Kinder, ich ſage nicht den Katechismus, aber doch den Roſenkranz beten, er läutete die Glocken zum Zeitvertreib, und im geiſtlichen Amts— eifer bediente er ſich zuweilen ſeines Küſterſtocks in einer Weiſe, die den Eingeborenen ſchlecht behagte. So klein die Miſſion iſt, werden in Esmeralda doch drei indianiſche Sprachen geſprochen: Idapaminariſch, Ca: tarapeniſch und Maquiritaniſch. Letztere Sprache iſt am oberen Orinoko vom Einfluß des Ventuari bis zu dem des Padamo die berrſchende, wie am unteren Orinoko das —. 5 Karibiſche, am Einfluß des Apure das Otomakiſche, bei den großen Katarakten das Tamanakiſche und Maypuriſche und am Rio Negro das Maravitaniſche. Es ſind dies die fünf oder ſechs verbreitetſten Sprachen. Wir wunderten uns, in Esmeralda viele Zambos, Mulatten und andere Farbige an— zutreffen, die ſich aus Eitelkeit Spanier nennen und ſich für weiß halten, weil ſie nicht rot ſind wie die Indianer. Dieſe Menſchen führen ein jämmerliches Leben. Sie ſind meiſt als Verwieſene (desterrados) hier. Um im inneren Lande, das man gegen die Portugieſen abſperren wollte, in Eile Kolonieen zu gründen, hatte Solano in den Llanos und bis zur Inſel Margarita hin Landſtreicher und Uebelthäter, denen die Juſtiz bis dahin vergeblich nachgeſpürt, zuſammen⸗ gerafft und ſie den Orinoko hinaufgeführt, wo ſie mit den unglücklichen, aus den Wäldern weggeſchleppten Indianern zuſammengethan wurden. Durch ein mineralogiſches Miß— verſtändnis wurde Esmeralda berühmt. Der Granit des Duida und des Maraguaca enthält in offenen Gängen ſchöne Bergkriſtalle, die zum Teil ſehr durchſichtig, zum Teil mit Chlorit (Talkglimmer) gefärbt und mit Aktinot (Strahlſtein) gemengt ſind; man hatte ſie für Diamanten und Smaragden (Esmeralda) gehalten. So nahe den Quellen des Orinoko träumte man in dieſen Bergen von nichts als vom Dorado, der nicht weit ſein konnte, vom See Parime und von den Trümmern der großen Stadt Manoa. Ein Mann, der wegen ſeiner Leichtgläubigkeit und wegen ſeiner Sucht zur Ueber: treibung noch jetzt im Lande wohlbekannt iſt, Don Apolli— nario Diez de la Fuente, nahm den vollklingenden Titel eines Capitan poblador und Cabo militar des Forts am Caſſiquiare an. Dieſes Fort beſtand in ein paar mit Bret— tern verbundenen Baumſtämmen, und um die Täuſchung voll— ſtändig zu machen, ſprach man in Madrid für die Miſſion Esmeralda, ein Dörfchen von zwölf bis fünfzehn Hütten, die Gerechtſame einer Villa an. Es iſt zu beſorgen, daß Don Apollinario, der in der Folge Statthalter der Provinz Los Quixos im Königreich Quito wurde, bei Entwerfung der Karten von La Cruz und Surville die Hand im Spiele ge— habt hat. Da er die Windſtriche des Kompaſſes kannte, nahm er keinen Anſtand, in den zahlreichen Denkſchriften, die er dem Hof übermachte, ſich Kosmograph der Grenzexpedition zu nennen. Während die Befehlshaber dieſer Expedition von der m et Exiſtenz der Nueva Villa de Esmeralda überzeugt waren, fo: wie vom Reichtum des Cerro Duida an koſtbaren Mineralien, da doch nichts darin zu finden iſt als Glimmer, Bergkriſtall, Aktinot und Rutil, ging eine aus den ungleichſten Elementen beſtehende Kolonie allgemach wieder zu Grunde. Die Land— ſtreicher aus den Llanos hatten ſo wenig Luſt zur Arbeit als die Indianer, die gezwungen „unter der Glocke“ lebten. Erſteren diente ihr Hochmut zu weiterer Rechtfertigung ihrer Faulheit. In den Miſſionen nennt ſich jeder Farbige, der nicht geradezu ſchwarz iſt wie ein Afrikaner oder kupferfarbig wie ein Indianer, einen Spanier; er gehört zur Gente de razon, zur vernunftbegabten Raſſe, und dieſe, wie nicht zu leugnen, hie und da übermütige und arbeitsſcheue Ver— nunft redet den Weißen und denen, die es zu ſein glauben, ein, der Landbau ſei ein Geſchäft für Sklaven, für Poitos, und für neubekehrte Indianer. Die Kolonie Esmeralda war nach dem Muſter der neuholländiſchen gegründet, wurde aber keineswegs ebenſo weiſe regiert. Da die amerikaniſchen Kolo— niſten von ihrem Heimatland nicht durch Meere, ſondern durch Wälder und Savannen geſchieden waren, ſo verliefen ſie ſich, die einen nach Nord, dem Caura und Carony zu, die anderen nach Süd in die portugieſiſchen Beſitzungen. So hatte es mit der Herrlichkeit der Villa und den Smaragd— gruben am Duida ein jähes Ende, und Esmeralda galt wegen der furchtbaren Inſektenmaſſe, welche das ganze Jahr die Luft verfinſtert, bei den Ordensleuten für einen fluchwürdigen Verbannungsort. Ich erwähnte oben, daß der Vorſteher der Miſſionen den Laienbrüdern, um ſie in der Zucht zu halten, zuweilen droht, ſie nach Esmeralda zu ſchicken; man wird damit, wie die Mönche ſagen „zu den Moskiten verurteilt, verurteilt, von den ſummenden Mücken (Zancudos gritones) gefreſſen zu werden, die Gott den Menſchen zur Strafe erſchaffen hat“. Einer ſo ſeltſamen Strafe unterlagen aber nicht immer nur Laienbrüder. Um Jahr 1788 brach in der Ordenswelt eine der Revolutionen aus, die einem in Europa nach den Vor— ſtellungen, die man von den friedlichen Zuſtänden der chriſt— lichen Niederlaſſungen in der Neuen Welt hat, faſt unbegreif— lich ſind. Schon längſt hätten die Franziskaner, die in Guyana ſaßen, gerne eine Republik für ſich gebildet und ſich vom Kollegium von Piritu in Nueva Barcelona unab— hängig gemacht. Mißvergnügt, daß zum wichtigen Amte eines a et Präſidenten der Miſſionen Fray Gutierez de Aquilera von einem Generalkapitel gewählt und vom König beſtätigt worden, traten fünf oder ſechs Mönche vom oberen Orinoko, Caſſi— quiare und Rio Negro in San Fernando de Atabapo zu— ſammen, wählten in aller Eile und aus ihrer eigenen Mitte einen neuen Superior und ließen den alten, der zu ſeinem Unglück zur Viſitation ins Land kam, feſtnehmen. Man legte ihm Fußſchellen an, warf ihn in ein Kanoe und führte ihn nach Esmeralda als Verbannungsort. Da es von der Küſte zum Schauplatz dieſer Empörung ſo weit war, ſo hofften die Mönche, ihre Frevelthat werde jenſeits der großen Katarakte lange nicht bekannt werden. Man wollte Zeit gewinnen, um zu intrigieren, zu negoziieren, um Anklageakten aufzuſetzen und all die kleinen Ränke ſpielen zu laſſen, durch die man überall in der Welt die Ungültigkeit einer erſten Wahl dar⸗ thut. Der alte Superior ſeufzte in ſeinem Kerker zu Es— meralda; ja er wurde von der furchtbaren Hitze und dem beſtändigen Hautreiz durch die Moskiten ernſtlich krank. Zum Glück für die geſtürzte Autorität blieben die meuteriſchen Mönche nicht einig. Einem Miſſionär vom Caſſiquiare wurde bange, wie dieſer Handel enden ſollte; er fürchtete verhaftet und nach Cadiz geſchickt zu werden, oder, wie man in den Kolonieen jagt, baxo partido de registro; aus Angſt wurde er ſeiner Partei untreu und machte ſich unverſehens davon. Man ſtellte an der Mündung des Atabapo, bei den großen Katarakten, überall wo der Flüchtling auf dem Weg zum unteren Orinoko vorbeikommen mußte, Indianer als Wachen auf. Trotz dieſer Maßregeln kam er nach Angoſtura und von da in das Miſſionskollegium von Piritu; er gab ſeine Kollegen an und erhielt zum Lohn für ſeine Ausſage den Auftrag, die zu verhaften, mit denen er ſich gegen den Prä— ſidenten der Miſſionen verſchworen hatte. In Esmeralda, wo man von den politiſchen Stürmen, die ſeit 30 Jahren das alte Europa erſchüttern, noch gar nicht hat ſprechen hören, iſt der ſogenannte Alboroto de los frailes (die Meu— terei der Mönche) noch immer eine wichtige Begebenheit. Hier— zulande, wie im Orient, weiß man nur von Revolutionen, die von den Gewalthabern ſelbſt ausgehen, und wir haben geſehen, daß ſie in ihren Folgen eben nicht ſehr bedenk— lich ſind. 5 Wenn die Villa Esmeralda mit ihrer Bevölkerung von 12 bis 15 Familien gegenwärtig für einen ſchrecklichen Auf— — 59 — enthaltsort gilt, ſo kommt dies nur vom Mangel an Anbau, von der Entlegenheit von allen bewohnten Landſtrichen und von der furchtbaren Menge der Moskiten. Die Lage der Miſſion iſt ungemein maleriſch, das Land umher äußerſt freundlich und ſehr fruchtbar. Nie habe ich ſo gewaltig große Bananenbüſchel geſehen; Indigo, Zucker, Kakao kämen vor— trefflich fort, aber man mag ſich nicht die Mühe geben, ſie zu bauen. Um den Cerro Duida herum gibt es ſchöne Wei— den, und wenn die Obſervanten aus dem Kollegium von Piritu nur etwas von der Betriebſamkeit der kataloniſchen Kapuziner von Carony hätten, ſo liefen zwiſchen dem Cunu— cunumo und Padamo zahlreiche Herden. Wie die Sachen jetzt ſtehen, iſt keine Kuh, kein Pferd vorhanden und die Ein— wohner haben oft, zur Buße ihrer Faulheit, nichts zu eſſen als Schinken von Brüllaffen und das Mehl von Fiſchknochen, von dem in der Folge die Rede ſein wird. Man baut nur etwas Maniok und Bananen; und wenn der Fiſchfang nicht reichlich ausfällt, ſo iſt die Bevölkerung eines von der Natur ſo hoch begünſtigten Landes dem grauſamſten Mangel preisgegeben. Da die wenigſten Kanoen, die vom Rio Negro über den Caſſiquiare nach Anguſtora gehen, nicht gerne nach Esmeralda hinauffahren, ſo läge die Miſſion weit beſſer an der Stelle, wo der Orinoko ſich gabelt. Sicher wird dieſes große Land nicht immer ſo verwahrloſt bleiben wie bisher, da die Un— vernunft des Mönchsregiments und der Geiſt des Monopols, der nun einmal allen Körperſchaften eigen iſt, es niederhielten; ja es läßt ſich vorausſagen, an welchen Punkten des Ori— noko Gewerbfleiß und Handel ſich am kräftigſten entwickeln werden. Unter allen Himmelsſtrichen drängt ſich die Bevöl— kerung vorzüglich an den Mündungen der Nebenflüſſe zuſammen. Durch den Rio Apure, auf dem die Erzeugniſſe der Provinzen Varidas und Merida ausgeführt werden, muß die kleine Stadt Cabruta eine große Bedeutung erhalten; ſie wird mit San Fernando de Apure konkurrieren, wo bis jetzt der ganze Handel konzentriert war. Weiter oben wird ſich eine neue Niederlaſſung am Einfluß des Meta bilden, der über die Llanos am Caſanare mit Neugranada in Verbindung ſteht. Die zwei Miſſionen bei den Katarakten werden ſich vergrößern, weil dieſe Punkte durch den Transport der Pirogen ſehr lebhaft werden müſſen; denn das ungeſunde, naſſe Klima und die furchtbare Menge der Moskiten werden dem Fortſchritt der Kultur am Orinoko ſo wenig Einhalt thun als am Mag— — 60 — dalenenſtrome, ſobald einmal ernſtliches kaufmänniſches Intereſſe neue Anſiedler herzieht. Gewohnte Uebel werden leichter er— tragen, und wer in Amerika geboren iſt, hat keine ſo großen Schmerzen zu leiden wie der friſch angekommene Europäer. Auch wird wohl die allmähliche Ausrodung der Wälder in der Nähe der bewohnten Orte die ſchreckliche Plage der Mücken etwas vermindern. In San Fernando de Atabapo, Javita, San Carlos, Esmeralda werden wohl (wegen ihrer Lage an der Mündung des Guaviare, am Trageplatz zwiſchen Tuamini und Rio Negro, am Ausfluß des Caſſiquiare und am Gabe— lungspunkt des oberen Orinoko) Bevölkerung und Wohlſtand bedeutend zunehmen. Mit dieſen fruchtbaren, aber brach lie— genden Ländern, durch welche der Huallaga, der Amazonen— ſtrom und der Orinoko ziehen, wird es gehen wie mit der Landenge von Panama, dem Nikaraguaſee und dem Rio Huaſacualco, durch welche zwei Meere miteinander in Ver— bindung ſtehen. Mangelhafte Staatsformen konnten ſeit Jahrhunderten Orte, in denen der Welthandel ſeine Mittel— punkte haben ſollte, in Wüſten verwandeln; aber die Zeit iſt nicht mehr fern, wo die Feſſeln fallen werden; eine wider— ſinnige Verwaltung kann ſich nicht ewig dem Geſamtintereſſe der Menſchheit entgegenſtemmen, und unwiderſtehlich muß die Kultur in Ländern einziehen, welche die Natur ſelbſt durch die phyſiſche Geſtaltung des Bodens, durch die erſtaunliche Verzweigung der Flüſſe und durch die Nähe zweier Meere, welche die Küſten Europas und Indiens beſpülen, zu großen Geſchicken auserſehen hat. Esmeralda iſt berühmt als der Ort, wo am beſten am Orinoko das ſtarke Gift bereitet wird, das im Krieg, zur Jagd, und, was ſeltſam klingt, als Mittel gegen gaſtriſche Beſchwerden dient. Das Gift der Ticuna am Amazonenſtrome, das Upas-Tieute auf Java und das Curare in Guyana ſind die tödlichſten Subſtanzen, die man kennt. Bereits am Ende des 16. Jahrhunderts hatte Ralegh das Wort Urari gehört, wie man einen Pflanzenſtoff nannte, mit dem man die Pfeile vergiftete. Indeſſen war nichts Zuverläſſiges über dieſes Gift in Europa bekannt geworden. Die Miſſio— näre Gumilla und Gili hatten nicht bis in die Länder kom— men können, wo das Curare bereitet wird. Gumilla behaup— tete, „dieſe Bereitung werde ſehr geheim gehalten; der Haupt— beſtandteil komme von einem unterirdiſchen Gewächs, von einer knolligen Wurzel, die niemals Blätter treibe und raiz A = mM x de si misma (die Wurzel an ſich) ſei; durch die giftigen Dünſte aus den Keſſeln gehen die alten Weiber (die un— nützeſten), die man zur Arbeit verwende, zu Grunde; end— lich, die Pflanzenſäfte erſcheinen erſt dann konzentriert genug, wenn ein paar Tropfen des Saftes auf eine gewiſſe Ent⸗ fernung eine Repulſivkraft auf das Blut ausüben. Ein Indianer ritzt ſich die Haut; man taucht einen Pfeil in das flüſſige Curare und bringt ihn der Stichwunde nahe. Das Gift gilt für gehörig konzentriert wenn es das Blut in die Gefäße zurücktreibt, ohne damit in Berührung gekommen zu ſein.“ — Ich halte mich nicht dabei auf, dieſe von Pater Gumilla zuſammengebrachten Märchen zu widerlegen. Warum hätte der Miſſionär nicht glauben ſollen, daß das Curare aus der Ferne wirke, da er unbedenklich an die Eigenſchaften einer Pflanze glaubte, deren Blätter erbrechen machen oder purgieren, je nachdem man ſie von oben herab oder von unten herauf vom Stiele reißt? Als wir nach Esmeralda kamen, kehrten die meiſten In— dianer von einem Ausflug oſtwärts über den Rio Padamo zurück, wobei ſie Juvias oder die Früchte der Bertholletia und eine Schlingpflanze, welche das Curare gibt, geſammelt hatten. Dieſe Heimkehr wurde durch eine Feſtlichkeit be— gangen, die in der Miſſion la fiesta de las Juvias heißt und unſeren Ernte- oder Weinleſefeſten entſpricht. Die Weiber hatten viel gegorenes Getränke bereitet, und zwei Tage lang ſah man nur betrunkene Indianer. Bei Völkern, für welche die Früchte der Palmen und einiger anderen Bäume, welche Nahrungsſtoff geben, von großer Wichtigkeit ſind, wird die Ernte der Früchte durch öffentliche Luſtbarkeiten gefeiert, und man teilt das Jahr nach dieſen Feſten ein, die immer auf dieſelben Zeitpunkte fallen. Das Glück wollte, daß wir einen alten Indianer trafen, der weniger betrunken als die anderen und eben beſchäftigt war, das Curaregift aus den friſchen Pflanzen zu bereiten. Der Mann war der Chemiker des Ortes. Wir fanden bei ihm große thönerne Pfannen zum Kochen der Pflanzenſäfte, flachere Gefäße, die durch ihre große Oberfläche die Verdun— ſtung befördern, tütenförmig aufgerollte Bananenblätter zum Durchſeihen der mehr oder weniger faſerige Subſtanzen ent: haltenden Flüſſigkeiten. Die größte Ordnung und Reinlich— keit herrſchten in dieſer zum chemiſchen Laboratorium ein— gerichteten Hütte. Der Indianer, der uns Auskunft erteilen 8 ſollte, heißt in der Miſſion der Giftmeiſter (amo del Curare); er hatte das ſteife Weſen und den pedantiſchen Ton, den man früher in Curopa den Apothekern zum Vor— wurf machte. „Ich weiß,“ ſagte er, „die Weißen ver— ſtehen die Kunſt, Seife zu machen und das ſchwarze Pulver, bei dem das Ueble iſt, daß es Lärm macht und die Tiere verſcheucht, wenn man fie fehlt. Das Curare, deſſen Bereit: tung bei uns vom Vater auf den Sohn übergeht, iſt beſſer als alles, was ihr dort drüben (über dem Meere) zu machen wißt. Es iſt der Saft einer Pflanze, der ganz leiſe tötet (ohne daß man weiß, woher der Schuß kommt).“ Dieſe chemiſche Operation, auf die der Meiſter des Curare ſo großes Gewicht legte, ſchien uns ſehr einfach. Das Schlinggewächs (Bejuco), aus dem man in Esmeralda das Gift bereitet, heißt hier wie in den Wäldern bei Javita. Es iſt der Bejuco de Mavacure, und er kommt öſtlich von der Miſſion am linken Ufer des Orinoko, jenſeits des Rio Amaguaca im granitiſchen Bergland von Guanaya und Yu: mariquin in Menge vor. Obgleich die Bejucobündel, die wir im Hauſe des Indianers fanden, gar keine Blätter mehr hatten, blieb uns doch kein Zweifel, daß es dasſelbe Gewächs aus der Familie der Strychneen (Aublets Rouhamon ſehr nahe ſtehend), das wir im Wald beim Pimichin unterſucht. Der Mavacure wird ohne Unterſchied friſch oder ſeit meh— reren Wochen getrocknet verarbeitet. Der friſche Saft der Liane gilt nicht für giftig; vielleicht zeigt er ſich nur wirkſam, wenn er ſtark konzentriert iſt. Das furchtbare Gift iſt in der Rinde und einem Teil des Splintes enthalten. Man ſchabt mit einem Meſſer 8 bis 11 mm dicke Mavacurezweige ab und zerſtößt die abgeſchabte Rinde auf einem Stein, wie er zum Reiben des Maniokmehls dient, in ganz dünne Fafern. Da der giftige Saft gelb iſt, jo nimmt die ganze faſerige Maſſe die nämliche Farbe an. Man bringt dieſelbe in einen 24 em hohen, 10 em weiten Trichter. Dieſen Trichter ſtrich der Giftmeiſter unter allen Gerätſchaften des indianiſchen La— boratoriums am meiſten heraus. Er fragte uns mehreremal, ob wir por alla (dort drüben, das heißt in Europa) jemals etwas geſehen hätten, das ſeinem Embudo gleiche? Es war ein tütenförmig aufgerolltes Bananenblatt, das in einer an— deren ſtärkeren Tüte aus Palmblättern ſteckte; die ganze Vor⸗ richtung ruhte auf einem leichten Geſtell von Blattſtielen und Fruchtſpindeln einer Palme. Man macht zuerſt einen kalten — 83 — Aufguß, indem man Waſſer an den faſerigen Stoff, die ge— ſtoßene Rinde des Mavacure, gießt. Mehrere Stunden lang tropft ein gelbliches Waſſer vom Embudo, dem Blatttrichter, ab. Dieſes durchſickernde Waſſer iſt die giftige Flüſſigkeit; ſie erhält aber die gehörige Kraft erſt dadurch, daß man ſie wie die Melaſſe in einem großen thönernen Gefäß abdampft. Der Indianer forderte uns von Zeit zu Zeit auf, die Flüſſig— keit zu koſten; nach dem mehr oder minder bitteren Geſchmack beurteilt man, ob der Saft eingedickt genug iſt. Dabei iſt keine Gefahr, da das Curare nur dann tödlich wirkt, wenn es unmittelbar mit dem Blute in Berührung kommt. Des— halb ſind auch, was auch die Miſſionare am Orinoko in dieſer Beziehung geſagt haben mögen, die Dämpfe vom Keſſel nicht ſchädlich. Fontana hat durch ſeine ſchönen Verſuche mit dem Ticunagift am Amazonenſtrome längſt dargethan, daß die Dämpfe, die das Gift entwickelt, wenn man es auf glühende Kohle wirft, ohne Schaden eingeatmet werden, und daß es unrichtig iſt, wenn La Condamine behauptet, zum Tode ver: urteilte indianiſche Weiber ſeien durch die Dämpfe des Ti— cunagifts getötet worden. Der noch ſo ſtark eingedickte Saft des Mavacure iſt nicht dick genug, um an den Pfeilen zu haften. Alſo bloß um dem Gift Körper zu geben, ſetzt man dem eingedickten Aufguß einen ſehr klebrigen Pflanzenſaft bei, der von einem Baum mit großen Blättern, genannt Ciracaguero, kommt. Da dieſer Baum ſehr weit von Esmeralda wächſt, und er damals ſo wenig als der Bejuco de Mavacure Blüten und Früchte hatte, ſo können wir ihn botaniſch nicht beſtimmen. Ich habe ſchon mehrmals davon geſprochen, wie oft ein eigenes Mißgeſchick die intereſſanteſten Gewächſe der Unterſuchung der Reiſenden entzieht, während tauſend andere, bei denen man nichts von chemiſchen Eigenſchaften weiß, voll Blüten und Früchten hängen. Reiſt man ſchnell, ſo bekommt man ſelbſt unter den Tropen, wo die Blütezeit der holzigen Gewächſe ſo lange dauert, kaum an einem Achtteil der Gewächſe die Fruktifikationsorgane zu ſehen. Die Wahrſcheinlichkeit, daß man, ich ſage nicht die Familie, aber Gattung und Art be— ſtimmen kann, iſt demnach gleich 1 zu 8, und dieſes nach— teilige Verhältnis empfindet man begreiflich noch ſchwerer, wenn man dadurch um die nähere Kenntnis von Gegenjtän- den kommt, die noch in anderer Hinſicht als nur für die be— ſchreibende Botanik von Bedeutung ſind. — Sobald der klebrige Saft des Ciracaguerobaums dem eingedickten, kochenden Gift zugegoſſen wird, ſchwärzt ſich dieſer und gerinnt zu einer Maſſe von der Konſiſtenz des Teers oder eines dicken Sirups. Dieſe Maſſe iſt nun das Curare, wie es in den Handel kommt. Hört man die Indianer ſagen, zur Bereitung des Giftes ſei der Ciracaguero ſo not— wendig als der Bejuco de Mavacure, ſo kann man auf die falſche Vermutung kommen, auch erſterer enthalte einen ſchäd— lichen Stoff, während er nur dazu dient, dem eingedickten Curareſaft mehr Körper zu geben (was auch der Algarobbo und jede gummiartige Subſtanz thäten). Der Farbenwechſel der Miſchung rührt von der Zerſetzung einer Verbindung von Kohlenſtoff und Waſſerſtoff her. Der Waſſerſtoff verbrennt und der Kohlenſtoff wird frei. Das Curare wird in den Früchten der Crescentia verkauft; da aber die Bereitung des— ſelben in den Händen weniger Familien iſt und an jedem Pfeile nur unendlich wenig Gift haftet, ſo iſt das Curare beſter Qualität, das von Esmeralda und Mandavaca, ſehr teuer. Ich ſah für zwei Unzen 5 bis 6 Frank bezahlen. Ge— trocknet gleicht der Stoff dem Opium; er zieht aber die Feuch— tigkeit ſtark an, wenn er der Luft ausgeſetzt wird. Er ſchmeckt ſehr angenehm bitter, und Bonpland und ich haben oft kleine Mengen verſchluckt. Gefahr iſt keine dabei, wenn man nur ſicher iſt, daß man an den Lippen oder am Zahnfleiſch nicht blutet. Bei Mangilis neuen Verſuchen mit dem Viperngift verſchluckte einer der Anweſenden alles Gift, das von vier großen italieniſchen Vipern geſammelt werden konnte, ohne etwas darauf zu ſpüren. Bei den Indianern gilt das Curare innerlich genommen als ein treffliches Magenmittel. Die Piraba- und Saliva-Indianer bereiten dasſelbe Gift; es hat auch ziemlichen Ruf, iſt aber doch nicht ſo geſucht wie das von Esmeralda. Die Bereitungsart ſcheint überall un— gefähr dieſelbe; es liegt aber kein Beweis vor, daß die ver— ſchiedenen Gifte, welche unter demſelben Namen am Orinoko und am Amazonenſtrom verkauft werden, identiſch ſind und von derſelben Pflanze herrühren. Orfila hat daher ſehr wohl gethan, wenn er in ſeiner Toxicologie générale das Woorara aus Holländiſch-Guyana, das Curare vom Orinoko, das Ticung vom Amazonenſtrom und all die Subſtanzen, welche man unter dem unbeſtimmten Namen „amerikaniſche Gifte“ zu— ſammenwirft, für ſich betrachtet. Vielleicht findet man ein— mal in Giftpflanzen aus verſchiedenen Gattungen eine gemein— 3 ſchaftliche alkaliſche Baſis, ähnlich dem Morphium im Opium und der Vauqueline in den Strychnosarten. Man unterſcheidet am Orinoko zwiſchen Curare de rai z (aus Wurzeln) und Curare de bejuco (aus Lianen oder der Rinde der Zweige). Wir haben nur letzteres bereiten ſehen; erſteres iſt ſchwächer und weit weniger geſucht. Am Amazonenſtrom lernten wir die Gifte verſchiedener Indianer— ſtämme kennen, der Ticuna, Yagua, Peva und Jivaro, die von derſelben Pflanze kommen und vielleicht mehr oder weniger ſorgfältig zubereitet ſind. Das Toxique des Ticunas, das durch La Condamine in Europa ſo berühmt geworden iſt und das man jetzt, etwas uneigentlich, „Ticuna“ zu nennen anfängt, kommt von einer Liane, die auf der Inſel Mormo— rote im oberen Maranon wächſt. Dieſes Gift wird zum Teil von den Ticunaindianern bezogen, die auf ſpaniſchem Gebiet bei den Quellen des Nacarique unabhängig geblieben ſind, zum Teil von den Indianern desſelben Stammes, die in der portugieſiſchen Miſſion Loreto leben. Da Gifte in dieſem Klima für Jägervölker ein unentbehrliches Bedürf— nis ſind, ſo ne ſich die Miſſionäre am Orinoko und Amazonenſtrom der Bereitung derſelben nicht leicht. Die hier genannten Gifte ſind völlig verſchieden vom Gift von La Beca! und vom Gift von Lamas und Moyobamba. Ich führe dieſe Einzelheiten an, weil die Pflanzenreſte, die wir unterſuchen konnten, uns (gegen die allgemeine Annahme) den Beweis geliefert haben, daß die drei Gifte, das der Ti— cuna, das von La Peca und das von Moyobamba, nicht von derſelben Art kommen, wahrſcheinlich nicht einmal von ver— wandten Gewächſen. So einfach das Curare iſt, ſo lang— wierig und verwickelt iſt die Bereitungsweiſe des Giftes von Moyobamba. Mit dem Saft des Bejuco de Ambihuasca, dem Hauptingrediens, miſcht man Piment (Capsicum), Tabak, Barbasco (Jacquinia armillaris), Sanango (Tabernae montana) und die Milch einiger anderen Apocyneen. Der friſche Saft der Ambihuasca wirkt tödlich, wenn er mit dem Blut in Berührung kommt; der Saft des Mavacure wird erſt durch Einkochen ein tödliches Gift, und der Saft der Wurzel der Jatropha Manihot verliert durch Kochen ganz ſeine ſchädliche Eigenſchaft. Als ich bei ſehr großer Hitze die Liane, von der das ſchreckliche Gift von La Peca kommt, I Dorf in der Provinz Jaen de Bracamoros. A. v. Humboldt, Reiſe. IV. S I lange zwiſchen den Fingern rieb, wurden mir die Hände pel- zig; eine Perſon, die mit mir arbeitete, ſpürte gleich mir dieſe Felgen einer raſchen Aufſaugung durch die unverletzten Haut⸗ decken. Ich laſſe mich hier auf keine Erörterung der phyſiologi— ſchen Wirkungen dieſer Gifte der Neuen Welt ein, die ſo raſch töten, wie die Strychnosarten Aſiens (die Brechnuß, das Upas— tieute und die Ignatiusbohne), aber ohne, wenn ſie in den Magen kommen, Erbrechen zu erregen und ohne die gewaltige Reizung des Rückenmarkes, welche den bevorſtehenden Tod verkündet. Wir haben während unſeres Aufenthaltes in Amerika Curare vom Orinoko und Bamburohrſtücke mit Gift der Ticuna und von Moyobamba den Chemikern Fourcroy und Vauquelin übermacht; wir haben ferner nach unſerer Rückkehr Magendie und Delille, die mit den Giften der Neuen Welt ſo ſchöne Verſuche angeſtellt, Curare mitge— teilt, das auf dem Transport durch feuchte Länder ſchwächer geworden war. Am Orinoko wird ſelten ein Huhn geſpeiſt, das nicht durch einen Stich mit einem vergifteten Pfeil ge— tötet worden wäre; ja die Miſſionäre behaupten, das Fleiſch der Tiere ſei nur dann gut, wenn man dieſes Mittel an- wende. Unſer Reiſebegleiter, der am dreitägigen Fieber lei— dende Pater Zea, ließ ſich jeden Morgen einen Pfeil und das Huhn, das wir ſpeiſen ſollten, lebend in ſeine Hänge— matte bringen. Er hätte eine Operation, auf die er trotz ſeines Schwächezuſtandes ein ſehr großes Gewicht legte, keinem anderen überlaſſen mögen. Große Vögel, z. B. ein Guan (Pava de monte) oder ein Hocco (Alector) ſterben, wenn man ſie in den Schenkel ſticht, in 2 bis 3 Minuten; bei einem Schwein oder Pecari dauert es oft 10 bis 12. Bonpland fand, daß dasſelbe Gift in verſchiedenen Dörfern, wo man es kaufte, ſehr verſchieden war. Wir bekamen am Amazonenſtrom echtes Gift der Ticunaindianer, das ſchwächer war als alle Sorten des Curare vom Orinoko. Es wäre unnütz, den Reiſenden die Angſt ausreden zu wollen, die ſie häufig äußern, wenn ſie bei der Ankunft in den Miſſionen hören, daß die Hühner, die Affen, die Leguane, die großen Flußfiſche, die ſie eſſen, mit giftigen Pfeilen getötet ſind. Gewöhnung und Nach— denken machen dieſer Angſt bald ein Ende. Magendie hat ſogar durch ſinnreiche Verſuche mit der Transfuſion dargethan, daß das Blut von Tieren, die mit den oſtindiſchen bitteren Strychnosarten getötet worden ſind, auf andere Tiere keine ſchädliche Wirkung äußert. Einem Hund wurde eine bedeu— tende Menge vergifteten Bluts in die Venen geſpritzt; es zeigte ſich aber keine Spur von Reizung des Rückenmarkes. Ich brachte das ſtärkſte Curare mit den Schenkelnerven eines Froſches in Berührung, ohne, wenn ich den Grad der Irritabilität der Organe mittels eines aus heterogenen Me— tallen beſtehenden Bogens maß, eine merkliche Veränderung wahrzunehmen. Aber bei Vögeln, wenige Minuten nachdem ich ſie mit einem vergifteten Pfeile getötet, wollten die gal— vaniſchen Verſuche ſo gut wie nicht gelingen. Dieſe Beob— achtungen ſind von Intereſſe, da ermittelt iſt, daß auch eine Auflöſung von Upastieute, wenn man fie auf den Hüftnerven gießt oder in das Nervengewebe ſelbſt bringt, wenn ſie alſo mit der Markſubſtanz ſelbſt in Berührung kommt, gleichfalls auf die Irritabilität der Organe keinen merkbaren Einfluß äußert. Das Curare, wie die meiſten anderen Strychneen (denn wir glauben immer noch, daß der Mavacure einer nahe verwandten Familie angehört) werden nur dann gefährlich, wenn das Gift auf das Gefäßſyſtem wirkt. In Maypures rüſtete ein Farbiger (ein Zambo, ein Miſchling von Indianer und Neger) für Bonpland giftige Pfeile, wie man ſie in die Blaſerohre ſteckt, wenn man kleine Affen und Vögel jagt. Es war ein Zimmermann von ungemeiner Muskelkraft. Er hatte die Unvorſichtigkeit, das Curare zwiſchen den Fingern zu reiben, nachdem er ſich unbedeutend verletzt, und ſtürzte zu Boden, von einem Schwindel ergriffen, der eine halbe Stunde anhielt. Zum Glück war es nur ſchwaches (destem- plado) Curare, deſſen man ſich bedient, um ſehr kleine Tiere zu ſchießen, das heißt ſolche, welche man wieder zum Leben bringen will, indem man ſalzſaures Natron in die Wunde reibt. Auf unſerer Rückfahrt von Esmeralda nach Atures entging ich ſelbſt einer ziemlich nahen Gefahr. Das Curare hatte Feuchtigkeit angezogen, war flüſſig geworden und aus dem ſchlecht verſchloſſenen Gefäß über unſere Wäſche gelaufen. Beim Waſchen vergaß man einen Strumpf innen zu unter— ſuchen, der voll Curare war, und erſt als ich den klebrigen Stoff mit der Hand berührte, merkte ich, daß ich einen ver— gifteten Strumpf angezogen hätte. Die Gefahr war deſto größer, da ich gerade an den Zehen blutete, weil mir Sand- flöhe (pulex penetrans) ſchlecht ausgegraben worden waren. Aus dieſem Fall mögen Reiſende abnehmen, wie vorſichtig man ſein muß, wenn man Gift mit ſich führt. zen In Europa wird die Unterſuchung der Eigenſchaften der Gifte der Neuen Welt eine ſchöne Aufgabe für Chemie und Phyſiologie ſein, wenn man ſich einmal bei ſtärkerem Verkehr aus den Ländern, wo ſie bereitet werden, und ſo, daß ſie nicht zu verwechſeln ſind, all die Gifte verſchaffen kann, das Curare de bejuco, das Curare de raiz, und die verſchie— denen Sorten vom Amazonenſtrom, vom Huallaga und aus Braſilien. Da die Chemie die reine Blauſäure und ſo viele neue ſehr giftige Stoffe entdeckt hat, wird man in Europa hinſichtlich der Einführung dieſer von wilden Völkern be— reiteten Gifte nicht mehr ſo ängſtlich ſein; indeſſen kann man doch allen, die in ſehr volkreichen Städten (den Mittelpunkten der Kultur, des Elendes und der Sittenverderbnis) ſo heftig wirkende Stoffe in Händen haben, nicht genug Vorſicht em— pfehlen. Was unſere botaniſche Kenntnis der Gewächſe betrifft, aus denen Gift bereitet wird, ſo werden ſie ſich nur äußerſt langſam berichtigen. Die meiſten Indianer, die ſich mit der Verfertigung vergifteter Pfeile abgeben, ſind mit dem Weſen der giftigen Subſtanzen, die ſie aus den Händen anderer Völker erhalten, völlig unbekannt. Ueber der Geſchichte der Gifte und Gegengifte liegt überall der Schleier des Ge— heimniſſes. Ihre Bereitung iſt bei den Wilden Monopol der Piaches, die zugleich Prieſter, Gaukler und Aerzte ſind, und nur von den in die Miſſionen verſetzten Eingeborenen kann man über die rätſelhaften Stoffe etwas Sicheres er— fahren. Jahrhunderte vergingen, ehe Mutis' Beobachtungs— geiſt die Europäer mit dem Bejuco del Guaco (Mikania Guako) bekannt machte, welches das kräftige Gegengift gegen 15 Schlangenbiß iſt und das wir zuerſt botaniſch beſchreiben konnten. In den Miffionen herrſcht allgemein die Meinung, Ret— tung ſei unmöglich, wenn das Curare friſch und ſtark ein— gedickt und ſo lange in der Wunde geblieben iſt, daß viel davon in den Blutlauf übergegangen. Unter allen Gegen— mitteln, die man am Orinoko und (nach Leschenault) im In— diſchen Archipel braucht, iſt das ſalzſaure Natron das ver— breitetſte. Man reibt die Wunde mit dem Salz und nimmt Schon Oviedo rühmt das Seewaſſer als Gegengift gegen vegetabiliſche Gifte. In den Miſſionen verfehlt man nicht, den europäiſchen Reiſenden alles Ernſtes zu verſichern, mit Salz im Munde habe man in Curare getauchte Pfeile ſo wenig zu fürchten, REN es innerlich. Ich ſelbſt kenne keinen gehörig beglaubigten Fall, der die Wirkſamkeit des Mittels bewieſe, und Magendies und De— lilles Verſuche ſprechen vielmehr dagegen. Am Amazonenſtrom gilt der Zucker für das beſte Gegengift, und da das ſalzſaure Natron den Indianern in den Wäldern faſt ganz unbekannt iſt, ſo iſt wahrſcheinlich der Bienenhonig und der mehlige Zucker, den die an der Sonne getrockneten Bananen aus— ſchwitzen, früher in ganz Guyana zu dieſem Zweck gebraucht worden. Ammoniak und Lucienwaſſer ſind ohne Erfolg gegen das Curare verſucht worden; man weiß jetzt, wie unzuverläſſig dieſe angeblichen ſpezifiſchen Mittel auch gegen Schlangenbiß ſind. Sir Everard Home hat dargethan, daß man die Hei— lung meiſt einem Mittel zuſchreibt, während ſie nur erfolgt iſt, weil die Verwundung unbedeutend und die Wirkung des Giftes eine ſehr beſchränkte war. Man kann Tiere ohne Schaden mit vergifteten Pfeilen verwunden, wenn die Wunde offen bleibt und man die vergiftete Spitze nach der Verwun— dung ſogleich zurückzieht. Wendet man in ſolchen Fällen Salz oder Zucker an, ſo wird man verführt, ſie für vortreff— liche ſpezifiſche Mittel zu halten. Nach der Schilderung von Indianern, die im Krieg mit Waffen, die in Curare getaucht geweſen, verwundet worden, ſind die Symptome ganz ähnlich wie beim Schlangenbiß. Der Verwundete fühlt Kongeſtionen gegen den Kopf und der Schwindel nötigt ihn, ſich niederzu— ſetzen; ſodann Uebelſein, wiederholtes Erbrechen, brennender Durſt und das Gefühl von Pelzigſein am verwundeten Körperteil. Dem alten Indianer, dem Giftmeiſter, ſchien es zu ſchmeicheln, daß wir ihm bei ſeinem Laborieren mit ſo großem Intereſſe zuſahen. Er fand uns ſo geſcheit, daß er nicht zweifelte, wir könnten Seife machen; dieſe Kunſt erſchien ihm, nach der Bereitung des Curare, als eine der ſchönſten Erfin— dungen des menſchlichen Geiſtes. Als das flüſſige Gift in die zu ſeiner Aufnahme beſtimmten Gefäße gegoſſen war, begleiteten wir den Indianer zum Juviasfeſte. Man feierte durch Tänze die Ernte der Juvias, der Früchte der Bertholletia excelsa, und überließ ſich der roheſten Völlerei. In der Hütte, wo die Indianer ſeit mehreren Tagen zu— ſammenkamen, ſah es ganz ſeltſam aus. Es waren weder als die Schläge des Gymnotus, wenn man Tabak kaue. Ralegh empfiehlt Knoblauchſaft als Gegengift gegen des Ourari (Curare). — 7 Tiſche noch Bänke darin, aber große gebratene, vom Rauch geſchwärzte Affen ſah man ſymmetriſch an die Wand gelehnt. Es waren Marimondas (Ateles Belzebuth) und die bär⸗ tigen ſogenannten Kapuzineraffen, die man nicht mit dem Machi oder Sat (Buffons Simia Capucina) verwechſeln darf. Die Art, wie dieſe menſchenähnlichen Tiere gebraten werden, trägt viel dazu bei, wenn ihr Anblick dem civiliſierten Menſchen ſo widerwärtig iſt. Ein kleiner Roſt oder Gitter aus ſehr hartem Holz wird einen Fuß über dem Boden befeſtigt. Der abge— zogene Affe wird zuſammengebogen, als ſäße er; meiſt legt man ihn jo, daß er ſich auf ſeine langen, mageren Arme ſtützt, zuweilen kreuzt man ihm die Hände auf dem Rücken. Iſt er auf dem Gitter befeſtigt, ſo zündet man ein helles Feuer darunter an. Flammen und Rauch umſpielen den Affen und er wir zugleich gebraten und berußt.! Sieht man nun die Eingeborenen Arm oder Bein eines gebratenen Affen verzehren, ſo kann man ſich kaum des Gedankens erwehren, die Gewohn— heit, Tiere zu eſſen, die im Körperbau dem Menſchen ſo nahe ſtehen, möge in gewiſſem Grade dazu beitragen, daß die Wil— den ſo wenig Abſcheu vor dem Eſſen von Menſchenfleiſch haben. Die gebratenen Affen, beſonders die mit ſehr rundem Kopf, gleichen auf ſchauerliche Weiſe Kindern, daher auch Europäer, wenn ſie ſich von Vierhändern nähren müſſen, lieber Kopf und Hände abſchneiden und nur den Rumpf auftragen laſſen. Das Affenfleiſch iſt ſo mager und trocken, daß Bonpland in ſeinen Sammlungen in Paris einen Arm und eine Hand aufbewahrt hat, die in Esmeralda am Feuer geröſtet worden; nach vielen Jahren rochen die Teile nicht im geringſten. Wir ſahen die Indianer tanzen. Der Tanz iſt um ſo einförmiger, da die Weiber nicht daran teilnehmen dürfen. Die Männer, alt und jung, faſſen ſich bei den Händen, bil— den einen Kreis und drehen ſich ſo, bald rechts, bald links, ſtundenlang, in ſchweigſamem Ernſt. Meiſt machen die Tänzer ſelbſt die Muſik dazu. Schwache Töne auf einer Reihe von Rohrſtücken von verſchiedener Länge geblaſen, bilden eine lang— ſame, melancholifche Begleitung. Um den Takt anzugeben, beugt der Vortänzer im Rhythmus beide Kniee. Zuweilen Kurz nach unſerer Rückkehr nach Europa kam in Deutſch— land nach einer geiſtvollen Zeichnung Schicks in Rom ein Kupfer— ſtich heraus, eines unſerer Nachtlager am Orinoko vorſtellend. Im Vordergrunde ſind Indianer beſchäftigt, einen Affen zu braten. bleiben alle ſtehen und machen kleine ſchwingende Bewegungen, indem ſie den Körper ſeitlich hin und her werfen. Jene in eine Reihe geordneten und zuſammengebundenen Rohrſtücke gleichen der Pansflöte, wie wir ſie bei bacchiſchen Aufzügen auf großgriechiſchen Vaſen abgebildet ſehen. Es iſt ein höchſt einfacher Gedanke, der allen Völkern kommen mußte, Rohre von verſchiedener Länge zu vereinigen und ſie nacheinander, während man fie an den Lippen vorbeiführt. anzublaſen. Nicht ohne Verwunderung ſahen wir, wie raſch junge In— dianer, wenn ſie am Fluſſe Rohr (carices) fanden, dergleichen Pfeifen Schnitten und ſtimmten. In allen Himmelsſtrichen leiſten dieſe Gräſer mit hohem Halme den Menſchen im Na— turzuſtande mancherlei Dienſte. Die Griechen ſagten mit Recht, das Rohr ſei ein Mittel geweſen zur Unterjochung der Völker, weil es Pfeile liefere, zur Milderung der Sitten durch den Reiz der Muſik, zur Geiſtesentwickelung, weil es das erſte Werkzeug geboten, mit dem man Buchſtaben geſchrieben. Dieſe verſchiedenen Verwendungsarten des Rohres bezeichnen gleich— ſam drei Abſchnitte im Leben der Völker. Die Horden am Orinoko ſtehen unleugbar auf der unterſten Stufe einer be— ginnenden Kulturentwickelung. Das Rohr dient ihnen nur zu Krieg und Jagd und Pans Flöte ſind auf jenen fernen Ufern noch keine Töne entlockt worden, die ſanfte, menſchliche Empfindungen wecken können. In der Feſthütte fanden wir verſchiedene vegetabiliſche Produkte, welche die Indianer aus den Bergen von Guanaya mitgebracht und die unſere ganze Aufmerkſamkeit in Anſpruch nahmen. Ich verweile hier nur bei der Frucht des Juvia, bei den Rohren von ganz ungewöhnlicher Länge und bei den Hemden aus der Rinde des Marimabaumes. Der Almen— dron oder Juvia, einer der großartigſten Bäume in den Wäldern der Neuen Welt, war vor unſerer Reiſe an den Rio Negro ſo gut wie unbekannt. Vier Tagereiſen öſtlich von Esmeralda, zwiſchen dem Padamo und dem Ocamo am Fuße des Cerro Mapaya, am rechten Ufer des Orinoko, tritt er nach und nach auf; noch häufiger iſt er auf dem linken Ufer beim Cerro Guanaya zwiſchen dem Rio Amaguaca und dem Gehete. Die Einwohner von Esmeralda verficherten uns, oberhalb des Gehete und des Chiguire werde der Juvia und der Kakaobaum ſo gemein, daß die wilden Indianer (die Guaicas und Guaharibos blancos) die Indianer aus den Miſſionen ungeſtört die Früchte ſammeln laſſen. Sie miß⸗ — 72 gönnen ihnen nicht, was ihnen die Natur auf ihrem eigenen Grund und Boden ſo reichlich ſchenkt. Kaum noch hat man es am oberen Orinoko verſucht, den Almendron fortzupflanzen. Die Trägheit der Einwohner läßt es noch weniger dazu kommen als der Umſtand, daß das Oel in den mandelförmigen Samen ſo ſchnell ranzig wird. Wir fanden in der Miſſion San Carlos nur drei Bäume und in Esmeralda zwei. Die maje— ſtätiſchen Stämme waren acht bis zehn Jahre alt und hatten noch nicht geblüht. Wie oben erwähnt, fand Bonpland Almen: drone unter den Bäumen am Ufer des Caſſiquiare in der Nähe der Stromſchnellen von Cananivacari. Schon im 16. Jahrhundert ſah man in Europa nicht die große Steinfrucht in der Form einer Kokosnuß, welche die Mandeln enthält, wohl aber die Samen mit holziger drei— eckiger Hülle. Ich erkenne dieſe auf einer ziemlich mangel: haften Zeichnung des Cluſius. Dieſer Botaniker nennt ſie Almendras del Peru, vielleicht weil ſie als eine ſehr ſeltene Frucht an den oberen Amazonenſtrom und von dort über die Kordilleren nach Quito und Peru gekommen waren. Jean de Laets Novus Orbis, in dem ich die erſte Nachricht vom Kuhbaum fand, enthält auch eine Beſchreibung und ganz richtige Abbildung des Samens der Bertholletia. Laet nennt den Baum Totocke und erwähnt der Steinfrucht von der Größe eines Menſchenkopfes, welche die Samen enthält. Dieſe Früchte, erzählt er, ſeien ſo ungemein ſchwer, daß die Wilden es nicht leicht wagen, die Wälder zu betreten, ohne Kopf und Schultern mit einem Schild aus ſehr hartem Holz zu bedecken. Von ſolchen Schilden wiſſen die Eingeborenen in Esmeralda nichts, wohl aber ſprachen ſie uns auch davon, daß es gefähr— lich ſei, wenn die Früchte reifen und 16 bis 20 m herabfallen. In Portugal und England verkauft man die dreieckigen Samen der Juvia unter dem unbeſtimmten Namen Kaſtanien (Ca- stanas) oder Nüſſe aus Braſilien und vom Amazonenſtrom, und man meinte lange, ſie wachſen, wie die Frucht der Pekea, einzeln auf Fruchtſtielen. Die Einwohner von Granpara treiben ſeit einem Jahrhundert einen ziemlich ſtarken Handel damit. Sie ſchicken ſie entweder direkt nach Europa oder nach Cayenne, wo fie Touka heißen. Der bekannte Bota- niker Correa de Serra ſagte uns, der Baum ſei in den Wäl— dern bei Macapa an der Mündung des eee ſehr häufig und die Einwohner ſammeln die Mandeln, wie die der Lecythis, um Oel daraus zu ſchlagen. Eine Ladung u Juviamandeln, die im Jahr 1807 in Havre einlief und von einem Kaper aufgebracht war, wurde gleichfalls ſo benutzt. Der Baum, von dem die „brafilianifchen Kaſtanien“ kommen, iſt meiſt nur 60 bis 90 em dick, wird aber 30 bis 40 m hoch. Er hat nicht den Habitus der Mammea, des Sternapfelbaumes und verſchiedener anderer tropiſcher Bäume, bei denen die Zweige (wie bei den Lorbeeren der gemäßigten Zone) faſt gerade gen Himmel ſtehen. Bei der Bertholletia ſtehen die Aeſte weit auseinander, ſind ſehr lang, dem Stamm zu faſt blätterlos und an der Spitze mit dichten Laubbüſcheln beſetzt. Durch dieſe Stellung der halb lederartigen, unterhalb leicht ſilberfarbigen, über 65 cm langen Blätter beugen ſich die Aeſte abwärts, wie die Wedel der Palmen. Wir haben den majeſtätiſchen Baum nicht blühen ſehen. Er ſetzt vor dem fünfzehnten Jahre keine Blüten an, und dieſelben brechen vor Ende März oder Anfang April auf. Die Früchte reifen gegen Ende Mai, und an manchen Stämmen bleiben ſie bis in den Auguſt hängen. Da dieſelben ſo groß ſind wie ein Kindskopf und oft 32 bis 35 em Durchmeſſer haben, ſo fallen ſie mit gewaltigem Geräuſch vom Baumgipfel. Ich weiß nichts, woran einem die wunderbare Kraft des organiſchen Lebens im heißen Erdſtrich augenfälliger entgegenträte, als der Anblick der mächtigen holzigen Fruchthüllen, z. B. des Kokosbaums (Lodoicea) unter den Monokotyledonen, und der Bertholletia und der Lecythis unter den Dikotyledonen. In unſeren Klimaten bringen allein die Kürbisarten innerhalb weniger Monate Früchte von auffallender Größe hervor, aber dieſe Früchte ſind fleiſchig und ſaftreich. Unter den Tropen bildet die Bertholletia innerhalb 50 bis 60 Tagen eine Frucht: hülle, deren holziger Teil 13 mm dick und mit den ſchärfſten Werkzeugen kaum zu durchſägen iſt. Ein bedeutender Natur— forſcher (Richard) hat bereits die Bemerkung gemacht, daß das Holz der Früchte meiſt ſo hart wird, wie das Holz der Baumſtämme nur ſelten. Die Fruchthülle der Bertholletia zeigt die Rudimente von vier Fächern; zuweilen habe ich ihrer auch fünf gefunden. Die Samen haben zwei ſcharf geſon— derte Hüllen, und damit iſt der Bau der Frucht komplizierter als bei den Lecythis-, Pekea- und Saouvariarten. Die erſte Hülle iſt beinartig oder holzig, dreieckig, außen höckerig und zimtfarbig. Vier bis fünf, zuweilen acht folder dreieckigen Nüſſe ſind an einer Scheidewand befeſtigt. Da ſie ſich mit der Zeit ablöſen, liegen ſie frei in der großen kugeligen Frucht— — U — hülle. Die Kapuzineraffen (Simia chiropotes) lieben ungemein die „braſilianiſchen Kaſtanien“, und ſchon das Raſſeln der Samen, wenn man die Frucht, wie ſie vom Baum fällt, ſchüttelt, macht die Eßluſt dieſer Tiere in hohem Grade rege. Meiſt habe ich nur 15 bis 22 Nüſſe in einer Frucht gefunden. Der zweite Ueberzug der Mandeln iſt häutig und braungelb. Der Geſchmack derſelben iſt ſehr angenehm, ſolange ſie friſch ſind; aber das ſehr reichliche Oel, durch das ſie ökonomiſch jo nützlich werden, wird leicht ranzig. Wir haben am oberen Orinoko häufig, weil ſonſt nichts zu haben war, dieſe Mandel in bedeutender Menge gegeſſen und nie einen Nachteil davon empfunden. Die kugelige Fruchthülle der Bertholletia iſt oben durchbohrt, ſpringt aber nicht auf; das obere bauchige Ende des Säulchens bildet allerdings (nach Kunth) eine Art inneren Deckel, wie bei der Frucht der Lecythis, aber er öffnet ſich nicht wohl von ſelbſt. Viele Samen verlieren durch die Zer— ſetzung des Oels in den Samenlappen die Keimkraft, bevor in der Regenzeit die Holzkapſel der Fruchthülle infolge der Fäulnis aufgeht. Nach einem am unteren Orinoko weit ver— breiteten Märchen ſetzen ſich die Kapuziner- und Cacajaoaffen (Simia chiropotes und Simia melanocephala) im Kreis um: her, klopfen mit einem Stein auf die Frucht und zerichlagen ſie wirklich, ſo daß ſie zu den dreieckigen Mandeln kommen können. Dies wäre wegen der ausnehmenden Härte und Dicke der Fruchthülle geradezu unmöglich. Man mag geſehen haben, wie Affen die Früchte der Bertholletia am Boden rollten, und dieſelben haben zwar ein kleines Loch, an welches das obere Ende des Säulchens befeſtigt iſt, aber die Natur hat es den Affen nicht ſo leicht gemacht, die holzige Fruchthülle der Ju— via zu öffnen, wie bei der Lecythis, wo ſie den Deckel ab— nehmen, der in den Miſſionen la tapa (Deckel) del coca de monos heißt. Nach der Ausſage mehrerer ſehr glaubwürdiger Indianer gelingt es nur den kleinen Nagern, namentlich den Aguti (Cavia Aguti, Cavia Paca), vermöge des Baues ihrer Zähne und der unglaublichen Ausdauer, mit der ſie ihrem Zerſtörungswerk obliegen, die Frucht der Bertholletia zu durchbohren. Sobald die dreieckigen Nüſſe auf den Boden ausgeſtreut ſind, kommen alle Tiere des Waldes herbeigeeilt; Affen, Manaviri, Eichhörner, Aguti, Papageien und Ara ſtreiten ſich um die Beute. Sie ſind alle ſtark genug, um den holzigen Ueberzug des Samens zu zerbrechen; ſie nehmen die Mandel heraus und klettern damit auf die Bäume. „So haben ſie os auch ihr Feſt,“ ſagten die Indianer, die von der Ernte kamen, und hört man ſie ſich über die Tiere beſchweren, ſo merkt man wohl, daß ſie ſich für die alleinigen rechtmäßigen Herren des Waldes halten. Das häufige Vorkommen des Juvia oſtwärts von Es— meralda ſcheint darauf hinzudeuten, daß die Flora des Ama— zonenſtromes an dem Stück des oberen Orinoko beginnt, das im Süden der Gebirge hinläuft. Es iſt dies gewiſſermaßen ein weiterer Beweis dafür, daß hier zwei Flußbecken vereinigt ſind. Bonpland hat ſehr gut auseinandergeſetzt, wie man zu verfahren hätte, um die Bertholletia excelsa am Ufer des Orinoko, des Apure, des Meta, überhaupt in der Provinz Venezuela anzupflanzen. Man müßte da, wo der Baum wild wächſt, die bereits keimenden Samen zu Tauſenden ſammeln und ſie in Kaſten mit derſelben Erde legen, in der ſie zu vegetieren angefangen. Die jungen Pflanzen, durch Blätter von Mu— ſaceen oder Palmblätter gegen die Sonnenſtrahlen geſchützt, würden auf Pirogen oder Flöße gebracht. Man weiß, wie ſchwer in Europa (trotz der Anwendung von Chlor, wovon ich anderswo geſprochen) Samen mit hornartiger Fruchthülle, Palmen, Kaffeearten, Chinaarten und große holzige Nüſſe mit leicht ranzig werdendem Oel, zum Keimen zu bringen ſind. Alle dieſe Schwierigkeiten wären beſeitigt, wenn man nur Samen ſammelte, die unter dem Baume ſelbſt gekeimt haben. Auf dieſe Weiſe iſt es uns gelungen, zahlreiche Exem— plare ſehr ſeltener Pflanzen, z. B. die Coumarouna odora oder Tongabohne, von den Katarakten des Orinoko nach An— goſtura zu bringen und in den benachbarten Pflanzungen zu verbreiten. Eine der vier Pirogen, mit denen die Indianer auf der Juviasernte, geweſen waren, war großenteils mit der Rohrart (Carice) gefüllt, aus der Blaſerohre gemacht werden. Die Rohre waren 5 bis 6 m lang, und doch war keine Spur von Knoten zum Anſatz von Blättern oder Zweigen zu be— merken. Sie waren vollkommen gerade, außen glatt und völlig cylindriſch. Dieſe Carices kommen vom Fuße der Berge von Pumariquin und Guanaya. Sie ſind ſelbſt jen- ſeits des Orinoko unter dem Namen „Rohr von Esmeralda“ ſehr gefucht. Ein Jäger führt ſein ganzes Leben dasſelbe Blaſerohr; er rühmt die Leichtigkeit, Genauigkeit und Politur desſelben, wie wir an unſeren Feuergewehren dieſelben Eigen— ſchaften rühmen. Was mag dies für ein monokotyledoniſches En Gewächs! fein, von dem dieſe herrlichen Rohre kommen? Haben wir wirklich die Internodia einer Grasart aus der Sippe der Noſtoiden vor uns gehabt? oder ſollte dieſer Carice eine Cyperacea? ohne Knoten ſein? Ich vermag dieſe Fragen nicht zu beantworten, ſo wenig ich weiß, welcher Gattung ein an— deres Gewächs angehört, von dem die Marimahemden kommen. Wir ſahen am Abhang des Cerro Duida über 16 m hohe Stämme des Hemdbaumes. Die Indianer ſchneiden cylindriſche Stücke von 2,6 m Durchmeſſer davon ab und nehmen die rote, faſerige Rinde weg, wobei ſie ſich in acht nehmen, keinen Längsſchnitt zu machen. Dieſe Rinde gibt ihnen eine Art Kleidungsſtück, das Säcken ohne Naht von ſehr grobem Stoffe gleicht. Durch die obere Oeffnung ſteckt man den Kopf, und um die Arme durchzuſtecken, ſchneidet man zur Seite zwei Löcher ein. Der Eingeborene trägt dieſe Marimahemden bei ſehr ſtarkem Regen; ſie haben die Form der baumwollenen Ponchos und Ruanas, die in Neu— granada, Quito und Peru allgemein getragen werden. Da die überſchwengliche Freigebigkeit der Natur in dieſen Him— melsſtrichen für die Haupturſache gilt, warum die Menſchen ſo träge ſind, ſo vergeſſen die Miſſionäre, wenn ſie Marima— hemden vorweiſen, nie die Bemerkung zu machen, „in den Wäldern am Orinoko wachſen die Kleider fertig auf den Bäumen“. Zu dieſer Geſchichte von den Hemden gehören auch die ſpitzen Mützen, welche die Blumenſcheiden gewiſſer Palmen liefern und die einem weitmaſchigen Gewebe gleichen. Beim Feſte, dem wir beiwohnten, waren die Weiber vom Tanz und jeder öffentlichen Luſtbarkeit ausgeſchloſſen; ihr trauriges Geſchäft beſtand darin, den Männern Affenbraten, gegorenes Getränk und Palmkohl aufzutragen. Des letzteren Produktes, das wie unſer Blumenkohl ſchmeckt, erwähne ich nur, weil wir in keinem Lande ſo ausnehmend große Stücke geſehen haben. Die noch nicht entwickelten Blätter ſind mit dem jungen Stengel verſchmolzen, und wir haben Cylinder gemeſſen, die 2 m lang und 11 mm dick waren. Eine andere, weit nahrhaftere Subſtanz kommt aus dem Tierreich, das ! Schon die glatte Oberfläche der Blaſerohre beweiſt, daß ſie von keinem Gewächs aus der Familie der Schirmpflanzen kommen können. 2 Der Caricillo del Manati, der an den Ufern des Orinoko in Menge wächſt, wird 2,6 bis 5 m lang. rt Fiſchmehl (manioe de pescado). Ueberall am oberen Orinoko braten die Indianer die Fische, dörren fie an der Sonne und ſtoßen ſie zu Pulver, ohne die Gräten davon zu trennen. Ich ſah Quantitäten von 25 bis 30 kg dieſes Mehles, das ausſieht wie Maniokmehl. Zum Eſſen rührt man es mit Waſſer zu einem Teige an. Unter allen Klimaten, wo es viele Fiſche gibt, iſt man auf dieſelben Mittel zur Aufbewahrung derſelben gekommen. So beſchreiben Plinius und Diodor von Sizilien das Fiſchbrot der Ichthyophagen! am Perſiſchen Meerbuſen und am Roten Meer. In Esmeralda, wie überall in den Miſſionen, leben die Indianer, die ſich nicht taufen laſſen wollten und ſich nur frei der Gemeinde angeſchloſſen haben, in Polygamie. Die Zahl der Weiber iſt bei den verſchiedenen Stämmen ſehr ver— ſchieden, am größten bei den Kariben und bei all den Völker— ſchaften, bei denen ſich die Sitte, junge Mädchen von benach— barten Stämmen zu entführen, lange erhalten hat. Wie kann bei einer ſo ungleichen Verbindung von häuslichem Glück die Rede ſein! Die Weiber leben in einer Art Sklaverei, wie bei den meiſten ſehr verſunkenen Völkern. Da die Männer im Beſitz der unumſchränkten Gewalt ſind, ſo wird in ihrer Gegenwart keine Klage laut. Im Hauſe herrſcht ſcheinbar Ruhe, und die Weiber beeifern ſich alle, den Wünſchen eines anſpruchsvollen, übellaunigen Gebieters zuvorzukommen. Sie pflegen ohne Unterſchied ihre eigenen Kinder und die der anderen Weiber. Die Miſſionäre verſichern (und was ſie ſagen, iſt ſehr glaublich), dieſer innere Frieden, die Frucht gemein— ſamer Furcht, werde gewaltig geſtört, ſobald der Mann länger von Hauſe abweſend ſei. Dann behandelt diejenige, mit der ſich der Mann zuerſt verbunden, die anderen als Beiſchläferinnen und Mägde. Der Zank nimmt kein Ende, bis der Gebieter wieder kommt, der durch einen Laut, durch eine bloße Gebärde, und wenn er es zweckdienlich erachtet, durch etwas ſchärfere Mittel die Leidenſchaften niederzuſchlagen weiß. Bei den Tamanaken iſt eine gewiſſe Ungleichheit unter den Weibern Dieſe Völker, die noch roher waren als die Eingeborenen am Orinoko, dörrten geradezu die friſchen Fiſche an der Sonne. Bei ihnen hatte der Fiſchteig die Form von Backſteinen, und man ſetzte zuweilen den aromatiſchen Samen des Paliurus (Rhamnus) zu, gerade wie man in Deutſchland und anderen nördlichen Ländern Kümmel und Fenchel in das Brot thut. hinſichtlich ihrer Rechte durch den Sprachgebrauch bezeichnet. Der Mann nennt die zweite und dritte Frau Gefährtinnen der erſten; die erſte behandelt die Gefährt innen als Neben- buhlerinnen und Feinde (ipucjatoje), was allerdings nicht ſo höflich iſt, aber wahrer und ausdrucksvoller. Da alle Laſt der Arbeit auf den unglücklichen Weibern liegt, ſo iſt es nicht zu verwundern, daß bei manchen Nationen ihre Anzahl auf— fallend gering iſt. In ſolchem Falle bildet ſich eine Art Vielmännerei, wie wir ſie, nur entwickelter, in Tibet und im Gebirge am Ende der oſtindiſchen Halbinſel finden. Bei den Avanos und Maypures haben oft mehrere Brüder nur eine Frau. Wird ein Indianer, der mehrere Weiber hat, Chriſt, ſo zwingen ihn die Miſſionäre, eine zu wählen, die er behalten will, um die anderen zu verſtoßen. Der Moment der Tren— nung iſt nun der kritiſche; der Neubekehrte findet, daß ſeine Weiber doch höchſt ſchätzbare Eigenſchaften haben: die eine verſteht ſich gut auf die Gärtnerei, die andere weiß Ch iza zu bereiten, das berauſchende Getränk aus der Maniokwurzel; eine erſcheint ihm ſo unentbehrlich wie die andere. Zuweilen ſiegt beim Indianer das Verlangen, ſeine Weiber zu behalten, über die Neigung zum Chriſtentum; meiſt aber läßt der Mann den Miſſionär wählen, und nimmt dies hin wie einen Spruch des Schickſals. Die Indianer, die vom Mai bis Auguſt Fahrten oft: wärts von Esmeralda unternehmen, um in den Bergen von Yumariquin Pflanzenprodukte zu ſammeln, konnten uns ge: naue Auskunft über den Lauf des Orinoko im Oſten der Miſſion geben. Dieſer Teil meiner Reiſekarte weicht von den früheren völlig ab. Ich beginne die Beſchreibung dieſer Länder mit dem Granitſtock des Duida, an deſſen Fuße wir weilten. Derſelbe wird im Weſten vom Rio Tamatama, im Oſten vom Rio Guapo begrenzt. Zwiſchen dieſen beiden Nebenflüſſen des Orinoko, durch die Morichales oder die Gebüſche von Mauritiapalmen, die Esmeralda umgeben, kommt der Rio Sodomoni herab, vielberufen wegen der vortrefflichen Ananas, die an ſeinen Ufern wachſen. Am 22. Mai maß ich auf einer Grasflur am Fuß des Duida eine Standlinie von 475 m; der Winkel, unter dem die Spitze des Berges in 13827 m Entfernung erſcheint, beträgt noch 9%. Nach meiner genauen trigonometriſchen Meſſung iſt der Duida (das heißt der höchſte Gipfel ſüdweſtlich vom Cerro Mara— guaca) 2179 m über der Ebene von Esmeralda hoch, alſo 8 wahrſcheinlich gegen 2530 über dem Meeresfpiegel; ich ſage wahrſcheinlich, denn leider war mein Barometer zerbrochen, ehe wir nach Esmeralda kamen. Der Regen war ſo ſtark, daß wir in den Nachtlagern das Inſtrument nicht vor 11975 tigkeit ſchützen konnten, und bei der ungleichen Ausdehnung des Holzes zerbrach die Röhre. Der Unfall war mir deſto verdrießlicher, weil wohl nie ein Barometer größere Reiſen mitgemacht hat. Ich hatte dasſelbe ſchon ſeit drei Jahren in den Gebirgen von Steiermark, Frankreich und Spanien, in Amerika auf dem Wege von Cumana an den oberen Orinoko geführt. Das Land zwiſchen Javita, Vaſiva und Esmeralda iſt eine weite Ebene, und da ich an den beiden erſteren Orten den Barometer beobachtet habe, ſo kann ich mich hinſichtlich der abſoluten Höhe der Savannen am Sodomoni höchſtens um 30 bis 38 m irren. Der Cerro Duida ſteht an Höhe dem St. Gott: hard und der Silla bei Caracas am Küſtenland von Venezuela nur wenig (kaum 155 bis 195 m) nach. Er gilt auch hier— zulande für einen koloſſalen Berg, woraus wir ziemlich ſicher auf die mittlere Höhe der Sierra Parime und aller Berge im öſtlichen Amerika ſchließen können. Oeſtlich von der Sierra Nevada de Merida, ſowie ſüdöſtlich vom Paramo de las Roſas erreicht keine der Bergketten, die in der Rich— tung eines Parallels ſtreichen, die Höhe des Centralkamms der Pyrenäen. Der Granitgipfel des Duida fällt ſo ſteil ab, daß die Indianer vergeblich verſucht haben hinauf zu kommen. Be— kanntlich ſind gar nicht hohe Berge oft am unzugänglichſten. Zu Anfang und zu Ende der Regenzeit ſieht man auf der Spitze des Duida kleine Flammen, und zwar, wie es ſcheint, nicht immer am ſelben Orte. Wegen dieſer Erſcheinung, die bei den übereinſtimmenden Ausſagen nicht wohl in Zweifel zu ziehen iſt, hat man den Berg mit Unrecht einen Vulkan genannt. Da er ziemlich iſoliert liegt, könnte man denken, der Blitz zünde zuweilen das Strauchwerk an; dies erſcheint aber unwahrſcheinlich, wenn man bedenkt, wie ſchwer in dieſem naſſen Klima die Gewächſe brennen. Noch mehr: man verſichert, es zeigen ſich oft kleine Flammen an Stellen, wo das Geſtein kaum mit Raſen bedeckt ſcheint; auch beobachte man ganz ähnliche Feuererſcheinungen, und zwar an Tagen ohne alles Gewitter, am Gipfel des Guaraco oder Murcie— lago, eines Hügels gegenüber der Mündung des Rio Tama— tama auf dem ſüdlichen Ufer des Orinoko. Dieſer Hügel ee erhebt ſich kaum 100 m über die umliegende Ebene. Sind die Ausſagen der Eingeborenen begründet, ſo rühren beim Duida und Guaraco die Flammen wahrſcheinlich von einer unterirdiſchen Urſache her; denn man ſieht dergleichen niemals auf den hohen Bergen am Rio Jao und am Berg Mara— guaca, um den ſo oft die Gewitter toben. Der Granit des Cerro Duida iſt von teils offenen, teils mit Quarzkriſtallen und Kieſen gefüllten Gängen durchzogen. Durch dieſelben mögen gasförmige, brennbare Emanationen (Waſſerſtoff oder Naphtha) aufſteigen. In den Gebirgen von Karamanien, im Hindukuſch und im Himalaya ſind dergleichen Erſcheinungen häufig. In vielen Landſtrichen des öſtlichen Amerika, die den Erdbeben ausgeſetzt ſind, ſieht man ſogar (wie am Cuchi— vano bei Cumanacoa) aus ſekundären Gebirgsbildungeu Flammen aus dem Boden brechen. Dieſelben zeigen ſich, wenn der erſte Regen auf den von der Sonne ſtark erhitzten Boden fällt, oder wenn dieſer nach ſtarken Niederſchlägen wieder zu trocknen anfängt. Die Grundurſache dieſer Feuer— erſcheinungen iſt in ungeheurer Tiefe, weit unter den ſekun— dären Formationen, in den Urgebirgsarten zu ſuchen; der Regen und die Zerſetzung des atmoſphäriſchen Waſſers ſpielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Die heißeſten Quellen in der Welt kommen unmittelbar aus dem Granit; das Steinöl quillt aus dem Glimmerſchiefer; in Encaramada zwiſchen den Flüſſen Arauca und Cuchivero, mitten auf dem Granitboden der Sierra Parime am Orinoko, hört man furcht— bares Getöſe. Hier, wie überall auf dem Erdball, liegt der Herd der Vulkane in den älteſten Bildungen, und zwiſchen den großen Phänomenen, wobei die Rinde unſeres Planeten emporgehoben und geſchmolzen wird, und den Feuermeteoren, die ſich zuweilen an der Oberfläche zeigen und die man, ihrer Unbedeutendheit wegen, nur atmoſphäriſchen Einflüſſen zuſchreiben möchte, ſcheint ein Kauſalzuſammenhang zu be— tehen. bi Der Duida hat zwar nicht die Höhe, welche der Volks— glaube ihm zuſchreibt, er iſt aber im ganzen Bergſtock zwi⸗ ſchen Orinoko und Amazonenſtrom der beherrſchende Punkt. Dieſe Berge fallen gegen Nordweſt, gegen den Puruname, noch raſcher ab als gegen Oſt, gegen den Padamo und den Rio Ocamo. In der erſteren Richtung ſind die höchſten Gipfel nach dem Duida der Cun eva, an den Quellen des Rio Paru leines Nebenfluſſes des Ventuari), der Sipapo, Be — 81 — der Calitamini, der mit dem Cunavami und dem Pik Uniana zu einer Gruppe gehört. Oſtwärts vom Duida zeichnen ſich durch ihre Höhe aus: am rechten Ufer des Ori— noko der Maravaca oder die Sierra Maraguaca zwiſchen dem Rio Caurimoni und dem Padamo, auf dem linken Ufer die Berge von Guanaya und Numariquin zwiſchen den Flüſſen Amaguaca und Gehete. Ich brauche kaum noch ein— mal zu bemerken, daß die Linie, welche über dieſe hohen Gipfel läuft (wie in den Pyrenäen, den Karpathen und ſo vielen Bergketten der Alten Welt), keineswegs mit der Waſſerſcheide zuſammenfällt. Die Waſſerſcheide zwiſchen den Zuflüſſen des unteren und des oberen Orinoko ſchneidet den Meridian von 64“ unter dem vierten Grad der Breite. Sie läuft zuerſt zwiſchen den Quellen des Rio Branco und des Carony durch und dann nach Nordweſt, ſo daß die Gewäſſer des Pado, Jao und Ventuari nach Süd, die Gewäſſer des Arui, Caura und Cuchivero nach Nord fließen. Man kann von Esmeralda den Orinoko gefahrlos hinauf— fahren bis zu den Katarakten, an denen die Guaicaindianer ſit en, welche die Spanier nicht weiter hinauf kommen laſſen; es iſt dies eine Fahrt von ſechs und einem halben Tag. In den zwei erſten kommt man an den Einfluß des Rio Padamo, nachdem man gegen Nord die kleinen Flüſſe Tamatama, So— domoni, Guapo, Caurimoni und Simirimoni, gegen Süd den Einfluß des Cuca zwiſchen dem Hügel Guaraco, der Flammen auswerfen ſoll, und dem Cerro Canelilla, hinter ſich gelaſſen. Auf dieſem Strich bleibt der Orinoko 580 bis 780 m breit. Auf dem rechten Ufer kommen mehr Flüſſe herein, weil ſich an dieſer Seite die hohen Berge Duida und Maraguaca hinziehen, auf welchen ſich die Wolken lagern, während das linke Ufer niedrig und an die Ebene ſtößt, die im großen gegen Südweſt abfällt. Prachtvolle Wälder mit Bauholz be— decken die nördlichen Kordilleren. In dieſem heißen, beſtändig feuchten Landſtrich iſt das Wachstum ſo ſtark, daß es Stämme von Bombax Ceiba von 5 m Durchmeſſer gibt. Der Rio Padamo oder Patamo, über den früher die Miſſionäre am oberen Orinoko mit denen am Rio Caura verkehrten, iſt für die Geographen zu einer Quelle von Irrtümern geworden. Pater Caulin nennt ihn Macoma und ſetzt einen andern Rio Padamo zwiſchen den Punkt der Gabelteilung des Orinoko und einen Berg Ruida, womit ohne Zweifel der Cerro Duida A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 6 — 2 gemeint iſt. Surville läßt den Padamo ſich mit dem Rio Ocamo (Ucamu) verbinden, der ganz unabhängig von ihm iſt; auf der großen Karte von La Cruz endlich iſt ein kleiner Nebenfluß des Orinoko, weſtlich von der Gabelteilung, als Rio Padamo bezeichnet und der eigentliche Fluß dieſes Na— mens heißt Rio Maquiritari. Von der Mündung dieſes Fluſſes, der ziemlich breit iſt, kommen die Indianer in einem und einem halben Tag an den Rio Mavaca, der in den hohen Gebirgen von Unturan entſpringt, von denen oben die Rede war. Der Trageplatz zwiſchen den Quellen dieſes Nebenfluſſes und denen des Idapa oder Siapa hat zu der Fabel vom Zuſammenhang des Idapa mit dem oberen Ori— noko Anlaß gegeben. Der Rio Mavaca ſteht mit einem See in Verbindung, an deſſen Ufer die Portugieſen, ohne Vor: wiſſen der Spanier in Esmeralda, vom Rio Negro herkom— men, um die aromatischen Samen des Laurus Pucheri zu ſammeln, die im Handel als Pichurimbohne und Tod a Specie bekannt find. Zwiſchen den Mündungen des Pa— damo und des Mavaca nimmt der Orinoko von Nord her den Ocamo auf, in den ſich der Rio Matacona ergießt. An den Quellen des letzteren Fluſſes wohnen die Guainares, die lange nicht ſo ſtark kupferfarbig oder braun ſind als die übrigen Bewohner dieſer Länder. Dieſer Stamm gehört zu denen, welche bei den Miſſionären Indios blancos heißen, und über die ich bald mehr ſagen werde. An der Mündung des Ocamo zeigt man den Reiſenden einen Fels, der im Lande für ein Wunder gilt. Es iſt ein Granit, der in Gneis übergeht, ausgezeichnet durch die eigentümliche Verteilung des ſchwarzen Glimmers, der kleine verzweigte Adern bildet. Die Spanier nennen den Fels Piedra mapaya (Landkartenſtein). Ueber dem Einfluß des Mavaca nimmt der Orinoko an Breite und Tiefe auf einmal ab. Sein Lauf wird ſehr ge— krümmt, wie bei einem Alpſtrom. An beiden Ufern ſtehen Gebirge; von Süden her kommen jetzt bedeutend mehr Ge— wäſſer herein, indeſſen bleibt die Kordillere im Norden am höchſten. Von der Mündung des Mavaca bis zum Rio Gehete ſind es zwei Tagereiſen, weil die Fahrt ſehr be— ſchwerlich iſt und man oft, wegen zu ſeichten Waſſers, die Piroge am Ufer ſchleppen muß. Auf dieſer Strecke kommen von Süd der Daracapo und der Amaguaca herein; ſie laufen nach Weſt und Oſt um die Berge von Guanaya und Yu: mariquin herum, wo man die Früchte der Bertholletia ſammelt. FT, Von den Bergen gegen Nord, deren Höhe vom Cerro Mara: uaca an allmählich abnimmt, kommt der Rio Manaviche 1 Je weiter man auf dem Orinoko hinaufkommt, deſto häufiger werden die Krümmungen und die kleinen Strom— ſchnellen (chorros y remolinos). Man läßt links den Cano Chiguirie, an dem die Guaica, gleichfalls ein Stamm weißer Indianer, wohnen, und 9 km weiter kommt man zur Mün— dung des Gehete, wo ſich ein großer Katarakt befindet. Ein Damm von Granitfelſen läuft über den Orinoko; dies ſind die Säulen des Herkules, über die noch kein Weißer hinaus— gekommen iſt. Dieſer Punkt, der ſogenannte Raudal de Guaharibos, ſcheint 4 oſtwärts von Esmeralda, alſo unter 67° 38° der Länge zu liegen. Durch eine militäriſche Ex— pedition, die der Kommandant von San Carlos, Don Fran— cisco Bovadilla, unternommen, um die Quellen des Orinoko aufzuſuchen, hat man die genaueſten Nachrichten über die Katarakte der Guaharibos. Er hatte erfahren, daß Neger, welche in Holländiſch⸗-Guyana entſprungen, nach Weſt (über die Landenge zwiſchen den Quellen des Rio Carony und des Rio Branco hinaus) gelaufen ſeien und ſich zu unabhängigen Indianern geſellt haben. Er unternahm eine Entrada (Ein— fall) ohne Erlaubnis des Statthalters; der Wunſch, afrika— niſche Sklaven zu bekommen, die zur Arbeit beſſer taugen als die kupferfarbigen Menſchen, war dabei ungleich ſtärker im Spiel, als der Eifer für die Förderung der Erdkunde. Ich hatte in Esmeralda und am Rio Negro Gelegenheit, mehrere ſehr verſtändige Militärs zu fragen, die den Zug mitgemacht. Bovadilla kam ohne Schwierigkeit bis zum kleinen Raudal dem Gehete gegenüber; aber am Fuße des Felsdammes, welcher den großen Katarakt bildet, wurde er unverſehens, während des Frühſtücks, von den Guaharibos und den Guaica über— fallen, zwei kriegeriſchen und wegen der Stärke des Curare, mit dem ſie ihre Pfeile vergiften, vielberufenen Stämmen. Die Indianer beſetzten die Felſen mitten im Fluß. Sie ſahen keine Bogen in den Händen der Spanier, von Feuer— gewehr wußten ſie nichts, und ſo gingen ſie Leuten zu Leibe, die fie für wehrlos hielten. Mehrere Weiße wurden ge: fährlich verwundet, und Bovadilla mußte die Waffen brauchen. Es erfolgte ein furchtbares Gemetzel unter den Eingeborenen, aber von den holländiſchen Negern, die ſich hierher geflüchtet haben ſollten, wurde keiner gefunden. Trotz des Sieges, der ihnen nicht ſchwer geworden, wagten es die Spanier nicht, a in gebirgigem Land auf einem tief eingeſchnittenen Fluſſe weiter gegen Oſt hinaufzugehen. Die Guaharibos blancos haben über den Katarakt aus Lianen eine Brücke geſchlagen, die an den Felſen befeſtigt iſt, welche ſich, wie meiſtens in den Pongos im oberen Maranon, mitten aus dem Flußbett erheben. Dieſe Brücke, die jämt: liche Einwohner in Esmeralda wohl kennen, ſcheint zu be— weiſen, daß der Orinoko an dieſer Stelle bereits ziemlich ſchmal iſt. Die Indianer geben ſeine Breite meiſt nur zu 65 bis 100 m an; ſie behaupten, oberhalb des Raudals der Guaharibos ſei der Orinoko kein Fluß mehr, ſondern ein Riachuelo (ein Bergwaſſer), wogegen ein ſehr unterrichteter Geiſtlicher, Fray Juan Gonzales, der das Land beſucht hat, mich verſicherte, da, wo man den weiteren Lauf des Orinoko nicht mehr kenne, ſei er immer noch zu zwei Dritteilen ſo breit als der Rio Negro bei San Carlos. Letztere Angabe ſcheint mir unwahrſcheinlicher; ich gebe aber nur wieder, was ich in Erfahrung bringen konnte, und ſpreche über nichts ab. Nach den vielen Meſſungen, die ich vorgenommen, weiß ich gut, wie leicht man ſich hinſichtlich der Größe der Flußbetten irren kann. Ueberall erſcheinen die Flüſſe breiter oder ſchmaler, je nachdem ſie von Bergen oder von Ebenen umgeben, frei oder voll Riffen, von Regengüſſen geſchwellt oder nach langer Trockenheit waſſerarm ſind. Es verhält ſich übrigens mit dem Orinoko wie mit dem Ganges, deſſen Lauf nordwärts von Gangotra nicht bekannt iſt; auch hier glaubt man wegen der geringen Breite des Fluſſes, der Punkt könne nicht weit von der Quelle liegen. Im Felsdamm, der über den Orinoko läuft und den Raudal der Guaharibos bildet, wollen ſpaniſche Soldaten die ſchöne Art Sauſſurit (den Amazonenſtein), von dem oben die Rede war, gefunden haben. Es iſt dies eine ſehr zweifel— hafte Geſchichte, und die Indianer, die ich darüber War verſicherten mich, die grünen Steine, die man in Esmeralda Piedras de Macagua nennt, ſeien von den Guaica und Guaharibos gekauft, die mit viel weiter oſtwärts lebenden Horden Handel treiben. Es geht mit dieſen Steinen wie mit ſo vielen anderen koſtbaren Produkten beider Indien. An den Küſten, einige hundert Meilen weit weg, nennt man das Land, wo ſie vorkommen, mit voller Beſtimmtheit; kommt man aber mit Mühe und Not in dieſes Land, ſo zeigt es ſich, daß die Eingeborenen das Ding, das man ſucht, nicht — 2 einmal dem Namen nach kennen. Man könnte glauben, die Amulette aus Sauſſurit, die man bei den Indianern am Rio Negro gefunden, kommen vom unteren Amazonenſtrom, und die, welche man über die Miſſionen am oberen Orinoko und Rio Carony bezieht, aus einem Landſtrich zwiſchen den Quellen des Eſſequibo und des Rio Branco. Indeſſen haben weder der Chirurg Hortsmann, ein geborener Hildesheimer, noch Don Antonio Santos, deſſen Reiſetagebuch mir zu Gebote ſtand, den Amazonenſtein auf der Lagerſtätte geſehen, und es iſt eine ganz grundloſe, obgleich in Angoſtura ſtark verbreitete Meinung, dieſer Stein komme in weichem, teigigem Zuſtand aus dem kleinen See Amucu, aus dem man die Laguna del Dorado gemacht hat. So iſt denn in dieſem öſtlichen Strich von Amerika noch eine ſchöne geognoſtiſche Entdeckung zu machen, nämlich im Urgebirge ein Euphotidgeſtein (Gabbro) aufzufinden, das die Piedra de Mecagua enthält. Ich gebe hier einigen Aufſchluß über die Indianerſtämme von weißlicher Hautfarbe und ſehr kleinem Wuchs, die alte Sagen ſeit Jahrhunderten an die Quellen des Orinoko ſetzen. Ich hatte Gelegenheit, in Esmeralda einige zu ſehen, und kann verſichern, daß man die Kleinheit der Guaica und die Weiße der Guaharibos, die Pater Caulin Guaribos blancos nennt, in gleichem Maße übertrieben hat. Die Guaica, die ich gemeſſen, meſſen im Durchſchnitt 1486 bis 1513 mm. Man behauptet, der ganze Stamm ſei fo ausnehmend klein; man darf aber nicht vergeſſen, daß das, was man hier einen Stamm nennt, im Grunde nur eine einzige Familie iſt. Wo alle Vermiſchung mit Fremden aus— geſchloſſen iſt, pflanzen ſich Spielarten und Abweichungen vom gemeinſamen Typus leichter fort. Nach den Guaica ſind die Guainares und die Poignaves die kleinſten unter den Indianern. Es iſt ſehr auffallend, daß alle dieſe Völker— ſchaften neben den Kariben wohnen, die von ungemein hohem Wuchſe ſind. Beide leben im ſelben Klima und haben die— ſelben Nahrungsmittel. Es ſind Raſſenſpielarten, deren Bil— dung ohne Zweifel weit über die Zeit hinaufreicht, wo dieſe Stämme (große und kleine, weißliche und dunkelbraune) ſich nebeneinander niedergelaſſen. Die vier weißeſten Nationen am oberen Orinoko ſcheinen mir die Guaharibos am Rio Gehete, die Guainares am Ocamo, die Guaica am Cano Chiguire und die Maquiritares an den Quellen des Padamo, des Jao und des Ventuari. Da Eingeborene mit weißlicher 86 Haut unter einem glühenden Himmel und mitten unter ſehr dunkelfarbigen Völkern eine auffallende Erſcheinung ſind, ſo haben die Spanier zur Erklärung derſelben zwei ſehr gewagte Hypotheſen aufgebracht. Die einen meinen, Holländer aus Surinam und vom Rio Eſſequibo mögen ſich mit Guaharibos und Guainares vermiſcht haben; andere behaupten aus Haß gegen die Kapuziner am Carony und die Obſervanten am Orinoko, dieſe weißlichen Indianer ſeien, was man in Dal— matten Muso di frate nennt, Kinder, deren eheliche Geburt einigem Zweifel unterliegt. In beiden Fällen wären die Indios blancos Meſtizen, Abkömmlinge einer Indianerin und eines Weißen. Ich habe aber Tauſende von Meſtizen ge— ſehen und kann behaupten, daß die Vergleichung durchaus unrichtig iſt. Die Individuen der weißlichen Stämme, die wir zu unterſuchen Gelegenheit hatten, haben die Geſichts— bildung, den Wuchs, die ſchlichten, glatten ſchwarzen Haare, wie ſie allen anderen Indianern zukommen. Unmöglich könnte man ſie für Miſchlinge halten, ähnlich den Abkömmlingen von Eingeborenen und Europäern. Manche ſind dabei ſehr klein, andere haben den gewöhnlichen Wuchs der kupferroten Indianer. Sie ſind weder ſchwächlich, noch kränklich, noch Albinos; ſie unterſcheiden ſich von den kupferfarbigen Stämmen allein durch weit weniger dunkle Hautfarbe. Nach dieſen Bemerkungen braucht man den weiten Weg vom oberen Orinoko zum Küſtenland, auf dem die Holländer ſich nieder— gelaſſen, gar nicht in Anſchlag zu bringen. Ich leugne nicht, daß man Abkömmlinge entlaufener Neger (negros alzados del palenque) unter den Kariben an den Quellen des Eſſe— quibo gefunden haben mag; aber niemals iſt ein Weißer von den Oſtküſten ſo tief in Guyana hinein, an den Rio Gehete und an den Ocamo gekommen. Noch mehr: ſo auffallend es erſcheinen mag, daß Völkerſchaften mit weißlicher Haut öftlich von Esmeralda nebeneinander wohnen, ſo iſt doch ſo viel gewiß, daß man auch in anderen Ländern Amerikas Stämme gefunden hat, die ſich von ihren Nachbarn durch weit weniger dunkle Hautfarbe unterſcheiden. Dahin gehören die Ari— virianos und Maquiritares am Rio Ventuario und am Pa— damo, die Paudacoten und Paravenas am Erevato, die Viras und Arigua am Caura, die Mologagos in Braſilien und die Guayana am Uruguay.! Die dunkelfarbigſten (man könnte faſt jagen die ſchwärzeſten) Bey €e> Alle dieſe Erſcheinungen verdienen deſto mehr Aufmerk— ſamkeit, als ſie den großen Zweig der amerikaniſchen Völker betreffen, den man gemeiniglich dem am Pole lebenden Zweig, den Eskimo⸗Tſchugaſen, entgegenſtellt, deren Kinder weiß ſind und die mongoliſch gelbe Farbe erſt durch den Einfluß der Luft und der Feuchtigkeit annehmen. In Guyana ſind die Horden, welche mitten in den dichteſten Wäldern leben, meiſt nicht ſo dunkel als ſolche, welche an den Ufern des Ori— noko Fiſchfang treiben. Aber dieſer unbedeutende Unter— ſchied, der ja auch in Europa zwiſchen den ſtädtiſchen Hand— werkern und den Landbauern oder Küſtenfiſchern vorkommt, erklärt keineswegs das Phänomen der Indios blancos, die Exiſtenz von Indianerſtämmen mit einer Haut wie die der Meſtizen. Dieſelben ſind von anderen Waldindianern (Indios del monte) umgeben, die, obgleich ganz den nämlichen phyſiſchen Einflüſſen ausgeſetzt, braunrot ſind. Die Ur— ſachen dieſer Erſcheinungen liegen in der Zeit ſehr weit rückwärts, und wir ſagen wieder mit Tacitus: „Est durans originis vis.“ Dieſe Stämme mit weißlicher Haut, welche wir in der Miſſion Esmeralda zu ſehen Gelegenheit gehabt, bewohnen einen Strich des Berglandes zwiſchen den Quellen von ſechs Nebenflüſſen des Orinoko, des Padamo, Jao, Ventuari, Erevato, Aruy und Paragua. Bei den ſpaniſchen und portu— Spielarten der amerikaniſchen Raſſe ſind die Otomaken und die Guamos, und ſie haben vielleicht zu den verworrenen Vorſtellungen von amerikaniſchen Negern, die in der erſten Zeit der Er— oberung in Europa verbreitet waren, Anlaß gegeben. Was waren die Negros de Quareca, die Gomara auf denſelben Iſthmus von Panama verſetzt, woher uns zuerſt die albernen Geſchichten von einem Volke von Albinos in Amerika zugekommen? Lieſt man die Geſchichtſchreiber aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts mit Auf— merkſamkeit, ſo ſieht man, daß durch die Entdeckung von Amerika, wodurch auch eine neue Menſchenraſſe entdeckt worden war, die Reiſenden großes Intereſſe für die Abarten unſeres Geſchlechtes gewonnen hatten. Hätte nun unter den kupferfarbigen Menſchen eine ſchwarze Raſſe gelebt, wie auf den Inſeln der Südſee, ſo hätten die Konquiſtadoren ſich ſicher beſtimmt darüber ausgeſprochen. Zudem kommen in den religiöſen Ueberlieferungen der Amerikaner in ihren heroiſchen Zeiten wohl weiße bärtige Männer als Prieſter und Geſetzgeber vor, aber in keiner dieſer Sagen iſt von einem ſchwarzen Volksſtamme die Rede. onen gieſiſchen Miſſionären heißt dieſes Land gemeiniglich die Parime. Hier, wie in verſchiedenen anderen Ländern von Spaniſch⸗Amerika, haben die Wilden wieder erobert, was die Civiliſation oder vielmehr die Miſſionäre, die nur die Vor— läufer der Civiliſation ſind, ihnen abgerungen. Solanos Grenzexpedition und der abenteuerliche Eifer, mit dem ein Statthalter von Guyana! den Dorado ſuchte, hatte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Unternehmungs— geiſt wieder wachgerufen, der die Kaſtilianer bei der Ent— deckung von Amerika beſeelte. Man hatte am Rio Padamo hinauf durch Wälder und Savannen einen Weg von zehn Tagereiſen von Esmeralda zu den Quellen des Ventuari ent— deckt; in zwei weiteren Tagen war man von dieſen Quellen auf dem Erevato in die Miſſionen am Rio Caura gelangt. Zwei verſtändige, beherzte Männer, Don Antonio Santos und der Kapitän Bareto, hatten mit Hilfe der Maquiritares auf dieſer Linie von Esmeralda an den Rio Erevato eine militäriſche Poſtenkette angelegt; dieſelbe beſtand aus zwei— ſtockigen, mit Steinböllern beſetzten Häuſern (casas fuertes), wie ich ſie oben beſchrieben und die auf den Karten, die zu Madrid herauskamen, als 19 Dörfer figurierten. Die ſich ſelbſt überlaſſenen Soldaten bedrückten in jeder Weiſe die Indianer, die ihre Pflanzungen bei den Casas fuertes hatten, und da dieſe Plackereien nicht ſo methodiſch waren, das heißt nicht ſo gut ineinander griffen wie die in den Miſſionen, an die ſich die Indianer nach und nach gewöhnen, ſo verbündeten ſich im Jahre 1776 mehrere Stämme gegen die Spanier. In einer Nacht wurden alle Militärpoſten auf der ganzen 225 km langen Linie angegriffen, die Häuſer niedergebrannt, viele Soldaten niedergemacht; nur wenige verdankten ihr Leben dem Erbarmen der indianiſchen Weiber. Noch jetzt ſpricht man mit Entſetzen von dieſem nächtlichen Ueberfall. Derſelbe wurde in der tiefſten Heimlichkeit ver— abredet und mit der Uebereinſtimmung ausgeführt, die bei den Eingeborenen von Süd- wie von Nordamerika, welche feindſelige Gefühle ſo meiſterhaft in ſich zu verſchließen wiſſen, niemals fehlt, wo es ſich um gemeinſamen Vorteil handelt. Seit 1776 hat nun kein Menſch mehr daran gedacht, den Landweg vom oberen an den unteren Orinoko wiederher— Don Manuel Centurion, Governador y Comendante general de la Guayana von 1766 bis 1777. MI — zuſtellen, und konnte kein Weißer von Esmeralda an den Erevato gehen. Und doch iſt kein Zweifel darüber, daß es in dieſem Gebirgslande zwiſchen den Quellen des Padamo und des Ventuari (bei den Orten, welche bei den Indianern Aurichapa, Ichuana und Irique heißen) mehrere Gegenden mit gemäßigtem Klima und mit Weiden gibt, die Vieh in Menge nähren könnten. Die Militärpoſten leiſteten ihrer Zeit ſehr gute Dienſte gegen die Einfälle der Kariben, die von Zeit zu Zeit zwiſchen dem Erevato und dem Pa— damo Sklaven fortſchleppten, wenn auch nur wenige. Sie hätten wohl auch den Angriffen der Eingeborenen wider— ſtanden, wenn man ſie, ſtatt ſie ganz vereinzelt und nur in den Händen der Soldaten zu laſſen, in Dörfer ver— wandelt und wie die Gemeinden der neubekehrten Indianer verwaltet hätte. Wir verließen die Miſſion Esmeralda am 17. Mai. Wir waren eben nicht krank, aber wir fühlten uns alle matt und ſchwach infolge der Inſektenplage, der ſchlechten Nahrung und der langen Fahrt in engen, naſſen Kanoen. Wir gingen den Orinoko nicht über den Einfluß des Rio Guapo hinauf; wir hätten es gethan, wenn wir hätten verſuchen können, zu den Quellen des Fluſſes zu gelangen. Unter den gegen— wärtigen Verhältniſſen müſſen ſich bloße Privatleute, welche Erlaubnis haben, die Miſſionen zu betreten, bei ihren Wan— derungen auf die friedlichen Striche des Landes beſchränken. Vom Guapo bis zum Raudal der Guaharibos find noch 67 km. Bei dieſem Katarakt, über den man auf einer Brücke aus Lianen geht, ſtehen Indianer mit Bogen und Pfeilen, die keinen Weißen und keinen, der aus dem Gebiet der Weißen kommt, weiter nach Oſten laſſen. Wie konnten wir hoffen, über einen Punkt hinauszukommen, wo der Befehls— haber am Rio Negro, Don Francisco Bovadilla, hatte Halt machen laſſen, als er mit bewaffneter Macht jenſeits des Gehete vordringen wollte? Durch das Blutbad, das man unter ihnen angerichtet, ſind die Eingeborenen gegen die Be— wohner der Miſſionen noch grimmiger und mißtrauiſcher ge— worden. Man erinnere ſich, daß beim Orinoko bis jetzt den Geographen zwei beſondere, aber gleich wichtige Probleme vorlagen: die Lage ſeiner Quellen und die Art feiner Ver— bindung mit dem Amazonenſtrom. Der letztere war der Zweck der Reiſe, die ich im bisherigen beſchrieben; was die endliche Auffindung der Quellen betrifft, ſo iſt dies Sache — 0 — der ſpaniſchen und der portugieſiſchen Regierung. Eine kleine Abteilung Soldaten, die von Angoſtura oder vom Rio Negro aufbräche, könnte den Guaharibos, Guaica und Kariben, deren Kraft und Anzahl man in gleichem Maße übertreibt, die Spitze bieten. Dieſe Expedition könnte entweder von Esmeralda oſtwärts oder auf dem Rio Carony und dem Pa— ragua ſüdweſtwärts, oder endlich auf dem Rio Padaviri oder dem Rio Branco und dem Urariquera nach Nordweſt gehen. Da der Orinoko in der Nähe ſeines Urſprungs wahrſchein— lich weder unter dieſem Namen noch unter dem Namen Pa⸗ ragua! bekannt iſt, jo wäre es ſicherer auf ihm über den Gehete hinaufzugehen, nachdem man das Land zwiſchen Esmeralda und dem Raudal der Guaharibos, das ich oben genau beſchrieben, hinter ſich gelaſſen. Auf dieſe Weiſe ver⸗ wechſelte man nicht den Hauptſtamm des Fluſſes mit einem oberen Nebenfluß, und wo das Bett mit Felſen verſtopft wäre, ginge man bald am einen, bald am anderen Ufer am Drinoko hinauf. Wollte man aber, ſtatt ſich nach Oſt zu wenden, die Quellen weſtwärts auf dem Rio Carony, dem Eſſequibo oder dem Rio Branco ſuchen, ſo müßte man den Zweck der Expedition erſt dann als erreicht anſehen, wenn man auf dem Fluß, den man für den Orinoko angeſehen, bis zum Einfluß des Gehete und zur Miſſion Esmeralda herabgekommen wäre. Das portugieſiſche Fort San Joaquim, am linken Ufer des Rio Branco beim Einfluß des Tacutu, wäre ein weiterer günſtig gelegener Ausgangspunkt; ich em⸗ pfehle ihn, weil ich nicht weiß, ob die Miſſion Santa Roſa, die vom Statthalter Don Manuel Centurion, als die Ciudad Guirior angelegt wurde, weiter nach Weſt am Ufer des Urariapara gegründet worden, nicht bereits wieder einge— gangen iſt. Verfolgte man den Lauf des Paragua weſtwärts vom Deſtacamento oder Militärpoſten Guirior, der in den Miſſionen der kataloniſchen Kapuziner liegt, oder ginge man vom portugieſiſchen Fort San Joaquim im Thale des Rio Uruariquera gegen Weſt, jo käme man am ſicherſten zu den Quellen des Orinoko. Die Längenbeobachtungen, die ich in Esmeralda angeſtellt, können das Suchen erleichtern, wie ich in einer an das ſpaniſche Miniſterium unter König Karl IV. gerichteten Denkſchrift auseinandergeſetzt habe. Dies iſt der indiſche Name des oberen Orinoko. — Wenn das große, nützliche Werk der amerikaniſchen Miſ— ſionen allmählich die Verbeſſerungen erhielte, auf die mehrere Biſchöfe angetragen haben, wenn man, ſtatt die M iſſionäre faſt aufs Geratewohl aus den ſpaniſchen Klöſtern zu ergänzen, junge Geiſtliche in Amerika ſelbſt in Seminarien oder Miſ— ſionskollegien erzöge, ſo würden militäriſche Expeditionen, wie ich ſie eben vorgeſchlagen, überflüſſig. Das Ordenskleid des heiligen Franziskus, ob es nun braun iſt wie bei den Kapu⸗ zinern am Carony, oder blau wie bei den Obſervanten am Orinoko, übt immer noch einen gewiſſen Zauber über die Indianer dieſer Länder. Sie knüpfen daran gewiſſe Vor— ſtellungen von Wohlſtand und Behagen, die Ausſicht, in den Beſitz von Aexten, Meſſern und Fiſchereigeräten zu gelangen. Selbſt ſolche, die an Unabhängigkeit und Vereinzelung zähe feſthalten und es verſchmähen, ſich „vom Glockenklang regieren zu laſſen“, ſind erfreut, wenn ein benachbarter Miſſionär ſie beſucht. Ohne die Bedrückungen der Soldaten und die feind— lichen Einfälle der Mönche, ohne die Entradas und Conquistas apostolicas, hätten ſich die Eingeborenen nicht von den Ufern des Stromes weggezogen. Gäbe man das unvernünftige Syſtem auf, die Kloſterzucht in den Wäldern und Savannen Amerikas einführen zu wollen, ließe man die Indianer der Früchte ihrer Arbeit froh werden, regierte man wi nicht jo viel, das heißt, legte man nicht ihrer natürlichen Freiheit bei jedem Schritte Feſſeln an, ſo würden die Miſſionäre raſch den Kreis ihrer Thätigkeit ſich erweitern ſehen, deren Ziel ja kein anderes iſt, als menſchliche Geſittung. Die Niederlaſſungen der Mönche haben in den Aequinok— tialländern der Neuen Welt wie im nördlichen Europa die erſten Keime des geſellſchaftlichen Lebens ausgeſtreut. Noch jetzt bilden ſie einen weiten Gürtel um die europäiſchen Be— ſitzungen, und wie viele und große Mißbräuche ſich auch in ein Regiment eingeſchlichen haben mögen, wobei alle Gewalten in einer einzigen verſchmolzen ſind, ſo würde es doch ſchwer halten, dasſelbe durch ein un zu erſetzen, das nicht noch weit größere Uebelſtände mit ſich führte, und dabei ebenſo wohl— feil und dem ſchweigſamen Phlegma der Eingeborenen ebenſo angemeſſen wäre. Ich komme ſpäter auf dieſe chriſtlichen An⸗ ſtalten zurück, deren politiſche Wichtigkeit in Europa nicht genug gewürdigt wird. Hier ſei nur bemerkt, daß die von der Küſte entlegenſten gegenwärtig am meiſten verwahrloſt ſind. Die Ordensleute leben dort im tiefſten Elende. Allein 92 von der Sorge für den täglichen Unterhalt befangen, beſtändig darauf bedacht, auf eine Miſſion verſetzt zu werden, die näher bei der civiliſierten Welt liegt, das heißt bei weißen und ver- nünftigen Leuten, kommen ſie nicht leicht in Verſuchung, weiter ins Land zu dringen. Es wird raſch vorwärts gehen, ſobald man (nach dem Vorgange der Jeſuiten) den entlegen— ſten Miſſionen außerordentliche Unterſtützungen zu teil werden läßt, und auf die äußerſten Poſten, Guirior, San Luis del Erevato und Esmeralda, die mutigſten, verſtändigſten und in den Indianerſprachen bewandertſten Miſſionäre ſtellt. Das kleine Stück, das vom Orinoko noch zu berichtigen iſt (wahr— ſcheinlich eine Strecke von 112 bis 136 km), wird bald ent: deckt ſein; in Süd- wie in Nordamerika ſind die Miſſionäre überall zuerſt auf dem Platze, weil ihnen Vorteile zu ſtatten kommen, die anderen Reiſenden abgehen. „Ihr thut groß damit, wie weit ihr über den Oberſee hinaufgekommen,“ ſagte ein Indianer aus Kanada zu Pelzhändlern aus den Vereinig— ten Staaten; „ihr denkt alſo nicht daran, daß die ‚Schwarz: röcke' vorher dageweſen, und daß dieſe euch den Weg nach Weſten gewieſen haben!“ Unſere Piroge war erſt gegen drei Uhr abends bereit uns aufzunehmen. Während der Fahrt auf dem Caſſiquiare hatten ſich unzählige Ameiſen darin eingeniſtet und nur mit Mühe ſäuberte man davon den Toldo, das Dach aus Palm— blättern, unter dem wir nun wieder zweiundzwanzig Tage lang ausgeſtreckt liegen ſollten. Einen Teil des Vormittags verwendeten wir dazu, um die Bewohner von Esmeralda noch— mals über einen See auszufragen, der gegen Oſt liegen ſollte. Wir zeigten den alten Soldaten, die in der Miſſion ſeit ihrer Gründung lagen, die Karten von Surville und La Cruz. Sie lachten über die angebliche Verbindung zwiſchen dem Orinoko und dem Rio Idapa und über das Weiße Meer, durch das erſterer Fluß laufen ſoll. Was wir höflich Fiktionen der Geographen nennen, hießen ſie „Lügen von dort drüben“ (mentiras de por allä). Die guten Leute konnten nicht be— greifen, wie man von Ländern, in denen man nie geweſen, Karten machen kann und aufs genaueſte Dinge wiſſen will, wovon man an Ort und Stelle gar nichts weiß. Der See I Dieſe drei Punkte liegen auf den Grenzen der Miſſionen am Rio Carony, am Rio Caura und am oberen Orinoko. 3 der Parime, die Sierra Mey, die Quellen, die vom Punkte an, wo ſie aus dem Boden kommen, auseinanderlaufen — von all dem weiß man in Esmeralda nichts. Immer hieß es, kein Menſch ſei je oſtwärts über den Raudal der Gua— haribos hinaufgekommen; oberhalb dieſes Punktes komme, wie manche Indianer glauben, der Orinoko als ein kleiner Berg— ſtrom von einem Gebirgsſtocke herab, an dem die Corotos— indianer wohnen. Dieſe Umſtände verdienen wohl Beachtung; denn wäre bei der königlichen Grenzexpedition oder nach dieſer denkwürdigen Zeit ein weißer Menſch wirklich zu den Quellen des Orinoko und zu dem angeblichen See der Parime ge— kommen, ſo müßte ſich die Erinnerung daran in der nächſt— gelegenen Miſſion, über die man kommen mußte, um eine ſo wichtige Entdeckung zu machen, erhalten haben. Nun machen aber die drei Perſonen, die mit den Ergebniſſen der Grenz— expedition bekannt wurden, Pater Caulin, La Cruz und Sur— ville, Angaben, die ſich geradezu widerſprechen. Wären ſolche Widerſprüche denkbar, wenn dieſe Gelehrten, ſtatt ihre Karten nach Annahmen und Hypotheſen zu entwerfen, die in Madrid ausgeheckt worden, einen wirklichen Reiſebericht vor Augen gehabt hätten? Pater Gili, der achtzehn Jahre (von 1749 bis 1767) am Orinoko gelebt hat, ſagt ausdrücklich, „Don Apolinario Diez ſei abgeſandt worden, um die Quellen des Orinoko zu ſuchen; er habe oſtwärts von Esmeralda den Strom voll Klippen gefunden; er habe aus Mangel an Lebensmitteln umgekehrt und von der Exiſtenz eines Sees nichts, gar nichts vernommen“. Dieſe Angabe ſtimmt voll— kommen mit dem, was ich fünfunddreißig Jahre ſpäter in Esmeralda gehört, wo Don Apolinarios Name noch im Munde aller Einwohner iſt und von wo man fortwährend über den Einfluß des Gehete hinauffährt. Die Wahrſcheinlichkeit einer Thatſache vermindert ſich bedeutend, wenn ſich nachweiſen läßt, daß man an dem Orte, wo man am beſten damit bekannt ſein müßte, nichts davon weiß, und wenn diejenigen, die ſie mitteilen, ſich widerſprechen, nicht etwa in minder weſentlichen Umſtänden, ſondern gerade in allen wichtigen. Ich verfolge dieſe rein geographiſche Er— örterung hier nicht weiter; ich werde in der Folge zeigen, wie die Verſtöße auf den neuen Karten von der Sitte her— rühren, ſie den alten nachzuzeichnen, wie Trageplätze für Fluß— verzweigungen gehalten wurden, wie man Flüſſe, die bei den Indianern große Waſſer heißen, in Seen verwandelte, — 91 — wie man zwei dieſer Seen (den Caſſipa und den Parime) ſeit dem 16. Jahrhundert verwechſelte und hin und her ſchob, wie man endlich in den Namen der Nebenflüſſe des Rio 2 den Schlüſſel zu den meiſten dieſer uralten Fiktionen ndet. Als wir im Begriffe waren, uns einzuſchiffen, drängten ſich die Einwohner um uns, die weiß und von ſpaniſcher Ab— kunft ſein wollen. Die armen Leute beſchworen uns, beim Statthalter von Angoſtura ein gutes Wort für ſie einzulegen, daß ſie in die Steppen (Llanos) zurückkehren dürften, oder, wenn man ihnen dieſe Gnade verſage, daß man ſie in die Miſſionen am Rio Negro verſetze, wo es doch kühler ſei und nicht ſo viele Inſekten gebe. „Wie ſehr wir uns auch ver— fehlt haben mögen,“ ſagten ſie, „wir haben es abgebüßt durch zwanzig Jahre der Qual in dieſem Moskitoſchwarm.“ Ich nahm mich in einem Berichte an die Regierung über die in— duſtriellen und kommerziellen Verhältniſſe dieſer Länder der Verwieſenen an, aber die Schritte, die ich that, blieben er— folglos. Die Regierung war zur Zeit meiner Reiſe mild und zu gelinden Maßregeln geneigt; wer aber das verwickelte Räderwerk der alten ſpaniſchen Monarchie kennt, weiß auch, daß der Geiſt eines Miniſteriums auf das Wohl der Bevölfe- rung am Orinoko, in Neukalifornien und auf den Philippinen von ſehr geringem Einfluſſe war. Halten ſich die Reiſenden nur an ihr eigenes Gefühl, ſo ſtreiten ſie ſich über die Menge der Moskiten, wie über die allmähliche Zunahme und Abnahme der Temperatur. Die Stimmung unſerer Organe, die Bewegung der Luft, das Maß der Feuchtigkeit oder Trockenheit, die elektriſche Spannung tauſenderlei Umſtände wirken zuſammen, daß wir von der Hitze und den Inſekten bald mehr, bald weniger leiden. Meine Reiſegefährten waren einſtimmig der Meinung, in Esmeralda peinigen die Moskiten ärger als am Caſſiquiare und ſelbſt in den beiden Miſſionen an den großen Katarakten; mir meiner— ſeits, der ich für die hohe Lufttemperatur weniger empfindlich war als ſie, ſchien der Hautreiz, den die Inſekten verurſachen, in Esmeralda nicht ſo ſtark als an der Grenze des oberen Orinoko. Wir brauchten kühlende Waſchwaſſer; Zitronenſaft und noch mehr der Saft der Ananas lindern das Jucken der. alten Stiche bedeutend; die Geſchwulſt vergeht nicht davon, wird aber weniger ſchmerzhaft. Hört man von dieſen leidigen Inſekten der heißen Länder ſprechen, ſo findet man es kaum em, —— glaublich, daß man unruhig werden kann, wenn fie nicht da ſind, oder vielmehr wenn ſie unerwartet verſchwinden. In Esmeralda erzählte man uns, im Jahre 1795 ſei eine Stunde vor Sonnenuntergang, wo ſonſt die Moskiten eine ſehr dichte Wolke bilden, die Luft auf einmal 20 Minuten lang ganz frei geweſen. Kein einziges Inſekt ließ ſich blicken, und doch war der Himmel wolkenlos und kein Wind deutete auf Regen. Man muß in dieſen Ländern ſelbſt gelebt haben, um zu be— greifen, in welchem Maße dieſes plötzliche Verſchwinden der Inſekten überraſchen mußte. Man wünſchte einander Glück, man fragte ſich, ob dieſe Felicidad, dieſes Alivio (Erleichte— rung) wohl von Dauer ſein könne. Nicht lange aber, und ſtatt des Augenblickes zu genießen, fürchtete man ſich vor ſelbſtgemachten Schreckbildern; man bildete ſich ein, die Ord— nung der Natur habe ſich verkehrt. Alte Indianer, die Lokal— gelehrten, behaupteten, das Verſchwinden der Moskiten könne nichts anderes bedeuten als ein großes Erdbeben. Man ſtritt hitzig hin und her, man lauſchte auf das leiſeſte Geräuſch im Baumlaub, und als ſich die Luft wieder mit Moskiten füllte, freute man ſich ordentlich, daß ſie wieder da waren. Welcher Vorgang in der Atmoſphäre mag nun dieſe Erſcheinung ver— urſacht haben, die man nicht damit verwechſeln darf, daß zu beſtimmten Tageszeiten die eine Inſektenart die andere ablöſt? Wir konnten dieſe Frage nicht beantworten, aber die lebendige Schilderung der Einwohner war uns intereſſant. Mißtrauiſch, ängſtlich, was ihm bevorſtehen möge, ſeine alten Schmerzen zurückwünſchen, das iſt ſo echt menſchlich. Bei unſerem Abgange von Esmeralda war das Wetter ſehr ſtürmiſch. Der Gipfel des Duida war in Wolken ge— hüllt, aber dieſe ſchwarzen, ſtark verdichteten Dunſtmaſſen ſtanden noch 1750 m über der Niederung. Schätzt man die mittlere Höhe der Wolken, d. h. ihre untere Schicht, in ver— ſchiedenen Zonen, ſo darf man nicht die zerſtreuten einzelnen Gruppen mit den Wolkendecken verwechſeln, die gleichförmig über den Niederungen gelagert ſind und an eine Bergkette ſtoßen. Nur die letzteren können ſichere Reſultate geben; einzelne Wolkengruppen verfangen ſich in Thälern, oft nur durch die niedergehenden Luftſtröme. Wir ſahen welche bei der Stadt Caracas in 975 m Meereshöhe; es iſt aber ſchwer zu glauben, daß die Wolken, die man über den Küſten von Cumana und der Inſel Margarita ſieht, nicht höher ſtehen ſollten. Das Gewitter, das ſich am Gipfel des Duida entlud, — 96 zog nicht in das Thal des Orinoko herunter; überhaupt haben wir in dieſem Thale nicht die ſtarken elektriſchen Entladungen beobachtet, wie ſie in der Regenzeit den Reiſenden, wenn er von Cartagena nach Honda den Magdalenenſtrom hinauf— fährt, faſt jede Nacht ängſtigen. Es ſcheint, daß in einem flachen Lande die Gewitter regelmäßiger dem Bette eines großen Fluſſes nachziehen als in einem ungleichförmig mit Bergen beſetzten Lande, wo viele Seitenthäler durcheinander— laufen. Wir beobachteten zu wiederholten Malen die Tempe— ratur des Orinoko an der Waſſerfläche bei 30“ Lufttemperatur; wir fanden nur 26°, alſo 3° weniger als in den großen Katarakten und 2° mehr als im Rio Negro. In der ge— mäßigten Zone in Europa ſteigt die Temperatur der Donau und der Elbe mitten im Sommer nicht über 17 bis 19“. Am Orinoko konnte ich niemals einen Unterſchied zwiſchen der Wärme des ss bei Tag und bei Nacht bemerken, wenn ich nicht den Thermometer da in den Fluß brachte, wo das Waſſer wenig Tiefe hat und ſehr langſam über ein breites, ſandiges Geſtade fließt, wie bei Uruana und bei den Mün— dungen des Apure. Obgleich in den Wäldern von Guyana unter einem meiſtens bedeckten Himmel die Strahlung des Bodens bedeutend verlangſamt iſt, ſo ſinkt doch die Lufttem— peratur bei Nacht nicht unbedeutend. Die obere Waſſerſchicht iſt dann wärmer als der umgebende Erdboden, und wenn die Miſchung zweier mit Feuchtigkeit faſt geſättigter Luft— maſſen über dem Wald und über dem Fluſſe keinen ſicht— baren Nebel erzeugt, ſo kann man dies nicht dem Umſtande zuſchreiben, daß die Nacht nicht kühl genug ſei. Während meines Aufenthaltes am Orinoko und Rio Negro war das Flußwaſſer oft um 2 bis 3° bei Nacht wärmer als die wind— ſtille Luft. Nach vierſtündiger Fahrt flußabwärts kamen wir an die Stelle der Gabelteilung. Wir ſchlugen unſer Nachtlager am Ufer des Caſſiquiare am ſelben Flecke auf, wo wenige Tage zuvor die Jaguare höchſt wahrſcheinlich uns unſere große Dogge geraubt hatten. Alles Suchen der Indianer nach einer Spur des Tieres war vergebens. Der Himmel blieb umzogen und ich wartete vergeblich auf die Sterne; ich beobachtete aber hier wieder, wie ſchon in Esmeralda, die Inklination der Magnemadel Am Fuße des Cerro Duida hatte ich 28° 25° gefunden, faſt 3“ mehr als in Mandavaca. An der } ung des Caſſiquiare erhielt ich 28“ 75“; der Duida — 97 — ſchien alſo keinen merklichen Einfluß geäußert zu haben. Die Jaguare ließen ſich die ganze Nacht hören.! Sie ſind in dieſer Gegend zwiſchen dem Cerro Maraguaca, dem Unturan und den Ufern des Pamoni ungemein häufig. Hier kommt auch der ſchwarze Tiger? vor, von dem ich in Esmeralda ſchöne Felle geſehen. Dieſes Tier iſt wegen ſeiner Stärke und Wildheit vielberufen und es ſcheint noch größer zu ſein als der gemeine Jaguar. Die ſchwarzen Flecken ſind auf dem ſchwarzbraunen Grunde ſeines Felles kaum ſichtbar. Nach der Angabe der Indianer ſind die ſchwarzen Tiger ſehr ſelten, vermiſchen ſich nie mit den gemeinen Jaguaren und „ſind eine andere Raſſe“. Ich glaube, Prinz Maximilian von Neuwied, der die Zoologie von Amerika mit ſo vielen wichtigen Beob— achtungen bereichert hat, iſt weiter nach Süd, im heißen Landſtriche von Braſilien ebenſo berichtet worden. In Para— guay ſind Albinos von Jaguaren vorgekommen; denn dieſe Tiere, die man den ſchönen amerikaniſchen Panther nennen könnte, haben zuweilen ſo blaſſe Flecken, daß man ſie auf dem ganz weißen Grunde kaum bemerkt. Beim ſchwarzen Jaguar werden im Gegenteile die Flecken unſichtbar, weil der Grund dunkel iſt. Man müßte lange in dieſer Gegend leben und die Indianer in Esmeralda auf der gefährlichen Tigerjagd begleiten, um ſich beſtimmt darüber ausſprechen zu können, was bei ihnen Art und was nur Spielart iſt. Bei allen Säugetieren, beſonders aber bei der großen Familie der Affen, hat man, glaube ich, weniger auf die Farbenüber— gänge bei einzelnen Exemplaren ſein Augenmerk zu richten, als auf den Trieb der Tiere, ſich abzuſondern und Rudel für ſich zu bilden. 1 Daß die großen Jaguare in einem Lande, wo es kein Vieh gibt, ſo häufig ſind, iſt ziemlich auffallend. Die Tiger am oberen Orinoko führen ein elendes Leben gegenüber denen in den Pampas von Buenos Ayres, in den Llanos von Caracas und auf anderen mit Herden von Hornvieh bedeckten Ebenen. In den ſpaniſchen Kolonieen werden jährlich über 4000 Jaguare erlegt, von denen manche die mittlere Größe des aſiatiſchen Königstigers erreichen. Buenos Ayres führte früher 2000 Jaguarhäute jährlich aus, die bei den Pelzhändlern in Europa „große Pantherfelle“ heißen. 2 Gmelin zählt dieſes Tier unter dem Namen Felis discolor auf. Es iſt nicht zu verwechſeln mit dem großen amerikaniſchen Löwen, Felis concolor, der vom kleinen Löwen (Puma) der Anden von Quito ſehr verſchieden iſt. A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 7 98 Am 24. Mai. Wir brachen von unſerem Nachtlager vor Sonnenaufgang auf. In einer Felsbucht, wo die Duri⸗ mundi⸗Indianer gehauſt hatten, war der aromatiſche Duft der Gewächſe ſo ſtark, daß es uns läſtig fiel, obgleich wir unter freiem Himmel lagen und bei unſerer Gewöhnung an ein Leben voll Beſchwerden unſer Nervenſyſten eben nicht ſehr reizbar war. Wir konnten nicht ermitteln, was für Blüten es waren, die dieſen Geruch verbreiteten; der Wald war undurchdringlich. Bonpland glaubte, in den benachbarten Sümpfen werden große Büſche von Pancratium und einigen anderen Liliengewächſen ſtecken. Wir kamen ſofort den Ori— noko abwärts zuerſt am Einfluß des Cunucunumo, dann am Guanami und Puruname vorüber. Beide Ufer des Haupt⸗ ſtroms ſind völlig unbewohnt; gegen Norden erheben ſich hohe Gebirge, gegen Süden dehnt ſich, ſo weit das Auge reicht, eine Ebene bis über die Quellen des Atacavi hinaus, der weiter unten Atabapo heißt. Der Anblick eines Fluſſes, auf dem man nicht einmal einem Fiſcherboot begegnet, hat etwas Trauriges, Niederſchlagendes. Unabhängige Völkerſchaften, die Abirianos und Maquiritares, leben hier im Gebirgsland, aber auf den Grasfluren zwiſchen Caſſiquiare, Atabapo, Ori⸗ noko und Rio Negro findet man gegenwärtig faſt keine Spur einer menſchlichen Wohnung. Ich ſage gegenwärtig; denn hier, wie anderswo in Guyana, findet man auf den härteſten Granitfelſen rohe Bilder eingegraben, welche Sonne, Mond und verſchiedene Tiere vorſtellen und darauf hinweiſen, daß hier früher ein ganz anderes Volk lebte, als das wir an den Ufern des Orinoko kennen gelernt. Nach den Ausſagen der Indianer und der verſtändigſten Miſſionare kommen dieſe ſymboliſchen Bilder ganz mit denen überein, die wir 450 km weiter nördlich von Caycara, der Einmündung des Apure gegenüber, geſehen haben. Die Ueberreſte einer alten Kultur fallen um ſo mehr auf, je größer der Flächenraum iſt, auf dem ſie vorkommen, und je ſchärfer ſie von der Verwilderung abſtechen, in die wir ſeit der Eroberung alle Horden in den heißen öſtlichen Landſtrichen Amerikas verſunken ſehen. 630 km oſtwärts von den Ebenen am Caſſiquiare und Conorichite, zwiſchen den Quellen des Rio Branco und des Rio Eſſequibo, findet man gleichfalls Felſen mit ſymboliſchen Bildern. Ich ent: nehme dieſen Umſtand, der mir ſehr merkwürdig, ſcheint, dem Tagebuch des Reiſenden Hortsmann, das mir in einer Ab— ſchrift von der Hand des berühmten d' Anville vorliegt. Dieſer Reiſende, deſſen ich in dieſem Buche ſchon mehreremal ge— dacht, fuhr den Rupunuvini, einen Nebenfluß des Eſſequibo, herauf. Da wo der Fluß eine Menge kleiner Fälle bildet und ſich zwiſchen den Bergen von Maracana durchſchlängelt, fand er, bevor er an den See Amucu kam, „Felſen, bedeckt mit Figuren oder (wie er ſich portugieſiſch ausdrückt) varias letras“. Dieſes Wort Buchſtaben haben wir nicht in ſeinem eigentlichen Sinn zu nehmen. Man hat auch uns am Felſen Culimacari am Ufer des Caſſiquiare und im Hafen von Caycara am unteren Orinoko Striche gezeigt, die man für aneinander gereihte Buchſtaben hält. Es waren aber nur unförmliche Figuren, welche die Himmelskörper, Tiger, Kroko— dile, Boa und Werkzeuge zur Bereitung des Maniokmehls vorſtellen ſollen. An den gemalten Felſen (ſo nennen die Indianer dieſe mit Figuren bedeckten Steine) iſt durchaus keine ſymmetriſche Anordnung, keine regelmäßige Abteilung in Schriftzeichen zu bemerken. Die Striche, die der Miſſionär Fray Ramon Bueno in den Bergen von Uruana entdeckt hat, nähern ſich allerdings einer Buchſtabenſchrift mehr, indeſſen iſt man über dieſe Züge, von denen ich anderswo gehandelt, noch ſehr im unklaren. Was auch dieſe Figuren bedeuten ſollen und zu welchem Zweck ſie in den Granit gegraben werden, immer verdienen ſie von ſeiten des Geſchichtsphiloſophen die größte Beachtung. Reiſt man von der Küſte von Caracas dem Aequator zu, ſo kommt man zuerſt zur Anſicht, dieſe Denkmale ſeien der Bergkette der Encamarada eigentümlich; man findet ſie beim Hafen von Sedeno bei Caycara, bei San Rafael del Capu— chino, Cabruta gegenüber, faſt überall, wo in der Savanne zwiſchen dem Cerro Curiquima und dem Ufer des Caura das Granitgeſtein zu Tage kommt. Die Völker von tamanaki— ſchem Stamme, die alten Bewohner dieſes Landes, haben eine lokale Mythologie, Sagen, die ſich auf dieſe Felſen mit Bildern beziehen. Amalivaca, der Vater der Tamanaken, das u Am 18. April 1749. Nikolaus Hortsmann ſchrieb Tag für Tag an Ort und Stelle auf, was ihm Bemerkenswertes vorgekommen. Er verdient um ſo mehr Zutrauen, da er, höchſt mißvergnügt, daß er nicht gefunden, was er geſucht (den See Dorado und Gold- und Diamantengruben), auf alles, was ihm unterwegs vorkommt, mit Geringſchätzung zu blicken ſcheint. — 100 — heißt der Schöpfer des Menſchengeſchlechtes (jedes Volk hält ſich für den Urſtamm der anderen Völker), kam in einer Barke an, als ſich bei der großen Ueberſchwemmung, welche die „Waſſerzeit“ heißt, die Wellen des Ozeans mitten im Lande an den Bergen der Encaramada brachen. Alle Menſchen, oder vielmehr alle Tamanaken, ertranken, mit Ausnahme eines Mannes und einer Frau, die ſich auf einen Berg am Ufer des Aſiveru, von den Spaniern Cuchivero genannt, flüchteten. Dieſer Berg iſt der Ararat der aramäiſchen oder ſemitiſchen Völker, der Tlaloc oder Colhuacan der Mexikaner. Amali— vaca fuhr in ſeiner Barke herum und grub die Bilder von Sonne und Mond auf den gemalten Fels (Tepumereme) an der Encamarada. Granitblöcke, die ſich gegeneinander lehnen und eine Art Höhle bilden, heißen noch heute das Haus des großen Stammvaters der Tamanaken. Bei dieſer Höhle auf den Ebenen von Maita zeigt man auch einen großen Stein, der, wie die Indianer ſagen, ein muſikaliſches Inſtrument Amalivacas, ſeine Trommel war. Wir erwähnen bei dieſer Gelegenheit, das dieſer Heros einen Bruder, Vochi, hatte, der ihm zur Hand ging, als er der Erdoberfläche ihre jetzige Geſtalt gab. Die beiden Brüder, ſo erzählen die Ta— manaken, wollten bei ihren eigenen Vorſtellungen von Ber: fektibilität den Orinoko zuerſt ſo legen, daß man hinab und hinauf immer mit der Strömung fahren konnte. Sie ge— dachten damit den Menſchen die Mühe des Ruderns zu er— ſparen, wenn ſie den Quellen der Flüſſe zuführen; aber ſo mächtig dieſe Erneuerer der Welt waren, es wollte ihnen nie gelingen, dem Orinoko einen doppelten Fall zu geben, und ſie mußten es aufgeben, eines ſo wunderlichen hydrauliſchen Problemes Meiſter zu werden. Amalivaca beſaß Töchter, die große Neigung zum Umherziehen hatten; die Sage erzählt, ohne Zweifel im bildlichen Sinne, er habe ihnen die Beine zerſchlagen, damit ſie an Ort und Stelle bleiben und die Erde mit Tamanaken bevölkern müßten. Nachdem er in Ame— rika, diesſeits des großen Waſſers, alles in Ordnung ge— bracht, ſchiffte ſich Amalivaca wieder ein und fuhr ans an— dere Ufer zurück an den Ort, von dem er gekommen. Seit die Eingeborenen Miſſionäre zu ſich kommen ſehen, denken Es iſt dies das Atonatiuh der Mexikaner, das vierte Zeitalter, die vierte Erneuerung der Welt. — 101 — ſie, dieſes „andere Ufer“ ſei Europa, und einer fragte Pater Gili naiv, ob er dort drüben den großen Amalivaca ge— ſehen habe, den Vater der Tamanaken, der auf die Felſen ſymboliſche Figuren gezeichnet. Dieſe Vorſtellungen von einer großen Flut; das Paar, das ſich auf einen Berggipfel flüchtet und Früchte der Mauritiapalme hinter ſich wirft, um die Welt wieder zu bevölkern; dieſer Nationalgott Amalivaca, der zu Waſſer aus fernem Lande kommt, der Natur Geſetze vorſchreibt und die Völker zwingt, ihr Wanderleben aufzugeben — alle dieſe Züge eines uralten Glaubens verdienen alle Beachtung. Was die Tamanaken und die Stämme, die mit dem Tamanakiſchen verwandte Spra— chen haben, uns jetzt erzählen, iſt ihnen ohne Zweifel von anderen Völkern überliefert, die vor ihnen dasſelbe Land be— wohnt haben. Der Name Amalivaca iſt über einen Land— ſtrich von mehr als 100 000 qkm verbreitet; er kommt mit der Bedeutung Vater der Menſchen (unſer Urvater) ſelbſt bei den karibiſchen Völkern vor, deren Sprache mit dem Tamanakiſchen nur verwandt iſt wie das Deutſche mit dem Griechiſchen, dem Perſiſchen und dem Sanskrit. Amalivaca iſt urſprünglich nicht der große Geiſt, der Alte im Himmel, das unſichtbare Weſen, deſſen Verehrung aus der Verehrung der Naturkräfte entſpringt, wenn in den Völkern allmählich das Bewußtſein der Einheit dieſer Kräfte erwacht; er iſt vielmehr eine Perſon aus dem heroiſchen Zeitalter, ein Mann, der aus weiter Ferne gekommen, im Lande der Tamanaken und Kariben gelebt, ſymboliſche Zeichen in die Felſen gegraben hat und wieder verſchwunden iſt, weil er ſich zum Lande über dem Weltmeere, wo er früher gewohnt, wieder zurückwendet. Der Anthropomorphismus bei der Geſtaltung der Gottheit hat zwei gerade entgegengeſetzte Quellen, und dieſer Gegenſatz ſcheint nicht ſowohl auf dem verſchiedenen Grade der Geiſtesbildung zu beruhen, als darauf, daß manche Völker von Natur mehr zur Myſtik neigen, wäh— rend andere unter der Herrſchaft der Sinne, der äußeren Eindrücke ſtehen. Bald läßt der Menſch die Gottheiten zur Erde niederſteigen und es über ſich nehmen, die Völker zu regieren und ihnen Geſetze zu geben, wie in den Mythen des Orients; bald, wie bei den Griechen und anderen Völkern Creuzer, Symbolik III, 89. — 102 — des Occidents, werden die erſten Herrſcher, die Prieſterkönige, deſſen, was menſchlich an ihnen iſt, entkleidet und zu National: gottheiten erhoben. Amalivaca war ein Fremdling, wie Manco— Capac, Bochica und Quetzalcohuatl, dieſe außerordentlichen Menſchen, die im alpiniſchen oder civiliſierten Striche Ame— rikas, auf den Hochebenen von Peru, Neugranada und Ana: huac, die bürgerliche Geſellſchaft geordnet, den Opferdienſt eingerichtet und religiöſe Brüderſchaften geſtiftet haben. Der mexikaniſche Quetzalcohuatl, deſſen Nachkommen Montezuma in den Begleitern des Cortez zu erkennen glaubte, hat noch einen weiteren Zug mit Amalivaca, der mythiſchen Perſon des barbariſchen Amerikas, der Ebenen der heißen Zone, ge— mein. In hohem Alter verließ der Hoheprieſter von Tula das Land Anahuac, das er mit ſeinen Wundern erfüllt, und ging zurück in ein unbekanntes Land, genannt Tlalpallan. Als der Mönch Bernhard von Sahagun nach Mexiko kam, richtete man genau dieſelben Fragen an ihn, wie zweihundert Jahre ſpäter in den Wäldern am Orinoko an den Miſſionär Gili: man wollte wiſſen, ob er vom anderen Ufer komme, aus dem Lande, wohin Quetzalcohuatl gegangen. Wir haben oben geſehen, daß die Region der Felſen mit Bildwerk oder der gemalten Steine weit über den unteren Orinoko, über den Landſtrich (7° 5° bis 7“ 40“ der Breite, 68° 50° bis 69° 45° der Länge) hinausreicht, dem die Sage angehört, die man als den Lokalmythus der Tamanaken bezeichnen kann. Man findet dergleichen Felſen mit Bildern zwiſchen dem Caſſiquiare und Atabapo (2° 5“ bis 3° 20“ der Breite, 69“ O bis 70“ der Länge), zwiſchen den Quellen des Eſſequibo und des Rio Branco (3° 50° der Breite, 62° 32“ der Länge). Ich behaupte nicht, daß dieſe Bilder beweiſen, daß ihre Verfertiger den Gebrauch des Eiſens gekannt, auch nicht, daß ſie auf eine bedeutende Kulturſtufe hinweiſen; ſetzte man aber auch voraus, ſie haben keine ſymboliſche Be— deutung, ſondern ſeien rein Erzeugniſſe müßiger Jägervölker, ſo müßte man doch immer annehmen, daß vor den Völkern, die jetzt am Orinoko und Rupunuri leben, eine ganz andere Menſchenart hier gelebt. Je weniger in einem Lande Er— innerungen an vergangene Geſchlechter leben, deſto wichtiger iſt es, wo man ein Denkmal vor ſich zu haben glaubt, auch die unbedeutendſten Spuren zu verfolgen. Auf den Ebenen im Oſten Nordamerikas findet man nur jene merkwürdigen Ringwälle, die an die feſten Lager (die angeblichen Städte ld von ungeheurem Umfang) der alten und der heutigen noma— diſchen Völker in Aſien erinnern. Auf den öſtlichen Ebenen Südamerikas iſt durch die Uebermacht des Pflanzenwuchſes, des heißen Klimas und die allzu große Freigebigkeit der Natur der Fortſchritt der menſchlichen Kultur in noch engeren Schran— ken gehalten worden. Zwiſchen Orinoko und Amazonenſtrom habe ich von keinem Erdwall, von keinem Ueberbleibſel eines Dammes, von keinem Grabhügel ſprechen hören; nur auf den Felſen, und zwar auf einer weiten Landſtrecke, ſieht man, in unbekannter Zeit von Menſchenhand eingegraben, rohe Um— riſſe, die ſich an religiöſe Ueberlieferungen knüpfen. Wenn einmal die Bewohner des doppelten Amerikas mit weniger Geringſchätzung auf den Boden ſehen, der ſie ernährt, ſo wer— den ſich die Spuren früherer Jahrhunderte unter unſeren Augen von Tag zu Tag mehren. Ein ſchwacher Schimmer wird ſich dann über die Geſchichte dieſer barbariſchen Völker ver— breiten, über die Felswände, die uns verkünden, daß dieſe jetzt ſo öden Länder einſt von thätigeren, geiſteskräftigeren Geſchlechtern bewohnt waren. Ich glaubte, bevor ich vom wildeſten Striche des oberen Orinoko ſcheide, Erſcheinungen beſprechen zu müſſen, die nur dann von Bedeutung werden, wenn man ſie aus einem Ge— ſichtspunkte betrachtet. Was ich von unſerer Fahrt von Es— meralda bis zum Einfluſſe des Atabapo berichten könnte, wäre nur trockene Aufzählung von Flüſſen und unbewohnten Orten. Vom 24. bis 27. Mai ſchliefen wir nur zweimal am Lande, und zwar das erſtemal am Einfluß des Rio Jao und dann oberhalb der Miſſion Santa Barbara auf der Inſel Minift. Da der Orinoko hier frei von Klippen iſt, führte uns der indianiſche Steuermann die Nacht durch fort, indem er die Piroge der Strömung überließ. Dieſes Stück meiner Karte zwiſchen dem Jao und dem Ventuari iſt daher auch hinſicht— lich der Krümmungen des Fluſſes nicht ſehr genau. Rechnet man den Aufenthalt am Ufer, um den Reis und die Ba— nanen zuzubereiten, ab, ſo brauchten wir von Esmeralda nach Santa Barbara nur 35 Stunden. Dieſe Miſſion liegt nach dem Chronometer unter 70° 3° der Länge; wir hatten alſo gegen 7,5 km in der Stunde zurückgelegt, eine Geſchwindig— keit (2,05 m in der Sekunde), die zugleich auf Rechnung der Strömung und der Bewegung der Ruder kommt. Die Indianer behaupten, die Krokodile gehen im Orinoko nicht über den Einfluß des Rio Jao hinauf, und die Seekühe — 104 — kommen ſogar oberhalb des Kataraktes von Maypures nicht mehr vor. Hinſichtlich der erſteren kann man ſich leicht täuſchen. Wenn der Reiſende an ihren Anblick noch ſo ſehr gewöhnt iſt, kann er einen 4 bis 5 m langen Baumſtamm für ein ſchwimmendes Krokodil halten, von dem man nur Kopf und Schwanz zum Teil über dem Waſſer ſieht. Die Miſſion Santa Barbara liegt etwas weſtlich vom Ein⸗ fluſſe des Rio Ventuari oder Venituari, den Pater Francisco Valor im Jahre 1800 unterſucht hat. Wir fanden im kleinen Dorfe von 120 Einwohnern einige Spuren von Induſtrie. Der Ertrag derſelben kommt aber ſehr wenig den Indianern zu gute, ſondern nur den Mönchen, oder, wie man hierzulande ſagt, der Kirche und dem Kloſter. Man verſicherte uns, eine große Lampe, maſſiv von Silber, die auf Koſten der Bekehrten an⸗ geſchafft worden, werde aus Madrid erwartet. Wenn ſie da iſt, wird man hoffentlich auch daran denken, die Indianer zu kleiden, ihnen einiges Ackergeräte anzuſchaffen und für ihre Kinder eine Schule einzurichten. In den Savannen bei der Miſſion läuft wohl einiges Vieh, man braucht es aber ſelten, um die Mühle zum Auspreſſen des Zuckerrohres (trapiche) zu treiben; das iſt ein Geſchäft der Indianer, die dabei ohne Lohn arbeiten, wie überall, wo die Arbeit auf Rechnung der Kirche geht. Am Fuße der Berge um Santa Barbara herum ſind die Weiden nicht ſo fett wie bei Esmeralda, aber doch beſſer als bei San Fernando de Atabapo. Der Raſen iſt kurz und dicht, und doch iſt die oberſte Bodenſchicht nur trockener, dürrer Granitſand. Dieſe nicht ſehr üppigen Gras— fluren am Guaviare, Meta und oberen Orinoko find ſowohl ohne Dammerde, die in den benachbarten Wäldern jo majjen: haft daliegt, als ohne die dicke Thonſchicht, die in den Llanos von Venezuela den Sandſtein bedeckt. Kleine krautartige Mimoſen helfen in dieſer Zone das Vieh fett machen, ſie werden aber zwiſchen dem Rio Jao und der Mündung des Guaviare ſehr ſelten. In den wenigen Stunden, die wir uns in der Miſſion Santa Barbara aufhielten, erhielten wir ziemlich genaue An— gaben über den Rio Ventuari, der mir nach dem Guaviare der bedeutendſte unter allen Nebenflüſſen des oberen Orinoko ſchien. Seine Ufer, an denen früher die Maypures geſeſſen, ſind noch jetzt von einer Menge unabhängiger Völkerſchaften bewohnt. Fährt man durch die Mündung des Ventuari, die ein mit Palmen bewachſenes Delta bildet, hinauf, ſo kommen — 105 — nach drei Tagereiſen von Oſt der Cumaruita und der Paru herein, welche zwei Nebenflüſſe am Fuße der hohen Berge von Cuneva entſpringen. Weiter oben, von Weſt her, kommen der Mariata und der Manipiare, an denen die Macos- und Curacicana-Indianer wohnen. Letztere Nation zeichnet ſich durch ihren Eifer für den Baumwollenbau aus. Bei einem Streifzuge (entrada) fand man ein großes Haus, in dem 30 bis 40 ſehr fein gewobene Hängematten, geſponnene Baum— wolle, Seilwerk und Fiſchereigeräte waren. Die Eingeborenen waren davongelaufen und Pater Valor erzählte uns, „die Indianer aus ſeiner Miſſion, die er bei ſich hatte, haben das Haus in Brand geſteckt, ehe er dieſe Produkte des Gewerb— fleißes der Curacicana retten konnte.“ Die neuen Chriſten in Santa Barbara, die ſich über dieſen ſogenannten Wilden weit erhaben dünken, ſchienen mir lange nicht ſo gewerbthätig. Der Rio Manipiare, einer der Hauptäſte des Ventuari, liegt, ſeiner Quelle zu, in der Nähe der hohen Berge, an deren Nordabhang der Cuchivero entſpringt. Sie ſind ein Aus— läufer der Kette des Baraguan, und hierher ſetzt Pater Gili die „Hochebene des Siamacu“, deren gemäßigtes Klima er preiſt. Der obere Lauf des Ventuari, oberhalb des Einfluſſes des Aſiſi und der „großen Raudales“ iſt ſo gut wie unbe— kannt. Ich hörte nur, der obere Ventuari ziehe ſich ſo ſtark gegen Oſt, daß die alte Straße von Esmeralda an den Rio Caura über das Flußbett laufe. Dadurch, daß die Neben— flüſſe des Carony, des Caura und des Ventuari einander fo nahe liegen, kamen die Kariben ſeit Jahrhunderten an den oberen Orinoko. Banden dieſes kriegeriſchen Handelsvolkes zogen vom Rio Carony über den Paragua an die Quellen des Paruspa. Ueber einen Trageplatz gelangten ſie an den Chavarro, einen öſtlichen Nebenfluß des Caura: ſie fuhren auf ihren Pirogen zuerſt dieſen Nebenfluß und dann den Caura ſelbſt hinunter bis zur Mündung des Erevato. Nach— dem ſie dieſen gegen Südweſt hinaufgefahren, kamen ſie drei Tagereiſen weit über große Grasfluren und endlich über den Manipiare in den großen Rio Ventuari. Ich beſchreibe dieſen Weg ſo genau, nicht nur weil auf dieſer Straße der Handel mit eingeborenen Sklaven betrieben wurde, ſondern auch um die Männer, welche einſt nach wiederhergeſtellter Ruhe Guyana regieren werden, auf die Wichtigkeit dieſes Flußlabyrinthes aufmerkſam zu machen. Auf vier Nebenflüſſen des Orinoko, den größten unter — 106 — denen, die von rechts her in dieſen majeſtätiſchen Strom ſich ergießen, auf dem Carony und dem Caura, dem Padamo und dem Ventuari, wird die europäiſche Kultur in das 215000 qkm große Wald- und Gebirgsland dringen, das der Orinoko gegen Nord, Weſt und Süd umſchlingt. Bereits haben Kapuziner aus Katalonien und Obſervanten aus Andaluſien und Va— lencia Niederlaſſungen in den Thälern des Carony und des Caura gegründet; es war natürlich, daß an die Nebenflüſſe des unteren Orinoko, als die der Küſte und dem angebauten Striche von Venezuela zunächſt liegenden, Miſſionare und mit ihnen einige Keime des geſellſchaftlichen Lebens zuerſt kamen. Bereits im Jahre 1797 zählten die Niederlaſſungen der Ka: puziner am Carony 16 600 Indianer, die friedlich in Dörfern lebten. Am Rio Caura waren es zu jener Zeit unter der Obhut der Obſervanten, nach gleichfalls offiziellen Zählungen, nur 640. Dieſer Unterſchied rührt daher, daß die ſehr aus— gedehnten Weiden am Carony, Upatu und Cuyuni von vor— züglicher Güte ſind, und daß die Miſſionen der Kapuziner näher bei der Mündung des Orinoko und der Hauptſtadt von Guyana liegen, aber auch vom inneren Getriebe der Ver— waltung, von der induſtriellen Rührigkeit und dem Handels— geiſte der kataloniſchen Mönche. Dem Carony und Caura, die gegen Nord fließen, entſprechen zwei große Nebenflüſſe des oberen Orinoko, die gegen Süd herunterkommen, der Padamo und der Ventuari. Bis jetzt ſteht an ihren Ufern kein Dorf, und doch bieten ſie für Ackerbau und Viehzucht günſtige Verhältniſſe, wie man ſie im Thale des großen Stromes, in den ſie ſich ergießen, vergeblich ſuchen würde. Wir brachen am 26. Mai morgens vom kleinen Dorfe Santa Barbara auf, wo wir mehrere Indianer aus Esmeralda getroffen hatten, die der Miſſionär zu ihrem großen Verdruß hatte kommen laſſen, weil er ſich ein zweiſtockiges Haus bauen wollte. Den ganzen Tag genoſſen wir der Ausſicht auf die ſchönen Gebirge von Sipapo, die in 81 km Ent— fernung gegen Nord-Nord-Weſt ſich hinbreiten. Die Vege— tation an den Ufern des Orinoko iſt hier ausnehmend mannig— faltig; Baumfarne kommen von den Bergen herunter und miſchen ſich unter die Palmen in der Niederung. Wir über— nachteten auf der Inſel Miniſi und langten, nachdem wir an den Mündungen der kleinen Flüſſe Quejanuma, Ubua und Maſao vorübergekommen, am 27. Mai in San Fernando de Atabapo an. Vor einem Monat, auf dem Wege zum Rio — 107 — Negro, hatten wir im ſelben Hauſe des Präſidenten der Miſſionen gewohnt. Wir waren damals gegen Süd, den Atabapo und Temi hinaufgefahren; jetzt kamen wir von Weſt her nach einem weiten Umwege über den Caſſiquiare und den oberen Orinoko zurück. Während unſerer langen Abweſenheit waren dem Präſidenten der Miſſionen über den eigentlichen Zweck unſerer Reiſe, über mein Verhältnis zu den Mitgliedern des hohen Klerus in Spanien, über die Kenntnis des Zuſtandes der Miſſionen, die ich mir verſchafft, bedeu— tende Bedenken aufgeſtiegen. Bei unſerem Aufbruche nach Angoſtura, der Hauptſtadt von Guyana, drang er in mich, ihm ein Schreiben zu hinterlaſſeu, in dem ich bezeugte, daß ich die chriſtlichen Niederlaſſungen am Orinoko in guter Ord— nung angetroffen, und daß die Eingeborenen im allgemeinen milde behandelt würden. Dieſem Anſinnen des Superiors lag gewiß ein ſehr löblicher Eifer für das Beſte ſeines Or— dens zu Grunde, nichtsdeſtoweniger ſetzte es mich in Ver— legenheit. Ich erwiderte, das Zeugnis eines im Schoße der reformierten Kirche geborenen Reiſenden könne in dem end— loſen Streite, in dem faſt überall in der Neuen Welt welt— liche und geiſtliche Macht miteinander liegen, doch wohl von keinem großen Gewichte ſein. Ich gab ihm zu verſtehen, da ich 900 km von der Küſte, mitten in den Miſſionen und, wie die Cumaner boshaft ſagen, en el poder de los frayles (in der Gewalt der Mönche) ſei, möchte das Schreiben, das wir am Ufer des Atabapo miteinander abfaßten, wohl ſchwerlich als ein ganz freier Willensakt von meiner Seite angeſehen werden. Der Gedanke, daß er einen Calviniſten gaſtfreundlich aufgenommen, erſchreckte den Präſidenten nicht. Ich glaube allerdings, daß man vor meiner Ankunft ſchwer— lich je einen in den Miſſionen des heiligen Franziskus ge— ſehen hat; aber Unduldſamkeit kann man den Miſſionären in Amerika nicht zur Laſt legen. Die Ketzereien des alten Eu— ropa machen ihnen nicht zu ſchaffen, es müßte denn an den Grenzen von Holländiſch-Guyana ſein, wo ſich die Prädikanten auch mit dem Miſſionsweſen abgeben. Der Präſident beſtand nicht weiter auf der Schrift, die ich hätte unterzeichnen ſollen, und wir benutzten die wenigen Augenblicke, die wir noch bei— ſammen waren, um den Zuſtand des Landes, und ob Aus— ſicht ſei, die Indianer an den Segnungen der Kultur teil— nehmen zu laſſen, freimütig zu beſprechen. Ich ſprach mich ſtark darüber aus, wie viel Schaden die Entradas, die feind— — 108 — lichen Einfälle angerichtet, wie unbillig es ſei, daß man die Eingeborenen der Früchte ihrer Arbeit ſo wenig genießen laſſe, wie ungerechtfertigt, daß man ſie zwinge, in Angelegen⸗ heiten, die ſie nichts angehen, weite Reiſen zu machen, endlich wie notwendig es erſcheine, den jungen Geiſtlichen, die be⸗ rufen ſeien, großen Gemeinden vorzuſtehen, in einem beſon⸗ deren Kollegium einige Bildung zu geben. Der Präſident ſchien mich freundlich anzuhören; indeſſen glaube ich doch, er wünſchte im Herzen (ohne Zweifel im Intereſſe der Natur- wiſſenſchaft), Leute, welche Pflanzen aufleſen und das Geſtein unterſuchen, möchten ſich nicht ſo vorlaut mit dem Wohle der kupferfarbigen Raſſe und mit den Angelegenheiten der menſch⸗ lichen Geſellſchaft befaſſen. Dieſer Wunſch iſt in beiden Welten gar weit verbreitet; man begegnet ihm überall, wo der Gewalt bange iſt, weil ſie meint, ſie ſtehe nicht auf feſten Füßen. Wir blieben nur einen Tag in San Fernando de Ata: bapo, obgleich dieſes Dorf mit feinen ſchönen Pihiguao— palmen mit Pfirſichfrüchten uns ein köſtlicher Aufenthalt ſchien. Zahme Pauxis! liefen um die Hütten der Indianer her. In einer derſelben ſahen wir einen ſehr ſeltenen Affen, der am Guaviare lebt. Es iſt dies der Caparro, den ich in meinen Observations de zoologie et d' anatomie comparée bekannt gemacht, und der nach Geoffroy eine neue Gattung Lagothrix) bildet, die zwiſchen den Atelen und den Aluaten in der Mitte ſteht. Der Pelz dieſes Affen iſt marder— grau und fühlt ſich ungemein zart an. Der Caparro zeich— net ſich ferner durch einen runden Kopf und einen ſanften, angenehmen Geſichtsausdruck aus. Der Miſſionär Gili iſt, glaube ich, der einzige Schrifſteller, der vor mir von dieſem intereſſanten Tiere geſprochen hat, um das die Zoologen andere, und zwar braſilianiſche Affen zu gruppieren an— fangen. Am 27. Mai kamen wir von San Fernando mit der raſchen Strömung des Orinoko in nicht ganz ſieben Stunden zum Einfluſſe des Rio Mataveni. Wir brachten die Nacht unter freiem Himmel unterhalb des Granitfelſens El Caſtillito zu, der mitten aus dem Fluſſe aufſteigt und deſſen Geſtalt 1 Es iſt dies nicht Cuviers Ourax (Crax Pauxi, Lin.), ſon⸗ dern der Crax alector. — 109 — an den Mäuſeturm im Rhein, Bingen gegenüber, erinnert. Hier wie an den Ufern des Atabapo fiel uns eine kleine Art Droſera auf, die ganz den Habitus der europäiſchen Droſera hat. Der Orinoko war in der Nacht beträchtlich geſtiegen, und die bedeutend beſchleunigte Strömung trug uns in zehn Stunden von der Mündung des Mataveni zum oberen großen Katarakt, dem von Maypures oder Quituna; der zurückge— legte Weg betrug 58,5 km. Mit Intereſſe erinnerten wir uns der Orte, wo wir ſtromaufwärts übernachtet; wir trafen Indianer wieder, die uns beim Botaniſieren begleitet, und wir beſuchten nochmals die ſchöne Quelle, die hinter dem Hauſe des Miſſionärs aus einem geſchichteten Granitfelſen kommt; ihre Temperatur hatte ſich nicht um 0,3“ verändert. Von der Mündung des Atabapo bis zu der des Apure war uns, als reiſten wir in einem Lande, in dem wir lange ge— wohnt. Wir lebten ebenſo ſchmal, wir wurden von denſelben Mücken geſtochen, aber die gewiſſe Ausſicht, daß in wenigen Wochen unſere phyſiſchen Leiden ein Ende hätten, hielt uns aufrecht. Der Transport der Piroge über den großen Katarakt hielt uns in Maypures zwei Tage auf. Pater Bernardo Zea, der Miſſionär bei den Raudales, der uns an den Rio Negro begleitet hatte, wollte, obgleich leidend, uns mit ſeinen Indianern vollends nach Atures führen. Einer derſelben, Zerepe, der Dolmetſcher, den man auf dem Strande von Pararuma ſo unbarmherzig geprügelt, fiel uns durch ſeine tiefe Niedergeſchlagenheit auf. Wir hörten, er habe die In— dianerin verloren, mit der er verlobt geweſen, und zwar infolge einer falſchen Nachricht, die über die Richtung unſerer Reiſe in Umlauf gekommen. Zerepe war in Maypures geboren, aber bei ſeinen Eltern vom Stamme der Macos im Walde erzogen. Er hatte in die Miſſion ein zwölfjähriges Mädchen mitgebracht, das er nach unſerer Rückkehr zu den Katarakten zum Weibe nehmen wollte. Das Leben in den Miſſionen behagte der jungen Indianerin ſchlecht, denn man hatte ihr geſagt, die Weißen gehen ins Land der Portugieſen (nach Braſilien) und nehmen Zerepe mit. Da es ihr nicht ging, wie fie gehofft, bemächtigte ſie ſich eines Kanoe, fuhr mit einem anderen Mädchen vom ſelben Alter durch den Raudal und lief al monte zu den Ihrigen. Dieſer kecke Streich war die Tagesneuigkeit; Zerepes Niedergeſchlagenheit hielt übrigens nicht lange an. Er war unter Chriſten geboren, — 10 — er war bis zur Schanze am Rio Negro gekommen, er ver: ſtand Spaniſch und die Sprache der Macos, und dünkte ſich weit erhaben über die Leute ſeines Stammes; wie hätte er da nicht ein Mädchen vergeſſen ſollen, das im Walde auf— gewachſen? Am 31. Mai fuhren wir über die Stromſchnellen der Guahibos und bei Garcita. Die Inſeln mitten im Strome glänzten im herrlichſten Grün. Der winterliche Regen hatte die Blumenſcheiden der Vadgiaipalmen entwickelt, deren Blätter gerade himmelan ſtehen. Man wird nicht müde, Punkte zu betrachten, wo Baum und Fels der Landſchaft den großartigen, ernſten Charakter geben, den man auf dem Hintergrunde von Tizians und Pouſſins Bildern bewundert. Kurz vor Sonnenuntergang ſtiegen wir am öſtlichen Ufer des Orinoko, beim Puerto de la Expedicion, ans Land, und zwar um die Höhle von Ataruipe zu beſuchen, von der oben die Rede war, und wo ein ganzer ausgeſtorbener Volksſtamm ſeine Grabſtätte zu haben ſcheint. Ich verſuche dieſe bei den Eingeborenen vielberufene Höhle zu beſchreiben. Man erſteigt mühſam und nicht ganz gefahrlos einen ſteilen, völlig kahlen Granitfelsberg. Man könnte auf der glatten, ſtark geneigten Fläche faſt unmöglich Fuß faſſen, wenn nicht große Feldſpatkriſtalle, welche nicht ſo leicht verwittern, hervorſtünden und Anhaltspunkte böten. Auf dem Gipfel des Berges angelangt, erſtaunten wir über den außer— ordentlichen Anblick des Landes in der Runde. Ein Archipel mit Palmen bewachſener Inſeln füllt das ſchäumende Strom— bett. Weſtwärts, am linken Ufer des Orinoko, breiten ſich die Savannen am Meta und Caſanare hin, wie eine grüne See, deren dunſtiger Horizont von der untergehenden Sonne beleuchtet war. Das Geſtirn, das wie ein Feuerball über der Ebene hing, der einzeln ſtehende Spitzberg Uniana, der um ſo höher erſchien, da ſeine Umriſſe im Dunſt verſchwam— men; alles wirkte zuſammen, die großartige Szenerie noch erhabener zu machen. Wir ſahen zunächſt in ein tiefes, ringsum geſchloſſenes Thal hinunter. Raubvögel und Ziegenmelker ſchwirrten einzeln durch den unzugänglichen Zirkus. Mit Vergnügen verfolgten wir ihre flüchtigen Schatten, wie ſie langſam an den Felswänden hinglitten. Ueber einen ſchmalen Grat gelangten wir auf einen be— nachbarten Berg, auf deſſen abgerundetem Gipfel ungeheure Granitblöcke lagen. Dieſe Maſſen haben 13 bis 16 m Durch— ä — 11 — meſſer und find fo vollkommen kugelförmig, daß man, da ſie nur mit wenigen Punkten den Boden zu berühren ſchienen, meint, beim geringſten Stoße eines Erdbebens müßten ſie in die Tiefe rollen. Ich erinnere mich nicht, unter den Verwitte— rungserſcheinungen des Granites irgendwo etwas Aehnliches geſehen zu haben. Lägen die Kugeln auf einer anderen Ge— birgsart, wie die Blöcke im Jura, ſo könnte man meinen, ſie ſeien im Waſſer gerollt oder durch den Stoß eines elaſtiſchen Fluidums hergeſchleudert; da ſie aber auf einem Gipfel liegen, der gleichfalls aus Granit beſteht, ſo iſt wahrſchein— licher, daß ſie von allmählicher Verwitterung des Geſteines herrühren. Zu hinterſt iſt das Thal mit dichtem Wald bedeckt. An dieſem ſchattigen, einſamen Orte, am ſteilen Abhange eines Berges, iſt der Eingang der Höhle vom Ataruipe. Es iſt übrigens nicht ſowohl eine Höhle, als ein vorſpringender Fels, in dem die Gewäſſer, als fie bei den alten Ummäl: zungen unſeres Planeten ſo weit heraufreichten, ein weites Loch ausgewaſchen haben. In dieſer Grabſtätte einer ganzen ausgeſtorbenen Völkerſchaft zählten wir in kurzer Zeit gegen 600 wohlerhaltene und ſo regelmäßig verteilte Skelette, daß man ſich hinſichtlich ihrer Zahl nicht leicht hätte irren können. Jedes Skelett liegt in einer Art Korb aus Palmblattſtielen. Dieſe Körbe, von den Eingeborenen Mapires genannt, bilden eine Art viereckiger Säcke. Ihre Größe entſpricht dem Alter der Leichen; es gibt ſogar welche für Kinder, die während der Geburt geſtorben; Sie wechſeln in der Länge von 26 em bis 1,07 m. Die Skelette ſind alle zuſammen— gebogen und ſo vollſtändig, daß keine Rippe, kein Fingerglied fehlt. Die Knochen ſind auf dreierlei Weiſen zubereitet, ent— weder an Luft und Sonne gebleicht, oder mit Onoto, dem Farbſtoff der Bixa Orellana, rot gefärbt, oder mumienartig zwiſchen wohlriechenden Harzen in Helikonia- und Bananen— blätter eingeknetet. Die Indianer erzählten uns, man lege die friſche Leiche in die feuchte Erde, damit ſich das Fleiſch allmählich verzehre. Nach einigen Monaten nehme man ſie wieder heraus und ſchabe mit ſcharfen Steinen den Reſt des Fleiſches von den Knochen. Mehrere Horden in Guyana haben noch jetzt dieſen Brauch. Neben den „Mapires“ oder Körben ſieht man Gefäße von halbgebranntem Thon, welche die Gebeine einer ganzen Familie zu enthalten ſchienen. Die größten dieſer Graburnen ſind 1 m hoch und 1,38 cm lang. — 112 — Sie find graugrün, oval, von ganz gefälligem Anſehen, mit Henkeln in Geſtalt von Krokodilen und Schlangen, am Rande mit Mäandern, Labyrinthen und mannigfach kombinierten ge— raden Linien geſchmückt. Dergleichen Malereien kommen unter allen Himmelsſtrichen vor, bei allen Völkern, mögen fie geo⸗ graphiſch und dem Grade der Kultur nach noch ſo weit aus⸗ einander liegen. Die Bewohner der kleinen Miſſion May⸗ pures bringen ſie noch jetzt auf ihrem gemeinſten Geſchirr an; ſie zieren die Schilder der Tahitier, das Fiſchergeräte des Eskimos, die Wände des mexikaniſchen Palaſtes in Mitla und die Gefäße Großgriechenlands. Ueberall ſchmeichelt eine rhyth— miſche Wiederholung derſelben Formen dem Auge, wie eine taktmäßige Wiederkehr von Tönen dem Ohre. Aehnlichkeiten, welche im innerſten Weſen unſerer Empfindungen, in unſerer natürlichen Geiſtesanlage ihren Grund haben, ſind wenig geeignet, über die Verwandtſchaft und die alten Verbindungen der Völker Licht zu verbreiten. Hinſichtlich der Zeit, aus der ſich die Mapires und die bemalten Gefäße in der Knochenhöhle von Ataruipe her— ſchreiben, konnten wir uns keine beſtimmte Vorſtellung bilden. Die meiſten ſchienen nicht über hundert Jahre alt, da ſie aber vor jeder Feuchtigkeit geſchützt und in ſehr gleichförmiger Temperatur ſind, ſo wären ſie wohl gleich gut erhalten, wenn ſie auch aus weit früherer Zeit herrührten. Nach einer Sage der Guahibosindianer flüchteten ſich die kriegeriſchen Atures, von den Kariben verfolgt, auf die Felſen mitten in den großen Katarakten, und hier erloſch nach und nach dieſe einſt ſo zahlreiche Nation und mit ihr ihre Sprache. Noch im Jahre 1767, zur Zeit des Miſſionärs Gili, lebten die letzten derſelben; auf unſerer Reiſe zeigte man in Maypures (ein ſonderbares Faktum) einen alten Papagei, von dem die Ein— wohner, behaupten, „man verſtehe ihn nicht, weil er aturiſch ſpreche“. Wir öffneten, zum großen Aergernis unſerer Führer, mehrere Mapires, um die Schädelbildung genau zu unter— ſuchen. Alle zeigten den Typus der amerikaniſchen Raſſe; nur zwei oder drei näherten ſich dem kaukaſiſchen. Wir haben oben erwähnt, daß man mitten in den Katarakten, an den unzugänglichſten Orten, eiſenbeſchlagene Kiſten mit europäiſchen Werkzeugen, mit Reſten von Kleidungsſtücken und Glaswaren findet. Dieſe Sachen, die zu den abge— ſchmackteſten Gerüchten, als hätten die Jeſuiten dort ihre 5 — 113 — Schätze verſteckt, Anlaß gegeben, gehörten wahrſcheinlich por— tugieſiſchen Handelsleuten, die ſich in dieſe wilden Länder herausgewagt. Läßt ſich nun wohl auch annehmen, daß die Schädel von europäiſcher Bildung, die wir unter den Skeletten der Eingeborenen und ebenſo ſorgfältig aufbewahrt gefunden, portugieſiſchen Reiſenden angehörten, die hier einer Krankheit unterlagen oder im Kampfe erſchlagen worden? Der Wider— willen der Eingeborenen gegen alles, was nicht ihres Stammes iſt, macht dies nicht wahrſcheinlich; vielleicht hatten ſich Me— ſtizen, die aus den Miſſionen am Meta und Apure entlaufen, an den Katarakten niedergelaſſen und Weiber aus dem Stamme der Atures genommen. Dergleichen Verbindungen kommen in dieſer Zone zuweilen vor, freilich nicht ſo häufig wie in Kanada und in Nordamerika überhaupt, wo Jäger euro— päiſcher Abkunft unter die Wilden gehen, ihre Sitten an— nehmen und es oft zu großen Ehren unter ihnen bringen. Wir nahmen aus der Höhle von Ataruipe mehrere Schädel, das Skelett eines Kindes von ſechs bis ſieben Jahren und die Skelette zweier Erwachſenen von der Nation der Atures mit. Alle dieſe zum Teil rot bemalten, zum Teil mit Harz überzogenen Gebeine lagen in den oben beſchriebenen Körben (Mapires oder Canastos). Sie machten faſt eine ganze Maultierladung aus, und da uns der abergläubiſche Widerwillen der Indianer gegen einmal beigeſetzte Leichen wohl— bekannt war, hatten wir die „Canaſtos“ in friſch geflochtene Matten einwickeln laſſen. Bei dem Spürſinn der Indianer und ihrem feinen Geruch half aber dieſe Vorſicht leider zu nichts. Ueberall, wo wir in den Miſſionen der Kariben, auf den Llanos zwiſchen Angoſtura und Nueva Barcelona Halt machten, liefen die Eingeborenen um unſere Maultiere zu— ſammen, um die Affen zu bewundern, die wir am Orinoko gekauft. Kaum aber hatten die guten Leute unſer Gepäck angerührt, ſo prophezeiten ſie, daß das Laſttier, „das den Toten trage“, zu Grunde gehen werde. Umſonſt verſicherten wir, ſie irren ſich, in den Körben ſeien Krokodil- und See— kuhknochen; ſie blieben dabei, ſie riechen das Harz, womit die Skelette überzogen ſeien, und „das ſeien ihre alten Ver— wandten“. Wir mußten die Autorität der Mönche in An— ſpruch nehmen, um des Widerwillens der Eingeborenen Herr zu werden und friſche Maultiere zu bekommen. Einer der Schädel, den wir aus der Höhle von Ataruipe mitgenommen, iſt in meines alten Lehrers Blumenbach ſchönem Werke über A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 8 — 114 — die Varietäten des Menſchengeſchlechts gezeichnet; aber die Skelette der Indianer gingen mit einem bedeutenden Teil unſerer Sammlungen an der Küſte von Afrika bei einem Schiffbruch verloren, der unſerem Freunde und Reiſegefährten, Fray Juan Gonzales, einem jungen Franziskaner, das Leben koſtete. Schweigend gingen wir von der Höhle von Ataruipe nach Hauſe. Es war eine der ſtillen, heiteren Nächte, welche im heißen Erdſtrich ſo gewöhnlich ſind. Die Sterne glänzten in mildem, planetariſchem Licht. Ein Funkeln war kaum am Horizont bemerkbar, den die großen Nebelflecken der ſüdlichen Halbkugel zu beleuchten ſchienen. Ungeheure Inſektenſchwärme verbreiteten ein rötliches Licht in der Luft. Der dichtbewach— ſene Boden glühte von lebendigem Feuer, als hätte ſich die geſtirnte Himmelsdecke auf die Grasflur niedergeſenkt. Vor der Höhle blieben wir noch öfters ſtehen und bewunderten den Reiz des merkwürdigen Ortes. Duftende Vanille und Bignonien ſchmückten den Eingang, und darüber, auf der Spitze des Hügels, wiegten ſich ſäuſelnd die Schafte der Palmen. Wir gingen an den Fluß hinab und ſchlugen den Weg zur Miſſion ein, wo wir ziemlich ſpät in der Nacht eintrafen. Was wir geſehen, hatte ſtarken Eindruck auf unſere Einbil— dungskraft gemacht. In einem Lande, wo einem die menſch— liche Geſellſchaft als eine Schöpfung der 1 Zeit er⸗ ſcheint, hat alles, was an eine Vergangenheit erinnert, doppelten Reiz. Sehr alt waren nun hier die Erinnerungen nicht; aber in allem, was Denkmal heißt, iſt das Alter nur ein relativer Begriff, und leicht verwechſeln wir alt und rätſelhaft. Den Aegyptern erſchienen die geſchichtlichen Er— innerungen der Griechen gar jung; hätten die Chineſen, oder wie ſie ſich ſelbſt lieber nennen, die Bewohner des „himm— liſchen Reiches“, mit den Prieſtern von Heliopolis verkehren können, ſo hätten ſie wohl zu den Anſprüchen der alten Aegypter gelacht. Ebenſo auffallende Gegenſätze finden ſich im nördlichen Europa und Aſien, in der Neuen Welt, überall, wo die Menſchheit ſich auf ihr eigenes Leben nicht weit zu— rückbeſinnt. Auf der Hochebene von Anahuac reicht die älteſte geſchichtliche Begebenheit, die Wanderung der Tolteken, nicht über das 6. Jahrhundert unſerer Zeitrechnung hinauf. Die unentbehrlichen Grundlagen einer genauen Zeitrechnung, ein gutes eee überhaupt die Kalenderreform ſtammen aus dem Jahr 1091. Dieſe Zeitpunkte, die uns ſo nahe — 115 — ſcheinen, fallen in fabelhafte Zeiten, wenn wir auf die Ge⸗ ſchichte unſeres Geſchlechtes zwiſchen Orinoko und Amazonen⸗ fluß blicken. Wir finden dort auf Felſen ſymboliſche Bilder, aber keine Sage gibt über ihren Urſprung Aufſchluß. Im heißen Striche von Guyana kommen wir nicht weiter zurück als zu der Zeit, wo kaſtilianiſche und portugieſiſche Eroberer, und ſpäter friedliche Mönche unter den barbariſchen Völker— ſchaften auftraten. Nordwärts von den Katarakten, am Engpaß beim Ba— raguan, ſcheint es ähnliche mit Knochen gefüllte Höhlen zu geben wie die oben beſchriebenen. Ich hörte dies erſt nach meiner Rückkehr, und die indianiſchen Sieuerlente ſagten uns nichts davon, als wir im Engpaß anlegten. Dieſe Gräber haben ohne Zweifel Anlaß zu einer Sage der Otomaken ge— geben, nach der die einzeln ſtehenden Granitfelſen am Ba⸗ raguan, die ſehr ſeltſame Geſtalten zeigen, die Großväter, die alten Häuptlinge des Stammes ſind. Der Brauch, das Fleiſch ſorgfältig von den Knochen zu trennen, der im Altertum bei den Maſſageten herrſchte, hat ſich bei mehreren Horden am Orinoko erhalten. Man behauptet ſogar, und es iſt ganz wahrſcheinlich, die Guaranos legen die Leichen in Netzen ins Waſſer, wo dann die kleinen Karibenfiſche, die „Serra⸗Solmes“, die wir überall in ungeheurer Menge an⸗ trafen, in wenigen Tagen das Muskelfleiſch verzehren und das Skelett „präparieren“. Begreiflich iſt ſolches nur an Orten thunlich, wo es nicht viele Krokodile gibt. Manche Stämme, z. B. die Tamanaken, haben den Brauch, die Felder des Verſtorbenen zu verwüſten und die Bäume, die er ge— pflanzt, umzuhauen. Sie ſagen, „Dinge ſehen zu müſſen, die Eigentum ihrer Angehörigen geweſen, mache traurig“. Sie vernichten das Andenken lieber, als daß ſie es erhalten. Dieſe indianiſche Empfindſamkeit wirkt ſehr nachteilig auf den Landbau, und die Mönche widerſetzen ſich mit Macht den abergläubiſchen Gebräuchen, welche die zum Chriſtentum be— kehrten Eingeborenen in den Miſſionen beibehalten. Die indianiſchen Gräber am Orinoko ſind bis jetzt nicht gehörig unterſucht worden, weil ſie keine Koſtbarkeiten ent— halten wie die in Peru, und weil man jetzt an Ort und Stelle an die früheren Mären vom Reichtum der alten Ein— wohner des Dorado nicht mehr glaubt. Der Golddurſt geht allerorten dem Trieb zur Belehrung und dem Sinn für Erforſchung des Altertums voraus. Im gebirgigen Teil von — 116 — Südamerika, von Merida und Santa Marta bis zu den Hochebenen von Quito und Oberperu hat man bergmänniſch nach Gräbern, oder wie es die Kreolen mit einem verdor— benen Worte der Inkaſprache nennen, nach Huacas geſucht. Ich war an der Küſte von Peru, in Manciche, in der Huaca von Toledo, aus der man Goldmaſſen erhoben hat, die im 16. Jahrhundert fünf Millionen Livres Turnois wert waren.“ Aber in den Höhlen, die ſeit den älteſten Zeiten den Einge— borenen in Guyana als Grabſtätten dienen, hat man nie eine Spur von koſtbaren Metallen entdeckt. Aus dieſem Um— ſtande geht hervor, daß auch zur Zeit, wo die Kariben und andere Wandervölker gegen Südweſt Streifzüge unternahmen, das Gold nur in ganz unbedeutender Menge von den Ge— birgen von Peru den Niederungen im Oſten zufloß. Ueberall, wo ſich im Granit nicht die großen Höhlungen finden, wie ſie ſich durch die Verwitterung des Geſteins oder durch die Aufeinandertürmung der Blöcke bilden, beſtatten die Indianer den Leichnam in die Erde. Die Hängematte (Chinchorro), eine Art Netz, worin der Verſtorbene im Leben geſchlafen, dient ihm als Sarg. Man ſchnürt dieſes Netz feſt um den Körper zuſammen, gräbt ein Loch in der Hütte ſelbſt und legt den Toten darin nieder. Dies iſt nach dem Bericht des Miſſionärs Gili und nach dem, was ich aus Pater Zeas Munde weiß, das gewöhnliche Verfahren. Ich glaube nicht, daß es in ganz Guyana einen Grabhügel gibt, nicht einmal in den Ebenen des Caſſiquiare und Eſſequibo. In den Savannen von Varinas dagegen, wie in Kanada weſtlich von den Alleghanies,? trifft man welche an. Es er— Dieſe Berechnung gründet ſich auf den Quint, der in den Jahren 1576 und 1592 an das Schatzamt (Caxas reales) von Truxillo bezahlt wurde. Die Regiſter ſind noch vorhanden. In Perſien, in Hochaſien, in Aegypten, wo man auch Gräber aus ſehr verſchiedenen Zeitaltern öffnet, hat man, ſoviel ich weiß, niemals Schätze von Belang entdeckt. e Eine Art Mumien und Skelette in Körben wurden vor kurzem in den Vereinigten Staaten in einer Höhle entdeckt. Sie ſollen einer Menſchenart angehören, die mit der auf den Sandwich— inſeln Aehnlichkeit hat. Die Beſchreibung dieſer Gräber erinnert einigermaßen an das, was ich in den Gräbern von Ataruipe beob— achtet. — Die Miſſionäre in den Vereinigten Staaten beklagen ſich über den Geſtank, den die Nantikokes verbreiten, wenn ſie mit den Gebeinen ihrer Ahnen umherziehen. — 17 — ſcheint übrigens ziemlich auffallend, daß die Eingeborenen am Orinoko, trotz des Ueberfluſſes an Holz im Lande, ſo wenig als die alten Skythen ihre Toten verbrennen. Scheiterhaufen errichten ſie nur nach einem Gefechte, wenn der Gebliebenen ſehr viele ſind. So verbrannten die Parecas im Jahre 1748 nicht allein die Leichen ihrer Feinde, der Tamanaken, ſondern auch die der Ihrigen, die auf dem Schlachtfelde geblieben. Wie alle Völker im Naturzuſtande haben auch die Indianer in Südamerika die größte Anhänglichkeit an die Orte, wo die Gebeine ihrer Väter ruhen. Dieſes Gefühl, das ein großer Schriftſteller in einer Epiſode der Atala ſo rührend ſchildert, hat ſich in ſeiner vollen urſprünglichen Stärke bei den Chineſen erhalten. Dieſe Menſchen, bei denen alles Kunſtprodukt, um nicht zu ſagen Ausfluß einer uralten Kultur iſt, wechſeln nie den Wohnort, ohne die Gebeine ihrer Ahnen mit ſich zu führen. An den Ufern der großen Flüſſe ſieht man Särge ſtehen, die mit dem Hausrat der Familie zu Schiff in eine ferne Provinz wandern ſollen. Dieſes Mit— ſichführen der Gebeine, das früher unter den nordamerikani— ſchen Wilden noch häufiger war, kommt bei den Stämmen in Guyana nicht vor. Dieſe ſind aber auch keine Nomaden, wie Völker, die ausſchließlich von der Jagd leben. In der Miſſion Atures verweilten wir nur, bis unſere Piroge durch den großen Katarakt geſchafft war. Der Boden unſeres kleinen Fahrzeuges war ſo dünn geworden, daß große Vorſicht nötig war, damit er nicht ſprang. Wir nahmen Abſchied vom Miſſionär Bernardo Zea, der in Atures blieb, nachdem er zwei Monate lang unſer Begleiter geweſen und alle unſere Beſchwerden geteilt hatte. Der arme Mann hatte immer noch ſeine alten Anfälle von Tertianfieber, aber ſie waren für ihn ein gewohntes Uebel geworden und er achtete wenig mehr darauf. Bei unſerem zweiten Aufenthalt in Atures herrſchten daſelbſt andere gefährlichere Fieber. Die Mehrzahl der Indianer war an die Hängematte gefeſſelt, und um etwas Kaſſavebrot (das unentbehrliche Nahrungsmittel hierzulande) mußten wir zum unabhängigen, aber nahebei wohnenden Stamme der Piraoa ſchicken. Bis jetzt blieben wir von dieſen bösartigen Fiebern verſchont, die ich nicht immer für anſteckend halte. Wir wagten es, in unſerer Piroge durch die letzte Hälfte des Raudals von Atures zu fahren. Wir ſtiegen mehrere Male aus und kletterten auf die Felſen, die wie ſchmale — 118 — Dämme die Inſeln untereinander verbinden. Bald ſtürzen die Waſſer über die Dämme weg, bald fallen ſie mit dumpfem Getöſe in das Innere derſelben. Wir fanden ein beträcht— liches Stück des Orinoko trocken gelegt, weil ſich der Strom durch unterirdiſche Kanäle einen Weg gebrochen hat. An dieſen einſamen Orten niſtet das Felshuhn mit goldigem Ge— fieder (Pipra rupicola), einer der ſchönſten tropiſchen Vögel. Wir hielten uns im Raudalito von Canucari auf, der durch ungeheure, aufeinander getürmte Granitblöcke gebildet wird. Dieſe Blöcke, worunter Sphäroide von 1,6 bis 2 m Durch- meſſer, ſind ſo übereinander geſchoben, daß ſie geräumige Höhlen bilden. Wir gingen in eine derſelben, um Konferven zu pflücken, womit die Spalten und die naſſen Felswände bekleidet waren. Dieſer Ort bot eines der merkwürdigſten Naturſchauſpiele, die wir am Orinoko geſehen. Ueber unſeren Köpfen rauſchte der Strom weg, und es brauſte, wie wenn das Meer ſich an Klippen bricht; aber am Eingange der Höhle konnte man trocken hinter einer breiten Waſſermaſſe ſtehen, die ſich im Bogen über den Steindamm ſtürzte. In anderen tieferen, aber nicht ſo großen Höhlen war das Ge— ſtein durch langdauernde Einſickerung durchbohrt. Wir ſahen 21 bis 22 cm dicke Waſſerſäulen von der Decke des Gewölbes herabkommen und durch Spalten entweichen, die auf weite Strecken zuſammenzuhängen ſchienen. Die Waſſerfälle in Europa, die aus einem einzigen Sturz oder aus mehreren dicht hintereinander beſtehen, können keine jo mannigfaltigen Landſchaftsbilder erzeugen. Dieſe Mannig— faltigkeit kommt nur „Stromſchnellen“ zu, wo auf mehrere Kilometer weit viel kleine Fälle in einer Reihe hintereinander liegen, Flüſſen, die ſich über Felsdämme und durch aufge— türmte Blöcke Bahn brechen. Wir genoſſen des Anblicks dieſes außerordentlichen Naturbildes länger, als uns lieb war. Unſer Kanoe ſollte am öſtlichen Ufer einer ſchmalen Inſel hinfahren und uns nach einem weiten Umweg wieder auf— nehmen. Wir warteten anderthalb Stunden vergeblich. Die Nacht kam heran und mit ihr ein furchtbares Gewitter; der Regen goß in Strömen herab. Wir fürchteten nachgerade, unſer ſchwaches Fahrzeug möchte an den Felſen zerſchellt ſein, und die Indianer mit ihrer gewöhnlichen Gleichgültigkeit beim Ungemach anderer ſich auf den Weg zur Miſſion gemacht haben. Wir waren nur unſer drei; ſtark durchnäßt und voll Sorge um unſere Piroge bangten wir vor der Ausſicht, eine — 119 — lange Aequinoktialnacht ſchlaflos im Lärm der Raudals zu— zubringen. Bonpland faßte den Entſchluß, mich mit Don Nicolas Soto auf der Inſel zu laſſen und über die Fluß— arme zwiſchen den Granitdämmen zu ſchwimmen. Er hoffte den Wald erreichen und in der Miſſion bei Pater Zea Bei: ſtand holen zu können. Nur mit Mühe hielten wir ihn von dieſem gewagten Beginnen ab. Er war unbekannt mit dem Labyrinth von Waſſerrinnen, in die der Orinoko zerſchlagen iſt und in denen meiſt ſtarke Wirbel ſind. Und was jetzt, da wir eben über unſere Lage beratſchlagten, unter unſeren Augen vorging, bewies hinreichend, daß die Indianer fälſch— lich behauptet hatten, in den Katarakten gäbe es keine Kroko— dile. Die kleinen Affen, die wir ſeit mehreren Monaten mit uns führten, hatten wir auf die Spitze unſerer Inſel geſtellt; vom Gewitterregen durchnäßt und für die geringſte Wärme⸗ abnahme empfindlich, wie ſie ſind, erhoben die zärtlichen Tiere ein klägliches Geſchrei und lockten damit zwei nach ihrer Größe und ihrer bleigrauen Farbe ſehr alte Krokodile herbei. Bei dieſer unerwarteten Erſcheinung war uns der Gedanke, daß wir bei unſerem erſten Aufenthalt in Atures mitten im Rau— dal gebadet, eben nicht behaglich. Nach langem Warten kamen die Indianer endlich, als ſchon der Tag ſich neigte. Die Staffel, über die ſie hatten herab wollen, um die Inſel zu umfahren, war wegen zu ſeichten Waſſers nicht fahrbar, und der Steuermann hatte im Gewirre von Felſen und kleinen Inſeln lange nach einer beſſeren Durchfahrt ſuchen müſſen. Zum Glück war unſere Piroge nicht beſchädigt und in we⸗ niger als einer halben Stunde waren unſere Inſtrumente, unſere Mundvorräte und unſere Tiere eingeſchifft. Wir fuhren einen Teil der Nacht durch, um unſer Nacht— lager wieder auf der Inſel Panumana aufzuſchlagen. Mit Vergnügen erkannten wir die Plätze wieder, wo wir bei der Fahrt den Orinoko hinauf botaniſiert hatten. Wir unter⸗ ſuchten noch einmal am Ufer die kleine Sandſteinformation, die unmittelbar dem Granit aufgelagert tft. Dis Vorkommen iſt dasſelbe wie beim Sandſtein, den mein unglücklicher Lands— mann Burckhardt an der Grenze von Nubien dem Granit von Syene aufgelagert geſehen hat. Wir fuhren, ohne ſie zu betreten, an der neuen Miſſion San Borja vorüber und hörten einige Tage darauf mit Bedauern, die kleine Kolonie von Guahibosindianern ſei al monte gelaufen, da ſie ſich eingebildet, wir wollen ſie fortſchleppen und als Poitos, das — 120 — heißt als Sklaven verkaufen. Nachdem wir durch die Strom: ſchnellen Tabaje und den Raudal Cariven am Einfluß des großen Rio Meta gegangen, langten wir wohlbehalten in Carichana an. Der Miſſionär, Fray Joſe Antonio de Torre, nahm uns mit der herzlichen Gaſtfreundſchaft auf, die er uns ſchon bei unſerem erſten Aufenthalt hatte zu teil werden laſſen. Zu aſtronomiſchen Beobachtungen war der Himmel nicht günſtig; in den großen Katarakten hatten wir wieder welche gemacht, aber von dort bis zum Einfluß des Apure mußte man darauf verzichten. In Carichana konnte Bonpland zu ſeiner Befriedigung eine 3 m lange Seekuh ſezieren. Es war ein Weibchen und ihr Fleiſch glich dem Rindfleiſch. Ich habe oben vom Fang dieſes grasfreſſenden Waſſerſäugetieres geſprochen. Die Piraoa, von denen einige Familien in der Miſſion Carichana leben, verabſcheuen dieſes Tier ſo ſehr, daß ſie ſich verſteckten, um es nicht anrühren zu müſſen, als es in unſere Hütte geſchafft wurde. Sie behaupten, „die Leute ihres Stammes ſterben unfehlbar, wenn ſie davon eſſen“. Dieſes Vorurteil iſt deſto auffallender, da die Nach— barn der Pirava, die Guamos und Otomaken, nach dem Seekuhfleiſch ſehr lüſtern ſind. Wir werden bald ſehen, daß in dieſem Gewirre von Völkerſchaften das Fleiſch des Kroko— dils bald verabſcheut, bald ſtark geſucht iſt. Ich erwähne hier eines wenig bekannten Umſtandes als Beitrag zur Geſchichte der Seekuh. Südlich vom Meerbuſen von Xagua auf Cuba, mehrere Kilometer von der Küſte, find Quellen ſüßen Waſſers mitten im Meer. Man erklärt ſich die— ſelben aus einem hydroſtatiſchen Druck von den hohen Ge— birgen von Trinidad herab durch unterirdiſche Kanäle. Kleine Fahrzeuge nehmen in dieſem Strich zuweilen Waſſer ein, und was ſehr merkwürdig iſt, große Seekühe halten ſich beſtändig dort auf. Ich habe die Forſcher bereits darauf aufmerkſam gemacht, daß die Krokodile aus den Flußmündungen weit in die See hinausgehen. Bei den alten Umwälzungen unſeres Planeten mögen ähnliche Umſtände das ſonderbare Gemenge von Knochen und Verſteinerungen, die der See, und ſolchen, die dem ſüßen Waſſer angehören, wie es in manchen neuen Formationen vorkommt, verurſacht haben. Der Aufenthalt in Carichana kam uns ſehr zu ſtatten, um uns von unſeren Strapazen zu erholen. Bonpland trug den Keim einer ſchweren Krankheit in ſich; er hätte dringend der Ruhe bedurft, da aber das Nebenflußdelta zwiſchen — 121 — dem Horeda und dem Paruaſi mit dem üppigſten Pflan⸗ zenwuchſe bedeckt iſt, konnte er der Luſt nicht widerſtehen, große botaniſche Exkurſionen zu machen, und wurde den Tag über mehrere Male durchnäßt. Im Haufe des Miſſionärs wurde für alle unſere Bedürfniſſe zuvorkommend geſorgt; man verſchaffte uns Maismehl, ſogar Milch. Die Kühe geben in den Niederungen der heißen Zone reichlich Milch, und es fehlt nirgends daran, wo es gute Weiden gibt. Ich erwähne dies ausdrücklich, weil infolge örtlicher Verhältniſſe im Indi— ſchen Archipelagus das Vorurteil verbreitet iſt, als ob ein heißes Klima auf die Milchabſonderung ungünſtig wirkte. Es begreift ſich, daß die Eingeborenen des neuen Kontinents ſich aus der Milch nicht viel machen, da das Land urſprünglich keine Tiere hatte, welche Milch geben; aber billig wundert man ſich, daß die ungeheure chineſiſche Bevölkerung, die doch großen— teils außerhalb der Tropen unter denſelben Breiten wie die nomadiſchen Stämme in Centralaſien lebt, ebenſo gleichgültig iſt. Wenn die Chineſen einmal ein Hirtenvolk waren, wie geht es zu, daß ſie Sitten und einem Geſchmack, die ihrem früheren Zuſtande ſo ganz angemeſſen ſind, ungetreu gewor— den? Dieſe Fragen ſcheinen mir von großer Bedeutung ſo— wohl für die Geſchichte der Völker von Oſtaſien als hinſicht— lich der alten Verbindungen, die, wie man glaubt, zwiſchen dieſem Weltteil und dem nördlichen Mexiko ſtattgefunden haben können. Wir fuhren in zwei Tagen den Orinoko von Carichana zur Miſſion Uruana hinab, nachdem wir wieder durch den vielberufenen Engpaß beim Baraguan gegangen. Wir hielten öfters an, um die Geſchwindigkeit des Stromes und ſeine Temperatur an der Oberfläche zu meſſen. Letztere betrug 27% 4°, die Geſchwindigkeit 65 em in der Sekunde (102,8 m in 3 Minuten 6 Sekunden), an Stellen, wo das Bett des Orinoko über 3900 m. breit und 19,5 bis 23 m tief war. Der Fall des Fluſſes iſt allerdings von den Katarakten bis Angoſtura höchſt unbedeutend, und ohne barometriſche Meſ— ſung ließe ſich der Höhenunterſchied ungefähr ſchätzen, wenn man von Zeit zu Zeit die Geſchwindigkeit und Breite und Tiefe des Stromſtückes mäße. In Uruana konnten wir einige Sternbeobachtungen machen. Ich fand die Breite der Miſſion Der Nil hat von Kairo bis Roſette auf einer Strecke von 265 km nur 2,2 m Fall auf den Kilometer. — 12 — gleich 78“, da aber die verſchiedenen Sterne abweichende Re⸗ ſultate gaben, blieb ſie um mehr als eine Minute unſicher. Die Moskitoſ ſchicht am Boden war ſo dicht, daß ich mit dem Richten des künſtlichen Horizontes nicht fertig werden konnte, und ich bedauerte, nicht mit einem Queckſilberhorizont verſehen zu ſein. Am 7. Juni erhielt ich durch gute abſolute Sonnen— höhen eine Länge von 6940“. Seit Esmeralda waren wir um 1° 17° gegen Weſt vorgerückt, und dieſe chrono— metriſche Beſtimmung verdient volles Zutrauen, weil wir auf dem Hin- und dem Herweg, in den großen Kata⸗ rakten und an den Mündungen des Atabapo und des Apure beobachtet hatten. Die Miſſion Uruana iſt ungemein maleriſch gelegen; das kleine indianiſche Dorf lehnt ſich an einen hohen Granit— berg. Ueberall ſteigen Felſen wie Pfeiler über dem Walde auf und ragen über die höchſten Baumwipfel empor. Nir- gends nimmt ſich der Orinoko majeſtätiſcher aus als bei der Hütte des Miſſionärs Fray Ramon Bueno. Er iſt hier über 5067 m breit und läuft gerade gegen Oſt, ohne Krümmung, wie ein ungeheurer Kanal. Durch zwei lange, ſchmale Inſeln (Isla de Uruana und Isla vieja de la Manteca) wird das Flußbett noch ausgedehnter; indeſſen laufen die Ufer parallel 55 man kann nicht ſagen, der Orinoko teile ſich in mehrere rme. Die Miſſion iſt von Otomaken bewohnt, einem verſun— kenen Stamme, an dem man eine der merkwürdigſten phyſio— logiſchen Erſcheinungen beobachtet. Die Otomaken eſſen Erde, das heißt, ſie verſchlingen ſie mehrere Monate lang täglich in ziemlich bedeutender Menge, um den Hunger zu beſchwichtigen, ohne daß ihre Geſundheit dabei leidet. Dieſe unzweifelhafte Thatſache hat ſeit meiner Rückkehr nach Europa lebhaften Widerſpruch gefunden, weil man zwei ganz verſchiedene Sätze: Erde eſſen, und ſich von Erde nähren, zuſammenwarf. Wir konnten uns zwar nur einen einzigen Tag in Uruana aufhalten, aber dies reichte hin, um die Bereitung der Poya (der Erdkugeln) kennen zu lernen, die Vorräte, welche die Eingeborenen davon angelegt, zu unterſuchen und die Quan- tität Erde, die ſie in 24 Stunden verſchlingen, zu beſtimmen. Uebrigens find die Otomaken nicht das einzige Volk am Ori- noko, bei dem Thon als Nahrungsmittel gilt. Auch bei den Guamos findet man Spuren von dieſer Verirrung des Nah— rungstriebes, und zwiſchen den Einflüſſen des Meta und des — 13 — Apure ſpricht jedermann von der Geophagie als von etwas Altbekanntem. Ich teile hier nur mit, was wir mit eigenen Augen geſehen oder aus dem Munde des Miſſionärs vernom— men, den ein ſchlimmes Geſchick dazu verurteilt hat, zwölf Jahre unter dem wilden, unruhigen Volke der Otomaken zu leben. Die Einwohner von Uruana gehören zu den Savannen— völkern (Indios andantes), die ſchwerer zu civiliſieren ſind als die Waldvölker (Indios del monte), ſtarke Abneigung gegen den Landbau haben und faſt ausſchließlich von Jagd und Fiſchfang leben. Es ſind Menſchen von ſehr ſtarkem Körperbau, aber häßlich, wild, rachſüchtig, den gegorenen Ge— tränken leidenſchaftlich ergeben. Sie ſind im höchſten Grad „omnivore Tiere“; die anderen Indianer, die ſie als Bar— baren anſehen, ſagen daher auch, „nichts ſei ſo ekelhaft, das ein Otomake nicht eſſe“. Solange das Waſſer im Orinoko und ſeinen Nebenflüſſen tief ſteht, leben die Otomaken von Fiſchen und Schildkröten. Sie ſchießen jene mit überraſchender Fertigkeit mit Pfeilen, wenn ſie ſich an der Waſſerfläche blicken laſſen. Sobald die Anſchwellungen der Flüſſe erfolgen, die man in Südamerika wie in Aegypten und Nubien irr— tümlich dem Schmelzen des Schnees zuſchreibt, und die in der ganzen heißen Zone periodiſch eintreten, iſt es mit dem Fiſch— fang faſt ganz vorbei. Es iſt dann ſo ſchwer, in den tiefen Flüſſen Fiſche zu bekommen, als auf offener See. Die armen Miſſionäre am Orinoko haben oft gar keine, weder an Faſt— tagen, noch an Nichtfaſttagen, obgleich alle jungen Indianer im Dorfe verpflichtet ſind, „für das Kloſter zu fiſchen“. Zur Zeit der Ueberſchwemmungen nun, die zwei bis drei Monate dauern, verſchlingen die Otomaken Erde in unglaublicher Maſſe. Wir fanden in ihren Hütten pyramidaliſch aufgeſetzte, 1 bis 13 m Kugelhaufen; die Kugeln hatten 8 bis 10 em im Durchmeſſer. Die Erde, welche die Otomaken eſſen, iſt ein ſehr feiner, ſehr fetter Letten; er iſt gelbgrau, und da er ein wenig am Feuer gebrannt wird, ſo ſticht die harte Kruſte etwas ins Rote, was vom darin enthaltenen Eiſenoxyd her— rührt. Wir haben von dieſer Erde, die wir vom Wintervor— rat der Indianer genommen, mitgebracht. Daß ſie ſpeckſtein— artig ſei und Magneſia enthalte, iſt durchaus unrichtig. Vau— quelin fand keine Spur davon darin, dagegen mehr Kieſelerde als Alaunerde und 3 bis 4 Prozent Kalk. Die Otomaken eſſen nicht jede Art Thon ohne Unterſchied; ORT fie ſuchen die Alluvialſchichten auf, welche die fetteſte, am feinſten anzufühlende Erde enthalten. Ich fragte den Miſ— ſionär, ob man den befeuchteten Thon wirklich, wie Pater Gumilla behauptet, die Art von Zerſetzung durchmachen laſſe, wobei ſich Kohlenſäure und Schwefelwaſſerſtoff entwickeln, und die in allen Sprachen faulen heißt; er verſicherte uns aber, die Eingeborenen laſſen den Thon niemals faulen, und ver— miſchen ihn auch weder mit Maismehl, noch mit Schildkrötenöl oder Krokodilfett. Wir ſelbſt haben ſchon am Orinoko und nach unſerer Heimkehr in Paris die mitgebrachten Kugeln unterſucht und keine Spur einer organiſchen, ſei es mehligen - oder öligen Subſtanz darin gefunden. Dem Wilden gilt alles für nahrhaft, was den Hunger beſchwichtigt; fragt man daher den Otomaken, von was er in den zwei Monaten, wo der Fluß am vollſten iſt, lebe, jo deutet er auf ſeine Letten— kugeln. Er nennt ſie ſeine Hauptnahrung, denn in dieſer Zeit bekommt er nur ſelten eine Eidechſe, eine Farnwurzel, einen toten Fiſch, der auf dem Waſſer ſchwimmt. Ißt nun der Indianer zwei Monate lang Erde aus Not (und zwar 375 bis 625 g in 24 Stunden), ſo läßt er ſie ſich doch auch das übrige Jahr ſchmecken. In der trockenen Jahreszeit, beim ergiebigſten Fiſchfang, reibt er ſeine Poyaklöße und mengt etwas Thon unter ſeine Speiſen. Das Auffallendſte iſt, daß die Otomaken nicht vom Fleiſche fallen, ſolange ſie Erde in ſo bedeutender Menge verzehren. Sie ſind im Gegenteil ſehr kräftig und haben keineswegs einen geſpannten, aufgetriebenen Bauch. Der Miſſionär Fray Ramon Bueno verſichert, er habe nie bemerkt, daß die Geſundheit der Eingeborenen während der Ueberſchwemmung des Orinoko eine Störung erlitten hätte. Das Thatſächliche, das wir ermitteln konnten, iſt ganz einfach folgendes. Die Otomaken eſſen mehrere Monate lang täglich 375 g am Feuer etwas gehärteten Letten, ohne daß ihre Geſundheit dadurch merklich leidet. Sie netzen die Erde wieder an, ehe ſie ſie verſchlucken. Es ließ ſich bis jetzt nicht genau ermitteln, wie viel nährende vegetabiliſche oder tieriſche Subſtanz ſie während dieſer Zeit in der Woche zu ſich neh— men; ſo viel iſt aber ſicher, ſie ſelbſt ſchreiben ihr Gefühl der Sättigung dem Letten zu und nicht den kümmerlichen Nah: rungsmitteln, die ſie von Zeit zu Zeit daneben genießen. Keine phyſiologiſche Erſcheinung ſteht für ſich allein da, und ſo wird es nicht ohne Intereſſe ſein, wenn ich mehrere ähn— liche Erſcheinungen, die ich zuſammengebracht, hier beſpreche. — 125 — In der heißen Zone habe ich allerorten bei vielen In— dividuen, bei Kindern, Weibern, zuweilen aber auch bei er— wachſenen Männern einen abnormen, faſt unwiderſtehlichen Trieb bemerkt, Erde zu eſſen, keineswegs alkaliſche oder kalk— haltige Erde, um (wie man gemeiniglich glaubt) ſaure Säfte zu neutraliſieren, ſondern einen fetten, ſchlüpfrigen, ſtark rie— chenden Thon. Oft muß man den Kindern die Hände bin— den oder ſie einſperren, um ſie vom Erdeeſſen abzuhalten, wenn der Regen aufhört. Im Dorfe Banco am Magdalenenſtrom ſah ich indianiſche Weiber, die Töpfergeſchirr verfertigen, fort— während große Stücke Thon verzehren. Dieſelben waren nicht ſchwanger und verſicherten, „die Erde ſei eine Speiſe, die ihnen nicht ſchade“. Bei anderen amerikaniſchen Völker— ſchaften werden die Menſchen bald krank und zehren aus, wenn ſie ſich von der Sucht, Thon zu verſchlucken, zu ſehr hinreißen laſſen. In der Miſſion San Borja ſahen wir ein Kind von der Nation der Guahibos, das mager war wie ein Skelett. Die Mutter ließ uns durch den Dolmetſcher ſagen, die Abmagerung komme von unordentlicher Eßluſt her. Seit vier Monaten wollte das kleine Mädchen faſt nichts anderes zu ſich nehmen als Letten. Und doch ſind es nur 112 km von San Borja nach Uruana, wo der Stamm der Otomaken wohnt, die, ohne Zweifel infolge allmählicher Angewöhnung, die Poya ohne Nachteil verſchlucken. Pater Gumilla be— hauptet, trete bei den Otomaken Verſtopfung ein, ſo führen ſie mit Krokodilöl, oder vielmehr mit geſchmolzenem Krokodil— fett ab; aber der Miſſionär, den wir bei ihnen antrafen, wollte hiervon nichts wiſſen. Man fragte ſich, warum in kalten und gemäßigten Himmelsſtrichen die Sucht, Erde zu eſſen, weit ſeltener iſt als in der heißen Zone, warum ſie in Europa nur bei ſchwangeren Weibern und ſchwächlichen Kindern vor— kommt? Dieſer Unterſchied zwiſchen der heißen und der ge— mäßigten Zone rührt vielleicht nur von der Trägheit der Funktion des Magens infolge der ſtarken Hautausdünſtung her. Man meinte die Beobachtung zu machen, daß bei den afrikaniſchen Sklaven der abnorme Trieb, Erde zu eſſen, zu— nimmt und ſchädlicher wird, wenn ſie auf reine Pflanzenkoſt geſetzt werden und man ihnen die geiſtigen Getränke entzieht. Wird durch letztere das Letteneſſen weniger ſchädlich, ſo hätte man den Otomaken beinahe Glück dazu zu wünſchen, daß ſie ſo große Trunkenbolde ſind. Auf der Küſte von Guinea eſſen die Neger als Lecker— — 126 — biſſen eine gelbliche Erde, die fie Caouac nennen. Die nach Amerika gebrachten Sklaven ſuchen ſich denſelben Genuß zu verſchaffen, aber immer auf Koſten ihrer Geſundheit. Sie ſagen, „die Erde auf den Antillen ſei nicht ſo verdaulich, wie die in ihrem Lande“. Thibaut de Chanvalon äußert in ſeiner Reiſe nach Martinique über dieſe pathologiſche Erſcheinung ſehr richtig: „Eine andere Urſache des Magenwehs iſt, daß manche Neger, die von der Küſte von Guinea herüberkommen, Erde eſſen. Es iſt dies bei ihnen nicht verdorbener Geſchmack oder Folge einer Krankheit, ſondern Gewöhnung von Afrika her, wo ſie, wie ſie ſagen, eine gewiſſe Erde eſſen, die ihnen wohlſchmeckt, und zwar ohne davon beläſtigt zu werden. Auf unſeren Inſeln ſehen ſie ſich nun nach der Erde um, die jener am nächſten kommt, und greifen zu einem rotgelben (vulkaniſchen) Tuff. Man verkauft denſelben heimlich auf den Märkten, ein Mißbrauch, dem die Polizei ſteuern ſollte. Die Neger, welche dieſe Unſitte haben, find fo lüſtern nach Caouac, daß keine Strafe ſie vom Genuß desſelben abzuhalten vermag.“ Im Indiſchen Archipel, auf Java, ſah Labillardiere zwi— ſchen Surabaya und Samarang kleine viereckige, rötliche Kuchen verkaufen. Dieſe Kuchen, Tanaampo genannt, waren Waffeln aus leicht geröſtetem Thon, den die Ein— geborenen mit Appetit verzehren. Da ſeit meiner Rückkehr vom Orinoko die Phyſiologen auf dieſe Erſcheinungen von Geophagie aufmerkſam geworden waren, ſo machte Leſchenault (einer der Naturforſcher bei der Entdeckungsreiſe nach Au— ſtralien unter Kapitän Baudin) intereſſante Angaben über den Tanaampo oder Ampo der Javaner. „Man legt,“ ſagt er, „den rötlichen, etwas eiſenſchüſſigen Thon, den die Einwohner von Java zuweilen als Leckerei genießen, in kleinen Rollen, in der Form wie die Zimtrinde, auf eine Blechplatte und röſtet ihn; in dieſer Form heißt er Ampo und iſt auf dem Markte feil. Die Subſtanz hat einen eigentümlichen Geſchmack, der vom Röſten herrührt; ſie iſt ſtark abſorbierend, klebt an der Zunge und macht ſie trocken. Der Ampo wird faſt nur von den javaniſchen Weibern gegeſſen, entweder in der Schwangerſchaft, oder weil ſie mager werden wollen, denn Mangel an Körperfülle gilt dortzulande für ſchön. Der Erdegenuß iſt der Geſundheit nachteilig; die Weiber verlieren allmählich die Eßluſt und nehmen nur mit Widerwillen ſehr wenig Speiſe zu ſich. Aber der Wunſch, mager und ſchlank zu bleiben, läßt ſie aller Gefahr trotzen und erhält den Ampo — 127 — bei Kredit.“ — Auch die barbariſchen Bewohner von Neu: kaledonien eſſen zur Zeit der Not, um den Hunger zu beſchwichtigen, mächtige Stücke eines weißen, zerreiblichen Topfſteins. Vauquelin fand darin bei der Analyſe, neben Magneſia und Kieſelerde zu gleichen Teilen, eine kleine Menge Kupferoxyd. Eine Erde, welche Golberry die Neger in Afrika auf den Inſeln Bunck und Los Idolos eſſen ſah und von der er ohne Beſchwerde ſelbſt gegeſſen, iſt gleichfalls ein weißer, zerreiblicher Speckſtein. Alle dieſe Fälle gehören der heißen Zone an; überblickt man ſie, ſo muß es auffallen, daß ein Trieb, von dem man glauben ſollte, die Natur werde ihn nur den Bewohnern der unfruchtbarſten Landſtriche eingepflanzt haben, bei verwilderten, trägen Völkern vorkommt, die gerade die herrlichſten, fruchtbarſten Länder bewohnen. In Popayan und mehreren Gebirgsſtrichen von Peru ſahen wir auf offenem Markte an die Eingeborenen unter anderen Waren auch ſehr fein gepulverten Kalk verkaufen. Man mengt dieſes Pulver mit Coca, das heißt mit den Blättern des Erythroxylon peruvianum. Bekanntlich nehmen die indianiſchen Boten— läufer mehrere Tage lang keine andere Nahrung zu ſich als Kalk und Coca; beide befördern die Abſonderung des Speichels und des Magenſaftes; ſie benehmen die Eßluſt, ohne dem Körper Nahrungsſtoff zuzuführen. Anderswo in Südamerika, am Rio de la Hacha, verſchlucken die Guajiro nur den Kalk ohne Zuſatz von Pflanzenſtoff. Sie führen beſtändig eine kleine Büchſe mit Kalk bei ſich, wie wir die Tabaksdoſe und die Aſiaten die Betelbüchſe. Dieſe amerikaniſche Sitte war ſchon den erſten ſpaniſchen Seefahrern auffallend erſchienen. Der Kalk ſchwärzt die Zähne, und im Oſtindiſchen Archipel, wie bei manchen amerikaniſchen Horden, gelten ſchwarze Zähne für ſchön. Im kalten Landſtrich des Königreichs Quito eſſen in Tiaua die Eingeborenen täglich aus Leckerei und ohne Be— ſchwerde einen ſehr feinen, mit Quarzſand gemengten Thon. Dieſer Thon macht das Waſſer, in dem er ſuſpendiert iſt, milchig. Man ſieht in ihren Hütten große Gefäße mit dieſem Waſſer, das als Getränk dient und bei den Indianern Agua oder Leche de Llanka (Thonmilch) heißt. Ueberblickt man alle dieſe Fälle, ſo zeigt ſich, daß dieſer abnorme Trieb zum Genuß von Thonerde, Talkerde und Kalk am häufigſten bei Bewohnern der heißen Zone vorkommt, daß er nicht immer Krankheit zur Folge hat, und daß manche Stämme Erde aus Leckerei eſſen, während andere (die Oto— — 128 — maken in Amerika und die Neukaledonier in der Südſee) ſie aus Not verzehren, um den Hunger zu beſchwichtigen. Aus ſehr vielen phyſiologiſchen Erſcheinungen geht hervor, daß der Hunger augenblicklich geſtillt werden kann, ohne daß die Sub— ſtanzen, die man der Wirkung der Verdauungsorgane unter— wirft, eigentlich nahrhaft ſind. Der Letten der Otomaken, der aus Thonerde und Kieſelerde beſteht, enthält wahrſchein— lich nichts oder ſo gut wie nichts, was zur Bildung der Or— gane des Menſchen beiträgt. Kalkerde und Talkerde ſind enthalten in den Knochen, in der Lymphe des Bruſtganges, im Farbſtoff des Blutes und in den weißen Haaren; Kieſel— erde in ſehr kleiner Menge in den ſchwarzen Haaren und, nach Vauquelin, Thonerde nur in ein paar Atomen in den Knochen, obgleich ſie in vielen Pflanzenſtoffen, die uns als Nahrung dienen, in Menge vorkommt. Es iſt beim Menſchen nicht wie bei belebten Weſen auf niedrigerer Organiſations— ſtufe. Bei jenem werden nur die Stoffe aſſimiliert, aus denen die Knochen, die Muskeln, das Nervenmark und das Gehirn weſentlich zuſammengeſetzt ſind; die Gewächſe dagegen ſaugen aus dem Boden die Salze auf, die ſich zufällig darin vorfinden, und die Beſchaffenheit ihres Faſergewebes richtet ſich nach dem Weſen der Erdarten, die an ihrem Standorte die vorherrſchenden ſind. Es iſt ein Punkt, der zur eifrigſten Forſchung auffordert, und der auch mich ſchon lange beſchäftigt hat, daß ſo wenige einfache Stoffe (Erden und Metalle) in den Geweben der belebten Weſen enthalten ſind, und daß nur ſie geeignet ſcheinen, den chemiſchen Lebensprozeß, wenn man ſo ſagen darf, zu unterhalten. Das Gefühl des Hungers und das unbeſtimmte Schwäche— gefühl infolge von Nahrungsmangel und anderen pathologi— ſchen Urſachen ſind nicht zu verwechſeln. Das Gefühl des Hungers hört auf, lange bevor die Verdauung vorüber oder der Chymus in Chylus verwandelt iſt. Es hört auf entweder weil die Nahrungsſtoffe auf die Magenwände toniſch wirken, oder weil der Verdauungsapparat mit Stoffen gefüllt it, welche die Schleimhäute zu reichlicher Abſonderung des Magen— ſaftes reizen. Dieſem toniſchen Eindruck auf die Magennerven kann man die raſche heilſame Wirkung der ſogenannten näh— renden Arzneimittel zuſchreiben, der Schokolade und aller Stoffe, die gelinde reizen und zugleich nähren. Für ſich allein gebraucht iſt ein Nahrungsſtoff (Stärkemehl, Gummi oder Zucker) zur Aſſimilation und zum Erſatz der Verluſte, welche — 129 — der menſchliche Körper erlitten, weniger geeignet, weil es dabei an einem Nervenreiz fehlt. Das Opium, das nicht nährt, wird in Aſien mit Erfolg bei großer Hungersnot gebraucht: es wirkt als toniſches Mittel. Iſt aber der Stoff, der den Magen füllt, weder als ein Nahrungsmittel, das heißt, als aſſimilierbar, noch als ein toniſcher Nervenreiz zu betrachten, ſo rührt die Beſchwichtigung wahrſcheinlich von der reichlichen Abſonderung des Magenſaftes her. Wir berühren hier ein Gebiet der Phyſiologie, auf dem noch manches dunkel iſt. Der Hunger wird beſchwichtigt, das unangenehme Gefühl der Leere hört auf, ſobald der Magen angefüllt iſt. Man jagt, der Magen müſſe Ballaſt haben; in allen Sprachen gibt es figürliche Ausdrücke für die Vorſtellung, daß eine mechaniſche Ausdehnung des Magens ein angenehmes Gefühl verurſacht. Zum Teil noch in ganz neuen phyſiologiſchen Werken iſt von der ſchmerzhaften Zuſammenziehung des Magens im Hunger, von der Reibung der Magenwände aneinander, von der Wir— kung des ſauren Magenſaftes auf das Gewebe der Ver— dauungsorgane die Rede. Bichats Beobachtungen, beſonders aber Magendies intereſſante Verſuche widerſprechen dieſen veralteten Vorſtellungen. Nach 24, 48, ſogar 60ſtündiger Entziehung aller Nahrungsmittel beobachtet man noch keine Zuſammenziehung des Magens; erſt am vierten und fünften Tage ſcheinen die Dimenſionen des Organes etwas abzunehmen. Je länger die Nahrungsentziehung dauert, deſto mehr ver— mindert ſich der Magenſaft. Derſelbe häuft ſich keineswegs an, er wird vielmehr wahrſcheinlich wie ein Nahrungsmittel verdaut. Läßt man Katzen oder Hunde einen unverdaulichen Körper, z. B. einen Kieſel ſchlucken, ſo wird in die Magen— höhle in Menge eine ſchleimige, ſaure Flüſſigkeit ausgeſondert, die nach ihrer Zuſammenſetzung dem menſchlichen Magenſafte nahe ſteht. Nach dieſen Thatſachen ſcheint es mir wahrſchein— lich, daß, wenn der Mangel an Nahrungsſtoff die Otomaken und die Neukaledonier antreibt, einen Teil des Jahres hin— durch Thon und Speckſtein zu verſchlingen, dieſe Erden im Verdauungsapparat dieſer Menſchen eine vermehrte Abſonde— rung der eigentümlichen Säfte des Magens und der Bauch— ſpeicheldrüſe zur Folge haben. Meine Beobachtungen am Orinoko wurden in neueſter Zeit durch direkte Verſuche zweier ausgezeichneter junger Phyſiologen, Hippolyt Cloquet und Breſchet, beſtätigt. Sie ließen ſich hungrig werden und aßen dann fünf Unzen eines grünlich ſilberfarbigen, blätterigen, A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 9 — 130 — ſehr biegſamen Talkes, und eine Nahrung, an welche ihre Organe ſo gar nicht gewöhnt waren, verurſachte ihnen keine Beſchwerde. Bekanntlich werden im Orient Bolus und Siegel— erde von Lemnos, die Thon mit Eiſenoxyd ſind, noch jetzt ſtark gebraucht. In Deutſchland ſtreichen die Arbeiter in den Sandſteinbrüchen am Kyffhäuſer ſtatt der Butter einen ſehr feinen Thon, den ſie Steinbutter! nennen, auf ihr Brot. Derſelbe gilt bei ihnen für ſehr ſättigend und leicht verdaulich. Wenn einmal infolge der Aenderungen, welche der Ver— faſſung der ſpaniſchen Kolonieen bevorſtehen, die Miſſionen am Orinoko häufiger von unterrichteten Reiſenden beſucht werden, ſo wird man genau ermitteln, wie viele Tage die Otomaken leben können, ohne neben der Erde wirklichen tie— riſchen oder vegetabiliſchen Nahrungsſtoff zu ſich zu nehmen. Es iſt eine bedeutende Menge Magenſaft und Saft der Baud): ſpeicheldrüſe erforderlich, um eine ſolche Maſſe Thon zu ver— dauen oder vielmehr einzuhüllen und mit dem Kot auszu— treiben. Daß die Abſonderung dieſer Säfte, welche beſtimmt ſind, ſich mit dem Chymus zu verbinden, durch den Thon im Magen und im Darm geſteigert wird, iſt leicht zu begreifen; wie kommt es aber, daß eine ſo reichliche Sekretion, die dem Körper keineswegs neue Beſtandteile zuführt, ſondern nur Beſtandteile, die auf anderen Wegen bereits da ſind, anders— wohin ſchafft, auf die Länge kein Gefühl der Erſchöpfung zur Folge hat? Die vollkommene Geſundheit, deren die Otomaken genießen, ſolange ſie ſich wenig Bewegung machen und ſich auf ſo ungewöhnliche Weiſe nähren, iſt eine ſchwer zu erklä— rende Erſcheinung. Man kann ſie nur einer durch lange Ge— ſchlechtsfolge erworbenen Gewöhnung zuſchreiben. Der Ver— dauungsapparat iſt ſehr verſchieden gebaut, je nachdem die Tiere ausſchließlich von Fleiſch oder Pflanzenſtoff leben; wahr— ſcheinlich iſt auch der Magenſaft verſchieden, je nachdem er tieriſche oder vegetabiliſche Subſtanzen zu verdauen hat, und doch bringt man es allmählich dahin, daß Pflanzenfreſſer und Fleiſchfreſſer ihre Koſt vertauſchen, daß jene Fleiſch, dieſe Körner freſſen. Der Menſch kann ſich daran gewöhnen, un— gemein wenig Nahrung zu ſich zu nehmen, und zwar ohne Schmerzgefühl, wenn er toniſche oder reizende Mittel an— I Diefe Steinbutter iſt nicht zu verwechſeln mit der Bergbutter, einer ſalzigen Subſtanz, die aus der Zerſetzung des Alaunſchieſers entſteht. — 131 — wendet (verſchiedene Arzneimittel, kleine Mengen Opium, Betel, Tabak, Cocablätter), oder wenn er von Zeit zu Zeit den Magen mit erdigen, geſchmackloſen, für ſich nicht nähren— den Stoffen anfüllt. Gleich dem wilden Menſchen verſchlucken auch manche Tiere im Winter aus Hunger Thon oder zerreib— lichen Speckſtein, namentlich die Wölfe im nordöſtlichen Europa, die Renntiere, und, nach Patrins Beobachtung, die Rehe in Sibirien. Am Jeniſei und Amur brauchen die ruſſiſchen Jäger einen Thon, den ſie Felsbutter nennen, als Köder. Die Tiere wittern den Thon von weitem; ſie riechen ihn gern, wie die Weiber in Spanien und Portugal den Bucarosthon, die ſogenannten wohlriechenden Erden (Tierras olorosas). Brown erzählt in ſeiner Geſchichte von Jamaika, die Krokodile in Süd— amerika verſchlingen kleine Steine oder Stücke ſehr harten Holzes, wenn die Seen, in denen ſie leben, ausgetrocknet ſind, oder ſie ſonſt keine Nahrung finden. Im Magen eines 3,6 m langen Krokodils, das Bonpland und ich in Batallez am Magdalenen— ſtrome zergliederten, fanden wir halbverdaute Fiſche und runde, 8 bis 10 em ſtarke Granitſtücke. Es iſt nicht anzunehmen, daß die Krokodile dieſe Steine zufällig verſchlucken, denn, wenn ſie die Fiſche unten im Strome packen, ruht ihre untere Kinnlade nicht auf dem Boden. Die Indianer haben die abgeſchmackte Idee ausgeheckt, dieſe trägen Tiere machen ſich ſo gern ſchwerer, um leichter zu tauchen. Ich glaube vielmehr, ſie nehmen große Kieſel in den Magen auf, um dadurch eine reichliche Abſonderung des Magenſaftes herbeizuführen. Ma— gendies Verſuche ſprechen für dieſe Auffaſſung. Was die Ge— wohnheit der körnerfreſſenden Vögel, namentlich der hühner— artigen und der Strauße betrifft, Sand und kleine Steine zu verſchlucken, ſo hat man ſie bisher dem inſtinktmäßigen Triebe der Tiere zugeſchrieben, die Zerreibung der Nahrung in ihrem dicken Muskelmagen zu beſchleunigen. Wir haben oben geſehen, daß Negerſtämme am Gambia Thon unter ihren Reis miſchen; vielleicht hatten früher manche Familien der Otomaken den Brauch, Mais und andere meh— lige Samen in ihrer Poya „faulen“ zu laſſen, um Erde Bucaro, vas fietile odoriferum. Man trinkt gern aus dieſen Gefäßen wegen des Geruches des Thones. Die Weiber in der Provinz Alemtejo gewöhnen ſich an, die Bucaroerde zu kauen, und ſie empfinden es als eine große Entbehrung, wenn ſie dieſes abnorme Gelüſte nicht befriedigen können. — 132 — und ſtärkemehlhaltigen Stoff zugleich zu genießen; vielleicht iſt es eine unklare Beſchreibung einer ſolchen Zubereitung, wenn Pater Gumilla im erſten Bande ſeines Werkes behaup- tet, „die Guamos und Otomacos nähren ſich nur deshalb von Erde, weil dieſelbe mit Substancia del maiz und Kai⸗ manfett getränkt ſei.“ Ich habe ſchon oben erwähnt, daß weder der gegenwärtige Miſſionär in Uriana, noch Fray Juan Gonzales, der lange in dieſen Ländern gelebt, von dieſer Ver— mengung tieriſchen und vegetabiliſchen Stoffes mit der Poya etwas wiſſen. Vielleicht hat Pater Gumilla die Zubereitung der Erde, welche die Eingeborenen eſſen, mit einem anderen Brauche derſelben verwechſelt (von dem ſich Bonpland an Ort und Stelle überzeugte), nämlich die Bohnen einer Mimoſen— art in den Boden zu graben, dieſelben ſich zerſetzen zu laſſen, und ein weißes, ſchmackhaftes, aber ſchwer verdauliches Brot daraus zu bereiten. Die Poyakugeln, die wir dem Winter: vorrate der Indianer entnommen, enthielten, ich wiederhole es, keine Spur von tieriſchem Fette oder von Stärkemehl. Gumilla iſt einer der leichtgläubigſten Reiſenden, die wir kennen, und ſo ſieht man ſich faſt verſucht, an Umſtände zu glauben, die er meint leugnen zu müſſen. Zum Glücke nimmt der Jeſuit im zweiten Bande ſeines Werkes großenteils wieder zurück, was er im erſten behauptet: er zweifelt jetzt nicht daran, „daß das Brot der Otomacos und Guamos wenigſtens (a lo menos) zur Hälfte Thon enthält; er verſichert, Kinder und Erwachſene eſſen, ohne Schaden für die Geſundheit, nicht nur dieſes Brot, ſondern auch große Maſſen reinen Thon (muchos terrones de pura greda)“. Er jagt weiter, wer davon den Magen beſchwert fühle, führe ein paar Tage mit Krokodilfett ab, und dieſes Fett bringe ihnen die Eßluſt wieder, ſo daß ſie von neuem bloße Erde eſſen können. Ich bezweifle, daß die Manteca de Caiman ein Abführmittel iſt, da ſie aber ſehr flüſſig iſt, ſo mag ſie die Erde, die nicht mit dem Kote weggeſchafft worden iſt, einhüllen helfen. So viel iſt gewiß, daß die Guamos wenn nicht das Fett, ſo doch das Fleiſch des Krokodils, das uns weiß und ohne Biſam⸗ geruch ſchien, ſehr gern eſſen. In Sennaar iſt dasſelbe, nach Burckhardt, gleichfalls geſucht und wird auf dem Markte verkauft. f Ich kann hier Fragen nicht unberührt laſſen, die in mehreren Abhandlungen, zu denen meine Reiſe auf dem Ori— noko Anlaß gegeben, en worden find. Leſchenault wirft — 133 — die Frage auf, ob nicht der Gebrauch des Ampo (des java— niſchen Thones) dadurch gute Dienſte leiſten könnte, daß er augenblicklich den Hunger beſchwichtigt, wenn man keine Nah— rungsmittel hat oder zu ungeſunden, ſchädlichen, wenn auch organiſchen Subſtanzen greifen müßte. Ich glaube, bei Ver: ſuchen über die Folgen langer Entziehung der Nahrung würde ſich zeigen, daß ein Tier, das man (nach der Art der Oto— maken) Thon verſchlucken ließe, weniger zu leiden hätte als ein anderes, in deſſen Magen man gar keine Nahrung brächte. Ein italieniſcher Phyſiologe hebt hervor, wie wenig phosphor— ſaure Kalk- und Bittererde, Kieſelerde, Schwefel, Natron, Fluor, Eiſen und Mangan, und dagegen wie viel Kohlen— ſäure, Sauerſtoff, Stickſtoff und Waſſerſtoff in den feſten und flüſſigen Teilen des menſchlichen Körpers enthalten ſei, und fragt, ob die Atmung nicht als ein fortwährender Er— nährungsakt zu betrachten ſei, während der Verdauungs— apparat mit Lehm gefüllt iſt? Die chemiſche Analyſe der eingeatmeten und der ausgeatmeten Luft ſpricht nicht für dieſe Annahme. Der Verluſt einer ſehr kleinen Menge Stickſtoff iſt ſchwer zu ermitteln, und es iſt anzunehmen, daß ſich die Funktion des Atmens im allgemeinen darauf beſchränkt, Kohlen— ſtoff und Waſſerſtoff dem Körper zu entziehen. Ein befeuchtetes Gemiſch von phosphorſaurem und kohlen— ſaurem Kalk kann nicht nährend ſein, wie gleichfalls ſtickſtoff— loſe, aber dem organiſchen Reiche angehörende Subſtanzen (Zucker, Gummi, Stärkemehl). Unſere Verdauungsapparate ſind gleichſam galvaniſche Säulen, die nicht alle Subſtanzen zerlegen. Die Aſſimilation hört auf, nicht allein weil die Stoffe, die in den Magen gelangen, keine Elemente enthalten, die mit denen, aus welchen der menſchliche Körper beſteht, übereinkommen, ſondern auch, weil die Verdauung (die chemiſche Zerſetzung) nicht alle Verbindungen ohne Unterſchied in ihren Bereich zieht. Beſchäftigt man ſich übrigens mit ſolchen all— gemeinen phyſiologiſchen Problemen, ſo fragt man ſich unwill— kürlich, wie es mit der Geſellſchaft, oder vielmehr mit dem Menſchengeſchlechte ſtünde, wenn der Menſch keine Produkte der Organiſation und der Lebenskraft als Nahrungsmittel nötig hätte. Keine Gewöhnung kann die Art und Weiſe der Ernährung weſentlich abändern. Wir werden niemals Erde verdauen und aſſimilieren lernen; ſeit aber Gay-Luſſacs und Thenards wichtige Forſchungen uns belehrt haben, daß das härteſte Holz und das Stärkemehl ſich nur dadurch unter— — 134 — ſcheiden, daß die Verhältniſſe zwiſchen Sauerſtoff, Waſſerſtoff und Kohlenſtoff dort und hier ein klein wenig anders ſind, wie ſollte man da beſtreiten, daß es der Chemie noch gelingen könnte, jene ungeheuren vegetabiliſchen Maſſen, jene Gewebe verhärteter Faſern, aus denen die Stämme unſerer Wald— bäume beſtehen, in Nahrungsſtoff zu verwandeln? Von Be— lang könnte eine ſolche Entdeckung nur werden, wenn das Verfahren einfach und nicht koſtſpielig wäre; unter dieſer, allerdings keineswegs wahrſcheinlichen Vorausſetzung müßten aber dadurch in der ganzen Verfaſſung des Geſellſchaftskör— pers, im Tagelohn, in der Verteilung der Bevölkerung über die Erdoberfläche die größten Veränderungen eintreten. Einer⸗ ſeits würde der Menſch damit unabhängiger, andererſeits wäre die notwendige Folge, daß die Bande der Geſellſchaft ſich löſten und die Grundlagen des Gewerbfleißes und der Kultur 1 würden. Das kleine Dorf Uruana iſt ſchwerer zu regieren als die meiſten anderen Miſſionen. Die Otomaken ſind ein unruhiges, lärmendes, in ſeinen Leidenſchaften ungezügeltes Volk. Nicht nur ſind fie dem Genuſſe der gegorenen Getränke aus Maniof und Mais und des Palmweines im Uebermaße ergeben, ſie verſetzen ſich auch noch in einen eigentümlichen Zuſtand von Rauſch, man könnte faſt ſagen von Wahnſinn, durch den Gebrauch des Niopopulvers.! Sie ſammeln die langen Schoten einer Mimoſenart, die wir unter dem Namen Acacia Niopo bekannt gemacht haben; ſie reißen ſie in Stücke, feuch— ten ſie an und laſſen ſie gären. Wenn die durchweichten Pflanzen anfangen ſchwarz zu werden, kneten ſie dieſelben wie einen Teig, mengen Maniokmehl und Kalk, der aus der Muſchel einer Ampullaria gebrannt wird, darunter und ſetzen die Maſſe auf einem Roſte von hartem Holze einem ſtarken Feuer aus. Der erhärtete Teig bildet kleine Kuchen. Will man ſich derſelben bedienen, ſo werden ſie zu feinem Pulver zerrieben und dieſes auf einen 13 bis 16 em breiten Teller geſtreut. Der Otomake hält den Teller, der einen Stiel hat, in der rechten Hand und zieht das Niopo durch einen gabel— förmigen Vogelknochen, deſſen zwei Enden in die Naſenlöcher geſteckt ſind, in die Naſe. Der Knochen, ohne den der Oto⸗ make dieſe Art Schnupftabak nicht nehmen zu können meinte, iſt 18 em lang und es ſchien mir der Fußwurzelknochen 1 Maypuriſch Nupa; die Miſſionäre ſagen Nopo. — 135 — eines großen Stelzenläufers zu ſein. Ich habe das Niopo ſamt dem ganzen ſeltſamen Apparate Fourcroy in Paris über— macht. Das Niopo iſt ſo reizend, daß ganz wenig davon heftiges Nieſen verurſacht, wenn man nicht daran gewöhnt iſt. Pater Gumilla ſagt, „dieſes Teufelspulver der Otomaken, das von einem baumartigen Tabake komme, berauſche ſie durch die Naſenlöcher (emboracha por las narices), raube ihnen auf einige Stunden die Vernunft und mache ſie im Gefechte raſend“. Die Samen, Säfte und Wurzeln der Familie der Schotengewächſe haben auffallend verſchiedene chemiſche und arzneiliche Eigenſchaften; wenn aber auch der Saft der Frucht der Mimosa nilotica ſtark adſtringierend iſt, ſo iſt doch nicht wohl zu glauben, daß die Schote der Acacia Niopo dem Tabake der Otomaken zunächſt ſeine reizende Eigenſchaft ver— leiht. Dieſelbe rührt vielmehr vom friſchgebrannten Kalke her. Wir haben oben geſehen, daß die Bergbewohner in den Anden von Popayan und die Guajiro, die zwiſchen dem See Mara— caybo und dem Rio la Hacha umherziehen, auch Kalk ver— ſchlucken, und zwar als Reizmittel, um die Abſonderung des Speichels und des Magenſaftes zu befördern. Dadurch, daß die umſtändliche Vorrichtung, deren ſich die Otomaken zum Aufziehen des Niopopulvers bedienen, durch mich nach Europa kam, wurden die Gelehrten auf einen ähnlichen Brauch aufmerkſam gemacht, den La Condamine am oberen Maranon beobachtet hat. Die Omagua, deren Name durch ihre Züge zur Entdeckung des Dorado vielberufen iſt, haben denſelben Teller, dieſelben hohlen Vogelknochen, durch die fie ihr Curupa pulver in die Naſe ziehen. Der Samen, von dem dieſes Pulver kommt, iſt ohne Zweifel auch eine Mimoſe; denn die Otomaken nennen, dem Pater Gili zufolge, noch jetzt, 1170 km vom Amazonenſtrome, die Acacia Niopo Curupa. Seit meinen neuerlichen geographiſchen Unter— ſuchungen über den Schauplatz der Thaten Philipps von Hutten und über die wahre Lage der Provinz Papamene oder der Omagua hat die Vermutung einer früheren Verbindung zwiſchen den Otomaken am Orinoko und den Omagua am Amazonenſtrome an Bedeutung und Wahrſcheinlichkeit ge— wonnen. Erſtere kamen vom Rio Meta, vielleicht aus dem Lande zwiſchen dieſem Fluſſe und dem Guaviare; letztere wollen ſelbſt in großer Anzahl über den Rio Japura, vom öſtlichen Abhange der Anden von Neugranada her, an den Maranon gekommen fein. Nun ſcheint aber das Land der — 136 — Omagua, das die Abenteurer von Coro und Tocuyo vergeb— lich zu erobern ſuchten, gerade zwiſchen dem Guayavero, der in den Guaviare fällt, und dem Caqueta zu liegen, der weiter unten Japura heißt. Allerdings beſteht ein auffallender Gegenſatz zwiſchen der jetzigen Verſunkenheit der Otomaken und der früheren Civiliſation der Omagua; vielleicht waren aber nicht alle Unterabteilungen dieſer Nation in der Kultur gleich vorgeſchritten, und an Beiſpielen, daß Stämme völlig verſinken können, iſt die Geſchichte unſeres Geſchlechtes leider nur zu reich. Zwiſchen Otomaken und Omagua läßt ſich noch eine weitere Uebereinſtimmung bemerklich machen. Beide ſind unter den Völkerſchaften am Orinoko und am Amazonen— ſtrome deshalb berufen, weil ſie vom Kautſchuk oder der ver— dickten Milch der Euphorbiaceen und Urticeen ſo ausgedehnten Gebrauch machen. Der eigentliche krautartige Tabak,! denn die Miſſionäre nennen das Niopo oder Curupa „Baumtabak“, wird ſeit unvordenklicher Zeit von allen eingeborenen Völkern am Ori— noko gebaut; man fand auch bei der Eroberung die Sitte des Rauchens in beiden Amerika gleich verbreitet. Die Tamanaken und Maypuren in Guyana umwickeln die Ci⸗ garren mit Mais, wie bereits die Mexikaner vor Cortez' An— kunft gethan. Nach dieſem Vorgange nehmen die Spanier ſtatt Maisblättern Papier. Die armen Indianer in den Wäldern am Orinoko wiſſen ſo gut als die großen Herren am Hofe Montezumas, daß der Tabakrauch ein vortreffliches Narkotikum iſt; ſie bedienen ſich desſelben nicht nur, um ihre Sieſta zu halten, ſondern auch, um ſich in den Zuſtand von Quietismus zu verſetzen, den ie, ein „Träumen mit offenen Augen“, „Träumen bei Tage“ nennen. In allen amerikaniſchen Miſſionen wird jetzt, wie mir ſchien, 5 wenig Tabak verbraucht, und in Neuſpanien rauchen die = geborenen, die faſt ſämtlich von der unterſten Klaſſe des a kiſchen Volkes abſtammen, zum großen Leidweſen des Fislus Das Wort Tabak (tabacco) gehört, wie die Worte Savanne, Mais, Kazike, Maguey (Agave) und Manati (Seekuh), der alten Sprache von Hayti oder San Domingo an. Es bedeutete eigentlich nicht das Kraut, ſondern die Röhre, das Werkzeug, mittels deſſen man den Rauch einzog. Es muß auffallen, daß ein ſo allgemein verbreitetes vegetabiliſches Produkt bei benachbarten Völkern ver— ſchiedene Namen hatte. ad gar nicht. Pater Gili verfichert, den Indianern am unteren Orinoko ſei die Sitte des Tabakkauens unbekannt. Ich möchte die Richtigkeit dieſer Behauptung bezweifeln; denn die Sercucuma am Erevato und Caura, Nachbarn der weiß— lichen Paparitos, verſchlucken, wie man mir ſagte, zerhackten und mit anderen ſtark reizenden Säften getränkten Tabak, wenn ſie ſich zum Gefechte anſchicken. Von den vier Nikotiana— arten, die in Europa gebaut werden (N. tabacum, N. rustica, N. paniculata und N. glutinosa) ſahen wir nur die beiden letzteren wild; aber Nicotiana lolaxensis und N. Andicola, die ich in 3605 m Meereshöhe auf dem Rücken der Anden gefunden, ſtehen Nicotiana tabacum und rustica ſehr nahe. Die ganze Gattung iſt übrigens faſt ausſchließlich amerika— niſch und die meiſten Arten ſchienen mir dem gebirgigen und gemäßigten Landſtriche unter den Tropen anzugehören. Weder aus Virginien, noch aus Südamerika, wie irrtüm— lich in mehreren agronomiſchen und botaniſchen Schriften ſteht, ſondern aus der mexikaniſchen Provinz Yucatan iſt um das Jahr 1559 der erſte Tabakſamen nach Europa gekommen.! Der Mann, der die Fruchtbarkeit der Ufer des Orinoko am lauteſten geprieſen, der berühmte Ralegh, hat auch die Sitte des Rauchens unter den nordiſchen Völkern am meiſten be— fördert. Bereits am Schluſſe des 16. Jahrhunderts be— ſchwerte man ſich in England bitter über „dieſe Nachahmung der Gebräuche eines barbariſchen Volkes“. Man fürchtete bei dem überhandnehmenden Tabakrauchen, „ne Anglorum cor— pora in barbarorum naturam degenerent“.? Die Spanier lernten den Tabak am Ende des 16. Jahr- hunderts auf den Antillen kennen. Ich habe oben bemerkt, daß der Anbau dieſes narkotiſchen Gewächſes um 120 bis 140 Jahre älter iſt als die ſegensreiche Anpflanzung der Kartoffel. Als Ralegh im Jahre 1586 den Tabak aus Virginien nach England brachte, gab es in Portugal bereits ganze Felder voll davon. ? Die merkwürdige Stelle lautet bei Camden, Annal. Elizab. p. 143 (1585) wie folgt: „Ex illo sane tempore (tabacum) usu cepit esse creberrimo in Anglia et magno pretio, dum quam- plurimi graveolentem illius fumum per tubulum testaceum hauriunt et mox e naribus afflant, adeo ut Anglorum corpora in barbarorum naturam degenerasse videantur, quum iidem ac barbari delectentur.“ Man ſieht aus dieſer Stelle, daß man durch die Naſe rauchte, während man am Hofe Montezumas in der einen Hand die Pfeife hatte und mit der anderen die Naſe zuhielt, um den Rauch leichter ſchlucken zu können. — 138 — Wenn ſich die Otomaken in Uruana durch den Genuß des Niopo (ihres Baumtabaks) und gegorener Getränke in einen Zuſtand von Trunkenheit verſetzt haben, der mehrere Tage dauert, ſo bringen ſie einander um, ohne ſich mit Waffen zu ſchlagen. Die bösartigjten vergiften fi) den Daumennagel mit Curare, und nach der Ausſage der Miſſionäre kann der geringſte Ritz mit dieſem vergifteten Nagel tödlich werden, wenn das Curare ſehr ſtark iſt und unmittelbar in die Blut— maſſe gelangt. Begehen die Indianer bei Nacht infolge eines Zankes einen Totſchlag, ſo werfen ſie den Leichnam in den Fluß, weil ſie fürchten, es möchten Spuren der erlittenen Gewalt an ihm zu bemerken ſein. „So oft ich,“ äußerte Pater Bueno gegen uns, „die Weiber an einer anderen Stelle des Ufers als gewöhnlich Waſſer ſchöpfen ſehe, vermute ich, daß ein Mord in meiner Miſſion begangen worden.“ Wir fanden in Uruana in den Hütten der Indianer den— ſelben vegetabiliſchen Stoff (Vesca de hormigas, Ameifen: zunder), den wir bei den großen Katarakten hatten kennen lernen und den man zum Blutſtillen braucht. Dieſer Zunder, der weniger uneigentlich Ameiſenneſter hieße, iſt in einem Lande, deſſen Bewohner nichts weniger als friedfertig ſind, ſehr geſucht. Eine neue ſchön ſmaragdgrüne Art Ameiſen (Formica spinicollis) ſammelt auf den Blättern einer Mela— ſtomenart zu ihrem Neſte einen baumwollenartigen, gelbbraunen, ſehr zart anzufühlenden Flaum. Ich glaube, daß der „Yesca oder Ameiſenzunder“ vom oberen Orinoko (das Tier kommt, wie verſichert wird, nur ſüdlich von Apures vor) einmal ein Handelsartikel werden kann. Der Stoff iſt weit vor— züglicher als die „Ameiſenneſter“ von Cayenne, die man in Europa in den Hoſpitälern verwendet, die aber ſchwer zu be— kommen ſind. Ungern ſchieden wir (am 7. Juni) vom Pater Ramon Bueno. Unter den zehn Miſſionären, die wir auf dem un— geheuren Gebiete von Guyana kennen gelernt, ſchien mir nur er auf alle Verhältniſſe der eingeborenen Völkerſchaften zu achten. Er hoffte in kurzem nach Madrid zurückkehren und das Ergebnis ſeiner Unterſuchungen über die Bilder und Züge auf den Felſen bei Uruana bekannt machen zu können. In den Ländern, wie wir eben bereiſt, zwiſchen dem Meta, Arauca und Apure, fand man bei den erſten Ent— deckungszügen an den Orinoko, z. B. bei dem des Alonzo de Herrera im Jahre 1535, ſtumme Hunde, von den Ein— — 139 — geborenen Maios und Auries genannt. Dieſer Umſtand iſt in mehr als einer Beziehung intereſſant. Was auch Pater Gili ſagen mag, es unterliegt keinem Zweifel, daß der Hund in Südamerika einheimiſch iſt. Die verſchiedenen indianiſchen Sprachen haben Namen für das Tier, die nicht wohl von europäiſchen Sprachen herkommen können. Das Wort Auri, das Alonzo de Herrera vor dreihundert Jahren nannte, kommt noch jetzt im Maypuriſchen vor. Die Hunde, welche wir am Orinoko geſehen, mögen von denen abſtammen, welche die Spanier an die Küſten von Caracas gebracht; aber nichts— deſtoweniger ſteht feſt, daß es vor der Eroberung in Peru, Neugranada und Guyana eine unſeren Schäferhunden ähn— liche Hunderaſſe gab. Der Allco der Eingeborenen in Peru, und faſt alle Hunde, die wir in den wildeſten Strichen von Südamerika angetroffen, bellen häufig; die älteſten Geſchicht— ſchreiber ſprechen aber alle von ſtummen Hunden (Perros mudos). Es gibt noch dergleichen in Kanada, und, was mir ſehr zu beachten ſcheint, die ſtumme Spielart wurde in Mexiko und am Orinoko vorzugsweiſe gegeſſen. Ein ſehr unterrichteter Reiſender, Gieſecke, der ſechs Jahre in Grönland gelebt hat, ver— ſicherte mich, die Hunde der Eskimo, die beſtändig in freier Luft ſind und ſich winters in den Schnee graben, bellen auch nicht, ſondern heulen wie die Wölfe.“ Gegenwärtig iſt der Gebrauch, Hundefleiſch zu eſſen, am Orinoko unbekannt; da aber dieſe Sitte im öſtlichen Aſien ganz allgemein iſt, ſcheint mir der Beweis, daß dieſelbe früher in den heißen Strichen von Guyana und auf der Hochebene von Mexiko zu Hauſe war, von großem Belang für die Völkergeſchichte. Ich bemerke auch, daß auf den Grenzen der Provinz Durango, am nördlichen Ende von Neuſpanien, die Komantſchenindianer noch jetzt große Hunde, die ſie auf ihren Zügen begleiten, mit ihren Zelten aus Büffelfellen beladen. Bekanntlich dient auch am Sklavenſee und in Sibirien der Hund gewöhnlich als Laſt- und Zugtier. Ich hebe ſolche Züge von Uebereinſtimmung in den Sitten der Völker ab— 1 Sie hocken im Kreiſe umher; zuerſt heult einer allein und dann fallen die anderen im ſelben Tone ein. Gerade ſo heulen die Rudel von Aluaten, unter denen die Indianer den „Vorſänger“ herauskennen. In Mexiko wurde der ſtumme Hund (Techichi) ver— ſchnitten, damit er fett werde, und dies mußte zur Veränderung des Stimmorganes des Hundes beitragen. — 140 — ſichtlich hervor; ſie erhalten einiges Gewicht, wenn ſie nicht für ſich allein daſtehen, und Aehnlichkeiten im Sprachbau, in der Zeitrechnung, im Glauben und den gottesdienſtlichen Ge— bräuchen dazu kommen. Wir übernachteten auf der Inſel Cucuruparu, auch Playa de la Tortuga genannt, weil die Indianer von Uruana dort Schildkröteneier holen. Es iſt dies einer der Punkte am Orinoko, deren Breite am genaueſten beſtimmt iſt. Das Glück wollte, daß ich drei Durchgänge von Sternen durch den Meridian beobachten konnte. Oſtwärts von der Inſel iſt die Mündung des Cano de la Tortuga, der von den Bergen der Cerbatana herunterkommt, an denen beſtändig Gewitter— wolken hängen. Am ſüdlichen Ufer dieſes Cano liegt die faſt ganz eingegangene Miſſion San Miguel de la Tortuga. Die Indianer verſicherten uns, in der Nähe dieſer kleinen Miſſion gebe es eine Menge Fiſchottern mit ſehr feinem Pelze, welche bei den Spaniern Perritos de agua, Waſſer— hunde heißen, und, was merkwürdiger iſt, Eidechſen (Lagartos) mit zwei Füßen. Dieſer ganze Landſtrich zwiſchen dem Rio Cuchivero und der Stromenge am Baraguan ſollte ein: mal von einem guten Zoologen beſucht werden. Der Lagarto ohne Hinterbeine iſt vielleicht eine Art Siren, abweichend vom Siren lacertina in Carolina. Wäre es ein Saurier, ein eigentlicher „Bimane“ (Chirotes, Cuvier), ſo hätten die Ein⸗ geborenen das Tier nicht mit einer Eidechſe verglichen. Außer den Arrau-Schildkröten, von denen ich oben ausführlich ge— ſprochen, leben am Orinoko zwiſchen Uruana und Encara— mada auch Landſchildkröten, die ſogenannten Moro coi in zahlloſer Menge. In der großen Sonnenhitze und Trocken— heit ſtecken dieſe Tiere, ohne zu freſſen, unter Steinen oder in Löchern, die ſie gegraben. Erſt wenn ſie nach den erſten Regen ſpüren, daß die Erde feucht wird, kommen ſie aus ihrem Verſteck hervor und fangen wieder an zu freſſen. Die Terekay oder Tajelus, Süßdaſſerſchildkröten, haben dieſelbe Lebensweiſe. Ich habe ſchon oben vom Sommer— ſchlaf mancher Tiere unter den Tropen geſprochen. Die Eingeborenen kennen die Löcher, in denen die Schildkröten im ausgetrockneten Boden ſchlafen, und graben ſie 40 bis 48 em tief in Menge auf einmal aus. Nach Pater Gili, der ſolches mit angeſehen, iſt dies nicht gefahrlos, weil ſich im Sommer häufig Schlangen mit den Terekay eingraben. Von der Inſel Cucuruparu hatten wir bis zur Haupt— — 141 — ſtadt von Guyana, gemeiniglich Angoſtura genannt, noch 9 Tage zu fahren; es find nicht ganz 430 km. Wir brachten die Nacht ſelten am Lande zu; aber die Plage der Moskiten nahm merklich ab, je weiter wir hinabkamen. Am 8. Juni gingen wir bei einem Hofe (Hato de San Rafael del Capuchino), dem Einfluſſe des Rio Apure gegenüber, ans Land. Ich konnte gute Breiten- und Längenbeobachtungen machen. Ich hatte vor zwei Monaten auf dem anderen Ufer Stundenwinkel aufgenommen, und dieſe Beſtimmungen waren jetzt von Wert, um den Gang meines Chronometers zu kon— trollieren und die Beobachtungsorte am Orinoko mit denen an der Küſte von Venezuela in Verbindung zu bringen. Die Lage dieſes Hofes am Punkte, wo der Orinoko aus der Rich— tung von Süd nach Nord in die von Weſt nach Oſt umbiegt, iſt ſehr maleriſch. Granitfelſen erheben ſich wie Eilande auf den weiten Prärieen. Von ihrer Spitze ſahen wir nordwärts die Llanos oder Steppen von Calabozo ſich bis zum Horizont ausbreiten. Da wir ſeit lange an den Anblick der Wälder gewöhnt waren, machte dieſe Ausſicht einen großen Eindruck auf uns. Nach Sonnenuntergang bekam die Steppe ein grau— grünes Kolorirt, und da die Sehlinie nur durch die Krüm— mung der Erde abgebrochen wird, ſo gingen die Sterne wie aus dem Schoße des Meeres auf und der erfahrenſte See— mann hätte glauben müſſen, er ſtehe auf einer Felſenküſte, auf einem hinausſpringenden Vorgebirge. Unſer Wirt war ein Franzoſe (Francois Doizan), der unter feinen zahlreichen Herden lebte. Er hatte ſeine Mutterſprache verlernt, ſchien aber doch mit Vergnügen zu hören, daß wir aus ſeiner Hei— mat kamen. Er hatte dieſelbe vor 40 Jahren verlaſſen, und er hätte uns gern ein paar Tage in ſeinem Hofe behalten. Von den politiſchen Umwälzungen in Europa war ihm fo gut wie nichts zu Ohren gekommen. Er ſah darin nur eine Empörung gegen den Klerus und die Mönche. „Dieſe Em— pörung,“ ſagte er, „wird fortdauern, ſolange die Mönche Widerſtand leiſten.“ Bei einem Manne, der ſein ganzes Leben an der Grenze der Miſſionen zugebracht, wo von nichts die Rede iſt, als vom Streit zwiſchen der geiſtlichen und der weltlichen Gewalt, war eine ſolche Anſicht ziemlich natürlich. Die kleinen Städte Caycara und Cabruta ſind nur ein paar Kilometer vom Hofe, aber unſer Wirt war einen Teil des Jahres hindurch völlig abgeſchnitten. Durch die Ueberſchwem—⸗ mungen des Apure und des Orinoko wird der Capuchino — 142 — zur Inſel und man kann mit den benachbarten Höfen nur zu Schiffe verkehren. Das Hornvieh zieht ſich dann auf den höher gelegenen Landſtrich, der ſüdwärts der Bergkette der Encaramada Zuläuft. Am 9. Juni morgens begegneten uns eine Menge Fahr⸗ zeuge mit Waren, die mit Segeln den Orinoko und dann den Apure hinauffuhren. Es iſt dies eine ſtark befahrene Handelsſtraße zwiſchen Angoſtura und dem Hafen von Toru⸗ nos in der Provinz Varinas. Unſer Reiſebegleiter, Don Nicolas Soto, der Schwager des Statthalters von Varinas, ſchlug denſelben Weg ein, um zu ſeiner Familie zurückzu⸗ kehren. Bei Hochwaſſer braucht man mehrere Monate gegen die Strömung des Orinoko, des Apure und des Rio Santo Domingo. Die Schiffsleute müſſen ihre Fahrzeuge an Baum— ſtämme binden und ſie am Tau den Fluß hinaufziehen. In den ſtarken Krümmungen des Fluſſes kommen ſie oft in ganzen Tagen nicht über 380 bis 580 m vorwärts. Seit meiner Rückkehr nach Europa iſt der Verkehr zwiſchen der Mündung des Orinoko und den Provinzen am öſtlichen Ab— hange der Gebirge von Merida, Pamplona und Santa Fe de Bogota ungleich lebhafter geworden, und es iſt zu er— warten, daß die lange Fahrt auf dem Orinoko, dem Apure, der Portugueſa, dem Rio Santo Domingo, dem Orivante, Meta und Guaviare durch Dampfſchiffe abgekürzt wird. Man könnte, wie an den großen Strömen in den Vereinigten Staaten, an den Ufern gefälltes Holz unter Schuppen nieder⸗ legen. Solche Veranſtaltung wäre um ſo nötiger, da man ſich in den Ländern, die wir bereiſt, nicht leicht trockenes Holz verſchafft, wie man es zum ſtarken Feuer unter dem Keſſel einer Dampfmaſchine braucht. Unterhalb San Rafael del Capuchino gingen wir rechts bei Villa Caycara, an einer Bucht, Puerto Sedeno genannt, ans Land. Es ſtehen hier ein paar Häuſer beiſammen und dieſe führen den vornehmen Titel Villa. Alta Gracia, Ciudad de la Piedra, Real Corona, Borbon, lauter Villas zwiſchen dem Einfluß des Apure und Angoſtura, ſind ebenſo elend. Ich habe oben erwähnt, daß es bei den Präſidenten der Miſſionen und den Statthaltern der Provinzen Brauch war, wenn eben der Grund zu einer Kirche gelegt wurde, in Madrid für den Ort das Privilegium als Villa oder Ciudad nachzuſuchen. Man wollte damit das Miniſterium glauben machen, daß Bevölkerung und Wohlſtand in den Kolonieen — 143 — in raſcher Zunahme begriffen ſeien. Bei Caycara, am „Cerro del Tirano“, ſieht man Bilder von Sonne und Mond, wovon oben die Rede war, eingehauen. „Das iſt ein Werk der Alten“ (das heißt unſerer Väter), ſagen die Eingeborenen. Man verſichert, auf einem Fels weiter vom Ufer ab, Tecom a genannt, ſtehen die ſymboliſchen Figuren 30 m hoch. Die Indianer kannten früher einen Landweg von Caycara nach Demerary und Eſſequibo. Sind etwa die Völker, welche die vom Reiſenden Hortsmann beſchriebenen Bilder eingehauen, auf dieſem Wege an den See Amucu gekommen? Caycara gegenüber, am nördlichen Ufer des Orinoko, liegt die Miſſion Cabruta, die als vorgeſchobener Poſten gegen die Kariben im Jahre 1740 vom Jeſuiten Rotella an⸗ gelegt wurde. Schon ſeit mehreren Jahrhunderten hatten die Indianer an dieſem Fleck ein Dorf Namens Cabritu. Als der kleine Ort eine chriſtliche Niederlaſſung wurde, glaubt man, derſelbe liege unter dem 5. Grad der Breite, alſo um 2° 40“ weiter nach Süd, als ich durch direkte Beobachtungen in San Rafael und an der Mündung des Rio Apure ge— funden. Man hatte damals keinen Begriff davon, welche Richtung ein Landweg nach Nueva Valencia und Caracas haben müßte, von welchen Orten man ſich unendlich weit entfernt dachte. Ein Weib iſt zuallererſt von der Villa de San Juan Baptiſta del Pao über die Llanos nach Cabruta gegangen. Pater Gili erzählt, Donna Maria Bargas habe mit ſolcher Leidenſchaft an den Jeſuiten gehangen, daß ſie es unternahm, auf eigene Hand einen Weg in die Miſſionen zu ſuchen. Man wunderte ſich nicht wenig, als man ſie in Cabruta von Norden her ankommen ſah. Sie ließ ſich bei den Jüngern des heiligen Ignatius nieder und ſtarb in ihren Miſſionen am Orinoko. Von dieſer Zeit an bevölkerte ſich der ſüdliche Strich der Llanos ziemlich ſtark, und der Weg aus den Thälern von Aragua über Calabozo nach San er: nando de Apure und nach Cabruta iſt jetzt ſtark begangen. Am letzteren Ort hatte auch im Jahre 1754 der Befehlshaber der vielberufenen Grenzexpedition Werften angelegt und die Fahrzeuge zum Transport der Truppen an den oberen Ori⸗ noko bauen laſſen. Der kleine Berg nordöſtlich von Cabruta iſt ſehr weit in den Steppen ſichtbar und dient den Reiſenden als Landmarke. Wir ſchifften uns morgens in Caycara ein und fuhren mit der Strömung des Orinoko zuerſt am Einfluſſe des Rio — 14 — Cuchivero, dahin eine alte Sage die Aikeam-benanos oder Weiber ohne Männer verſetzt, dann am kleinen Dorf Alta Gracia, nach einer ſpaniſchen Stadt ſo genannt, vorüber. Hier in der Nähe hatte Don Joſe de Iturriaga den Pueblo de Ciudad Real angelegt, der noch auf den neueſten Karten vorkommt, obgleich der Ort wegen der un— geſunden Lage ſeit 50 Jahren gar nicht mehr beſteht. Unterhalb der Stelle, wo ſich der Orinoko gegen Oſt wendet, hat man fortwährend zur rechten Hand Wälder, zur linken die Llanos oder Steppen von Venezuela. Die Wälder, die ſich am Strom hinziehen, ſind indeſſen nicht mehr ſo dicht, wie am oberen Orinoko. Die Bevölkerung nimmt merkbar zu, je näher man der Hauptſtadt kommt; man trifft wenige Indianer mehr, dagegen Weiße, Neger und Miſchlinge. Der Neger ſind nicht viele, und leider iſt hier, wie überall, die Armut ihrer Herren daran Schuld, daß ſie nicht beſſer be⸗ handelt werden und ihr Leben nicht mehr geſchont wird. Ein Einwohner von Caycara, Va, war vor kurzem zu vier: jährigem Gefängnis und 100 Piaſtern Geldbuße verurteilt worden, weil er in der Zornwut eine Negerin mit den Bei— nen an den Schweif ſeines Pferdes gebunden und ſie im vollen Galopp über die Savanne geſchleift hatte, bis ſie vor Schmerz den Geiſt aufgab. Mit Vergnügen bemerke ich, daß die Audiencia allgemein getadelt wurde, weil ſie eine ſo ſchändliche Behandlung nicht härter beſtraft habe. Nur einige wenige Perſonen (und zwar gerade die, welche ſich für die aufgeklärteſten 5 klügſten hielten) meinten, einen Weißen zu beſtrafen, während die Schwarzen auf San Domingo in offenem Aufſtand begriffen ſeien, erſcheine nicht als ſtaats— klug. Wenn Inſtitutionen, die ſich verhaßt gemacht haben, bedroht ſind, fehlt es nie an Leuten, die zu Aufrechterhaltung derſelben den Rat geben, daran feſtzuhalten, wenn ſie auch der Gerechtigkeit und der Vernunft noch fo offen wider: ſprächen. Seit ich von dieſen Ländern Abſchied genommen, hat der Bürgerkrieg den Sklaven die Waffen in die Hände gegeben, und nach einer ſchrecklichen Erfahrung haben es die Einwohner von Venezuela zu bereuen, daß ſie nicht auf die Stimme Don Domingo Tovars und anderer hochherziger Bürger gehört, die 1 im Jahre 1795 im Cabildo von Caracas ſich laut gegen die weitere Einführung von Negern ausgeſprochen u ittel, ihre Lage zu verbeſſern, in Bor: ſchlag gebracht haben. — 145 — Nachdem wir am 10. Juni auf einer Inſel mitten im Strom (ich glaube auf der, welche bei Pater Caulin Acaru heißt) die Nacht zugebracht, fuhren wir an der Mündung des Rio Caura vorüber, der neben dem Aruy und Carony der größte Nebenfluß des unteren Orinoko von rechts her iſt. Da ich während meines Aufenthalts in den Miſſionen der Franziskaner viel geographiſches Material über den Caura ſammeln konnte, habe ich eine Spezialkarte desſelben ent— worfen. Alle chriſtlichen Niederlaſſungen befinden ſich gegen: wärtig nahe an der Mündung des Fluſſes, und die Dörfer San Pedro, Aripao, Urbani und Guaraguaraico liegen nur wenige Meilen hinter einander. Das erſte iſt das volkreichſte und hat doch nur 250 Seelen; San Luis de Guaraguaraico iſt eine Kolonie freigelaſſener oder flüchtiger Neger vom Eſſe— quibo und verdient Aufmunterung von ſeiten der Regierung. Die Verſuche, die Sklaven an den Boden zu feſſeln und ſie als Pächter der Früchte ihrer Arbeit als Landbauer genießen zu laſſen, ſind höchſt empfehlenswert. Der zum großen Teil noch unberührte Boden am Rio Caura iſt ungemein frucht— bar; man findet dort Weiden für mehr als 15000 Stück Vieh; aber den armen Anſiedlern fehlt es gänzlich an Pfer— den und an Hornvieh. Mehr als ſechs Siebenteile der Ufer— ſtriche am Caura liegen wüſte oder ſind in den Händen wilder, unabhängiger Stämme. Das Flußbett wird zweimal durch Felſen eingeengt, und an dieſen Stellen ſind die Raudales Mura und Para oder Paru; letzterer hat einen Trageplatz, weil die Pirogen nicht darüber gehen können. Bei der Grenzexpedition war am nördlichen Katarakt, dem von Mura, eine kleine Schanze angelegt worden. Der Statthalter Don Manuel Centurion hatte alsbald ein paar Häuſern, welche ſpaniſche (das heißt nicht indianiſche) Familien, Weiße und Mulatten, bei der Schanze gebaut, den Titel Ciudad de San Carlos gegeben. Südlich vom Katarakt Para, ge— rade am Einfluſſe des Erevato in den Caura, lag damals die Miſſion San Luis und von da führte ein Landweg nach der Hauptſtadt Angoſtura. Alle dieſe Civiliſationsverſuche führten zu nichts. Oberhalb des Raudals von Mura ſteht kein Dorf mehr, und die Eingeborenen haben ſozuſagen das Land wieder zurückerobert. Indeſſen kann das Thal des Caura wegen ſeines reichen Ertrags, und wegen der leichten Ver— bindung mit dem Rio Ventuari, dem Carony und Cuyuni, eines Tages von großer Bedeutung werden. Ich habe oben A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 10 — 146 — auseinandergeſetzt, wie wichtig die vier Flüſſe ſind, die von den Gebirgen der Parime in den Orinoko gehen. In der Nähe der Mündung des Caura, zwiſchen den Dörfern San Pedro de Alcantara und San Francisco de Aripao, bildete ſich im Jahre 1792 durch einen Erdfall und infolge eines Erdbebens ein kleiner See von 580 m Durchmeſſer. Ein Stück Wald bei Aripao ſenkte ſich 26 bis 32 m unter das Niveau des anſtoßenden Bodens. Die Bäume blieben mehrere Monate grün; man glaubte ſogar, manche haben unter Waſſer Blätter getrieben. Dieſe Erſcheinung verdient um ſo mehr Beachtung, da der Boden dort wahrſcheinlich Granit iſt. Ich bezweifle, daß die ſekundären Formationen der Llanos ſich ſüdwärts bis zum Thale des Caura erſtrecken. Am 11. Juni landeten wir, um Sonnenhöhen aufzu— nehmen, am rechten Orinokoufer beim Puerto de los Frailes, 13,5 km oberhalb Ciudad de la Piedra. Der Punkt liegt unter 67° 26“ 20“ der Länge oder 1° 41° oft: wärts vom Einfluß des Apure. Weiterhin zwiſchen den Villas de la Piedra und Muitqco oder Real Corona kommt der Torno und der Höllenſchlund, zwei Punkte, die früher von den Schiffern gefürchtet wurden. Der Orinoko ändert auf einmal ſeine Richtung; er fließt anfangs nach Oſt, dann nach Nord-Nord-Weſt und endlich wieder nach Oſt. Etwas oberhalb des Cano Marapiche, der am nördlichen Ufer ber: einkommt, teilt eine ſehr lange Inſel den Fluß in zwei Arme. Wir fuhren ohne Schwierigkeit ſüdwärts an derſelben vorbei; gegen Norden bildet eine Reihe kleiner, bei hohem Waſſer halb bedeckter Felſen Wirbel und Stromſchnellen. Dies heißt nun Boca del Infierno und der Raudal von Camiſeta. Durch Diego de Ordaz' (1531) und Alonzo de Herreras (1535) erſte Expeditionen wurde dieſe Stromſperre vielberufen. Die großen Katarakte von Atures und Maypures kannte man nicht und mit den plumpen Fahrzeugen (Vergantines), mit denen man eigenſinnig den Strom hinauf wollte, war ſehr ſchwer über die Stromſchnellen zu kommen. Gegenwärtig fährt man den Orinoko zu jeder Jahreszeit von der Mün— dung bis zum Einfluſſe des Apure und des Meta ohne Be— ſorgnis auf und ab. Die einzigen Fälle auf dieſer Strecke ſind die beim Torno oder Camiſeta, bei Marimara und bei Cariven oder Carichana Vieja. Keines dieſer drei Hinder— niſſe iſt zu fürchten, wenn man erfahrene indianiſche Steuer— leute hat. Ich gehe auf dieſe hydrographiſchen Angaben darum PP — 147 — ein, weil die Verbindung zwiſchen Angoſtura und den Ufern des Meta und des Apure, welche zum Oſtabhang der Kor— dilleren von Neugranada führen, jetzt in politiſcher und kommerzieller Beziehung von großem Belang iſt. Die Fahrt auf dem unteren Orinoko von der Mündung bis zur Provinz Varinas iſt allein wegen der ſtarken Strömung beſchwerlich. Im Flußbett ſelbſt ſind nirgends ſtärkere Hinderniſſe zu über— winden, als auf der Donau zwiſchen Wien und Linz. Große Felsſchwellen, eigentliche Waſſerfälle kommen erſt oberhalb des Meta. Daher bildet auch der obere Orinoko mit dem Caſſiquiare und dem Rio Negro ein beſonderes Flußſyſtem, das dem induſtriellen Leben in Angoſtura und auf dem Küſtenland von Caracas noch lange fremd bleiben wird. Ich konnte auf einer Inſel mitten in der Boca del In— fierno, wo wir unſere Inſtrumente aufgeſtellt hatten, Stun: denwinkel der Sonne aufnehmen. Der Punkt liegt nach dem Chronometer unter 67° 10° 31” der Länge. Ich wollte die Inklination der Magnetnadel und die Intenſität der Kraft beobachten, aber ein Gewitterregen vereitelte den Verſuch. Da der Himmel nachmittags wieder heiter wurde, ſchlugen wir unſer Lager auf einem breiten Geſtade am ſüdlichen Ufer des Orinoko, beinahe im Meridian der kleinen Stadt Muitaco oder Real Corona, auf. Mittels dreier Sterne fand ich die Breite 8° 0° 26“, die Länge 675, 19“. Als die Obſervanten im Jahre 1752 ihre erſten Entradas auf das Gebiet der Ka— riben machten, bauten ſie an dieſem Punkt ein kleines Fort oder eine Casa fuerte. Durch den Umſtand, daß die hohen Gebirge von Araguacais ſo nahe liegen, iſt Muitaco einer der geſundeſten Orte am unteren Orinoko. Hier ſchlug Itur— riaga im Jahre 1756 ſeinen Wohnſitz auf, um ſich von den Strapazen der Grenzexpedition zu erholen, und da er ſeine Geneſung dem mehr heißen als feuchten Klima zuſchrieb, er— hielt die Stadt oder vielmehr das Dorf Real Corona den Namen Pueblo del puerto sano. Weiterhin gegen Oſt ließen wir nordwärts den Einfluß des Rio Pao, ſüdwärts den des Rio Arui. Letzterer Fluß iſt ziemlich bedeutend; er kommt in Raleghs Berichten häufig vor. Lange ließen die Geo— graphen den Aroy oder Arvi (Arui), den Caroli (Carony) und den Coari (Caura) aus dem vielberufenen See Caſſipa entſpringen, der ſpäter der Laguna del Dorado Platz machte. Je weiter wir abwärts kamen, deſto langſamer wurde die Strömung des Orinoko. Ich maß mehrmals am Ufer eine — 148 — Linie ab, um zu beſtimmen, wie viel Zeit ſchwimmende Körper brauchten, um eine bekannte Strecke zurückzulegen. Oberhalb Alta Gracia, beim Einfluß des Rio Ujape, hatte ich 74 em in der Sekunde gefunden; zwiſchen Muitaco und Borbon war die Geſchwindigkeit nur noch 54 em. Aus den barometriſchen Meſſungen in den benachbarten Steppen geht hervor, um wie wenig der Boden vom 69. Grade der Länge bis zur Oſtküſte von Guyana fällt. Muitaco war der letzte Ort, wo wir am Ufer des Orinoko die Nacht unter freiem Himmel zubrachten; wir fuhren noch zwei Nächte durch, ehe wir unſer Reiſeziel, Angoſtura, erreichten. Eine ſolche Fahrt auf dem Thalweg eines großen Stroms iſt ungemein bequem: man hat nichts zu fürchten außer den natürlichen Flößen aus Bäumen, die der Fluß, wenn er austritt, von den Ufern abreißt. In dun⸗ keln Nächten ſcheitern die Pirogen an dieſen ſchwimmenden Eilanden wie an Sandbänken. Nur ſchwer vermöchte ich das angenehme Gefühl zu ſchildern, mit dem wir in Angoſtura, der Hauptſtadt von Spa— niſch-Guyana, das Land betraten. Die Beſchwerden, denen man in kleinen Fahrzeugen zur See unterworfen iſt, ſind nichts gegen das, was man auszuſtehen hat, wenn man unter einem glühenden Himmel, in einem Schwarm von Moskiten, monatelang in einer Piroge liegen muß, in der man ſich wegen ihrer Unſtätigkeit gar keine Bewegung machen kann. Wir Ballen in 75 Tagen auf den fünf großen Flüſſen Apure, Orinoko, Atabapo, Rio Negro und Caſſiquiare 2250 km zu: rückgelegt, und auf dieſer ungeheuren Su nur ſehr wenige Orte angetroffen. Obgleich nach unſerem Leben in den Wäl— dern unſer Anzug nichts weniger als gewählt war, ſäumten wir doch nicht, uns Don Felipe de Ynciarte, dem Statthalter der Provinz Guyana, vorzuſtellen. Er nahm uns auf das zuvorkommendſte auf und wies uns beim Sekretär der In— fenden unſere Wohnung an. Da wir aus faſt menſchen— leeren Ländern kamen, fiel uns das Treiben in einer Stadt, die keine 6000 Einwohner hat, ungemein auf. Wir ſtaunten an, was Gewerbfleiß und Handel dem civiliſierten Menſchen an Bequemlichkeit bieten; beſcheidene Wohnräume kamen uns prachtvoll vor, wer uns anredete, erſchien uns geiſtreich. Nach langer Entbehrung gewähren Kleinigkeiten hohen Genuß, und mit unbeſchreiblicher Freude ſahen wir zum erſtenmal wieder Weizenbrot auf der Tafel des Statthalters. Vielleicht brauchte ich nicht bei Empfindungen zu verweilen, die jedem, der weite — 149 — Reiſen gemacht hat, wohl bekannt find. Sich wieder im Schoße der Kultur zu wiſſen, iſt ein großer Genuß, aber er hält nicht lange an, wenn man für die Wunder der Natur im heißen Erdſtrich ein lebendiges Gefühl hat. Die überſtan— denen Beſchwerden ſind bald vergeſſen, und kaum iſt man auf der Küſte, auf dem von den ſpaniſchen Koloniſten bewohnten Boden, ſo entwirft man den Plan, wieder ins Binnenland zu gehen. Ein ſchlimmer Umſtand nötigte uns, einen ganzen Monat in Angoſtura zu verweilen. In den erſten Tagen nach un— ſerer Ankunft fühlten wir uns matt und ſchwach, aber voll— kommen geſund. Bonpland fing an, die wenigen Pflanzen zu unterſuchen, welche er vor den Wirkungen des feuchten Klimas hatte ſchützen können; ich war beſchäftigt, Länge und Breite der Hauptitadt ! zu beſtimmen und die Inklination der Magnetnadel zu beobachten. Aber nicht lange, ſo wurden wir in der Arbeit unterbrochen; faſt am ſelben Tage befiel uns eine Krankheit, die bei meinem Reiſegefährten den Charakter eines ataktiſchen Fiebers annahm. Die Luft war zur Zeit in Angoſtura vollkommen geſund, und da ſich bei dem ein— zigen Diener, den wir von Cumana mitgebracht, die Vor— boten desſelben Uebels einſtellten, ſo zweifelte unſere Um— gebung, von der wir aufs ſorgfältigſte gepflegt wurden, nicht daran, daß wir den Keim des Typhus aus den feuchten Wäl— dern am Caſſiquiare mitgebracht. Es kommt häufig vor, daß ſich bei Reiſenden die Folgen der Miasmen erſt dann äußern, wenn ſie wieder in reinerer Luft ſind und ſich zu erholen anfangen. Eine gewiſſe geiſtige Anſpannung kann eine Zeit: lang die Wirkung krankmachender Urſachen hinausſchieben. Da unſer Diener dem heftigen Regen weit mehr als wir ausgeſetzt geweſen war, entwickelte ſich die Krankheit bei ihm furchtbar raſch. Seine Kräfte lagen ſo danieder, daß man uns am neunten Tage ſeinen Tod meldete. Es war aber nur eine mehrſtündige Ohnmacht, auf die eine heilſame Kriſe ein— trat. Zur ſelben Zeit wurde auch ich von einem ſehr hef— tigen Fieber befallen; man gab mir mitten im Anfall ein Gemiſch von Honig und Extrakt der China vom Rio Carony 1 Die Hauptkirche von Santo Tome de la Nueva Guyana, gemeiniglich Angoſtura oder der Engpaß genannt, liegt nach meinen Beobachtungen unter 8° 8° 11“ der Breite und 66° 15“ 21“ der Länge. — 150 — (Extractum corticis Angosturae). Es iſt dies ein Mittel, das die Kapuziner in den Miſſionen höchlich preiſen. Das Fieber wurde darauf ſtärker, hörte aber gleich am anderen Tage auf. Bonplands Zuſtand war ſehr bedenklich, und wir ſchwebten mehrere Wochen in der höchſten Beſorgnis. Zum Glück behielt der Kranke Kraft genug, um ſich ſelbſt behan— deln zu können. Er nahm gelindere, ſeiner Konſtitution an— gemeſſenere Mittel als die China vom Rio Carony. Das Fieber war anhaltend und wurde, wie faſt immer unter den Tropen, durch eine Komplikation mit Ruhr noch geſteigert. Während der ganzen ſchmerzhaften Krankheit behielt Bonpland die Charakterſtärke und die Sanftmut, die ihn auch in der ſchlimmſten Lage niemals verlaſſen haben. Mich ängſtigten trübe Ahnungen. Der Botaniker Löffling, ein Schüler Linnes, war nicht weit von Angoſtura, am Ufer des Carony, ein Opfer ſeines Eifers für die Naturwiſſenſchaft geworden. Wir hatten noch kein volles Jahr im heißen Erdſtrich zuge— bracht, und mein nur zu treues Gedächtnis vergegenwärtigte mir alles, was ich in Europa über die Gefährlichkeit der Luft in den Wäldern geleſen hatte. Statt den Orinoko hinaufzu— fahren, hätten wir ein paar Monate im gemäßigten, geſunden Klima der Sierra Nevada von Merida zubringen können. Den Weg über die Flüſſe hatte ich ſelbſt gewählt, und in der Gefahr, in der mein Reiſegefährte ſchwebte, erblickte ich die unſelige Folge dieſer unvorſichtigen Wahl. Nachdem das Fieber in wenigen Tagen einen ungemeinen Grad von Heftigkeit erreicht hatte, nahm es einen weniger beunruhigenden Charakter an. Die Entzündung des Darm— kanals wich auf die Anwendung erweichender Mittel, wozu Malvenarten dienten. Die Sida- und Melochia-Arten ſind im heißen Erdſtrich ungemein wirkſam. Indeſſen ging es mit der Wiedergeneſung des Kranken ſehr langſam, wie immer bei noch nicht ganz akklimatiſierten Europäern. Die Regenzeit dauerte noch immer an, und an die Küſte von Cumana zurück mußten wir wieder über die Llanos, wo man auf halbüber— ſchwemmtem Boden ſelten ein Obdach und etwas anderes als an der Sonne gedörrtes Fleiſch zu eſſen findet. Um nicht Bonpland einem gefährlichen Rückfall auszuſetzen, beſchloſſen wir bis zum 10. Juli in Angoſtura zu bleiben. Wir brachten dieſe Zeit zum Teil auf einer Pflanzung! in der Nachbar: Trapiche, Eigentum von Don Felix Ferreras. — 151 — ſchaft zu, wo Mangobäume und Brotfruchtbäume! gezogen werden. Letztere waren im ſechſten Jahr bereits über 13 m hoch. Manche Artokarpusblätter, die wir maßen, waren 92 em lang und 48 em breit, bei einem Gewächs aus der Familie der Dikotyledonen eine ſehr auffallende Größe. Ich beſchließe dieſes Kapitel mit einer kurzen Beſchrei— bung des ſpaniſchen Guyana (Provincia de la Guyana), welche einen Teil der alten Capitania general von Caracas ausmacht. Nachdem ich ausführlich berichtet, was die Flüſſe Apure, Orinoko, Atabapo, Rio Negro und Caſſiquiare an Momenten zur Geſchichte unſeres Geſchlechts und an Natur— erzeugniſſen Bemerkenswertes bieten, erſcheint es von Wert, dieſe zerſtreuten Züge zuſammenzufaſſen und ein allgemeines Bild eines Landes zu entwerfen, das einer großen Zukunft entgegengeht und ſchon jetzt die Augen Europas auf ſich zieht. Ich beſchreibe zuerſt die Lage von Angoſtura, der jetzigen Hauptſtadt der Provinz, und verfolge dann den Orinoko bis zum Delta, das er an ſeiner Mündung bildet. Ich entwickle darauf den wahren Lauf des Rio Carony, an deſſen frucht— baren Ufern die Mehrzahl der indianiſchen Bevölkerung der Provinz lebt, und beweiſe aus der Geſchichte der Geographie, wie die fabelhaften Seen entſtanden ſind, die ſo lange unſere Karten verunziert haben. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts haben hinter— einander drei Städte den Namen Santo Tome de la Guyana geführt. Die erſte lag der Inſel Faxardo gegen— über beim Einfluſſe des Carony in den Orinoko; ſie wurde von den Holländern unter dem Befehl des Kapitäns Adrian Janſon im Jahre 1579 zerſtört. Die zweite, gegründet im Jahre 1591 von Antonio de Berrio, etwa 54 km oſtwärts vom Einfluſſe des Carony, wehrte ſich mutig gegen Sir Walter Ralegh, den die ſpaniſchen Geſchichtſchreiber der Eroberung nur unter dem Namen des Korſaren Reali kennen. Die dritte Stadt, der jetzige Hauptort der Provinz, liegt 234 km weſtwärts vom Einfluſſe des Carony. Sie wurde im Jahre 1764 unter dem Statthalter Don Juaquin Moreno de Men— doza angelegt, und man unterſcheidet ſie in den offiziellen Schriftſtücken von der zweiten Stadt, die gewöhnlich die Feſtung (el eastillo oder las fortalezas) oder Altguyana (Vieja Guyana) heißt, als Santo Tome de la Nueva Guyana. Artocarpus incisa. — 12 — Da dieſer Name ſehr lang iſt, ſo ſagt man dafür im gemeinen Leben Angoſtura (Engpaß). Die Bevölkerung dieſer Län: der weiß kaum, daß die Namen Santiago de Leon und Santo Tome auf unſeren Karten die beiden Hauptſtädte von Bene: zuela und Guyana bedeuten. Angoſtura, deſſen Länge und Breite ſich nach aſtronomi— ſchen Beobachtungen ſchon oben angegeben, lehnt ſich an einen kahlen Hügel von Hornblendeſchiefer. Die Straßen ſind ge— rade und laufen meiſt dem Strome parallel. Viele Häuſer ſtehen auf dem nackten Fels, und hier, wie in Carichana und in manchen Miſſionen, glaubt man, daß durch die ſchwarzen ſtark von der Sonne erhitzten Flächen die Luft ungeſund werde. Für gefährlicher halte ich die Lachen ſtehenden Waſſers (Lagunas y anegadizos), die hinter der Stadt gegen Südoſt ſich hinziehen. Die Häuſer in Angoſtura ſind hoch, angenehm und meiſtens aus Stein. Dieſe Bauart beweiſt, daß man ſich hierzulande vor den Erdbeben nicht ſehr fürchtet; leider gründet ſich aber dieſe Sicherheit keineswegs auf einen Schluß aus zuverläſſigen Beobachtungen. Im Küſtenland von Neu— andaluſien ſpürt man allerdings zuweilen ſehr ſtarke Stöße, die ſich nicht über die Llanos hinüber fortpflanzen. Von der furchtbaren Kataſtrophe in Cumana am 4. Februar 1797 fühlte man in Angoſtura nichts, aber beim großen Erdbeben vom Jahre 1766, das jene Stadt gleichfalls zerſtörte, wurde der Granitboden beider Orinokoufer bis zu den Katarakten von Atures und Maypures erſchüttert. Südlich von denſelben ſpürt man zuweilen Stöße, die ſich auf das Becken des oberen Orinoko und des Rio Negro beſchränken. Dieſelben ſcheinen von einem vulkaniſchen Herd auszugehen, der von dem auf den Kleinen Antillen weit abliegt. Nach den Angaben der Miſſionäre in Javita und San Fernando de Atabapo waren im Jahr 1798 zwiſchen dem Guaviare und dem Rio Negro ſehr ſtarke Erdbeben, die nordwärts, Maypures zu, nicht Daß es eine Stadt Angoſtura gebe, erfuhr man in Europa durch den Handel der Katalonier mit der China vom Rio Carony, welche die heilkräftige Rinde der Bonplandia trifoliata iſt. Da dieſe Rinde von Nueva Guyana kam, ſo nannte man ſie Corteza oder Cascarilla del Angostura, Cortex An- gosturae. Die Botaniker wußten jo wenig, woher dieſe geo— graphiſche Benennung rührte, daß ſie anfangs Anguſtura und dann Auguſta ſchrieben. — 13 — mehr geſpürt wurden. Man kann nicht aufmerkſam genug alles beachten, was die Gleichzeitigkeit der Bodenſchwingungen und die Unabhängigkeit derſelben auf zuſammenhängenden Landſtrichen betrifft. Alles weiſt darauf hin, daß die Be— wegung ſich nicht an der Oberfläche fortpflanzt, ſondern durch ſehr tiefe Spalten, die in verſchiedene Herde auslaufen. Die Umgebung der Stadt Angoſtura bietet wenig Ab— wechſelung; indeſſen iſt die Ausſicht auf den Strom, der einen ungeheuren von Südweſt nach Nordoſt laufenden Kanal dar: ſtellt, höchſt großartig. Nach einem langen Streit über die Verteidigung des Platzes und die Kanonenſchußweite wollte die Regierung genau wiſſen, wie breit der Strom bei dem Punkte ſei, welcher der Engpaß heißt, und wo ein Fels liegt (el Penon), der bei Hochwaſſer ganz bedeckt wird. Ob— gleich bei der Provinzialregierung ein Ingenieur angeſtellt iſt, hatte man wenige Monate vor meiner Ankunft in Angoſtura aus Caracas Don Matias Yturbur hergeſchickt, um den Ori— noko zwiſchen der geſchleiften Schanze San Gabriel und der Redoute San Rafael meſſen zu laſſen. Ich hörte in nicht zuverläſſiger Weiſe, bei dieſer Meſſung haben ſich etwas über 800 varas castellanas (669 m) ergeben. Der Stadtplan, welcher der großen Karte von Südamerika von La Cruz Ol— medilla beigegeben iſt, gibt 940 (785 m) an. Ich ſelbſt habe den Strom zweimal ſehr genau trigonometriſch gemeſſen, ein— mal beim Engpaß ſelbſt zwiſchen den beiden Schanzen San Gabriel und San Rafael, und dann oſtwärts von Angoſtura auf dem großen Spaziergang (Alameda) beim Embarcadero del ganado. Ich fand für den erſteren Punkt (als Minimum der Breite) 1130 m, für letzteren 955 m. Der Strom iſt alſo hier noch immer vier- bis fünfmal breiter als die Seine beim Pflanzengarten, und doch heißt dieſe Strecke am Ori⸗ noko eine Einſchnürung, ein Engpaß. Nichts gibt einen beſſeren Begriff von der Waſſermaſſe der großen Ströme Amerikas als die Dimenſionen dieſer ſogenannten Engpäſſe. Der Amazonenſtrom iſt nach meiner Meſſung beim Pong o de Rentema 423 m, beim Pongo de Manſeriche, nach La Condamine, 48 und beim Engpaß Pauxis 1750 m breit. Letzterer Engpaß iſt alſo beinahe ſo breit als der Orinoko im Engpaß beim Baraguan. Bei Hochwaſſer Wen unt der Strom die Quais, und Ich fand denſelben 1732 m breit. — 154 — es kommt vor, daß Unvorſichtige in der Stadt ſelbſt den Kro— kodilen zur Beute werden. Ich ſetze aus meinem Tagebuche einen Fall her, der während Bonplands Krankheit vorge— kommen. Ein Guaykari⸗Indianer von der Inſel Margarita wollte ſeine Piroge in einer Bucht anbinden, die nicht drei Fuß tief war. Ein ſehr wildes Krokodil, das immer in der Gegend herumſtrich, packte ihn beim Bein und ſchwamm vom Ufer weg, wobei es an der Oberfläche blieb. Das Geſchrei des Indianers zog eine Menge Zuſchauer herbei. Man ſah, wie der Unglückliche mit unerhörter Entſchloſſenheit zuerſt ein Meſſer in der Taſche ſeines Beinkleides ſuchte. Da er es nicht fand, packte er den Kopf des Krokodils und ſtieß ihm die Finger in die Augen. In den heißen Landſtrichen Ame— rikas iſt es jedermann bekannt, daß dieſes mit einem harten, trockenen Schuppenpanzer bedeckte fleiſchfreſſende Reptil an den wenigen weichen, nicht geſchützten Körperteilen, wie an den Augen, den Achſelhöhlen, den Naſenlöchern und unterhalb des Unterkiefers, wo zwei Biſamdrüſen ſitzen, ſehr empfindlich iſt. Der Guaykari ergriff das Mittel, durch das Mungo— Parks Neger und das Mädchen in Uritucu, von denen oben die Rede war, ſich gerettet; aber er war nicht ſo glücklich wie ſie, und das Krokodil machte den Rachen nicht auf, um ſeine Beute fahren zu laſſen. Im Schmerz tauchte aber das Tier unter, ertränkte den Indianer, erſchien wieder auf der Waſſerfläche und ſchleppte den Leichnam auf eine Inſel dem Hafen gegenüber. Ich kam im Moment an Ort und Stelle, wo viele Einwohner von Angoſtura das ſchreckliche Ereignis mit angeſehen hatten. Da das Krokodil vermöge des Baues ſeines Kehlkopfes, ſeines Zungenbeins und der Faltung ſeiner Zunge ſeine Beute unter Waſſer wohl packen, aber nicht verſchlingen kann, ſo verſchwindet ſelten ein Menſch, ohne daß man ganz nahe an der Stelle, wo das Unglück geſchehen, nach ein paar Stun— den das Tier zum Vorſchein kommen und am nächſten Ufer ſeine Beute verſchlingen ſieht. Weit mehr Menſchen, als man in Europa glaubt, werden alljährlich Opfer ihrer Un— vorſichtigkeit und der Gier der Reptilien. Es kommt beſon— ders in den Dörfern vor, deren Umgegend häufig überſchwemmt wird. Dieſelben Krokodile halten ſich lange am nämlichen Orte auf. Sie werden von Jahr zu Jahr kecker, zumal, wie die Indianer behaupten, wenn ſie einmal Menſchenfleiſch ge— koſtet haben. Die Tiere ſind ſo ſchlau, daß ſie ſehr ſchwer zu I > u — 15 — erlegen find. Eine Kugel dringt nicht durch ihre Haut, und der Schuß iſt nur dann tödlich, wenn er in den Rachen oder in die Achſelhöhle trifft. Die Indianer, welche ſich ſelten der Feuerwaffen bedienen, greifen das Krokodil mit Lanzen an, ſobald es an ſtarken, ſpitzen eiſernen Haken, auf die Fleiſch ge— ſteckt iſt und die mit einer Kette an einem Baumſtamm befeſtigt ſind, angebiſſen hat. Man geht dem Tier erſt dann zu Leibe, wenn es ſich lange abgemüht hat, um vom Eiſen, das ihm in der oberen Kinnlade ſteckt, loszukommen. Es iſt nicht wahrſcheinlich, daß man es je dahin bringt, das Land von Krokodilen zu ſäubern, da aus einem Labyrinth zahlloſer Flüſſe Tag für Tag neue Schwärme vom Oſtabhang der Anden über den Meta und den Apure an die Küſten von Spaniſch— Guyana herabkommen. Mit dem Fortſchritt der Kultur wird man es nur dahin bringen, daß die Tiere ſcheuer werden und leichter zu verſcheuchen ſind. Man erzählt rührende Fälle, wo afrikaniſche Sklaven ihr Leben aufs Spiel ſetzten, um ihren Herren das Leben zu retten, die in den Rachen eines Krokodils geraten waren. Vor wenigen Jahren ergriff zwiſchen Uritucu und der Miſſion de abaxo in den Llanos von Calabozo ein Neger auf das Geſchrei ſeines Herrn ein langes Meſſer (machete) und ſprang in den Fluß. Er ſtach dem Tiere die Augen aus und zwang es ſo, ſeine Beute fahren zu laſſen und ſich unter dem Waſſer zu verbergen. Der Sklave trug ſeinen ſterbenden Herrn ans Ufer, aber alle Verſuche, ihn wieder zum Leben zu bringen, blieben fruchtlos; er war ertrunken, denn ſeine Wunden waren nicht tief. Das Krokodil ſcheint, wie der Hund, beim Schwimmen die Kinnladen nicht feſt zu ſchließen. Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß die Kinder des Verſtorbenen, obgleich ſie ſehr arm waren, dem Sklaven die Freiheit ſchenkten. Für die Anwohner des Orinoko und ſeiner Nebenflüſſe ſind die Gefahren, denen ſie ausgeſetzt ſind, ein Gegenſtand der täglichen Unterhaltung. Sie haben die Sitten des Kroko— dils beobachtet, wie der Torero die Sitten des Stieres. Sie wiſſen die Bewegungen des Tieres, ſeine Angriffsmittel, den Grad ſeiner Keckheit gleichſam voraus zu berechnen. Sehen ſie ſich angegriffen, jo greifen ſie mit der Geiſtesgegenwart und Entſchloſſenheit, die den Indianern, den Zambos, über— haupt den Farbigen eigen ſind, zu all den Mitteln, die man ſie von Kindheit auf kennen gelehrt. In Ländern, wo die — 156 — katur jo gewaltig und furchtbar erſcheint, iſt der Menſch be ſtändig gegen die Gefahr gerüſtet. Wir haben oben erwähnt, was das junge indianiſche Mädchen ſagte, das ſich ſelbſt aus dem Rachen des Krokodils losgemacht: „Ich wußte, daß es mich fahren ließ, wenn ich ihm die Finger in die Augen drückte.“ Dieſes Mädchen gehörte der dürftigen Volksklaſſe an, wo die Gewöhnung an phyſiſche Not die moraliſche Kraft ſteigert; es iſt aber wahrhaft überraſchend, wenn man in von ſchrecklichen Erdbeben zerrütteten Ländern, auf der Hochebene von Quito, Frauen aus den höchſten Geſellſchaftsklaſſen im Augenblick der Gefahr dieſelbe Kaltblütigkeit, dieſelbe über— legte Entſchloſſenheit entwickeln ſieht. Ich gebe zum Beleg dafür nur ein Beiſpiel. Als am 4. Februar 1797 36000 Indianer in wenigen Minuten ihren Tod fanden, rettete eine junge Mutter ſich und ihre Kinder dadurch, daß ſie im Augenblick, wo der geborſtene Boden ſie verſchlingen wollte, ihnen zurief, die Arme auszuſtrecken. Als man gegen das mutige Weib Verwunderung über eine ſo außerordentliche Geiſtesgegenwart äußerte, erwiderte ſie ganz einfach: „Ich habe von Jugend auf gehört: überraſcht dich das Erdbeben im Hauſe, ſo ſtelle dich unter die Verbindungs— thür zwiſchen zwei Zimmern; biſt du im Freien und fühlſt du, daß der Boden unter dir ſich aufthut, ſo ſtrecke beide Arme aus und ſuche dich an den Rändern der Spalte zu halten.“ So iſt der Menſch in dieſen wilden oder häufigen Zerrüttungen unterworfenen Ländern gerüſtet, den Tieren des Waldes entgegenzutreten, ſich aus dem Rachen der Krokodile zu befreien, ſich aus dem Kampfe der Elemente zu retten. So oft in ſehr heißen und naſſen Jahren bösartige Fieber in Angoſtura herrſchen, ſtreitet man darüber, ob die Regierung wohl gethan, die Stadt von Vieja Guyana an den Engpaß zwiſchen der Inſel Maruanta und dem Einfluß des Rio Orocopiche zu verlegen. Man behauptet, der alten Stadt ſeien, da ſie näher an der See gelegen, die kühlen Seewinde mehr zu gute gekommen, und die große Sterblichkeit, die dort geherrſcht, ſei nicht ſowohl örtlichen Ur— ſachen als der Lebensweiſe der Einwohner zuzuſchreiben ge weſen. An den fruchtbaren, feuchten Ufern des Orinoko unter halb des Einfluſſes des Carony wachſen in überſchwenglicher Menge Waſſermelonen (Patillas), Bananen und Papayas.! 1 Die Frucht der Carica Papaya. — — 157 — Dieſe Früchte wurden roh gegeſſen, ſogar unreif, und da das Volk dem Genuß geiſtiger Getränke übermäßig ergeben war, ſo nahm infolge dieſer unordentlichen Lebensweiſe die Volks— zahl Jahr um Jahr ab. In den Archiven von Caracas liegen eine Menge Schriften, die davon handeln, daß die jeweilige Hauptſtadt von Guyana notwendig verlegt werden müſſe. Nach den mir mitgeteilten Aktenſtücken ſchlug man bald vor, wieder in die Fortaleza, das heißt nach Vieja Guyana zu ziehen, bald die Hauptſtadt ganz nahe an der großen Mün— dung des Orinoko (45 kin weſtwärts vom Kap Barima, am Einfluß des Rio Acquire) anzulegen, bald ſie 112 km unter: halb Angoſtura auf die Savanne zu ſtellen, auf der das Dorf San Miguel liegt. Es war allerdings eine engherzige Politik, wenn die Regierung glaubte, „zur beſſeren Verteidigung der Provinz den Hauptort in der ungeheuren Entfernung von 382 km von der See anlegen zu müſſen und auf dieſer Strecke keine Stadt erbauen zu dürfen, die den Einfällen des Feindes bloßgeſtellt wäre“. Zu dem Umſtand, daß europäiſche Fahrzeuge den Orinoko ſehr ſchwer bis Angoſtura hinauf— kommen (weit ſchwerer als auf dem Potomac bis Waſhington), kommt noch der andere für die Agrikulturinduſtrie ſehr nach— teilige, daß der Mittelpunkt des Handels oberhalb der Stelle liegt, wo die Ufer des Stromes den Fleiß des Koloniſten am meiſten lohnen. Es iſt nicht einmal richtig, daß die Stadt Angoſtura oder Santo Tome de la Nueva Guyana da an— gelegt worden, wo im Jahr 1764 das bebaute Land anfing; damals wie jetzt war die Hauptmaſſe der Bevölkerung von Guyana in den Miſſionen der kataloniſchen Kapuziner zwiſchen den Flüſſen Carony und Cuyuni. Nun iſt aber dieſes Ge— biet, das wichtigſte in der ganzen Provinz, wo ſich der Feind Hilfsmittel aller Art verſchaffen kann, eben durch Vieja Guyana geſchützt — oder man nimmt dies doch an — in keiner Weiſe aber durch die Werke der neuen Stadt Angoſtura. Die in Vorſchlag gebrachte Stelle bei San Miguel liegt ein Stück oſtwärts vom Einfluß des Carony, alſo zwiſchen der See und dem bevölkertſten Landſtriche. Legt man den Haupt— ort der Provinz noch weiter unten, ganz nahe am Ausfluß des Orinoko an, wie de Pons will, ſo hat man weniger von der Nähe der Kariben zu beſorgen, die man ſich leicht vom Leibe hielte, als vom Umſtand, daß der Feind über die kleinen weſtlichen Mündungen des Orinoko, die Canos Macareo und Manamo, den Platz umgehen und in das Innere der Provinz — 18 — vordringen könnte. Bei einem Fluſſe, deſſen Delta ſchon 205 km von der See den Anfang nimmt, kommen, wenn es ſich von der Anlage einer großen Stadt handelt, zwei Inter— eſſen ins Spiel, die militäriſche Verteidigung und die Rück— ſicht auf Handel und Ackerbau. Der Handel verlangt, daß die Stadt ſo nahe als möglich bei der großen Mündung, der Boca de Navios liege; aus dem Geſichtspunkt der militäriſchen Sicherung ſtände ſie beſſer oberhalb des Beginns des Deltas, weſtlich vom Punkt, wo der Cano Manamo vom Hauptſtrome abgeht und durch mannigfache Verzweigungen mit den acht kleinen Mündungen (Bocas chicas) zwiſchen der Inſel Cang— rejos und der Mündung des Rio Guarapiche in Verbindung ſteht. Die Lage von Vieja wie von Nueva Guyana entſpricht der letzteren Bedingung. Die der alten Stadt hat noch den weiteren Vorteil, daß ſie in gewiſſem Grade die ſchönen Nie— derlaſſungen der kataloniſchen Kapuziner am Carony deckt. Man könnte dieſelben angreifen, wenn man vom rechten Ufer des Brazo Imataca ans Land ginge; aber die Mündung des Carony, in der die Pirogen die Unruhe des Waſſers von den nahen Katarakten her (Salto de Carony) ſpüren, tft durch die Werke von Altguyana verteidigt. Ich bin bei dieſer Erörterung ins einzelne gegangen, weil dieſe dünn bevölkerten Länder durch die politiſchen Er— eigniſſe in neueſter Zeit große Wichtigkeit erhalten haben. Ich habe die verſchiedenen Pläne beſprochen, ſoweit ich bei meiner Lage und meinem Verhältnis zur ſpaniſchen Regierung die Oertlichkeiten am unteren Orinoko habe kennen lernen. Es iſt Zeit, daß man der in den ſpaniſchen und portugieſi— ſchen Kolonieen herrſchenden Sucht, Städte zu verſetzen wie Nomadenlager, entgegentritt. Nicht als ob die Gebäude in Angoſtura zu bedeutend und zu feſt wären, als daß man an eine Zerſtörung der Stadt denken könnte; bei ihrer Lage am Fuße eines Felſens ſcheint ſie ſich ſchwer weiter ausdehnen zu können; aber trotz dieſer Uebelſtände läßt man doch lieber ſtehen, was ſeit fünfzig Jahren gediehen iſt. Unmerklich ver: knüpft ſich mit der Exiſtenz einer Hauptſtadt, ſo klein ſie auch ſein mag, das Bewußtſein geſicherter öffentlicher Zuſtände, und wenn das Handelsintereſſe eine teilweiſe Abänderung durchaus verlangt, jo könnte man ja ſpäter, während Ango ſtura der Sitz der Verwaltung und der Mittelpunkt der Ge⸗ ſchäfte bliebe, näher an der großen Mündung des Orinoko einen anderen Hafen anlegen. So iſt ja Guayra der Stapel— — 159 — platz von Caracas, und ſo mag eines Tages Veracruz der Hafen von Xalapa werden. Die Fahrzeuge aus Europa und aus den Vereinigten Staaten, die mehrere Monate in dieſen Strichen verweilen, könnten, wenn ſie wollten, bis Angoſtura hinauf gehen, die anderen nähmen ihre Ladung im Hafen zunächſt der Punta Barima ein, wo ſich in Friedenszeit die Magazine, die Seilerbahnen und die Werfte befänden. Zur Deckung des Landes zwiſchen der Hauptſtadt und dem Stapel— platz oder dem Puerto de la Boca grande gegen einen feind— lichen Einfall befeſtigte man die Ufer des Orinoko nach einem dem Terrain angepaßten Verteidigungsſyſtem, etwa bei ma: taca oder Zacupana, bei Barrancas oder San Rafael (an der Stelle, wo der Caſo Manama vom Hauptſtrom abgeht), bei Vieja Guyana, bei der Inſel Faxardo (dem Einfluß des Carony gegenüber) und beim Einfluß des Mamo. In dieſe Werke, die ohne große Koſten zu beſchaffen wären, flüchteten ſich auch die Kanonierſchaluppen, die an den Punkten ſtatio— niert ſind, welche die feindlichen Fahrzeuge, wenn ſie gegen die Strömung heraufſegeln, in Sicht haben müſſen, um neue Schläge zu machen. Dieſe Verteidigungsmittel ſcheinen mir um ſo dringender geboten, da ſie nur zu lange vernachläſſigt worden ſind.! Die Nordküſten von Südamerika ſind größtenteils durch eine Bergkette gedeckt, die von Weſt nach Oſt ſtreichend zwi— ſchen dem Uferſtrich und den Llanos von Neuandaluſien, Bar— celona, Venezuela und Varinas liegt. Dieſe Küſten haben die Aufmerkſamkeit des Mutterlandes wohl zu ausſchließlich in Anſpruch genommen: dort liegen ſechs feſte Plätze mit ſchönem, zahlreichem Geſchütz, nämlich Cartagena, San Carlos de Maracaybo, Porto Cabello, La Guayra, der Moro de Nueva Barcelona und Cumana. Die Oſtküſten von Spaniſch-Amerika, die von Guyana und Buenos Ayres ſind niedrig und ohne Schutz; einem unternehmenden Feinde fällt es nicht ſchwer, ins Innere des Landes bis zum Oſtabhange der Kordilleren von Neugranada und Chile vorzudringen. Die Richtung des Man ſollte es kaum glauben, daß während meines Auf— enthaltes in Angoſtura die Geſamtverteidigungsmittel der Provinz aus 7 Lanchas canoneras und 600 Mann aller Farben und Waffen— gattungen beſtanden, eingerechnet die ſogenannten Garniſonen der vier Grenzforts, der Destacamentos von Nueva Guyana, San Carlos del Rio Negro, Guirior und Cuyuni, — 160 — Rio de la Plata, der durch den Uruguay, Parana und Pa⸗ raguay gebildet wird, nötigt das angreifende Heer, wenn es oſtwärts vordringen will, über die Steppen (Pampas) bis Cordova oder Mendoza zu ziehen; aber nördlich vom Aequa— tor, in Spaniſch-Guyana bietet der Lauf des Orinoko? und ſeiner beiden großen Nebenflüſſe Apure und Meta in der Richtung eines Parallelkreiſes eine Waſſerſtraße, auf der ſich Munition und Lebensmittel leicht fortbringen laſſen. Wer Herr von Angoſtura iſt, dringt nach Gefallen nordwärts in die Steppen von Cumana, Barcelona und Caracas, nordweſt— wärts in die Provinz Varinas, weſtwärts in die Provinzen am Caſanare bis an den Fuß der Gebirge von Pamplona, Tunja und Santa Fs de Bogota vor. Zwiſchen der Provinz Spaniſch-Guyana und dem reichen, ſtark bevölkerten, gut an— gebauten Uferſtriche liegen nur die Niederungen am Orinoko, Apure und Meta. Die feſten Plätze (Cumana, La Guayra und Porto Cabello) ſchützen dieſe Länder kaum vor einer Landung an der Nordküſte. An dieſen Angaben über die Bodenbildung und die gegenwärtige Verteilung der feſten Punkte mag es genügen. Man erſieht daraus wohl hinläng— lich, daß zur politiſchen Sicherung der vereinigten Provinzen Caracas und Neugranada eine Deckung der Orinokomündungen unumgänglich iſt, und daß Spaniſch-Guyana, obgleich kaum urbar gemacht und ſo dünn bevölkert, im Kampfe zwiſchen den Kolonieen und dem Mutterlande eine große Bedeutung erlangt. Dieſe militäriſche Bedeutung des Landes erkannte der berühmte Ralegh ſchon vor 200 Jahren. Im Berichte über ſeine erſte Expedition kommt er öfters darauf zurück, wie leicht es der Königin Eliſabeth wäre, „auf dem Orinoko und den zahlloſen Flüſſen, die ſich in denſelben ergießen“, einen großen Teil der ſpaniſchen Kolonieen zu erobern. Wir haben oben angeführt, daß Girolamo Benzoni im Jahre 1545 die Revolutionen auf San Domingo, „das in kurzem Eigentum der Schwarzen werden müſſe“, vorherſagte. Hier finden wir in einem Werke, das 1596 erſchien, einen Feldzugsplan, der ſich durch Ereigniſſe der jüngſten Zeit als ganz richtig er— wieſen hat. In den erſten Jahren nach der Gründung ſtand die Stadt Angoſtura in keinem unmittelbaren Verkehr mit dem Von Süden nach Norden auf 22 Breitengrade. Von Weſten nach Oſten auf 13 Längengrade. 0 — 161 — Mutterlande. Die Einwohner beſchränkten ſich darauf, dürres Fleiſch und Tabak auf die Antillen und über den Rio Cayuni in die holländiſche Provinz am Eſſequibo zu ſchmuggeln. Man erhielt unmittelbar aus Spanien weder Wein, noch Oel, noch Mehl, die drei geſuchteſten Einfuhrartikel. Im Jahre 1771 ſchickten einige Handelsleute die erſte Goelette nach Cadiz, und ſeitdem wurde der direkte Tauſchhandel mit den anda— luſiſchen und kataloniſchen Häfen ſehr lebhaft. Seit 1785 nahm die Bevölkerung von Angoſtura, nachdem ſie lange ſehr zurückgeblieben war, ſtark zu, indeſſen war ſie bei meinem Aufenthalte in Guyana noch weit hinter der Bevölkerung der nächſten engliſchen Stadt Stabrock zurück. Die Mündungen des Orinoko haben etwas vor allen Häfen von Terra Firma voraus: man verkehrt aus denſelben am raſcheſten mit der ſpaniſchen Halbinſel. Man fährt zuweilen von Cadiz zur Punta Barima in 18 bis 20, und nach Europa zurück in 30 bis 35 Tagen. Da dieſe Mündungen unter dem Winde aller Inſeln liegen, ſo können die Schiffe von Angoſtura einen vorteilhafteren Verkehr mit den Kolonieen auf den Antillen unterhalten als Guayra und Porto Cabello. Die Handelsleute in Caracas ſehen daher auch immer mit eiferſüchtigen Blicken auf die Fortſchritte der Induſtrie in Spaniſch⸗-Guyana, und da Caracas bisher der höchſte Regierungsſitz war, ſo wurde der Hafen von Angoſtura noch weniger begünſtigt als die Häfen von Cumana und Nueva Barcelona. Der innere Ver— kehr iſt am lebhafteſten mit der Provinz Varinas. Aus der— ſelben kommen nach Angoſtura Maultiere, Kakao, Indigo, Baumwolle und Zucker, und ſie erhält dafür „Generos“, das heißt europäiſche Manufakturprodukte. Ich ſah lange Fahr⸗ zeuge (Lanchas) abgehen, deren Ladung auf 8000 bis 10000 Piaſter geſchätzt wurde. Dieſe Fahrzeuge fahren zuerſt den Orinoko bis Cabruta, dann den Apure bis San Vicente, endlich den Rio Santo Domingo bis Torunos hinauf, welches Im Jahre 1768 hatte Angoſtura nur 500 Einwohner. Eine im Jahre 1780 vorgenommene Zählung ergab 1513 (nämlich 455 Weiße, 449 Neger, 363 Mulatten und Zambos, 246 Indianer). Im Jahre 1789 war die Bevölkerung auf 4590, und 1800 auf 6600 Seelen geſtiegen. Der Hauptort der engliſchen Kolonie Deme— rary, die Stadt Stabrock, liegt nur 225 km ſüdoſtwärts von der Mündung des Orinoko. Sie hat, nach Bolingbroke, gegen 10000 Einwohner. A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 11 — 162 — der Stapelplatz von Varinas Nuevas iſt. Die kleine Stadt San Fernando de Apure, die ich oben beſchrieben, dient als Niederlage bei dieſem Flußhandel, der durch die Einführung der Dampfſchiffahrt noch weit bedeutender werden kann. Das linke Ufer des Orinoko und alle Mündungen des Stromes, mit Ausnahme der Boca de Navios, gehören zu der Provinz Cumana. Dieſer Umſtand hat ſchon lange Anlaß zum Projekt gegeben, Angoſtura gegenüber (da wo gegenwärtig die Batterie San Rafael ſteht) eine neue Stadt zu gründen, um vom Gebiete der Provinz Cumana ſelbſt, und ohne über den Orinoko ſetzen zu müſſen, die Maultiere und das dürre Fleiſch der Llanos ausführen zu können. Kleinliche Eifer— ſüchteleien, wie ſie immer zwiſchen zwei benachbarten Regie— rungen im Schwange ſind, werden dieſem Plane Vorſchub leiſten; aber beim gegenwärtigen Zuſtande des Ackerbaues im Lande iſt zu wünſchen, daß er noch lange vertagt bleibt. Warum ſollte man an den Ufern des Orinoko zwei kon— kurrierende Städte bauen, die kaum 780 m auseinander lägen? Ich habe im bisherigen das Land beſchrieben, das wir auf einer 2250 km langen Flußfahrt durchzogen; es bleibt jetzt nur noch das kleine 3,52 Längengrade betragende Stück zwiſchen der gegenwärtigen Hauptſtadt und der Mündung des Orinoko übrig. Eine genaue Kenntnis des Deltas und des Laufes des Rio Carony iſt für die Hydrographie und den europäiſchen Handel von gleichem Belange. Um den Flächen: raum und die Bildung eines von Flußarmen durchſchnittenen und periodiſchen Ueberſchwemmungen unterworfenen Landes beurteilen zu können, hatte ich die aſtronomiſche Lage der Punkte, wo die Spitze und die äußerſten Arme des Deltas liegen, zu ermitteln. Churruca, der mit Don Juaquin Fidalgo den Auftrag hatte, die Nordküſten von Terra Firma und die Antillen aufzunehmen, hat Länge und Breite der Boca de Manamo, der Punta Baxa und von Vieja Guyana beſtimmt. Aus Eſpinoſas Denkſchriften kennen wir die wahre Lage der Punta Barima, und ich glaube daher, wenn ich nach den Punkten Puerto Eſpana auf der Inſel Trinidad und dem Schloſſe San Antonio bei Cumana (Punkten, welche durch meine eigenen Beobachtungen und durch Oltmanns ſcharf— ſinnige Unterſuchungen gegeben ſind) eine Reduktion vornehme und dadurch die abſoluten Längen näher beſtimme, hinlänglich genaue Angaben machen zu können. Es iſt wünſchenswert, daß einmal auf einer ununterbrochenen Fahrt auf chrono— — 163 — metriſchem Wege die Meridianunterſchiede zwiſchen Puerto Eſpana und den kleinen Mündungen des Orinoko, zwiſchen San Rafael (der Spitze des Deltas) und Santo Tome de Angoſtura beſtimmt werden. Die ganze Oſtküſte von Südamerika vom Kap San Roque, und beſonders vom Hafen von Maranham bis zum Gebirgsſtock von Paria iſt ſo niedrig, daß, nach meiner An— ſicht, das Delta des Orinoko und ſeine Bodenbildung nicht wohl den Anſchwemmungen eines Stromes zugeſchrieben werden kann. Ich will nach der Ausſage der Alten nicht in Abrede ziehen, daß das Nildelta einſt ein Buſen des Mittel— meers war, der allmählich durch Anſchwemmung ausgefüllt wurde. Es begreift ſich leicht, daß ſich an der Mündung aller großen Ströme da, wo die Geſchwindigkeit der Strö— mung raſch abnimmt, eine Bank, ein Eiland bildet, daß ſich Material abſetzt, das nicht weiter geſchwemmt werden kann. Es iſt ebenſo begreiflich, daß der Fluß, da er um dieſe Bank herum muß, ſich in zwei Arme ſpaltet, und daß die An— ſchwemmungen, da ſie an der Spitze des Deltas einen Stütz— punkt finden, ſich immer weiter ausbreiten, während die Fluß— arme auseinander weichen. Der Vorgang bei der erſten Gabelung wiederholt ſich bei jedem einzelnen Stromſtücke, ſo daß die Natur durch denſelben Prozeß ein Labyrinth kleiner ge— gabelter Kanäle hervorbringen kann, die ſich im Laufe der Jahrhunderte, je nach der Stärke und der Richtung der Hoch— gewäſſer, ausfüllen oder vertiefen. Auf dieſe Weiſe hat ſich unzweifelhaft der Hauptſtamm des Orinoko 112 km weſtwärts von der Boca de Navios in zwei Arme, den von Zacupana und den von Imataca, geteilt. Das Netz kleinerer Zweige dagegen, die gegen Nord vom Fluſſe abgehen und deren Mün— dungen Bocas chicas (die kleinen Mündungen) heißen, ſcheint mir eine Erſcheinung, die ganz mit der Bildung der Delta von Nebenflüſſen übereinkommt. Wenn mehrere hundert Kilometer von der Küſte ein Fluß (3. B. der Apure oder Jupura) ſich mittels einer Menge von Zweigen mit einem anderen Fluſſe verbindet, ſo ſind dieſe mannigfachen Gabelungen nur Rinnen in einem völlig ebenen Boden. Ebenſo verhält es ſich mit den ozeaniſchen Delta überall, wo bei allgemeinen Ueberflutungen in Zeiten, bevor Orinoko und Amazonenſtrom beſtanden, die Küſten mit erdigen Niederſchlägen bedeckt wur— den. Ich bezweifle, daß alle ozeaniſchen Delta einſt Meer- buſen, oder, wie einige neuere Geographen ſich ausdrücken, — 14 — negative Delta waren. Wenn einmal die Mündungen des Ganges, des Indus, des Senegal, der Donau, des Ama— zonenſtromes, des Orinoko und des Miſſiſſippi geologiſch ge— nauer unterſucht ſind, wird ſich zeigen, daß nicht alle denſelben Urſprung haben, man wird dann zwiſchen Küſten unterſchei— den, die infolge der ſich häufenden Anſchwemmungen raſch in die See hinaus vorrücken, und Küſten, die ſich innerhalb des allgemeinen Umriſſes der Kontinente halten; man wird unter— ſcheiden zwiſchen einem, von einem gegabelten Strome ge— bildeten Landſtriche, und den von ein paar Seitenarmen durch— zogenen Niederungen, die zu einem aufgeſchwemmten Lande gehören, das mehrere tauſend Quadratmeilen Flächenraum hat. Das Delta des Orinoko zwiſchen der Inſel Cangrejos und der Boca de Manamo (der Landſtrich, wo die Guaraunen wohnen) läßt ſich mit der Inſel Marajo oder Joanes an der Mündung des Amazonenſtromes vergleichen. Dort liegt das aufgeſchwemmte Land nördlich, hier ſüdlich vom Hauptſtamme des Stromes. Aber die Inſel Joanes ſchließt ſich nach ihrer Form der allgemeinen Bodenbildung in der Provinz Maranhao gerade ſo an, wie die Küſte bei den Bocas chicas des Orinoko den Küſten am Rio Eſſequibo und am Meerbuſen von Paria. Nichts weiſt darauf hin, daß einmal letzterer Meerbuſen ſüd— wärts von der Boca de Manamo bis Vieja Guyana ins Land hinein gereicht oder daß der Amazonenſtrom die ganze Bucht zwiſchen Villa Viſtoſa und Gran Para mit ſeinen Ge— wäſſern gefüllt hat. Nicht alles, was an den Flüſſen liegt, iſt ihr Werk. Meiſt haben ſie ſich in aufgeſchwemmtem Lande ein Bett gegraben, aber dieſe Anſchwemmungen ſind von höherem geologiſchem Alter, hängen mit den großen Umwäl— zungen zuſammen, die unſer Planet erlitten. Es iſt zu er— mitteln, ob zwiſchen den gegabelten Zweigen eines Fluſſes der Schlick nicht auf einer Schicht von Geſchieben liegt, wie man ſie ſehr weit vom fließenden Waſſer findet. Die Arme des Orinoko weichen auf 87 km auseinander; es iſt dies die Breite des ozeaniſchen Deltas zwiſchen Punta Barima und der am weiteſten nach Weſt gelegenen Boca chica. Dieſer Landſtrich iſt bis jetzt nicht genau aufgenommen, und ſo kennt man auch nicht die Zahl der Mündungen. Nach der ge— meinen Annahme hat der Orinoko ihrer ſieben, und dies er⸗ innert an die im Altertume ſo berufenen septem ostia Nili. Aber das ägyptiſche Delta war nicht immer auf dieſe Zahl beſchränkt, und an den überſchwemmten Küſten von Guyana — 165 — kann man wenigſtens elf ganz anſehnliche Mündungen zählen. Nach der Boca de Navios, welche die Schiffer nach der Punta Barima erkennen, ſind vom größten Werte für die Schiffahrt die Bocas Mariuſas, Macareo, Pedernales und Manamo grande. Der Strich des Deltas weſtwärts von der Boca Macareo wird von den Gewäſſern des Meerbuſens von Paria oder Golfo triste beſpült. Dieſes Becken wird durch die Oſt— küſte der Provinz Cumana und die Weſtküſte der Inſel Trinidad gebildet; es ſteht mit dem Meere der Antillen durch die vielberufenen Bocas de Dragos (Mündungen des Drachen) in Verbindung, welche die Küſtenpiloten ſeit Chriſtoph Ko— lumbus' Zeit ziemlich uneigentlich als die Mündungen des Orinoko betrachten. Will ein Schiff von der hohen See her in die Haupt— mündung des Orinoko, die Bocas de Navios einlaufen, ſo muß es die Punta Barima in Sicht bekommen. Das rechte, ſuͤdliche Ufer iſt das höhere; es kommt auch nicht weit davon landeinwärts, zwiſchen dem Cano Barima, dem Aquire und dem Cuyuni, das Granitgeſtein auf dem moraſtigen Boden zu Tage. Das linke oder nördliche Stromufer, welches über das Delta bis zur Boca de Mariuſas und der Punta Baxa läuft, iſt ganz niedrig: man erkennt es von weitem nur an den Gruppen von Mauritiapalmen, welche die Landſchaft zieren. Der Baum iſt der Sagobaum dieſes Landſtriches;! man gewinnt daraus das Mehl zum Yurumabrote, und Das nahrhafte Satzmehl oder Farine médullaire der Sago— bäume findet ſich vorzugsweiſe bei einer Gruppe von Palmen, die Kunth Calameen nennt; es kommt indeſſen auch in den Stämmen von Cycas revoluta, Phoenix farinifera, Corypha umbraculifera und Caryota urens vor und wird im Indiſchen Archipel von dieſen Bäumen geſammelt und in den Handel gebracht. Der echte aſiatiſche Sagobaum (Sagus Rumphii oder Metroxylon Sagu, Roxburgh) gibt mehr Nahrungsſtoff als alle anderen nutzbaren Gewächſe. Von einem einzigen Stamme gewinnt man im fünften Jahre zuweilen 300 kg Sago oder Mehl (denn das Wort Sagu bedeutet im am: boiniſchen Dialekt Mehl). Crawfurd, der ſich ſo lange auf dem Indiſchen Archipel aufgehalten hat, berechnet, daß auf 4029 Quadrat— metern 435 Sagobäume wachſen können, die über 4000 kg Mehl jährlich geben. Dieſer Ertrag iſt dreimal ſo hoch als beim Getreide, und doppelt ſo hoch als bei der Kartoffel in Frankreich. Die Ba— nanen geben auf derſelben Bodenfläche noch mehr Nahrungsſtoff als der Sagobaum. — 16 — die Mauritia iſt keineswegs eine „Küſtenpalme“, wie Chamae- rops humilis, wie der gemeine Kokosbaum und Commerſons Lodoicea, ſondern geht, als „Sumpfpalme“, bis zu den Quellen des Orinoko hinauf. Während der Ueberſchwem— mungen nehmen ſich dieſe Mauritiabüſche wie ein Wald aus, der aus dem Waſſer taucht. Der Schiffer, wenn er bei Nacht durch die Kanäle des Orinokodeltas fährt, ſieht mit Ueber— raſchung die Wipfel der Palmen von großen Feuern beleuchtet. Dies ſind die an den Baumäſten aufgehängten Wohnungen der Guaraunen (Raleghs Tivitiva und Uaraueti). Dieſe Völkerſchaften ſpannen Matten in der Luft aus, füllen ſie mit Erde und machen auf einer befeuchteten Thonſchicht ihr Haushaltungsfeuer an. Seit Jahrhunderten verdanken ſie ihre Freiheit und politiſche Unabhängigkeit dem unfeſten, ſchlammigen Boden, auf dem ſie in der trockenen Jahreszeit umherziehen und auf dem nur ſie ſicher gehen können, ihrer Abgeſchiedenheit auf dem Delta des Orinoko, ihrem Leben auf den Bäumen, wohin religiöſe Schwärmerei ſchwerlich je amerikaniſche Styliten treibt. Ich habe ſchon anderswo bemerkt, daß die Mauritiapalme, der „Lebensbaum“ der Miſſionäre, den Guaraunen nicht nur beim Hochwaſſer des Orinoko eine ſichere Behauſung bietet, ſondern ihnen in ſeinen ſchuppigen Früchten, in ſeinem mehligen Staube, in feinem zuckerreichen Safte, endlich in den Faſern ſeiner Blatt: ſtiele Nahrungsmittel, Wein und Schnüre zu Stricken und Hänge— matten gibt. Gleiche Gebräuche wie bei den Indianern auf dem Delta des Orinoko herrſchten früher im Meerbuſen von Darien (Uraba) und auf den meiſten zeitweiſe unter Waſſer ſtehenden Landſtrichen zwiſchen dem Guarapiche und der Mün— dung des Amazonenſtromes. Es iſt ſehr merkwürdig, auf der niedrigſten Stufe menſchlicher Kultur das Leben einer ganzen Völkerſchaft an eine einzige Palmenart gekettet zu ſehen, In— ſekten gleich, die ſich nur von einer Blüte, vom ſelben Teile eines Gewächſes nähren. Es iſt nicht zu verwundern, daß die Breite der Haupt— ! Simeon Siſanites, ein Syrier, war der Stifter dieſer Sekte. Er brachte in myſtiſcher Beſchaulichkeit 37 Jahre auf 5 Säulen zu, von denen die letzte 36 m hoch war. Die Säulenheiligen, sancti columnares, wollten auch in Deutſchland, im Trierſchen, ihre luftigen Klöſter einführen, aber die Biſchöfe widerſetzten ſich einem ſo tollen, halsbrechenden Unternehmen. 1 mündung des Orinoko (Boca de Navios) ſo verſchieden ge— ſchätzt wird. Die große Inſel Cangrejos iſt nur durch einen ſchmalen Kanal von dem unter Waſſer ſtehenden Boden ge— trennt, der zwiſchen den Bocas Nuina und Mariuſas liegt, ſo daß 37 oder 25 km herauskommen, je nachdem man (in einer der Strömung entgegengeſetzten Richtung) von der Punta Barima zum nächſten gegenüberliegenden Ufer, oder von der— ſelben Punta zum öſtlichen Teile der Inſel Cangrejos mißt. Ueber die Waſſerſtraße läuft eine Sandbank, eine Barre, in 5,5 m Tiefe; man gibt derſelben eine Breite von 4870 bis 5450 m. Wie beim Amazonenſtrome, beim Nil und allen Flüſſen, die ſich in mehrere Arme teilen, iſt auch beim Ori— noko die Mündung nicht ſo groß, als man nach der Länge ſeines Laufes und nach der Breite, die er noch mehrere hun— dert Kilometer weit im Lande hat, vermuten ſollte. Man weiß nach Malaſpinas Aufnahme, daß der Rio de la Plata von Punta del Eſte bei Maldonado bis zum Cabo San An— tonio über 187 km breit iſt; fährt man aber nach Buenos Ayres hinauf, ſo nimmt die Breite ſo raſch ab, daß ſie Colonia del Sacramento gegenüber nur noch 39 km beträgt. Was man gemeiniglich die Mündung des Rio de la Plata heißt, iſt eben ein Meerbuſen, in den ſich der Uruguay und der Parana ergießen, zwei Flüſſe, die nicht ſo breit ſind wie der Orinoko. Um die Größe der Mündung des Amazonen— ſtromes zu übertreiben, rechnet man die Inſeln Marajo und Caviana dazu, ſo daß von Punta Tigioca bis zu Cabo del Norte die ungeheure Breite von 3½ “ oder 315 km heraus— kommt; betrachtet man aber näher das hydrauliſche Syſtem des Kanals Tagypuru, des Rio Tocantins, des Amazonen— ſtromes und des Araguari, die ihre ungeheuren Waſſermaſſen vereinigen, ſo ſieht man, daß dieſe Schätzung rein aus der Luft gegriffen iſt. Zwiſchen Macapa und dem weſtlichen Ufer der Inſel Marajo (Ilha de Joanes) iſt der eigentliche Amazonenſtrom in zwei Arme geteilt, die zuſammen nur 49,5 km breit ſind. Weiter unten läuft das Nordufer der Inſel Marajo in der Richtung eines Parallels fort, während die Küſte von portugieſiſch Guyana zwiſchen Macapa und Cabo del Norte von Süd nach Nord ſtreicht. So kommt es, daß der Amazonenſtrom bei den Inſeln Maxiana und Caviana, da wo die Gewäſſer des Stromes und die des Atlantiſchen Ozeans zuerſt aufeinander ſtoßen, einen gegen 74 km breiten Meerbuſen bildet. Der Orinoko ſteht noch — 168 — mehr hinſichtlich der Länge des Laufes als der Breite im Binnenlande dem Amazonenſtrome nach, er iſt ein Fluß zweiter Ordnung; man darf aber nicht vergeſſen, daß alle dieſe Einteilungen nach der Länge des Laufes oder der Breite der Mündungen ſehr willkürlich ſind. Die Flüſſe der britan— niſchen Inſeln laufen in Meerbuſen oder Süßwaſſerſeen aus, in denen durch die Ebbe und Flut des Meeres die Waſſer periodiſch hin und her getrieben werden; ſie weiſen uns deut— lich darauf hin, daß man die Bedeutung eines hydrauliſchen Syſtemes nicht einzig nach der Breite der Mündungen ſchätzen darf. Jede Vorſtellung von relativer Größe iſt ſchwan— kend, ſolange man nicht durch Meſſung der Geſchwindigkeit und des Flächenraumes von Querſchnitten die Waſſermaſſen vergleichen kann. Leider ſind Aufnahmen derart an Be— dingungen geknüpft, die der einzelne Reiſende nicht erfüllen kann. So muß man das ganze Flußbett ſondieren können, und zwar in verſchiedenen Jahreszeiten. Da ſcheinbar ſehr breite Flüſſe meiſt nicht ſehr tiefe, von mehreren parallelen Rinnen durchzogene Becken ſind, ſo führen ſie auch weit weniger Waſſer, als man auf den erſten Blick glaubt. Zwi⸗ ſchen dem Maximum und dem Minimum des Waſſerſtandes während der großen Ueberſchwemmungen und in der trockenen Jahreszeit kann die Waſſermaſſe um das Fünfzehn- bis Zwanzig— fache größer oder kleiner ſein. Sobald man Punta Barima umſegelt hat und in das Bett des Orinoko ſelbſt eingelaufen iſt, findet man dieſes nur 5850 m breit. Höhere Angaben beruhen auf dem Ver: ſehen, daß die Steuerleute den Fluß auf einer Linie meſſen, die nicht ſenkrecht auf die Richtung der Strömung gezogen iſt. Die Inſel Cangrejos zu befeſtigen, bei der das Waſſer 7,8 bis 9,75 m tief iſt, wäre unnütz; die Fahrzeuge wären hier außerhalb Kanonenſchußweite. Das Labyrinth von Ka— nälen, die zu den kleinen Mündungen führen, wechſelt Tag für Tag nach Geſtalt und Tiefe. Viele Steuerleute ſind der feſten Anſicht, die Canos Cocuina, Pedernales und Macareo, durch welche der Küſtenhandel mit der Inſel Trinidad ge— trieben wird, ſeien in den letzten Jahren tiefer geworden und der Strom ziehe ſich immer mehr von der Boca de Navios weg und wende ſich mehr nach Nordweſt. Vor dem Jahre 1760 wagten ſich Fahrzeuge mit mehr als 3 bis 4 m Tief— gang ſelten in die kleinen Kanäle des Deltas. Gegenwärtig ſcheut man die „kleinen Mündungen“ des Orinoko faſt gar — . — 169 — nicht mehr, und feindliche Schiffe, welche nie dieſe Striche befahren haben, finden an den Guaraunen willige, geübte Wegweiſer. Die Civiliſierung dieſer Völkerſchaft, deren Wohn— ſitze ſich zum Orinoko verhalten wie die der Nhengahyba oder Igaruana zum Amazonenſtrome, iſt für jede Regierung, die am Orinoko Herr bleiben will, von großem Belange. Ebbe und Flut ſind im April, beim tiefſten Waſſerſtande, bis über Angoſtura hinauf zu ſpüren, alſo mehr als 382 km land⸗ einwärts. Beim Einfluſſe des Carony, 270 km von der Küſte, ſteigt das Waſſer durch Stauung um 40 em. Dieſe Schwin— gungen der Waſſerfläche, dieſe Unterbrechung des Laufes ſind nicht mit der aufſteigenden Flut zu verwechſeln. Bei der großen Mündung des Orinoko am Kap Barima beträgt die Fluthöhe 60 bis 92 em, dagegen weiter gegen Nordweſt, im Golfo triste, zwiſchen der Boca Pedernales, dem Rio Guara— piche und der Weſtküſte von Trinidad, 2,2 bis 2,8, ſogar 9,75 m. So viel macht auf einer Strecke von 135 bis 180 km der Einfluß des Umriſſes der Küſten aus, ſowie der Umſtand, daß die Gewäſſer durch die Bocas de Dragos langſamer ab— fließen. Wenn man in ganz neuen Werken angegeben findet, der Orinoko verurſache 2 bis 3° in die hohe See hinaus be— ſondere Strömungen, die Farbe des Seewaſſers verändere ſich dadurch und im Golfo triste ſei ſüßes Waſſer (Gumillas Mar dulce), ſo ſind das lauter Fabeln. Die Strömung geht an dieſer ganzen Küſte vom Kap Orange an nach Nordweſt, und der Einfluß der ſüßen Gewäſſer des Orinoko auf die Stärke dieſer allgemeinen Strömung, auf die Durchſichtigkeit und die Farbe des Meerwaſſers bei reflektiertem Lichte iſt ſelten weiter als 13 bis 18 km nordoſtwärts von der Inſel Cangrejos zu ſpüren. Das Waſſer im Golfo triste iſt geſalzen, nur weniger als im übrigen Meere der Antillen wegen der kleinen Mündungen des Orinokodeltas und der Waſſer— maſſe, welche der Rio Guarapiche hereinbringt. Aus den— ſelben Gründen gibt es keine Salzwerke an dieſen Küſten, und ich habe in Angoſtura Schiffe aus Cadiz ankommen ſehen, die Salz, ja, was für die Induſtrie in den Kolonieen be— zeichnend iſt, Backſteine zum Bau der Hauptkirche geladen hatten. Den Umſtand, daß die unbedeutende Flut an der Küſte im Bette des Orinoko und des Amazonenſtromes ſo ungemein weit aufwärts zu ſpüren iſt, hat man bis jetzt als einen ſicheren Beweis angeſehen, daß beide Ströme auf einer Strecke — 170 — von 382 und 900 km nur um wenige Fuß fallen können. Dieſer Beweis erſcheint aber durchaus nicht als ſtichhaltig, wenn man bedenkt, daß die Stärke der ſich fortpflanzenden Schwankungen im Niveau von vielen örtlichen Umſtänden abhängig iſt, von der Form, den Krümmungen und der Zahl der ineinander mündenden Kanäle, vom Widerſtande des Grundes, auf dem die Flutwelle heraufkommt, vom Abprallen des Waſſers an den gegenüberliegenden Ufern und von der Einſchnürung des Stromes in einen Engpaß. Ein gewandter Ingenieur, Bremontier, hat in neueſter Zeit dargethan, daß im Bette der Garonne die Flutwellen wie auf einer geneigten Ebene weit über das Niveau der See an der Mündung des Fluſſes hinaufgehen. Im Orinoko kommen die ungleich hohen Fluten von Punta Barima und vom Golfo triste in un: gleichen Intervallen durch die große Waſſerſtraße der Boca de Navios und durch die engen, gewundenen, zahlreichen Bocas chicas herauf. Da dieſe kleinen Kanäle am ſelben Punkte, bei San Rafael, vom Hauptſtamme abgehen, ſo wäre es von Intereſſe, die Verzögerung des Eintrittes der Flut und die Fortpflanzung der Flutwellen im Bette des Orinoko oberhalb und unterhalb San Rafael, auf der See bei Kap Barima und im Golfo triste bei der Boca Manamo zu beob— achten. Die Waſſerbaukunſt und die Theorie der Bewegung von Flüſſigkeiten in engen Kanälen müßten beide Nutzen aus einer Arbeit ziehen, für welche der Orinoko und der Amazonen— ſtrom beſonders günſtige Gelegenheit böten. Bei der Fahrt auf dem Fluſſe, ob nun die Schiffe durch die Boca de Navios einlaufen oder ſich durch das Labyrinth der Bocas chicas wagen, ſind beſondere Vorſichtsmaßregeln erforderlich, je nachdem das Bett voll oder der Waſſerſtand ſehr tief iſt. Die Regelmäßigkeit, mit der der Orinoko zu beſtimmten Zeiten anſchwillt, war von jeher für die Reiſen— den ein Gegenſtand der Verwunderung, wie ja auch das Aus— treten des Nils für die Philoſophen des Altertums ein ſchwer zu löſendes Problem war. Der Orinoko und der Nil laufen, der Richtung des Ganges, Indus, Rio de la Plata und Euphrat entgegen, von Süd nach Nord; aber die Quellen des Orinoko liegen um 5 bis 6° näher am Aequator als die des Nil. Da uns die zufälligen Wechſel im Luft⸗ kreiſe täglich ſo ſtark auffallen, wird uns die Anſchauung ſchwer, daß in großen Zeiträumen die Wirkungen dieſes Wechſels ſich gegenſeitig ausgleichen ſollen, daß in einer I — 171 — langen Reihe von Jahren die Unterſchiede im durchſchnittlichen Betrage der Temperatur, der Feuchtigkeit und des Luftdruckes von Monat zu Monat ganz unbedeutend ſind, und daß die Natur, trotz der häufigen partiellen Störungen, in der Reihen— folge der meteorologiſchen Erſcheinungen einen feſten Typus befolgt. Die großen Ströme ſammeln die Waſſer, die auf einer mehrere tauſend Quadratmeilen großen Erdfläche nieder— fallen, in einen Behälter. So ungleich auch die Regenmenge ſein mag, die im Laufe der Jahre in dieſem oder jenem Thale fällt, auf den Waſſerſtand der Ströme von langem Lauf haben dergleichen lokale Wechſel ſo gut wie keinen Einfluß. Die Anſchwellungen ſind der Ausdruck des mittleren Feuch— tigkeitsſtandes im ganzen Becken; ſie treten Jahr für Jahr in denſelben Verhältniſſen auf, weil ihr Anfang und ihre Dauer eben auch vom Durchſchnitt der ſcheinbar ſehr ver— änderlichen Epochen des Eintrittes und des Endes der Regen— zeit unter den Breiten, durch welche der Hauptſtrom und ſeine Nebenflüſſe laufen, abhängig ſind. Es folgt daraus, daß die periodiſchen Schwankungen im Waſſerſtande der Ströme, gerade wie die unveränderliche Temperatur der Höhlen und der Quellen, ſichtbar darauf hinweiſen, daß Feuchtigkeit und Wärme auf einem Striche von beträchtlichem Flächenraum von einem Jahre zum anderen regelmäßig verteilt ſind. Die— ſelben machen ſtarken Eindruck auf die Einbildungskraft des Volkes, wie ja Ordnung in allen Dingen überraſcht, wo die erſten Urſachen ſchwer zu erfaſſen ſind, wie ja die Durch— ſchnittstemperaturen aus einer langen Reihe von Monaten und Jahren den in Verwunderung ſetzen, der zum erſtenmal eine Abhandlung über klimatiſche Verhältniſſe zu Geſicht be— kommt. Ströme, die ganz in der heißen Zone liegen, zeigen in ihren periodiſchen Bewegungen die wundervolle Regel— mäßigkeit, die einem Erdſtriche eigen iſt, wo derſelbe Wind faſt immer Luftſchichten von derſelben Temperatur herführt, und wo die Deklinationsbewegung der Sonne jedes Jahr zur ſelben Zeit mit der elektriſchen Spannung, mit dem Auf— hören der Seewinde und dem Eintritte der Regenzeit eine Störung des Gleichgewichtes verurſacht. Der Orinoko, der Rio Magdalena und der Kongo oder Zaire ſind die einzigen großen Ströme im Aequinoktialſtriche des Erdballes, die in der Nähe des Aequators entſpringen und deren Mündung in weit höherer Breite, aber noch innerhalb der Tropen liegt. Der Nil und der Rio de la Plata laufen in zwei ent: ee Halbkugeln aus der heißen in die gemäßigte one.! Solange man den Rio Paragua bei Esmeralda mit dem Rio Guaviare verwechſelte und die Quellen des Orinoko ſüdweſtwärts am Oſtabhange der Anden ſuchte, ſchrieb man das Steigen des Stromes dem periodiſchen Schmelzen des Schnees zu. Dieſer Schluß war ſo unrichtig, als wenn man früher den Nil durch das Schneewaſſer aus Abeſſinien aus— treten ließ. Die Kordilleren von Neugranada, in deren Nähe die weſtlichen Nebenflüſſe des Orinoko, der Gua— viare, der Meta und der Apure entſpringen, reichen, mit einziger Ausnahme der Paramos von Chita und Mucuchies, ſo wenig zu der Grenze des ewigens Schnees hinauf als die abeſſiniſchen Alpen. Schneeberge ſind im heißen Erdſtriche weit ſeltener, als man gewöhnlich glaubt; und die Schnee— ſchmelze, die in keiner Jahreszeit bedeutend iſt, wird zur Zeit der Hochwaſſer des Orinoko keineswegs ſtärker. Die Quellen dieſes Stromes liegen (oſtwärts von Esmeralda) in den Ge— birgen der Parime, deren höchſte Gipfel nicht über 2340 bis 2530 m hoch ſind, und von Grita bis Neiva (von 7% bis 3° der Breite) hat der öſtliche Zweig der Kordillere diele Paramos von 3500 bis 3700 m Höhe, aber nur eine Gruppe von Nevados, das heißt Bergen, höher als 4680 m und zwar die fünf Pichacos de Chita. In den ſchnee— loſen Paramos von Cundinamarca entſpringen die drei großen Nebenflüſſe des Orinoko von Weſten her. Nur kleinere Neben— flüſſe, die in den Meta und Apure fallen, nehmen einige Aguas de nieve auf, wie der Rio Caſanare, der vom Ne— vado de Chita, und der Rio de Santo Domingo, der von der Sierra Nevada de Merida herunterkommt und durch die Provinz Varinas läuft. In Aſien laufen der Ganges, der Brahmaputra und die majeſtätiſchen indiſch-chineſiſchen Flüſſe dem Aequator zu. Die erſteren kommen aus der gemäßigten Zone in die heiße. Der Um— ſtand, daß die Flüſſe entgegengeſetzte Richtungen haben (dem Aequator oder den gemäßigten Erdſtrichen zu), äußert Einfluß auf den Ein— tritt und die Größe der Ueberſchwemmungen, auf die Art und die Mannigfaltigkeit der Produkte längs der Ufer, auf die größere oder geringere Lebhaftigkeit des Handels, und, darf ich nach dem, was wir über die Völker Aegyptens, Meroes und Indiens wiſſen, wohl ſagen, auf den Gang der Kultur die Stromthäler entlang. — 13 — Die Urſache des periodiſchen Austretens des Orinoko wirkt in gleichem Maße auf alle Flüſſe, die im heißen Erd— ſtrich entſpringen. Nach der Frühlings-Tag- und Nachtgleiche verkündet das Aufhören der Seewinde den Eintritt der Regen— zeit. Das Steigen der Flüſſe, die man als natürliche Re— genmeſſer betrachten kann, iſt der Regenmenge, die in den verſchiedenen Landſtrichen fällt, proportional. Mitten in den Wäldern am oberen Orinoko und Rio Negro ſchienen mir über 2,43 bis 2,7 m Regen im Jahre zu fallen. Die Ein— geborenen unter dem trüben Himmel von Esmeralda und am Atabapo wiſſen daher auch ohne die geringſte Kenntnis von der Phyſik, jo gut wie einſt Eudoxus und Eratoſthenes,! daß das Austreten großer Ströme allein vom tropiſchen Regen herrührt. Der ordnungsmäßige Verlauf im Steigen und Fallen des Orinoko iſt folgender. Gleich nach der Frühlings— Tag⸗ und Nachtgleiche (das Volk nimmt den 25. März an) bemerkt man, daß der Fluß zu ſteigen anfängt, anfangs nur um 2,5 cm in 24 Stunden; im April fällt der Fluß zu: weilen wieder; das Maximum des Hochwaſſers erreicht er im Juli, bleibt voll (im ſelben Niveau) vom Ende Juli bis zum 25. Auguſt, und fällt dann allmählich, aber langſamer, als er geſtiegen. Im Januar und Februar iſt er auf dem Mi— nimum. In beiden Welten haben die Ströme der nördlichen heißen Zone ihre Hochwaſſer ungefähr zur ſelben Zeit. Ganges, Nigir und Gambia erreichen wie der Orinoko ihr Maximum im Auguft.° Der Nil bleibt um zwei Monate zurück, ſei es infolge gewiſſer lokaler klimatiſcher Verhältniſſe in Abeſſinien, ſei es wegen der Länge ſeines Laufes vom Lande Berber oder vom 17. Breitengrade bis zur Teilung am Delta. Die ara— biſchen Geographen behaupten, in Sennaar und Abeſſinien ſteige der Nil ſchon im April (ungefähr wie der Orinoko); in Kairo wird aber das Steigen erſt gegen das Sommer— ſolſtitium merklich und der höchſte Waſſerſtand tritt Ende September ein.” Auf dieſem erhält ſich der Fluß bis Mitte Oktober; das Minimum fällt im April und Mai, alſo in eine Zeit, wo in Guyana die Flüſſe ſchon wieder zu ſteigen anfangen. Aus dieſer raſchen Ueberſicht ergibt ſich, daß wenn auch die Form der natürlichen Kanäle und lokale klimatiſche Strabo Lib. XVII. Diodorus Siculus Lib. I, c. 5. 2 Etwa 40 bis 50 Tage nach dem Sommerſolſtitium. Etwa 80 bis 90 Tage nach dem Sommerſolſtitium. — 174 — Verhältniſſe eine Verzögerung herbeiführen, die große Er— ſcheinung des Steigens und Fallens der Flüſſe in der heißen Zone ſich überall gleich bleibt. Auf den beiden Tierkreiſen, die man gewöhnlich den tatariſchen und chaldäiſchen oder ägyptiſchen nennt (auf dem Tierkreiſe, der das Bild der Ratte, und auf dem, der die Bilder der Fiſche und des Waſſermanns hat) beziehen ſich beſondere Konſtellationen auf die periodiſchen Ueberſchwemmungen der Flüſſe. Wahre Cyklen, Zeiteinteilungen, wurden allmählich zu Teilungen des Nies, da aber die phyſikaliſche Erſcheinung der Ueber— ſchwemmungen eine ſo allgemeine iſt, ſo konnte der Tierkreis, der durch die Griechen auf uns gekommen und der durch das Vorrücken der Tag- und Nachtgleichen ein geſchichtliches Denk— mal von hohem Alter wird, weit von Theben und dem hei— ligen Nilthale entſtanden ſein. Auf den Tierkreiſen der Neuen Welt, z. B. auf dem mexikaniſchen, kommen auch Zeichen für Regen und Ueberſchwemmung vor, die dem Chu (der Ratte) des chineſiſchen und tibetaniſchen Cyklus der Tſe und den Fiſchen und dem Waſſermann des zwölfteiligen e entſprechen. Dieſe zwei mexikaniſchen Zeichen ſind das Waſſer (atl) und der Cipactli, das Seeungeheuer mit einem Horne. Dieſes Tier iſt zugleich die Fiſchgazelle der Hindu, der Steinbock unſeres Tierkreiſes, der Deu— kalion der Griechen und der Noah (Coxcox) der Azteken. So finden wir denn die allgemeinen Ergebniſſe der verglei— chenden Hydrographie ſchon auf den aſtrologiſchen Denk— mälern, in den Zeiteinteilungen und den religiöſen Ueber— lieferungen von Völkern, die geographiſch und dem Grade ihrer Geiſtesbildung nach am weiteſten auseinander liegen. Da die Aequatorialregen auf den Niederungen eintreten, wenn die Sonne durch das Zenith den Ortes geht, das heißt, wenn ihre Deklination der Zone zwiſchen dem Aequator und einem der Wendekreiſe gleichnamig wird, ſo fällt das Waſſer im Amazonenſtrom, während es im Orinoko merklich ſteigt. In einer ſehr ſcharfſinnigen Erörterung über den Urſprung des Rio Kongo hat man die Phyſiker bereits auf die Modi— ſikationen aufmerkſam gemacht, welche das periodiſche Steigen im Laufe eines Fluſſes erleiden muß, bei dem Quellen und Mündung nicht auf derſelben Seite der Aequinoktiallinie liegen. Bei den ati Syſtemen des Orinoko und des Amazonenſtromes verwickeln ſich die Umſtände in noch auffallenderer Weiſe. Sie ſind durch den Rio Negro und den Caſſiquiare, einen Arm des Orinoko, verbunden, und dieſe Verbindung bildet zwiſchen zwei großen Flußbecken eine ſchiff— bare Linie, über welche der Aequator läuft. Der Amazonen— ſtrom hält nach Angaben, die mir an den Ufern desſelben gemacht worden, die Epochen des Steigens und Fallens lange nicht ſo regelmäßig ein als der Orinoko; indeſſen fängt er meiſt im Dezember an zu ſteigen und erreicht ſein Maximum im März. Mit dem Mai fällt er wieder und im Juli und Auguſt, alſo zur Zeit, wo der untere Orinoko das Land weit und breit überſchwemmt, iſt ſein Waſſerſtand im Minimum. Da infolge der allgemeinen Bodenbildung kein ſüdamerikani— ſcher Fluß von Süd nach Nord über den Aequator laufen kann, jo äußern die Ueberſchwemmungen des Orinoko Einfluß auf den Amazonenſtrom, durch die des letzteren dagegen er— leiden die Oszillationen des Orinoko keine Störung in ihrem Gange. Aus dieſen Verhältniſſen ergibt ſich, daß beim Ama— zonenſtrom und dem Orinoko die konkaven und die fon: vexen Spitzen der Kurve, welche der ſteigende und fal— lende Waſſerſtand beſchreibt, einander ſehr regelmäßig ent— ſprechen, da ſie den ſechsmonatlichen Unterſchied bezeichnen, der durch die Lage der Ströme in entgegengeſetzten Hemi— ſphären bedingt wird. Nur dauert es beim Orinoko nicht ſo lange, bis er zu ſteigen anfängt; er ſteigt merklich, ſobald die Sonne über den Aequator gegangen iſt; der Amazonen— ſtrom dagegen wächſt erſt zwei Monate nach dem Aequinok— tium. Bekanntlich tritt in den Wäldern nördlich von der Linie der Regen früher ein, als in den nicht ſo ſtark be— waldeten Niederungen der ſüdlichen heißen Zone. Zu dieſer örtlichen Urſache kommt eine andere, die vielleicht auch im Spiele iſt, wenn der Nil ſo ſpät ſteigt. Der Amazonenſtrom erhält einen großen Teil ſeiner Gewäſſer von der Kordillere der Anden, wo, wie überall in den Gebirgen, die Jahres— zeiten einen eigentümlichen, dem der Niederungen meiſt ent— gegengeſetzten Typus haben. Das Geſetz des Steigens und Fallens des Orinoko iſt in Bezug auf das räumliche Moment oder die Größe der Schwankungen ſchwerer zu ermitteln als hinſichtlich des zeit— lichen, des Eintretens der Maxima und Minima. Da meine eigenen Meſſungen des Waſſerſtandes ſehr unvollſtändig ſind, teile ich Schätzungen, die ſehr ſtark voneinander abweichen, nur unter allem Vorbehalt mit. Die fremden Schiffen neh— men an, daß der untere Orinoko gewöhnlich um 29,2 m — 116 — ſteige; Pons, der bei feinem Aufenthalte in Caracas im all- gemeinen ſehr genaue Notizen geſammelt hat, bleibt bei 25,3 m ſtehen. Der Waſſerſtand wechſelt natürlich nach der Breite des Bettes und der Zahl der Nebenflüſſe, die in den Haupt— ſtamm des Stromes hereinkommen. Der Nil ſteigt in Ober— ägypten um 9,7 bis 11,3 m, bei Kairo um 8,1, an der Nord— ſeite des Deltas um 1,3 m. Bei Angoſtura ſcheint der Strom im Durchſchnitt nicht über 7,8 bis 8 m zu ſteigen. Es liegt hier mitten im Fluſſe eine Inſel, wo man den Waſſerſtand ſo bequem beobachten könnte wie am Nilmeſſer (Megyas) an der Spitze der Inſel Rudah. Ein ausgezeichneter Ge— lehrter, der ſich in neueſter Zeit am Orinoko aufgehalten hat, Zea, wird meine Beobachtungen über einen ſo wichtigen Punkt ergänzen. Das Volk glaubt, alle 25 Jahre ſteige der Orinoko um 1m höher als ſonſt; auf dieſen Cyklus iſt man aber keineswegs durch genaue Meſſungen gekommen. Aus den Zeugniſſen des Altertums geht hervor, daß die Niveau— ſchwankungen des Nil nach Höhe und Dauer ſeit Jahr: tauſenden ſich gleich geblieben ſind. Es iſt dies ein ſehr beachtenswerter Beweis, daß der mittlere Feuchtigkeits- und Wärmezuſtand im weiten Nilbecken ſich verändert. Wird dieſe Stetigkeit der phyſikaliſchen Erſcheinungen, dieſes Gleichgewicht der Elemente ſich auch in der Neuen Welt erhalten, wenn einmal die Kultur ein paar hundert Jahre alt iſt? Ich denke, man kann die Frage bejahen, denn alles, was die Geſamt— kraft des Menſchen vermag, kann auf die allgemeinen Urſachen, von denen das Klima Guyanas abhängt, keinen Einfluß äußern. Nach der Barometerhöhe von San Fernando de Apure finde ich, daß der Fall des Apure und unteren Orinoko von dieſer Stadt bis zur Boca de Navios 49 mm auf den Kilo— meter beträgt." Man könnte ſich wundern, daß bei einem ſolchen kaum merklichen Falle die Strömung ſo ſtark iſt; ich erinnere aber bei dieſer Gelegenheit daran, daß nach Meſſun— gen, die von Haſtings angeordnet worden, der Ganges auf einer Strecke von 111 km (die Krümmungen eingerechnet) auch nur 2,2 em auf den Kilometer fällt und daß die mitt— lere Geſchwindigkeit dieſes Stromes in der trockenen Jahres- Der Apure für ſich hat einen Fall von 18,8 em auf den Kilometer. — 17 — zeit 5,5, in der Regenzeit 11 bis 15 km in der Stunde be: trägt. Die Stärke der Strömung hängt alſo, beim Ganges wie beim Orinoko, nicht ſowohl vom Gefälle des Bettes ab, als von der ſtarken Anhäufung des Waſſers im oberen Strom— lauf infolge der ſtarken Regenniederſchläge und der vielen Zuflüſſe. Schon ſeit 250 Jahren ſitzen europäiſche Anſiedler an den Mündungen des Orinoko, und in dieſer langen Zeit haben ſich, nach einer von Geſchlecht zu Geſchlecht fortge— pflanzten Ueberlieferung, die periodiſchen Oszillationen des Stromes (der Zeitpunkt, wo er zu ſteigen anfängt und der höchſte Waſſerſtand) nie um mehr als 12 bis 15 Tage verzögert. Wenn Fahrzeuge mit großem Tiefgange im Januar und Februar mit dem Seewinde und der Flut nach Angoſtura hinaufgehen, jo laufen ſie Gefahr, auf dem Schlamme aufzu⸗ fahren. Die Waſſerſtraße ändert ſich häufig nach Breite und Richtung; bis jetzt aber bezeichnet noch nirgends eine Bake die Anſchwemmungen, die ſich überall im Fluſſe bilden, wo das Waſſer ſeine urſprüngliche Geſchwindigkeit verloren hat. Südlich vom Kap Barima beſteht ſowohl über den Fluß dieſes Namens als über den Rio Moroca und mehrere Eſteres (aestuaria) eine Verbindung mit der engliſchen Kolonie am Eſſequibo. Man kann mit kleinen Fahrzeugen bis zum Rio Poumaron, an dem die alten Niederlaſſungen Zeland und Middelburg liegen, ins Land hineinkommen. Dieſe Verbin— dung hatte früher für die Regierung in Caracas nur darum einige Wichtigkeit, weil dadurch dem Schleichhandel Vorſchub geleiſtet wurde; ſeit aber Berbice, Demerary und Eſſequibo einem mächtigen Nachbar in die Hände gefallen ſind, be— trachten die Hiſpano-Amerikaner dieſelbe aus dem Geſichts— punkte der Sicherheit der Grenze. Flüſſe, die der Küſte parallel laufen und nur 9 bis 11 km davon entfernt bleiben, ſind dem Uferſtriche zwiſchen dem Orinoko und dem Amazonenſtrom eigentümlich. 45 km vom Kap Barima teilt ſich das große Bett des Orinoko zum erſtenmal in zwei 3900 m breite Arme; dieſelben ſind unter den indianiſchen Namen Zacupana und Imataca bekannt. Der erſtere, nördlichere, ſteht weſtwärts von den Inſeln Cangrejos und Burro mit den Bocas chicas Lauran, Nuina und Mariuſas in Verbindung. Die Inſel Burro verſchwindet beim Hochwaſſer, iſt alſo leider nicht zu befeſtigen. Das ſüdliche Ufer des bra zo Imataca iſt von A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 12 — 178 — einem Labyrinth kleiner Waſſerrinnen zerſchnitten, in welche ſich der Rio Imataca und der Rio Aquire ergießen. Auf den fruchtbaren Savannen zwiſchen dem Imataca und dem Cuyuni erhebt ſich eine lange Reihe Granithügel, Ausläufer der Kordillere der Parime, die ſüdlich von Angoſtura den Horizont begrenzt, die vielberufenen Katarakte des Rio Ca— rony bildet und dem Orinoko beim Fort Vieja Guyana wie ein vorgeſchobenes Kap nahe rückt. Die volkreichen Miſſionen der Kariben und Guayanos unter der Obhut der kataloniſchen Kapuziner liegen den Quellen des Imataca und des Aquire zu. Am weiteſten gegen Oſt liegen die Miſſionen Miamu, Cumamu und Palmar auf einem bergigen Landſtriche, der ſich gegen Tupuquen, Santa Maria und Villa de Upata hinzieht. Geht man den Rio Aquire hinauf und über die Weiden gegen Süd, ſo kommt man zur Miſſion Belem de Tumeremo und von da an den Zuſammenfluß des Curumu mit dem Rio Cuyuni, wo früher der ſpaniſche Poſten oder Destacamento de Cuyuni lag. Ich mache dieſe einzelnen topographiſchen Angaben, weil der Rio Cuyuni oder Cuduvini auf eine Strecke von 2% bis 3 Längegraden dem Orinoko parallel von Oſt nach Weſt läuft, und eine vortreffliche natürliche Grenze zwiſchen dem Gebiete von Caracas und Engliſch-Guyana abgibt. Die beiden Arme des Orinoko, der Zacupana und Ima— taca bleiben 63 km weit getrennt; weiter oben findet man die Gewäſſer des Stromes in einem ſehr breiten Bette bei— ſammen. Dieſes Stromſtück iſt gegen 36 km lang; an ſeinem weſtlichen Ende erſcheint eine zweite Gabelung, und da die Spitze des Deltas im nördlichen Arme des gegabelten Fluſſes liegt, jo iſt dieſer Teil des Orinoko für die militäriſche Ver— teidigung des Landes von großer Bedeutung. Alle Kanäle, die den Bocas chicas zulaufen, entſpringen am ſelben Punkte aus dem Stamme des Orinoko. Der Arm (Cano Manamo), der beim Dorfe San Rafael abgeht, verzweigt ſich erſt nach einem Laufe von 13 bis 18 km, und ein Werk, das man oberhalb der Inſel Chaguanes anlegte, würde Angoſtura gegen einen Feind decken, der durch eine der Bocas chicas eindringen wollte. Zu meiner Zeit lagen die Kanonierſchaluppen öſtlich von San Rafael, am nördlichen Ufer des Orinoko. Dieſen . Punkt müſſen die Fahrzeuge in Sicht bekommen, die durch die nördliche Waſſerſtraße bei San Rafael, welche die breiteſte, aber ſeichteſte iſt, nach Angoſtura hinaufſegeln. 27 km oberhalb des Punktes, wo der Orinoko einen — 179 — Zweig an die Bocas chicas abgibt, liegt das alte Fort (Los ca- stillos de la Vieja oder Antigua Guyana), das im 16. Jahr⸗ hundert zuerſt angelegt wurde. An dieſem Punkte liegen viele felſige Eilande im Strome, der hier gegen 1266 m breit fein ſoll. Die Stadt iſt faſt ganz zerſtört, aber die Werke ſtehen noch und verdienen alle Aufmerkſamkeit von ſeiten der Re— gierung von Terra Firma. In der Batterie auf einem Hügel nordweſtwärts von der alten Stadt hat man eine prachtvolle Ausſicht. Bei Hochwaſſer iſt die alte Stadt ganz von Waſſer umgeben. Lachen, die in den Orinoko münden, bilden natür— liche Baſſins für Schiffe, welche auszubeſſern ſind. Hoffent— lich, wenn der Friede dieſen ſchönen Ländern wieder geſchenkt iſt und keine engherzige Staatskunſt mehr den Fortſchritt der Induſtrie hemmt, werden ſich Werften an dieſen Lachen bei Vieja Guyana erheben. Kein Strom nach dem Amazonen— ſtrom kann aus den Wäldern, durch die er läuft, ſo präch— tiges Schiffsbauholz liefern. Dieſe Hölzer aus den großen Familien der Laurineen, der Guttiferen, der Rutaceen und der baumartigen Schotengewächſe bieten nach Dichtigkeit, ſpezifiſcher Schwere und mehr oder weniger harziger Be— ſchaffenheit alle nur wünſchenswerten Abſtufungen. Was im Lande allein fehlt, das iſt ein leichtes, elaſtiſches Maſt— holz mit parallelen Faſern, wie die Nadelhölzer der ge— mäßigten Landſtriche und der hohen Gebirge unter den Tropen es liefern. Iſt man an den Werken von Vieja Guyana vorbei, ſo wird der Orinoko wieder breiter. Hinſichtlich des Anbaues des Landes zeigen beide Ufer einen auffallenden Kontraſt. Gegen Nord ſieht man nur den öden Strich der Provinz Cumana, die unbewohnten Steppen (Llanos), die ſich bis jen— ſeits der Quellen des Rio Mamo, dem Plateau oder der Meſa von Guanipa zu, erſtrecken. Südwärts ſieht man drei volkreiche Dörfer, die zu den Miſſionen am Carony gehören, San Miguel de Uriala, San Felix und San Joaquin. Letz— teres Dorf, am Carony unmittelbar unterhalb des großen Kataraktes gelegen, gilt für den Stapelplatz der kataloniſchen Miſſionen. Fährt man weiter gegen Weſt, ſo hat der Steuer— mann zwiſchen der Mündung des Carony und Angoſtura die Klippen Guarampo, die Untiefe des Mamo und die Piedra del Rosario zu vermeiden. Ich habe nach dem umfangreichen Material, das ich mitgebracht, und nach den aſtronomiſchen Unterſuchungen, deren Hauptergebniſſe ich oben mitgeteilt, — 10 — eine Karte des Landes zwiſchen dem Delta des Orinoko, dem Carony und dem Cuyuni entworfen. Es iſt dies der Teil von Guyana, der wegen der Nähe der Küſte eines Tages für europäiſche Anſiedler die meiſte Anziehungskraft haben wird. In ihrem gegenwärtigen Zuſtande ſteht die ganze Be— völkerung dieſer großen Provinz, mit Ausnahme einiger ſpa— niſcher Kirchſpiele (Pueblos y villas de Espanoles), unter der Regierung zweier Mönchsorden. Schätzt man die Zahl der Einwohner von Guyana, die nicht in wilder Unabhängig⸗ keit leben, auf 35000, jo leben etwa 24000 in den Wil: ſionen und ſind dem unmittelbaren Einfluſſe des weltlichen Armes ſo gut wie entzogen. Zur Zeit meiner Reiſe hatte das Gebiet der Franziskaner von der Kongregation der Obſer— vanten 7300 Einwohner, das der Capuchinos catalanes 17 000; ein auffallendes Mißverhältnis, wenn man bedenkt, wie klein letzteres Gebiet iſt gegenüber den ungeheuren Ufer: ſtrecken am oberen Orinoko, Atabapo, Caſſiquiare und Rio Negro. Aus dieſen Angaben geht hervor, daß gegen zwei Dritteile der Bevölkerung einer Provinz von 16800 Meilen Flächeninhalt zwiſchen dem Rio Imataca und der Stadt Santo Tome de Angoſtura auf einem 250 km langen und 135 km breiten Striche zuſammengedrängt find. Dieſe beiden mönchiſchen Regierungen ſind den Weißen gleich unzugäng— lich und bilden einen status in statu. Ich habe bisher nach meinen eigenen Beobachtungen die der Obſervanten be— ſchrieben, und es bleibt mir jetzt noch übrig mitzuteilen, was ich über das andere Regiment, das der kataloniſchen Kapu— ziner, in Erfahrung gebracht. Verderbliche bürgerliche Zwiſte und epidemiſche Fieber haben in den letzten Jahren den Wohl— ſtand der Miſſionen am Carony, nachdem er lange im Zu— nehmen geweſen, heruntergebracht; aber trotz dieſer Verluſte iſt der Landſtrich, den wir beſuchen wollen, noch immer national— ökonomiſch ſehr intereſſant. Die Miſſionen der kataloniſchen Kapuziner hatten im Jahre 1804 zum wenigſten 60000 Stücke Vieh auf den Sa: vannen, die ſich vom öſtlichen Ufer des Carony und Para— aua bis zu den Ufern des Imataca, Curumu und Cuyuni erſtrecken; ſie grenzen gegen Südoſt an das engliſche Guyana oder die Kolonie Eſſequibo, gegen Süd, an den öden Ufern des Paragua und Paraguamuſi hinauf und über die Kordillere von Pacaraimo, laufen ſie bis zu den portugieſiſchen Nieder— — 131 — laſſungen am Rio Branco. Dieſer ganze Landſtrich iſt offen, voll ſchöner Savannen, ganz anders als das Land, über das wir am oberen Orinoko gekommen ſind. Undurchdringlich werden die Wälder erſt dem Süden zu, gegen Nord ſind Wieſengründe, von bewaldeten Hügeln durchſchnitten. Die ma⸗ leriſchten Landſchaften ſind bei den Fällen des Carony und in der 487 m hohen Bergkette zwiſchen den a e des Orinoko und denen des Cuyuni. Hier liegen Villa de Upata, der Hauptort der Miſſionen, Santa Maria und Cupapui. Auf kleinen Hochebenen herrſcht ein geſundes, gemäßigtes Klima; Kakao, Reis, Baumwolle, Indigo und Zucker wachſen überall in Fülle, wo der unberührte, mit dicker Grasnarbe bedeckte Boden beackert wird. Die erſten chriſtlichen Nieder: laſſungen reichen, glaube ich, nicht über das Jahr 1721 hinauf. Die Elemente der gegenwärtigen Bevölkerung ſind drei in— dianiſche Völkerſchaften, die Guayanos, die Kariben und die Guaica. Letztere find ein Gebirgsvolk und lange nicht von ſo kleinem Wuchſe wie die Guaica, die wir in Esmeralda getroffen. Sie ſind ſchwer an die Scholle zu feſſeln und die drei jüngſten Miſſionen, in denen fie beiſammen lebten, Cura, Curucuy und Arechica, ſind bereits wieder eingegangen. Von den Guyanos erhielt im 16. Jahrhundert die ganze weite Provinz ihren Namen; ſie ſind nicht ſo intelligent, aber ſanft— mütiger, und leichter, wenn nicht zu civiliſieren, doch zu bän— digen, als die Kariben. Ihre Sprache ſcheint zum großen Stamme der karibiſchen und e Sprachen zu ge⸗ hören. Sie iſt mit denſelben in den Wurzeln und gram⸗ matiſchen Formen verwandt, wie unter ſich Sanskrit, Perſiſch, Griechiſch und Deutſch. Bei etwas, das ſeinem Weſen nach unbeſtimmt iſt, laſſen ſich nicht leicht feſte Formen aufitellen, und man verſtändigt ſich ſehr ſchwer über die Unterſchiede zwiſchen Dialekt, abgeleiteter Sprache und Stammſprache. Durch die Jeſuiten in Paraguay kennen wir in der ſüdlichen Halbkugel eine andere Horde Guayanos, die in den dichten Wäldern am Parana leben. Obgleich ſich nicht in Abrede ziehen läßt, daß die Völker, die nördlich und ſüdlich vom Amazonenſtrom hauſen, durch weite Wanderzüge in gegen⸗ ſeitige Verbindung getreten ſind, ſo möchte ich doch nicht ent— ſcheiden, ob jene Guayanos am Parana und Uruguay mit denen am Carony mehr gemein haben als einen gleichlauten— den Namen, was auf einem Zufall beruhen kann. Die bedeutendſten chriſtlichen Niederlaſſungen liegen jetzt — 182 — zwiſchen den Bergen bei Santa Maria, der Miſſion San Miguel und dem öſtlichen Ufer des Carony, von San Buena: ventura bis Guri und dem Stapelplatz San Joaquin, auf einem Landſtrich von nur 9300 qkm beiſammen. Gegen Oſt und Süd ſind die Savannen faſt gar nicht bewohnt; dort liegen nur weit zerſtreut die Miſſionen Belem, Tumu— remo, Tupuquen, Puedpa und Santa Clara. Es wäre zu wünſchen, daß der Boden vorzugsweiſe abwärts von den Flüſſen bebaut würde, wo das Terrain höher und die Luft geſünder iſt. Der Rio Carony, ein herrlich klares, an Fiſchen armes Waſſer, iſt von Villa de Barceloneta an, die etwas über dem Einfluſſe des Paragua liegt, bis zum Dorfe Guri frei von Klippen. Weiter nordwärts ſchlängelt er ſich zwi— ſchen zahlloſen Eilanden und Felſen durch, und nur die kleinen Kanoen der Kariben wagen ſich in dieſe Raudales oder Strom: ſchnellen des Carony hinein. Zum Glück teilt ſich der Fluß häufig in mehrere Arme, ſo daß man denjenigen wählen kann. der nach Waſſerſtand am wenigſten Wirbel und Klippen über dem Waſſer hat. Der große Salto, vielberufen wegen der maleriſchen Reize der Landſchaft, liegt etwas oberhalb des Dorfes Aguacagua oder Carony, das zu meiner Zeit eine Bevölkerung von 700 Indianern hatte. Der Waſſerfall ſoll 5 bis 6 m hoch fein, aber die Schwelle läuft nicht über das ganze mehr als 100 m breite Flußbett. Wenn ſich einmal die Bevölkerung mehr gegen Oſt ausbreitet, ſo kann ſie die kleinen Flüſſe Imataca und Aquire benutzen, die ziemlich ges fahrlos zu befahren ſind. Die Mönche, die gern einſam hauſen, um ſich der Aufſicht der weltlichen Macht zu ent— ziehen, wollten ſich bis jetzt nicht am Orinoko anſiedeln. In— deſſen können die Miſſionen am Carony nur auf dieſem Fluſſe oder auf dem Cuyuni und dem Eſſequibo ihre Produkte aus— führen. Der letztere Weg iſt noch nicht verſucht worden, ob— gleich an einem der bedeutendſten Nebenflüſſe des Cuyuni, am Rio Juruario, bereits mehrere chriſtliche Niederlaſſungen liegen. Dieſer Nebenfluß zeigt bei Hochgewäſſer die merkwürdige Er— ſcheinung einer Gabelung; er ſteht dann über den Jurari— cuima und den Aurapa mit dem Rio Carony in Verbindung, ſo daß der Landſtrich zwiſchen dem Orinoko, der See, dem Cuyuni und dem Carony zu einer wirklichen Inſel wird. Furchtbare Stromſchnellen erſchweren die Schiffahrt auf dem oberen Cuyuni; man hat daher in der neueſten Zeit verſucht, einen Weg in die Kolonie Eſſequibo viel weiter gegen Südoſt — 13 — zu bahnen, wobei man an den Cuyuni weit unterhalb der Mündung des Cucumu käme. In dieſem ganzen ſüdlichen Landſtriche ziehen Horden un— abhängiger Kariben umher, die ſchwachen Reſte des kriegeri— ſchen Volksſtammes, der ſich bis zu den Jahren 1733 und 1735 den Miſſionären ſo furchtbar machte, um welche Zeit der ehrwürdige Biſchof Gervais de Labrid,“ Kanonikus des Metropolitankapitels zu Lyon, der Pater Lopez und mehrere andere Geiſtliche von den Kariben erſchlagen wurden. Dergleichen Unfälle, die früher ziemlich häufig vorkamen, ſind jetzt nicht mehr zu befahren, weder in den Miſſionen am Carony noch in denen am Orinoko; aber die unabhängigen Kariben ſind wegen ihres Verkehrs mit den holländiſchen Koloniſten am Eſſequibo für die Regierung von Guyana noch immer ein Gegenſtand des Mißtrauens und des Haſſes. Dieſe Stämme leiſten dem Schleichhandel an den Küſten und durch die Ka— näle oder Eſteres zwiſchen dem Rio Barima und dem Rio Moroca Vorſchub; ſie treiben den Miſſionären das Vieh weg und verleiten die neubekehrten Indianer (die unter der Glocke leben), wieder in den Wald zu laufen. Die freien Horden haben überall den natürlichen Trieb, ſich den Fort— ſchritten der Kultur und dem Vordringen der Weißen zu n Die Kariben und Aruaken verſchaffen ſich in Eſſequibo und Demerary Feuergewehre, und als der Handel mit amerikaniſchen Sklaven (Poitos) in Blüte ſtand, beteiligten ſich Abenteurer von holländiſchem Blut an den Einfällen an den Paragua, Erevato und Ventuario. Die Menſchenjagd wurde an dieſen Flüſſen betrieben, wie wahrſcheinlich noch jetzt am Senegal und Gambia. In beiden Welten haben die Europäer dieſelben Kunſtgriffe gebraucht, dieſelben Unthaten begangen, um einen Handel zu treiben, der die Menſchheit ſchändet. Die Miſſionäre am Carony und Orinoko ſchreiben alles Ungemach, das ſie von den freien Kariben zu erdulden haben, dem Haſſe ihrer Nachbarn, der calviniſtiſchen Prädi— kanten am Eſſequibo, zu. Ihre Schriften ſind daher auch voll Klagen über die Secta diabolica de Calvins y de Lutero und gegen die Ketzer in Holländiſch-Guyana, die ſich zu— weilen herausnehmen, das Miſſionsweſen zu treiben und Keime der Geſittung unter den Wilden ausſtreuen zu wollen. 1 Von Benedikt XIII. zum Biſchof für die vier Weltteile (obispo para las quatro partes del mundo) geweiht. — 184 — Unter allen vegetabiliſchen Erzeugniſſen dieſes Landes iſt durch die Betriebſamkeit der kataloniſchen Kapuziner der Baum, von dem die Cortex Angosturae kommt, fälſch⸗ lich „China von Carony“ genannt, am berühmteſten geworden. Wir haben ihn zuerſt als eine neue, von der Cinchona ganz verſchiedene Gattung der Familie der Meliaceen bekannt ge— macht. Früher meinte man, dieſes wirkſame Arzneimittel aus Südamerika komme von der Brucea ferruginea, die in Abeſſinien wächſt, von der Magnolia glauca und Magnolia Plumieri. Während der ſchweren Krankheit meines Reiſe— gefährten ſchickte Ravago einen vertrauten Mann in die Miſ— ſionen am Carony und ließ uns durch die Kapuziner in Upata blühende Zweige des Baumes verſchaffen, den wir wünſchten beſchreiben zu können. Wir bekamen ſehr ſchöne Exemplare, deren 40 em lange Blätter einen ſehr angenehmen aroma- tiſchen Geruch verbreiteten. Wir ſahen bald, daß der Cu— ſpare (dies iſt der indianiſche Name der Cascarilla oder der Corteza del Angostura) eine neue Gattung bildet; und bei Ueberſendung von Orinokopflanzen an Wildenow erſuchte ich dieſen, die Gattung nach Bonpland zu benennen. Der jetzt unter dem Namen Bonplandia trifoliata bekannte Baum wächſt 21 bis 27 km vom öſtlichen Ufer des Carony am Fuße der Hügel, welche die Miſſionen Copapui, Upata und Alta Gracia einſchließen. Die Kariben gebrauchen einen Aufguß der Rinde des Cuſpare als ein ſtärkendes Mittel. Bonpland hat denſelben Baum weſtwärts von Cumana im Meerbuſen Santa Fc entdeckt, und dort kann er für Neu— andaluſien ein Ausfuhrartikel werden. Die kataloniſchen Mönche bereiten einen Extrakt aus der Cortex Angostura, das ſie in die Klöſter ihrer Provinz verſenden und das im nördlichen Europa bekannter zu ſein verdiente. Hoffentlich wird die gegen Fieber und Ruhr ſo wirkſame Rinde der Bonplandia auch ferner angewendet, ob— gleich man unter dem Namen „Falſche Angoſtura“ eine andere Rinde eingeführt hat, die mit jener häufig verwechſelt wird. Dieſe „Falſche Angoſtura“ oder „Angostura pseudoferrugi- nosa“ kommt, wie man behauptet, von der Brucea anti- dyssenterica; fie wirkt ſehr ſtark auf die Nerven, bringt heftige Anfälle von Starrkrampf hervor und enthält nach Pelletiers und Caventous Verſuchen ein eigentümliches Alkali, das mit dem Morphium und dem Strychnin Aehnlichkeit hat. Der Baum, von dem die echte Cortex Angosturae kommt, J — 185 — iſt nicht ſehr häufig, und es erſcheint daher als wünſchens— wert, daß man ihn anpflanzt. Die kataloniſchen Ordensleute ſind ganz dazu geeignet, dieſen Kulturzweig in Aufnahme zu bringen. Sie ſind haushälteriſcher, betriebſamer und rüh— riger als die anderen Miſſionäre. Bereits haben ſie in einigen Dörfern Gerbereien und Baumwollſpinnereien angelegt, und wenn ſie fortan die Indianer die Früchte ihrer Arbeit genießen laſſen, ſo finden ſie ſicher an der eingeborenen Bevölkerung kräftige Unterſtützung. Da hier die Mönche auf kleinem Ge— biet beiſammen leben, fühlen ſie ihre politiſche Bedeutung, und ſie haben zu wiederholten Malen der weltlichen Gewalt wie der des Biſchofs Widerſtand geleiſtet. Die Statthalter in Angoſtura haben mit ſehr ungleichem Erfolg mit ihnen gekämpft, je nachdem das Miniſterium in Madrid ſich der kirchlichen Hierarchie gefällig erzeigen wollte oder ihre Macht zu beſchränken ſuchte. Im Jahre 1768 ließ Don Manuel Centurion den Miſſionären über 20000 Stücke Vieh weg— nehmen und ſie unter die dürftigſten Einwohner verteilen. Dieſe auf ziemlich ungeſetzliche Weiſe geübte Freigebigkeit hatte wichtige Folgen. Der Statthalter wurde auf die Klage der kataloniſchen Mönche abgeſetzt, obgleich er das Gebiet der Miſſionen gegen Süd bedeutend erweitert und über dem Zuſammenfluſſe des Carony mit dem Paragua die Villa Barceloneta und bei der Vereinigung des Paragua mit dem Paraguamuſi die Ciudad Guirior gegründet hatte. Seit jener Zeit bis auf die politiſchen Stürme, welche gegenwärtig in den ſpaniſchen Kolonieen toben, vermied die bürgerliche Be— hörde ſorgfältig jede Einmiſchung in die Angelegenheiten der Kapuziner. Man gefällt ſich darin, ihren Wohlſtand zu über— treiben, wie man früher bei den Jeſuiten in Paraguay gethan. Die Miſſionen am Carony vereinigen infolge der Boden— bildung! und des Wechſels von Savannen und Ackerland die Vorzüge der Llanos von Calabozo und der Thäler von Ara— gua. Der wahre Reichtum des Landes beruht auf der Vieh— zucht und dem Bau von Kolonialprodukten. Es iſt zu wün— ſchen, daß hier, wie in der ſchönen furchtbaren Provinz Vene— zuela, die Bevölkerung dem Landbau treu bleibt und nicht ſo bald darauf ausgeht, Erzgruben zu ſuchen. Deutſchlands und Mexikos Beiſpiel beweiſt allerdings, daß Bergbau und ı Kleine Hochebenen zwiſchen den Bergen bei Upata, Cumamu und Tupuquen ſcheinen über 290 m Meereshöhe zu haben. — 186 — eine blühende Landwirtſchaft keineswegs unverträglich find; aber nach Volksſagen kommt man über die Ufer des Carony zum See Dorado und zum Palaſt des vergoldeten Man⸗ nes, und da dieſer See und dieſer Palaſt ein Lokal my⸗ thus ſind, ſo wäre es gefährlich, Erinnerungen zu wecken, die ſich allmählich zu verwiſchen beginnen. Man hat mich ver— ſichert, noch bis zum Jahre 1760 ſeien die freien Kariben zum Cerro de Pajarcima, einem Berge ſüdlich von Vieja Guyana gekommen, um das verwitterte Geſtein auszuwaſchen. Der dabei gewonnene Goldſtaub wurde in Kalebaſſen der Crescentia Cujete aufbewahrt und in Eſſequibo an die Hollän— der verkauft. Noch ſpäter mißbrauchten mexikaniſche Berg: leute die Leichtgläubigkeit des Intendanten von Caracas, Don Joſe Avalo, und legten mitten in den Miſſionen am Carony, bei der Villa Upata in den Cerros del Potrero und Chirica große Hüttenwerke an. Sie erklärten, die ganze Gebirgsart ſei goldhaltig, und man baute Werkſtätten und Schmelzöfen. Nachdem man beträchtliche Summen verſchleudert, zeigte es ſich, daß die Kieſe keine Spur von Gold enthielten. Dieſe Verſuche, ſo fruchtlos ſie waren, riefen den alten Aberglauben wach, daß in Guyana „jedes glänzende Geſtein una madre del oro ſei“. Man begnügte ſich damit, Glimmerſchiefer zu ſchmelzen; bei Angoſtura zeigte man mir Schichten von Horn— blendeſchiefer ohne fremdartige Beimengung, die man unter dem wunderlichen Namen: ſchwarzes Golderz, oro negro, ausbeutete. Zur Vervollſtändigung der Beſchreibung des Orinoko teile ich an dieſer Stelle die Hauptergebniſſe meiner Unter— ſuchungen über den Dorado, über das Weiße Meer oder Laguna Parime und die Quellen des Orinoko mit, wie ſie auf den neueſten Karten gezeichnet ſind. Die Vorſtellung von einem überſchwenglich reichen Goldlande war ſeit dem Ende des 16. Jahrhunderts mit der anderen verbunden, daß ein großer Binnenſee den Orinoko, den Rio Branco und den Rio Eſſequibo zugleich mit Waſſer ſpeiſe. Ich glaube durch genauere Kenntnis der Oertlichkeiten, durch langes mühſames Studium der ſpaniſchen Schriftſteller, die vom Dorado han— deln, beſonders aber durch Vergleichung ſehr vieler alten, chronologiſch geordneten Karten den Quellen dieſes Irrtums auf die Spur gekommen zu ſein. Allen Märchen liegt etwas ı El Dorado, d. h. el rey 6 hombre dorado. — 187 — Wirkliches zu Grunde; das vom Dorado gleicht den Mythen des Altertums, die bei ihrer Wanderung von Land zu Lande immer den verſchiedenen Oertlichkeiten angepaßt wurden. Um Wahrheit und Irrtum zu unterſcheiden, braucht man in den Wiſſenſchaften meiſtens nur die Geſchichte der Vorſtellungen und ihre allmähliche Entwickelung zu verfolgen. Die Unter: ſuchung, mit der ich dieſes Kapitel beſchließe, iſt nicht allein deshalb von Belang, weil ſie Licht verbreitet über die Vor— gänge bei der Eroberung und über die lange Reihe unglück— licher Expeditionen, die unternommen worden, um den Dorado zu ſuchen, und deren letzte (man ſchämt ſich, es ſagen zu müſſen) in das Jahr 1775 fällt; neben dieſem rein hiſtori— ſchen Intereſſe haben ſie noch ein anderes unmittelbareres und allgemeineres: ſie können dazu dienen, die Geographie von Südamerika zu berichtigen, und auf den Karten, die ge— genwärtig erſcheinen, die großen Seen und das ſeltſame Fluß— netz auszumerzen, die wie aufs Geratewohl zwiſchen dem 60. und 69. Längengrad eingezeichnet werden. In Europa glaubt kein Menſch mehr an die Schätze in Guyana und an das Reich des großen Patiti. Die Stadt Manoa und ihre mit maſſiven Goldplatten bedeckten Paläſte ſind längſt verſchwun⸗ den; aber der geographiſche Apparat, mit dem die Sage vom Dorado aufgeputzt war, der See Parime, in dem ſich, wie im See bei Mexiko, jo viele herrliche Gebäude ſpiegelten, wurde von den Geographen gewiſſenhaft beibehalten. Im Laufe von drei Jahrhunderten erlitten dieſelben Sagen ver— ſchiedene Umwandlungen; aus Unkenntnis der amerikaniſchen Sprachen hielt man Flüſſe für Seen und Trageplätze für Flußverzweigungen; man rückte einen See (den Caſſipa) um 5 Breitengrade zu weit nach Süd, während man einen anderen (den Parime oder Dorado) 450 km weit weg vom weſt— lichen Ufer des Rio Branco auf das öſtliche verſetzte. Durch ſolch mancherlei Umwandlungen iſt das Problem, das uns hier vorliegt, weit verwickelter geworden, als man gewöhnlich glaubt. Der Geographen, welche bei Entwerfung einer Karte die drei Fundamentalpunkte, die Maße, die Vergleichung der beſchreibenden Schriften und die etymologiſche Unterſuchung der Namen immer im Auge haben, find ſehr wenige. Faſt alle ſeit 1775 erſchienenen Karten von Südamerika ſind, was das Binnenland zwiſchen den Steppen von Venezuela und dem Amazonenſtrom, zwiſchen dem Oſtabhang der Anden und den Küſten von Cayenne betrifft, reine Kopieen der großen — 18 — ſpaniſchen Karte des La Cruz Olmedilla. Eine Linie darauf, welche den Landſtrich bezeichnet, den Don Joſe Solano ent— deckt und durch ſeine Truppen und Emiſſäre zur Ruhe ge: bracht haben wollte, hielt man für den Weg, den der Kom— miſſär zurückgelegt, während er nie über San Fernando de Atabapo, das 720 km vom angeblichen See Parime liegt, hinausgekommen iſt. Man verſäumte es, das Werk des Pater Caulin zu Rate zu ziehen, des Geſchichtſchreibers von Solanos Expedition, der nach den Angaben der Indianer ſehr klar auseinanderſetzt, „wie der Name des Fluſſes Parime das Märchen vom Dorado und einem Binnenmeere veranlaßt hat“. Ganz unbenutzt ließ man ferner eine Karte vom Orinoko, die drei Jahre jünger iſt als die von La Cruz, und die von Surville nach dem ganzen zuverläſſigen wie hypothetiſchen Material in den Archiven des Despacho universal de Indias gezeichnet wurde. Die Fortſchritte der Geographie, ſoweit ſie ſich auf den Karten zu erkennen geben, ſind weit lang— ſamer, als man nach der Menge brauchbarer Reſultate, die in den Litteraturen der verſchiedenen Völker zerſtreut ſind, glauben ſollte. Aſtronomiſche Beobachtungen, topographiſche Nachweiſungen häufen ſich viele Jahre lang an, ohne daß ſie benutzt werden, und aus ſonſt ſehr lobenswertem Konſerva— tismus wollen die Kartenzeichner oft lieber nichts Neues bringen, als einen See, eine Bergkette oder ein Flußnetz opfern, die man nun einmal ſeit Jahrhunderten eingezeichnet hat. Da die fabelhaften Sagen vom Dorado und vom See Parime nach dem Charakter der Länder, denen man ſie an— paſſen wollte, verſchiedentlich gewendet worden ſind, ſo iſt herauszufinden, was daran richtig ſein mag und was rein chimäriſch iſt. Um nicht zu ſehr ins einzelne zu gehen, was beſſer der „Analyſe des geographiſchen Atlas“ vorbehalten bleibt, mache ich den Leſer vor allem auf die Oertlichkeiten aufmerkſam, welche zu verſchiedenen Zeiten der Schauplatz der Expeditionen zur Entdeckung des Dorado geweſen. Hat man ſich mit der Phyſiognomie des Landes und mit den örtlichen Umſtänden, wie wir ſie jetzt zu beſchreiben imſtande ſind, bekannt gemacht, ſo wird einem klar, wie die verſchie— denen Vorausſetzungen auf unſeren Karten nach und nach entſtehen und einander modifizieren konnten. Um einen Irr⸗ tum zu berichtigen, hat man nur die wechſelnden Geſtalten zu betrachten, unter denen er zu verſchiedenen Zeiten aufge— treten iſt. — 189 — Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts war das unge— heure Gebiet zwiſchen den Bergen von Franzöſiſch-Guyana und den Wäldern am oberen Orinoko, zwiſchen den Quellen des Rio Carony und dem Amazonenſtrom (von 0 bis 4“ nördlicher Breite und vom 57. bis 68. Grade der Länge) ſo wenig bekannt, daß die Geographen nach Gefallen Seen, Flußver— bindungen, mehr oder weniger hohe Berge einzeichnen konnten. Sie haben ſich dieſer Freiheit in vollem Maße bedient, und die Lage der Seen, wie der Lauf und die Verzweigungen der Flüſſe wurden ſo verſchiedenartig dargeſtellt, daß es nicht zu wundern wäre, wenn ſich unter den zahlloſen Karten ein paar fänden, die das Richtige getroffen hätten. Heutzutage iſt das Feld der Hypotheſen ſehr bedeutend kleiner geworden. Die Länge von Esmeralda am oberen Orinoko iſt von mir beſtimmt; weiter nach Oſt, mitten in den Niederungen der Parime (ein unbekanntes Land, wie Wangara und Dar-Saley in Afrika) iſt ein 90 km breiter Strich von Nord nach Süd an den Ufern des Rio Carony und des Rio Branco hin, unter dem 63. Grade der Länge, bereits begangen. Es iſt dies der gefährliche Weg, den Don Antonio Santos von Santo Tome de Angoſtura an den Rio Negro und den Amazonen— ſtrom eingeſchlagen, derſelbe, auf dem in neueſter Zeit An— ſiedler aus Surinam mit den Bewohnern von Gran Para verkehrt haben. Dieſer Weg ſchneidet die Terra incognita der Parime in zwei ungleiche Stücke; zugleich ſetzt er den Quellen des Orinoko Grenzen, ſo daß man dieſelben nicht mehr nach Belieben gegen Oſt ſchieben kann, weil ſonſt das Bett des oberen Orinoko, der von Oſt nach Weſt läuft, über das Bett des Rio Branco liefe, der von Nord nach Süd fließt. Verfolgt man den Rio Branco oder den Streifen Bauland, der zur Capitania general von Gran Para gehört, ſo ſieht man Seen, die von den Geographen zum Teil aus der Luft gegriffen, zum Teil vergrößert ſind, zwei geſonderte Gruppen bilden. Die erſte derſelben begreift die Seen, die man zwiſchen Esmeralda und den Rio Branco verlegt, zur zweiten gehören die, welche man auf dem Landſtrich zwiſchen dem Rio Branco und den Bergen von Franzöſiſch- und Hollän— diſch⸗Guyana einander gegenüber liegen läßt. Aus dieſer Ueberſicht ergibt ſich, daß die Frage, ob es oſtwärts vom Rio Branco einen See Parime gibt, mit der Frage nach den Quellen des Orinoko gar nichts zu thun hat. Außer dem eben bezeichneten Landſtriche (dem Dorado de — 190 — la Parime, durch den der Rio Branco läuft) gibt es 1170 km gegen Weſt am Oſtabhange der Kordilleren der Anden ein anderes Land, das in den Expeditionen zur Aufſuchung des Dorado ebenſo berufen iſt. Es iſt dies das Meſopotamien zwiſchen dem Caqueta, dem Rio Negro, dem Uaupes und dem Jurubeſh, von dem ich oben ausführlich geſprochen, der Do— rado der Oma gua, wo der See Manoa des Pater Acuna, die Laguna de oro der Guanesindianer und das Goldland liegen, aus dem Pater Fritz gegen das Ende des 17. Jahrhunderts in ſeiner Miſſion am Amazonenſtrom Gold— bleche erhalten hat. Die erſten und zumal berühmteſten Unternehmungen zur Auffindung des Dorado waren gegen den Oſtabhang der Anden von Neugranada gerichtet. Voll Verwunderung über den Bericht eines Indianers aus Tacunga von den Schätzen des Königs oder Zague von „Cundirumarca“, ſchickte Seba— ſtian de Belalcazar im Jahre 1535 die Hauptleute Anasco und Ampudia aus, das Valle del Dorado zu ſuchen, das zwölf Tagereiſen von Huallabamba, alſo in den Gebirgen zwiſchen Paſto und Popayan liegen ſollte. Die Nachrichten, welche Pedro de Anasco von den Eingeborenen eingezogen, in Verbindung mit den ſpäteren Mitteilungen des Diaz de Pineda (1536), der die Provinzen Quixos und Canela zwi— ſchen dem Rio Napo und dem Rio Paſtaga entdeckt hatte, brachten auf die Vorſtellung, daß öſtlich von den Nevados von Tunguragua, Cayambe und Popayan „weite Ebenen liegen, reich an edlen Metallen, wo die Eingeborenen Rüſtun— gen aus maſſiven Golde trügen“. Als man nun dieſe Schätze aufſuchte, entdeckte Gonzalo Pizarro (1539) zufällig den amerikaniſchen Zimtbaum (Laurus einnamomoides) und gelangte Francisco de Orellana über den Napo hinunter in den Amazonenſtrom. Von da an wurden zu gleicher Zeit von Venezuela, Neugranada, Quito und Peru, ja von Bra: ſilien und vom Rio de la Plata aus Expeditionen zur Er— oberung des Dorado unternommen. Am längſten haben ſich die Züge in das Land ſüdlich vom Guaviare, Rio Fragua und Caqueta im Gedächtnis erhalten, und durch ſie vor allen hat das Märchen von den Schätzen der Mangos, der Oma: gua und Guaypes, wie von der Exiſtenz der Lagunas de oro und der Stadt des vergoldeten Königs (der große Patiti, der große Moxo, der große Paru oder En im) Verbreitung gefunden. Da Orellana zwiſchen den Neben— — 11 — flüffen des Jupura und des Rio Negro Götzenbilder von maſſivem Golde gefunden hatte, ſo glaubte man an ein Gold— land zwiſchen dem Papamene und dem Guaviare. Seine Erzählung und die Reiſeberichte Jorges de Eſpira (Georg von Speier), Hernans Perez de Guezada und Felipes de Urre (Philipp von Hutten) verraten, neben vielen Uebertrei— bungen, genaue Lokalkenntniſſe. Betrachtet man ſie rein aus geographiſchem Geſichtspunkte, ſo ſieht man, daß das Beſtre— ben der erſten Konquiſtadoren fortwährend dahin ging, zum Landſtriche zwiſchen den Quellen des Rio Negro, des Uaupes (Guape) und des Jupura oder Caqueta zu gelangen. Dieſen Landſtrich haben wir oben, zum Unterſchied vom Dorado der Parime, den Dorado der Omagua genannt. Aller— dings hieß alles Land zwiſchen dem Amazonenſtrom und dem Orinoko im allgemeinen „Provincias del Dorado“; aber auf dieſem ungeheuren, mit Wäldern, Savannen und Gebirgen bedeckten Raume ſtrebte man, wenn man den großen See mit goldreichen Ufern und den vergoldeten König ſuchte, doch immer nur zwei Punkten zu, nordöſtlich und ſüdweſtlich vom Rio Negro, nämlich der Parime (dem Iſthmus zwiſchen dem Carony, Eſſequibo und Rio Branco) und den alten Wohn— plätzen der Mangos an den Ufern des Jurubeſh. Die Lage der letzteren Landſtriches, der in der Geſchichte der „Eroberung“ vom Jahre 1535 bis zum Jahre 1560 vielberufen war, habe ich oben angegeben; ich habe nun noch von der Bodenbildung zwiſchen den ſpaniſchen Miſſionen am Carony und den por— tugieſiſchen am Rio Branco zu ſprechen. Es iſt dies das Land in der Nähe des oberen Orinoko, Esmeraldas und von Holländiſch- und Franzöſiſch-Guyana, das am Ende des 16. Jahrhunderts Raleghs Unternehmungen und übertriebene Berichte in ſo hellem Glanze ſtrahlen ließen. Infolge des Laufes des Orinoko, indem er nacheinander erſt gegen Weſt, dann gegen Nord und endlich gegen Oſt fließt, liegt ſeine Mündung faſt im ſelben Meridian wie ſeine Quellen; geht man daher von Altguyana gegen Süd, ſo kommt man über das ganze Land, in das die Geographen nacheinander ein Binnenmeer (Mar blanco) und die verſchie— denen Seen verſetzen, die mit der Sage vom Dorado der Parime verknüpft ſind. Zuerſt kommt man an den Rio Carony, zu dem zwei faſt gleich ſtarke Zweige zuſammentreten, der eigentliche Carony und der Rio Paragua. Die Miſſionäre von Piritu nennen letzteren Fluß einen See (laguna). Er 1 iſt voll Klippen und kleiner Waſſerfälle; „da er aber über ein völlig ebenes Land läuft, tritt er zugleich häufig ſehr ſtark aus und man kann ſein eigentliches Bett (su verdadera caxa) kaum erkennen“. Die Eingeborenen nennen ihn Ba: ragua oder Parava, was auf karibiſch Meer oder großer See bedeutet. Dieſe örtlichen Verhältniſſe und dieſe Be— nennung ſind ohne Zweifel die Veranlaſſung geworden, daß man aus dem Rio Paragua, einem Nebenfluſſe des Carony, einen See gemacht und denſelben Caſſipa genannt hat, nach den Caſſipagoten, die in der Gegend wohnten. Ralegh gab dieſem Waſſerbecken 58,5 km Breite, und da alle Seen der Parime Goldſand haben müſſen, ſo ermangelt er nicht zu verſichern, wenn ſommers das Waſſer falle, finde man da— ſelbſt Goldgeſchiebe von bedeutendem Gewichte. Da die Quellen der Nebenflüſſe des Carony, Arui und Caura (Caroli, Arvi und Caora der alten Geographen) ganz nahe bei einander liegen, ſo kam man auf den Gedanken, alle dieſe Flüſſe aus dem angeblichen See Caſſipa entſpringen zu laſſen. Sanſon vergrößert den See auf 189 km Länge und 67,5 km Breite. Die alten Geographen kümmern ſich wenig darum, ob ſie die Zuflüſſe an beiden Ufern immer in derſelben Weiſe einander gegenüberſetzen, und ſo geben ſie die Mündung des Carony und den See Caſſipa, der durch den Carony mit dem Orinoko zuſammenhängt, zuweilen oberhalb des Ein— fluſſes des Meta an. So ſchiebt Hondius den See bis zum 2. und 3. Breitengrad hinunter und gibt ihm die Geſtalt eines Rechteckes, deſſen größte Seiten von Nord nach Süd gerichtet ſind. Dieſer Umſtand iſt bemerkenswert, weil man, indem man nach und nach dem See Caſſipa eine ſüdlichere Breite gab, denſelben vom Carony und Arui loslöſte und ihn Parime nannte. Will man dieſe Metamorphoſe in ihrer all— mählichen Entwickelung verfolgen, ſo muß man die Karten, die ſeit Raleghs Reiſe bis heute erſchienen ſind, vergleichen. La Cruz, dem alle neueren Geographen nachgezeichnet haben, läßt ſeinem See Parime die längliche Geſtalt des Sees Caſſipa, obgleich dieſe Geſtalt von der des alten Sees Parime oder Rupunuwini, deſſen große Achſe von Oſt nach Weſt gerichtet war, völlig abweicht. Ferner war dieſer alte See (der des Hondius, Sanſon und Coronelli) von Bergen umgeben und es entſprang kein Fluß daraus, während der See Parime des La Cruz und der neueren Geographen mit dem oberen Orinoko zuſammenhängt, wie der Caſſipa mit dem unteren Orinoko. — 193 — Ich habe hiermit den Urſprung der Fabel vom See Caſſipa erklärt, ſowie den Einfluß, den ſie auf die Vorſtellung gehabt, als ob der Orinoko aus dem See Parime entſpränge. Sehen wir jetzt, wie es ſich mit dem letzteren Waſſerbecken verhält, mit dem angeblichen Binnenmeere, das bei den Geographen des 16. Jahrhunderts Rupunuwini heißt. Unter 4 oder 4,50 der Breite (leider fehlt es in dieſer Rich— tung, ſüdlich von Santo Tome de Angoſtura, auf 8° weit ganz an aſtronomiſchen Beobachtungen) verbindet eine lange, ſchmale Kordillere, Pacaraimo, Quimiropaca und Ucucuamo enannt, die von Oſt nach Südweſt ſtreicht, den Bergſtock der er mit den Bergen von Holländische und Franzöſiſch— Guyana. Sie bildet die Waſſerſcheide zwiſchen dem Carony, Rupunury oder Rupunuwini und dem Rio Branco, und ſomit zwiſchen den Thälern des unteren Orinoko, des Eſſequibo und des Rio Negro. Nordweſtlich von dieſer Kordillere von Paca— raimo, über die nur wenige Europäer gekommen ſind (im Jahre 1739 der deutſche Chirurg Nikolaus Hortsmann, im Jahre 1775 ein ſpaniſcher Offizier, Don Antonio Santos, im Jahre 1791 der portugieſiſche Oberſt Barata, und im Jahre 1811 mehrere engliſche Koloniſten) kommen der Nocapra, der Paraguamuſi und der Paragua herab, die in den Carony fallen; gegen Nordoſt kommt der Rupunuwini herunter, ein Nebenfluß des Eſſequibo; gegen Süd vereinigen ſich der Tacutu und der Uraricuera zum vielberufenen Rio Parime oder Rio Branco. Dieſer Iſthmus zwiſchen den Zweigen des Rio Eſſequibo und des Rio Branco (das heißt zwiſchen dem Rupunuwini einerſeits, und dem Pirara, Mahu und Uraricuera oder Rio Parime andererſeits) iſt als der eigentliche klaſſiſche Boden des Dorado der Parime zu betrachten. Am Fuße der Berge von Pacaraimo treten die Flüſſe häufig aus, und ober— halb Santa Roſa heißt das rechte Ufer des Urariapara, der ſich in den Uraricuera ergießt, „el valle de la inundacion“. Ferner findet man zwiſchen dem Rio Parime und dem Kurumu große Lachen; auf den in neueſter Zeit in Braſilien gezeich— neten Karten, die über dieſen Landſtrich ſehr genau ſind, finden ſich dieſe Waſſerſtücke angegeben. Weiter nach Weſt kommt der Cano Pirara, der in den Mahu läuft, aus einem Binſenſee. Das iſt der von Nikolaus Hortsmann beſchriebene See Amucu, derſelbe, über den mir Portugieſen aus Barcelos, die am Rio Branco (Rio Parime oder Rio Paravigiana) A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 13 — 14 — geweſen waren, während meines Aufenthaltes in San Carlos del Rio Negro genaue Notizen gegeben haben. Der See Amucu iſt mehrere Meilen breit und hat zwei kleine Inſeln, die ich Santas Islas Ipomucena nennen hörte. Der Rupu⸗ nuwini, an deſſen Ufer Hortsmann Felſen mit hieroglyphiſchen Bildern entdeckt hat, kommt dieſem See ganz nahe, ſteht aber in keiner Verbindung mit demſelben. Der Trageplatz zwiſchen dem Rupunuwini und dem Mahu liegt weiter gegen Nord, wo der Berg Ucucuamo ſich erhebt, der bei den Eingeborenen noch jetzt der Goldberg heißt. Sie gaben Hortsmann den Rat, um den Rio Mahu herum eine Silbergrube (ohne Zweifel großblätteriger Glimmer), Diamanten und Smaragde zu ſuchen: der Reiſende fand aber nichts als Bergkriſtall. Aus ſeinem Berichte ſcheint hervorzugehen, daß der ganze nach Oſt ſtreichende Zug der Gebirge am oberen Orinoko (Sierra Parime) aus Graniten beſteht, in denen, wie am Pik Duida, häufig Druſen und offene Gänge vorkommen. In dieſer Gegend, die noch immer für ſehr goldreich gilt, leben an der Weſt⸗ grenze von Holländifh-Guyana die Macuſi, Aturajos und Acuvajos; ſpäter fand Santos dieſe Völkerſchaften zwiſchen dem Rupunuwini, dem Mahu und der Bergkette Pacaraimo angeſiedelt. Das glimmerreiche Geſtein am Berge Ucucuamo, der Name des Rio Parime, das Aus: treten der Flüſſe Urariapara, Parime und Zurumu, beſonders aber der See Amucu (der nahe beim Rio Rupunuwini liegt und für die Hauptquelle des Rio Parime gilt) haben die Fabel vom Weißen Meere und dem Dorado der Parime veranlaßt. Alle dieſe Momente (und eben dadurch wirkten ſie zu einer Vorſtellung zuſammen) finden ſich auf einer von Nord nach Süd 36 bis 40 km breiten, von Oſt nach Weſt 180 km langen Strecke nebeneinander. Dieſe Lage gab man auch bis zum Anfange des 16. Jahrhunderts dem Weißen Meere, nur daß man es in der Richtung eines Parallels verlängerte. Dieſes Weiße Meer iſt nun aber nichts anderes als der Rio Parime, der auch Weißer Fluß, Rio Branco oder de aguas blancas heißt und dieſen ganzen Landſtrich, über den er läuft, unter Waſſer ſetzt. Auf den älteſten Karten heißt das Weiße Meer Rupunuwini, und daraus geht hervor, daß die Sage eben hier zu Hauſe iſt, da unter allen Nebenflüſſen des Eſſequibo der Rio Rupunuwini dem See Amucu am nächſten kommt. Bei ſeiner erſten Reiſe (1595) er — 195 — machte ſich Ralegh noch keine beſtimmte Vorſtellung von der Lage des Dorado und des Sees Parime, den er für geſalzen hielt und den er ein „zweites Kaſpiſches Meer“ nennt. Erſt bei der zweiten, gleichfalls auf Raleghs Koſten unternommenen Reiſe (1596) gab Lawrence Keymis die Oertlichkeiten des Dorado ſo beſtimmt an, daß, wie mir dünkt, an der Identität der Parime de Manoa mit dem See Amucu und dem Iſthmus zwiſchen dem Rupunuwini (der in den Eſſequibo läuft) und dem Rio Parime oder Rio Branco gar nicht zu zweifeln iſt. „Die Indianer,“ ſagt Keymis, „fahren den Eſſequibo ſüdwärts in 20 Tagen hinauf. Um die Stärke des Fluſſes anzudeuten, nennen ſie ihn den Bruder des Ori— noko. Nach 20tägiger Fahrt ſchaffen ſie ihre Kanoen über einen Trageplatz in einem einzigen Tage aus dem Fluſſe Deſſekebe auf einen See, den die Jaos Roponowini, die Kariben Parime nennen. Dieſer See iſt groß wie ein Meer; es fahren unzählige Kanoen darauf, und ich vermute (die Indianer hatten ihm alſo nichts davon geſagt), daß es der— ſelbe See iſt, an dem die Stadt Manoa liegt.“ Hondius gibt eine merkwürdige Abbildung von jenem Trageplatz, und da nach der damaligen Vorſtellung die Mündung des Carony unter dem 4. Breitengrad (ſtatt unter 8“ 8°) lag, ſo ſetzte man den Trageplatz ganz nahe an den Aequator. Zur ſelben Zeit ließ man den Viapoco (Oyapoc) und den Rio Cayane (Maroni?) aus jenem See Parime kommen. Der Umſtand, daß die Kariben den weſtlichen Zweig des Rio Branco ebenſo nennen, hat vielleicht ſoviel dazu beigetragen, den See Amucu in der Einbildung zu vergrößern, als die Ueberſchwemmungen der verſchiedenen Nebenflüſſe des Uraricuera von der Mündung des Tacutu bis zum Valle de la inundacion. Wir haben oben geſehen, daß die Spanier den Rio Paragua oder Parava, der in den Carony fällt, für einen See hielten, weil das Wort Parava Meer, See, Fluß bedeutet. Ebenſo ſcheint Parime großes Waſſer im all— gemeinen zu bedeuten, denn die Wurzel par kommt in kari⸗ biſchen Benennungen von Flüſſen, Lachen, Seen und Meeren vor. Im Arabiſchen und im Perſiſchen dienen ebenſo bahr und deria gleichmäßig zur Bezeichnung des Meeres, der Seen und der Flüſſe, und dieſer Brauch, der ſich bei vielen Völkern in beiden Welten findet, hat auf den alten Karten Seen in Flüſſe und Flüſſe in Seen umgewandelt. Zur Bekräftigung des eben Geſagten führe ich einen ſehr achtbaren Zeugen auf, — 196 — Pater Caulin. „Als ich,“ ſagt dieſer Miſſionär, der ſich länger als ich am unteren Orinoko aufgehalten hat, „die Indianer fragte, was denn die Parime ſei, ſo erwiderten ſie, es ſei nichts als ein Fluß, der aus einer Bergkette komme, an deren anderem Abhange der Eſſequibo entſpringe.“ Caulin weiß nichts vom See Amucu, und erklärt den Glauben an ein Binnenmeer nur aus den Ueberſchwemmungen der Ebenen, a las inundaciones dilatadas por los bajos del pays.! Ihm zufolge rühren alle Mißgriffe der Geographen von dem leidigen Umſtande her, daß alle Flüſſe in Guyana an ihren Mün— dungen andere Namen haben als an ihren Quellen. „Ich zweifle nicht,“ ſagt er weiter, „daß einer der oberen Zweige des Rio Branco derſelbe Rio Parime iſt, den die Spanier für einen See gehalten haben (a quien suponian laguna).“ Dieſe Notizen hatte der Geſchichtſchreiber der Grenzexpedition an Ort und Stelle geſammelt, und er hätte wohl nicht ge— glaubt, daß La Cruz und Surville richtige Begriffe und alte Vorſtellungen vermengen und auf ihren Karten das Mar Dorado oder Mar Blanco wieder zum Vorſchein bringen würden. So kommt es, daß, obgleich ich ſeit meiner Rückkehr aus Amerika vielfach den Beweis geführt, daß ein Binnen: meer, aus dem der Orinoko entſpränge, gar nicht exiſtiert, in neueſter Zeit unter meinem Namen eine Karte? erſchienen iſt, auf der die Laguna de Parime wiederum auftritt. Aus allem Bisherigen geht hervor: 1) daß die Lagung Rupunuwini oder Parime aus Raleghs Reiſe und auf den Karten des Hondius ein chimäriſcher See iſt, zu dem der See Amucu und die häufigen Ueberſchwemmungen der Neben— flüſſe des Uraricuera Veranlaſſung gegeben; 2) daß die Laguna Parime auf Survilles Karte der See Amucu iſt, aus dem der Rio Pirara und (zugleich mit dem Mahu, dem Tacutu, dem Uraricuera oder dem eigentlich ſogenannten Rio Parime) der Rio Branco entſpringt; 3) daß die Laguna Parime des La Cruz eine eingebildete Erweiterung des Rio Parime (der mit dem Orinoko verwechſelt wird) unterhalb der Ver— einigung des Mahu mit dem Kurumu iſt. Von der Mün⸗ dung des Mahu bis zu der des Tacutu beträgt die Ent— fernung kaum 0° 40'; La Cruz macht 7 Breitengrade daraus. Dies iſt auch Walkengers und Malte Bruns Anſicht. ? Carte de l’Amerique, dressee sur les observations de Mr. de Humboldt, par Fried. Wien 1818. Er nennt das obere Stück des Rio Branco (in das der Mahu fällt) Orinoko oder Puruma. Dies iſt ohne allen Zweifel der Kurumu, ein Nebenfluß des Tacutu, der den Einwoh— nern des benachbarten Forts San Joaquim wohlbekannt iſt. Alle Namen, die in der Sage vom Dorado vorkommen, finden ſich unter den Nebenflüſſen des Rio Branco. Geringfügige örtliche Verhältniſſe und die Erinnerung an den Salzſee in Mexiko, zumal aber an den See Manda im Dorado der Omagua wirkten zuſammen zur Ausmalung eines Bildes, das der Einbildungskraft Raleghs und ſeiner beiden Unter— befehlshaber, Keymis und Maſham, den Urſprung verdankt. Nach meiner Anſicht laſſen ſich die Ueberſchwemmungen des Rio Branco höchſtens mit denen des Red River in Louiſiana zwiſchen Natchitotches und Cados vergleichen, keineswegs aber mit der Laguna de los Karayes, die eine periodiſche Aus: breitung des Rio Paraguay iſt.! Wir haben im Bisherigen ein Weißes Meer be— ſprochen, durch das man den Hauptſtamm des Rio Branco laufen läßt, und ein zweites,? das man oſtwärts von dieſem Fluſſe ſetzt, und das mit demſelben mittels des Cano Pirara zuſammenhängt. Noch gibt es einen dritten See, den man weſtwärts vom Rio Branco verlegt, und über den ich erſt kürzlich intereſſante Angaben im handſchriftlichen Tagebuch des Chirurgen Hortsmann gefunden habe. „Zwei Tagereiſen unterhalb des Einfluſſes des Mahu (Tacutu) in den Rio Parime (Uraricuera) liegt auf einem Berggipfel ein See, in dem dieſelben Fiſche vorkommen wie im Parime; aber die Waſſer des erſteren ſind ſchwarz, die des letzteren weiß.“ Hat nun nicht vielleicht Surville nach einer dunkeln Kunde von dieſem Waſſerbecken auf der Karte, die er zu Pater Caulins Werk entworfen, ſich einen 45 km langen Alpenſee ausgedacht, bei dem (gegen Oſt) der Orinoko und der Idapa, ein Neben: fluß des Rio Negro, zumal entſpringen? So unbeſtimmt die Dieſe periodiſchen Ueberſchwemmungen des Rio Paraguay haben in der ſüdlichen Halbkugel lange dieſelbe Rolle geſpielt, wie der See Parime in der nördlichen. Hondius und Sanſon ließen aus der Laguna de los Karayes den Rio de la Plata, den Rio Tapajos (einen Nebenfluß des Amazonenſtroms), den Rio Tocantins und den Rio de San Francisco entſpringen. 2 Survilles See, der für den See Amucu fteht. Der See, den Surville Laguna tenida hasta ahora por la Laguna Parime nennt. — 198 — Angabe des Chirurgen aus Hildesheim lautet, ſo läßt ſich doch unmöglich annehmen, daß der Berg, auf deſſen Gipfel ſich ein See befindet, nördlich vom Parallel von 2° ½“ liege, und dieſe Breite kommt ungefähr mit der des Cerro Unturan überein. Es ergibt ſich daraus, daß Hortsmanns Alpſee, der d' Anvilles una entgangen iſt, und der vielleicht mitten in einer Berggruppe liegt, nordöſtlich vom Trageplatz zwiſchen dem Idapa und Mavaca und ſüdöſtlich vom Orinoko, oberhalb Esmeralda, zu ſuchen iſt. Die meiſten Geſchichtſchreiber, welche die erſten Jahr— hunderte nach der Eroberung beſchrieben haben, ſchienen der feſten Anſicht, daß die Namen Provincias und Pais del Dorado urſprünglich jeden goldreichen Landſtrich bedeuteten. Sie vergeſſen den etymologiſchen Sinn des Wortes Dorado (der Vergoldete) und bemerken nicht, daß die Sage ein Lokalmythus iſt, wie ja auch faſt alle Mythen der Griechen, Hindu und Perſer. Die Geſchichte vom vergoldeten Mann iſt urſprünglich in den Anden von Neugranada zu Hauſe, beſonders auf den Niederungen am Oſtabhange der— ſelben; nur allmählich, wie ich oben gezeigt, ſieht man ſie 1350 km gegen Oſt-Nord-Oſt von den Quellen des Caqueta an die des Rio Branco und des Eſſequibo herüberrücken. Man hat in verſchiedenen Gegenden von Südamerika bis zum Jahr 1536 Gold geſucht, ohne daß das Wort Dorado aus— geſprochen worden wäre, und ohne daß man an die Exiſtenzen eines anderen Mittelpunktes der Kultur und der Schätze als das Reich der Inka von Cuzco geglaubt hätte. Länder, aus denen gegenwärtig auch nicht die kleinſte Menge edlen Metalls in den Handel kommt, die Küſte von Paria, Terra Firma (Castilla del Oro), die Berge von Santa Marta und die Landenge Darien waren damals ſo vielberufen, wie in neuerer Zeit der goldhaltige Boden in Sonora, Choco und Braſilien. Diego de Ordaz (1531) und Alonzo de Herrera (1535) zogen auf ihren Entdeckungsreiſen an den Ufern des unteren Orinoko hin. Erſterer iſt der berüchtigte Konquiſtador von Mexiko, der ſich rühmte, Schwefel aus dem Krater des Piks Popokatepetl geholt zu haben, und dem Karl V. die Erlaubnis erteilte, einen brennenden Vulkan im Wappen zu führen. Ordaz war zum Adelantado allen Landes ernannt worden, das er zwiſchen Braſilien und Venezuela erobern könnte, und das damals das Land der deutſchen Kompanie der Welſer (Belzares) hieß, und ging auf ſeinem Zuge von der Mündung — 199 — des Amazonenſtromes aus. Er ſah dort in den Händen der Eingeborenen „fauſtgroße Smaragde“. Es waren ohne Zweifel Stücke Sauſſurit, von dem dichten Feldſpat, den wir vom Orinoko zurückgebracht, und den La Condamine an der Mün— dung des Rio Tapajos in Menge angetroffen. Die Indianer ſagten Diego de Ordaz, „wenn er ſo und ſo viele Sonnen gegen Weſten hinauffahre, komme er an einen großen Fels (peda) von grünem Geſtein“; bevor er aber dieſen vermeint— lichen Smaragdberg (Euphotitgeſtein?) erreichte, machte ein Schiffbruch allen weiteren Entdeckungen ein Ende. Mit ge— nauer Not retteten ſich die Spanier in zwei kleinen Fahrzeugen. Sie eilten, aus der Mündung des Amazonenſtromes hinaus— zukommen, und die Strömungen, die in dieſen Strichen ſtark nach Nordweſt gehen, führten Ordaz an die Küſte von Paria oder auf das Gebiet der Kaziken von Yuripari (Uriapari, Viapari). Sedeno hatte die Casa fuerte de Paria gebaut, und da dieſer Poſten ganz nahe an der Mündung des Orinoko lag, beſchloß der mexikaniſche Konquiſtador, eine Expedition auf dieſem großen Strome zu verſuchen. Er hielt ſich zuerſt in Carao (Caroa, Carora) auf, einem großen indianiſchen Dorfe, das mir etwas oſtwärts vom Einfluß des Carony ge— legen zu haben ſcheint; er fuhr ſofort nach Cabruta (Cabuta, Cabritu) hinauf und an den Einfluß des Meta (Metacuyu), wo er mit großen Fährlichkeiten ſeine Fahrzeuge über den Raudal von Cariven ſchaffte. Wir haben oben geſehen, daß das Bett des Orinoko bei der Einmündung des Meta voll Klippen iſt. Die Aruakenindianer, die Ordaz als Wegweiſer dienten, rieten ihm, den Meta hinaufzufahren; ſie verſicherten ihn, weiter gegen Weſt finde er bekleidete Menſchen und Gold in Menge. Ordaz wollte lieber auf dem Orinoko weiterfahren, aber die Katarakte bei Tabaje (vielleicht ſogar die bei Atures) nötigten ihn, ſeine Entdeckungen aufzugeben. Auf dieſem Zuge, der lange vor den des Orellana fällt und alſo der bedeutendſte war, den die Spanier bis dahin auf einem Strome der Neuen Welt unternommen, hörte man zum erſtenmal den Namen Orinoko ausſprechen. Ordaz, der Anführer der Expedition, verſichert, von der Mündung bis zum Einfluß des Meta heiße der Strom Uriaparia, oberhalb dieſes Einfluſſes aber Orinucu. Dieſes Wort (ähnlich gebildet wie die Worte Tamanacu, Otomacu, Sinarucu) ge hört wirklich der tamanakiſchen Sprache an, und da die Ta⸗ manaken ſüdöſtlich von Encaramada wohnen, ſo iſt es natür— — 200 — lich, daß die Konquiſtadoren den jetzigen Namen des Stromes erſt in der Nähe des Rio Meta zu hören bekamen. Auf dieſem Nebenfluß erhielt Diego de Ordaz von den Eingeborenen die erſte Kunde von civiliſierten Völkern, welche auf den Hoch— ebenen der Anden von Neugranada wohnen, „von einem ge— waltigen, einäugigen Fürſten und von Tieren, kleiner als Hirſche, auf denen man aber reiten könne, wie die Spanier auf den Pferden“. Ordaz zweifelte nicht, daß dieſe Tiere Lama oder Ovejas del Peru ſeien. Soll man annehmen, daß die Lama, die man in den Anden vor dem Pflug und als Laſttiere, aber nicht zum Reiten brauchte, früher nördlich und öſtlich von Quito verbreitet geweſen? Ich finde wirklich, daß Orellana welche am Amazonenſtrom geſehen hat, oberhalb des Einfluſſes des Rio Negro, alſo in einem Klima, das von dem der Hochebene der Anden bedeutend abweicht. Das Mär— chen von einem auf Lama berittenen Heere von Omagua mußte dazu dienen, den Bericht der Begleiter Felipes de Urre über ihren ritterlichen Zug an den oberen Orinoko auszu— ſchmücken. Dergleichen Sagen find äußerſt beachtenswert, weil ſie darauf hinzuweiſen ſcheinen, daß die Haustiere Quitos und Perus bereits angefangen hatten von den Kordilleren herabzukommen und ſich allmählich in den öſtlichen Landſtrichen von Südamerika zu verbreiten. Im Jahre 1533 wurde Herrera, der Schatzmeiſter bei Diegos de Ordaz' Expedition, vom Statthalter Geronimo de Ortal mit der weiteren Erforſchung des Orinoko und des Meta beauftragt. Er brachte zwiſchen Punta Barima und dem Einfluſſe des Carony faſt 13 Monate mit dem Bau platter Fahrzeuge und den notwendigen Zurüſtungen zu einer langen Reiſe hin. Man lieſt nicht ohne Verwunderung die Erzählung dieſer kühnen Unternehmungen, wobei man drei:, vierhundert Pferde einſchiffte, um ſie ans Land zu ſetzen, ſo oft die Reiterei am einen oder dem anderen Ufer etwas aus— richten konnte. Wir finden bei Herreras Expedition dieſelben Stationen wieder, die wir bereits kennen gelernt: die Feſte Paria, das indianiſche Dorf Uriaparia (wahrſcheinlich unter— halb Imataca an einem Punkte, wo ſich die Spanier wegen der Ueberſchwemmung des Deltas kein Brennholz verſchaffen konnten), Caroa in der Provinz Carora, die Flüſſe Caranaca (Caura?) und Caxavana (Cuchivero?), das Dorf Cabritu (Gabruta) und den Raudal am Einfluß des Meta. Da der Rio Meta ſehr berühmt war, weil ſeine Quellen und ſeine — 201 — Nebenflüſſe den goldhaltigen Kordilleren von Neugranada (Cundinamarca) nahe liegen, jo verſuchte er ihn hinaufzufahren. Er fand daſelbſt civiliſiertere Völker als am Orinoko, die aber das Fleiſch ſtummer Hunde aßen. In einem Gefecht wurde Herrera durch einen mit Curareſaft (Merva) vergifteten Pfeil getötet; ſterbend ernannte er Alvaro de Ordaz zu ſei— nem Stellvertreter. Dieſer führte (1535) die Trümmer der Expediton nach der Feſte Paria zurück, nachdem er vollends die wenigen Pferde eingebüßt, die einen achtzehnmonatlichen Feldzug ausgehalten. Dunkle Gerüchte über die Schätze der Völker am Meta und anderen Nebenflüſſen am Oſtabhang der Kordilleren von Neugranada veranlaßten nacheinander, in den Jahren 1535 und 1536, Geronimo de Ortal, Nikolaus Federmann und Jorge de Eſpira (Georg von Speier) zu Expeditionen auf Landwegen gegen Süd und Südweſt. Vom Vorgebirge Paria bis zum Cabo de la Vela hatte man ſchon ſeit den Jahren 1498 und 1500 in den Händen der Eingeborenen kleine ge— goſſene Goldbilder geſehen. Die Hauptmärkte für dieſe Amu— lette, die den Weibern als Schmuck dienten, waren die Dörfer Curiana (Coro) und Cauchieto (beim Rio la Hacha). Die Gießer in Cauchieto erhielten das Metall aus einem Berg— land weit gegen Süden. Die Expeditionen des Ordaz und des Herrera hatten das Verlangen, dieſe goldreichen Land— ſtriche zu erreichen, natürlich geſteigert. Georg von Speier brach (1535) von Coro auf und zog über die Gebirge von Merida an den Apure und Meta. Er ging über dieſe bei— den Flüſſe nahe bei ihren Quellen, wo ſie noch nicht breit ſind. Die Indianer erzählten ihm, weiter vorwärts ziehen weiße Menſchen auf den Ebenen umher. Speier, der ſich nahe am Amazonenſtrome glaubte, zweifelte nicht, daß dieſe umherziehenden Spanier, Schiffbrüchige von der Expedi— tion des Ordaz ſeien. Er zog über die Savannen von San Juan de los Llanos, die reich an Gold ſein ſollten, und blieb lange in einem indianiſchen Dorfe, Pueblo de Nueſtra Sensora, ſpäter Fragua genannt, ſüdöſtlich vom Paramo de la Suma Paz. Ich war am Weſtabhange dieſes Bergſtocks, in Fuſagaſuga, und hörte, die Ebenen gegen Oſt am Fuße der Berge ſeien noch jetzt bei den Eingeborenen wegen ihres Reich— tums berufen. Im volkreichen Dorfe Fragua fand Speier eine Casa del Sol (Sonnentempel) und ein Jungfrauenkloſter, ähnlich denen in Peru und Neugranada. Hatte ſich hier der — 202 — Kultus gegen Oſt ausgebreitet, oder ſind etwa die Ebenen bei San Juan die Wiege desſelben? Nach der Sage war allerdings Bochica, der Geſetzgeber von Neugranada und Ober— prieſter von Iraca, von den Ebenen gegen Oſt auf das Pla— teau von Bogota heraufgekommen. Da aber Bochica in einer Perſon Sohn und Sinnbild der Sonne iſt, ſo kann ſeine Geſchichte rein aſtrologiſche Allegorien enthalten. Auf ſeinem weiteren Zuge nach Süd ging Speier über die zwei Zweige des Guaviare, den Ariare und Guayavero, und gelangte ans Ufer des großen Rio Papamene oder Caqueta. Der Wider— ſtand, den er ein ganzes Jahr lang in der Provinz Los Cho— ques fand, machte dieſer denkwürdigen Expedition ein Ende (1537). Nikolaus Federmann und Geronimo de Ortal ver— folgten von Macarapana und der Mündung des Rio Neveri aus Jorges de Eſpira Spuren. Erſterer ſuchte Gold im großen Magdalenenſtrome, letzterer wollte einen Sonnen: tempel am Ufer des Meta entdecken. Da man die Landes— ſprache nicht verſtand, ſah man am Fuße der Kordilleren überall einen Abglanz der großartigen Tempel von Iraca (Sogamozo), dem damaligen Mittelpunkt der Kultur in Cun— dinamarca. Ich habe bis jetzt aus geographiſchem Geſichtspunkt die Reiſen beſprochen, welche auf dem Orinoko und gegen Weſt und Süd an den Oſtabhang der Anden unternommen wurden, bevor ſich die Sage vom Dorado unter den Konquiſtadoren verbreitet hatte. Dieſe Sage ſtammt, wie wir oben angeführt, aus dem Königreich Quito, wo Luis Daca im Jahre 1535 einen Indianer aus Neugranada traf, der von ſeinem Fürſten (ohne Zweifel vom Zippa von Bogota oder vom Zaque von Tunja) abgeſandt war, um von Atahualpa, dem Inka von Peru, Kriegshilfe zu erbitten. Dieſer Abgeſandte pries wie gewöhnlich die Schätze ſeiner Heimat; was aber den Spaniern, die mit Daca in der Stadt Tacunga (Llactaconga) waren, ganz beſonders auffiel, das war die Geſchichte von einem vornehmen Mann, „der, den Körper mit Goldſtaub be— deckt, in einen See mitten im Gebirge ging“. Dieſer See könnte die Lagung de Tota, etwas oſtwärts vom Sogamozo (Iraca) und Tunja (Hunca) ſein, wo das geiſtliche und das weltliche Haupt des Reiches Cundinamarca oder Condirumarca ihren Sitz hatten; da ſich aber keinerlei geſchichtliche Erinne— rung an dieſen See knüpft, ſo glaube ich vielmehr, daß mit dem, in welchen man den vergoldeten großen Herrn ä — 2053 — gehen ließ, der heilige See Guatavita, oſtwärts von den Steinſalzgruben vor Zipaquira, gemeint iſt. Ich ſah am Rande dieſes Waſſerbeckens die Reſte einer in den Fels ge— hauenen Treppe, die bei den gottesdienſtlichen Waſchungen gebraucht wurde. Die Indianer erzählen, man habe Goldſtaub und Goldgeſchirr hineingeworfen, als Opfer für die Götzen des Adoratorio de Guatavita. Man ſieht noch die Spuren eines Einſchnittes, den die Spanier gemacht, um den See trocken zu legen. Da der Sonenntempel von Sogamozo den Nord— fülten von Terra Firma ziemlich nahe liegt, jo wurden die Vorſtellungen vom vergoldeten Mann bald auf einen Ober— prieſter von der Sekte des Bochica oder Idacanzas überge— tragen, der ſich gleichfalls jeden Morgen, um das Opfer zu verrichten, auf Geſicht und Hände, nachdem er dieſelben mit Fett eingerieben, Goldſtaub kleben ließ. Nach anderen Nach— richten, die in einem Schreiben Oviedos an den berühmten Kardinal Bembo aufbehalten ſind, ſuchte Gonzalo Pizarro, als er den Landſtrich entdeckte, wo die Zimtbäume wachſen, zu— gleich „einen großen Fürſten, von dem hierzulande viel die Rede geht, der immer mit Goldſtaub überzogen iſt, ſo daß er vom Kopf zu Fuß ausſieht wie ung figura d'oro lavo— rata di mano d'un buonissimo orifice. Der Goldſtaub wird mittels eines wohlriechenden Harzes am Leibe befeſtigt; da aber dieſe Art Anzug ihm beim Schlafen unbequem wäre, ſo wäſcht ſich der Fürſt jeden Abend und läßt ſich morgens wieder vergolden, welches beweiſt, daß das Reich des Dorado ungemein viele Goldgruben haben muß.“ Es iſt ganz wohl anzunehmen, daß unter den von Bochica ein— geführten gottesdienſtlichen Zeremonien eine war, die zu einer ſo allgemein verbreiteten Sage Anlaß gab. Fand man doch in der Neuen Welt die allerwunderlichſten Gebräuche. In Mexiko bemalten ſich Opferprieſter den Körper; ja ſie trugen eine Art Meßgewand mit hängenden Aermeln aus gegerbter Menſchenhaut. Ich habe Zeichnungen derſelben bekannt ge— macht, die von den alten Einwohnern von Anahuac herrühren und in ihren gottesdienſtlichen Büchern aufbehalten ſind. Am Rio Caura und in anderen wilden Landſtrichen von Guyana, wo der Körper bemalt ſtatt tättowiert wird, reiben ſich die Eingeborenen mit Schildkrötenfett ein und kleben ſich metalliſch glänzende, ſilberweiße und kupferrote Glimmer— plättchen auf die Haut. Von weitem ſieht dies aus, als trügen ſie mit Borten beſetzte Kleider. Der Sage vom ver— — 204 — goldeten Mann liegt vielleicht ein ähnlicher Brauch zu Grunde, und da es in Neugranada zwei ſouveräne Fürſten gab,! den Lama in Iraca und das weltliche Oberhaupt oder den Zaque in Tunja, ſo iſt es nicht zu verwundern, daß das— ſelbe Zeremoniell bald dem König, bald dem Oberprieſter zu— geſchrieben wird. Auffallender erſcheint es, daß man vom Jahre 1535 an das Land des Dorado oſtwärts von den Anden geſucht hat. Robertſon nimmt in ſeiner Geſchichte des neuen Kontinents an, die Sage ſei zuerſt Orellana (1540) am Amazonenſtrom zu Ohren gekommen; aber das Buch des Fray Pedro Simon, dem Queſadas, des Eroberers von Cundi— rumarca, Aufzeichnungen zu Grunde liegen, beweiſt das Gegen— teil, und bereits im Jahre 1536 ſuchte Gonzalo Diaz de Pineda den vergoldeten Mann jenſeits der Niederungen der Provinz Quixos. Der Geſandte aus Bogota, den Daca im Königreich Quito getroffen, hatte von einem oſtwärts gelegenen Lande geſprochen; that er etwa ſo, weil die Hochebene von Neugranada nicht nordwärts, ſondern nordoſtwärts von Quito liegt? Man ſollte meinen, die Sage von einem nackten, mit Goldſtaub überzogenen Mann müßte urſprünglich in einem heißen Lande zu Hauſe ſein, und nicht auf den kalten Hoch— ebenen von Cundirumarca, wo ich den Thermometer oft unter + oder 5° fallen ſah; indeſſen iſt das Klima infolge der un: gewöhnlichen Bodenbildung auch in Guatavita, Tunja, Iraca und am Ufer des Sogamozo ſehr verſchieden. Nicht ſelten behält man gottesdienſtliche Gebräuche bei, die aus einem anderen Erdſtrich herrühren, und nach alten Sagen ließen die Muysca ihren erſten Geſetzgeber und Stifter ihres Gottes— dienſtes, Bochica, aus den Ebenen oſtwärts von den Kordilleren herkommen. Ich laſſe unentſchieden, ob dieſe Sagen auf einer geſchichtlichen Thatſache beruhten oder ob damit, wie ſchon oben bemerkt, nur angedeutet ſein ſollte, daß der erſte Lama, der Sohn und Sinnbild der Sonne iſt, notwendig aus Län— dern gegen Aufgang gekommen ſein müſſe. Wie dem ſei, ſo viel iſt gewiß, der Ruf, den der Orinoko, der Meta und die Provinz Papamene zwiſchen den Quellen des Guaviare und Caqueta durch die Expeditionen des Ordaz, Herrera und Georgs von Speier bereits erlangt, trug dazu bei, die Sage Gerade wie im alten Reiche Meroe, in Tibet, und wie der Dairi und der Kubo in Japan. DP — 205 — vom Dorado in der Nähe des Oſtabhanges der Kordilleren zu fixieren. Daß auf der Hochebene von Neugranada drei Heerhaufen zuſammentrafen, machte, daß ſich in ganz Amerika, ſoweit es von den Spaniern beſetzt war, die Kunde von einem noch zu erobernden reichen, ſtark bevölkerten Lande verbreitete. Sebaſtian de Belalcazar zog von Quito über Popayan nach Bogota (1536); Nikolaus Federmann kam von Venezuela, von Oſt her über die Ebenen am Meta. Dieſe beiden An— führer trafen auf der Hochebene von Condirumarca bereits den vielberufenen Adelantado Gonzalo Ximenes de Que— ſada, von dem ich einen Nachkommen bei Zipaquira barfuß das Vieh habe hüten ſehen. Das zufällige Zuſammentreffen der drei Konquiſtadoren, eines der merkwürdigſten und dra— matiſchten Ereigniſſe in der Geſchichte der Eroberung, fand im Jahre 1538 ſtatt. Belalcazar erhitzte durch ſeine Berichte die Phantaſie abenteuerluſtiger Krieger; man verglich, was der Indianer aus Tacunga Luis Daca erzählt, mit den ver— worrenen Vorſtellungen von den Schätzen eines großen ein— äugigen Königs und von einem bekleideten, auf Lama reiten: den Volke, die Ordaz vom Meta mitgebracht. Pedro de Limpias, ein alter Soldat, der mit Federmann auf der Hoch— ebene von Bogota geweſen war, brachte die erſte Kunde vom Dorado nach Coro, wo das Andenken an die Expedition Georgs von Speier (1535 bis 1537) an den Rio Papamene noch ganz friſch war. Von dieſer ſelben Stadt Coro aus unternahm auch Felipe de Hutten (Urre, Utre) ſeine vielbe— rufene Reiſe in das Gebiet der Omagua, während Pizarro, Orellana und Hernan Perez de Queſada, der Bruder des Adelantado, das Goldland am Rio Napo, längs des Ama— zonenſtromes und in der öſtlichen Kette der Anden von Neu— granada ſuchten. Die Eingeborenen, um ihrer unbequemen Gäſte los zu werden, verſicherten allerorten, zum Dorado ſei leicht zu kommen, und zwar ganz in der Nähe. Es war wie ein Phantom, das vor den Spaniern entwich und ihnen beſtändig zurief. Es liegt in der Natur des flüchtigen Erden— bewohners, daß er das Glück in der unbekannten Weite ſucht. Der Dorado, gleich dem Atlas und den Heſperiſchen Inſeln, rückte allgemach vom Gebiete der Geographie auf das der Mythendichtung hinüber. Die vielfachen Unternehmungen zur Aufſuchung dieſes eingebildeten Landes zu erzählen, liegt nicht in meiner Abſicht. — 206 — Ohne Zweifel verdankt man denſelben großenteils die Kennt: nis vom Inneren Amerikas; ſie leiſteten der Geographie Dienſte, wie ja der Irrtum oder gewagte Theorieen nicht ſelten zur Wahrheit führen; aber in der vorliegenden Erörterung kann ich mich nur bei den Umſtänden aufhalten, die auf die Ent— werfung der alten und neuen Karten unmittelbar Einfluß gehabt haben. Hernan Perez de Queſada ſuchte nach der Abreiſe ſeines Bruders, des Adelantado, nach Europa von neuem (1539), diesmal aber im Berglande nordöſtlich von Bogota, den Sonnentempel (Casa del Sol), von dem Gero— nimo de Ortal (1536) am Meta hatte ſprechen hören. Der von Bochica eingeführte Sonnendienſt und der hohe Ruf des Heiligtums zu Iraca oder Sogamozo gaben Anlaß zu jenen verworrenen Gerüchten von Tempeln und Götzenbildern aus maſſivem Golde; aber auf den Bergen wie in den Niede— rungen glaubte man immer weit davon zu ſein, weil die Wirklichkeit den chimäriſchen Träumen der Einbildungskraft jo wenig entſprach. Francisco de Drellana fuhr, nachdem er mit Pizarro den Dorado in der Provincia de los canelos und an den goldhaltigen Ufern des Napo vergebens geſucht, den großen Amazonenſtrom hinunter (1540). Er fand dort zwiſchen den Mündungen des Javari und des Rio de la Trinidad (Yupura?) einen goldreichen Landſtrich, genannt Machiparo (Muchifaro), in der Nähe des Aomaguas oder Omaguas. Dieſe Kunde trug dazu bei, daß der Dorado ſüdoſtwärts verlegt wurde, denn Omaguas (Om-Aguas, Aguas), Dit-Aguas und Papamene waren Benennungen für dasſelbe Land, für das, welches Georg von Speier auf ſeinem Zuge an den Caqueta entdeckt hatte. Mitten auf den Niederungen nordwärts vom Amazonenſtrom wohnten die Omagua, die Manaos oder Manoas und die Guaypes (Haupes oder Guayupes), drei mächtige Völker, deren letzteres, deſſen Wohnſitze weſtwärts am Guaupe oder Uaupe liegen, ſchon in den Reiſeberichten Queſadas und Huttens erwähnt wird. Dieſe beiden in der Geſchichte Amerikas gleich berühmten Konquiſtadoren kamen auf verſchiedenen Wegen in die Llanos von San Juan, die damals Valle de Nueſtra Sefora hießen. Hernan Perez de Queſada ging (1541) über die Kor: dilleren von Cundirumarca, wahrſcheinlich zwiſchen den Para— mos Chingaſa und Suma Paz, während Felipe de Hutten, in Begleitung Pedros de Limpias (desſelben, der von den Hochebenen von Bogota die erſte Kunde vom Dorado nach — 207 — Venezuela gebracht hatte) von Nord nach Süd den Weg ein— ſchlug, auf dem Georg von Speier am Oſtabhang der Ge— birge hingezogen war. Hutten brach von Coro, dem Haupt— ſitz der deutſchen Faktorei oder Geſellſchaft der Welſer auf, als Heinrich Remboldt an der Spitze derſelben ſtand. Nachdem er über die Ebenen am Caſanare, Meta und Caguan gezogen (1541), kam er an den oberen Guaviare (Guayare), den man lange für den Urſprung des Orinoko gehalten hat und deſſen Mündung ich auf dem Wege von San Fernando de Atabapo an den Rio Negro geſehen habe. Nicht weit vom rechten Ufer des Guaviare kam Hutten in die Stadt der Guaypes, Macatoa. Das Volk daſelbſt trug Kleider, die Felder ſchienen gut angebaut, alles deutete auf eine Kul— tur, die ſonſt dieſem heißen Landſtrich im Oſten der Kor— dilleren fremd war. Wahrſcheinlich war Georg von Speier bei ſeinem Zuge an den Rio Caqueta und in die Provinz Papamene weit oberhalb Macatoa über den Guaviare gegan— gen, bevor die beiden Zweige dieſes Fluſſes, der Ariari und der Guayavero, ſich vereinigen. Hutten erfuhr, auf dem Wege weiter nach Südoſt komme er auf das Gebiet der großen Nation des Omagua, deren Prieſter-König Quareca heiße und große Herden von Lama beſitze. Dieſe Spuren von Kul— tur, dieſe alten Verbindungen mit der Hochebene von Quito ſcheinen mir ſehr bemerkenswert. Wir haben ſchon oben er: wähnt, daß Orellana bei einem indianiſchen Häuptling am Amazonenſtrom Lama geſehen, und daß Ordaz auf den Ebenen am Meta davon hatte ſprechen hören. Ich halte mich nur an das, was in den Bereich der Geographie fällt, und beſchreibe weder nach Hutten jene un⸗ ermeßlich große Stadt, die er von weitem geſehen, noch das Gefecht mit den Omagua, wobei 39 Spanier (ihrer 14 ſind in den Nachrichten aus jener Zeit namentlich aufgeführt) mit 15000 Indianern zu thun hatten. Dieſe lügenhaften Gerüchte haben zur Ausſchmückung der Sage vom Dorado ſehr viel beigetragen. Der Name der Stadt der Omagua kommt in Huttens Bericht nicht vor, aber die Manoas, von denen Pater Fritz noch im 17. Jahrhundert in ſeiner Miſſion Purimaguas Goldbleche erhielt, find Nachbarn der Omagua. Später wurde der Name Manoa aus dem Lande der Ama- zonen auf eine eingebildete Stadt im Dorado der Parime übergetragen. Der bedeutende Ruf, in dem die Länder zwiſchen dem Caqueta (Papamene) und Guaupe (einem x — 208 — Nebenfluſſe des Rio Negro) ſtanden, veranlaßte (1560) Pedro de Urſua zu der unheilvollen Expedition, welche mit der Em— pörung des Tyrannen Aguirre endigte. Als er den Caqueta hinabfuhr, um ſofort in den Amazonenſtrom zu gelangen, hörte Urſua von der Provinz Caricuri ſprechen. Dieſe Benennung weiſt deutlich auf das Goldland hin, denn, wie ich ſehe, heißt Gold auf tamanakiſch Caricuri, auf karibiſch Carucuru. Sollte der Ausdruck für Gold bei den Völkern am Orinoko ein Fremdwort ſein, wie Zucker und Coton in den europäiſchen Sprachen? Dies wieſe wohl darauf hin, daß dieſe Völker die edlen Metalle mit den fremden Erzeug— niſſen haben kennen lernen, die ihnen von den Kordilleren! oder von den Ebenen am Oſtabhang der Anden zugekommen. Wir kommen jetzt zum Zeitpunkt, wo der Mythus vom Dorado ſich im öſtlichen Strich von Guyana, zuerſt beim angeblichen See Caſſipa (an den Ufern des Paragua, eines Nebenfluſſes des Carony) und dann zwiſchen den Quellen des Rio Eſſequibo und des Rio Branco, feſtſetzte. Dieſer Umſtand iſt vom bedeutendſten Einfluſſe auf die Geographie dieſer Länder geweſen. Antonio de Berrio, der Schwieger— ſohn und einzige Erbe des großen Adelantado Ximenez de Queſada, ging weſtwärts von Tunja über die Kordilleren, ſchiffte ſich auf dem Rio Caſanare ein und fuhr auf dieſem Fluß, auf dem Meta und Orinoko hinab nach der Inſel Trinidad. Wir wiſſen von dieſer Reiſe faſt nur, was Ralegh davon berichtet; ſie ſcheint wenige Jahre vor die erſte Grün— dung von Vieja Guyana im Jahr 1591 zu fallen. Einige Jahre darauf (1595) ließ Berrio durch feinen Maese de Campo, Domingo de Vera, eine Expedition von 2000 Mann ausrüſten, welche den Orinoko hinaufgehen und den Dorado erobern ſollte, den man jetzt das Land Manoa, ſogar Laguna de la Gran Manoa zu nennen anfing. Reiche Grundeigentümer verkauften ihre Höfe, um den Kreuzzug mit⸗ zumachen, dem ſich zwölf Obſervanten und zehn Weltgeiſtliche anſchloſſen. Die Mären eines gewiſſen Martinez (Juan Martin de Albujar?), der bei der Expedition des Diego de Ordaz wollte zurückgelaſſen und von Stadt zu Stadt in die 'Im Peruaniſchen oder dem Qquichua (Lengua del Inga) heißt Gold Cori, woher Chichicori, Goldſtaub, und Corikoya, Golderz. — 209 — Hauptſtadt des Dorado geſchleppt worden fein, hatten Berrios Phantaſie erhitzt. Was dieſer Konquiſtador auf der Fahrt den Orinoko herab ſelbſt beobachtet, iſt ſchwer von dem zu unterſcheiden, was er, wie er angibt, aus einem in Por⸗ torico aufbewahrten Tagebuche des Martinez geſchöpft hat. Man ſieht, man hatte damals vom neuen Kontinent im all— gemeinen dieſelben Vorſtellungen, wie wir ſo lange von Afrika. Man meinte tiefer im Lande mehr Kultur anzu— treffen als an den Küſten. Bereits Juan Gonzalez, den Diego de Ordaz abgeſandt hatte, die Ufer des Orinoko zu unterſuchen (1531), behauptete, „je weiter man auf dem Orinoko hinaufkomme, deſto ſtärker werde die Bevölkerung“. Berrio erwähnt zwiſchen den Mündungen des Meta und des Cuchivero der häufig unter Waſſer ſtehenden Provinz Ama— paja, wo er viele kleine gegoſſene goldene Götzenbilder ge— funden, ähnlich denen, welche in Cauchieto öſtlich von Coro verfertigt wurden. Er meinte, dieſes Gold komme aus dem Granitboden des bergigen Landes zwiſchen Carichana, Uruana und dem Cuchivero. Und allerdings haben in neuerer Zeit die Eingeborenen in der Quebrada del tigre bei der Mij: ſion Encamerada ein Goldgeſchiebe gefunden. Oſtwärts von der Provinz Amapaja erwähnt Berrio des Rio Carony (Ca— roly), den man aus einem großen See entſpringen ließ, weil man einen der Nebenflüſſe des Carony, den Rio Paragua (Fluß des großen Waſſers), aus Unbekanntſchaft mit den indianiſchen Sprachen für ein Binnenmeer gehalten hatte. Mehrere ſpaniſche Geſchichtſchreiber glaubten, dieſer See, die Quelle des Carony, ſei Berrios Gran Manoa; aber aus den Nachrichten, die Berrio Ralegh mitgeteilt, iſt erſichtlich, daß man annahm, die Laguna de Manoa (del Dorado oder de Parime) liege ſüdlich vom Rio Paragua, aus dem man die Laguna Caſſipa gemacht hatte. „Dieſe beiden Waſſerbecken hatten goldhaltigen Sand; aber am Ufer des Caſſipa lag Macureguaria (Margureguaira), die Hauptſtadt des Kaziken Aromaja und die vornehme Stadt des eingebil— deten Reiches Guyana.“ Da dieſe häufig überſchwemmten Landſtriche von jeher von Völkern karibiſchen Stammes bewohnt waren, die tief ins Land hinein mit den entlegenſten Gegenden einen ungemein lebhaften Handel trieben, ſo iſt nicht zu verwundern, daß man hier bei den Indianern mehr Gold fand als irgendwo. Die Eingeborenen im Küſtenland brauchten dieſes Metall nicht A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 14 — 210 — allein zum Schmuck und zu Amuletten, ſondern auch in ge: wiſſen Fällen als Tauſchmittel. Es erſcheint daher ganz natürlich, daß das Gold an den Küſten von Paria und bei den Völkern am Orinoko verſchwunden iſt, ſeit der Verkehr mit dem Inneren durch die Europäer abgeſchnitten wurde. Die unabhängig gebliebenen Eingeborenen ſind gegenwärtig unzweifelhaft elender, träger und verſunkener als vor der Eroberung. Der König von Miorequito, derſelbe, deſſen Sohn Ralegh nach England mitgenommen hatte, war im Jahre 1594 nach Cumana gekommen, um gegen eine große Menge maſſiver Goldbilder eiſerne Geräte und europäiſche Waren einzutauſchen. Dieſes unerwartete Auftreten eines indiani— ſchen Häuptlings ſteigerte noch den Ruf der Schätze des Orinoko. Man ſtellte ſich vor, der Dorado müſſe nicht weit vom Lande ſein, aus dem der König von Morequito gekom— men; und da das Land dort häufig unter Waſſer ſtand und die Flüſſe die allgemeinen Namen „großes Meer“, „großes Waſſerſtück“ führten, jo mußte ſich der Dorado am Ufer eines Sees befinden. Man dachte nicht daran, daß das Gold, das die Kariben und andere Handelsvölker mitbrachten, ſo wenig ein Erzeugnis ihres Bodens war, als die braſilianiſchen und oſtindiſchen Diamanten Erzeugniſſe der europäiſchen Län— der ſind, wo ſie ſich am meiſten zuſammenhäufen. Berrios Expedition, die, während die Schiffe in Cumana, bei Mar— garita und Trinidad anlegten, ſehr ſtark an Mannſchaft ge— worden war, ging über Morequito (bei Vieja Guyana) dem Rio Paragua, einem Nebenfluß des Carony, zu; aber Krank— heiten, der wilde Mut der Eingeborenen und der Mangel an Lebensmitteln ſetzten dem Zug der Spanier unüberſteigliche Hinderniſſe entgegen. Alle gingen zu Grunde bis auf dreißig, welche im kläglichſten Zuſtand zum Poſten Santo Tome zurückkamen. Dieſe Unfälle kühlten den Eifer, mit dem bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts der Dorado aufgeſucht wurde, keines— wegs ab. Der Statthalter von Trinidad, Antonio de Berrio, wurde von Sir Walter Ralegh gefangen genommen, als dieſer im Jahr 1595 den vielberufenen Einfall auf die Küſte von Venezuela und an die Mündungen des Orinoko machte. Von Berrio und anderen Gefangenen, die Kapitän Preſton bei der Einnahme von Caracas gemacht, konnte Ralegh alles in Erfahrung bringen, was man damals von den Ländern ſüdwärts von Vieja Guyana wußte. Er glaubte an die — 211 — Märchen, welche Juan Martin de Albujar ausgeheckt, und zweifelte weder an der Exiſtenz der beiden Seen Caſſipa und Rupunuwini, noch am Beſtehen des großen Reiches des Inka, das flüchtige Fürſten (nach Atahualpas Tode) an den Quellen des Rio Eſſequibo gegründet haben ſollten. Die Karte, welche Ralegh entworfen und deren Geheimhaltung er Lord Charles Howard empfahl, beſitzen wir nicht mehr; aber der Geograph Hondius hat dieſe Lücke ausgefüllt; ja er gibt ſeiner Karte ein Verzeichnis von Längen- und Breitenangaben bei, wobei die Laguna del Dorado und die kaiſerliche Stadt Manoas vorkommen. Während Ralegh an der Punta del Gallo (auf der Inſel Trinidad) ſich aufhielt, ließ er durch ſeine Unterbefehlshaber die Mündungen des Orinoko, nament— lich die von Capuri, Gran Amana (Manamo grande) und Macureo (Macareo) unterſuchen. Da ſeine Schiffe einen bedeutenden Tiefgang hatten, hielt es ſehr ſchwer, in die Bocas chicas einzulaufen, und er mußte ſich flache Fahrzeuge bauen laſſen. Er bemerkte die Feuer der Trivitivas (Tibitibies) vom Stamme der Guaraunen auf den Mauritiapalmen, deren Frucht, fructum squamorum, similem Palmae Pini, er zuerſt nach Europa gebracht hat. Es wundert mich, daß von der Nieder— laſſung, die Berrio unter dem Namen Santo Tome (la Vieja Guyana) gegründet, ſo gut wie gar nicht die Rede iſt; und doch reicht dieſelbe bis zum Jahre 1591 hinauf, und obgleich nach Fray Pedro Simon „Religion und Politik jeden Handels— verkehr zwiſchen Chriſten (Spaniern) und Ketzern (Holländern und Engländern) verbieten“, wurde damals, am Ende des 16. Jahrhunderts, wie gegenwärtig ein lebhafter Schleich— handel über die Mündungen des Orinoko getrieben. Ralegh ging über den Fluß Europa (Guarapo) und „die Ebenen der Saymas (Chaymas), die im ſelben Niveau bis Cumana und Caracas fortſtreichen“; in Morequito (vielleicht etwas nordwärts von Villa de Upata in den Miſſionen am Carony) machte er Halt, und hier beſtätigte ihm ein alter Kazike alle phantaſtiſchen Vorſtellungen Berrios von einem Einfall frem— der Völker (Orejones und Epuremei) in Guyana. Die Katarakten des Caroli (Carony), welcher Fluß damals für den kürzeſten Weg zu den beiden am See Caſſipa und am See Rupunuwini oder Dorado gelegenen Städten 3 und Manoa galt, ſteckten der Expedition ein Ziel. Ralegh hat den Orinoko nur auf einer Strecke von kaum — 212 — 270 km befahren; er nennt aber nach den ſchwankenden An⸗ gaben, die er zuſammengebracht, die oberen Zuflüſſe, den Cari, den Pao, den Apure (Capuri?), den Guarico (Voari?), den Meta, ſogar „in der Provinz Baraguan den großen Waſſerfall Athule (Atures), der aller weiteren Flußfahrt ein Ende macht“. Trotz ſeiner Uebertreibungen, die ſich für einen Staatsmann wenig ziemen, bieten Raleghs Berichte wichtiges Material zur Geſchichte der Geographie. Der Orinoko ober— halb des Einfluſſes des Apure war damals den Europäern ſo wenig bekannt, als heutzutage der Lauf des Nigir unter— halb Segu. Man hatte die Namen verſchiedener, weit ent: fernter Nebenflüſſe vernommen, aber man wußte nicht, wo ſie lagen; man zählte ihrer mehr auf, als wirklich ſind, wenn derſelbe Name, verſchieden ausgeſprochen oder vom Ohr un— richtig aufgefaßt, verſchieden klang. Andere Irrtümer haben vielleicht ihre Quellen darin, daß dem ſpaniſchen Statthalter Antonio de Berrio wenig daran gelegen ſein konnte, Ralegh richtige, genaue Notizen zu geben; letzterer beklagt ſich auch über ſeinen Gefangenen „als einen Menſchen ohne Bildung, der Dit und Weſt nicht zu unterſcheiden wiſſe“. Ob Ralegh an alles, was er vorbringt, an die Binnenmeere, ſo groß wie das Kaſpiſche Meer, an die kaiſerliche Stadt Manoa (imperial and golden city), an die prächtigen Paläſte, welche der „Kaiſer Inga von Guayana“ nach dem Vorbild ſeiner perua— niſchen Ahnen erbaut, — ob er an all das wirklich geglaubt oder ſich nur ſo angeſtellt, das will ich hier nicht unterſuchen. Der gelehrte Geſchichtſchreiber von Braſilien, Southey, und der Biograph Raleghs, Cayley, haben in neueſter Zeit viel Licht über dieſen Punkt verbreitet. Daß der Führer der Ex— pedition und die unter ihm Befehlenden ungemein leichtgläubig waren, iſt ſchwerlich zu bezweifeln. Man ſieht, Ralegh paßte alles von vornherein angenommenen Vorausſetzungen an. Sicher war er ſelbſt getäuſcht, wenn es aber galt, die Phan— taſie der Königin Eliſabeth zu erhitzen und die Plane ſeiner ehrgeizigen Politik durchzuführen, ſo ließ er keinen Kunſtgriff der Schmeichelei unverſucht. Er ſchildert der Königin „das Entzücken der barbariſchen Völker beim Anblick ihres Bild— niſſes; der Name der erhabenen Jungfrau, welche ſich Reiche zu unterwerfen weiß, ſoll bis zum Lande der kriegeriſchen Weiber am Orinoko und Amazonenſtrom dringen; er ver— ſichert, als die Spanier den Thron von Cuzco umgeſtoßen, habe man eine alte Prophezeiung gefunden, der zufolge die — — 213 — Dynaſtie der Inka dereinſt Großbritannien ihre Wiederher⸗ ſtellung zu danken haben werde; er gibt den Rat unter dem Vorwand, das Gebiet gegen äußere Feinde ſchützen zu wollen, Beſatzungen von drei⸗, viertauſend Mann in die Städte des Inka zu legen und dieſen ſo zu einem jährlichen Tribut von 300 000 Pfund Sterling an Königin Eliſabeth zu nötigen; endlich äußert er mit einem Blick in die Zukunft, alle dieſe gewaltigen Länder Südamerikas werden eines Tages Eigentum der engliſchen Nation ſein“. Raleghs vier Fahrten auf dem unteren Orinoko fallen zwiſchen die Jahre 1595 und 1617. Nach all dieſen vergeb⸗ lichen Unternehmungen ließ der Eifer, mit dem man den Dorado aufſuchte, allmählich nach. Fortan kam keine Ex⸗ pedition mehr zuſtande, an der ſich zahlreiche Koloniſten be⸗ teiligten, wohl aber Unternehmungen einzelner, zu denen nicht ſelten die Statthalter der Provinzen aufmunterten. Die Kunde vom Goldland der Manoasindianer am Jurubeſh und von der Laguna de oro, die durch die Reiſen der Patres Acuna (1688) und Fritz (1637) in Umlauf kam, trugen das Ihrige dazu bei, daß die Vorſtellungen vom Dorado in den portugieſiſchen und ſpaniſchen Kolonieen im Norden und Süden des Aequators wieder rege wurden. In Cuenca im König: reich Quito traf ich Leute, die im Auftrag des Biſchofs Marfil öſtlich von den Kordilleren auf den Ebenen von Macas die Trümmer der Stadt Zogrono, die in einem goldreichen Lande liegen ſollte, aufgeſucht hatten. Aus dem ſchon mehrmals erwähnten Tagebuche Hortsmanns erſehen wir, daß man im Jahre 1740 von Holländiſch⸗Guyana her zum Dorado zu gelangen glaubte, wenn man den Eſſequibo hinauffuhr. In Santo Tome de Angoſtura entwickelte der Statthalter Don Manuel Centurion ungemeinen Eifer, um zum eingebildeten See Manoa zu dringen. Arimuicaipi, ein Indianer von der Nation der Ipurucoten, fuhr den Rio Carony hinab und entzündete durch lügenhafte Berichte die Phantaſie der ſpani⸗ ſchen Koloniſten. Er zeigte ihnen am Südhimmel die Ma⸗ gelhaensſchen Wolken, deren weißliches Licht er für den Wider⸗ ſchein der ſilberhaltigen Felſen mitten in der Laguna Parime erklärte. Es war dies eine ſehr poetiſche Schilderung des Glanzes des Glimmer⸗ und Talkſchiefers ſeines Landes. Ein anderer indianiſcher Häuptling, bei den Kariben am Eſſequibo als Kapitän Jurado bekannt, gab ſich vergebliche Mühe, den Statthalter Centurion zu enttäuſchen. Man machte frucht⸗ — 214 — loſe Verſuche auf dem Caura und dem Rio Paragua. Mehrere hundert Menſchen kamen bei dieſen tollen Unternehmungen elend ums Leben. Die Geographie zog indeſſen einigen Nutzen daraus. Nicolas Rodriguez und Antonio Santos wurden vom ſpaniſchen Statthalter auf dieſe Weiſe gebraucht (1775 bis 1780). Letzterer gelangte auf dem Carony, dem Paragua, dem Paraguamuſi, dem Anocapra und über die Berge Pacaraimo und Quimiropaca an den Uraricuera und den Rio Branco. Die Reiſetagebücher dieſer abenteuerlichen Unternehmungen haben mir treffliche Notizen geliefert. Die Seekarten, welche der Florentiner Reiſende Amerigo Bejpucei! in den erſten Jahren des 16. Jahrhunderts als Piloto mayor der Casa de Contratacion zu Sevilla ent— worfen und auf die er, vielleicht in ſchlauer Abſicht, den Namen Terra de Amerigo geſetzt, ſind nicht auf uns ge— kommen. Die älteſte geographiſche Urkunde des neuen Kon— tinents iſt die einer römiſchen Ausgabe des Ptolemäus vom Jahr 1508 beigegebene Weltkarte des Johann Ruyſch.“ Man erkennt darauf Yucatan und Honduras (den ſüdlichſten Teil von Mexiko), die als eine Inſel unter dem Namen Culicar dargeſtellt ſind. Eine Landenge von Panama iſt nicht vor— handen, ſondern eine Meerenge, durch die man geradeaus von Europa nach Indien fahren kann. Auf der großen ſüd— lichen Inſel (Südamerika) ſteht der Name Terra de Careas, die von zwei Flüſſen, dem Rio Lareno und dem Rio For— moſo, begrenzt iſt. Dieſe Careas ſind ohne Zweifel die Einwohner von Caria, welchen Namen Chriſtoph Columbus bereits im Jahre 1498 vernommen hatte und mit dem lange Zeit ein großer Teil von Amerika bezeichnet wurde. Der Biſchof Geraldini ſagt in einem Briefe an Papſt Leo X. aus dem Jahr 1516 deutlich: „Insula illa, quae Europa et Asia est major, quam indocti continentem Asiae appellant, et alii Americam vel Pariam nuncupant.“ Auf der Welt— karte von 1508 finde ich noch keine Spur vom Orinoko. Dieſer Strom erſcheint zum erſtenmal unter dem Namen Rio dulce auf der berühmten Karte, die Diego Ribero, Kosmo— Geſtorben im Jahre 1512, wie Munoz aus Urkunden in den Archiven von Simancas erwieſen hat. Auf den Karten, die dem Ptolemäus von 1506 beige: geben ſind, ſieht man noch keine Spur von den Entdeckungen des Columbus. — 215 — graph Kaiſer Karls V., im Jahr 1529 entworfen und die Sprengel im Jahre 1795 mit einem gelehrten Kommentar herausgegeben hat. Weder Columbus (1498) noch Alonſo de Guda, bei dem Amerigo Veſpucci war (1499), hatten die eigentliche Mündung des Orinoko geſehen. Sie hatten die— ſelbe mit der nördlichen Oeffnung des Meerbuſens von Paria verwechſelt, dem man, wie denn Uebertreibungen derart bei den Seefahrern jener Zeit ſo häufig vorkommen, eine unge— heure Maſſe führen Waſſers zuſchrieb. Vicente Panez Bincon, nachdem er die Mündung des Rio Marafon entdeckt, war auch der erſte, der die Mündung des Orinoko ſah (1500). Er nannte dieſen Strom Rio dulce, welcher Name ſich ſeit Ribero lange auf den Karten erhalten hat und zu— weilen irrtümlich dem Maroni und dem Eſſequibo beigelegt wurde. Der große See Parime erſcheint auf den Karten erſt nach Raleghs erſter Reiſe. Jodocus Hondius war der Mann, der mit dem Jahre 1599 den Vorſtellungen der Geographen eine beſtimmte Richtung gab und das Innere von Spaniſch—⸗ Guyana als ein völlig bekanntes Land darſtellte. Der Iſth— mus zwiſchen dem Rio Branco und dem Rio Rupunuwini (einem Nebenfluß des Eſſequibo) wird von ihm in den 900 km langen, 180 km breiten See Rupuniwini, Carime oder Dorado, zwiſchen dem 1° 45“ ſüdlicher und dem 2“ nörd— licher Breite verwandelt. Dieſes Binnenmeer, größer als das Kaſpiſche Meer, wird bald mitten in ein gebirgiges Land, ohne Verbindung mit irgend einem anderen Fluß, hineinge— zeichnet, bald läßt man den Rio Oyapok (Waiapago, Joapoc, Viapoco) und den Rio de Cayana daraus entſpringen. Der erſtere Fluß wurde im achten Artikel des Utrechter Vertrages mit dem Rio de Vincente Pinçon (Rio Calſoene oder Maya: cari?) verwechſelt und blieb bis zum letzten Wiener Kongreß der Gegenſtand endloſer Streitigkeiten zwiſchen den franzö— ſiſchen und den portugieſiſchen Diplomaten. Der letztere iſt eine chimäriſche Verlängerung des Tonnegrande oder aber des Oyac (Wia?). Das Binnenmeer (Laguna Parime) wurde anfangs ſo geſtellt, daß ſein weſtliches Ende in den Meridian des Zuſammenfluſſes des Apure und des Orinoko fiel; allmäh— lich aber ſchob man es nach Oſt vor, ſo daß das weſtliche Ende ſüdlich von den Mündungen des Orinoko zu liegen kam. Dieſer Wechſel zog auch Abänderungen in der reſpektiven Lage des Sees Parime und des Sees Caſſipa, ſowie in der Richtung — 216 — des Laufs des Orinoko nach ſich. Dieſen großen Strom läßt man von ſeiner Mündung bis über den Meta hinauf, gleich dem Magdalenenſtrom, von Süd nach Nord laufen. Die Nebenflüſſe, die man aus dem See Caſſipa kommen ließ, der Carony, der Arui und der Caura, laufen damit in der Rich— tung eines Parallels, während ſie in der Wirklichkeit in der Richtung eines Meridians liegen. Außer dem Parime und dem Caſſipa gab man auf den Karten einen dritten See an, aus dem man den Aprouague (Apurwaca) kommen ließ. Es war damals bei den Geographen allgemeiner Brauch, alle Flüſſe mit großen Seen in Verbindung zu bringen. Auf dieſe Weiſe verband Ortelius den Nil mit dem Zaire oder Rio Kongo, die Weichſel mit der Wolga und dem Dujepr. Im nörd— lichen Mexiko, in den angeblichen Königreichen Guivira und Cibola, die durch die Lügen des Mönchs Marcos de Niza berühmt geworden, hatte man ein großes Binnenmeer ein— gezeichnet, aus dem man den kaliforniſchen Rio Colorado ent— ſpringen ließ.! Vom Rio Magdalena lief ein Arm in den See Maracaybo, und der See Karayes, in deſſen Nähe man einen ſüdlichen Dorado ſetzte, ſtand mit dem Amazonen— ſtrom, mit dem Miari (Meary) und dem Rio San Francisco in Verbindung. Die meiſten dieſer hydrographiſchen Träume ſind verſchwunden; nur die Seen Caſſipa und Dorado haben ſich lange nebeneinander auf unſeren Karten erhalten. Verfolgt man die Geſchichte der Geographie, ſo ſieht man den Caſſipa, der als ein rechtwinkeliges Viereck darge— ſtellt wird, ſich allmählich auf Koſten des Dorado vergrößern. Letzterer wurde zuweilen ganz weggelaſſen, aber nie wagte man es, ſich am erſteren zu vergreifen, der nichts iſt als der durch periodiſche Ueberſchwemmungen geſchwellte Rio Para— aqua (ein Nebenfluß des Carony). Als d'Anville durch Solanos Expedition in Erfahrung brachte, daß der Orinoko ſeine Quellen keineswegs weſtwärts am Abhang der Anden von Paſto habe, Es iſt dies der mexikaniſche Dorado, wo man auf den Küſten Schiffe voll Waren aus Catayo (China) gefunden haben wollte und wo Fray Marcos (wie Hutten im Lande der Omagua) die vergoldeten Dächer einer großen Stadt, einer der Siete Ciudades, von weitem ſah. Die Einwohner haben große Hunde, en los quales quando se mudan cargan su menage. Spätere Ent⸗ deckungen laſſen übrigens keinen Zweifel, daß dieſer Landſtrich früher ein Mittelpunkt der Kultur war. — 217 — ſondern von Oſten her von den Gebirgen der Parime herab— komme, nahm er in der zweiten Ausgabe ſeiner ſchönen Karte von Amerika (1760) die Lagung Parime wieder auf und ließ ſie ganz willkürlich durch den Mazuruni und den Cuyuni mit drei Flüſſen (dem Orinoko, dem Rio Branco und dem Eſſequibo) in Verbindung ſtehen. Er verlegte ſie unter den 3. bis 4. Grad nördlicher Breite, wohin man bisher den See Caſſipa geſetzt hatte. Der ſpaniſche Geograph La Cruz Olmedilla (1775) folgte d'Anvilles Vorgang. Der alte, unter dem Aequator gelegene See Parime war vom Orinoko ganz unabhängig; der neue, der an der Stelle des Caſſipa und wieder in der Geſtalt eines Vierecks auftrat, deſſen längſte Seiten von Süd nach Nord laufen,! zeigt die ſeltſamſten hydrauliſchen Verbindungen. Bei La Cruz entſpringt der Orinoko unter dem Namen Pa— rime und Puruma (Xuruma?) im gebirgigen Lande zwiſchen den Quellen des Ventuari und des Caura (unter dem 5. Grad der Breite im Meridian der Miſſion Esmeralda) aus einem kleinen See, der Ipa va heißt. Dieſer See läge auf meiner Reiſekarte nordöſtlich von den Granitbergen von Cunevo, woraus zur Genüge hervorgeht, daß wohl ein Nebenfluß des Rio Branco oder des Orinoko daraus entſpringen könnte, nicht aber der Orinoko ſelbſt. Dieſer Rio Parime oder Pu— ruma nimmt nach einem Lauf von 180 km gegen Oſt-Nord⸗ Oſt und von 270 km gegen Südoſt den Rio Mahu auf, den wir bereits als einen der Hauptzweige des Rio Branco kennen; darauf läuft er in den See Parime, den man 135 km lang und 90 km breit macht. Aus dieſem See entſpringen un: mittelbar drei Flüſſe, der Rio Ucamu (Ocamo), der Rio Idapa (Siapa) und der Rio Branco. Der Orinoko oder Puruma iſt als unterirdiſche Durchſickerung am Weſtabhang der Sierra Mei, welche den See oder das Weiße Meer gegen Weſten begrenzt, gezeichnet. Dieſe zweite Quelle des Orinoko liegt unter dem 2. Grad nördlicher Breite und 3 ½ “ oſtwärts vom Meridian von Esmeralda. Nachdem der neue Fluß 225 km gegen Weſt⸗Nord-Weſt gelaufen, nimmt er zu: erſt den Ucamu auf, der aus dem Parime kommt, ſodann den Rio Maquiritari (Padamo), der zwiſchen dem See Ipava Die große Achſe des eigentlichen Sees Parime war von Oſt nach Weſt gerichtet. — 218 — und einem anderen Alpſee, von La Cruz Laguna Cavija genannt, entſpringt. Da See maypuriſch Cavia heißt, ſo bedeutet das Wort Laguna Cavia, wie Laguna Parime, nichts als Waſſerbecken, laguna de agua. Dieſe ſeltſame Flußzeichnung iſt nun das Vorbild für faft alle neueren Karten von Guyana geworden. Ein Mißverſtändnis, das aus der Unkenntnis des Spaniſchen entſprang, hat der Karte des La Cruz, auf der richtige Angaben mit ſyſtematiſchen, den alten Karten entnommenen Vorſtellungen vermengt ſind, vollends großes Anſehen verſchafft. Eine punktierte Linie umgibt den Landſtrich, über den Solano einige Erkundigung hatte ein— ziehen können; dieſe Linie hielt man für den von Solano surüdgelenten Weg, ſo daß dieſer das ſüdweſtliche Ende des Weißen Meeres galten haben müßte. Auf der Karte des La Cruz ſteht geſchrieben: „Dieſer Weg bezeichnet, was vom Statthalter von Caracas, Don Joſe Solano, entdeckt und zur Ruhe gebracht worden iſt.“ Nun weiß man aber in den Miſſionen, daß Solano nie über San Fernando de Atabapo hinausgekommen iſt, daß er den Orinoko oſtwärts vom Einfluſſe des Guaviare gar nicht geſehen und daß er ſeine Nachrichten über dieſe Länder nur von gemeinen Sol— daten haben konnte, die der Sprachen der Eingeborenen un- kundig waren. Das Werk des Pater Caulin, der ja der Geſchichtſchreiber der Expedition war, das Zeugnis Don Apo— linarios Diaz de la Fuente und Santos’ Reiſe thun zur Ge— nüge dar, daß nie ein Menſch das Weiße Meer des La Cruz geſehen hat, das, wie aus den Namen der ſich darein er— gießenden Flüſſe hervorgeht, nichts iſt als eine eingebildete Ausbreitung des weſtlichen Zweigs des Rio Branco oberhalb des Einfluſſes des Tacutu und des Uraricuera oder Rio Pa— rime. Ließe man aber auch Angaben gelten, deren Unrichtig— keit jetzt zur Genüge dargethan iſt, ſo ſähe man nach all— gemein anerkannten hydrographiſchen Grundſätzen nicht ein, mit welchem Recht der See Ipava die Quelle des Orinoko heißen könnte. Wenn ein Fluß in einen See fällt und von dieſem ſelben Waſſerbecken drei andere abgehen, ſo weiß man nicht, welchem von dieſen man den Namen des erſteren bei— legen ſoll. Noch viel weniger iſt es zu rechtfertigen, wenn der Geograph denſelben Namen einem Fluſſe läßt, deſſen Quelle durch eine hohe Bergkette vom See getrennt iſt und der durch Durchſickerung unterirdiſch entſtan den ſein ſoll. Vier Jahre nach der großen Karte von La Cruz Olmedilla — 219 — erſchien das Werk des Pater Caulin, der die Grenzexpedition mitgemacht hatte. Das Buch wurde 1759 am Ufer des Ori— noko ſelbſt geſchrieben, und nur einige Anmerkungen wurden ſpäter in Europa beigefügt. Der Verfaſſer, ein Franziskaner von der Kongregation der Obſervanten, zeichnet ſich durch ſeine Aufrichtigkeit aus, und an kritiſchem Geiſte iſt er allen ſeinen Vorgängern überlegen. Er ſelbſt iſt nicht über den großen Katarakt hinausgekommen, aber alles, was Solano und Ituriaga Wahres und Schwankendes zuſammengebracht, ſtand zu ſeiner Verfügung. Zwei Karten, die Pater Caulin im Jahre 1756 entworfen, wurden von Surville, einem Archiv— beamten beim Staatsſekretariat, in eine zuſammengezogen und nach angeblichen Entdeckungen vervollſtändigt (1778). Schon oben, als von unſerem Aufenthalte in Esmeralda (dem den unbekannten Quellen zunächſt gelegenen Punkte) die Rede war, habe ich bemerkt, wie willkürlich man bei dieſen Abänderungen zu Werke ging. Sie gründeten ſich auf die lügenhaften Be— richte, mit denen man die Leichtgläubigkeit des Statthalters Centurion und Don Apolinarios Diaz de la Fuente, eines Kosmographen, der weder Inſtrumente, noch Kenntniſſe, noch Bücher hatte, Tag für Tag bediente. Das Tagebuch Pater Caulins ſteht mit der Karte, die demſelben beigegeben iſt, in fortwährendem Widerſpruche. Der Verfaſſer ſetzt die Umſtände auseinander, welche zu der Fabel vom See Parime Anlaß gegeben haben; aber die Karte bringt dieſen See auch wieder, nur ſchiebt ſie ihn weit weg von den Quellen des Orinoko, oſtwärts vom Rio Branco. Nach Pater Caulin heißt der Orinoko Rio Maraguaca unter dem Meridian des Granitberges dieſes Namens, der auf meiner Reiſekarte gezeichnet iſt. „Es iſt viel mehr ein Bergſtrom als ein Fluß; er kommt zugleich mit dem Rio Omaguaca und dem Macoma, unter 2½“ der Breite, aus dem kleinen See Cabiya.“ Dies it der See, aus dem La Cruz den Maquiritari (Padamo) entſpringen läßt und den er unter 5 ½ “ der Breite, nördlich vom See Ipava, ſetzt. Die Exiſtenz von Caulins Rio Ma— co ma ſcheint ſich auf ein verworrenes Bild der Flüſſe Padamo, Ocamo und Matacona zu gründen, von denen man vor meiner Reiſe glaubte, ſie ſtehen miteinander in Verbindung. Vielleicht gab auch der See, aus dem der Macapa kommt letwas weſt— lich vom Amaguaca), Anlaß zu dieſen Irrtümern hinſichtlich des Urſprunges des Orinoko und der Quellen des Idapa in der Nähe. — 220 — Surville ſetzt unter 2° 10° der Breite an die Stelle des Sees Parime des La Cruz einen anderen See ohne Namen, der nach ihm die Quelle des Ucamu (Ocamo) iſt. In der Nähe dieſes Alpenſees entſpringen aus derſelben Quelle der Orinoko und der Idapa, ein Nebenfluß des Caſſiquiare. Der See Amucu, die Quelle des Mahu, wird zum Mar Dorado oder zur Laguna Parime erweitert. Der Rio Branco hängt nur noch durch zwei ſeiner ſchwächſten Neben— flüſſe mit dem Waſſerbecken zuſammen, aus dem der Ucamu kommt. Aus dieſer rein hypothetiſchen Anordnung ergibt ſich, daß der Orinoko aus keinem See entſpringt und daß die Quellen desſelben vom See Parime und dem Rio Branco durchaus unabhängig find. Trotz der ſich gabelnden Quelle iſt das hydrographiſche Syſtem der Survilleſchen Karte nicht ſo abgeſchmackt als das auf der Karte des La Cruz. Wenn die neueren Geographen ſich ſo lange beharrlich an die ſpa— niſchen Karten gehalten haben, ohne dieſelben miteinander zu vergleichen, ſo erſcheint es doch auffallend, daß ſie nicht wenig— ſtens der neueſten Karte den Vorzug gegeben haben, der Survilleſchen, die auf königliche Koſten und auf Befehl des Miniſters für Indien, Don Joſe de Galvez erſchienen iſt. Ich habe hiermit, wie ich oben angekündigt, die wechſeln— den Geſtalten entwickelt, welche die geographiſchen Irrtümer zu verſchiedenen Zeiten angenommen. Ich habe auseinander: geſetzt, wie die Bodenbildung, der Lauf der Ströme, die Namen der Nebenflüſſe und die zahlreichen Trageplätze zur Annahme eines Binnenmeeres im Herzen von Guyana führen konnten. So trocken Erörterungen der Art ſein mögen, für unnütz und unfruchtbar darf man ſie nicht halten. Man erſieht daraus, was alles die Reiſenden noch zu entdecken haben; ſie ſtellen uns vor Augen, welcher Grad von Zu— verläſſigkeit lange Zeit wiederholten Behauptungen zukommt. Es verhält ſich mit den Karten wie mit den Tafeln aſtro— nomiſcher Poſitionen in unſeren für die Seefahrer beſtimmten Ephemeriden. Von lange her iſt zu ihrer Entwerfung das verſchiedenartigſte Material zuſammengetragen worden, und zöge man nicht die Geſchichte der Geographie zu Rate, ſo wäre ſpäter ſo gut wie gar nicht auszumitteln, auf welcher Autorität jede einzelne Angabe beruht. Ehe ich den Faden meiner Erzählung wieder aufnehme, habe ich noch einige allgemeine Bemerkungen über die gold— haltigen Gebirgsarten zwiſchen dem Amazonenſtrome und dem — 221 — Orinoko beizubringen. Wir haben dargethan, daß der Mythus vom Dorado, gleich den berühmteſten Mythen der Völker der Alten Welt, nacheinander auf verſchiedene Oertlichkeiten bezogen worden iſt. Wir haben denſelben von Südweſt nach Nordoſt, vom Oſtabhange der Anden gegen die Ebenen am Rio Branco und Eſſeguibo vorrücken ſehen, ganz in der Rich— tung, in der die Kariben ſeit Jahrhunderten ihre Kriegs— und Handelszüge machten. Man ſieht leicht, wie das Gold von den Kordilleren von Hand zu Hand durch eine Menge Völkerſchaften bis an das Küſtenland von Guyana gelangen konnte; waren doch, lange bevor der Pelzhandel engliſche, ruſſiſche und amerikaniſche Schiffe an die Nordweſtküſten von Amerika zog, eiſerne Werkzeuge von Neumexiko und Kanada bis über die Rocky Mountains gewandert. Infolge eines Irrtums in der Länge, deſſen Spuren man auf ſämtlichen Karten des 16. Jahrhunderts begegnet, nahm man die gold— führenden Gebirge von Peru und Neugranada weit näher bei den Mündungen des Orinoko und des Amazonenſtromes an, als ſie in Wirklichkeit ſind. Es iſt einmal Sitte bei den Geographen, neu entdeckte Länder übermäßig zu vergrößern und ins Breite zu ziehen. Auf der Karte von Peru, welche Paulo di Forlani in Verona herausgab, liegt die Stadt Quito 1800 km von der Küſte der Südſee unter dem Meridian von Cumana; die Kordillere der Anden füllt faſt die ganze Oberfläche des ſpaniſchen, franzöſiſchen und holländiſchen Guyana aus. Dieſe falſche Anſicht von der Breite der Anden iſt ohne Zweifel im Spiel, wenn man den granitiſchen Ebenen am Oſtabhange derſelben ſo große Wichtigkeit zugeſchrieben hat. Da man die Nebenflüſſe des Amazonenſtromes und des Orinoko oder (wie Raleghs Unterbefehlshaber aus Schmeichelei für ihren Oberen ſagten) des Rio Raleana beſtändig ver— wechſelte, ſo bezog man auf dieſen alle Sagen, die einem über den Dorado von Quixos, über die Omagua und Manoas zu Ohren gekommen. Nach des Geographen Hondius An— nahme lagen die durch ihre Chinawälder berühmten Anden von Loxa nur 90 km vom See Parime und dem Ufer des Rio Branco. Bei dieſer Nähe erſchien die Kunde, daß ſich der Inka in die Wälder von Guyana geflüchtet und daß die Schätze aus Cuzco in die öſtlichſten Striche von Guyana geſchafft worden, glaubwürdig. Fuhr man den Meta oder den Amazonenſtrom hinauf, ſo ſah man allerdings zwiſchen dem Purus, dem Jupura und dem Jquiari die Eingeborenen — 222 — civiliſierter werden. Man fand dort Amulette und kleine Götzenbilder aus gegoſſenem Golde, künſtlich geſchnitzte Stühle und dergleichen; aber von ſolchen Spuren einer aufkeimenden Kultur zu den Städten und ſteinernen Häuſern, wie Ralegh und ſeine Nachfolger ſie beſchreiben, iſt ein großer Sprung. Wir haben oſtwärts von den Kordilleren, in der Provinz Jaen de Bracamoros, auf dem Wege von Lora an den Ama⸗ zonenſtrom herab, die Trümmer großer Gebäude gezeichnet; bis hierher waren die Inka mit ihren Waffen, mit ihrer Religion und mit ihren Künſten vorgedrungen. Die ſich ſelbſt überlaſſenen Eingeborenen am Orinoko waren vor der Er— oberung etwas civiliſierter als jetzt die unabhängigen Horden. Sie hatten dem Fluſſe entlang volkreiche Dörfer und ſtanden mit ſüdlicher wohnenden Völkern in regelmäßigem Handels— verkehr; aber nichts weiſt darauf hin, daß ſie je ein ſteinernes Gebäude errichtet hätten. Wir haben auf unſerer ganzen Flußfahrt nie die Spur eines ſolchen geſehen. Obgleich nun aber Spaniſch-Gayana ſeinen Ruf, reiches Land zu ſein, großenteils ſeiner geographiſchen Lage und den Irrtümern der alten Karten zu danken hat, ſo iſt man deshalb doch nicht zu der Behauptung berechtigt, daß auf dieſem Flächenraume von 1660500 qkm zwiſchen dem Orinoko und dem Amazonenſtrome, oſtwärts von den Anden von Quito und Neugranada, gar keine goldhaltige Gebirgs— art vorkomme. Soweit ich dieſes Land zwiſchen dem 2. und 8. Grad der Breite und dem 66. und 71. Grad der Länge kennen gelernt habe, beſteht es durchgängig aus Granit und aus einem Gneis, der in Glimmerſchiefer und Talkſchiefer übergeht. Dieſe Gebirgsarten kommen in den hohen Ge— birgen der Parime, wie in den Niederungen am Atabapo und Caſſiquiare zu Tage. Der Granit überwiegt über die anderen Gebirgsarten, und wenn auch der Granit von alter Formation überall faſt durchgängig keine Golderze enthält, ſo iſt daraus doch nicht zu folgern, daß der Granit der Parime gar keinen Gang, keine Schicht goldhaltigen Quarzes einſchließe. Oſt— wärts vom Caſſiquiare, den Quellen des Orinoko zu, ſahen wir dergleichen Schichten und Gänge häufiger auftreten. Nach ſeinem Bau, nach der Beimiſchung von Hornblende und anderen gleich bedeutſamen geologiſchen Merkmalen ſcheint mir der Granit in dieſem Landſtrich von neuerer Formation zu ſein, vielleicht jünger als der Gneis und analog den zinnhaltigen Graniten, den Hyalomikten und Pegmatiten. Die jüngeren — 223 — Granite ſind nun aber nicht ſo arm an Metallen, und manche goldführende Flüſſe und Bäche in den Anden, im Salzburgi- ſchen, im Fichtelgebirge und auf der Hochebene beider Kaſtilien machen es wahrſcheinlich, daß dieſe Granite hin und wieder gediegenes Gold und in der ganzen Gebirgsmaſſe goldhaltigen Schwefelkies und Bleiglanz eingeſprengt enthalten, wie Zinn, Magneteiſenſtein und Eiſenglimmer. Der Bergſtock der Parime, in dem mehrere Gipfel 2530 m Meereshöhe erreichen, war vor unſerer Reiſe an den Orinoko faſt ganz unbekannt, und doch iſt er gegen 650 km lang und 360 km breit, und wenn er auch überall, wo Bonpland und ich darüber gekommen ſind, uns in ſeinem Bau ſehr gleichförmig ſchien, ſo läßt ſich doch keineswegs behaupten, daß nicht im Inneren dieſes ge— waltigen Bergſtockes ſehr metallreiche Glimmerſchiefer und Uebergangsgebirgsarten dem Granit aufgelagert ſein könnten. Wie oben bemerkt, verdankt Guyana ſeinen hohen Ruf als metallreiches Land zum Teil dem Silberglanze des fo häufig vorkommenden Glimmers. Der Spitzberg Calitamini, der jeden Abend bei Sonnenuntergang in rötlichem Feuer ſtrahlt, nimmt noch jetzt die Aufmerkſamkeit der Einwohner von Maypures in Anſpruch. Eilande aus Glimmerſchiefer im See Amucu ſteigern, wie die Eingeborenen einem vor— lügen, den Glanz der Nebelflecken am Südhimmel. „Jeder Berg,“ ſagt Ralegh, „jeder Stein in den Wäldern am Orinoko glänzt gleich edlen Metallen; iſt das kein Gold, ſo iſt es doch Madre del oro“. Er verſichert, Stufen von weißem goldhaltigen Quarz (harde withe spar) mitgebracht zu haben, und zum Beweiſe, wie reich dieſe Erze ſeien, beruft er ſich auf die von den Münzbeamten zu London angeſtellten Verſuche. Ich habe keinen Grund zu vermuten, daß die damaligen Scheidekünſtler Königin Eliſabeth täuſchen wollten; ich will Raleghs An— denken keineswegs zu nahe treten und mit ſeinen Zeitgenoſſen argwöhnen, der goldhaltige Quarz, den er mitgebracht, ſei gar nicht in Amerika erhoben worden. Ueber Dinge, die in der Zeit ſo weit abliegen, läßt ſich kein Urteil fällen. Der Gneis der Küſtenkette enthält Spuren von edeln Metallen, und in den Gebirgen der Parime bei der Miſſion Encaramada hat man hin und wieder Goldkörner gefunden. Wie ſollte man nach einem rein negativen Zeugniſſe nach dem Umſtande, daß wir auf einer dreimonatlichen Reiſe keinen Gang geſehen, der am Ausgehenden goldhaltig geweſen wäre, auf die abſolute Taubheit der Urgebirgsarten in Guyana ſchließen? — 224 — Um hier alles zuſammenzufaſſen, was die Regierung dieſes Landes über einen jo lange beſtrittenen Punkt aufzu- klären imſtande iſt, mache ich einige allgemeinere geologiſche Bemerkungen. — Die Gebirge Braſiliens liefern, trotz der zahlreichen Spuren von Erzlagern zwiſchen Sanct Paul und Villarica, bis jetzt nur Waſchgold. Von den 78 000 Mark Gold, welche zu Anfang des 19. Jahrhunderts jährlich aus Amerika in den europäiſchen Handel gefloſſen ſind, kommen mehr als ſechs Siebenteile nicht aus der hohen Kordillere der Anden, ſondern aus dem aufgeſchwemmten Lande öſtlich und weſtlich von den Kordilleren. Dieſe Striche haben geringe Meereshöhe, wie die bei La Sonora (in Mexiko), bei Choco und Barbacoas (in Neugranada), oder das Alluvium liegt auf Hochebenen, wie im Inneren Braſiliens.“ Sit es nun nicht wahrſcheinlich, daß andere goldhaltige Anſchwemmungen der nördlichen Halbkugel zu, bis an die Ufer des oberen Orinoko und des Rio Negro, ſtreichen, deren Becken ja mit dem des Amazonenſtromes zuſammenfällt? Als vom Dorado de Canelas, von dem der Omagua und am Iquiari die Rede war, bemerkte ich, daß alle Flüſſe, welche von Weſt her kommen, reichlich Gold führen, und zwar ſehr weit von den Kordilleren weg. Von Loxa bis Popayan beſtehen die Kor: dilleren abwechſelnd aus Trachyt und aus Urgebirge. Die Ebenen bei Zamora, Logrono und Macas (Sevilla del Oro), der große Rio Napo mit ſeinen Nebenflüſſen (dem Anſupi und dem Coca in der Provinz Quixos), der Caqueta von Mocoa bis zum Einfluſſe des Fragua, endlich alles Land zwiſchen Jaen de Bracamoros und dem Guaviare behaupten noch immer ihren alten Ruf großen Metallreichtums. Weiter gegen Oſt, zwiſchen den Quellen des Guainia (Rio Negro), des Uaupes, Iquiari und Jurubeſh finden wir ein anderes unſtreitig goldhaltiges Gebiet. Hierher ſetzen Acuna und Pater Fritz ihre Laguna del oro, und manches, was ich in San Carlos aus dem Munde der portugieſiſchen Amerikaner vernommen, macht vollkommen erklärlich, was La Condamine von den Goldblechen erzählt, die bei den Eingeborenen ge— funden worden. Gehen wir vom Iquiari auf das linke Ufer des Rio Negro, ſo betreten wir ein völlig unbekanntes Land Im Werte von 65878000 Frank. »Villarica liegt 1270 m hoch, aber das große Plateau der Capitania Minas Geraes nur 584. — 225 — zwiſchen dem Rio Branco, den Quellen des Eſſequibo und den Gebirgen von Portugieſiſch-Guyana. Acuna ſpricht vom Golde, das die nördlichen Nebenflüſſe des Amazonenſtromes führen, wie der Rio Trombetas (Oriximina), der Curupatuba und der Ginipape (Rio de Paru). Alle dieſe Flüſſe, und dieſer Umſtand ſcheint mir bemerkenswert, kommen von der— ſelben Hochebene herab, auf deren nördlichem Abhange der See Amucu, der Dorado Raleghs und der Holländer, der Iſthmus zwiſchen dem Rupunuri (Rupunuwini) und dem Rio Mahu liegen. Nichts ſtreitet wider die Annahme, daß auf— geſchwemmtes goldhaltiges Land weit von den Kordilleren der Anden nördlich vom Amazonenſtrome vorkommt, wie ſüdlich von demſelben in den Gebirgen Braſiliens. Die Kariben am Carony, Cuyuni und Eſſequibo haben von jeher im auf— geſchwemmten Lande Goldwäſcherei im kleinen getrieben. Das Becken des Orinoko, des Rio Negro und des Amazonenſtromes wird nordwärts von den Gebirgen der Parime, ſüdwärts von denen von Minas Geraes und Matogroſſo begrenzt. Häufig ſtimmen die einander gegenüberliegenden Abhänge desſelben Thales im geologiſchen Verhalten überein. Ich habe in dieſem Bande die großen Provinzen Vene: zuela und Spaniſch-Guyana beſchrieben. Die Unterſuchung ihrer natürlichen Grenzen, ihrer klimatiſchen Verhältniſſe und ihrer Produkte hat mich dazu geführt, den Einfluß der Boden— bildung auf den Ackerbau, den Handel und den mehr oder weniger langſamen Gang der geſellſchaftlichen Entwickelung zu erörtern. Ich habe nacheinander die drei Zonen durch— wandert, die von Nord nach Süd, vom Mittelmeer der An- tillen bis in die Wälder am oberen Orinoko und am Ama: zonenſtrom hintereinander liegen. Hinter dem fruchtbaren Uferſtriche, dem Mittelpunkte des auf den Ackerbau gegrün— deten Wohlſtandes, kommen die von Hirtenvölkern bewohnten Steppen. Dieſe Steppen ſind wiederum begrenzt von der Waldregion, wo der Menſch, ich ſage nicht der Freiheit, die immer eine Frucht der Kultur iſt, aber einer wilden Unab- hängigkeit genießt. Die Grenze dieſer zwei letzteren Zonen iſt gegenwärtig der Schauplatz des Kampfes, der über die Unabhängigkeit und das Wohl Amerikas entſcheiden ſoll. Die Umwandlungen, die bevorſtehen, können den eigentümlichen Charakter jeder Region nicht verwiſchen; aber die Sitten und die ganzen Zuſtände der Einwohner müſſen ſich gleichförmiger färben. Durch dieſe Rückſicht mag eine zu Anfang des A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 15 — 226 — 19. Jahrhunderts unternommene Reiſe einen Reiz weiter er⸗ halten. Gerne ſieht man wohl in einem Bilde nebeneinander die Schilderung der civiliſierten Völker am Meeresufer und der ſchwachen Ueberreſte der Eingeborenen am Orinoko, die von keinem anderen Gottesdienſte wiſſen außer der Verehrung der Naturkräfte, und, gleich den Germanen des Tacitus, deorum nominibus appellant secretum illud, quod sola reverentia vident. Sechsundzwanzigſtes Kapitel. Die Llanos del Pao oder des öſtlichen Striches der Steppen von Venezuela. — Miſſionen der Kariben. — Letzter Aufenthalt auf den Küſten von Nueva Barcelona, Cumana und Araya. Es war bereits Nacht, als wir zum letztenmal über das Bett des Orinoko fuhren. Wir wollten bei der Schanze San Rafael übernachten und dann mit Tagesanbruch die Reiſe durch die Steppen von Venezuela antreten. Faſt ſechs Wochen waren ſeit unſerer Ankunft in Angoſtura verfloſſen; wir ſehn— ten uns nach der Küſte, um entweder in Cumana oder in Nueva Barcelona ein Fahrzeug zu beſteigen, das uns auf die Inſel Cuba und von dort nach Mexiko brächte. Nach den Beſchwerden, die wir mehrere Monate lang in engen Kanoen auf von Mücken wimmelnden Flüſſen durchgemacht, hatte der Gedanke an eine lange Seereiſe für unſere Einbildungskraft einen gewiſſen Reiz. Wir gedachten nicht mehr nach Süd— amerika zurückzukommen. Wir brachten die Anden von Peru dem noch ſo wenig bekannten Archipel der Philippinen zum Opfer und beharrten bei unſerem alten Plan, uns ein Jahr in Neuſpanien aufzuhalten, mit der Galione von Acapulco nach Manilla zu gehen und über Baſora und Aleppo nach Europa zurückzukehren. Wir dachten, wenn wir einmal die ſpaniſchen Beſitzungen in Amerika im Rücken hätten, könnte der Sturz eines Miniſteriums, deſſen großherzigem Vertrauen ich ſo unbeſchränkte Befugniſſe zu danken hatte, der Durch— führung unſeres Unternehmens nicht mehr hinderlich werden. Lebhaft bewegten uns dieſe Gedanken während der einförmigen Reiſe durch die Steppen. Nichts hilft ſo leicht über die kleinen Widerwärtigkeiten des Lebens weg, als wenn der Geiſt mit der bevorſtehenden Ausführung eines gewagten Unternehmens beſchäftigt iſt. — 228 — Anſere Maultiere warteten unſer am linken Ufer des Orinoko. Durch die Pflanzenſammlungen und die geologiſchen Suiten, die wir ſeit Esmeralda und dem Rio Negro mit uns führten, war unſer Gepäck bedeutend ſtärker geworden. Da es mißlich geweſen wäre, uns von unſeren Herbarien zu trennen, ſo mußten wir uns auf eine ſehr langſame Reiſe durch die Llanos gefaßt machen. Durch das Zurückprallen der Sonnenſtrahlen vom faſt pflanzenloſen Boden war die Hitze ungemein ſtark. Indeſſen ſtand der hundertteilige Ther— mometer bei Tag doch nur auf 30 bis 34, bei Nacht auf 27 bis 28%. Wie faſt überall unter den Tropen war es daher nicht ſowohl der abſolute Hitzegrad als das Andauern der- ſelben, was widrig auf unſere Organe wirkte. Wir brauchten 3 Tage, um über die Steppen zu kommen, wobei wir uns in den Miſſionen der Kariben und in der kleinen Stadt Pao etwas aufhielten. Ich habe oben das phyſiſche Gemälde dieſer unermeßlichen Ebenen entworfen, die zwiſchen den Wäl⸗ dern von Guyana und der Küſtenkette liegen. Der öſtliche Strich der Llanos, über den wir von Angoſtura nach Nueva Barcelona kamen, bietet denſelben öden Anblick wie der weſtliche, über den wir von den Thälern von Aragua nach San Fernando am Apure gegangen waren. In der trockenen Jahreszeit, welche hier Sommer heißt, obgleich dann die Sonne in der ſüdlichen Halbkugel iſt, weht der Seewind in den Steppen von Cumana weit ſtärker als in denen von Caracas; denn dieſe weiten Ebenen bilden, gleich den ange— bauten Fluren der Lombardei, ein nach Oſt offenes, nach Nord, Süd und Weſt durch hohe Urgebirgsketten geſchloſſenes Becken. Leider kam uns dieſer erfriſchende Wind, von dem die Llaneros (die Steppenbewohner) mit Entzücken ſprechen, nicht zu gute. Nordwärts vom Aequator war Regenzeit; in den Llanos ſelbſt regnete es freilich nicht, aber durch den Wechſel in der Ab— weichung der Sonne hatte das Spiel der Polarſtrömungen längſt aufgehört. In dieſen Landſtrichen am Aequator, wo man ſich nach dem Zug der Wolken orientieren kann, und wo die Schwan: fungen des Queckſilbers im Barometer faſt wie eine Uhr die Stunde weiſen, iſt alles einem regelmäßigen, gleichförmigen Typus unterworfen. Das Aufhören der Seewinde, der Ein: tritt der Regenzeit und die Häufigkeit elektriſcher Entladungen ſind durch unabänderliche Geſetze verknüpfte Erſcheinungen. Beim Einfluß des Apure in den Oxinoko, am Berge Sacuima, hatten wir einen franzöſiſchen Landwirt getroffen, — 229 — der unter ſeinen Herden in völliger Abgeſchiedenheit lebte. Es war das der Mann, der in ſeiner Einfalt glaubte, die politiſchen Revolutionen in der Alten Welt und die daraus entſprungenen Kriege rühren nur „vom langen Widerſtande der Obſervanten“ her. Kaum hatten wir die Llanos von Neubarcelona betreten, ſo brachten wir die erſte Nacht wieder bei einem Franzoſen zu, der uns mit der liebenswürdigſten Gaſt— freundlichkeit aufnahm. Er war aus Lyon gebürtig, hatte das Vaterland in früher Jugend verlaſſen und ſchien ſich um alles, was jenſeits des Atlantiſchen Meeres, oder, wie man hier für Europa ziemlich geringſchätzig ſagt, „auf der anderen Seite der großen Lache“ (del otro lado del charco) vor: geht, ſehr wenig zu kümmern. Wir ſahen unſeren Wirt be— ſchäftigt, große Holzſtücke mittels eines Leimes, der Guayca heißt, aneinander zu fügen. Dieſer Stoff, deſſen ſich auch die Tiſchler in Angoſtura bedienen, gleicht dem beſten aus dem Tierreich gewonnenen Leim. Derſelbe liegt ganz fertig zwiſchen Rinde und Splint einer Liane aus der Familie der Kombretaceen.! Wahrſcheinlich kommt er in feinem chemiſchen Verhalten nahe überein mit dem Vogelleim, einem vegetabi— liſchen Stoff, der aus den Beeren der Miſtel und der inneren Rinde der Stechpalme gewonnen wird. Man erſtaunt, in welcher Maſſe dieſer klebrige Stoff ausfließt, wenn man die rankenden Zweige des Vejuco de Guayca abſchneidet. So findet man denn unter den Tropen in reinem Zuſtande und in beſonderen Organen abgelagert, was man ſich in der ge— mäßigten Zone nur auf künſtlichem Wege verſchaffen kann. Erſt am dritten Tage kamen wir in die karibiſchen Miſ— ſionen am Cari. Wir fanden hier den Boden durch die Trocken— heit nicht jo ſtark aufgeſprungen wie in den Llanos von Gala: bozo. Ein paar Regengüſſe hatten der Vegetation neues Leben gegeben. Kleine Grasarten und beſonders jene kraut— artigen Senſitiven, von denen das halbwilde Vieh ſo fett wird, bildeten einen dichten Raſen. Weit auseinander ſtan— den hie und da Stämme der Fächerpalme (Corypha tectorum), der Rhopala (Chaparro) und Malpighia mit lederartigen, glänzenden Blättern. Die feuchten Stellen erkennt man von weitem an den Büſchen von Mauritia, welche der Sagobaum dieſes Landſtriches iſt. Auf den Küſten iſt dieſe Palme das ganze Beſitztum der Guaraunenindianer, und, was ziemlich auf— Combretum Guayca. — 230 — fallend iſt, wir haben ſie 1170 km weiter gegen Süd mitten in den Wäldern am oberen Orinoko, auf den Grasfluren um den Granitgipfel des Duida angetroffen. Der Baum hing in dieſer Jahreszeit voll ungeheurer Büſchel roter, den Tannen— zapfen ähnlicher Früchte. Unſere Affen waren ſehr lüſtern nach dieſen Früchten, deren gelbes Fleiſch ſchmeckt wie über— reife Aepfel. Die Tiere ſaßen zwiſchen unſerem Gepäck auf dem Rücken der Maultiere und ſtrengten ſich gewaltig an, um der über ihren Köpfen hängenden Büſchel habhaft zu werden. Die Ebene ſchwankte wellenförmig infolge der Luft⸗ ſpiegelung, und als wir nach einer Stunde Wegs dieſe Palm— ſtämme, die ſich am Horizont wie Maſten ausnahmen, er⸗ reichten, ſahen wir mit Ueberraſchung, wie viele Dinge an das Daſein eines einzigen Gewächſes geknüpft ſind. Die Winde, vom Laub und den Zweigen im raſchen Zuge aufge⸗ halten, häufen den Sand um den Stamm auf. Der Geruch der Früchte, das glänzende Grün locken von weitem die Zug⸗ vögel her, die ſich gern auf den Wedeln der Palme wiegen. Ringsum vernimmt man ein leiſes Rauſchen. Niedergedrückt von der Hitze, gewöhnt an die trübſelige Stille der Steppe, meint man gleich einige Kühlung zu ſpüren, wenn ſich das Laub auch nur ein wenig rührt. Unterſucht man den Boden an der Seite abwärts vom Winde, ſo findet man ihn noch lange nach der Regenzeit feucht. Inſekten und Würmer,“ ſonſt in den Llanos ſo ſelten, ziehen ſich hierher und pflanzen ſich fort. So verbreitet ein einzeln ſtehender, häufig ver— krüppelter Baum, den der Reiſende in den Wäldern am Ori— noko gar nicht beachtete, in der Wüſte Leben um ſich her. Wir langten am 13. Juli im Dorfe Cari? an, der erſten der karibiſchen Miſſionen, die unter den Mönchen von der Kongregation der Obſervanten aus dem Kollegium von Niritu? ſtehen. Wir wohnten, wie gewöhnlich, im Kloſter, das Zu welcher Gattung gehören die Würmer (arabiſch Loul), welche Kapitän Lyon, der Reiſebegleiter meines mutigen unglücklichen Freundes Ritchie, in der Wüſte Fezzan in Lachen gefunden, die von den Arabern gegeſſen werden und wie Kaviar ſchmecken? Sollten es nicht Inſekteneier ſein, ähnlich dem Aguautle, den ich in Mexiko auf dem Markte habe verkaufen ſehen, und der an der Oberfläche des Sees Tezcuco gefiſcht wird? Nuèestra Senora del Socorro del Cari, gegründet im Jahre 1761. »Dieſe Miſſionäre nennen ſich Padres Misioneros Ob- — 231 — te beim Pfarrer. Wir hatten außer den Päſſen des General: apitäns der Provinz Empfehlungen der Biſchöfe und des Guardians der Miſſionen am Orinoko. Von den Küſten von Neukalifornien bis Valdivia und an die Mündung des Rio de la Plata, auf einer Strecke von 9000 km, laſſen ſich alle Schwierigkeiten einer langen Landreiſe überwinden, wenn man des Schutzes der amerikaniſchen Geiſtlichkeit genießt. Die Macht, welche dieſe Körperſchaft im Staate ausübt, iſt zu feſt begründet, als daß ſie in einer neuen Ordnung der Dinge jo bald erſchüttert werden könnte. Unſerem Wirt war un: begreiflich, „wie Leute aus dem nördlichen Europa von den Grenzen von Braſilien her, über Rio Negro und Orinoko, und nicht auf dem Wege von Cumana her zu ihm kamen“. Er behandelte uns ungemein freundlich, verleugnete indeſſen keines— wegs die etwas läſtige Neugier, welche das Erſcheinen eines nicht ſpaniſchen Europäers in Südamerika immer rege macht. Die Mineralien, die wir geſammelt, mußten Gold enthalten; ſo ſorgfältig getrocknete Pflanzen konnten nur Arzneigewächſe ſein. Hier, wie in ſo vielen Ländern in Europa, meint man, die Wiſſenſchaft ſei nur dann eine würdige Beſchäftigung für den Geiſt, wenn dabei für die Welt ein materieller Nutzen herauskomme. Wir fanden im Dorfe Cari über 500 Kariben und in den Miſſionen umher ſahen wir ihrer noch viele. Es iſt höchſt merkwürdig, ein Volk vor ſich zu haben, das, früher nomadiſch, erſt kürzlich an feſte Wohnſitze gefeſſelt worden und ſich durch Körper: und Geiſteskraft von allen anderen Indianern unter: ſcheidet. Ich habe nirgends anderswo einen ganzen ſo hoch— gewachſenen (1,78 bis 1,88 m) und ſo koloſſal gebauten Volks— ſtamm geſehen. Die Männer, und dies kommt in Amerika ziemlich häufig vor, ſind mehr bekleidet als die Weiber. Dieſe tragen nur den Guayuco oder Gürtel in Form eines Ban- des, bei den Männern iſt der ganze Unterteil des Körpers bis zu den Hüften in ein Stück dunkelblauen, faſt ſchwarzen Tuches gehüllt. Dieſe Bekleidung iſt ſo weit, daß die Kariben, wenn gegen Abend die Temperatur abnimmt, ſich eine Schul— ter damit bedecken. Da ihr Körper mit Onoto bemalt iſt, ſo gleichen ihre großen, maleriſch drapierten Geſtalten von weitem, wenn ſie ſich in der Steppe vom Himmel abheben, an⸗ servantes del Colegio de la purisima Concepcion de propa- ganda fide en la Nueva Barcelona. — 232 — tiken Bronzeſtatuen. Bei den Männern iſt das Haar ſehr charak⸗ teriſtiſch geſchnitten, nämlich wie bei den Mönchen oder den Chorknaben. Die Stirne iſt zum Teil glatt geſchoren, wo— durch ſie ſehr hoch erſcheint. Ein ſtarker, kreisrund geſchnittener Haarbüſchel fängt erſt ganz nahe am Scheitel an. Dieſe Aehnlichkeit der Kariben mit den Mönchen iſt nicht etwa eine Folge des Lebens in den Miſſionen; ſie rührt nicht, wie man fälſchlich behauptet hat, daher, daß es die Eingeborenen ihren Herren und Meiſtern, den Patres Franizskanern, gleich thun wollen. Die Stämme, die zwiſchen den Quellen des Carony und des Rio Branco in wilder Unabhängigkeit verharren, zeichnen fi) durch eben dieſen Cerquillo de frailes aus, den ſchon bei der Entdeckung von Amerika die früheſten ſpaniſchen Geſchichtſchreiber den Völkern von karibiſchem Stamme zuſchrieben. Alle Glieder dieſes Stammes, die wir bei unſerer Fahrt auf dem unteren Orinoko und in den Miſ— ſionen von Piritu geſehen, unterſcheiden ſich von den übrigen Indianern nicht allein durch ihren hohen Wuchs, ſondern auch durch ihre regelmäßigen Züge. Ihre Naſe iſt nicht ſo breit und platt, ihre Backenknochen ſpringen nicht ſo ſtark vor, der ganze Geſichtsausdruck iſt weniger mongoliſch. Aus ihren Augen, die ſchwärzer ſind als bei den anderen Horden in Guyana, ſpricht Verſtand, faſt möchte man ſagen Nachdenk— lichkeit. Die Kariben haben etwas Ernſtes in ihrem Benehmen und etwas Schwermütiges im Blick, wie die Mehrzahl der Ureinwohner der Neuen Welt. Der ernſte Ausdruck ihrer Züge wird noch bedeutend dadurch geſteigert, daß ſie die Aug— brauen mit dem Saft des Caruto färben, ſie ſtärker machen und zuſammenlaufen laſſen; häufig machen ſie ſich im ganzen Geſicht ſchwarze Flecke, um grimmiger auszuſehen. Die Ge— meindebeamten, der Governador und die Alkalden, die allein das Recht haben, lange Stöcke zu tragen, machten uns ihre Aufwartung. Es waren junge Indianer von achtzehn, zwanzig Jahren darunter; denn ihre Wahl hängt einzig vom Gut: dünken des Miſſionärs ab. Wir wunderten uns nicht wenig, als uns an dieſen mit Onoto bemalten Kariben das wichtig thuende Weſen, die gemeſſene Haltung, das kalte, herabſehende Benehmen entgegentraten, wie man ſie hin und wieder bei Beamten in der Alten Welt findet. Die karibiſchen Weiber ſind nicht ſo kräftig und häßlicher als die Männer. Die Laſt der häuslichen Geſchäfte und der Feldarbeit liegt faſt ganz auf ihnen. Sie baten uns dringend um Stecknadeln, die ſie in Ermanglung von Taſchen unter die Unterlippe ſteckten; ſie durchſtechen damit die Haut ſo, daß der Kopf der Nadel im Munde bleibt. Dieſen Brauch haben ſie aus ihrem wilden Zuſtande mit herübergenommen. Die jungen Mädchen ſind rot bemalt und außer dem Guayuco ganz nackt. Bei den verſchiedenen Völkern beider Welten iſt der Begriff der Nackt— heit nur ein relativer. In einigen Ländern Aſiens iſt es einem Weibe nicht geſtattet, auch nur die Fingerſpitzen ſehen zu laſſen, während eine Indianerin vom karibiſchen Stamme ſich gar nicht für nackt hält, wenn ſie einen zwei Zoll breiten Guayuco trägt. Dabei gilt noch dieſe Leibbinde für ein weni— ger weſentliches Kleidungsſtück als die Färbung der Haut. Aus der Hütte zu gehen, ohne mit Onoto gefärbt zu ſein, wäre ein Verſtoß gegen allen karibiſchen Anſtand. Die Indianer in den Miſſionen von Piritu nahmen unſere Aufmerkſamkeit um ſo mehr in Anſpruch, als ſie einem Volke angehören, das durch ſeine Kühnheit, durch ſeine Kriegs— züge und ſeinen Handelsgeiſt auf die weite Landſtrecke zwiſchen dem Aequator und den Nordküſten bedeutenden Einfluß geübt hat. Allerorten am Orinoko hatten wir das Andenken an jene feindlichen Einfälle der Kariben lebendig gefunden; die— ſelben erſtreckten ſich früher von den Quellen des Carony und des Grevato bis zum Ventuari, Atacavi und Rio Negro. Die karibiſche Sprache iſt daher auch eine der verbreitetſten in dieſem Teile der Welt; ſie iſt ſogar (wie im Weſten der Alleghanies die Sprache der Lenni-Lenape oder Algonkin und die der Natchez oder Muskoghi) auf Völker übergegangen, die nicht desſelben Stammes ſind. Ueberblickt man den Schwarm von Völkern, die in Süd— und Nordamerika oſtwärts von den Kordilleren der Anden hauſen, ſo verweilt man vorzugsweiſe bei ſolchen, die lange über ihre Nachbarn geherrſcht und auf dem Schauplatz der Welt eine wichtigere Rolle geſpielt haben. Der Geſchicht— ſchreiber fühlt das Bedürfnis, die Ereigniſſe zu gruppieren, Maſſen zu ſondern, zu den gemeinſamen Quellen ſo vieler Bewegungen und Wanderungen im Leben der Völker zurück— zugehen. Große Reiche, eine förmlich organiſierte prieſterliche Hierarchie und eine Kultur, wie ſie auf den erſten Entwicke— lungsſtufen der Geſellſchaft durch eine ſolche Organiſation ge- fördert wird, fanden ſich nur auf den Hochgebirgen im Weſten. In Mexiko ſehen wir eine große Monarchie, die zerſtreute kleine Republiken einſchließt, in Cundinamarca und Peru — 234 — wahre Prieſterſtaaten. Befeſtigte Städte, Straßen und große ſteinerne Gebäude, ein merkwürdig entwickeltes Lebensſyſtem, Sonderung der Kaſten, Männer- und Frauenklöſter, geiſtliche Brüderſchaften mit mehr oder minder ſtrenger Regel, ſehr verwickelte Zeiteinteilungen, die mit den Kalendern, den Tier— kreiſen und der Aſtrologie der kultivierten aſiatiſchen Völker Verwandtſchaft haben, all das gehört in Amerika nur einem einzelnen Landſtrich an, dem langen und ſchmalen Streifen Alpenland, der ſich vom 30. Grad nördlicher bis zum 25. ſüdlicher Breite erſtreckt. In der Alten Welt ging der Zug der Völker von Oſt nach Weſt; nacheinander traten Basken oder Iberer, Kelten, Germanen und Pelasger auf. In der Neuen Welt gingen ähnliche Wanderungen in der Richtung von Nord nach Süd. In beiden Halbkugeln richtete ſich die Bewegung der Völker nach dem Zug der Gebirge; aber im heißen Erdſtrich wurden die gemäßigten Hochebenen der Kor: dilleren von bedeutenderem Einfluſſe auf die Geſchicke des Menſchengeſchlechtes als die Gebirge in Centralaſien und Europa. Da nun nur civiliſierte Völker eine eigentliche Ge— ſchichte haben, ſo geht die Geſchichte der Amerikaner in der Geſchichte einiger weniger Gebirgsvölker auf. Tiefes Dunkel liegt auf dem unermeßlichen Lande, das ſich vom Oſtabhang der Kordilleren zum Atlantiſchen Ozean erſtreckt, und gerade deshalb nimmt alles, was in dieſem Lande auf das Ueber— gewicht einer Nation über die andere, auf weite Wanderzüge, auf phpſiognomiſche, fremde Abſtammung verratende Züge deutet, unſer Intereſſe ſo lebhaft in Anſpruch. Mitten auf den Niederungen von Nordamerika hat ein mächtiges ausgeſtorbenes Volk kreisrunde, viereckige, achteckige Feſtungswerke gebaut, Mauern, 11,7 km lang, Erdhügel von 195 bis 230 m Durchmeſſer und 45 m Höhe, die bald rund ſind, bald mehrere Stockwerke haben und Tauſende von Skeletten enthalten. Dieſe Skelette gehörten Menſchen an, die nicht ſo hoch gewachſen, unterſetzter waren als die gegen— wärtigen Bewohner dieſer Länder. Andere Gebeine, in Ge— webe gehüllt, die mit denen auf den Sandwichs- und Viti— inſeln Aehnlichkeit haben, findet man in natürlichen Höhlen in Kentudy. Was iſt aus jenen Völkern in Louiſiana ge— worden, die vor den Lenni-Lenape, den Shawanoes im Lande ſaßen, vielleicht ſogar vor den Sioux (Nadoweſſier, Dacota) am Miſſouri, die ſtark „mongoliſiert“ ſind und von denen man, nach ihren eigenen Sagen, annimmt, daß ſie von den — 235 — aſiatiſchen Küſten herübergekommen? Auf den Niederungen von Südamerika trifft man, wie oben bemerkt, kaum ein paar künſtliche Hügel (cerros hechos a mano) an, nirgends Be— feſtigungen wie am Ohio. Auf einem ſehr großen Landſtrich, am unteren Orinoko wie am Caſſiquiare und zwiſchen den Quellen des Eſſequibo und Rio Branco, findet man indeſſen Granitfelſen, die mit ſymboliſchen Bildern bedeckt ſind. Dieſe Bildwerke weiſen darauf hin, daß die ausgeſtorbenen Ge— ſchlechter anderen Völkern angehörten, als die jetzt dieſe Länder bewohnen. Im Weſten, auf dem Rücken der Korvillere der Anden, erſcheinen die Geſchichte von Mexiko und die von Cundinamarca und Peru ganz unabhängig voneinander; aber auf den Niederungen gegen Oſten zeigt eine kriegeriſche Na— tion, die lange als die herrſchende aufgetreten, in den Geſichts— zügen und dem Körperbau Spuren fremder Abſtammung. Die Kariben haben noch Sagen, die auf einen Verkehr zwiſchen beiden Hälften Amerikas in alter Zeit hinzudeuten ſcheinen. Eine ſolche Erſcheinung verdient ganz beſondere Aufmerkſam— keit; ſie verdient ſolche, wie tief auch die Verſunkenheit und die Barbarei ſein mag, in der die Europäer am Ende des 15. Jahrhunderts alle Völker des neuen Kontinents mit Aus— nahme der Gebirgsvölker antrafen. Wenn es wahr iſt, daß die meiſten Wilden, wie ihre Sprachen, ihre kosmogoniſchen Mythen und ſo viele andere Merkmale darzuthun ſcheinen, nur verwilderte Geſchlechter ſind, Trümmer, die einem großen gemeinſamen Schiffbruch entgangen, ſo wird es doppelt von Wichtigkeit, zu unterſuchen, auf welchen Wegen dieſe Trüm: mer aus einer Halbkugel in die andere geworfen worden ſind. Das ſchöne Volk der Kariben bewohnt heutzutage nur einen kleinen Teil der Länder, die es vor der Entdeckung von Amerika inne hatte. Durch die Greuel der Europäer iſt dasſelbe auf den Antillen und auf den Küſten von Darien völlig ausgerottet, wogegen es unter der Miſſionszucht in den Provinzen Nueva Barcelona und Spaniſch-Guyana volk— reiche Dörfer gegründet hat. Man kann, glaube ich, die Zahl der Kariben, die in den Llanos von Piritu und am Carony und Cuyuni wohnen, auf mehr als 35000 veranſchlagen. Rechnete man dazu die unabhängigen Kariben, die weſtwärts von den Gebirgen von Cayenne und Pacaraimo zwiſchen den Quellen des Eſſequibo und des Rio Branco hauſen, ſo käme vielleicht eine Geſamtzahl von 40 000 Köpfen von einer, mit anderen eingeborenen Stämmen nicht gemiſchten Raſſe — 236 — heraus. Ich lege auf dieſe Angaben um ſo mehr Gewicht, als vor meiner Reiſe in vielen geographiſchen Werken von den Kariben nur wie von einem ausgeſtorbenen Volkſtamm die Rede war. Da man vom Inneren der ſpaniſchen Kolo— nien auf dem Feſtland nichts wußte, ſetzte man voraus, die kleinen Inſeln Dominica, Guadeloupe und St. Vincent ſeien der Hauptwohnſitz dieſes Volkes geweſen, und von demſelben beſtehe (auf allen öſtlichen Antillen) nichts mehr als verſteinerte oder vielmehr in einem Madreporenkalk eingeſchloſſene Skelette.“ Nach dieſer Vorausſetzung wären die Kariben in Amerika aus— geſtorben, wie die Guanchen auf dem Archipel der Kanarien. Stämme, welche, demſelben Volke angehörig, ſich gemein— ſamen Urſprung zuſchreiben, werden auch mit denſelben Na— men bezeichnet. Meiſt wird der Name einer einzelnen Horde von den benachbarten Völkern allen anderen beigelegt; zu— weilen werden auch Ortsnamen zu Volksnamen, oder letztere entſpringen aus Spottnamen oder aus der zufälligen Ver— drehung eines Wortes infolge ſchlechter Ausſprache. Das Wort „Caribes“, das ich zuerſt in einem Briefe des Peter Martyr d'Anghiera finde, kommt von Calina und Caripuna, wobei aus el und p r und b wurden. Ja es iſt ſehr merk— würdig, daß dieſer Name, den Kolumbus aus dem Munde der haytiſchen Völker hörte, bei den Kariben auf den Inſeln und bei denen auf dem Feſtland zugleich vorkam. Aus Ca— rina oder Calina machte man Galibi (Karibi), wie in Fran: zöſiſch-Guyana eine Völkerſchaft heißt, die von weit kleinerem Wuchſe iſt als die Einwohner am Cari, aber eine der zahl— reichen Mundarten der karibiſchen Sprache ſpricht. Die Be— wohner der Inſeln nannten ſich in der Männerſprache Cali— nago, in der Weiberſprache Callipinan. Dieſer Unterſchied zwiſchen beiden Geſchlechtern in der Sprechweiſe iſt bei den Völkern von karibiſchem Stamm auffallender als bei ande— ren amerikaniſchen Nationen (den Omagua, Guarani und Chiquitos), bei welchen derſelbe nur wenige Begriffe betrifft, wie z. B. die Worte Mutter und Kind. Es begreift ſich, wie Dieſe Skelette wurden im Jahre 1805 von Cortes gefunden. Sie ſind in einer Madreporen-Breccie eingeſchloſſen, welche die Neger ſehr naiv maconne bon Dieu nennen, und die, neuer For— mation wie der italieniſche Travertin, Topfſcherben und andere Pro— dukte der Menſchenhand enthält. Dauxiou Lavayſſe und Dr. König machten in Europa zuerſt dieſe Erſcheinung bekannt, die eine Zeit— lang die Aufmerkſamkeit der Geologen in Anſpruch nahm. * de die Weiber bei ihrer abgeſchloſſenen Lebensweiſe ſich Redens— arten bilden, welche die Männer nicht annehmen mögen. Schon Cicero! bemerkt, daß die alten Sprachformen ſich vor: zugsweiſe im Munde der Weiber erhalten, weil ſie bei ihrer Stellung in der Geſellſchaft nicht ſo ſehr den Lebenswechſeln (dem Wechſel von Wohnort und Beſchäftigung) ausgeſetzt ſind, wodurch bei den Männern die urſprüngliche Reinheit der Sprache leicht leidet. Bei den karibiſchen Völkern iſt aber der Unterſchied zwiſchen den Mundarten beider Geſchlechter ſo groß und auffallend, daß man zur befriedigenden Erklä— rung desſelben ſich nach einer anderen Quelle umſehen muß. Dieſe glaubte man nun in dem barbariſchen Brauche zu fin— den, die männlichen Gefangenen zu töten und die Weiber der Beſiegten als Sklaven fortzuſchleppen. Als die Kariben in den Archipel der Kleinen Antillen einfielen, kamen ſie als eine kriegeriſche Horde, nicht als Koloniſten, die ihre Familien bei ſich hatten. Die Weiberſprache bildete ſich nun in dem Maße, als die Sieger ſich mit fremden Weibern ver— banden. Damit kamen neue Elemente herein, Worte weſent— lich verſchieden von den karibiſchen Worten,? die ſich im Frauengemach von Geſchlecht zu Geſchlecht fortpflanzten, doch ſo, daß der Bau, die Kombinationen und die grammatiſchen Formen der Männerſprache Einfluß darauf äußerten. So voll- zog ſich hier in einem beſchränkten Verein von Individuen, was wir an der ganzen Völkergruppe des neuen Kontinents beobachten. Völlige Verſchiedenheit hinſichtlich der Worte neben großer Aehnlichkeit im Bau, das iſt die Eigentümlich— keit der amerikaniſchen Sprachen von der Hudſonsbai bis zur Magelhaensſchen Meerenge. Es iſt verſchiedenes Material in ähnlichen Formen. Bedenkt man nun, daß die Erſchei— nung faſt von einem Pol zum anderen über die ganze Hälfte unſeres Planeten reicht, betrachtet man die Eigentümlichkeiten in den grammatiſchen Kombinationen (die Formen für die Genera bei den drei Perſonen des Zeitwortes, die Redupli— kationen, die Frequentative, die Duale), ſo kann man ſich nicht genug wundern, wie einförmig bei einem ſo beträcht— Cicero, De oratore. Lib. III, c. 12. Ich gebe hier einige Beiſpiele von dieſem Unterſchiede zwiſchen der Sprache der Männer (M) und der Weiber (W): Inſel oubao (M), acaera (W); Menſch ouekelli (I), eyeri (W); Mais ichen (), atica (W). — 238 — lichen Bruchteil des Menſchengeſchlechtes der Entwickelungs— gang in Geiſt und Sprache iſt. Wir haben geſehen, daß die Mundart der karibiſchen Weiber auf den Antillen Reſte einer ausgeſtorbenen Sprache enthält. Was war dies für eine Sprach Wir wiſſen es nicht. Einige Schriftſteller vermuten, es könnte die Sprache der Ygneri oder der Ureinwohner der karibiſchen Inſeln fein, von denen ſich ſchwache Ueberreſte auf Guadeloupe erhalten haben; andere fanden darin Aehnlichkeit mit der alten Sprache von Cuba oder mit den Sprachen der Aruaken und Apa— lachiten in Florida; allein alle dieſe Annahmen gründen ſich auf eine höchſt mangelhafte Kenntnis der Mundarten, die man zu vergleichen unternommen. Lieſt man die ſpaniſchen Schriftſteller des 16. Jahrhun⸗ derts mit Aufmerkſamkeit, ſo ſieht man, daß die karibiſchen Völkerſchaften damals auf einer Strecke von 18 bis 19 Breiten— graden, von den Jungfraueninſeln oſtwärts von Portorico bis zu den Mündungen des Amazonenſtromes ausgebreitet waren. Daß ihre Wohnſitze auch gegen Weſt, längs der Küſten— kette von Santa Marta und Venezuela ſich erſtreckt, erſcheint weniger gewiß. Indeſſen nennen Lopez de Gomara und die älteſten Geſchichtſchreiber Caribana nicht, wie ſeitdem ge— ſchehen, das Land zwiſchen den Quellen des Orinoko und den Gebirgen von Franzöſiſch-Guyana, ſondern die ſumpfigen Niederungen zwiſchen den Mündungen des Rio Atrato und des Rio Sinu. Ich war, als ich von der Havana nach Por— tobelo wollte, ſelbſt auf dieſen Küſten und hörte dort, das Vorgebirge, das den Meerbuſen von Darien oder Uraba gegen Oſt begrenzt, heiße noch jetzt Punta Caribana. Früher war ſo ziemlich die Anſicht herrſchend, die Kariben der antilliſchen Inſeln ſtammen von den kriegeriſchen Völkern in Darien ab, und haben ſogar den Namen von ihnen. „Inde Uraban ab orientali prehendit ora, quam appellant indigenae Caribana, unde Caribes insulares originem habere nomenque retinere dicuntur.“ So drückt ſich Anghiera in den Oceanica aus. Karte des Hondius von 1599, die der lateiniſchen Ausgabe von Raleghs Reiſebeſchreibung beigegeben iſt. In der holländiſchen Ausgabe heißen die Llanos von Caracas zwiſchen den Gebirgen von Merida und dem Rio Pao „Caribana“. Man ſieht hier wieder, was ſo oft in der Geſchichte der Geographie vorkommt, daß eine Benennung allmählich von Weſten nach Oſten gerückt wurde. — 239 — Ein Neffe Amerigo Veſpuccis hatte ihm geſagt, von dort bis zu den Schneegebirgen von Santa Marta ſeien alle Einge— borenen „e genere Caribium sive Canibalium“. Ich ziehe nicht in Abrede, daß echte Kariben am Meerbuſen von Darien gehauſt haben können, und daß ſie durch die öſtlichen Strö— mungen dahin getrieben worden ſein mögen; es kann aber ebenſo gut ſein, daß die ſpaniſchen Seefahrer, die auf die Sprachen wenig achteten, jede Völkerſchaft von hohem Wuchs und wilder Gemütsart Karibe und Kanibale nannten. Jeden— falls erſcheint es ſehr unwahrſcheinlich, daß das karibiſche Volk auf den Antillen und in der Parime ſich ſelbſt nach dem Lande, in dem es urſprünglich lebte, genannt haben ſollte. Oſtwärts von den Anden und überall, wohin die Kultur noch nicht gedrungen iſt, geben vielmehr die Völker den Land: ſtrichen, wo ſie ſich niedergelaſſen, die Namen. Wir haben ſchon mehrmals Gelegenheit gehabt zu bemerken, daß die Worte Caribes und Canibales bedeutſam zu ſein ſcheinen, daß es wohl Beinamen ſind, die auf Mut und Kraft, ſelbſt auf Geiſtesüberlegenheit anſpielen.! Es iſt ſehr bemerfens- wert, daß die Braſilianer, als die Portugieſen ins Land kamen, ihre Zauberer gleichfalls Caribes nannten. Wir wiſſen, daß die Kariben in der Parime das wanderluſtigſte Volk in Amerika waren; vielleicht ſpielten ſchlaue Köpfe in dieſem umherziehenden Volk dieſelbe Rolle wie die Chaldäer in der Alten Welt. Völkernamen hängen ſich leicht an ge— wiſſe Gewerbe, und als unter den Cäſaren ſo viele Formen des Aberglaubens aus dem Orient in Italien eindrangen, kamen die Chaldäer ſo wenig von den Ufern des Euphrat, als die Menſchen, die man in Frankreich Egyptiens und Bohe- miens nennt (die einen indiſchen Dialekt reden, Zigeuner), vom Nil und von der Elbe. Wenn eine und dieſelbe Nation auf dem Feſtlande und auf benachbarten Inſeln lebt, ſo hat man die Wahl zwiſchen zwei Annahmen: ſie ſind entweder von den Inſeln auf den Kontinent, oder von dem Kontinent auf die Inſeln gewandert. Dieſe Streitfrage erhebt ſich auch bei den Iberern (Basken), die ſowohl in Spanien als auf den Inſeln im Mittelmeer ihre Wohnſitze hatten;? ebenſo bei den Malaien, die auf der Veſpucci ſagt: Se eorum lingua Charaibi, hoc est magnae sapientiae viros vocantes. 2 Wilhelm von Humboldt: „Urbewohner Hiſpaniens“, S. 167. — 240 — Halbinſel Malakka und im Diſtrikt Menangkabau auf der Inſel Sumatra Autochthonen zu ſein ſcheinen. Der Archipel der großen und der kleinen Antillen hat die Geſtalt einer ſchmalen, zerriſſenen Landzunge, die der Landenge von Pa— nama parallel läuft und nach der Annahme mancher Geo— graphen einſt Florida mit dem nordöſtlichen Ende von Süd— amerika verband. Es iſt gleichſam das öſtliche Ufer eines Binnenmeeres, das man ein Becken mit mehreren Ausgängen nennen kann. Dieſe ſonderbare Bildung des Landes hat den verschiedenen Wanderſyſtemen, nach denen man die Nieder— laſſung der karibiſchen Völker auf den Inſeln und auf dem benachbarten Feſtlande zu erklären ſuchte, zur Stütze gedient. Die Kariben des Feſtlandes behaupten, die kleinen Antillen ſeien vor Zeiten von den Aruaken bewohnt geweſen, einer kriegeriſchen Nation, deren Hauptmaſſe noch jetzt an den un⸗ geſunden Ufern des Surinam und des Berbice lebt. Dieſe Aruaken ſollen, mit Ausnahme der Weiber, von den Kariben, die von den Mündungen des Orinoko hinübergekommen, ſämt— lich ausgerottet worden fein, und fie berufen ſich zur Bewahr— heitung dieſer Sage auf die Aehnlichkeit zwiſchen der Sprache der Aruaken und der Weiberſprache bei den Kariben. Man muß aber bedenken, daß die Aruaken, wenn ſie gleich Feinde der Kariben ſind, doch mit ihnen zur ſelben Völkerfamilie gehören, und daß das Aruakiſche und das Karibiſche einander ſo nahe ſtehen wie Griechiſch und Perſiſch, Deutſch und Sans— krit. Nach einer anderen Sage ſind die Kariben auf den Inſeln von Süden hergekommen, nicht als Eroberer, ſondern aus Guyana von den Aruaken vertrieben, die urſprünglich über alle benachbarten Völker das Uebergewicht hatten. End: lich eine dritte, weit verbreitetere und auch wahrſcheinlichere Sage läßt die Kariben aus Nordamerika, namentlich aus Florida kommen. Ein Reiſender, der ſich rühmt, alles zu— ſammengebracht zu haben, was auf dieſe Wanderungen von Nord nach Süd Bezug hat, Briſtok, behauptet, ein Stamm der Confachiqui habe lange mit den Apalachiten im Kriege gelegen; dieſe haben jenem Stamme den fruchtbaren Diſtrikt Amana Wenn ich das Wort Autochthone brauche, jo will ich da⸗ mit keineswegs ausſprechen, daß die Völker hier geſchaffen worden, was gar nicht Sache der Geſchichte iſt, ſondern nur ſo viel ſagen, daß wir von keinem anderen Volke wiſſen, das älter wäre als das autochthone. — 241 — abgetreten und ſofort ihre neuen Bundesgenoſſen Karibes (d. h. tapfere Fremdlinge) genannt; aber infolge eines Zwiſtes über den Gottesdienſt ſeien die Confachiquicaribes aus Flo— rida vertrieben worden. Sie gingen zuerſt in ihren kleinen Kanoen auf die Nucayas oder die lucayiſchen Inſeln (auf Ci— gateo und die zunächſtliegenden Inſeln), von da nach Ayay (Hayhay, heutzutage Santa Cruz) und auf die kleinen An— tillen, endlich auf das Feſtland von Südamerika. Dies, glaubt man, ſei gegen das Jahr 1100 unſerer Zeitrechnung geſchehen; allein bei dieſer Schätzung nimmt man an (wie bei manchen orientaliſchen Mythen), „bei der Mäßigkeit und Sitteneinfalt der Wilden“ könne die mittlere Dauer einer Generation 180 bis 200 Jahre betragen haben, wodurch dann eine beſtimmte Zeitangabe als völlig aus der Luft gegriffen erſcheint. Auf dieſer ganzen langen Wanderung hatten die Kariben die großen Antillen nicht berührt, wo indeſſen die Eingeborenen gleichfalls aus Florida zu ſtammen glaubten. Die Inſulaner auf Cuba, Hayti und Borriken (Portorico) waren nach der einſtimmigen Ausſage der erſten Konquiſtadoren von den Kariben völlig verſchieden; ja bei der Entdeckung von Amerika waren dieſe bereits von der Gruppe der kleinen lu— cayiſchen Inſeln abgezogen, auf denen, wie in allen von Schiff— brüchigen und Flüchtlingen bewohnten Ländern, eine erſtaun— liche Mannigfaltigkeit von Sprachen herrſchte. Die Herrſchaft, welche die Kariben ſo lange über einen großen Teil des Feſtlandes ausgeübt, und das Andenken an ihre alte Größe gab ihnen ein Gefühl von Würde und nationaler Ueberlegenheit, das in ihrem Benehmen und ihren Aeuße— rungen zu Tage kommt. „Nur wir ſind ein Volk,“ ſagen ſie ſprichwörtlich, „die anderen Menſchen (oquili) ſind dazu da, uns zu dienen.“ Die Kariben ſehen auf ihre alten Feinde ſo hoch herab, daß ich ein zehnjähriges Kind vor Wut ſchäumen ſah, weil man es einen Cabre oder Cavere nannte. Und doch hatte es in ſeinem Leben keinen Menſchen dieſes un— glücklichen Volkes geſehen, von dem die Stadt Cabruta (Ca— britu) ihren Namen hat und das von den Kariben faſt völlig ausgerottet wurde. Ueberall, bei halb barbariſchen Horden wie bei den civiliſierteſten Völkern in Europa, finden wir dieſen eingewurzelten Haß und die Namen feindlicher Völker als die gröbſten Schimpfworte gebraucht. Der Miſſionär führte uns in mehrere indianiſche Hütten, wo Ordnung und die größte Reinlichkeit herrſchten. Mit A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 16 — 242 — Verdruß ſahen wir hier, wie die karibiſchen Mütter ſchon die kleinſten Kinder quälen, um ihnen nicht nur die Waden größer zu machen, ſondern am ganzen Bein vom Knöchel bis oben am Schenkel das Fleiſch ſtellenweiſe hervorzutreiben. Bänder von Leder oder Baumwollenzeug werden 5 bis 8 em von— einander feſt umgelegt und immer ſtärker angezogen, ſo daß die Muskeln zwiſchen zwei Bandſtreifen überquellen. Unſere Kinder im Wickelzeug haben lange nicht ſo viel zu leiden als die Kinder bei den karibiſchen Völkern, bei einer Nation, die dem Naturzuſtand noch ſo viel näher ſein ſoll. Umſonſt arbeiten die Mönche in den Miſſionen, ohne Rouſ— ſeaus Werke oder auch nur den Namen des Mannes zu kennen, dieſem alten Syſtem des Kinderaufziehens entgegen; der Menſch, der eben aus den Wäldern kommt, an deſſen Sitteneinfalt wir glauben, iſt keineswegs gelehrig, wenn es ſich von ſeinem Putz und von ſeinen Vorſtellungen von Schönheit und Anſtand handelt. Ich wunderte mich übrigens, daß der Zwang, dem man die armen Kinder unterwirft, und der den Blutumlauf hemmen ſollte, der Muskelbewegung keinen Eintrag thut. Es gibt auf der Welt kein kräftigeres und ſchnellfüßigeres Volk als die Kariben. Wenn die Weiber ihren Kindern Beine und Schenkel modeln, um Wellenlinien hervorzubringen, wie die Maler es nennen, ſo unterlaſſen ſie es in den Llanos wenigſtens, ihnen von der Geburt an den Kopf zwiſchen Kiffen und Brettern platt zu drücken. Dieſer Brauch, der früher auf den Inſeln und bei manchen karibiſchen Stämmen in der Parime und in Franzöſiſch-Guyana jo verbreitet war, kommt in den Miſ— ſionen, die wir beſucht haben, nicht vor. Die Leute haben dort gewölbtere Stirnen als die Chaymas, Otomaken, Macos, Marvaitanos und die meiſten Eingebornen am Orinoko. Nach ſyſtematiſchem Begriffe ſind ihre Stirnen, wie ſie ihren geiſtigen Fähigkeiten entſprechen. Dieſe Beobachtung überraſchte uns um ſo mehr, da die in manchen anatomiſchen Werken abge— bildeten Karibenfchädel! ſich von allen Menſchenſchädeln durch die niedrigſte Stirne und den kleinſten Geſichtswinkel unter— ſcheiden. Man hat aber in unſeren oſteologiſchen Samm— lungen Kunſtprodukte mit Naturbildungen verwechſelt. Die Ich führe als Beiſpiel nur eine vom berühmten Pater Camper gezeichnete Tafel an: Viri adulti cranium ex Caraibensium insula Sancti Vicentii in Museo Clinii asservatum, 1785. — 248 — „faſt ſtirnloſen“ ſogenannten Karibenſchädel von der Inſel Sankt Vincent ſind zwiſchen Brettern gemodelte Köpfe von Zambos (ſchwarzen Kariben), Abkömmlingen von Negern und wirklichen Kariben. Der barbariſche Brauch, die Stirne platt zu drücken, kommt übrigens bei mehreren Völkern vor, die nicht desſelben Stammes ſind; man hat denſelben in neueſter Zeit auch in Nordamerika angetroffen; aber der Schluß von einer gewiſſen Uebereinſtimmung in Sitten und Gebräuchen auf gleiche Abſtammung iſt ſehr gewagt. Reiſt man in den karibiſchen Miſſionen, ſo ſollte man bei dem daſelbſt herrſchenden Geiſte der Ordnung und des Gehorſams gar nicht glauben, daß man ſich unter Kannibalen befindet. Dieſes amerikaniſche Wort von nicht ganz ſicherer Bedeutung ſtammt wahrſcheinlich aus der Sprache von Hayti oder Portorico. Es iſt ſchon zu Ende des 15. Jahrhunderts, als gleichbedeutend mit Menſchenfreſſer, in die europäiſchen Sprachen übergegangen. „Edaces humanarum carnium novi anthropophagi, quos diximus Caribes, alias Canibales appellari,“ jagt Anghiera in der dritten Dekade feiner Papſt Leo X. gewidmeten Oceanica. Ich bezweifle keineswegs, daß die Inſelkariben als eroberndes Volk die Ygneris oder alten Bewohner der Antillen, die ſchwach und unkriegeriſch waren, grauſam behandelt haben; dennoch iſt anzunehmen, daß dieſe Grauſamkeiten von den erſten Reiſenden, welche nur Völker hörten, die von jeher Feinde der Kariben geweſen, übertrieben wurden. Nicht immer werden nur die Beſiegten von den Zeitgenoſſen verleumdet; auch am Uebermut des Siegers rächt man ſich, indem man das Regiſter ſeiner Greuel ver— größert. Alle Miſſionäre am Carony, am unteren Orinoko und in den Llanos del Cari, die wir zu befragen Gelegenheit ge— habt, verſichern, unter allen Völkern des neuen Kontinents ſeien die Kariben vielleicht am wenigſten Menſchenfreſſer; und ſolches behaupten ſie ſogar von den unabhängigen Horden, die oſtwärts von Esmeralda zwiſchen den Quellen des Rio Branco und des Eſſequibo umherziehen. Es begreift ſich, daß die verzweifelte Erbitterung, mit der ſich die unglücklichen Ka— riben gegen die Spanier wehrten, nachdem im Jahre 1504 ein königliches Ausſchreiben ſie für Sklaven erklärt hatte, ſie vollends in den Ruf der Wildheit brachte, in dem ſie ſtehen. Der erſte Pati erant in praeda m Caribes ex diplomate regio. Missus — 21 — Gedanke, dieſem Volke zu Leibe zu gehen und es ſeiner Freiheit und ſeiner natürlichen Rechte zu berauben, rührt von Chriſtoph Kolumbus her, der die Anſichten des 15. Jahrhunderts teilte und durchaus nicht immer ſo menſchlich war, als man im 18. aus Haß gegen ſeine Verkleinerer behauptete. Später wurde der Licentiat Rodrigo de Figueroa vom Hofe beauftragt (1520), auszumachen, welche Völkerſchaften in Südamerika für karibiſchen oder kannibaliſchen Stammes gelten könnten, und welche Guatiaos wären, d. h. friedliche von lange her mit den Kaſtilianern befreundete Indianer. Dieſes ethno⸗ graphiſche Aktenſtück, „El auto de Figueroa“ genannt, iſt eine der merkwürdigſten Urkunden für die Barbarei der erſten Kon⸗ quiſtadoren. Nie hatte Syſtemſucht ſo trefflich dazu gedient, die Leidenſchaften zu beſchönigen. Unſere Geographen gehen nicht willkürlicher zu Werke, wenn ſie in Centralaſien mon— goliſche und tatariſche Völker unterſcheiden, als Figueroa, wenn er zwiſchen Kannibalen und Guatiaos die Grenze zog. Ohne auf die Sprachverwandtſchaft zu achten, erklärte man willkürlich alle Horden, denen man Schuld geben konnte, daß ſie nach dem Gefechte einen Gefangenen verzehrt, für karibiſch. Die Einwohner von Uriapari (der Halbinſel Paria) wurden Kariben, die Urinaken (die Uferbewohner am unteren Orinoko oder Orinuku) Guatiaos genannt. Alle Stämme, die Figueroa als Kariben bezeichnete, waren der Sklaverei verfallen; man konnte ſie nach Belieben verkaufen oder niedermachen. In dieſen blutigen Kämpfen wehrten ſich die karibiſchen Weiber nach dem Tode ihrer Männer mit ſo verzweifeltem Mute, daß man ſie, wie Anghiera ſagt, für Amazonenvölker hielt. Die gehäſſigen Deklamationen eines Dominikanermönchs (Tho— mas Hortiz) trugen dazu bei, den Jammer zu verlängern, der auf ganzen Völkern laſtete. Indeſſen, und man ſpricht es mit Vergnügen aus, gab es auch beherzte Männer, die mitten in den an den Kariben verübten Greueln die Stimme der Menſchlichkeit und der Gerechtigkeit hören ließen. Manche Geiſtliche ſprachen ſich in entgegengeſetztem Sinne aus, als ſie anfangs gethan. In einem Jahrhundert, in dem man nicht hoffen durfte, die öffentliche Freiheit auf bürgerliche Ein— een au gründen, ſuchte man wenigſtens die perſönliche est Johannes Poncius, qui Caribum terras depopuletur et in servitutem obscoenos hominum voratores redigat. Anghiera, Dec. I, Lib. 1; Dec. III, Lib. 6. Freiheit zu verteidigen. „Es iſt,“ ſagt Gomara im Jahre 1551, „ein heiliges Geſetz (lex sanctissima), durch das unſer Kaiſer verboten hat, die Indianer zu Sklaven zu machen. Es iſt gerecht, daß die Menſchen, die alle frei zur Welt kommen, nicht einer des andern Sklaven werden.“ Bei unſerem Aufenthalt in den karibiſchen Miſſionen überrafchte es uns, mit welcher Gewandtheit junge achtzehn-, zwanzigjährige Indianer, wenn fie zum Amte eines Alguacil oder Fiskal herangebildet ſind, ſtundenlange Anreden an die Gemeinde halten. Die Betonung, die ernſte Haltung, die Gebärden, mit denen der Vortrag begleitet wird, alles verrät ein begabtes, einer hohen Kulturentwickelung fähiges Volk. Ein Franziskaner, der ſo viel karibiſch verſtand, daß er zu— weilen in dieſer Sprache predigen konnte, machte uns darauf aufmerkſam, wie lang und gehäuft die Sätze in den Reden der Indianer ſind, und doch nie verworren und unklar werden. Eigentümliche Flexionen des Verbums bezeichnen zum voraus die Beſchaffenheit des regierten Wortes, je nachdem es belebt iſt oder unbelebt, in der Einzahl oder in der Mehrzahl. Durch kleine angehängte Formen (Suffixe) wird der Empfindung ein eigener Ausdruck gegeben, und hier, wie in allen auf dem Wege ungehemmter Entwickelung entſtandenen Sprachen, entſpringt die Klarheit aus dem ordnenden Inſtinkte, der auf den verſchiedenſten Stufen der Barbarei und der Kultur als das eigentliche Weſen der menſchlichen Geiſteskraft erſcheint. An Feſttagen verſammelt ſich nach der Meſſe die ganze Ge— meinde vor der Kirche. Die jungen Mädchen legen zu den Füßen des Miſſionärs Holzbündel, Mais, Bananenbüſchel und andere Lebensmittel nieder, deren er in ſeinem Haushalt bedarf. Zugleich treten der Governador, der Fiskal und die Ge— meindebeamten, lauter Indianer, auf, ermahnen die Einge— borenen zum Fleiß, teilen die Arbeiten, welche die Woche über vorzunehmen ſind, aus, geben den Trägen Verweiſe, und — es ſoll nicht verſchwiegen werden — prügeln die Unbot— mäßigen unbarmherzig durch. Die Stockſtreiche werden ſo kalt— blütig hingenommen als ausgeteilt. Dieſe Akte der vollziehen— den Juſtiz kommen dem Reiſenden, der von Angoſtura an die Küſte über die Llanos geht, ſehr gedehnt vor und allzu— ı Wilhelm v. Humboldt, „Ueber das vergleichende Sprach— ſtudium in Beziehung auf die verſchiedenen Epochen der Sprach— entwickelung“ (Seite 13). — 246 — ſehr gehäuft. Man ſähe es lieber, wenn der Prieſter nicht vom Altar weg körperliche Züchtigungen verhängte, man wünſchte, er möchte es nicht im prieſterlichen Gewande mit anſehen, wie Männer und Weiber abgeſtraft werden; aber dieſer Mißbrauch, oder, wenn man will, dieſer Verſtoß gegen den Anſtand fließt aus dem Grundſatz, auf dem das ganze ſeltſame Miſſionsregiment beruht. Die willkürlichſte bürgerliche Gewalt iſt mit den Rechten, welche dem Geiſtlichen der kleinen Gemeinde zuſtehen, völlig verſchmolzen, und obgleich die Ka— riben ſo gut wie keine Kannibalen ſind, und ſo ſehr man wünſchen mag, daß ſie mit Milde und Vorſicht behandelt werden, ſo ſieht man doch ein, daß es zuweilen etwas kräftiger Mittel bedarf, um in einem ſo jungen Gemeinweſen die Ruhe auf— recht zu erhalten. Die Kariben ſind um ſo ſchwerer an feſte Wohnſitze zu feſſeln, da ſie ſeit Jahrhunderten auf den Flüſſen Handel getrieben haben. Wir haben dieſes rührige Volk, ein Volk von Handelsleuten und von Kriegern, ſchon oben kennen ge— lernt, wie es Sklavenhandel trieb und mit ſeinen Waren von den Küſten von Holländiſch-Guyana bis in das Becken des Amazonenſtromes zog. Die wandernden Kariben waren die Bocharen des tropiſchen Amerika, und ſo hatte ſie denn auch das tägliche Bedürfnis, die Gegenſtände ihres kleinen Handels zu berechnen und einander Nachrichten mitzuteilen, dazu gebracht, die Handhabung der Quippos, oder, wie man in den Miſſionen ſagt, der Cordoncillos con nudos, zu verbeſſern und zu erweitern. Dieſe Quippos oder Schnüre kommen in Kanada, in Mexiko (wo Boturini welche bei den Tlascalteken bekam), in Peru, auf den Niederungen von Guyana, in Centralaſien, in China und in Indien vor. Als Roſenkränze wurden ſie in den Händen der abendländiſchen Chriſten Werkzeuge der Andacht; als Suampan dienten ſie zu den Griffen der palpabeln oder Handarithmetik der Chineſen, Tataren und Ruſſen. Die unabhängigen Kariben, ! Die Quippos oder Schnüre der Völker im oberen Louiſiana heißen Wampum. Anghiera (Dec. III. Lib. 9) erzählt einen ſehr merkwürdigen Fall, aus dem hervorzugehen ſcheint, daß die umher— ziehenden Kariben mit gebundenen Büchern, wie denen der Mexi— kaner und den unſeren, nicht ganz unbekannt waren. Der inter— eſſanten Entdeckung von Bilderheften bei den Panosindianern am Ucayale habe ich anderswo gedacht (Vues des Cordilleres, T. J, — 247 — welche in dem noch ſo wenig bekannten Lande zwiſchen den Quellen des Orinoko und den Flüſſen Eſſequibo, Carony und Parime (Rio Branco oder Rio de aguas blancas) hauſen, teilen ſich in Stämme; ähnlich den Völkern am Miſſouri, in Chile und im alten Germanien bilden ſie eine Art poli— tiſcher Bundesgenoſſenſchaft. Eine ſolche Verfaſſung ſagt am beſten der Freiheitsliebe dieſer kriegeriſchen Horden zu, die geſellſchaftliche Bande nur dann vorteilhaft finden, wenn es gemeinſame Verteidigung gilt. In ihrem Stolze ſondern ſich die Kariben von allen anderen Stämmen ab, ſelbſt von ſol— chen, die der Sprache nach ihnen verwandt ſind. Auf dieſer Abſonderung beſtehen ſie auch in den Miſſionen. Dieſe ſind ſelten gediehen, wenn man den Verſuch gemacht hat, Kariben gemiſchten Gemeinden einzuverleiben, das heißt ſolchen, wo jede Hütte von einer Familie bewohnt iſt, die wieder einem anderen Volke angehört und eine andere Mundart hat. Bei den unabhängigen Kariben vererbt ſich die Häuptlingswürde vom Vater auf den Sohn, nicht durch die Schweſterkinder. Letztere Erbfolge beruht auf einem grundſätzlichen Mißtrauen, das eben nicht für große Sittenreinheit ſpricht; dieſelbe herrſcht in Indien, bei den Aſchanti in Afrika und bei mehreren wilden Horden in Nordamerika. Bei den Kariben müſſen pag. 72). Auch die Peruaner hatten neben den Quippos hiero- glyphiſche Malereien, ähnlich den mexikaniſchen, nur roher. Be— malter Blätter bedienten ſie ſich ſeit der Eroberung zum Beichten in der Kirche. Vielleicht hatte der Karibe, der nach Anghieras Er— zählung tief aus dem Lande nach Darien kam, Gelegenheit gehabt, in Quito oder Cundinamarca ein peruaniſches Buch zu ſehen. Ich brauche, wie die erſten ſpaniſchen Reiſenden, das Wort Buch, weil dasſelbe keineswegs den Gebrauch einer Buchſtabenſchrift vorausſetzt. Bei den Huronen (Wyandot) und Natchez vererbt ſich die oberſte Würde in der weiblichen Linie; nicht der Sohn iſt der Nach— folger, ſondern der Sohn der Schweſter oder der nächſte Verwandte von weiblicher Seite. Bei dieſer Erbfolge iſt man ſicher, daß die oberſte Gewalt beim Blute des letzten Häuptlings bleibt; der Brauch iſt eine Gewähr für die Legitimität. Ich habe bei den königlichen Dynaſtieen auf den Antillen alte Spuren dieſer in Afrika und Oſtindien ſehr verbreiteten Erbfolge gefunden. „In testamentis autem quam fatue sese habeant, intelligamus: ex sorore prima primogenitum, si insit, reliquunt regnorum haeredem; sin minus, ex altera, vel tertia, si ex secunda proles desit: quia a suo sanguine creatam sobolem eam certum est. Filios autem — 248 — die jungen Häuptlinge, wie die Jünglinge, die heiraten wollen, faſten und ſich den ſeltſamſten Büßungen unterziehen. Man purgiert ſie mit der Frucht gewiſſer Euphorbien, man läßt ſie in Kaſten ſchwitzen und gibt ihnen von den Marirri oder Piaches bereitete Mittel ein, die in den Landſtrichen jenſeits der Alleghanies Kriegstränke, Tränke zum tutmachen (war-physies) heißen. Die karibiſchen Marirri ſind die berühmteſten von allen; ſie ſind Prieſter, Gaukler und Aerzte in einer Perſon, und ihre Lehre, ihre Kunſtgriffe und ihre Arzneien vererben ſich. Letztere werden unter Auf— legen der Hände gereicht und mit verſchiedenen geheimnis— vollen Gebärden oder Handlungen, wie es ſcheint, von Uralters her bekannte Manipulationen des tieriſchen Magnetismus. Ich hatte Gelegenheit, mehrere Leute zu ſprechen, welche die verbündeten Kariben genau hatten beobachten können, ich konnte aber nicht erfahren, ob die Marirri eine Kaſte für ſich bilden. In Nordamerika hat man gefunden, daß bei den Shawanoes, die in mehrere Stämme zerfallen, die Prieſter, die die Opfer vornehmen (wie bei den Hebräern), nur aus einem Stamme, dem der Mequachakes, ſein dürfen. Wie mir dünkt, muß alles, was man noch in Amerika über die Spuren einer alten Prieſterkaſte ausfindig macht, von be— deutendem Intereſſe fein, wegen jener Prieſterkönige in Peru, die ſich Söhne der Sonne nannten, und jener Sonnen— könige bei den Natchez, bei denen man unwillkürlich an die Heliaden der erſten öſtlichen Kolonie von Rhodus denkt.! Um Sitten und Gebräuche des karibiſchen Volkes vollkommen kennen zu lernen, müßte man die Miſſionen in den Llanos, die am Carony und die Savannen ſüdlich von den Gebirgen von Pacaraimo zugleich beſuchen. Je mehr man ſie kennen lernt, verſichern die Franziskaner, deſto mehr müſſen die Vor— urteile ſchwinden, die man gegen ſie in Europa hat, wo ſie für wilder, oder um mich des naiven Ausdrucks eines Herrn von Montmartin zu bedienen, für weit weniger liberal gelten als andere Völkerſchaften in Guyana. Die Sprache uxorum suarum pro non legitimis habent. Uxores ducunt - quotquot placet. Ex uxoribus cariores cum regulo sepeliri patiuntur. (Anghiera, Decas III, Lib. 9.) ! Diodorus Siculus, Lib. V. $ 56. „Die Kariben find ziemlich hübſch gewachſen und fleiſchicht; ſie ſind aber nicht ſehr liberal, denn ſie eſſen gern Menſchenfleiſch, — 249 — der Kariben auf dem Feſtlande iſt dieſelbe von den Quellen des Rio Branco bis zu den Steppen von Cumana. Ich war ſo glücklich, in Beſitz einer Handſchrift zu gelangen, die einen Auszug des Paters Sebaſtian Garcia aus der „Gramatica de la lengua Caribe del P. Fernando Nimenez“ enthielt. Dieſe wertvolle Handſchrift wurde bei Vaters! und meines Bruders, Wilhelm von Humboldt, nach noch weit umfaſſen— derem Plane angelegten Unterſuchungen über den Bau der amerikaniſchen Sprachen benützt. Als wir von der Miſſion Cari aufbrechen wollten, ge— rieten wir in einen Wortwechſel mit unſeren indianiſchen Maultiertreibern. Sie hatten, zu unſerer nicht geringen Ver: wunderung, ausfindig gemacht, daß wir Skelette aus der Höhle von Ataruipe mit uns führten, und ſie waren feſt überzeugt, daß das Laſttier, das „die Körper ihrer alten Ver— wandten“ trug, auf dem Wege zu Grunde gehen müſſe. Alle unſere Vorſichtsmaßregeln, um die Skelette zu verbergen, waren vergeblich; nichts entgeht dem Scharfſinn und dem Geruch eines Kariben, und es brauchte das ganze Anſehen des Miſſionärs, um unſer Gepäck in Gang zu bringen. Ueber den Rio Cari mußten wir im Boote fahren, über den Rio de agua clara waten, faſt könnte ich ſagen ſchwimmen. Wegen des Triebſands am Boden iſt letzterer Uebergang bei Hochwaſſer ſehr beſchwerlich. Man wundert ſich, daß in einem ſo ebenen Lande die Strömung ſo ſtark iſt; die Steppen— flüſſe drängen aber auch, um mich eines ganz richtigen Aus— drucks des jüngeren Plinius zu bedienen, „nicht ſowohl wegen des Bodenfalls, als wegen ihrer Fülle und wie durch ihr eigenes Gewicht vorwärts“.? Wir hatten, ehe wir in die kleine Stadt Pao kamen, zwei ſchlechte Nachtlager in Mata- gorda und Los Riecietos. Ueberall dasſelbe: kleine Rohrhütten mit Leder gedeckt, berittene Leute mit Lanzen, die das Vieh hüten, halb wilde Hornviehherden von auffallend gleicher Färbung, die den Pferden und Maultieren die Weide ſtreitig machen. Keine Schafe, keine Ziegen auf dieſen unermeßlichen Steppen! Die Schafe pflanzen ſich in Amerika nur auf Eidechſen und Krokodile.“ (Description generale de l’Amerique par Pierre d’Avity, Seigneur de Montmartin, 1660.) 1 Mithridates, Bd. III, Seite 685. 2 Epistolae, Lib. VIII, 8. Clitumnus non loci declivitate, sed ipsa sui copia et quasi pondere impellitur. — 250 — Plateaus, die über 1950 m hoch liegen, gut fort; nur dort wird die Wolle lang und zuweilen ſehr ſchön. Im glühend heißen Klima der Niederungen, wo ſtatt der Wölfe die Jaguare auftreten, können ſich dieſe kleinen wehrloſen und in ihren Bewegungen ſchwerfälligen Wiederkäuer nicht in Maſſe halten. Am 15. Juli langten wir in der Fund acion oder Villa del Pao an, die im Jahre 1744 gegründet wurde und ſehr vorteilhaft gelegen iſt, um zwiſchen Nueva Barcelona und Angoſtura als Stapelplatz zu dienen. Ihr eigentlicher Name iſt Concepcion del Pao; Alcedo, La Cruz Olmedilla und viele andere Geographen gaben ihre Lage falſch an, weil ſie den Ort entweder mit San Juan Baptiſta del Pao in den Llanos von Caracas, oder mit El Valle del Pao am Zarate verwechſelten. Trotz des bedeckten Himmels erhielt ich einige Höhen von a im Centauren, nach denen ſich die Breite des Orts beſtimmen ließ. Dieſelbe beträgt 8° 37“ 57. Aus Sonnenhöhen ergab ſich eine Länge von 67° 8° 12“, Ango— ſtura unter 66“ 15° 21“ angenommen. Die aſtronomiſchen Beſtimmungen in Calabozo und in Concepcion del Pao ſind nicht ohne Belang für die Geographie dieſer Landſtriche, wo es inmitten der Grasfluren durchaus an feſten Punkten fehlt. In der Umgegend von Pao findet man einige Fruchtbäume, eine ſeltene Erſcheinung in den Steppen. Wir ſahen ſogar Kokosbäume, die trotz der weiten Entfernung von der See ganz kräftig ſchienen. Ich lege einiges Gewicht auf letztere Wahrnehmung, da man die Glaubwürdigkeit von Reiſenden, welche den Kokosbaum, eine Küſtenpalme, in Timbuktu, mitten in Afrika, angetroffen haben wollten, in Zweifel ge— zogen hat. Wir hatten öfters Gelegenheit, Kokosbäume mitten im Baulande am Magdalenenſtrom, 450 km von der Küſte, zu ſehen. In fünf Tagen, die uns ſehr lang vorkamen, gelangten wir von der Villa del Pao in den Hafen von Nueva Bar— celona. Je weiter wir kamen, deſto heiterer wurde der Himmel, deſto ſtaubiger der Boden, deſto glühender die Luft. Dieſe ungemein drückende Hitze rührt nicht von der Lufttemperatur her, ſondern vom feinen Sand, der in der Luft ſchwebt, nach allen Seiten Wärme ſtrahlt und dem Reiſenden ins Geſicht ſchlägt, wie an die Kugel des Thermometers. Indeſſen habe ich in Amerika den hundertteiligen Thermometer mitten im Sandwinde niemals über 45,8“ ſteigen ſehen. Kapitän Lyon, den ich nach ſeiner Rückkehr von Murzuk zu ſprechen — 251 — das Vergnügen hatte, ſchien mir auch geneigt anzunehmen, daß die Temperatur von 52 Grad, der man in Fezzan ſo oft ausgeſetzt iſt, großenteils von den Quarzkörnern herrührt, die in der Luft ſuſpendiert ſind. Zwiſchen Pao und dem im Jahre 1749 gegründeten, von 500 Kariben bewohnten Dorfe Santa Cruz de Cachipo! kamen wir über den weſtlichen Strich des kleinen Plateau, das unter dem Namen Meſa de Amana bekannt iſt. Dieſes Plateau bildet die Waſſerſcheide zwiſchen dem Orinoko, dem Guarapiche und dem Küſtenland von Neu— Andaluſien. Die Erhöhung desſelben iſt ſo gering, daß es der Schiffbarmachung dieſes Strichs der Llanos wenig Hinder— niſſe in den Weg legen wird. Indeſſen konnte der Rio Mamo, der oberhalb des Einfluſſes des Carony in den Orinoko fällt und den d'Anville (ich weiß nicht, nach weſſen Angabe) auf der erſten Ausgabe ſeiner großen Karte aus dem See von Valencia kommen und die Gewäſſer des Guayre aufnehmen läßt, nie als natürlicher Kanal zwiſchen zwei Flußbecken dienen. Es beſteht in der Steppe nirgends eine Gabelteilung der Art. Sehr viele Kariben, welche jetzt in den Miſſionen von Piritu leben, ſaßen früher nördlich und weſtlich vom Plateau Amana zwiſchen Maturin, der Mündung de Rio Areo und dem Guarapiche; die Einfälle Don Joſef Carenos, eines der unternehmendſten Statthalter der Provinz Cumana, gaben im Jahr 1720 Anlaß zu einer allgemeinen Wanderung der unabhängigen Kariben an den unteren Orinoko. Dieſer ganze weitgedehnte Landſtrich beſteht, wie wir ſchon oben bemerkt, aus ſekundären Gebirgsbildungen, die ſich gegen Süden unmittelbar an die Granitgebirge am Ori— noko lehnen. Gegen Nordweſt trennt ſich ein ziemlich ſchmaler Streif von Uebergangsgebirg von den aus Urgebirg beſtehen— den Bergen auf dem Küſtenland von Caracas. Dieſes ge— waltige Auftreten von ſekundären Bildungen, die ohne Unter— brechung einen Flächenraum von 1458 000 qkm bedecken (wobei nur der gegen Süden vom Rio Apure, gegen Weſten von der Sierra Nevada de Merida und vom Paramo de las Roſas begrenzte Teil der Llanos gerechnet iſt), iſt in dieſen Erd⸗ ſtrichen eine um ſo merkwürdigere Erſcheinung, da in der ganzen Sierra de la Parime, zwiſchen dem rechten Ufer des Orinoko und dem Rio Negro, gerade wie in Skandinavien, die ſekun— dären Bildungen auffallenderweiſe gänzlich fehlen. Der rote Im Jahre 1754 hatte das Dorf nur 120 Seelen. — 252 — Sandſtein, der hie und da Stücke foſſilen Holzes (aus der Familie der Monokotyledonen) enthält, kommt in den Step⸗ pen von Calabozo überall zu Tage. Weiter gegen Oſten ſind Kalkſtein und Gips demſelben aufgelagert und machen ihn der geologiſchen Forſchung unzugänglich. Weiter gegen Nor— den, der Miſſion San Joſef de Curataquiche zu, fand Bon— pland ſchöne gebänderte Stücke Jaſpis oder „ägyptiſche Kieſel“. Wir ſahen dieſelben nicht in der Gebirgsart eingeſchloſſen und wiſſen daher nicht, ob ſie einem ganz neuen Konglomerat angehören oder dem Kalkſtein, den wir am Morro von Nueva Barcelona angetroffen, und der kein Uebergangsgeſtein iſt, obgleich er Schichten von Kieſelſchiefer enthält. Man kann die Steppen oder Grasfluren von Südamerika nicht durchziehen, ohne in Gedanken bei der Ausſicht zu ver— weilen, daß man ſie eines Tages zu dem benützen wird, zu dem ſie ſich beſſer eignen als irgend ein Landſtrich des Erd— balls, zur Meſſung der Grade eines Erdbogens in der Rich— tung eines Meridians oder einer auf dem Meridian ſenk— rechten Linie. Dieſe Operation wäre für die genaue Kenntnis der Geſtalt der Erde von großer Wichtigkeit. Die Llanos von Venezuela liegen 13° oſtwärts von den Punkten, wo einerſeits die franzöſiſchen Akademiker mittels Dreiecken, die ſich auf die Gipfel der Kordilleren ſtützten, andererſeits Maſon und Dixon, ohne trigonometriſche Mittel (auf den Ebenen von Pennſylvanien), ihre Meſſungen ausgeführt haben; ſie liegen faſt unter demſelben Parallel (und dieſer Umſtand iſt von großem Belang) wie die indiſche Hochebene zwiſchen Junne und Madura, wo Oberſt Lambton ſo ausgezeichnet operierte. So viele Bedenken auch noch hinſichtlich der Ge— nauigkeit der Inſtrumente, der Beobachtungsfehler und der Einflüſſe örtlicher Anziehungen beſtehen mögen, beim jetzigen Zuſtand unſerer Kenntniſſe iſt nicht wohl in Abrede zu ziehen, daß die Erde ungleichförmig abgeplattet iſt. Iſt einmal zwiſchen den freien Regierungen von La Plata und Venezuela ein innigeres Verhältnis hergeſtellt, ſo wird man ſich ohne Zweifel dieſen Vorteil und den allgemeinen Frieden zu Nutze machen und nördlich und ſüdlich vom Aequator, in den Lla— nos und in den Pampas die Meſſungen vornehmen, die wir hier in Vorſchlag bringen. Die Llanos von Pao und Cala: bozo ſind faſt unter demſelben Meridian gelegen wie die Pampas ſüdlich von Cordova, und der Breitenunterſchied dieſer Niederungen, die ſo vollkommen eben ſind, als hätte — 253 — lange Waſſer darauf geſtanden, beträgt 45 Grad. Dieſe geo— dätiſchen und aſtronomiſchen Operationen wären bei der Be— ſchaffenheit des Terrains auch gar nicht koſtſpielig. Schon La Condamine hat im Jahre 1734 dargethan, wie vorteil— hafter und beſonders weniger zeitraubend es geweſen wäre, wenn man die Akademiker in die (vielleicht etwas zu ſtark bewachſenen und ſumpfigen) Ebenen im Süden von Cayenne, dem Einfluſſe des Rio Kingu in den Amazonenſtrom zu, ge: ſchickt hätte, ſtatt ſie auf den Hochebenen von Quito mit Froſt, Stürmen und vulkaniſchen Ausbrüchen kämpfen zu laſſen. Die ſpaniſch-amerikaniſchen Regierungen dürfen feines: wegs meinen, daß die in Rede ſtehenden, mit Pendelbeobach— tungen verbundenen Meſſungen in den Llanos nur ein rein wiſſenſchaftliches Intereſſe hätten: dieſelben gäben zugleich die Hauptgrundlagen für Karten ab, ohne welche keine regelmäßige Verwaltung in einem Lande beſtehen kann. Bis jetzt mußte man ſich auf eine rein aſtronomiſche Aufnahme beſchrän— ken, und es iſt dies das ſicherſte und raſcheſte Verfahren bei einer Oberfläche von ſehr großer Ausdehnung. Man ſuchte einige Punkte an den Kuͤſten und im Inneren ab— ſolut zu beſtimmen, das heißt nach Himmelserſcheinungen oder Reihen von Monddiſtanzen. Man ſtellte die Lage der bedeutendſten Orte nach den drei Koordinaten der Breite, der Länge und der Höhe feſt. Die dazwiſchenliegenden Punkte wurden mit den Hauptpunkten auf chronometriſchem Wege verknüpft. Durch den ſehr gleichförmigen Gang der Chronometer in Kanoen und durch die ſonderbaren Krüm— mungen des Orinoko wurde dieſe Anknüpfung erleichtert. Man brachte die Chronometer zum Ausgangspunkte zurück, oder man beobachtete zweimal (im Hinweg und im Herweg) an einem dazwiſchenliegenden Punkte, man knüpfte die Enden der chronometriſchen Linien! an ſehr weit auseinander liegende Lokalitäten, deren Lage nach abſoluten, das heißt rein aſtronomiſchen Erſcheinungen beſtimmt iſt, und ſo konnte man die Summe der etwa begangenen Fehler ſchätzen. Auf dieſe Weiſe (und vor meiner Reiſe war im Binnenlande die Länge Mit dieſem nicht gebräuchlichen Ausdruck bezeichne ich Linien, welche durch die Punkte laufen, die mittels Uebertragung der Zeit beſtimmt worden und ſomit voneinander abhängig ſind. Von der zweckmäßigen Richtung dieſer Linien hängt die Genauigkeit einer rein aſtronomiſchen Aufnahme ab. — 254 — keines Punktes beſtimmt worden) habe ich Cumana, Ango— ſtura, Esmeralda, San Carlos del Rio Negro, San Fernando de Apure, Porto Cabello und Caracas aſtronomiſch verknüpft. Dieſe Beobachtungen umfaſſen eine Bodenfläche von mehr als 202000 qkm. Das Syſtem der Beobachtungspunkte auf dem Küſtenlande und die wertvollen Ergebniſſe der Aufnahme bei Fidalgos Seereiſe wurden mit dem Syſtem der Beobachtungs— punkte am Orinoko und Rio Negro durch zwei chronometriſche Linien in Verbindung gebracht, deren eine über die Llanos von Calabozo, die andere über die Llanos von Pao läuft. Die Beobachtungen in der Parime bilden einen Streifen, der eine ungeheure Landſtrecke (1470000 qkm), auf der bis jetzt nicht ein einziger Punkt aſtronomiſch beſtimmt iſt, in zwei Teile teilt. Durch dieſe verſchiedenen Arbeiten, die ich mit geringen Mitteln, aber nach einem allgemeinen Plane unter: nommen, wurde, wie ich mir wohl ſchmeicheln darf, der erſte aſtronomiſche Grund zur Geographie dieſer Länder gelegt; es iſt aber Zeit, dieſelben vielfach wieder aufzunehmen, ſie zu berichtigen, beſonders aber da, wo der Anbau des Landes es geſtattet, trigonometriſche Meſſungen an ihre Stelle treten zu laſſen. An beiden Rändern der Llanos, die ſich gleich einem Meerbuſen vom Delta des Orinoko bis zu den Schnee> gebirgen von Merida ausdehnen, ſtreichen im Norden und im Süden zwei Granitketten parallel mit dem Aequator. Dieſe früheren Küſten eines inneren Seebeckens ſind in den Steppen von weitem ſichtbar und können zur Aufſtellung von Signalen dienen. Der Spitzberg Guacharo, der Corollor und Turimiquiri, der Bergantin, die Morros San Juan und San Sebaſtian, die Galera, welche die Llanos wie eine Felsmauer begrenzt, der kleine Cerro de Flores, den ich in Calabozo, und zwar in einem Moment geſehen habe, wo die Luftſpie— gelung beinahe Null war, werden am Nordrande der Nie— derungen zum Dreiecknetz dienen. Dieſe Berggipfel ſind großen— teils ſowohl in den Llanos als im angebauten Küſtenlande ſichtbar. Gegen Süden liegen die Granitketten am Orinoko oder in der Parime etwas abwärts von den Rändern der Steppen und find für geodätiſche Operationen nicht ganz jo günſtig. Indeſſen werden die Berge oberhalb Angoſtura und Muitaco, der Cerro del Tirano bei Caycara, der Pan de Azucar und der Sacuima beim Einfluß des Apure in den Orinoko gute Dienſte leiſten, namentlich wenn man die Winkel bei bedeck— tem Himmel aufnimmt, damit nicht das Spiel der ungewöhn— — 255 — lichen Refraktionen über einem ſtark erhitzten Boden die Berg— gipfel, welche unter zu kleinen Höhenwinkeln erſcheinen, ver— zieht und verrückt. Pulverſignale, deren Widerſchein am Himmel ſo weit hin ſichtbar iſt, werden ſehr förderlich ſein. Ich glaubte hier im Intereſſe der Sache angeben zu ſollen, was meine Ortskenntnis und das Studium der Geographie von Amerika mir an die Hand gegeben. Ein ausgezeichneter Geometer, Lenz, der bei mannigfaltigen Kenntniſſen in allen Zweigen der Mathematik im Gebrauch aſtronomiſcher Inſtru— mente ſehr geübt iſt, beſchäftigt ſich gegenwärtig damit, die Geographie dieſer Länder weiter auszubilden und im Auftrag der Regierung von Venezuela die Plane, die ich bereits im Jahre 1799 der Beachtung des ſpaniſchen Miniſteriums ver— geblich empfohlen hatte, zum Teil auszuführen. Am 26. Juli brachten wir die Nacht im indianiſchen Dorfe Santa Cruz de Cachipo zu. Dieſe Miſſion wurde im Jahre 1749 mit mehreren karibiſchen Familien gegründet, welche an den überſchwemmten, ungeſunden Ufern der Lagu— netas de Anache, gegenüber dem Einfluſſe des Rio Puruay in den Orinoko, lebten. Wir wohnten beim Miſſionär! und erſahen aus den Kirchenbüchern, welch raſche Fortſchritte der Wohlſtand der Gemeinde durch ſeinen Eifer und ſeine Einſicht gemacht hatte. Seit wir in die Mitte der Steppen gelangt waren, hatte die Hitze ſo zugenommen, daß wir gerne gar nicht mehr bei Tage gereiſt wären; wir waren aber unbe— waffnet und die Llanos waren damals von ganzen Räuber— banden unſicher gemacht, die mit raffinierter Grauſamkeit die Weißen, welche ihnen in die Hände fielen, mordeten. Nichts kläglicher, als die Rechtspflege in dieſen überſeeiſchen Kolo— nieen! Ueberall fanden wir die Gefängniſſe mit Verbrechern gefüllt, deren Urteil ſieben, acht Jahre auf ſich warten läßt. Etwa ein Dritteil der Verhafteten entſpringt, und die men— ſchenleeren, aber von Herden wimmelnden Ebenen bieten ihnen Zuflucht und Unterhalt. Sie treiben ihr Räubergewerbe zu Pferde in der Weiſe der Beduinen. Die Ungeſundheit der Gefängniſſe überſtiege alles Maß, wenn ſie ſich nicht von Zeit zu Zeit durch das Entſpringen der Verhafteten leerten. Es kommt auch nicht ſelten vor, daß Todesurteile, wenn ſie endlich ſpät genug von der Audiencia zu Caracas gefällt ſind, nicht vollzogen werden können, weil es an einem Nachrichter Fray Joſe de las Piedras. — 256 — fehlt. Nach einem ſchon oben erwähnten barbariſchen Brauch begnadigt man denjenigen der Uebelthäter, der es auf ſich nehmen will, die anderen zu henken. Unſere Führer erzählten uns, kurz vor unſerer Ankunft auf der Küſte von Cumana habe ein wegen ſeiner Roheit berüchtigter Zambo ſich ent— ſchloſſen, Henker zu werden und ſich ſo der Strafe zu entziehen. Die Zurüſtungen zur Hinrichtung machten ihn aber in ſeinem Entſchluſſe wankend; er entſetzte ſich über ſich ſelbſt, er zog den Tod der Schande vor, die er vollends auf ſich häufte, wenn er ſich das Leben rettete, und ließ ſich die Ketten, die man ihm abgenommen, wieder anlegen. Er ſaß nicht mehr lange; die Niederträchtigkeit eines Mitſchuldigen half ihm zum Vollzug ſeiner Strafe. Ein ſolches Erwachen des Chr: gefühls in der Seele eines Mörders tft eine pſychologiſche Erſcheinung, die zum Nachdenken auffordert Ein Menſch, der beim Berauben der Reiſenden in der Steppe ſchon ſo oft Blut vergoſſen hat, ſchaudert beim Gedanken, ſich zum Werk— zeug der Gerechtigkeit hergeben, an anderen eine Strafe voll: ziehen zu ſollen, die er, wie er vielleicht fühlt, ſelbſt ver— dient hat. Wenn ſchon in den ruhigen Zeiten, in denen Bonpland und ich das Glück hatten, die beiden Amerika zu bereiſen, die Llanos den Uebelthätern, welche in den Miſſionen am Orinoko ein Verbrechen begangen, oder aus den Gefängniſſen des Küſtenlandes entſprungen waren, als Verſteck dienten, wie viel ſchlimmer mußte dies noch infolge der bürgerlichen Unruhen werden, im blutigen Kampfe, der mit der Freiheit und Unabhängigkeit dieſer gewaltigen Länder ſeine Endſchaft erreichte! Die franzöſiſchen „Landes“ und unſere Heiden geben nur ein entferntes Bild jener Grasfluren auf dem neuen Kontinent, wo Flächen von 162000 und 202000 qkm jo eben ſind wie der Meeresſpiegel. Die Unermeßlichkeit des Raumes ſichert dem Landſtreicher die Strafloſigkeit; in den Sa⸗ vannen verſteckt man ſich leichter als in unſeren Gebirgen und Wäldern, und die Kunſtgriffe der europäiſchen Polizei ſind ſchwer anwendbar, wo es wohl Reiſende gibt, aber keine Wege, Herden, aber keine Hirten, und wo die Höfe ſo dünn geſäet ſind, daß man, trotz des bedeutenden Einfluſſes der Luftſpiegelung, ganze Tagereiſen machen kann, ohne daß man einen am Horizont auftauchen ſieht. Zieht man über die Llanos von Caracas, Barcelona und Cumana, die von Weſt nach Oſt von den Bergen bei Trurillo und Merida bis zur Mündung des Orinoko hintereinander liegen, jo fragt man ſich, ob dieſe ungeheuren Landſtrecken von der Natur dazu beſtimmt ſind, ewig als Weideland zu dienen, oder ob Pflug und Hacke ſie eines Tages für den Ackerbau erobern werden? Dieſe Frage iſt um ſo wichtiger, da die an beiden Enden von Südamerika gelegenen Llanos der politiſchen Verbindung der Provinzen, die ſie auseinander halten, Hinderniſſe in den Weg legen. Sie machen, daß der Ackerbau ſich nicht von den Küſten von Venezuela Guyana zu, ſich nicht von Potoſi gegen die Mündung des Rio de la Plata ausbreiten kann. Die dazwiſchen geſchobenen Steppen behalten mit dem Hirtenleben einen Charakter von Roheit und Wildheit, der ſie iſoliert und von der Kultur der ſchon lange urbar gemachten Landſtriche fern hält. Aus demſelben Grunde wurden ſie im Freiheitskriege der Schauplatz des Kampfes zwiſchen den feindlichen Parteien und ſahen die Einwohner von Calabozo faſt unter ihren Mauern das Ge— ſchick der verbündeten Provinzen Venezuela und Cundinamarca ſich entſcheiden. Ich will wünſchen, daß man bei den Grenz⸗ beſtimmungen der neuen Staaten und ihrer Unterabteilungen nicht zuweilen zu bereuen habe, die Bedeutung der Llanos außer Augen geſetzt zu haben, ſofern ſie dahin wirken, Ge— meinheiten auseinander zu halten, welche durch gemeinſame Intereſſen aufeinander angewieſen ſind. Die Steppen würden, wie Meere oder die Urwälder unter den Tropen, als natür— liche Grenzen dienen, wenn ſie nicht von Heeren um ſo leichter durchzogen würden, da fie mit ihren unzähligen Pferde-, Maultier⸗ und Viehherden Transport- und Unterhaltsmittel aller Art bieten. Nirgends in der Welt iſt die Bodenbildung und die Be— ſchaffenheit der Oberfläche ſo feſt ausgeprägt; nirgends äußern ſie aber auch ſo bedeutenden Einfluß auf die Spaltung des Geſellſchaftskörpers, der durch die Ungleichheit nach Abſtam— mung, Farbe und perſönlicher Freiheit ſchon genug zerriſſen iſt. Es ſteht nicht in der Macht des Menſchen, die klima— tiſchen Unterſchiede zu ändern, die aus der auf kleinem Flächen— raum raſch wechſelnden Bodenhöhe hervorgehen, und welche die Quelle des Widerwillens ſind, der zwiſchen den Bewoh— nern der Terra caliente und denen der Terra fria beſteht, eines Widerwillens, der auf Gegenſätzen im Charakter, in Sitten und Gebräuchen beruht. Dieſe moraliſchen und politiſchen Einflüſſe machen ſich beſonders in Ländern geltend, A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 1070 — 258 — wo die Extreme von Landhöhe und Tiefland am auffallendſten ſind, wo Gebirge und Niederungen am maſſenhafteſten auf— treten und ſich am weiteſten ausdehnen. Hierher gehören Neu— granada oder Cundinamarca, Chile und Peru, wo die Inka— ſprache reich iſt an treffenden, naiven Ausdrücken für dieſe klimatiſchen Gegenſätze in Temperament, Neigungen und geiſtigen Fähigkeiten. Im Staate Venezuela dagegen bilden die „Montaneros“ in den Hochgebirgen von Bocono, Timotes und Merida nur einen unbedeutenden Bruchteil der Geſamt— bevölkerung, und die volkreichen Thäler der Küſtenkette von Caracas und Caripe liegen nur 580 bis 780 m über dem Meer. So kam es, daß, als die Staaten Venezuela und Neugranada unter dem Namen Kolumbia verſchmolzen wurden, die bedeutende Gebirgsbevölkerung von Santa Fé, Popayan Paſto und Quito, wo nicht ganz, doch über die Hälfte durch den Zuwachs von 8 bis 900000 Bewohnern der Terra ca- liente aufgewogen wurde. Der Oberflächenzuſtand des Bo— dens iſt nicht ſo unveränderlich als ſeine Reliefbildung und ſo erſcheint es als möglich, daß die ſcharfen Gegenſätze zwi— ſchen den undurchdringlichen Wäldern Guyanas und den baum— loſen, grasbewachſenen Llanos eines Tages verſchwinden könnten; aber wie viele Jahrhunderte brauchte es wohl, bis ein ſolcher Wechſel in den unermeßlichen Steppen von Vene— zuela am Meta, am Caqueta und in Buenos Ayres merkbar würde? Die Beweiſe, die der Menſch von ſeiner Macht im Kampfe gegen die Naturkräfte in Gallien, in Germanien und in neuerer Zeit in den Vereinigten Staaten, immer aber außer— halb der Tropen, gegeben hat, kann nicht wohl als Maßſtab für die vorausſichtlichen Fortſchritte der Kultur im heißen Erdſtriche dienen. Es war oben davon die Rede, wie lang— ſam man mit Feuer und Axt Wälder ausrodet, wenn die Baumſtämme 2,6 bis 5,2 m dick ſind, wenn ſie im Fallen ſich aneinander lehnen, und wenn das Holz, vom unaufhör— lichen Regen befeuchtet, ſo ungemein hart iſt. Die Frage, ob die Llanos oder Pampas urbar zu machen ſind, wird von den Koloniſten, die darin leben, keineswegs einſtimmig bejaht, und ganz im allgemeinen läßt ſich auch gar nicht darüber entſcheiden. Die Savannen von Venezuela entbehren größten teils des Vorteils, den die Savannen in Nordamerika dadurch haben, daß ſie der Länge nach von drei großen Flüſſen, dem Miſſouri, dem Arkanſas und dem Red River von Natchitoches durchzogen werden; durch die Savannen am Araure, bei Cala— 2 — 259 — bozo und am Pao laufen die Nebenflüſſe des Orinoko, von denen die öſtlichſten (Cari, Pao, Acaru und Manapire) in der trockenen Jahreszeit ſehr waſſerarm ſind, nur der Quere nach. Alle dieſe Flüſſe reichen nicht weit gegen Nord, ſo daß in der Mitte Steppen, weite, entſetzlich dürre Landſtriche (Baneos und Mesas) bleiben. Am kulturfähigſten find die weſtlichen, von der Portugueſa, vom Masparro und Orivante und den nahe bei einander liegenden Nebenflüſſen derſelben bewäſſerten Striche. Der Boden beſteht aus mit Thon ge— mengtem Sand über einer Schicht von Quarzgeſchieben. Die Dammerde, die Hauptnahrungsquelle der Gewächſe, iſt aller— orten ſehr dünn; ſie erhält ſo gut wie keinen Zuwachs durch das dürre Laub, das in den Wäldern der heißen Zone abfällt wie in den gemäßigten Klimaten, wenn auch nicht ſo ſtreng periodiſch. Seit Jahrtauſenden wächſt aber auf den Llanos weder Baum noch Buſchwerk; die einzelnen, in der Savanne zerſtreuten Palmen liefern ſehr wenig von jener Kohlen- und Waſſerſtoffverbindung, von jenem Extraktivſtoff, auf dem (nach den Verſuchen von Sauſſure, Davy und Braconnot) die Frucht— barkeit des Bodens beruht. Die geſelligen Gewächſe, die in den Steppen faſt ausſchließlich herrſchen, ſind Monokotyledonen, und es iſt bekannt, wie ſtark die Gräſer den Boden ausſaugen, in den ſie ihre Wurzeln mit dichtgedrängten Faſern treiben. Dieſe Wirkung der Killingia-, Paspalum- und Cenchrusarten, aus denen der Raſen beſteht, äußert ſich überall gleich, wo aber das Geſtein beinahe zu Tage kommt, da iſt der Boden verſchieden, je nachdem er auf rotem Sandſtein oder auf feſtem Kalkſtein und auf Gips liegt; ſowie je nachdem die perio— diſchen Ueberſchwemmungen an den tiefſten Stellen Erdreich angeſchwemmt haben oder das Waſſer von den kleinen Pla— teaus die wenige Dammerde vollends weggeſpült hat. Bereits beſtehen mitten im Weideland einzelne Pflanzungen an Stel— len, wo ſich fließendes Waſſer oder ein paar Büſche der Mau: ritiapalme fanden. Dieſe Höfe, bei denen man Mais und Maniok baut, werden ſich bedeutend vermehren, wenn es ge— lingt, mehr Bäume und Gebüſch fortzubringen. Die Dürre der Meſas! und die große Hitze, die darauf herrſcht, rühren nicht allein von der Beſchaffenheit ihrer Ober— fläche und der örtlichen Reverberation des Bodens her; ihre ! Kleine Plateaus, Bänke, die etwas höher liegen als die übrige Steppe. — 260 — klimatiſchen Verhältniſſe hängen ab von der Umgebung, von der ganzen Steppe, von der die Meſas ein Teil ſind. Bei den Wüſten in Afrika oder in Arabien, bei den Llanos in Südamerika, bei den großen Heiden, die von der Spitze von Jütland bis zur Mündung der Schelde fortſtreichen, beruht die feſte Begrenzung der Wüſten, der Llanos, der Heiden großenteils auf ihrer unermeßlichen Ausdehnung, auf der Kahlheit dieſer Landſtriche infolge einer Umwälzung, welche den früheren Pflanzenwuchs unſeres Planeten vernichtet hat. Durch ihre Ausdehnung, ihr ununterbrochenes Fortſtreichen und ihre Maſſe widerſtehen ſie dem Eindringen der Kultur, behalten ſie, als wären ſie in das Land einſchneidende Buchten, ihren feſten Uferumriß. Ich laſſe mich nicht auf die große Frage ein, ob in der Sahara, dieſem Mittelmeer von Flug— ſand, der Keime des organiſchen Lebens heutzutage mehr werden. Je ausgebreiteter unſere geographiſchen Kenntniſſe wurden, deſto zahlreicher ſahen wir im öſtlichen Teil der Wüſte grüne Eilande, mit Palmen bedeckte Oaſen zu Archipelen ſich zuſammendrängen und den Karawanen ihre Häfen öffnen; wir wiſſen aber nicht, ob ſeit Herodots Tode der Umriß der Oaſe nicht fortwährend derſelbe geblieben iſt. Unſere Ge— ſchichtsbücher find von zu kurzem Datum und zu unvollſtän⸗ dig, als daß wir der Natur in ihrem langſamen, ſtetigen Gange folgen könnten. Von dieſen völlig öden Räumen, von denen ein gewalt⸗ ſames Ereignis die Pflanzendecke und die Dammerde weg— geriſſen hat, von den ſyriſchen und afrikaniſchen Wüſten, die in ihrem verſteinerten Holz noch die Urkunden der erlittenen Veränderungen aufweiſen, blicken wir zurück auf die mit Gräſern bewachſenen Llanos. Hier iſt die Erörterung der Erſcheinungen dem Kreiſe unſerer täglichen Beobachtungen näher gerückt. In den amerikaniſchen Steppen angeſiedelte Landwirte ſind hinſichtlich der Möglichkeit eines umfaſſenderen Anbaues derſelben ganz zu den Anfichten gekommen, wie ich ſie aus dem klimatiſchen Einfluſſe der Steppen unter dem Geſichtspunkte als ununterbrochene Flächen oder Maſſen her— geleitet habe. Sie haben die Beobachtung gemacht, daß Hei— den, die rings von angebautem oder mit Holz bewachſenem. Lande umgeben ſind, nicht ſo lange dem Anbau Widerſtand leiſten, als Striche vom ſelben Umfange, die aber einer weiten Fläche von gleicher Beſchaffenheit angehören. Die Beobach— tung iſt richtig, ob nun das eingeſchloſſene Stück eine Gras— — 261 — flur iſt oder mit Heiden bewachſen, wie im nördlichen Eu— ropa, oder mit Ciſtus, Lentisken und Chamärops, wie in Spanien, oder mit Kaktus, Argenome und Brathys, wie im tropiſchen Amerika. Einen je größeren Raum der Pflanzen— verein einnimmt, deſto ſtärkeren Widerſtand leiſten die geſelligen Gewächſe dem Anbau. Zu dieſer allgemeinen Urſache kommt in den Llanos von Venezuela der Umſtand, daß die kleinen Grasarten während der Reife der Samen den Boden aus— ſaugen, ferner der gänzliche Mangel an Bäumen und Buſch— werk, die Sandwinde, deren Gluthitze geſteigert wird durch die Berührung mit einem Boden, der zwölf Stunden lang die Sonnenſtrahlen einſaugt, ohne daß je ein anderer Schatten als der der Ariſtiden, Cenchrus und Paspalum darauf fällt. Die Fortſchritte, welche der große Baumwuchs und der An— bau dikotyledoniſcher Gewächſe in der Umgebung der Städte, zum Beiſpiel um Calabozo und Pao gemacht haben, beweiſen, daß man der Steppe Boden abgewinnen könnte, wenn man ſie in kleinen Stücken angriffe, ſie nach und nach von der Maſſe abſchlöſſe, ſie durch Einſchnitte und Bewäſſerungskanäle zerſtückte. Vielleicht gelänge es, den Einfluß der den Boden ausdörrenden Winde zu verringern, wenn man im großen, auf 15 bis 20 Morgen, Pſidium, Kroton, Kaſſia, Tamarin— den anſäete, Pflanzen, welche trockene, offene Stellen lieben. Ich bin weit entfernt zu glauben, daß der Menſch je die Savannen ganz austilgen wird, und daß die Llanos, die ja als Weiden und für den Viehhandel ſo nutzbar ſind, jemals angebaut ſein werden wie die Thäler von Aragua oder andere den Küſten von Caracas und Cumana nahe gelegene Land— ſtriche; aber ich bin überzeugt, daß ein beträchtliches Stück dieſer Ebenen im Laufe der Jahrhunderte, unter einer den Gewerbfleiß fördernden Regierung, das wilde Ausſehen ver— lieren wird, das ſie ſeit der erſten „Eroberung“ durch die Europäer behauptet haben. Dieſer allmähliche Wechſel, dieſes Wachſen der Bevölke— rung werden nicht nur den Wohlſtand dieſer Länder ſteigern, ſie werden auch auf die ſittlichen und politiſchen Zuſtände gün— ſtigen Einfluß äußern. Die Llanos machen über zwei Drit— teile des Stücks von Venezuela oder der alten Capitania general von Caracas aus, das nördlich vom Orinoko und Rio Apure liegt. Bei bürgerlichen Unruhen dienen nun aber die Llanos durch ihre Oede und den Ueberfluß an Nahrungs— mitteln, die ihre zahlloſen Herden liefern, der Partei, welche — 262 — die Fahne des Aufruhres entfalten will, zugleich als Schlupf— winkel und als Stützpunkt. Bewaffnete Banden (Guerillas) können ſich darin halten und die Bewohner des Küſtenlandes, des Mittelpunktes der Kultur und des Bodenreichtums, be— unruhigen. Wäre nicht der untere Orinoko durch den Patrio— tismus einer kräftigen, kriegsgewohnten Bevölkerung hinläng— lich verteidigt, ſo wäre beim gegenwärtigen Zuſtande der Llanos ein feindlicher Einfall auf den Weſtküſten doppelt ge— fährlich. Die Verteidigung der Ebenen und Spaniſch-Guya⸗ nas hängen aufs engſte zuſammen, und ſchon oben, wo von der militäriſchen Bedeutung der Mündungen des Orinoko die Rede war, habe ich gezeigt, daß die Feſtungswerke und die Batterien, womit man die Nordküſte von Cumana bis Car— tagena geſpickt hat, keineswegs die eigentlichen Bollwerke der vereinigten Provinzen von Venezuela ſind. Zu dieſem politiſchen Intereſſe kommt ein anderes, noch wichtigeres und dauernderes. Eine erleuchtete Regierung kann nur mit Be— dauern ſehen, daß das Hirtenleben mit ſeinen Sitten, welche Faulheit und Landſtreicherei ſo ſehr befördern, auf mehr als zwei Dritteilen ihres Gebietes herrſcht. Der Teil der Küſten— bevölkerung, der jährlich in die Llanos abfließt, um ſich in den Hatos de ganado! niederzulaſſen und die Herden zu hüten, macht einen Rückſchritt in der Kultur. Wer möchte bezweifeln, daß durch die Fortſchritte des Ackerbaues, durch die Anlage von Dörfern an allen Punkten, wo fließendes Waſſer iſt, ſich die ſittlichen Zuſtände der Steppenbewohner weſentlich beſſern müſſen? Mit dem Ackerbau müſſen mildere Sitten, die Liebe zu feſtem Wohnſitz und die häuslichen Tu— genden ihren Einzug halten. Nach dreitägigem Marſch kam uns allmählich die Berg— kette von Cumana zu Geſicht, die zwiſchen den Llanos, oder, wie man hier oft ſagen hört, „dem großen Meer von Grün“? und der Küſte des Meeres der Antillen liegt. Iſt der Ber— gantin über 1560 m hoch, ſo kann man ihn, auch nur eine gewöhnliche Refraktion von e des Bogens angenommen, auf 50 km Entfernung ſehen; aber die Luftbeſchaffenheit 1 ! Eine Art Hof, beſtehend aus Schuppen, wo die Hateros und Peones para el rodeo wohnen, d. h. die Leute, welche die halbwilden Pferde- und Viehherden warten oder vielmehr beauf— ſichtigen. „Los Llanos son como un mar de yerbas.“ — 263 — entzog uns lange den ſchönen Anblick dieſer Bergwand. Sie erſchien zuerſt wie eine Wolkenſchicht, welche die Sterne in der Nähe des Pols beim Auf- und Untergang bedeckte; allmählich ſchien dieſe Dunſtmaſſe größer zu werden, ſich zu verdichten, ſich bläulich zu färben, einen gezackten, feſten Um— riß anzunehmen. Was der Seefahrer beobachtet, wenn er ſich einem neuen Lande nähert, das bemerkt der Reiſende auch am Rande der Steppe. Der Horizont fing an ſich gegen Nord zu erweitern, und das Himmelsgewölbe ſchien dort nicht mehr in gleicher Entfernung auf dem grasbewachſenen Boden aufzuruhen. Einem Llanero oder Steppenbewohner iſt nur wohl, wenn er, nach dem naiven Volksausdruck, „überall um ſich ſehen kann“. Was uns als ein bewachſenes, leicht gewelltes, kaum hie und da hügeliges Land erſcheint, iſt für ihn ein ſchreck— liches, von Bergen ſtarrendes Land. Unſer Urteil über die Unebenheit des Bodens und die Beſchaffenheit ſeiner Ober— fläche iſt ein durchaus relatives. Hat man mehrere Monate in den dichten Wäldern am Orinoko zugebracht, hat man ſich dort daran gewöhnt, daß man, ſobald man vom Strome ab— geht, die Sterne nur in der Nähe des Zenith und wie aus einem Brunnen heraus ſehen kann, ſo hat eine Wanderung über die Steppen etwas Angenehmes, Anziehendes. Die neuen Bilder, die man aufnimmt, machen großen Eindruck; wie dem Llanero iſt einem ganz wohl, „daß man ſo gut um ſich ſehen kann“. Aber dieſes Behagen (wir haben es an uns ſelbſt erfahren) iſt nicht von langer Dauer. Allerdings hat der Anblick eines unabſehbaren Horizonts etwas Ernſtes, Großartiges. Dieſes Schauſpiel erfüllt uns mit Bewunde— rung, ob wir nun auf dem Gipfel der Anden und der Hoch— alpen uns befinden, oder mitten auf dem unermeßlichen Ozean, oder auf den weiten Ebenen von Venezuela und Tu— cuman. Die Unermeßlichkeit des Raumes (die Dichter aller Zungen haben ſolches ausgeſprochen) ſpiegelt ſich in uns ſelbſt wider; ſie verknüpft ſich mit Vorſtellungen höherer Ordnung, ſie weitet die Seele deſſen aus, der in der Stille einſamer Betrachtung ſeinen Genuß findet. Allerdings aber hat der Anblick eines ſchrankenloſen Raumes an jedem Orte wieder einen eigenen Charakter. Das Schauſpiel, deſſen man auf einem freiſtehenden Berggipfel genießt, wechſelt, je nachdem die Wolken, die auf der Niederung lagern, ſich in Schichten ausbreiten, ſich zu Maſſen ballen, oder den erſtaunten — 264 — Blick durch weite Ritzen auf die Wohnſitze des Menſchen, das bebaute Land, den ganzen grünen Boden des Luftozeans niedertauchen laſſen. Eine ungeheure Waſſerfläche, belebt bis auf den Grund von tauſenderlei verſchiedenen Weſen, nach Färbung und Anblick wechſelnd, beweglich an der Oberfläche, gleich dem Element, von dem ſie aufgerührt wird, hat auf langer Seereiſe großen Reiz für die Einbildungskraft, aber die einen großen Teil des Jahres hindurch ſtaubige, aufge— riſſene Steppe ſtimmt trübe durch ihre ewige Eintönigkeit. Iſt man nach acht- oder zehntägigem Marſch gewöhnt an das Spiel der Luftſpiegelung und an das glänzende Grün der Mauritiabüſche,“ die von Meile zu Meile zum Vorſchein kom— men, ſo fühlt man das Bedürfnis mannigfaltigerer Eindrücke; man ſehnt ſich nach dem Anblick der gewaltigen Bäume der Tropen, des wilden Sturzes der Bergſtröme, der Gelände und Thalgründe, bebaut von der Hand des Landmanns. Wenn unglücklicherweiſe das Phänomen der afrikaniſchen Wüſten und der Llanos oder Savannen der Neuen Welt (ein Phänomen, deſſen Urſache ſich in dem Dunkel der früheſten Geſchichte unſeres Planeten verliert) noch einen größeren Raum befaßte, ſo wäre die Natur um einen Teil der herr— lichen, dem heißen Erdſtrich eigentümlichen Produkte ärmer.“ Die nordiſchen Heiden, die Steppen an Wolga und Don ſind kaum ärmer an Pflanzen und Tierarten als unter dem herrlichſten Himmel der Welt, im Erdſtrich der Bananen und des Brotfruchtbaums, 567000 qkm Savannen, die im Halb— kreiſe von Nordoſt nach Südweſt, von den Mündungen des Orinoko bis zum Caqueta und Putumayo ſich fortziehen. Die Fächerpalme, der guyaniſche Sagobaum. ? Berechnungen nach Karten in ſehr großem Maßſtabe haben mir folgendes ergeben: Die Llanos von Cumana, Barcelona und Caracas vom Delta des Orinoko bis zum nördlichen Ufer des Apure umfaſſen 160000 qkm; die Llanos zwiſchen dem Apure und dem oberen Amazonenſtrome 425000 qkm; die Pampas nordweſtlich von Buenos Ayres 810000 qkm; die Pampas ſüdwärts vom Parallel von Buenos Ayres 607000 qkm. Der Geſamtflächen⸗ raum der grasbewachſenen Llanos in Südamerika beträgt demnach 1990000 qkm (Spanien hat 328000 qkm). Die große afrikaniſche Ebene, die ſogenannte Sahara ift 4930000 qkm groß, die ver: ſchiedenen Oaſen dazu gerechnet, aber nicht Bornu und Darfur. (Das Mittelmeer hat nur 1616000 qkm Oberfläche.) — 265 — Der überall ſonſt belebende Einfluß des tropiſchen Klimas macht ſich da nicht fühlbar, wo ein mächtiger Verein von Grasarten faſt jedes andere Gewächs ausgeſchloſſen hat. Beim Anblick des Bodens, an Punkten, wo die zerſtreuten Palmen fehlen, hätten wir glauben können, in der gemäßigten Zone, ja noch viel weiter gegen Norden zu ſein; aber bei Einbruch der Nacht mahnten uns die ſchönen Sternbilder am Süd— himmel (der Centaur, Canopus, und die zahlloſen Nebelflecken, von denen das Schiff Argo glänzt) daran, daß wir nur 8° vom Aequator waren. Eine Erſcheinung, auf die bereits Delue aufmerkſam ge: worden und an der ſich in den letzten Jahren der Scharfſinn der Geologen geübt hat, machte uns auf der Reiſe durch die Steppen viel zu ſchaffen. Ich meine nicht die Urgebirgs— blöcke, die man (wie am Jura) am Abhang der Kalkgebirge findet, ſondern die ungeheuren Granit- und Syenitblöcke, die, innerhalb von der Natur ſcharf gezogener Grenzen, im nördlichen Holland und Deutſchland und in den baltiſchen Ländern zerſtreut vorkommen. Es ſcheint jetzt bewieſen, daß dieſe wie ſtrahlenförmig verteilten Geſteine bei den alten Umwälzungen unſeres Erdballs aus der ſkandinaviſchen Halb— inſel gegen Süd herabgekommen ſind, und daß ſie nicht von den Granitketten des Harzes und in Sachſen ſtammen, denen ſie nahe kommen, ohne indeſſen ihren Fluß zu erreichen. Ich bin auf den ſandigen Ebenen der baltiſchen Länder ge— boren, und bis zu meinem 18. Jahre wußte ich, was eine Gebirgsart ſei, nur von dieſen zerſtreuten Blöcken her, und ſo mußte ich doppelt neugierig ſein, ob die Neue Welt eine ähnliche Erſcheinung aufzuweiſen habe. Und ich ſah zu meiner Ueberraſchung auch nicht einen einzigen Block der Art in den Llanos von Venezuela, obgleich dieſe unermeßlichen Ebenen gegen Süden unmittelbar von einem ganz aus Granit gebauten Bergſtock begrenzt werden, der in ſeinen gezackten, faſt ſäulen— förmigen Gipfeln die Spuren der gewaltigſten Zerrüttung zeigt. Gegen Norden ſind die Llanos von der Granitkette der Silla bei Caracas und von Porto Cabello durch eine Berg— wand getrennt, die zwiſchen Villa de Cura und Parapara aus Schiefergebirg, zwiſchen dem Bergantin und Caripe aus Kalkſtein beſteht. Das Nichtvorhandenſein von Blöcken fiel mir ebenſo an den Ufern des Amazonenſtromes auf. Schon Die Sierra Parime. — 266 — La Condamine hatte verſichert, vom Pongo de Manſeriche bis zum Engpaſſe der Pauxis ſei auch nicht der kleinſte Stein zu finden. Das Becken des Rio Negro und des Amazonen— ſtromes iſt aber auch nichts als ein Llano, eine Ebene wie die in Venezuela und Buenos Ayres, und der Unterſchied beſteht allein in der Art des Pflanzenwuchſes. Die beiden Llanos am Nord- und am Südende von Südamerika ſind mit Gras bewachſen, es ſind baumloſe Grasfluren; das da— zwiſchenliegende Llano, das am Amazonenſtrom, welches im Striche der faſt unaufhörlichen Aequatorialregen liegt, iſt ein dichter Wald. Ich erinnere mich nicht gehört zu haben, daß auf den Pampas von Buenos Ayres oder auf den Savannen am Miſſouri! und in Neumexiko Granitblöcke vorkommen. Die Erſcheinung ſcheint in der Neuen Welt überhaupt ganz zu fehlen, und wahrſcheinlich auch in der afrikaniſchen Sahara; denn die Geſteinmaſſen, welche mitten in der Wüſte zu Tage kommen und deren die Reiſenden häufig erwähnen, ſind nicht mit bloßen zerſtreuten Bruchſtücken zu verwechſeln. Aus dieſen Beobachtungen ſcheint hervorzugehen, daß die ſkandi— naviſchen Granitblöcke, welche die ſandigen Ebenen im Süden des Baltiſchen Meeres, in Weſtfalen und Holland bedecken, von einer beſonderen, von Norden her ausgebrochenen Waſſer— flut, von einem rein örtlichen Vorgang herrühren. Das alte Konglomerat (der rote Sandſtein), das nach meinen Beobach— tungen zum großen Teil die Llanos von Venezuela und das Becken des Amazonenſtromes bedeckt, ſchließt ohne Zweifel Trümmer der Urgebirgsbildungen ein, aus denen die benach— barten Berge beſtehen; aber die Umwälzungen, von denen dieſe Gebirge ſo deutliche Spuren aufzuweiſen haben, ſcheinen nicht von den Umſtänden begleitet geweſen zu ſein, durch welche die Wegführung dieſer Blöcke in weite Ferne begün— ſtigt wurde. Dieſe geognoſtiſche Erſcheinung iſt um ſo uner— warteter, da ſonſt nirgends in der Welt eine Erdfläche vor— kommt, die ſo eben wäre und ſich ſo ohne alle Unterbrechung bis zum ſteilen Abhang einer ganz aus Granit aufgebauten Kordillere fortzöge. Bereits vor meinem Abgang von Europa war mir aufgefallen, daß die Urgebirgsblöcke weder in der Lombardei vorkommen noch auf der großen bayeriſchen Ebene, die ein alter, 490 m über dem Meeresſpiegel liegender See— ! Kommen in Nordamerika nordwärts von den großen Seen Blöcke vor? — 267 — boden iſt. Dieſe Ebene wird gegen Nord vom Granit der Oberpfalz, gegen Süd vom Alpenkalk, dem Uebergangsthon— ſchiefer und Glimmerſchiefer Tirols begrenzt. Am 23. Juli langten wir in der Stadt Nueva Barce⸗ lona an, weniger angegriffen von der Hitze in den Llanos, an die wir längſt gewöhnt waren, als von den Sandwinden, die auf die Länge ſchmerzhafte Schrunden in der Haut ver— urſachen. Vor ſieben Monaten hatten wir auf dem Wege von Cumana nach Caracas ein paar Stunden am Morro von Barcelona angelegt, einem befeſtigten Felſen, der dem Dorfe Pozuelos zu nur Durch eine Landzunge mit dem Feſtlande zuſammenhängt. Im Hauſe eines reichen Handelsmannes von franzöſiſcher Abkunft, Don Pedro Lavie, fanden wir die freund— lichſte Aufnahme und alles, was zuvorkommende Gaſtfreund— ſchaft bieten kann. Lavie war beſchuldigt worden, den uns: glücklichen Eſpana, als er im Jahre 1796 ſich als Flüchtling auf dieſer Küſte befand, aufgenommen zu haben, und wurde auf Befehl der Audiencia aufgehoben und nach Caracas ins Gefängnis geführt. Die Freundſchaft des Statthalters von Cumana und die Erinnerung an die Dienſte, die er dem auf— keimenden Gewerbfleiß des Landes geleiſtet, verhalfen ihm wieder zur Freiheit. Wir hatten ihn im Gefängnis beſucht und uns bemüht ihn zu zerſtreuen; jetzt hatten wir die Freude, ihn wieder im Schoße ſeiner Familie zu finden. Seine phyſiſchen Leiden hatten ſich durch die Haft verſchlimmert, und er erlag, bevor der Tag der Unabhängigkeit Amerikas ange— brochen war, den ſein Freund Don Joſef Eſpana bei ſeiner Hinrichtung verkündigt hatte. „Ich ſterbe,“ ſprach dieſer Mann, ein Mann, wie geſchaffen zur Durchführung großer Unternehmungen, ich ſterbe eines ſchimpflichen Todes; aber in kurzem werden meine Mitbürger mit Ehrfurcht meine Aſche ſammeln und mein Name wird mit Ehren genannt werden.“ Dieſe merkwürdigen Worte wurden am 8. Mai 1799 auf dem großen Platze zu Caracas geſprochen; ſie wur: den mir noch im ſelben Jahre von Leuten mitgeteilt, von denen manche Eipanas Abſichten jo ſehr verabſcheuten, als andere ſein Los betrauerten. Schon oben war von der Bedeutung des Handels von Nueva Barcelona die Rede. Die kleine Stadt, die im Jahre 1790 kaum 10000 Einwohner, im Jahre 1800 über 16000 hatte, wurde 1637 von einem kataloniſchen Konquiſtador, Juan Urpin, gegründet. Man verſuchte damals, aber vergeblich, — 268 — der ganzen Provinz den Namen Neukatalonien zu geben. Da auf unſeren Karten häufig zwei Städte ſtatt einer, Bar⸗ celona und Cumanagoto, angegeben ſind, oder man dieſe zwei Namen für gleichbedeutend hält, ſo erſcheint es nicht nutzlos, die Quelle dieſes Irrtums hier anzugeben. An der Mündung des Rio Neveri ſtand früher eine indianiſche, von Lucas Faxardo im Jahre 1588 gebaute Stadt, unter dem Namen San Criſtoval de los C um anagotos. Dieſelbe war nur von Eingeborenen bewohnt, die von den Salzwerken bei Apaicuare hierher gezogen waren. Im Jahre 1637 grün⸗ dete Urpin 9 km herwärts vom inneren Lande mit einigen Einwohnern von Cumanagoto und vielen Kataloniern die ſpaniſche Stadt Nueva Barcelona. 34 Jahre lang lagen die Nachbargemeinden in beſtändigem Streit, bis im Jahre 1671 der Statthalter Angulo es dahin brachte, daß ſie ſich an einer dritten Bauſtelle vereinigten, wo nunmehr die Stadt Barcelona ſteht, die nach meinen Beobachtungen unter dem 10° 6° 52“ der Breite liegt. Die alte Stadt Cumanagoto iſt im Lande vielberufen wegen eines wunderthätigen Bildes der heil. Jungfrau, das, wie die Indianer erzählen, im hohlen Stamm eines Tutumo oder alten Flaſchenkürbisbaumes (Crescentia Cujete) gefunden worden iſt. Dasſelbe wurde in Prozeſſion nach Nueva Barcelona gebracht; aber jo oft die Geiſtlichkeit mit den Bewohnern der neuen Stadt unzufrieden war, entfloh es bei Nacht und kehrte in den Baumſtamm an der Mündung des Fluſſes zurück. Dieſes Wunder hörte nicht eher auf, als bis man den Mönchen von der Regel des hei— ligen Franziskus ein großes Kloſter (das Kollegium der Pro— paganda) gebaut hatte. Wir haben oben geſehen, daß der Biſchof von Caracas in einem ähnlichen Fall das Bild Unſerer lieben Frau de los Valencianos in die biſchöflichen Archive brin— gen ließ, und daß es dort dreißig Jahre unter Siegel blieb. Das Klima von Barcelona iſt nicht ſo heiß als das von Cumana, aber feucht und in der Regenzeit etwas ungeſund. Bonpland hatte die beſchwerliche Reiſe über die Llanos ganz gut ausgehalten; er war wieder ganz bei Kräften und ſeine große Thätigkeit die alte; ich dagegen war in Barcelona un: wohler als in Angoſtura, unmittelbar nachdem die Reiſe auf den Flüſſen hinter uns lag. Einer der tropiſchen Regen, bei ! La milagrosa imagen de Maria Santisima del Socorro, auch Virgen del Tutumo genannt. — 269 — denen bei Sonnenuntergang weit auseinander außerordentlich große Tropfen fallen, hatte mir ein Unwohlſein zugezogen, das einen Anfall des Typhus, der eben auf der Küſte herrſchte, befürchten ließ. Wir verweilten faſt einen Monat in Barce— lona, im Genuß aller Bequemlichkeiten, welche die aufmerk— ſamſte Freundſchaft bieten kann. Wir trafen hier auch wie— der den trefflichen Ordensmann, Fray Juan Gonzales, deſſen ich ſchon erwähnt habe, und der vor uns am oberen Orinoko ge— weſen war. Er bedauerte, und mit Recht, daß wir auf den Beſuch dieſes unbekannten Landes nur ſo wenige Zeit hatten verwenden können; er muſterte unſere Pflanzen und Tiere mit dem Intereſſe, das auch der Ungebildetſte für die Pro— dukte eines Landes hat, wo er lange gelebt. Fray Juan hatte beſchloſſen, nach Europa zurückzukehren und uns dabei bis auf die Inſel Cuba zu begleiten. Wir blieben fortan ſieben Monate beiſammen; der Mann war munter, geiſtreich und dienſtfertig. Wer mochte ahnen, welches Unglück ſeiner wartete! Er nahm einen Teil unſerer Sammlungen mit; ein gemeinſchaftlicher Freund vertraute ihm ein Kind an, das man in Spanien erziehen laſſen wollte; die Sammlungen, das Kind, der junge Geiſtliche, alles wurde von den Wellen verſchlungen. Neun Kilometer ſüdoſtwärts von Nueva Barcelona er— hebt ſich eine hohe Bergkette, die ſich an den Cerro del Ber— gantin lehnt, den man von Cumana aus ſieht. Der Ort iſt unter dem Namen Aguas calientes bekannt. Als ich mich gehörig hergeſtellt fühlte, unternahmen wir an einem friſchen, nebeligen Morgen einen Ausflug dahin. Das mit Schwefelwaſſerſtoff geſchwängerte Waſſer kommt aus einem quarzigen Sandſtein, der demſelben dichten Kalkſtein aufge: lagert iſt, den wir beim Morro unterſucht hatten. Die Tem— peratur desſelben iſt nur 43,2 (bei einer Lufttemperatur von 27°); es fließt zuerſt 78 m weit über den Felsboden, ſtürzt ſich dann in eine natürliche Höhle, dringt durch den Kalkſtein und kommt am Fuß des Berges, am linken Ufer des kleinen Fluſſes Narigual wieder zu Tage. Durch die Berührung mit dem Sauerſtoff der Luft ſchlagen die Quellen viel Schwefel nieder. Die Luftblaſen, welche ſich ſtoßweiſe aus den Ther— men entwickeln, habe ich hier nicht geſammelt, wie in Mariara. Sie enthalten ohne Zweifel viel Stickſtoff, weil der Schwefel- waſſerſtoff das in der Quelle aufgelöſte Gemenge von Sauer: ſtoff und Stickſtoff zerſetzt. Die Schwefelwaſſer von San — 270 — Juan, die wie die am Bergantin aus dem Kalkſtein kommen, haben auch nur eine geringe Temperatur (31,30), während im ſelben Landſtrich die Schwefelwaſſer von Mariara und Las Trincheras (bei Porto Cabello), die unmittelbar aus dem granitiſchen Gneis kommen, 58,9“ und 90,4“ heiß find. Es it als ob die Wärme, welche die Quellen im Erdinneren an: genommen, abnähme, je weiter ſie aus dem Urgebirge in die aufgelagerten ſekundären Formationen gelangen. Unſer Ausflug zu den Aguas ealientes am Bergantin endete mit einem leidigen Unfall. Unſer Gaſtfreund hatte uns ſeine ſchönſten Reitpferde gegeben. Man hatte uns zu: gleich gewarnt, nicht durch den kleinen Fluß Narigual zu reiten. Wir gingen daher über eine Art Brücke oder viel- mehr aneinander gelegte Baumſtämme, und ließen unſere Pferde am Zügel hinüberſchwimmen. Da verſchwand das meinige auf einmal; es ſchlug noch eine Weile unter dem Waſſer um ſich, aber trotz alles Suchens konnten wir nicht ausfindig machen, was den Unfall veranlaßt haben mochte. Unſere Führer vermuteten, das Tier werde von den Kaimanen, die hier ſehr häufig ſind, an den Beinen gepackt worden ſein. Meine Verlegenheit war ſehr groß; denn bei dem Zartgefühl und dem großen Wohlſtand unſeres Gaſtfreundes konnte ich kaum daran denken, ihm einen ſolchen Verluſt erſetzen zu wollen. Lavie ging unſere Betroffenheit näher als der Ver: luſt ſeines Pferdes, und er ſuchte uns zu beruhigen, indem er, wohl mit Uebertreibung, verſicherte, wie leicht man ſich in den benachbarten Savannen ſchöne Pferde verſchaffen könne. Die Krokodile ſind im Rio Neveri groß und zahlreich, beſonders der Mündung zu; im ganzen aber ſind ſie nicht fo bösartig als die im Orinoko. In der Gemütsart dieſer Tiere beobachtet man in Amerika dieſelben Kontraſte wie in Aegypten und Nubien, wie man deutlich ſieht, wenn man die Berichte des unglücklichen Burckhard und die Belzonis auf— merkſam vergleicht. Nach dem Kulturzuſtand der verſchiedenen Länder, nach der mehr oder weniger dichten Bevölkerung in der Nähe der Flüſſe ändern ſich auch die Sitten dieſer großen Saurier, die auf trockenem Lande ſchüchtern ſind und vor dem Menſchen ſogar im Waſſer fliehen, wenn ſie reichliche, Nahrung haben und der Angriff mit einiger Gefahr verbun— den iſt. In Nueva Barcelona ſieht man die Indianer das Holz auf ſonderbare Weiſe zu Markt bringen. Große Scheite von Zygophyllum und Cäſalpinia werden in den Fluß — 271 — geworfen; fie treiben mit der Strömung fort und der Eigen⸗ tümer mit ſeinen älteſten Söhnen ſchwimmt bald hier- bald dorthin, um die Stücke, die in den Krümmungen des Fluſſes ſtecken bleiben, wieder flott zu machen. In den meiſten amerikaniſchen Flüſſen, in denen Krokodile vorkommen, ver— böte ſich ein ſolches Verfahren von ſelbſt. Die Stadt Bar: celona hat nicht, wie Cumana, eine indianiſche Vorſtadt, und ſieht man hie und da einen Indianer, ſo ſind ſie aus den benachbarten Miſſionen, oder aus den über die Ebene zer— ſtreuten Hütten. Beide ſind nicht von karibiſchem Stamm, ſondern ein Miſchvolk von Cumanagoten, Palenques und Piritu, von kleinem Wuchs, unterſetzt, arbeitsſcheu und dem Trunk ergeben. Der gegorene Maniok iſt hier das belieb— teſte Getränk; der Palmwein, den man am Orinoko hat, iſt an den Küſten ſo gut wie unbekannt. Es iſt merkwürdig, wie in den verſchiedenen Erdſtrichen der Menſch, um den Hang zur Trunkenheit zu befriedigen, nicht nur alle Familien monokotyledoniſcher und dikotyledoniſcher Gewächſe herbeizieht, ſondern ſogar den giftigen Fliegenſchwamm (Amanita mus— caria), von dem die Korjäken denſelben Saft zu wiederholten Malen fünf Tage hintereinander trinken, worauf ſie aus ekel— hafter Sparſamkeit gekommen ſind.! Die Paketboote (Correos), die von Coruna nach der Havana und nach Mexiko laufen, waren ſeit drei Monaten ausgeblieben. Man vermutete, ſie ſeien von den engliſchen Kreuzern aufgebracht worden. Da wir Eile hatten, nach Cumana zu kommen, um mit der erſten Gelegenheit nach Vera— cruz gehen zu können, ſo mieteten wir (am 26. Auguſt 1800) ein Kanoe ohne Verdeck (Lancha). Solcher Fahrzeuge bedient man ſich gewöhnlich in dieſen Strichen, wo oſtwärts vom Kap Codera die See faſt nie unruhig iſt. Die Lancha war Langsdorf (Wetterauiſches Journal, Teil J, Seite 254) hat dieſe ſehr merkwürdige phyſiologiſche Erſcheinung zuerſt bekannt ge— macht. Ich beſchreibe ſie hier, doch lieber lateiniſch. — Coriae- corum gens, in ora Asiae septentrioni opposita, potuni sibi excogitavit ex succo inebriante Agarici muscarii, qui succus (aeque ut asparagorum), vel per humanum corpus transfusus, temulentiam nihilominus facit. Quare gens misera et inops, quo rarius mentis sit suae, propriam urinam bibit identidem; continuoque mingens rursusque hauriens eundem succum (dicas, ne ulla in parte mundi desit ebrietas) pauculis agaricis pro- ducere in diem quintum temulentiam potest. — 272 — mit Kakao beladen und trieb Schleichhandel mit der Inſel Trinidad. Gerade deshalb glaubte der Eigner von den feindlichen Fahrzeugen, welche damals alle ſpaniſchen Häfen blockierten, nichts zu fürchten zu haben. Wir ſchifften unſere Pflanzenſammlungen, unſere Inſtrumente und unſere Affen ein und hofften bei herrlichem Wetter eine ganz kurze Ueber— fahrt von der Mündung des Rio Neveri nach Cumana zu haben; aber kaum waren wir im engen Kanal zwiſchen dem Feſtland und den Felſeneilanden Borracha und Chimanas, ſo ſtießen wir zu unſerer großen Ueberraſchung auf ein bewaff— netes Fahrzeug, das uns anrief und zugleich auf große Ent— fernung einige Flintenſchüſſe auf uns abfeuerte. Es waren Matroſen, die zu einem Kaper aus Halifax gehörten, und unter ihnen erkannte ich an der Geſichtsbildung und der Mundart einen Preußen, aus Memel gebürtig. Seit ich in Amerika war, hatte ich nicht mehr Gelegenheit gehabt, meine Mutterſprache zu ſprechen, und ich hätte mir wohl einen er— freulicheren Anlaß dazu gewünſcht. Unſer Proteſtieren half nichts und man brachte uns an Bord des Kapers, der that, als ob er von den Päſſen, die der Gouverneur von Trinidad für den Schmuggel ausſtellte, nichts wüßte, und uns für gute Priſe erklärte. Da ich mich im Engliſchen ziemlich fertig ausdrücke, ſo ließ ich mich mit dem Kapitän in Unterhand— lungen ein, um nicht nach Neuſchottland gebracht zu werden; ich bat ihn, mich an der nahen Küſte ans Land zu ſetzen. Während ich in der Kajüte meine und des Eigners des Kanoes Rechte zu verfechten ſuchte, hörte ich Lärm auf dem Verdeck. Einer kam und ſagte dem Kapitän etwas ins Ohr. Dieſer ſchien beſtürzt und ging hinaus. Zu unſerem Glück kreuzte auch eine engliſche Korvette (die Sloop Hawk) in dieſen Gewäſſern. Sie hatte durch Signale den Kapitän des Kapers zu ſich gerufen, und da dieſer ſich nicht beeilte Folge zu leiſten, feuerte ſie eine Kanone ab und ſchickte einen Midſhipman zu uns an Bord. Dieſer war ein ſehr artiger junger Mann und machte mir Hoffnung, daß man das Kanoe mit Kakao herausgeben und uns des anderen Tages werde weiter fahren laſſen. Er ſchlug mir zugleich vor, mit ihm zu gehen, mit der Verſicherung, ſein Kommandant, Kapitän Garnier von der königlichen Marine, werde mir ein angenehmeres Nacht— lager anbieten, als ich auf einem Fahrzeug aus Halifax fände. Ich nahm das freundliche Anerbieten an und wurde von Kapitän Garnier aufs höflichſte aufgenommen. Er hatte mit — 273 — Vancouver die Reiſe an die Nordweſtküſte gemacht; und alles, was ich ihm von den großen Katarakten bei Atures und Maypures, von der Gabelteilung des Orinoko und von ſeiner Verbindung mit dem Amazonenſtrom erzählte, ſchien ihn höchlich zu intereſſieren. Er nannte mir unter ſeinen Offizieren mehrere, die mit Lord Macartney in China ge— weſen waren. Seit einem Jahre war ich nicht mehr mit ſo vielen unterrichteten Männern beiſammen geweſen. Man war aus den engliſchen Zeitungen über den Zweck meiner Reiſe im allgemeinen unterrichtet; man bewies mir großes Zutrauen und ich erhielt mein Nachtlager im Zimmer des Kapitäns. Beim Abſchied wurde ich mit den Jahrgängen der aſtronomiſchen Ephemeriden beſchenkt, die ich in Frankreich und Spanien nicht hatte bekommen können. Kapitän Garnier habe ich die Trabantenbeobachtungen zu verdanken, die ich jenſeits des Aequators angeſtellt, und es wird mir zur Pflicht, hier dem aufrichtigen Danke für ſeine Gefälligkeit Ausdruck zu geben. Wenn man aus den Wäldern am Caſſiquiare kommt und monatelang in den engen Lebenskreis der Miſ— ſionäre wie gebannt war, ſo fühlt man ſich ganz glücklich, wenn man zum erſtenmal wieder Männer trifft, die das Leben zur See durchgemacht und auf einem ſo wechſelvollen Schauplatz den Kreis ihrer Ideen erweitert haben. Ich ſchied vom eng— liſchen Schiff mit Empfindungen, die in mir unverwiſcht ge— blieben ſind und meine Anhänglichkeit an die Laufbahn, der ich meine Kräfte gewidmet, noch ſteigerten. Am folgenden Tag ſetzten wir unſere Ueberfahrt fort und wunderten uns ſehr über die Tiefe der Kanäle zwiſchen den Caracasinſeln, die ſo bedeutend iſt, daß die Korvette beim Wenden fait an den Felſen ſtreifte. Welch ein Kontraft im ganzen Anſehen zwiſchen dieſen Kalkeilanden, die nach Rich— tung und Geſtaltung an die große Kataſtrophe erinnern, die ſie vom Feſtlande losgeriſſen, und jenem vulkaniſchen Archipel nordwärts von Lancerote, wo Baſaltkuppen durch Hebung aus dem Meer emporgeſtiegen ſcheinen! Die vielen Alcatras, die größer ſind als unſere Schwanen, und Flamingo, die in den Buchten fiſchten oder den Pelikanen ihre Beute abzujagen ſuchten, ſagten uns, daß wir nicht mehr weit von Cumana wären. Es iſt ſehr intereſſant, bei Sonnenaufgang die See— vögel auf einmal erſcheinen und die Landſchaft beleben zu ſehen. Solches erinnert an den einſamſten Orten an das rege Leben in unſeren Städten beim erſten Morgengrauen. A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 18 — 274 — Gegen neun Uhr morgens befanden wir uns vor dem Meer: buſen von Cariaco, welcher der Stadt Cumana als Reede dient. Der Hügel, auf dem das Schloß San Antonio liegt, hob ſich weiß von der dunkeln Bergwand im Inneren ab. Mit lebhafter Empfindung ſahen wir das Ufer wieder, wo wir die erſten Pflanzen in Amerika gepflückt und wo ein paar Monate darauf Bonpland in ſo großer Gefahr geſchwebt hatte. Zwiſchen den Kaktus, die 6,5 m hoch in Säulen- oder Kandelaberform daſtehen, kamen die Hütten der Guaykeri zum Vorſchein. Die ganze Landſchaft war uns ſo wohl be— kannt, der Kaktuswald, und die zerſtreuten Hütten, und der gewaltige Ceibabaum, unter dem wir bei Einbruch der Nacht ſo gerne gebadet. Unſere Freunde kamen uns aus Cumana entgegen; Menſchen aller Stände, die auf unſeren vielen botaniſchen Exkurſionen mit uns in Berührung gekommen waren, äußerten ihre Freude um ſo lebhafter, da ſich ſeit mehreren Monaten das Gerücht verbreitet hatte, wir haben an den Ufern des Orinoko den Tod gefunden. Anlaß dazu mochte Bonplands ſchwere Krankheit gegeben haben, oder auch der Umſtand, daß unſer Kanoe durch einen Windſtoß ober: halb der Miſſion Uruana beinahe umgeſchlagen wäre. Wir eilten, uns dem Statthalter Don Vicente Emparan vorzuſtellen, deſſen Empfehlungen und beſtändige Vorſorge uns auf der langen, nunmehr vollendeten Reiſe ſo ungemein förderlich geweſen waren. Er verſchaffte uns mitten in der Stadt ein Haus,! das für ein Land, das ſtarken Erdbeben ausgeſetzt iſt, vielleicht zu hoch, aber für unſere Inſtrumente ungemein bequem war. Es hatte Terraſſen (Azoteas), auf denen man einer herrlichen Ausſicht auf die See, auf die Landenge Araya und auf den Archipel der Caracas-, Picuita⸗ und Borrachainſeln genoß. Der Hafen von Cumana wurde täglich ſtrenger blockiert und durch das Ausbleiben der ſpani— ſchen Poſtſchiffe wurden wir noch drittehalb Monate feſtge— halten. Oft fühlten wir uns verſucht, auf die däniſchen Inſeln überzuſetzen, die einer glücklichen Neutralität genoſſen; Casa de Don Pasqual Martinez, nordweſtlich vom großen Platz, an dem ich vom 28. Juli bis 17. November 1799 beobachtet hatte. Alle aſtronomiſchen Beobachtungen, ſowie die über die Luft— ſpiegelung, nach dem 29. Auguſt 1800 ſind im Hauſe Martinez angeſtellt. Ich erwähne dieſes Umſtandes, da er von Intereſſe ſein mag, wenn einmal einer die Genauigkeit meiner Beobachtungen prüfen will. wir beſorgten aber, hätten wir einmal die ſpaniſchen Kolonieen verlaſſen, möchte es ſchwer halten, dahin zurückzukommen. Bei den umfaſſenden Befugniſſen, wie ſie uns in einer guten Stunde zu teil geworden, durfte man ſich auf nichts einlaſſen, was den Lokalbehörden mißfallen konnte. Wir wendeten unſere Zeit dazu an, die Flora von Cumana zu vervollſtän— digen, den öſtlichen Teil der Halbinſel Araya geognoſtiſch zu unterſuchen und eine anſehnliche Reihe von Trabantenimmer— ſionen zu beobachten, wodurch die auf anderem Wege gefun— dene Länge des Orts beſtätigt wurde. Wir ſtellten auch Verſuche an über ungewöhnliche Strahlenbrechung, über Ver— dunſtung und Luftelektrizität. Die lebenden Tiere, die wir vom Orinoko mitgebracht, waren für die Einwohner von Cumana ein Gegenſtand leb— hafter Neugier. Der Kapuziner von Esmeralda (Simia chiropotes), der im Geſichtsausdruck ſo große Menſchen— ähnlichkeit hat, und der Schlafaffe (Simia trivirgata), der Typus einer neuen Gruppe, waren an dieſer Küſte noch nie geſehen worden. Wir dachten dieſelben der Menagerie im Pariſer Pflanzengarten zu; denn die Ankunft einer franzöſi— ſchen Eskadre, die ihren Angriff auf Curacao hatte mißlingen ſehen, bot uns unerwartet eine treffliche Gelegenheit nach Guadeloupe. General Jeannet und der Kommiſſär Breſſeau, Agent der vollziehenden Gewalt auf den Antillen, verſprachen uns, die Sendung zu beſorgen. Aber Affen und Vögel gingen auf Guadeloupe zu Grunde, und nur durch einen glück— lichen Zufall gelangte der Balg des Simia chiropotes, der ſonſt in Europa gar nicht exiſtiert, vor einigen Jahren in den Pflanzengarten, nachdem ſchon früher der Couxio (Simia Satanas) und der Stentor oder Aluate aus den Steppen von Caracas (Simia ursina), die ich in meinem Recueil de zoologie et d’anatomie comparée abgebildet, daſelbſt ange— kommen waren. Die Anweſenheit ſo vieler franzöſiſcher Sol— daten und die Aeußerung politiſcher und religiöſer Anſichten, die eben nicht ganz mit denen übereinſtimmten, durch welche die Mutterländer ihre Macht zu befeſtigen meinen, brachten die Bevölkerung von Cumana in gewaltige Aufregung. Der Statthalter beobachtete den franzöſiſchen Behörden gegenüber die angenehmen Formen, wie der Anſtand und das innige Verhältnis, das damals zwiſchen Frankreich und Spanien be— ſtand, ſie vorſchrieben. Auf den Straßen ſah man die Far— bigen ſich um den Agenten des Direktoriums drängen, der — 276 — reich und theatraliſch gekleidet war; da aber Leute mit ganz weißer Haut, wo ſie ſich nur verſtändlich machen konnten, mit unbeſcheidener Neugier ſich auch danach erkundigten, wie— viel Einfluß auf die Regierung von Guadeloupe die fran— zöſiſche Republik den Koloniſten einräume, ſo entwickelten die königlichen Beamten doppelten Eifer in der Verproviantierung der kleinen Eskadre. Fremde, die ſich rühmten frei zu ſein, ſchienen ihnen überläſtige Gäſte, und in einem Lande, deſſen fortwährend ſteigender Wohlſtand auf dem Schleichverkehr mit den Inſeln beruhte und auf einer Art Handelsfreiheit, die man dem Miniſterium abgerungen, erlebte ich es, daß die Hiſpano-Europäer ſich nicht entblödeten, die alte Weisheit des Geſetzbuches (Leyes de Indias), demzufolge die Häfen keinen fremden Fahrzeugen geöffnet werden ſollen außer in äußerſten Notfällen, bis zu den Wolken zu erheben. Ich hebe dieſe Gegenſätze zwiſchen den unruhigen Wünſchen der Koloniſten und der argwöhniſchen Starrheit der herrſchenden Kaſte hervor, weil ſie einiges Licht auf die großen politiſchen Ereigniſſe werfen, welche, von lange her vorbereitet, Spanien von ſeinen Kolonieen oder — vielleicht richtiger geſagt — von ſeinen überſeeiſchen Provinzen losgeriſſen haben. Vom 3. bis zum 5. November verbrachten wir wieder einige ſehr angenehme Tage auf der Halbinſel Araya, über dem Meerbuſen von Cariaco, Cumana gegenüber, deren Perlen, deren Salzlager und unterſeeiſche Quellen flüſſigen, farb— loſen Steinöls ich ſchon oben beſchrieben habe. Wir hatten gehört, die Indianer bringen von Zeit zu Zeit natürlichen Alaun, der in den benachbarten Bergen vorkomme, in be— deutenden Maſſen in die Stadt. An den Proben, die man uns zeigte, ſah man gleich, daß es weder Alaunſtein war, ähnlich dem Geſtein von Tolfa und Piombino, noch jene haarförmigen, ſeidenartigen Salze von ſchwefelſaurer Thon— und Bittererde, welche Gebirgsſpalten und Höhlen auskleiden, ſondern wirklich Maſſen natürlichen Alauns, mit muſcheligem oder unvollkommen blätterigem Bruch. Man machte uns Hoff— nung, daß wir die Alaungrube im Schiefergebirg bei Mani— quarez finden könnten. Eine ſo neue geognoſtiſche Erſchei— nung mußte unſere ganze Aufmerkſamkeit in Anſpruch nehmen. Frater Juan Gonzalez und der Schatzmeiſter Don Manuel Navarete, der uns ſeit unſerer Ankunft auf dieſer Küſte mit ſeinem Rat beigeſtanden hatte, begleiteten uns auf dem kleinen Ausflug. Wir gingen am Vorgebirge Caney ans Land und TERN beſuchten wieder das alte Salzwerk, das durch den Einbruch des Meeres in einen See verwandelt worden, die ſchönen Trümmer des Schloſſes Araya und den Kalkberg Barigon, der, weil er gegen Weſt ſchroff abfällt, ziemlich ſchwer zu beſteigen iſt. Der Salzthon, vermiſcht mit Erdpech und linſen— förmigem Gips, und zuweilen in einen ſchwarzbraunen, ſalz— freien Thon übergehend, iſt eine auf dieſer Halbinſel, auf der Inſel Margarita und auf dem gegenüberliegenden Feſtland beim Schloß San Antonio in Cumana ſehr verbreitete For— mation. Sehr wahrſcheinlich hat ſie ſogar zum Teil die Spalten und das ganze zerriſſene Weſen des Bodens veran— laßt, das dem Geognoſten auffällt, wenn er auf einer der Anhöhen der Halbinſel Araya ſteht. Die aus Glimmerſchiefer und Tonſchiefer beſtehende Kordillere derſelben iſt gegen Nord durch den Kanal von Cubagua von der ähnlich gebildeten Bergkette der Inſel Margarita getrennt; gegen Süden liegt der Meerbuſen von Cariaco zwiſchen der Kordillere und der hohen Kalkgebirgskette des Feſtlandes. Der ganze dazwiſchen liegende Boden ſcheint einſt mit Salzthon ausgefüllt geweſen zu ſein, und vom Meere beſtändig angefreſſen, verſchwand ohne Zweifel die Formation allmählich und aus der Ebene wurden zuerſt Lagunen, dann Buchten und zuletzt ſchiffbare Kanäle. Der neueſte Vorgang am Schloſſe Araya beim Einbruch des Meeres in das alte Salzwerk, die Form der Lagune Chacopata und ein 18 km langer See, der die Inſel Margarita beinahe in zwei Stücke teilt, ſind offenbare Beweiſe dieſer allmählichen Abſpülungen. Im ſeltſamen Umriß der Küſten, im Morro von Chacopata, in den kleinen Inſeln Caribes, Lobos und Tunal, in der großen Inſel Coche und dem Vorgebirg Carnero und dem „der Manglebäume“ glaubt man auch die Trümmer einer Landenge vor ſich zu haben, welche einſt in der Rich— tung von Nord nach Süd die Halbinſel Araya und die Inſel Margarita verband. Auf letzterer verbindet nur noch eine ganz niedrige, 5850 m lange und nicht 390 m breite Land— zunge gegen Nord die zwei unter dem Namen Vega de San Juan und Macanao bekannten Berggruppen. Die Laguna grande auf Margarita hat gegen Süd eine ſehr enge Oeff— nung und kleine Kanden kommen „arastradas“, das heißt über einen Trageplatz, über die Landzunge oder den Damm im Norden hinüber. Wenn ſich auch heutzutage in dieſen Seeſtrichen das Waſſer vom Feſtland zurückzuziehen ſcheint, ſo wird doch höchſt wahrſcheinlich im Laufe der Jahrhunderte ee entweder durch ein Erdbeben oder durch ein plötzliches An— ſchwellen des Ozeans die große langgeſtreckte Inſel Margarita in zwei viereckige Felſeneilande zerfallen. Bei der Beſteigung des 5 del Barigon wiederholten wir die Verſuche, die wir am Orinoko über den Unterſchied zwiſchen der Temperatur der Luft und des verwitterten Ge— ſteins gemacht hatten. Erſtere betrug gegen 11 Uhr vor⸗ mittags, des Seewinds wegen, nur 27°, letztere dagegen 49,60. Der Saft in den Fackeldiſteln (Cactus quadr angularis) zeigte 38 bis 41°; ſoviel zeigte ein Thermometer, deſſen Kugel ich in den fleischigen, ſaftigen Stamm der Kaktus hineinſteckte. Dieſe innere Temperatur eines Gewächſes iſt das Produkt der Wärme des Sandes, in dem die Wurzeln ſich verbreiten, der Luft— temperatur, der Oberflächenbeſchaffenheit des den Sonnen- ſtrahlen ausgeſetzten Stammes und der Leitungsfähigkeit des Holzes. Es wirken ſomit ſehr verwickelte Vorgänge zum Re⸗ ſultat zuſammen. Der Kalkſtein des Barigon, der zu der großen Sandſtein- und Kalkformation von Cumana gehört, be⸗ ſteht faſt ganz aus Seeſchaltieren, die ſo wohl erhalten ſind, wie die in den anderen tertiären Kalkgebilden in Frankreich und Italien. Wir brachen für das königliche Kabinett zu Madrid Blöcke ab, die Auſtern von 20 em Durchmeſſer, Kammmuſcheln, Venusmuſcheln und Polypengehäuſe enthielten. Ich möchte Naturforſcher, welche beſſere Paläontologen ſind, als ich da— mals war, auffordern, dieſe Felſenküſte genau zu unterſuchen. Sie iſt europäiſchen Fahrzeugen, die nach Cumana, Guayra oder Curacao gehen, leicht zugänglich. Es wäre von großem Intereſſe, auszumachen, ob manche dieſer verſteinerten Mol— lusken- und Zoophytenarten noch jetzt das Meer der Antillen bewohnen, wie es Bonpland vorkam, und wie es auf der Inſel Timor und wohl auch bei Grande⸗Terre auf Guade⸗ loupe der Fall iſt. Am 4. November um 1 Uhr nachts gingen wir unter Segel, um die natürliche Alaungrube aufzuſuchen. Ich hatte den Chronometer und mein großes Dollondſches Fernrohr mit eingeſchifft, um bei der Laguna chica, öſtlich vom Dorfe Maniquarez, die Immerſion des erſten Jupitertrabanten zu beobachten. Daraus wurde indes nichts, da wir des widrigen Windes wegen nicht vor Tag hinkamen. Nur das Schau— ſpiel des Meerleuchtens, deſſen Pracht durch die um unſere Piroge gaukelnden Delphine noch erhöht wurde, konnte uns für dieſe Verzögerung entſchädigen. Wir fuhren wieder über — 279 — den Strich, wo auf dem Meeresboden aus dem Glimmer— ſchiefer Quellen von Bergöl brechen, die man ſehr weit riecht. Bedenkt man, daß weiter nach Oſt, bei Cariaco, warme unterſeeiſche Quellen ſo ſtark ſind, daß ſie die Tem— peratur des Meerbuſens an der Oberfläche erhöhen, ſo läßt ſich wohl nicht bezweifeln, daß das Bergöl aus ungeheuren Tiefen wie herauf deſtilliert wird, daß es aus den Urgebirgs— bildungen kommt, unter denen der Herd aller vulkaniſchen Erſchütterungen liegt. Die Laguna chica iſt eine von ſteil abfallenden Bergen umgebene Bucht, die mit dem Meerbuſen von Cariaco nur durch einen engen, 45 m tiefen Kanal zuſammenhängt. Es ſieht aus, als wäre ſie, wie auch der ſchöne Hafen von Aca— pulco, durch ein Erdbeben gebildet. Ein kleiner flacher Ufer— ſtrich ſcheint darauf hinzudeuten, daß die See ſich hier vom Lande zurückzieht wie an der gegenüberliegenden Küſte von Cumana. Die Halbinſel Araya verengert ſich zwiſchen den Vorgebirgen Mero und Las Minas auf 2730 m und tft bei der Laguna chica von einem Seeſtrich zum anderen etwas über 7800 m breit. Dieſe unbedeutende Strecke hatten wir zurückzulegen, um zum natürlichen Alaun und zum Vorgebirge, genannt Punta de Chuparuparu, zu gelangen. Der Gang iſt nur darum beſchwerlich, weil gar kein Weg gebahnt iſt und man zwiſchen ziemlich tiefen Abgründen über völlig kahle Felsgräten mit ſtark fallenden Schichten gehen muß. Der höchſte Punkt liegt gegen 428 m hoch, aber die Berge zeigen, wie ſo häufig auf felſigen Landengen, die ſeltſamſten Bil— dungen. Die Tetas de Chacopata und de Cariaco, halbwegs zwiſchen der Laguna chica und der Stadt Cariaco, ſind wahre Spitzberge, die von der Plattform des Schloſſes in Cumana aus ganz frei zu ſtehen ſcheinen. Dammerde findet ſich in dieſem Landſtrich nur bis zur Höhe von 58 m über dem Meer. Oft regnet es 15 Monate lang gar nicht; fallen aber auch nur ein paar Tropfen Waſſer unmittelbar nach der Blüte der Melonen, der Waſſermelonen und Kürbiſſe, ſo tragen dieſelben, trotz der anſcheinenden Trockenheit der Luft, Früchte von 30 bis 35 kg. Ich ſage die anſcheinende Trocken— heit der Luft, denn aus meinen hygrometriſchen Beobachtungen geht hervor, daß in Cumana und Araya die Luft faſt zu neun Zehnteilen mit Waſſerdunſt geſättigt iſt. Dieſe zugleich heiße und feuchte Luft ſpeiſt die vegetabiliſchen Quellen, die kürbisartigen Gewächſe, die Agaven und Melokaktus, die — 280 — halb im Sand vergraben ſind. Als wir die Halbinſel im vorigen Jahr beſuchten, herrſchte da furchtbarer Waſſermangel. Die Ziegen, die kein Gras mehr fanden, gingen zu Hunderten zu Grunde. Während unſeres Aufenthaltes am Orinoko ſchien ſich die Reihenfolge der Jahreszeiten völlig umgekehrt zu haben. Es hatte in Araya, auf Cochen, ſogar auf der Inſel Margarita reichlich geregnet, und dieſe Güſſe machten noch in der Erinnerung den Einwohnern ſo viel zu ſchaffen, als den Phyſikern in Europa ein Aerolithenfall. Unſer indianiſcher Führer kannte kaum die Richtung, in der wir den Alaun zu ſuchen hatten; die eigentliche Lager— ſtätte war ihm ganz unbekannt. Dieſer Mangel an Orts⸗ kenntnis iſt hier faſt allen Führern eigen, die der faulſten Volksklaſſe angehören. Wir liefen faſt auf Geratewohl ſieben, acht Stunden zwiſchen den Felſen herum, auf denen nicht das geringſte wuchs. Der Glimmerſchiefer geht zuweilen in ſchwarz— grauen Thonſchiefer über. Auch hier fiel mir wieder die un⸗ gemeine Regelmäßigkeit im Streichen und Fallen der Schich— ten auf. Sie ſtreichen Nord 50 Grad Oſt und Fallen unter einem Winkel von 60 bis 70° nach Nordweſt. Dieſes allge— meine Streichungsverhältnis I ich auch am granitiſchen Gneis bei Caracas und am Orinoko, an den Hornblende- ſchiefern bei Angoſtura beobachtet, ſogar an den meiſten ſekun— dären Formationen, die wir unterſucht. Auf ſehr weite Strecken bilden die Schichten denſelben Winkel mit dem Meridian des Orts; fie zeigen einen Parallelismus (oder vielmehr Lo xo— dromismus), der als eines der großen geognoſtiſchen Ge— ſetze zu betrachten iſt, die durch genaue Meſſung zu ermitteln ſind. Gegen das Kap Chuparuparu zu ſahen wir die Quarz: gänge im Glimmerſchiefer mächtiger werden. Wir fanden welche, 2 bis 4 m breit, voll kleiner büſchelförmiger Kriſtalle von Titanerz. Vergeblich ſuchten wir darin nach Cyanit, den wir in Blöcken bei Maniquarez gefunden. Weiterhin erſchei— nen im Glimmerſchiefer nicht Gänge, ſondern kleine Schichten von Graphit oder Kohlenſtoffeiſen. Sie ſind 5 bis 8 em dick und ſtreichen und fallen genau wie die Gebirgsart. Mit dem Graphit im Urgebirge tritt zum erſtenmal in den Gebirgs— ſchichten der Kohlenſtoff auf, und zwar als nicht an Waſſer-⸗ ſtoff gebundener Kohlenſtoff. Er iſt älter als die Zeit, wo ſich die Erde mit monokotyledoniſchen Gewächſen bedeckte. Von dieſen öden Bergen herab hatten wir eine groß— artige Ausſicht auf die Inſel Margarita. Zwei Berggruppen, — 281 — die bereits genannten, der Macanao und die Vega de San Juan, ſteigen gerade aus dem Waſſer auf. In der letzteren, der öſtlichſten, liegt der Hauptort der Inſel, La Aſuncion, der Hafen Pampatar und die Dörfer Pueblo de la Mar, Pueblo del Norte und San Juan. Die weſtliche Gruppe, der Ma— canao, iſt fait ganz unbewohnt. Die Landenge, welche dieſe gewaltigen Glimmerſchiefermaſſen verbindet, war kaum ſicht— bar; ſie erſchien durch die Luftſpiegelung verzogen und man erkannte dieſes Zwiſchenglied des Landes, durch das die Laguna grande läuft, nur an zwei kleinen zuckerhutförmigen Bergen, die unter dem Meridian der Punta de Piedras lie— gen. Weiter herwärts ſahen wir auf den kleinen öden Archipel der vier Morros del Tunal, der Karibes und Lobos hinab. Nach langem vergeblichem Suchen fanden wir endlich, ehe wir zur Nordküſte der Halbinſel Araya hinabgingen, in einer ungemein ſchwer zugänglichen Schlucht (Aroyo del Robalo) das Mineral, das man uns in Cumana gezeigt hatte. Der Glimmerſchiefer ging raſch in kohlenhaltigen, glänzenden Thonſchiefer über. Es war Ampelit; das Waſſer (denn es gibt hier kleine Quellen, und kürzlich hat man ſelbſt beim Dorfe Maniquarez eine gefunden) war mit gelbem Eiſen— oryd geſchwängert und hatte einen zuſammenziehenden Ge— ſchmack. Die anſtehenden Felswände waren mit ausgewit— terter haarförmiger ſchwefelſaurer Thonerde bedeckt, und wirk— liche 5 bis 8 em dicke Schichten natürlichen Alauns ſtrichen im Thonſchiefer fort, ſo weit das Auge reichte. Der Alaun iſt weißgrau, an der Oberfläche etwas matt, im Inneren hat er faſt Glasglanz; der Bruch iſt nicht faſerig, ſondern unvoll— kommen muſchelig. An nicht ſtarken Bruchſtücken iſt er halb durchſichtig. Der Geſchmack iſt ſüßlich, adſtringierend, ohne Bitterkeit. Ich fragte mich noch an Ort und Stelle, ob dieſer ſo reine Alaun, der ohne die geringſte Lücke eine Schicht im Thonſchiefer bildet, gleichzeitig mit der Gebirgsart gebildet, oder ob ihm ein neuerer, ſozuſagen ſekundärer Urſprung zuzuſchreiben iſt, wie dem ſalzſauren Natron, das man zu— weilen in kleinen Gängen an Stellen findet, wo hochſohlige Salzquellen durch Gips- oder Thonſchichten hindurchgehen? Nichts weiſt aber hier auf eine Bildungsweiſe hin, die auch noch gegenwärtig vorkommen könnte. Das Schiefergeſtein hat lediglich keine offene Spalte, zumal keine, die dem Strei— chen der Blätter parallel liefe. Man fragt ſich ferner, ob dieſer Alaunſchiefer eine dem Urglimmerſchiefer von Araya — 282 — aufgelagerte Uebergangsbildung iſt, oder ob er nur dadurch entſteht, daß die Glimmerſchieferſchichten nach Zuſammen⸗ ſetzung und Textur eine Veränderung erlitten haben? Ich halte letztere Annahme für die wahrſcheinlichere; denn der Uebergang iſt allmählich und Thonſchiefer und Glimmerſchiefer ſcheinen mir hier einer und derſelben Formation anzugehören. Das Vorkommen von Cyanit, Titanerz und Granaten, und daß kein lydiſcher Stein, daß nirgends ein Trümmergeſtein zu finden iſt, ſcheinen die Formation, die wir hier beſchreiben, dem Urgebirge zuzuweiſen. Als ſich im Jahre 1783 bei einem Erdbeben in Aroyo del Robalo eine große Felsmaſſe abgelöſt hatte, laſen die Guaykeri in Los Serritos 13 bis 15 em ſtarke, ungemein durchſichtige und reine Alaunſtücke auf. Zu meiner Zeit ver⸗ kaufte man in Cumana an Färber und Gerber das Pfund zu zwei Realen (ein Viertel eines harten Piaſters), während der ſpaniſche Alaun zwölf Realen koſtete. Dieſer Preisunterſchied rührte weit mehr von Vorurteilen und von Hemmungen im Handel her, als davon, daß der einheimiſche Alaun, der vor der Anwendung durchaus nicht gereinigt wird, von geringerer Güte wäre. Derſelbe kommt auch in der Glimmer- und Thon⸗ ſchieferkette an der Nordweſtküſte von Trinidad vor, ferner auf Margarita und beim Kap Chuparuparu nördlich vom Cerro del Deſtiladero. Die Indianer lieben von Natur das Geheimnis, und ſo verheimlichen ſie auch gern die Orte, wo ſie den natürlichen Alaun graben; das Mineral muß aber ziemlich reich ſein, denn ich habe in ihren Händen ganz anſehnliche Maſſen auf einmal geſehen. Es wäre für die Regierung von Belang, entweder das oben beſchriebene Mi— neral oder die Alaunſchiefer, die damit vorkommen, ordent⸗ lich abbauen zu laſſen. Letztere könnte man röſten und ſie zur Auslaugung an der glühenden tropiſchen Sonne gra— dieren. Südamerika erhält gegenwärtig ſeinen Alaun aus Europa, wie ihn Europa ſeinerſeits bis zum 15. Jahrhundert von den aſiatiſchen Völkern erhielt. Vor meiner Reiſe kannten die Mineralogen keine anderen Subſtanzen, aus denen man, ge: röſtet oder nicht, unmittelbar Alaun (ſchwefelſaures Alaunerde⸗ kali) gewann, als Gebirgsarten aus der Trachytformation und kleine Gänge, welche Schichten von Braunkohlen und bituminöſem Holz durchſetzen. Beide Subſtanzen, ſo verſchie— denen Urſprungs ſie ſind, enthalten alle Elemente des Alauns, — 283 — nämlich Thonerde, Schwefelſäure und Kali. Die alaunhaltigen Geſteine im Trachyt verſchiedener Länder rühren unzweifelhaft daher, daß ſchwefligſaure Dämpfe die Gebirgsart durchdrun⸗ gen haben. Sie find, wie man ſich in den Solfataren bei Pozzuoli und auf dem Pik von Tenerifa überzeugen kann, Produkte einer ſchwachen, lange andauernden vulkaniſchen Thätigkeit. Das Waſſer, das dieſe alaunhaltigen Gebirgs⸗ arten vulkaniſcher Herkunft durchdringt, ſetzt indeſſen kleine Maſſen natürlichen Alauns ab: zur Gewinnung desſelben müſſen die Geſteine geröſtet werden. Ich kenne nirgends Alaunniederſchläge, ähnlich denen, wie ich ſie aus Cumana mitgebracht; denn die baarförmigen und faſerigen Maſſen, die man in Gängen in Braunkohlenſchichten findet (an den Ufern der Eger, zwiſchen Saaz und Komotau in Böhmen) oder ſich in Hohlräumen (Freienwalde in Brandenburg, Segario in Sardinien) durch Auswitterung bilden, ſind unreine Salze, oft ohne Kali, vermengt mit ſchwefelſaurem Ammoniak und ſchwefelſaurer Bittererde. Eine langſame Zerſetzung der Schwefelkieſe, die vielleicht als ebenſoviele kleine galvaniſche Säulen wirken, macht die Gewäſſer, welche die Braunkohle und die Alaunerde durchziehen, alaunhaltig. Aehnliche chemiſche Vorgänge können nun aber in Ur: und Uebergangsſchiefern ſo gut wie in tertiären Bildungen ſtattfinden. Alle Schiefer, und dieſer Umſtand iſt ſehr wichtig, enthalten gegen fünf Prozent Kali, Schwefeleiſen, Eiſenperoxyd, Kohle u. ſ. w. So viele ungleichartige Stoffe, in gegenſeitiger Berührung und von Waſſer befeuchtet, müſſen notwendig Neigung haben, ſich nach Form und Zuſammenſetzung zu verändern. Die ausge⸗ witterten Salze, welche in der Schlucht Robalo die Alaun⸗ Veen in Menge bedecken, zeigen, wie ſehr dieſe chemiſchen Vorgänge durch die hohe Temperatur dieſes Klimas gefördert werden; aber — ich wiederhole es — in einem Geſtein ohne Spalten, ohne dem Streichen und Fallen ſeiner Schichten parallel laufende Hohlräume iſt ein natürlicher, ſeine Lager⸗ ſtätte völlig ausfüllender, halb durchſichtiger Alaun mit muſche⸗ ligem Bruch als gleichen Alters mit der einſchließenden Ge: birgsart zu betrachten. achdem wir lange in dieſer Einöde unter den völlig kahlen Felſen umhergeirrt, ruhten unſere Blicke mit Luſt auf den Malpighia⸗ und Krotonbüſchen, die wir auf dem Wege zur Küſte hinab trafen. Dieſe baumartigen Kroton waren ſogar zwei neue, durch ihren Habitus ſehr intereſſante, der — 284 — Halbinſel Araya allein angehörige Arten.! Wir kamen zu ſpät zur Laguna chica, um noch eine andere Bucht weiter oſtwärts, als Laguna grande oder del Olispo vielberufen, beſuchen zu können. Wir begnügten uns, dieſelbe von den ſie beherrſchenden Bergen herab zu bewundern. Außer den Häfen von Ferrol und Acapulco gibt es vielleicht keinen mehr von ſo ſonderbarer Bildung. Es iſt eine von Oſt nach Weſt 5 km lange, 1,8 km breite geſchloſſene Bucht. Die Glim— merſchieferfelſen, die den Hafen einſchließen, laſſen nur eine 490 m breite Einfahrt. Ueberall findet man 27 bis 36 m Waſſertiefe. Wahrſcheinlich wird die Regierung von Cumana dieſe geſchloſſene Bucht und die von Mochima, die 15 km oſtwärts von der ſchlechten Reede von Nueva Barcelona liegt, einmal zu benützen wiſſen. Navaretes Familie erwartete uns mit Ungeduld am Strand, und obgleich unſer Kanoe ein großes Segel führte, kamen wir doch erſt bei Nacht nach Maniquarez. Wir blieben nur noch vierzehn Tage in Cumana. Da wir alle Hoffnung aufgegeben hatten, ein Poſtſchiff aus Co— runa eintreffen zu ſehen, jo benützten wir ein amerikaniſches Fahrzeug, das in Nueva Barcelona Salzfleiſch lud, um es auf die Inſel Cuba zu bringen. Wir hatten 16 Monate auf dieſen Küſten und im Inneren von Venezuela zugebracht. Wir hatten zwar noch über 50000 Frank in Wechſeln auf die erſten Häuſer in der Havana; dennoch wären wir hinſichtlich der baren Mittel in großer Verlegenheit geweſen, wenn uns nicht der Statthalter von Cumana vorgeſchoſſen hätte, ſo viel wir verlangen mochten. Das Zartgefühl, mit dem Herr von Emparan ihm ganz unbekannte Fremde behandelte, verdient die höchſte Anerkennung und meinen lebhafteſten Dank. Ich erwähne dieſer Umſtände, die nur unſere Perſon betrafen, um die Reiſenden zu warnen, daß ſie ſich nicht zu ſehr auf den Verkehr unter den verſchiedenen Kolonieen desſelben Mutter— landes verlaſſen. Wie es im Jahre 1799 in Cumana und Caracas mit dem Handel ſtand, hätte man einen Wechſel leichter auf Cadiz und London ziehen können, als auf Gar: tagena de Indias, die Havana oder Veracruz. Am 16. No— vember verabſchiedeten wir uns von unſeren Freunden, um. nun zum drittenmal von der Mündung des Buſens von ! Croton argyrophyllus und marginatus. — 285 — Cariaco nach Nueva Barcelona überzufahren. Die Nacht war köſtlich kühl. Nicht ohne Rührung ſahen wir die Mondſcheibe zum letztenmal die Spitzen der Kokospalmen an den Ufern des Manzanares beleuchten. Lange hingen unſere Blicke an der weißlichen Küſte, wo wir uns nur ein einziges Mal über die Menſchen zu beklagen gehabt hatten. Der Seewind war ſo ſtark, daß wir nach nicht ganz ſechs Stunden beim Morro von Nueva Barcelona den Anker auswarfen. Das Fahrzeug, das uns nach der Havana bringen ſollte, lag ſegelfertig da. Siebenundzwanzigſtes Kapitel. Allgemeine Bemerkungen über das Verhältnis des neuen zum alten Kontinent. — Ueberfahrt von den Küſten von Venezuela nach der Havana. Als ich nach meiner Rückkehr nach Deutſchland den „Essai politique sur la nouvelle Espagne“ herausgab, veröffentlichte ich zugleich einen Teil des von mir über den Bodenreichtum von Südamerika geſammelten Materials. Dieſe vergleichende Schilderung der Bevölkerung, des Ackerbaues und des Handels aller ſpaniſchen Kolonieen wurde zu einer Zeit entworfen, wo große Mängel in der geſellſchaftlichen Ver: faſſung, das Prohibitivſyſtem und andere gleich verderbliche Mißgriffe in der Regierungskunſt die Entwickelung der Kultur niederhielten. Seit ich auseinandergeſetzt, welch unermeßliche Hilfsmittel den Völkern des gedoppelten Amerika durch ihre Lage an ſich und durch ihren Handelsverkehr mit Europa nr Aſien in Ausſicht ſtänden, ſobald ſie der Segnungen einer vernünftigen Freiheit genößen, hat eine der großen Um— wälzungen, welche von Zeit zu Zeit das Menſchengeſchlecht aufrütteln, die geſellſchaftlichen Zuſtände in den von mir durchreiſten gewaltigen Ländern umgewandelt. Gegenwärtig teilen ſich, kann man wohl ſagen, drei Völker europäiſcher Abkunft in das Feſtland der Neuen Welt: das eine, das mächtigſte, iſt germanischen Stammes, die beiden anderen ge: hören nach Sprache, Litteratur und Sitten dem lateiniſchen Europa an. Die Teile der Alten Welt, die am weiteſten ge— gen Weſten vorſpringen, die Iberiſche Halbinfel und die Briti— ſchen Inſeln, ſind auch diejenigen, deren Kolonieen die be— deutendſte Ausdehnung haben; aber ein 18000 km langer, nur von Nachkommen von Spaniern und Portugieſen bewohnter Küſtenſtrich legt Zeugnis dafür ab, wie hoch ſich die Völker der Halbinſel im 15. und 16. Jahrhundert durch ihre Unter: — 287 — nehmungen zur See über die anderen ſeefahrenden Völker ausge hatten. Die Verbreitung ihrer Sprachen von Kalifornien bis an den Rio de la Plata, auf dem Rücken der Kordilleren wie in den Wäldern am Amazonenſtrom iſt ein Denkmal nationalen Ruhms, das alle politiſchen Revo— lutionen überdauern wird. Gegenwärtig überwiegt die Bevölkerung des ſpaniſchen und portugieſiſchen Amerika die von engliſcher Raſſe ums Doppelte. Die franzöſiſchen, holländiſchen und däniſchen Be— ſitzungen auf dem neuen Kontinent ſind von geringem Um— fang; zählt man aber die Völker her, welche auf das Geſchick der anderen Halbkugel Einfluß äußern können, ſo ſind noch zwei nicht zu übergehen, einerſeits die Anſiedler ſlawiſcher Ab— kunft, die von der Halbinſel Alaska bis nach Kalifornien Niederlaſſungen ſuchen, andrerſeits die freien Afrikaner auf Hayti, welche wahr gemacht haben, was der Mailänder Rei— ſende Benzoni ſchon im Jahre 1545 vorausgeſagt. Daß die Afrikaner auf einer Inſel, zweieinhalbmal größer als Sizilien, im Schoße des Mittelmeeres der Antillen hauſen, macht ſie politiſch um ſo wichtiger. Alle Freunde der Menſchheit wün— ſchen aufrichtig, daß eine Civiliſation, welche wider alles Er— warten nach ſo viel Greueln und Blut Wurzel geſchlagen, ſich fort und fort entwickeln möge. Das ruſſiſche Amerika gleicht bis jetzt nicht ſowohl einer Ackerbaukolonie als einem der Kontore, wie ſie die Europäer zum Verderben der Ein— geborenen auf den Küſten von Afrika errichtet. Es beſteht nur aus Militärpoſten, aus Sammelplätzen für Fiſcher und ſibiriſche Jäger. Allerdings iſt es eine merkwürdige Erſchei⸗ nung, daß ſich der Ritus der griechiſchen Kirche auf einem Striche Amerikas feſtgeſetzt hat, und daß zwei Nationen, welche das Oſt- und das Weſtende von Europa bewohnen, Ruſſen und Spanier, Nachbarn werden auf einem Feſtlande, in das ſie auf entgegengeſetzten Wegen gekommen; aber beim halb wilden Zuſtand der Küſten von Ochotsk und Kamtſchatka, bei der Geringfügigkeit der Mittel, welche die aſiatiſchen Häfen liefern können, und bei der Art und Weiſe, wie bis jetzt die ſlawiſchen Kolonieen in der Neuen Welt verwaltet worden, müſſen dieſe noch lange in der Kindheit verharren. Da man nun bei nationalökonomiſchen Unterſuchungen gewöhnt iſt, nur Maſſen ins Auge zu faſſen, ſo ſtellt es ſich heraus, daß das amerikaniſche Feſtland eigentlich nur unter drei große Nationen von engliſcher, ſpaniſcher und portugieſiſcher Abkunft — 288 — geteilt iſt. Die erſte derſelben, die Anglo-Amerikaner, iſt zu⸗ gleich nach dem engliſchen Volk in Europa diejenige, welche ihre Flagge über die weiteſten Meeresſtrecken trägt. Ohne entlegene Kolonieen hat ſich ihr Handel zu einer Höhe aufge— ſchwungen, zu der niemals ein Volk der Alten Welt gelangt iſt, mit Ausnahme desjenigen, das ſeine Sprache, den Glanz ſeiner Litteratur, ſeine Arbeitsluſt, ſeinen Hang zur Freiheit und einen Teil ſeiner bürgerlichen Einrichtungen nach Nord— amerika hinübergetragen hat. Die engliſchen und portugieſiſchen Anſiedler haben nur die Europa gegenüberliegenden Küſten bevölkert; die Kaſtilianer dagegen ſind gleich zu Anfang der Eroberung über die Kette der Anden gedrungen und haben ſelbſt in den am weiteſten nach Weſt gelegenen Landſtrichen Niederlaſſungen gegründet. Nur dort, in Mexiko, Cundinamarca, Quito und Peru, fan: den ſie Spuren einer alten Kultur, ackerbauende Völker, blühende Reiche. Durch dieſen Umſtand, durch die raſche Zu— nahme einer eingeborenen Gebirgsbevölkerung, durch den faſt ausſchließlichen Beſitz großer Metallſchätze, und durch die Handelsverbindungen mit dem Indiſchen Archipel, die gleich mit dem Anfang des 16. Jahrhunderts in Gang kamen, er— hielten die ſpaniſchen Beſitzungen in Amerika ein ganz eigenes Gepräge. In den öſtlichen, von den engliſchen und portu— gieſiſchen Anſiedlern in Beſitz genommenen Landſtrichen waren die Eingeborenen umherziehende Jägervölker. Statt wie auf der Hochebene von Anahuac, in Guatemala und im oberen Peru, einen Beſtandteil der arbeitſamen, ackerbauenden Be⸗ völkerung zu bilden, zogen ſie ſich vor den vorrückenden Weißen größtenteils zurück. Man brauchte Arbeiterhände, man baute vorzugsweiſe Zuckerrohr, Indigo und Baumwolle, und dies, mit der Habſucht, welche ſo oft die Begleiterin des Ge— werbefleißes iſt und ſein Schandfleck, führte den ſchändlichen Negerhandel herbei, der in ſeinen Folgen für beide Welten gleich verderblich geworden iſt. Zum Glück iſt auf dem Feſt— lande von Spaniſch-Amerika die Zahl der afrikaniſchen Sklaven fo unbedeutend, daß ſie ſich zur Sklavenbevölkerung in Bra— ſilien und in den ſüdlichen Teilen der Vereinigten Staaten wie 1 zu 5 verhält. Die geſamten ſpaniſchen Kolonieen, mit Einſchluß der Inſeln Cuba und Portorico, haben auf einem Areal, das mindeſtens um ein Fünftel größer iſt als Europa, nicht ſo viel Neger als der Staat Virginien allein. Mit den vereinigten Ländern Neuſpanien und Guatemala — 289 — liefern die Hiſpano⸗Amerikaner das einzige Beiſpiel im heißen Erdſtrich, daß eine Nation von acht Millionen nach euro— päiſchen Geſetzen und Einrichtungen regiert wird, Zucker, Kakao, Getreide und Wein zumal baut, und faſt keine Skla⸗ ven beſitzt, die dem Boden von Afrika gewaltſam entführt worden. Die Bevölkerung des neuen Kontinents iſt bis jetzt kaum etwas ſtärker als die von Frankreich oder Deutſchland. In den Vereinigten Staaten verdoppelt fie ſich in 23 bis 25 Jah- ren; in Mexiko hat ſie ſich, ſogar unter der Herrſchaft des Mutterlandes, in 40 bis 45 Jahren verdoppelt. Ohne der Zukunft allzuviel zuzutrauen, läßt ſich annehmen, daß in weniger als anderthalbhundert Jahren Amerika ſo ſtark be— völkert ſein wird als Europa. Dieſer ſchöne Wetteifer in der Kultur, in den Künſten des Gewerbefleißes und des Handels wird keineswegs, wie man ſo oft prophezeien hört, den alten Kontinent auf Koſten des neuen ärmer machen; er wird nur die Konſumtionsmittel und die Nachfrage danach, die Maſſe der produktiven Arbeit und die Lebhaftigkeit des Austauſches ſteigern. Allerdings iſt infolge der großen Um: wälzungen, denen die menſchlichen Geſellſchaftsvereine unter— liegen, das Geſamtvermögen, das gemeinſchaftliche Erbgut der Kultur, unter die Völker beider Welten ungleich verteilt; aber allgemach ſtellt ſich das Gleichgewicht her, und es iſt ein verderbliches, ja ich möchte ſagen gottloſes Vorurteil, zu meinen, es ſei ein Unheil für das alte Europa, wenn auf irgend einem anderen Stück unſeres Planeten der öffentliche Wohlſtand gedeiht. Die Unabhängigkeit der Kolonieen wird nicht zur Folge haben, ſie zu iſolieren, ſie werden vielmehr dadurch den Völkern von alter Kultur näher gebracht werden. Der Handel wirkt naturgemäß dahin, zu verbinden, was eifer— ſüchtige Staatskunſt ſo lange auseinander gehalten. Noch mehr: es liegt im Weſen der Civiliſation, daß ſie ſich aus⸗ breiten kann, ohne deshalb da, von wo ſie ausgegangen, zu erlöſchen. Ihr allmähliches Vorrücken von Oſt nach Weſt, von Aſien nach Europa, beweiſt nichts gegen dieſen Satz. Ein ſtarkes Licht behält ſeinen Glanz, auch wenn es einen größe⸗ ren Raum beleuchtet. Geiſtesbildung, die fruchtbare Quelle des Nationalwohlſtands, teilt ſich durch Berührung mit; ſie breitet ſich aus, ohne von der Stelle zu rücken. Ihre Be⸗ wegung vorwärts iſt keine Wanderung; im Orient kam uns dies nur ſo vor, weil barbariſche Horden ſich Aegyptens, Klein— A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 19 — 290 — aſiens bemächtigt hatten, und Griechenlands, des einſt freien, der verlaſſenen Wiege der Kultur unſerer Väter. Die Verwilderung der Völker iſt eine Folge der Unter⸗ drückung durch einheimiſchen Deſpotismus oder durch einen fremden Eroberer; mit ihr Hand in Hand geht immer ſtei— gende Verarmung), Verſiegung des öffentlichen Wohlſtandes. Freie, ſtarke, den Intereſſen aller entſprechende Staatsformen halten dieſe Gefahren fern, und die Zunahme der Kultur in der Welt, die Mitwerbung in Arbeit und Austauſch bringen Staaten nicht herab, deren Gedeihen aus natürlicher Quelle fließt. Das gewerbfleißige und handeltreibende Europa wird aus der neuen Ordnung der Dinge, wie ſie ſich im ſpaniſchen Amerika geſtaltet, ſeinen Nutzen ziehen, wie ihm die Steige— rung der Konſumtion zu gute käme, wenn der Weltlauf der Barbarei in Griechenland, auf der Nordküſte von Afrika und in allen Ländern, auf denen die Tyrannei der Osmanen laſtet, ein Ende machte. Die einzige Gefahr, die den Wohl— ſtand des alten Kontinents bedrohte, wäre, wenn die inneren Zwiſte kein Ende nähmen, welche die Produktion niederhalten und die Zahl der Verzehrenden und zu gleicher Zeit deren Bedürfniſſe verringern. Im ſpaniſchen Amerika geht der Kampf, der ſechs Jahre, nachdem ich es verlaſſen, ausge— brochen, allmählich ſeinem Ende entgegen. Bald werden wir unabhängige, unter ſehr verſchiedenen Verfaſſungsformen lebende, aber durch das Andenken gemeinſamer Herkunft, durch dieſelbe Sprache und durch die Bedürfniſſe, wie ſie von ſelbſt aus der Kultur entſpringen, verknüpfte Völker auf beiden Ufern des Atlantiſchen Ozeans wohnen ſehen. Man kann wohl ſagen, durch die ungeheuren Fortſchritte in der Schiffahrtskunſt ſind die Meeresbecken enger geworden. Schon jetzt erſcheint unſeren Blicken das Atlantiſche Meer als ein ſchmaler Kanal, der die Neue Welt und die euro— päiſchen Handelsſtaaten nicht weiter auseinander hält, als in der Kindheit der Schiffahrt das Mittelmeer die Griechen im Peloponnes und die in Jonien, auf Sizilien und in Cyrenaika auseinander hielt. Allerdings wird noch manches Jahr vergehen, bis 17 Mil lionen, über eine Länderſtrecke zerſtreut, die um ein Fünftel größer iſt als ganz Europa, durch Selbſtregierung zu einem feſten Gleichgewicht kommen. Der eigentlich kritiſche Zeit— punkt iſt der, wo es lange Zeit unterjochten Völkern auf einmal in die Hand gegeben iſt, ihr Leben nach den Erfor— — 291 — derniſſen ihres Wohlergehens einzurichten. Man hört immer wieder behaupten, die Hiſpano-Amerikaner ſeien für freie In— ſtitutionen nicht weit genug in der Kultur vorgeſchritten. Es iſt noch nicht lange her, ſo ſagte man dasſelbe von anderen Völkern aus, bei denen aber die Civiliſation überreif ſein ſollte. Die Erfahrung lehrt, daß bei Nationen wie beim einzelnen das Glück 1 5 Talent und Wiſſen beſtehen kann; aber ohne leugnen zu wollen, daß ein gewiſſer Grad von Aufklärung und Volksbildung zum Beſtand von Republiken und konſtitutionellen Monarchieen unentbehrlich iſt, ſind wir der Anſicht, daß dieſer Beſtand lange nicht ſo ſehr vom Grade der geiſtigen Bildung abhängt, als von der Stärke des Volkscharakters, vom Verein von Thatkraft und Ruhe, von Leidenſchaftlichkeit und Geduld, der eine Verfaſſung auf— recht und am Leben erhält, ferner von den örtlichen Zu— ſtänden, in denen ſich das Volk befindet, und von den politi— 855 Verhältniſſen zwiſchen einem Staate und ſeinen Nachbar— taaten. Wenn die heutigen Kolonieen nach ihrer Emanzipation mehr oder weniger zu republikaniſcher Verfaſſungsform hin— neigen, ſo iſt die Urſache dieſer Erſcheinung nicht allein im Nachahmungstrieb zu ſuchen, der bei Volksmaſſen noch mäch— tiger iſt als beim einzelnen; ſie liegt vielmehr zunächſt im eigen— tümlichen Verhältnis, in dem eine Geſellſchaft ſich befindet, die ſich auf einmal von einer Welt mit älterer Kultur los— getrennt, aller äußeren Bande entledigt ſieht und aus Indi— viduen beſteht, die nicht einer Kaſte das Uebergewicht im Staate zugeſtehen. Durch die Vorrechte, welche das Mutter— land einer ſehr beſchränkten Anzahl von Familien in Amerika erteilte, hat ſich dort durchaus nicht gebildet, was in Europa eine Adelsariſtokratie heißt. Die Freiheit mag in Anarchie oder durch die vorübergehende Uſurpation eines verwegenen Parteihauptes zu Grunde gehen, aber die wahren Grundlagen der Monarchie ſind im Schoße der heutigen Kolonieen nir— gends zu finden. Nach Braſilien wurden ſie von außen her: eingebracht zur Zeit, da dieſes gewaltige Land des tiefſten Friedens genoß, während das Mutterland unter ein fremdes Joch geraten war. Ueberdenkt man die Verkettung menſchlicher Geſchicke, ſo ſieht man leicht ein, wie die Exiſtenz der heutigen Kolonieen, oder vielmehr wie die Entdeckung eines halb menſchenleeren Kontinents, auf dem allein eine ſo erſtaunliche Entwickelung — 292 — des Kolonialſyſtems möglich war, republikaniſche Staatsformen in großem Maßſtab und in ſo großer Zahl wieder ins Leben rufen mußte. Nach der Anſchauung berühmter Schriftſteller ſind die Umwandlungen auf dem Boden der Geſellſchaft, welche ein bedeutender Teil von Europa in unſeren Tagen erlitten hat, eine Nachwirkung der religiöſen Reform zu An— fang des 16. Jahrhunderts. Es iſt nicht zu vergeſſen, daß in dieſe denkwürdige Zeit, in der ungezügelte Leidenſchaften und der Hang zu ſtarren Dogmen die Klippen der euro— päiſchen Staatskunſt waren, auch die Eroberung von Mexiko, Peru und Cundinamarca fällt, eine Eroberung, durch die, wie ſich der Verfaſſer des Esprit des lois ſo ſchön ausdrückt, das Mutterland eine unermeßliche Schuld auf ſich genommen, die es der Menſchheit abzutragen hat. Ungeheure Provinzen wurden durch kaſtilianiſche Tapferkeit den Anſiedlern aufge— than und durch die Bande gemeinſamer Sprache, Sitte und Gottesverehrung verknüpft. Und ſo hat denn durch das merk— würdigſte Zuſammentreffen von Ereigniſſen die Regierung des mächtigſten und unumſchränkteſten Monarchen Europas, Karls V., die Keime ausgeſtreut zum Kampfe des 19. Jahr: hunderts und den Grund gelegt zu den ſtaatlichen Vereinen, die, eben erſt ins Leben getreten, uns durch ihren Umfang und die Gleichförmigkeit der dabei herrſchenden Grundſätze in Erſtaunen ſetzen. Befeſtigt ſich die Emanzipation des fpani- ſchen Amerika, wie man bis jetzt mit allem Grund hoffen darf, ſo ſieht ein Meeresarm, der Atlantiſche Ozean, auf ſeinen beiden Ufern Regierungsformen, die, ſo grundverſchieden ſie ſind, einander nicht notwendig feindſelig gegenübertreten. Nicht allen Völkern beider Welten mag dieſelbe Verfaſſung zum Heile gereichen; der wachſende Wohlſtand einer Republik iſt kein Schimpf für monarchiſche Staaten, ſolange ſie mit Weisheit und Achtung vor den Geſetzen und öffentlichen Frei⸗ heiten regiert werden. Seit die Entwickelung der Schiffahrtskunſt und die ſich ſteigernde Thätigkeit der Handelsvölker die Küſten der beiden Feſtländer einander näher gerückt haben, ſeit die Havana, Rio Janeiro und der Senegal uns kaum entlegener vor⸗ kommen als Cadiz, Smyrna und die Häfen des Baltiſchen Meeres, nimmt man Anſtand, die Leſer mit einer Ueberfahrt von der Küſte von Caracas nach der Inſel Cuba zu behelligen. Das Meer der Antillen iſt ſo bekannt wie das Becken des Mittelmeeres, und wenn ich hier aus meinem Seetagebuch — 293 — einige Beobachtungen niederlege, ſo thue ich es nur, um den Faden meiner Reiſebeſchreibung nicht zu verlieren und allge— meine Betrachtungen über Meteorologie und phyſiſche Geo— graphie daran zu knüpfen. Um die wechſelnden Zuſtände der Atmoſphäre recht kennen zu lernen, muß man am Ab— hang der Gebirge und auf der unermeßlichen Meeresfläche beobachten; in einem Forſcher, der ſeinen Scharfſinn im Be— fragen der Natur lange in ſeinem Studierzimmer geübt hat, mögen ſchon auf der kleinſten Ueberfahrt, auf einer Reiſe von den Kanarien nach Madeira, ganz neue Anſichten ſich geſtalten. Am 24. November um 9 Uhr abends gingen wir auf der Reede von Nueva Barcelona unter Segel und fuhren um die kleine Felſeninſel Borrachita herum. Zwiſchen derſelben und Gran Borracha iſt eine tiefe Straße. Die Nacht brachte die Kühle, welche den tropiſchen Nächten eigen iſt und einen angenehmen Eindruck macht, von dem man ſich erſt Rechen— ſchaft geben kann, wenn man die nächtliche Temperatur von 23 bis 24° des hundertteiligen Thermometers mit der mitt: leren Tagestemperatur vergleicht, die in dieſen Strichen, ſelbſt auf den Küſten, meiſt 28 bis 29“ beträgt. Tags darauf, kurz nach der Beobachtung um Mittag, befanden wir uns im Meridian der Inſel Tortuga; ſie iſt, gleich den Eilanden Coche und Cubagua, ohne Pflanzenwuchs und erhebt ſich auf— fallend wenig über den Meeresſpiegel. Da man in neueſter Zeit über die aſtronomiſche Lage von Tortuga Zweifel ge— äußert hat, ſo bemerke ich hier, daß Louis Berthouds Chrono— meter mir für den Mittelpunkt der Inſel 0% 49“ 40“ weſt— wärts von Nueva Barcelona ergab; dieſe Länge iſt aber doch wohl noch ein wenig zu weit weſtlich. Am 26. November. — Windſtille, auf die wir um ſo weniger gefaßt waren, da der Oſtwind in dieſen Strichen von Anfang November an meiſt ſehr ſtark iſt, während vom Mai bis Oktober von Zeit zu Zeit die Nordweſt- und die Südwinde auftreten. Bei Nordweſtwind bemerkt man eine Strömung von Weſt nach Oſt, welche zuweilen zwei, drei Wochen lang die Fahrt von Cartagena nach Trinidad be— ſchleunigt. Der Südwind gilt auf der ganzen Küſte von Terra Firma für ſehr ungeſund, weil er (ſo ſagt das Volk) die faulichten Effluvien aus den Wäldern am Orinoko her— führt. Gegen 9 Uhr morgens bildete ſich ein ſchöner Hof um die Sonne, und im ſelben Moment fiel in der tiefen Luft— — 294 — region der Thermometer plötzlich um 3 ½ „. War dieſes Fallen die Folge eines niedergehenden Luftſtroms? Der 1° breite Streif, der den Hof bildete, war nicht weiß, ſondern hatte die lebhafteſten Regenbogenfarben, während das Innere des Hofes und das ganze Himmelsgewölbe blau waren ohne eine Spur von Dunſt. Wir verloren nachgerade die Inſel Margarita aus dem Geſicht, und ich verſuchte die Höhe der Felskuppe Ma— canao zu beſtimmen. Sie erſchien unter einem Winkel von 0° 16° 35“, woraus ſich beim geſchätzten Abſtand von 112 km für den Glimmerſchieferſtock Macanao eine Höhe von etwa 1286 m ergäbe, und dieſes Reſultat läßt mich in einem Erdſtrich, wo die irdiſchen Refraktionen ſo gleichförmig ſind, vermuten, daß wir uns nicht ſo weit von der Inſel befanden, als wir meinten. Die Kuppel der Silla bei Caracas, die in Süd 62“ Weſt liegen blieb, feſſelte lange unſeren Blick. Mit Vergnügen betrachtet man den Gipfel eines hohen Berges, den man nicht ohne Gefahr beſtiegen hat, wie er nach und nach unter den Horizont ſinkt. Wenn die Küſte dunſtfrei iſt, muß die Silla auf hoher See, den Einfluß der Refraktion nicht gerechnet, auf 55 km zu ſehen ſein. An dieſem und den folgenden Tagen war die See mit einer bläulichen Haut bedeckt, die unter dem zuſammengeſetzten Mikroſkop aus zahl— loſen Fäden zu beſtehen ſchien. Man findet dergleichen Fäden häufig im Golfſtrom und im Kanal von Bahama, ſowie im Seeſtrich von Buenos Ayres. Manche Naturforſcher halten ſie für Reſte von Molluskeneiern, mir ſchienen ſie vielmehr zerriebene Algen zu ſein. Indeſſen ſcheint das Leuchten der See durch ſie geſteigert zu werden, namentlich zwiſchen dem 28. und 30. Grad der Breite, was allerdings auf tieriſchen Urſprung hindeutete. Am 27. November. Wir rückten langſam auf die Inſel Orchila zu; wie alle kleinen Eilande in der Nähe der frucht— baren Küſte von Terra Firma iſt ſie unbewohnt geblieben. Ich fand die Breite des nördlichen Vorgebirges 11° 51’ 44 und die Länge des öſtlichen Vorgebirges 68“ 26° 5“ (Nueva Barcelona zu 6748“ angenommen). Dem weſtlichen Kap gegenüber liegt ein Fels, an dem ſich die Wellen mit ſtarkem Getöſe brechen. Einige mit dem Sextanten aufgenommene Winkel ergaben für die Länge der Inſel von Oſt nach Weſt 15,6 km, für die Breite kaum 6 km. Die Inſel Orchila, die ich mir nach ihrem Namen als ein dürres, mit Flechten — 295 — bedecktes Eiland vorgeſtellt hatte, zeigte ſich jetzt in ſchönem Grün; die Gneishügel waren mit Gräſern bewachſen. Im geologiſchen Bau ſcheint Orchila im kleinen mit der Inſel Margarita übereinzukommen; ſie beſteht aus zwei, durch eine Landzunge verbundenen Felsgruppen; jene iſt ein mit Sand bedeckter Iſthmus, der ausſieht, als wäre er beim allmählichen Sinken des Meeresſpiegels aus dem Waſſer geſtiegen. Die Felſen erſchienen hier, wie überall, wo ſie ſich einzeln ſteil aus der See erheben, weit höher als ſie wirklich ſind; ſie ſind kaum 155 bis 175 m hoch. Gegen Nordweſt ſtreicht die Punta rasa hinaus und verliert ſich als Untiefe im Waſſer. Sie kann den Schiffen gefährlich werden, wie auch der Mo gote, der, 4 km vom weſtlichen Kap, von Klippen umgeben iſt. Wir betrachteten die Felſen ganz in der Nähe und ſahen die Gneisſchichten nach Nordweſt fallen und von dicken Quarzlagern durchzogen. Von der Verwitterung dieſer Lager rührte ohne Zweifel der Sand des umgebenden Strandes her. Ein paar Baumgruppen beſchatten die Gründe; oben auf den Hügeln ſtehen Palmen mit fächerförmigem Laub. Es iſt wahrſcheinlich die Palma de Sombrero der Llanos (Corypha tectorum). Es regnet wenig in dieſen Strichen, indeſſen fände man auf der Inſel Orchila wahrſcheinlich doch einige Quellen, wenn man ſie ſo eifrig ſuchte, wie im Glim⸗ merſchiefergeſtein auf Punta Araya. Wenn man bedenkt, wie viele dürre Felſeneilande zwiſchen dem 16. und 26. Grad der Breite im Archipel der Kleinen Antillen und der Bahamainſeln bewohnt und gut angebaut ſind, ſo wundert man ſich, dieſe den Küſten von Cumana, Barcelona und Caracas io nahe gelegenen Eilande wüſte liegen zu ſehen. Es wäre längſt anders, wenn ſie unter einer andern Regierung als unter der von Terra F Firma ſtänden. Nichts kann Menſchen veranlaſſen, ihre Thätigkeit auf den engen Bezirk einer Inſel zu be ſchrän⸗ ken, wenn das nahe Feſtland ihnen größere Vorteile bietet. Bei Sonnenuntergang kamen uns die zwei Spitzen der Roca de afuera zu Geſicht, die ſich wie Türme aus der See erheben. Nach der Aufnahme mit dem Kompaß liegt der öſtlichſte dieſer Felſen 0° 19° weſtwärts vom weſtlichen Kap von Orchila. Die Wolken blieben lange um dieſe Inſel geballt, ſo daß man ihre Lage weit in See erkannte. Der Einfluß, den eine kleine Landmaſſe auf die Verdichtung der 1560 m hoch ſchwebenden Waſſerdünſte äußert, iſt eine ſehr auffallende Erſcheinung, aber allen Seefahrern wohl bekannt. — 296 — Durch dieſe Anſammlung von Wolken erkennt man die Lage der niedrigſten Inſeln in ſehr bedeutender Entfernung. Am 29. November. Bei Sonnenaufgang ſahen wir faſt dicht am Meereshorizont die Kuppel der Silla bei Caracas noch ganz deutlich. Wir glaubten 175 bis 180 km davon entfernt zu ſein, woraus, die Höhe des Berges (2630 m), ſeine aſtronomiſche Lage und den Schiffsort als richtig be— ſtimmt angenommen, eine für dieſe Breite etwas ſtarke Re⸗ fraktion zwiſchen /e und ½ folgte. Um Mittag verkündeten alle Zeichen am Himmel gegen Nord einen Witterungswechſel; die Luft kühlte ſich auf einmal auf 22,8 ab, während die See an der Oberfläche eine Temperatur von 25,6“ behielt. Während der Beobachtung um Mittag brachten daher auch die Schwingungen des Horizontes, der von ſchwarzen Streifen oder Bändern von ſehr veränderlicher Breite durchzogen war, einen Wechſel von 3 bis 4 Minuten in der Refraktion hervor. Bei ganz ſtiller Luft fing die See an hoch zu gehen; alles deutete auf einen Sturm zwiſchen den Kaimanseilanden und dem Kap San Antonio. Und wirklich ſprang am 30. No⸗ vember der Wind auf einmal nach Nord-Nord-Oſt um und die Wogen wurden ausnehmend hoch. Gegen Nord war der Himmel ſchwarzblau, und unſer kleines Fahrzeug ſchlingerte um ſo ſtärker, da man im Anſchlagen der Wellen zwei ſich kreuzende Seen unterſchied, eine aus Nord, eine andere aus Nord-Nord-⸗Oſt. Auf 2 km weit bildeten ſich Waſſerhoſen und liefen raſch von Nord-Nord-Oſt nach Nord-Nord-Weſt. So oft die Waſſerhoſe uns am nächſten kam, fühlten wir den Wind ſtärker werden. Gegen Abend brach durch die Unvorſichtigkeit unſeres aride en Kochs Feuer auf dem Oberleuf aus. Es wurde leicht gelöſcht; bei ſehr ſchlimmem Wetter mit Windſtößen, und da wir Fleiſch geladen hatten, das des Fettes wegen ungemein leicht brennt, hätte das Feuer raſch um ſich greifen können. Am 1. Dezember morgens wurde die See allmählich ruhiger, je mehr ſich der Wind in Nordoſt feſtſetzte. Ich war zu dieſer Zeit des gleichförmigen Ganges meines Chronometers ziemlich gewiß; der Kapitän wollte aber zur Beruhigung einige Punkte der Inſel Domingo peilen. Am 2. Dezember kam wirklich Kap Beata in Sicht, an einem Punkte, wo wir ſchon lange Wolkenhaufen geſehen hatten. Nach Höhen des Achernar, die ich in der Nacht aufnahm, waren wir 118 km davon entfernt. In dieſer Nacht be⸗ obachtete ich eine ſehr intereſſante optiſche Erſcheinung, die — 297 — ich aber nicht zu erklären verſuche. Es war über 12 ½ Uhr; der Wind wehte ſchwach aus Oſt; der Thermometer ſtand auf 23,2, der Fiſchbeinhygronometer auf 57. Ich war auf dem Oberleuf geblieben, um die Kulmination einiger großen Sterne zu beobachten. Der volle Mond ſtand ſehr hoch. Da auf einmal bildete ſich auf der Seite des Mondes, 45 Minuten vor ſeinem Durchgang durch den Meridian, ein großer Bogen in allen Farben des Spektrums, aber unheimlich anzuſehen. Der Bogen reichte über den Mond hinauf; der Streifen in den Farben des Regenbogens war gegen 2° breit und feine Spitze ſchien etwa 80 bis 85% über dem Meereshorizont zu liegen. Der Himmel war vollkommen rein, von Regen keine Spur; am auflfallendſten war mir aber, daß die Erſcheinung, die vollkommen einem Mondregenbogen glich, ſich nicht dem Monde gegenüber zeigte. Der Bogen blieb 8 bis 10 Minuten, ſcheinbar wenigſtens, unverrückt; im Moment aber, wo ich verſuchte, ob er durch Reflexion im Spiegel des Sextanten zu ſehen ſein werde, fing er an ſich zu bewegen und über den Mond und Jupiter, der nicht weit unterhalb des Mondes ſtand, hinabzurücken. Es war 12 Uhr 54 Minuten (wahre Zeit), als die Spitze des Bo— gens unter dem Horizont verſchwand. Dieſe Bewegung eines farbigen Bogens ſetzte die wachhabenden Matroſen auf dem Oberleuf in Erſtaunen; ſie behaupteten, wie beim Erſcheinen jedes auffallenden Meteors, „das bedeute Sturm“. Arago hat die Zeichnung dieſes Bogens in meinem Reiſetagebuche unterſucht; nach ſeiner Anſicht hätte das im Waſſer reflektierte Bild des Mondes keinen Hof von ſo großem Durchmeſſer geben können. Die Raſchheit der Bewegung iſt ein weiteres Moment, das dieſe Erſcheinung, die alle Beachtung verdient, ebenſo ſchwer erklärlich macht. Am 3. Dezember. Man war unruhig, weil ſich ein Fahrzeug ſehen ließ, das man für einen Kaper hielt. Als es auf uns zukam, ſah man, daß es die Balandra del Frayle (Goelette des Mönchs) war. Was eine ſo ſeltſame Benennung ſagen wollte, war mir unklar. Es war aber nur das Fahrzeug eines Miſſionärs vom Franziskanerorden (Frayle Observante), eines ſehr reichen Pfarrers eines indianiſchen Dorfes in den Llanos von Barcelona, der ſeit mehreren Jahren einen kleinen, ziemlich einträglichen Schmuggelhandel mit den däniſchen Inſeln trieb. In der Nacht ſahen Bon⸗ pland und mehrere andere Paſſagiere auf eine Viertelsſeemeile — 298 — unter dem Wind eine kleine Flamme an der Meeresfläche, die gegen Südweſt fortlief und die Luft erhellte. Man ſpürte keinen Erdſtoß, keine Aenderung in der Richtung der Wellen. War es ein phosphoriſcher Schein, den eine große Maſſe faulender Mollusken verbreitete, oder kam die Flamme vom Meeresboden herauf, wie ſolches zuweilen in von Vulkanen erſchütterten Seeſtrichen beobachtet worden ſein ſoll? Letztere Annahme ſcheint mir durchaus unwahrſcheinlich. Vulkaniſche Flammen können nur dann aus den Wellen hervorbrechen, wenn der feſte Boden des Meeres bereits emporgehoben iſt, ſo daß Flammen und glühende Schlacken aus dem oberen ge— wölbten und zerklüfteten Teil hervorkommen und nicht durch das Waſſer ſelbſt hindurchgehen. Am 4. Dezember. Um 10% Uhr morgens befanden wir uns unter dem Meridian des Vorgebirges Bacco (Punta Abaccu), deſſen Länge ich gleich 7657 50“ oder 9983“ 2“ von Nueva Barcelona fand. Im 1 laufen, nach dem alten Brauche der ſpaniſchen Schiffer, die Fahrzeuge, die zwiſchen Cumana oder Barcelona und der Havana mit Salz- fleiſch Handel treiben, durch den Kanal von Portorico und über „den alten“ Kanal nördlich von Cuba; zuweilen gehen ſie auch zwiſchen Kap Tiburon und Kap Morant durch und fahren an der Nordküſte von Jamaika hin. In Kriegszeiten gelten dieſe Wege für gleich gefährlich, weil man zu lange im Angeſicht des Landes bleibt. Aus Furcht vor den Kapern fuhren wir daher, ſobald wir den Parallel von 17° erreicht hatten, gerade über die Bank Vibora hin, bekannter unter dem Namen Pedro Shoals. Dieſe Bank iſt über 1000 qkm groß und ihr Umriß fällt dem Geologen ſtark ins Auge, weil derſelbe mit dem des benachbarten Jamaika jo große Aehn⸗ lichkeit hat. Es iſt, als hätte eine Erhebung des Meeres— bodens die Waſſerfläche nicht erreichen können, um ſofort eine Inſel zu bilden, faſt ſo groß wie Portorico. Seit dem 5. Dezember glaubten die Steuerleute in großer Entfernung nacheinander die Ranaseilande (Morant Kays), Kap Portland und Pedro Kays zu peilen. Wahrſcheinlich irrte man ſich bei mehreren dieſer Peilungen vom Maſtkorbe aus; ich habe dieſer Beſtimmungen anderswo Erwähnung gethan, nicht um ſie gegen die Beobachtungen geübter engliſcher Seefahrer in dieſen ſtark befahrenen Seeſtrichen aufzuſtellen, ſondern allein, Observations astronomiques, T. I, p. XLIII, T. II, p. 710 — 299 — um die Punkte, die ich in den Wäldern am Orinoko und im Archipel der Antillen beſtimmt, zu einem Syſtem von Be— obachtungen zu verknüpfen. Die milchige Farbe des Waſſers zeigte uns an, daß wir uns am öſtlichen Rande der Bank befanden; der hundertteilige Thermometer, der an der Meeres— fläche, weit ab von der Bank ſeit mehreren Tagen auf 27° und 27,3° geſtanden hatte (bei einer Lufttemperatur von 21,20) fiel nel auf 25,7%. Das Wetter war vom 4. bis zum 6. Dezember ſehr ſchlecht; es regnete in Strömen, in der Ferne tobte ein Gewitter und die Windſtöße aus Nord⸗Nord⸗ Weſt wurden immer heftiger. In der Nacht befanden wir uns eine Zeitlang in einer ziemlich bedenklichen Lage. Man hörte vor dem Vorderteil die See an Klippen branden, auf die das Schiff zulief. Bei phosphoriſchem Schein des ſchäu— menden Meeres ſah man, in welcher Richtung die Riffe lagen. Das ſah faſt aus wie der Raudal von Garcita und andere Stromſchnellen, die wir im Bett des Orinoko geſehen. Der Kapitän ſchob die Schuld weniger auf die Nachläſſigkeit des Steuermanns als auf die Mangelhaftigkeit der Seekarten. Es gelang das Schiff zu wenden, und in weniger als einer Viertelſtunde waren wir außer aller Gefahr, das Senkblei zeigte zuerſt 16,5, dann 22, dann 27 m. Wir legten die Nacht vollends bei; der Nordwind drückte den Thermometer auf 19,7 (15,7° Reaumur) herab. Am anderen Tage fand ich nach chronometriſcher Beobachtung in Verbindung mit der korrigierten Schätzung vom vorigen Tag, daß jene Klippen ungefähr unter 16° 50° der Breite und 80° 43° 49“ der Länge liegen. Die Klippe, an der das ſpaniſche Schiff El Monarca im Jahre 1798 beinahe zu Grunde gegangen wäre, liegt unter 16° 44° der Breite und 8023“ der Länge, alſo viel weiter gegen Oſt. Während wir von Süd-Süd-Oſt nach Nord— Nord⸗Weſt über die Bank Vibora fuhren, verſuchte ich es oft, die Temperatur des Meerwaſſers an der Oberfläche zu meſſen. Mitten auf der Bank war die Abkühlung nicht ſo ſtark als an den Rändern, was wir den Strömungen zuſchrieben, die in dieſen Strichen die Waſſer verſchiedener Breiten miſchen. Südwärts von Pedro Kays zeigte die Meeresfläche bei 45 m Tiefe 26,4“, bei 27 m Tiefe 26,2%. Oeſtlich von der Bank war die Temperatur der See 26, 8 geweſen. Diele Ver: ſuche können in dieſen Strichen nur dann genaue Reſultate geben, wenn man ſie zu einer Zeit anſtellt, wo der Wind nicht aus Nord bläſt und die Strömungen nicht ſo ſtark ſind. — 8098 Die Nordwinde und die Strömungen kühlen nach und nach das Waſſer ab, ſelbſt wo die See ſehr tief iſt. Südwärts vom Kap Corrientes unter 20° 43° der Breite fand ich die Temperatur des Meeres an der Oberfläche 24,6“, die der Luft 19,8“. Manche amerikaniſche Schiffer verſichern, zwiſchen den Bahamainſeln merken ſie oft, wenn ſie in der Kajüte ſitzen, ob ſie ſich über Untiefen befinden; ſie behaupten, die Lichter bekommen kleine Höfe in den Regenbogenfarben und die ausgeatmete Luft verdichte ſich zu ſichtbarem Dunſt. Letz teres Faktum iſt denn doch wohl zu bezweifeln; unterhalb dem 30. Grad der Breite iſt die Erkältung durch das Waſſer der Untiefen nicht bedeutend genug, um dieſe Erſcheinung hervorzubringen. Während wir über die Bank Vibora liefen, war der Zuſtand der Luft ganz anders, als gleich nachdem wir ſie verlaſſen hatten. Der Regen hielt ſich innerhalb der Grenzen der Bank, und wir konnten von ferne ihren Umriß an den Dunſtmaſſen erkennen, die darauf lagerten. Am 9. Dezember. Je näher wir den Kaimanseilanden! kamen, deſto ſtärker wurde wieder der Nordoſtwind. Trotz des ſtürmiſchen Wetters konnte ich einige Sonnenhöhen auf— nehmen, als wir uns auf 22 km Entfernung im Meridian des Gran-Kaiman, der mit Kokosbäumen bewachſen iſt, zu befinden glaubten. Ich habe anderswo die Lage des Gran-Kaiman und der beiden Eilande oſtwärts von demſelben erörtert. Seit lange ſind dieſe Punkte auf unſeren hydrographiſchen Karten ſehr unſicher, und ich fürchte, nicht glücklicher geweſen zu ſein als andere Beobachter, die ihre wahre Lage ausge— macht zu haben glaubten. Die ſchönen Karten des Depoſito zu Madrid gaben dem Oſtkap von Gran-Kaiman zu verſchie— denen Zeiten 82° 58° (von 1795 bis 1804), 83° 43° (1809), wieder 8259“ (1821). Letztere Angabe, die auf der Karte von Barcaiztegui aufgenommen iſt, ſtimmt mit der überein, bei der ich ſtehen geblieben war; aber nach der Verſicherung eines ausgezeichneten Seefahrers, des Kontreadmirals Rouſſin, dem man eine ausgezeichnete Arbeit über die Küſten von Braſilien verdankt, ſcheint es jetzt ausgemacht, daß das weſt— liche Vorgebirge von Gran-Kaiman unter 83“ 45° der Länge liegt. m Chriſtoph Kolumbus hatte im Jahre 1503 den Kaimans— eilanden den Namen Penascales de las tortugas gegeben, wegen der Seeſchildkröten, die er in dieſem Striche ſchwimmen ſah. — 301 — Das Wetter war fortwährend ſchlecht und die See ging ungemein hoch; der Thermometer ſtand zwiſchen 19,2“ und 20,3. Bei dieſer niedrigen Temperatur wurde der Geruch des Salzfleiſches, mit dem das Schiff beladen war, noch un: erträglicher. Der Himmel zeigte zwei Wolkenſchichten; die untere war ſehr dick und wurde ausnehmend raſch gegen Süd— oſt gejagt, die obere ſtand ſtill und war in gleichen Abſtänden in gekräuſelte Streifen geteilt. In der Nähe des Kap San Antonio legte ſich der Wind endlich. Ich fand die Nordſpitze des Kaps unter 8717“ 22“, oder 2° 34 14“ oſtwärts vom Morro von Havana gelegen. Dieſe Länge geben demſelben die beſten Karten noch jetzt. Wir waren noch 5 km vom Lande, und doch verriet ſich die Nähe von Cuba durch einen köſtlichen aromatiſchen Geruch. Die Seeleute verſichern, wenn man ſich dem Vorgebirge Catoche an der dürren Küſte von Mexiko nähere, ſei kein ſolcher Geruch zu ſpüren. Sobald das Wetter heiterer wurde, ſtieg der Thermometer im Schatten nach und nach auf 27°; wir rückten raſch nach Norden vor mittels einer Strömung aus Süd-Süd⸗Oſt, deren Temperatur an der Waſſerfläche 26,7“ betrug, während ich außerhalb der— ſelben Strömung nur 24,6“ gefunden hatte. In der Beſorg— nis, oſtwärts von der Havana zu kommen, wollte man an— fangs die Schildkröteninſeln (Dry Tortugas) am Südweſt⸗ ende der Halbinſel Florida aufſuchen; aber ſeit Kap San Antonio in Sicht geweſen, hatten wir zu Louis Berthouds Chronometer ſo großes Zutrauen geſaßt, daß ſolches über— flüſſig erſchien. Wir ankerten im Hafen der Havana am 19. Dezember nach einer 25tägigen Fahrt bei beſtändig ſchlech— tem Wetter. Inhalts-Perzeichnis. Erſter Band. Vorwort 8 555 Vorrede des . Erſtes Kapitel . 8 5 Vorbereitungen. — Abreiſe von Spanien. — Auf⸗ enthalt auf den Kanariſchen Inſeln. Zweites Kapitel. e eee ee Aufenthalt auf Tenerifa. — Reiſe von Santa Cruz nach Orotava. — Beſteigung des Piks. Drittes Kapitel. Ueberfahrt von Tenerifa an die Küſte von Südame⸗ rika. — Ankunft in Cumana. Viertes Kapitel —A Erſter Aufenthalt in Eumana. — Die Ufer des Manzanares. Fünftes Kapitel Die Halbinfel Araya. = Salzfümpfe. —— Die Trüm⸗ mer des Schloſſes Santiago. Sechſtes Kapitel 8 Die Berge von Neuandaluſien. — Das Thal von Cumanacoa. — Der Gipfel des Cocollar. — Miſſionen der Chaymasindianer. Siebentes Kapitel . Das Kloſter Caripe. — _ Die Höhle des Guacharo. — Nachtvögel. Achtes Kapitel a 7—ꝗ—ůĩ Abreiſe von Caripe. — Berg und Wald Santa Maria. — Die Miſſion Catuaro. — Hafen von Cariaco. Zweiter Band. Neuntes Kapitel . a Körperbeſchaſfenheit und Sitten der Chaymas. — Ihre Sprachen. 126 154 184 212 259 — 303 — Zehntes Kapitel 5 3 Zweiter Aufenthalt in Cumana. — Erdbeben. — Un⸗ gewöhnliche Meteore. Elftes Kapitel Reiſe von Cumana nach Guayra. — Morro de Nueva Barcelona. — Das Vorgebirge Codera. — Weg von Guayra nach Caracas. Zwölftes Kapitel. Allgemeine Bemerkungen über die Provinzen von Venezuela. — Ihre verſchiedenen Intereſſen. — Die Stadt Caracas. — Ihr Klima. Dreizehntes Kapitel 8 Aufenthalt in Caracas. — Berge um die Stadt. — Beſteigung des Gipfels der Silla. Vierzehntes Kapitel Erdbeben von Caracas. — Zusammenhang zwiſchen dieſen Erſcheinungen und den vulkaniſchen Ausbrüchen auf den Antillen. Fünfzehntes Kapitel ’ Abreiſe von Caracas. — Gebirge von San Pedro und Los Teques. — Victoria. — Thäler von Aragua. Sechzehntes Kapitel Der See von Valencia. — Die heißen Quellen von Mariara. — Die Stadt Nueva Valencia de el Rey. Weg zur Küſte von Porto Cabello hinab. Siebzehntes Kapitel Gebirge zwiſchen den Thälern von Aragua und den Llanos von Caracas. — Villa de Cara. — Parapara. — Llanos oder Steppen. — Calabozo. Dritter Band. Achtzehntes Kapitel - San Fernando de Apure. — Verſchlingungen und Gabelteilungen der Flüſſe Apure und Arauca. — Fahrt auf dem Rio Apure. Neunzehntes Kapitel 8 Zuſammenfluß des Apure mit dem Orinoko. — Die Gebirge von Encaramada. — Uruana. — Bara⸗ guan. — Carichana. — Der Einfluß des Meta. — Die Inſel Panumana. Zwanzigſtes Kapitel Die Mündung des Rio Anaveni. — Der Pik Uniana.— Die Miſſion Atures. — Der Katarakt oder Raudal Ma⸗ para. — Die Inſeln Surupamana und Uirapuri. Seite 43 60 94 120 148 168 200 261 39 100 — 304 — Einundzwanzigſtes Kapitel . 5 Der Raudal von Garcita. — Maypures. — Die Ra: tarafte von Quituna. — Der Einfluß des Vichada und Zama. — Der Fels von Aricagua. — Siquita. Zweiundzwanzigſtes Kapitel. . . San Fernando de Atabapo. — San Baltafar. — Die Flüſſe Temi und Tuamini. — Javita. — Trageplatz zwiſchen dem Tuamini und dem Rio Negro. Dreiundzwanzigſtes Kapitel . Der Rio Negro. — Die braſilianiſche Grenze. Vierter Band. Vierundzwanzigſtes Kapitel . . Der Caſſiquiare. — Gabelteilung des Orinoko. Fünfundzwanzigſtes Kapitel Der obere Orinoko von Esmeralda bis zum Einfluß des Guaviare. — Zweite Fahrt durch die Katarakte von Atures und Maypures. — Der untere Orinoko zwiſchen der Mündung des Apure und Angoſtura, der Hauptſtadt von Spaniſch⸗Guyana. Sechsundzwanzigſtes Kapitel. . Die Llanos del Pao oder des östlichen Striches der Steppen von Venezuela. — Miſſionen der Kariben. — Letzter Aufenthalt auf den Küſten von Nueva Barcelona, Cumana und Araya. Siebenundzwanzigſtes Kapitel. . Allgemeine Bemerfungen über das Verhältnis des neuen zum alten Kontinent. — Ueberfahrt von den Küſten von Venezuela nach der Havana. — — Seite 161 197 246 54 227 U 4 ih 575 * = GE 7 78 115 1 9 =. 5 B „ei Geſammelte Werke Alexander von Humboldt. Neunter Band. Neuſpanien l. Stuttgart. Perlag der J. G. Cokta'ſchen Buchhandlung Nachfolger. Aus A. von Humboldts Verſuch über den politiſchen Zuſtand des Königreichs Neuſpanien. Erſter Teil. Stuttgart. Perlag der J. G. Cokta'ſchen Buchhandlung Nachfolger. 2 % u ] RL) 27 -* * * 4 L ns 1 UHE ane IR Seiner katholiſchen Majeltät Karl dem Vierten König von Spanien und beiden Indien. Sire! Eine lange Reihe von Jahren hindurch habe ich in den fernen, dem Zepter Eurer Majeſtät unterworfenen Ländern mich Ihres Schutzes und Ihrer erhabenen Gunſt erfreut. Welche Pflicht kann mir daher ſüßer und heiliger ſein als die, am Fuße Ihres Thrones die Huldigung meines tief— gefühlten und ehrfurchtsvollen Dankes niederzulegen. Als ich im Jahre 1799 das Glück hatte, Eurer Majeſtät zu Aranjuez perſönlich vorgeſtellt zu werden, billigten Sie wohlwollend das Unternehmen eines Privatmannes, den Liebe zu den Wiſſenſchaften an die Ufer des Orinoko und auf den Gipfel der Andes leitete. Im Vertrauen auf die Huld Eurer Majeſtät, wage ich es jetzt, Ihren erhabenen Namen dieſem Werke vorzuſetzen. Es ſchildert ein faſt unbegrenztes Land, deſſen Wohlſtand Ihrem königlichen Herzen teuer iſt. Keiner der Monarchen, welche auf dem kaſtilianiſchen Throne ſaßen, hat mehr als Eure Majeſtät die Verbreitung genauer Kenntniſſe über den Zuſtand jener herrlichen Erd— ſtriche begünſtigt, die in beiden Hemiſphären ſpaniſchen Ge— ſetzen ſeit Jahrhunderten gehorchen. Auf Ihren Befehl ſind Amerikas Küſten von geſchickten Aſtronomen mit der eines großen Herrſchers würdigen Freigebigkeit aufgenommen worden. Genaue Karten derſelben, ſogar ausführliche Pläne mehrerer militäriſchen Seehäfen, wurden auf Koſten Eurer Majeſtät herausgegeben. Sie haben nicht bloß geſtattet, ſondern aus: drücklich befohlen, daß alle Jahre zu Lima, in einer peruani- ſchen Zeitſchrift, der Zuſtand der Bevölkerung, des Handels und der Finanzen durch den Druck bekannt gemacht werde. Noch fehlte ein ſtatiſtiſcher Verſuch über das Königreich Neuſpanien. Ich habe die große Anzahl von Materialien, die ich beſaß, in einem Werke vereinigt, deſſen erſter Entwurf, im Jahre 1804, die Aufmerkſamkeit des Vizekönigs von Mexiko auf ſich gezogen hatte. Ich ſchmeichle mir mit der Hoffnung, daß meine Arbeit, in eine neue Form geſchmolzen, und mit größerer Sorgfalt vollendet, nicht ganz unwert ſei, Eurer Majeſtät ehrfurchtsvoll überreicht zu werden. Dieſe Blätter tragen das Gepräge des lebhaften Dank— gefühles, von dem ich mich beſeelt fühle gegen einen Schutz gewährenden Monarchen, wie gegen ein edles und freimütiges Volk, das mich nicht als einen Fremden, ſondern als einen ſeiner Mitbürger unter ſich aufnahm. Wie könnte man einem guten Könige mißfallen, wenn man zu ihm von dem Intereſſe des Staates, von der Vervollkommnung bürgerlicher Verfaſſung, und von den ewigen Wahrheiten ſpricht, auf denen das Wohl der Menſchheit beruht? Ich erſterbe in tiefſter Ehrfurcht Sire Eurer katholiſchen Majeſtät unterthänigſter Paris, am 8. März Alexander von Humboldt. | 1808. Als ich auf meiner Rückreiſe nach Europa durch die Südſee im März 1803 in Acapulco landete, glaubte ich nur kurze Zeit mit meinem Freunde und Gefährten, Herrn Bon— pland, in dem Königreiche Mexiko zu verweilen. Der Zuſtand unſerer Sammlungen und Inſtrumente ließ uns nach ſo be— ſchwerlichen Landreiſen das Ende unſerer Expedition heran— wünſchen. Aber das ſchwarze Erbrechen (Vomito), welches ungewöhnlich früh an der öſtlichen mexikaniſchen Küſte aus— brach, und mehrere andere Hinderniſſe verlängerten unſeren Aufenthalt ein ganzes Jahr lang im Inneren von Neu— ſpanien. Ich habe geſucht, dieſen Aufenthalt nicht bloß zu naturhiſtoriſchen Zwecken zu benutzen, ſondern mir auch eine genaue Kenntnis von dem politiſchen Zuſtande dieſes weitausgedehnten und merkwürdigen Landes zu verſchaffen. Nichts war mir auffallender, als der Kontraſt zwiſchen der Civiliſation von Neuſpanien und der geringen phyſi— ſchen und moraliſchen Kultur derjenigen Regionen, welche ich ſoeben durchſtrichen hatte. Ich verglich ſorgfältig, was ich an den Ufern des Orinoko und Rio Negro, in der Pro: vinz Caracas, in Neugranada, auf dem Gebirgsrücken von Quito und an den Küſten von Peru beobachtet hatte, mit der dermaligen Lage des Königreiches Mexiko. Alles reizte mich an, den noch wenig entwickelten Urſachen nachzuforſchen, welche in dieſem die Fortſchritte der Bevölkerung und der Nationalbetriebſamkeit ſo auffallend begünſtigt haben. Meine perſönliche Lage gewährte mir mannigfaltige Mittel, das vorgeſteckte Ziel zu erreichen. Kein gedrucktes Werk konnte mir die Materialien liefern, deren ich bedurfte, aber es ſtanden mir eine Menge handſchriftlicher Aufſätze zu Gebote, von denen rege Neugier Abſchriften bis in die fernſten Teile der ſpaniſchen Kolonieen verbreitet hat. Ich verglich die Reſultate meiner eigenen Unterſuchungen mit den offi— ziellen Angaben, die ich ſeit mehreren Jahren geſammelt hatte. 8 ya Was die Archive enthielten, konnte ich frei und ungeſtört benutzen. Ein kurzer aber für mich ſehr wichtiger Aufenthalt zu Phila⸗ delphia und Waſhington im Jahre 1804 verſchaffte mir Ge— legenheit, Vergleichungen zwiſchen dem gegenwärtigen Zuſtande der Vereinigten Staaten und der Lage von Peru und Neu: ſpanien anzuſtellen, zweier Reiche, welche ich kurz vorher bereiſt hatte. So vermehrte ſich nach und nach der für Geographie und Statiſtik zu bearbeitende Stoff ſo ſtark unter meinen Händen, daß ich die Reſultate dieſer Bearbeitung nicht mehr füglich in den hiſtoriſchen Bericht meiner Reiſe aufnehmen konnte. Ich ſchmeichle mich der Hoffnung, daß die Erſchei— nung eines eigenen Werkes über den politiſchen Zuſtand von Neuſpanien um ſo intereſſanter in einem Zeitpunkte ſein wird, wo der neue Kontinent mehr als je den nach Gewinn und Neuheit ſpähenden Blick der Europäer feſſelt. Mehrere Abſchriften von dem erſten Entwurfe dieſer Arbeit, die ich in ſpaniſcher Sprache abgefaßt hatte, ſind zu Mexiko und in dem Mutterlande zerſtreut. In der Hoffnung, daß mein Werk ſelbſt den Staatsmännern nützlich ſein könne, die zur Ver— waltung der Kolonieen berufen werden und welche nach einem langen Aufenthalte in Amerika oft die unbeſtimmteſten Vor— ſtellungen von dem Zuſtande dieſer herrlichen und weitſchich— tigen Länder heimbringen, teilte ich meine Handſchrift gerne allen denjenigen mit, welche einiges Intereſſe für meine Unter— nehmung bezeigten. Bedeutende Verbeſſerungen waren die Folge dieſer wiederholten Mitteilungen. Der Vizekönig von Mexiko und ſelbſt die ſpaniſche Regierung in Europa hat meine Arbeit einer vorzüglichen Aufmerkſamkeit gewürdigt. Es iſt derſelben nicht bloß in mehreren offiziellen Berichten erwähnt worden, ſondern man hat ſie auch in Diskuſſionen benutzt, welche die wichtigſten Gegenſtände des Handels und der Manufakturbetriebſamkeit der Kolonieen betrafen. Mein Werk, welches gegenwärtig in einem ſehr verſchie— denen Zuſtande erſcheint, zerfällt in ſechs Abſchnitte. Das erſte Buch enthält allgemeine Betrachtungen über den Flächen— inhalt und die phyſiſche Beſchaffenheit von Neuſpanien. Ohne mich auf eine ausführliche naturhiſtoriſche Beſchreibung (die einem anderen Teile meines Werkes vorbehalten iſt) ein— ulaſſen, unterſuchte ich den Einfluß der Unebenheiten des odens auf Klima, Ackerbau, Handel und Verteidigung der Küſten. Das zweite Buch handelt von der Bevölkerung über— — = . und von den Kaſten und Halbraſſen. Im dritten uche iſt die ſpezielle Statiſtik der Intendencias, ihre Be⸗ völkerung und ihr Flächeninhalt dargeſtellt, wie ihn die Karten geben, die ich nach aſtronomiſchen Beobachtungen entworfen habe. Im vierten Buche unterſuche ich den Zuſtand des Acker— baues und der Bergwerke; im fünften die Fortſchritte der Manufakturen und des Handels. Das ſechſte Buch endlich enthält Betrachtungen über die Staatseinkünfte und die mili⸗ täriſche Verteidigung des Landes. Ich zweifle keineswegs daran, daß meine Arbeit bei aller Sorgfalt, die ich anwandte, um genaue Reſultate zu liefern, dennoch durch mehrere bedeutende Irrtümer verunſtaltet wird. Dieſe Irrtümer werdennach und nachaufgedeckt werden; wenn mein Werk, wie ich hoffe, die Bewohner von Neu— ſpanien anreizt, den Zuſtand ihres Vaterlandes gründlicher u unterſuchen. Mit Zuverſicht darf ich indes auf die Nachſecht derjenigen rechnen, die vertraut mit den Schwierig⸗ keiten ähnlicher Unternehmungen je ſich der Mühe unterzogen haben, die ſtatiſtiſchen Tabellen der kultivierteſten Länder von Europa miteinander zu vergleichen. Vorbemerkung des Herausgebers. Aus A. von Humboldts umfangreichem Essai politique sur le royaume de la Nouvelle Espagne, wovon 1809 bis 1814 eine deutſche Ausgabe in fünf Bänden erſchien, werden hier jene Abſchnitte und Stellen ausgewählt, welche dem Heraus— geber auch heute noch von bleibendem Wert für das große gebildete aber nicht fachmänniſche Leſepublikum zu ſein ſcheinen. Ausgeſchieden wurde dagegen alles, was als der Statiſtik angehörend heute abſolut veraltet und daher für die Kenntnis der dermaligen Verhältniſſe wertlos geworden iſt. Einfache Litteraturverweiſe wurden gleichfalls fortgelaſſen, dagegen dort, wo es nötig ſchien, kurze erläuternde Fußnoten beigefügt. Die neben dem Metermaß befindlichen Angaben in altfran⸗ zöſiſchen Toiſen oder Füßen konnten im Hinblicke auf die heutigen a eee beſeitigt werden, mit Ausnahme weniger Fälle, wo ſich die Gegenüberſtellung beider Daten empfahl. Alle ubrigen Zahlen wurden, ſoweit es nicht ſchon im Originale geſchehen, in metriſches Maß umgewandelt, der Orthographie der Eigennamen endlich die nunmehr übliche Schreibweiſe unterlegt. Ueber den politifchen Zuſtand des Königreiches Neuſpanien. (Im RNuszuge.) A. v. Humboldt, Neuſpanien. 4. 1 114% 2 h Alti Hay N 5 * Ausdehnung der fpanifchen Befigungen in Amerika. — Ueber die Uamen „Uenſpanien und Anahnac. — Grenze des Keiches der aztekiſchen Könige. — Geſtalt der Küſten. Bevor ich das ſtatiſtiſche Gemälde des Königreiches Neu— ſpanien entwerfe, wird es der Mühe wert ſein, einen flüch— tigen Blick auf den Flächeninhalt und die Bevölkerung der ſpaniſchen Beſitzungen im ſüdlichen und nördlichen Teile von Amerika zu werfen. Indem wir uns zu einer allgemeineren Anſicht der Dinge erheben, indem wir jede Kolonie nach ihren mannigfaltigen Verhältniſſen zu den benachbarten Kolonieen und zu dem Mutterlande betrachten, können wir mit Zuver⸗ ſicht hoffen, dem Lande, das wir beſchreiben ſollen, die Stelle 1 welche ihm in politiſcher Hinſicht gebührt. Die ſpaniſchen Beſitzungen auf dem neuen Kontinent nehmen den ungeheuren Landſtrich ein, der ſich von 41° 43° ſüdlicher, bis zu 37° 48° nördlicher Breite ausdehnt. Dieſer Erdraum von 79° kommt nicht bloß der Länge von ganz Afrika gleich, ſondern übertrifft noch um vieles an Breite das ruſſiſche Reich, welches 167“ der Länge unter einem Parallel— kreiſe umfaßt, deſſen Grade mehr als die Hälfte kleiner als die Aequatorialgrade ſind. Unter allen Kolonieen, welche dem Zepter des Königs von Spanien unterworfen ſind, behauptet Mexiko gegenwärtig den erſten Rang, ſowohl wegen der Schätze ſeines Bodens, als wegen ſeiner für den Handel mit Europa und Aſien io vorteilhaften Lage. Wir ſprechen hier bloß von dem poli— tiſchen Werte des Landes, von dem gegenwärtigen Zuſtande ſeiner Kultur, in dem es unbezweifelt alle übrigen ſpani— ſchen Beſitzuns en weit übertrifft. Allerdings ſind mehrere Zweige des Ackerbaues in der Provinz Caracas zu einem höheren Grade der Vollkommenheit gediehen als in Neu⸗ ſpanien. Je weniger Bergwerke eine Kolonie hat, deſto mehr iſt die Betriebſamkeit ihrer Bewohner auf die Benutzung der vegetabiliſchen Produkte gerichtet. Größer iſt die Frucht— Be barkeit des Bodens in den Provinzen Cumana in Neubarce- lona und Venezuela, größer an den Ufern des Nieder-Orinoko und in Neugranadas nördlichem Teile, als in dem Königreiche Mexiko, in dem einzelne Landſtriche unfruchtbar ſind, Mangel an Waſſer leiden und faſt allen Pflanzenſchmuckes beraubt ſind. Erwägt man aber die beträchtliche Bevölkerung von Neuſpanien, die große Anzahl bedeutender Städte, die man dort in geringer Entfernung voneinander antrifft, erwägt man den ungeheuren Wert der metalliſchen Ausbeute und den Einfluß dieſer Schätze auf den Handel mit Europa und Aſien, betrachtet man den Zuſtand der Wildheit und Unkultur, in dem ſich Spaniens übrige Beſitzungen in Amerika befinden, ſo iſt man geneigt, die Vorliebe einigermaßen zu rechtfertigen, welche den Hof von Madrid ſeit mehr als einem Jahrhunderte für das Königreich Mexiko äußert. Unter der Benennung Neuſpanien begreift man über— haupt die ungeheure Länderſtrecke, welche der Botmäßigkeit des Vizeköniges von Mexiko unterworfen it." Nimmt man das Wort in dieſem Sinne, ſo ſind die Parallelkreiſe des 38. und 10. Grades die Grenze gegen Norden und gegen Süden. Aber der Generalkapitän von Guatemala hängt in Civilangelegenheiten nur wenig von dem Vizekönige Neu— ſpaniens ab. Das Königreich Guatemala umfaßt nach ſeiner politiſchen Einteilung die Statthalterſchaften Coſtarica und Nicaragua; es grenzt an das Königreich Neugranada, zu welchem Darien und der Iſthmus von Panama gehören. So oft wir uns in der Folge dieſes Werkes der Benennungen Neuſpanien und Mexiko bedienen, betrachten wir jedesmal die Capitania general de Guatemala als ausgeſchloſſen — ein fruchtbares und in Vergleichung mit den übrigen ſpani— ſchen Beſitzungen bevölkertes Land, deſſen Boden um ſo ſorg— fältiger bebaut iſt, als es, von Vulkanen durchwühlt, wenige Spuren von metalliſchen Schätzen zeigt. Die ſüdlichſten und zugleich öſtlichſten Regionen Neuſpaniens ſind demnach die Intendanzen Merida und Oajaca. Die Grenze, welche Mexiko vom Königreiche Guatemala ſcheidet, ſtößt öſtlich von dem Hafen Tehuantepec bis La Barra de Tonala an die Küfte . des Stillen Ozeans. An dem antilliſchen Meeresufer läuft ſie längs der Hondurasbai hin. [Der heutige Staatenbund von Mexiko, Republik ſeit 1810, iſt bekanntlich beträchtlich kleiner. — D. Herausg.] 3 3 Der Name Neuſpanien ward zuerſt im Jahre 1516 und zwar allein der Provinz Yucatan beigelegt. Grijalvas Gefähr— ten erſtaunten dort über den vortrefflichen Anbau des Landes und über die künſtlichen Wohnungen der Indianer. In ſeinem erſten Briefe an Kaiſer Karl den Fünften, im Jahre 1520, dehnt Cortez ſchon die Benennung Neuſpanien auf Monte— zumas ganzes Reich aus. Dieſes erſtreckte ſich nach Solis von Panama bis Neukalifornien. Allein aus den gelehrten Unterſuchungen eines mexikaniſchen Geſchichtſchreibers, des Abbs Clavigero, wiſſen wir, daß der Sultan von Tenoch— titlan, Montezuma, eine weit weniger ausgedehnte Landesſtrecke beherrſchte. Denn an der öſtlichen Küſte waren die Flüſſe Goatzacoalco und Tuxpan, an der weſtlichen die Ebenen von Soconusco und der Hafen Zacatula die Grenzen ſeines Rei— ches. Wirft man einen Blick auf meine in Intendanzen ab— geteilte Generalkarte von Neuſpanien, ſo erſieht man, daß Montezuma nur die jetzigen Intendanzen Veracruz, Oajaca, La Puebla, Mexiko und Valladolid beherrſchte. Ich ſchätze den Flächeninhalt dieſes altaztekiſchen Reiches auf etwa 385440 qkm. Im Anfange des 16. Jahrhunderts trennte der Fluß Santiago die ackerbauenden Völker von Mexiko und Michoacan von den wilden nomadiſchen Horden der Otomi und Chichi— meken. Oefters drangen dieſe Wilden auf ihren Streifzügen bis Tula vor, einer Stadt, welche am nördlichen Ausgange des Thales von Tenochtitlan liegt. Sie bewohnten dieſelben Ebenen von Celaya und Salamanca, in denen wir gegen— wärtig den herrlichen Anbau und die zahlloſe Menge zerſtreuter Meierhöfe finden. Die Benennung Anahuac darf keineswegs mit der von Neuſpanien verwechſelt werden. Durch erſteren Namen be— zeichnete man vor der Eroberung (Conquista) alles Land, was zwiſchen dem 14. und 21. Grad der Breite liegt. Zum alten Anahuac gehörten, außer Montezumas aztekiſchem Kaiſerreiche, auch die kleinen Freiſtaaten Tlaxcallan und Cholullan, nebſt den Königreichen Tezeuco (oder Acolhuacan) und Michoacan, welch letzteres einen Teil der jetzigen Intendanz Valladolid in ſich ſchloß. Das Wort Mexiko ſelbſt iſt indianiſchen Urſprunges. Es bezeichnet in der Sprache der Azteken den Wohnſitz des Kriegs— gottes, welcher Mexitli oder Huitzilopochtli genannt wurde. Es ſcheint jedoch, daß von dem Jahre 1530 die Stadt ee gewöhnlicher den Namen Tenochtitlan als Mexiko führte, Cortez, der nur geringe Fortſchritte in der Landesſprache gemacht hatte, nennt die Hauptſtadt aus Mißverſtand den Temixtitan. In einem Werke, das ausſchließlich von dem Königreiche Mexiko handelt, wird man dieſe etymologiſchen Berichtigungen ent— ſchuldigen. Der kühne Mann, welcher das aztekiſche Reich umſtürzte, hielt übrigens dasſelbe für groß genug, um ſeinem Monarchen, Karl dem Fünften, anzuraten,“ mit dem deut— ſchen Kaiſertitel noch den Titel eines Kaiſers von Neuſpanien zu verbinden. Das Königreich Neuſpanien,? die nördlichſte aller ſpani— ſchen Beſitzungen in Amerika, erſtreckt ſich vom 16. bis zum 30. Grad der Breite. Die Länge dieſes weitausgedehnten Landes beträgt in der Richtung von Süd-Süd-Oſt nach Nord— Nord-Weſt ungefähr 270 Myriameter; am breiteſten iſt es gegen den 30. Parallelkreis hin. Man rechnet von dem Roten Fluſſe (Rio Colorado) in der Provinz Texas bis zur Inſel Tiburon, an den Küſten der Intendanz Sonora von Oſten nach Weſten, 160 Myriameter. Der Teil von Mexiko, in welchem beide Meere, die Süd— ſee und der Atlantiſche Ozean, ſich einander am meiſten nahen, iſt leider nicht derſelbe, welcher die Hauptſtadt und die Häfen Acapulco und Veracruz in ſich begreift. Dieſe ſchiefe Entfernung von Acapulco und Mexiko beträgt nach meinen aſtronomiſchen Beobachtungen 2° 40° 19“ eines großen Zirkels (oder 304 km;) von Mexiko nach Veracruz rechnen wir in gerader Richtung 25579“ (oder 309 km); und vom Hafen von Acapulco bis zum Hafen von Veracruz 4° 107“, Bei Angabe dieſer Entfernungen findet man die meiſten Ab— weichungen in den älteren Karten. Nach den von Caſſini Cortez ſagt in ſeinem erſten, am 30. Oktober 1520 aus Villa Segura de la Frontera geſchriebenen Briefe: u Las cosas de esta tierra son tantas y tales, que Vuestra Alteza se puede intitular de nuevo Emperador de ella y con titulo y non menor merita, que el de Alemania, que por la gracia de Dios Vuestra Sacra Magestad possée (Lorenzana p. 38). * [Dasfelde deckt ſich dem Umfange nach durchaus nicht mit der heutigen Republik der Vereinigten Staaten von Mexiko, welche ſeither einen beträchtlichen Teil ihres Gebietes, wie Neumexiko, Texas, Arizona und Neukalifornien eingebüßt haben und nur mehr von 15 bis 32° nördl. Br. reichen. — D. Herausg.] + . — ee in Chappes Reife bekanntgemachten Beobachtungen betrüge der Längenunterſchied zwiſchen Mexiko und Veracruz 5° 10%, an: ſtatt 2° 57°, welche den wirklichen Abſtand ausdrücken. Nähme man für 8 Chappes Ortsbeſtimmung, und für Acapulco die Länge an, welche die im Jahre 1784 im Deposito hydro- grafico zu Madrid entworfene Karte angibt, ſo betrüge die Breite des mexikaniſchen Iſthmus zwiſchen den beiden Häfen 780 km; eine Entfernung, welche um 312 km größer als die wirkliche iſt. Phyſiſche Anſicht des Königreiches Ueuſpanien. — Konfteuktion der merikaniſchen Gebirge, verglichen mit der Konſtruktion des Erdkörpers in Europa und Südamerika. — Unebenheiten des Bodens. — Ein— ſluß dieſer Unebenheiten auf Klima, Kultur und militäriſche Verteidigung des Landes. — Juſtand der Küſten. Wir haben bis hierher den ungeheuren Flächenraum und die Grenzen von Neuſpanien betrachtet. Wir haben die Verhältniſſe unterſucht, in welchen dieſes Königreich zu den übrigen Beſitzungen des Mutterlandes ſteht, wir haben die wichtigen Vorteile erwogen, die man aus der Geſtaltung der Küſten zur Vereinigung des Atlantiſchen Meeres mit dem großen Ozean ziehen könnte; es bleibt uns übrig, ein Gemälde von der natürlichen Beſchaffenheit des Landes, von der Kon— ſtruktion ſeiner Gebirgsmaſſen, von den Unebenheiten des Bodens und dem mannigfaltigen Einfluſſe zu entwerfen, welchen dieſe Unebenheiten auf Klima, Kultur und militäriſche Verteidigung des Landes ausüben. Bei dieſer Darſtellung werden wir uns allerdings nur auf allgemeine Reſultate be— ſchränken; ausführliche Naturbeſchreibungen gehören in das Gebiet der Naturgeſchichte und nicht in die Statiſtik eines Landes. Wie kann man ſich aber einen richtigen Begriff von dem Territorialreichtum eines Staates machen, ohne die Form und Richtung der Gebirge, ohne die Höhe der großen Gebirgsflächen, ohne die wunderbare Temperaturverſchieden— heit dieſer Tropenländer zu kennen, in welchen am ſchroffen Abhange der Kordilleren alle Himmelsſtriche gleichſam ſchichten— weiſe übereinander gelagert ſind. Wenn wir die Oberfläche von Neuſpanien mit einem Blicke überſchauen, jo fällt es in die Augen, daß zwei Dritt⸗ teile dieſes Reiches unter der brennenden Hitze des Tropen— himmels liegen, das andere Dritteil hingegen, eine Landes— ſtrecke von 1651290 qkm, gehört der gemäßigten Zone an. Dieſe letztere Landſtrecke begreift die Provincias internas, 8 ſowohl die, welche dem Vizekönige von Neuſpanien unmittel— bar unterworfen ſind (3. B. das Königreich Neuleon und die Provinz Neuſantander), als auch diejenigen, die von einem beſonderen Generalkommandanten regiert werden. Der Ein— fluß dieſes Generalkommandanten erſtreckt ſich über die Inten— danzen von Durango und Sonora, und über die Provinzen Coahuila, Texas und Neumexiko, Länder, deren Bevölkerung ſehr gering iſt, und welche insgeſamt, um die von den Provincias internas del Vireynato zu unterſcheiden, mit dem Namen der Provincias internas de la Comandancia General bezeichnet werden. Einerſeits dehnt ſich ein kleiner Teil der nördlichen Pro— vinzen Sonora und Neuſantander ſüdlich über den Wende— kreis des Krebſes hinaus; andererſeits überſchreiten dieſe Grenz— linie gegen Norden, die Tropenländer Guadalajara, Zacatecas und San Luis Potoſi (vorzüglich die Gegend, wo die berühmten Bergwerke von Catorce liegen). Bekanntlich hängt das Klima eines Landes nicht allein von ſeiner geographiſchen Breite, ſondern zugleich auch von ſeiner Erhöhung über den Meeres— ſpiegel, von der Nähe des Ozeans, von der Beſchaffenheit und Geſtaltung des Bodens und von einer Menge kleiner örtlicher Urſachen ab. Dieſes iſt der Grund, warum von 2753000 qkm, die unter der heißen Zone liegen, mehr als drei Fünfteile ein Klima genießen, das eher kalt oder ge— mäßigt als heiß genannt werden kann. Das ganze Innere des Vizekönigreiches Neuſpanien, beſonders die Länder, welche unter den alten Benennungen Anahuac und Michoacan be— griffen werden, und faſt ganz Neubiscaya bilden eine hohe zuſammenhängende Gebirgsebene. Kaum gibt es auf dem ganzen Erdballe ein Land, in welchem die Gebirge jo ſonderbar gejtaltet find, als gerade in Neuſpanien. In Europa hält man die Schweiz, Savoyen und Tirol für bedeutend hohe Länder; dieſe Meinung gründet ſich indes bloß auf den Anblick ſo vieler mit ewigem Schnee bedeckter Gipfel, welche in Ketten verteilt ſind, die mit der großen Centralkette parallel laufen. Die Gipfel der Alpen erheben ſich zu einer Höhe von 3900 bis 4700 m, während die benachbarten Ebenen des Kantons Bern und Freiburg nur 460 bis 540 m hoch liegen. Die Schweiz iſt kein Plateau, ſondern eine Gruppe von Gebirgsmaſſen, die tief eingefurcht ſind. 400 m kann man auch als die mittlere Höhe der Ge— birgsflächen vom beträchtlichen Umfange in Schwaben, Bayern re und Neuſchleſien beim Urſprunge der Warthe und Piliza annehmen. In Spanien iſt der Boden beider Kaſtilien etwas über 580 m hoch. In Frankreich kennt man keine höhere Gebirgsfläche als die von Auvergne, auf deren Rücken ſich der Montd'or, der Cantal, und der Puy de Dome erheben; ihre Höhe beträgt nach Herrn von Buchs Beobachtungen 730 m. Dieſe Beiſpiele beweiſen, daß überhaupt in Europa Hochländer, welche den Anblick weit ausgedehnter Ebenen gewähren, ſelten mehr als 400 bis 500 m über der Meeresfläche erhaben ſind. In Afrika gegen die Ouellen des Nils! hin, und in Aſien unter dem 34. und 37. Grad der Breite find viel- leicht ähnliche Gebirgsflächen wie in Neuſpanien anzutreffen; aber keiner der Reiſenden, welche über den Himovan vor— drangen, hat uns das mindeſte über die Höhe von Tibet be— richtet. Die große Sandwüſte Gobi, nordweſtlich von China, liegt nach Pater Duhaldes Werk auf einer Höhe von mehr als 1400 m. Der Oberſt Gordon verſicherte Herrn Labillar⸗ diere, Afrikas Boden erhebe ſich vom Vorgebirge der guten Hoffnung an bis zum 21. Grad der Breite unvermerkt zu einer Höhe von 2000 m. Aber dieſe nicht minder neue auf— fallende Thatſache iſt bis jetzt noch von keinem anderen Natur: forſcher beſtätigt worden.“ Die Reihe von Bergen, deren Rücken die große Gebirgs— fläche von Neuſpanien bildet, iſt dieſelbe, die unter dem Namen der Andeskette durch ganz Südamerika hinläuft; aber der Bau und die Konſtruktion dieſer Gebirgskette hat eine andere Geſtalt im Süden, eine andere im Norden des Aequators. Auf der ſüdlichen Halbkugel iſt die Kordillere überall zerriſſen, ja durch Quer- und Längenthäler durchfurcht, die ſich wie unausge— füllte Gänge durch Spaltung gebildet zu haben ſcheinen. Zwar Brun behauptet (Vol. III, S. 642, 652 und 712), die Quellen des Nils in Godſcham ſeien 32 m höher als die Fläche des Mittel- ländiſchen Meeres. [Natürlich iſt hier von den Quellen des Blauen Nils, Bahr el Azrek, die Rede. Allein das baſaltiſche Plateau von Godſcham hat 2350 m Meereshöhe und der Tana- oder Tſanaſee, aus dem der Blaue Fluß als Abai hervorbricht, iſt noch 1860 m hoch. — D. Herausg.] [Sie hat ſich auch nicht beſtätigt. Die durchſchnittliche Er: hebung jenes Gebietes bewegt ſich zwiſchen 900 bis 1200 m. — D. Herausg. ee. gibt es auch im Königreiche Quito und weiter gegen Norden in der Provinz Los Paſtos Ebenen, die 2700 bis 3000 m über der. Meeresfläche erhaben ſind; aber dieſelben ſind in Hinſicht auf ihre Ausdehnung keineswegs mit den Ebenen von Neu-Spa— nien zu vergleichen. Sie ſind bloße Thäler, die von zwei Armen der großen Andeskette begrenzt find. In Mexiko da- gegen bildet den Rücken der Gebirge ſelbſt die Ebene; ihre Richtung beſtimmt ſo zu ſagen den ganzen Lauf der Gebirgs— kette. In Peru erheben ſich die höchſten Gipfel auf dem Kamme der Andeskette. In Neuſpanien liegen weniger koloſ— ſale, doch immer noch 4900 bis 5400 m hohe Kuppen teils auf der Gebirgsebene zerſtreut, teils in Linien geordnet, deren Richtung keineswegs als gleichlaufend mit dem Streichen der ganzen Kette iſt. Peru und das Königreich Neugranada ſind von Querthälern durchſchnitten, deren ſenkrechte Tiefe bisweilen 1400 m beträgt. Dieſe Thäler geſtatten nicht auf andere Art zu reiſen, als zu Pferde, zu Fuße, oder gar auf dem Rücken der Indianer (Cargado). In Neuſpanien hin— gegen können Wagen von Mexiko bis Santa Fe in der Pro— vinz Neumexiko, durch eine Strecke von mehr als 1000 km, rollen. Auf dieſem ganzen Wege hat die Kunſt kein bedeu— tendes Hindernis zu bekämpfen. Ueberhaupt iſt die mexikaniſche Gebirgsfläche wenig durch Thäler unterbrochen, ihre Verflachung iſt ſo gleichförmig und ſanft, daß in Neubiscaya, 624 km nördlich von Mexiko, ſich das Plateau noch in einer Höhe von 1700 bis 2700 m über dem Meeresſpiegel des benachbarten Ozeans erhält. In eben dieſer Höhe liegen die Straßen, welche in Europa über den Mont Cenis, über den St. Gotthard und den großen Bernhard führen. Um dieſe merkwürdigen geo— gnoſtiſchen Verhältniſſe genau zu ergründen, habe ich wäh— rend meines Aufenthaltes in Neuſpanien fünf barometriſche Nivellements unternommen. Das erſte derſelben erſtreckt ſich quer durch das Königreich, von den Küſten des Stillen Meeres bis zu dem Mexikaniſchen Meerbuſen, von Acapulco über die Stadt Mexiko bis Veracruz; mein zweites Nivelle— ment geht von Mexiko über Tula, Queretaro und Gala: manca bis Guanajuato; das dritte läuft durch die Intendencia Valladolid, von der Stadt Guanajuato bis jenſeits Pätz— cuaro zu dem neuentſtandenen Vulkan von Jorullo; ein viertes führt von Valladolid in das Thal von Toluca, und von da bis Mexiko; das fünfte endlich umfaßt die Gegend = um Moran und Actopan. Auf dieſe Weiſe habe ich teils barometriſch, teils trigonometriſch die Höhe von 208 verſchie— denen Punkten beſtimmt, die zwiſchen 16° 50“ und 21° 0“ nördlicher Breite und zwiſchen 102° 8“ und 98° 28° weſt⸗ licher Länge (von Paris an gerechnet) . Ueber dieſe Grenzen hinaus iſt mir nur ein einziger Ort bekannt, deſſen Höhe genau ausgemittelt werden kann, ich meine die Stadt Durango, deren Erhöhung über den Meeresſpiegel, aus dem mittleren Barometerſtande N 2000 m beträgt.! Dieſes letztere Beiſpiel lehrt, daß (wie ſchon oben bemerkt ward) die außerordentliche Höhe der mexikaniſchen Gebirgsebene ſich noch weit gegen Norden, über den Wendekreis des Krebſes hinaus, erhält. Alle dieſe Höhenmeſſungen, verbunden mit den aſtrono— miſchen Beobachtungen, die ich in denſelben Gegenden anſtellte, haben als Grundlagen zu den phyſikaliſchen Karten gedient, welche dieſes Werk begleiten. Der mexikaniſche Atlas enthält eine Reihe ſenkrechter Durchſchnitte oder geognoſtiſcher Profile. Ich habe den Verſuch gewagt, ganze Länder nach einer Me— thode darzuſtellen, welche bis jetzt nur für Bergwerke oder bei Kanalprojekten angewendet wurde. In der Statiſtik von Neuſpanien habe ich mich indes nur auf ſolche Zeichnungen beſchränken müſſen, welche fähig ſind, ein eigentlich ſtaats— wirtſchaftliches Intereſſe zu erregen. Die Phyſiognomie eines Landes, die Gruppierung ſeiner Felsmaſſen, die Ausdehnung ſeiner Gebirgsebenen, die Höhe derſelben, welche ihre Tem— peratur beſtimmt, alles, was zum Baue des Erdballes gehört, ſteht in innigſter Verbindung mit den Fortſchritten, der Be— völkerung und mit dem Wohlſtande der Menſchen. Unverkennbar iſt der Einfluß der äußeren Geſtaltung der Erdfläche auf den Ackerbau, deſſen Natur nach der Beſchaffenheit der Himmels— ſtriche verſchieden iſt, auf das Innere, mehr oder minder be- günſtigte, Handelsverkehr, auf die militäriſche Verteidigung und die äußere Sicherheit der Kolonie! Aus dieſem Geſichts— punkte betrachtet find große geologische Anſichten dem Staats— manne wichtig, wenn er die Kräfte und den Grundreichtum der Völker mißt. Auch in Südamerika findet man auf der Andeskette in _ ungeheurer Höhe einzelne ganz ebene Länderſtrecken. So iſt das Plateau, auf welchem die Stadt Santa Fe de Bogota 2042 m nach neueren Meſſungen. — D. Herausg.] c 1 liegt, 2658 m hoch. Europäiſcher Weizen, Kartoffeln und Chenopodium Quinoa gedeihen dort in Menge. Dieſer Ge: birasfläche ähnlich iſt die von Caxamarca in Peru, dem alten Wohnſitze des unglücklichen Atahualpa, auf einer Höhe von 2750 m. Auch die großen Ebenen von Antiſana, aus deren Mitte ſich inſelförmig derjenige Teil des Vulkanes erhebt, deſſen Gipfel über die Schneegrenze hinausreicht, liegen 4100 m über dem Waſſerſpiegel des Meeres; ſie ſind um 389 m höher als der Pik von Tenerifa. Ihre Söhligkeit iſt ſo auffallend, daß die Bewohner dieſer Hochländer beim Anblick des vaterländiſchen Bodens kaum die wunderbare Lage ahnen, in welche ſie die Natur verſetzt hat. Aber von all dieſen Gebirgsflächen Neugranadas, Quitos und Perus hat keine mehr als 825 qkm. Schwer zu erſteigen, durch tiefe Thäler voneinander getrennt, begünſtigen ſie wenig die Zufuhr der Lebensmittel und den Handelsverkehr im Inneren. Auf einzeln emporragenden Bergkuppen bilden ſie gemeinſam flache Inſeln mitten im Luftozeane. Auch verlaſſen die Be— wohner dieſer traurig kalten Hochländer ſelten ihren alten Wohnſitz, ſie bleiben in demſelben zuſammengedrängt und ſcheuen ſich in die benachbarte Waldflur herabzuſteigen, wo - erſtickende, den urſprünglichen Bewohnern der hohen Andes— kette gefährliche Hitze herrſcht. Eine ganz verſchiedene Anſicht bietet der Boden in Neu— ſpanien dar. Ebenen von größerer Ausdehnung, aber von nicht minder einförmiger Oberfläche, liegen hier ſo nahe bei— ſammen, daß fie auf dem fortlaufenden Rücken der Kordillere eine einzige zuſammenhängende Gebirgsfläche bilden. Die Länge dieſer Fläche iſt ſo groß als die Entfernung von Lyon bis zum Wendekreis des Krebſes, wo er quer durch die afri— kaniſche Wüſte läuft. Dieſes ſonderbare Gebirgsplateau ſcheint ſich gegen Norden hin allmählich zu verflachen. Leider iſt, wie wir bereits oben bemerkten, über Durango hinaus nir— gends eine Barometermeſſung angeſtellt worden; aber wohl— unterrichtete Reiſende haben mir verſichert, daß gegen Neu— mexiko und die Quellen des Rio Colorado hin der Boden ſich plötzlich ſenke. Die dem gegenwärtigen Verſuche beige— fügten geognoſtiſchen Profile enthalten drei verſchiedene Durch— ſchnitte des Landes. Der erſtere, ein Längendurchſchnitt, ſtellt den Rücken der mexikaniſchen Gebirge dar, wie er ſich, von Südoſten gegen Nordweſten gerichtet, gegen den Rio Bravo hin allmählich verflacht. Die anderen zwei Querdurchſchnitte Een Be liefern die Anſicht des Landes von den Küſten des Stillen Meeres bis zu den Küſten des Mexikaniſchen Meerbuſens. Alle drei enthüllen auf den erſten Blick dem Auge des ernſten Beobachters die mannigfaltigen Hinderniſſe, welche die ſonder— bare Geſtaltung des Landes der Verſendung inländiſcher Er— zeugniſſe aus dem Inneren nach den Handelsſtädten an den Küſten entgegenſetzt. Die Straße von Mexiko nach den berühmten Erzgruben von Guanajuato geht anfangs zehn Stunden lang durch das Thal von Tenochtitlan, welches 2277 m über dem Ozean erhaben iſt. Die Fläche dieſes reizenden Thales iſt ſo gleich— förmig eben, daß ſie von der Hauptſtadt Mexiko an bis zum Dorfe Huehuetoca am Fuße des Berges Sinoque, kaum 20 m anſteigt. Die Hügel von Barientos ſind übrigens als ein bloßes, das Thal einengendes Vorgebirge zu betrachten. Von Huehuetoca aus zieht ſich der Weg, nahe bei Batas, zuerſt aufwärts nach dem Puerto de los Reyes und dann abwärts in das Thal von Tula, das um 222 m tiefer liegt, als das Thal von Tenochtitlan, und durch welches ein großer Abfluß— kanal die Waſſer der Seen von San Criſtoval und Zum— pango in den Rio Montezuma“! und mittels dieſes Fluſſes in den Mexikaniſchen Meerbuſen führt. Um aus dieſem Thale auf die große Gebirgsfläche von Querétaro zu gelangen, muß man den Berg von Calpulalpan überſteigen, deſſen Höhe indes nur 2686 m beträgt. Dieſer Berg ſcheint der höchſte Punkt auf der Straße von Mexiko nach Chihuahua zu ſein; und dennoch iſt er beträchtlich niedriger als die Stadt Quito. Nördlich von dieſer kalten Gebirgsgegend öffnen ſich die weit ausgedehnten Ebenen von San Juan del Rio, Querétaro und Celaya, fruchtbare Länderſtriche, voll Dörfer und ſchön ge— bauter Städte. Ihre mittlere Höhe kommt der des Puy de Dome in der Auvergne gleich; ſie find beinahe 30 Stunden lang und erſtrecken ſich bis an den Fluß des erzführenden Thonſchiefergebirges von Guanajuato. Reiſende, welche Neu— mexiko beſucht haben, verſichern, der übrige Teil des Weges ſei ganz demjenigen gleich, den ich ſoeben beſchrieben, und in einem ſenkrechten Längenprofile dargeſtellt habe. Ungeheure Ebenen, wahrſcheinlich ausgetrocknete Behälter ehemaliger Seen folgen aufeinander; ſie ſind durch Hügel e die [Lokaler Name des Rio Panuco, der mit dem Tameſi ver— einigt ſpäter den Rio de Tampico bildet. — D. Herausg.] i ſich kaum 200 bis 250 m über den alten Seeboden erheben. In einem anderen Werke (in dem Atlas zum hiſtoriſchen Be— richte meiner Reiſe) werde ich die vier Gebirgsthäler, welche die Hauptſtadt von Neuſpanien umgeben, in ähnlichen Durch— ſchnittsanſichten darſtellen. Die Höhe des erſteren dieſer Thäler, der Ebene von Toluca, beträgt 2600 m; die Höhe des zweiten, oder des Thales von Tenochtitlan 2274 m; die Höhe des dritten oder des Thales von Actopan 1966 m; und die des vierten oder des Thales von Iſtla 981 m. Dieſe vier Gebirgsflächen ſind ebenſowohl in Hinſicht ihres Klimas als ihrer Erhöhung über den Meeresſpiegel vonein— ander verſchieden. In jeder derſelben iſt der Ackerbau auf andere Erzeugniſſe gerichtet; in dem Thale von Iſtla gedeiht Zuckerrohr, im Thale von Actopan Baumwolle, im Plateau von Mexiko europäiſches Getreide, in den Ebenen von Toluca findet man Pflanzungen von Agave, den Weingarten aller Indianer, die aztekiſchen Urſprunges ſind. Die barometriſchen Meſſungen, die ich zwiſchen Mexiko und Guanajuato angeſtellt, beweiſen, wie günſtig die Geſtal— tung des Bodens im Inneren von Neuſpanien der Verſen— dung der Landesprodukte, der Flußſchiffahrt und ſelbſt der Anlange von Kanälen ſei. Eine andere Anſicht gewähren dagegen die Querdurchſchnitte von den Küſten des Stillen Meeres bis zum Atlantiſchen Ozean. Dieſe ſtellen auf einen Blick die natürlichen Hinderniſſe dar, welche der Verbindung zwiſchen dem Inneren des Reiches und den Küſten entgegen— ſtehen. Ueberall zeigt ſich hier die auffallendſte Verſchiedenheit der Höhe und der Temperatur, während das innere Gebirgs— plateau bis Neubiscaya hin, ununterbrochen, faſt in gleicher Höhe, fortläuft, und daher eher eines kalten als gemäßigten Klimas genießt. Dazu iſt der öſtliche Gebirgsabfall, oder gegen Veracruz hin kürzer und ſteiler als der weſtliche. In Hinſicht auf militäriſche Verteidigung ſcheint Neuſpanien durch ſeine natürliche Lage mehr gegen den Angriff euro— päiſcher Völker als gegen den Angriff aſiatiſcher Feinde ge— ſichert. Aber in der Beſtändigkeit der Tropenwinde und in dem immer gleichen Rotationsſtrome, welcher zwiſchen den Wendekreiſen herrſcht, liegt eine mächtige Schutzwehr gegen den politiſchen Einfluß, welchen China, Japan oder das euro— päiſche Rußland je einmal in der Folge der Jahrhunderte auf den neuen Kontinent würden ausüben wollen. Wendet man ſich von Mexiko oſtwärts gegen Veracruz — 16 hin, ſo muß man ſich 330 km von der Hauptſtadt ent⸗ fernen, ehe man ein Thal findet, das nur noch etwa 1000 m über dem Meeresſpiegel erhaben iſt, und in welchem daher wegen der natürlichen Beſchaffenheit des Klimas die mexikani— ſchen Eichen nicht mehr gedeihen. Auf der Straße von Acapulco hingegen, wenn man vom inneren Gebirgsplateau gegen die Südſee herabſteigt, gelangt man in einer Entfernung von kaum 90 km in die Region der gemäßigteren Länder— ſtriche. Der öſtliche Gebirgsfall iſt ſo ſteil, daß, wenn man einmal auf demſelben herabzuſteigen angefangen hat, der Weg ununterbrochen abwärts geht, bis man die öſtliche Küſte erreicht. Dagegen durchſchneiden vier ſehr bedeutende Längenthäler den weſtlichen Abhang des Gebirges. Sie ſind ſo auffallend regelmäßig verteilt, daß die dem Ozean am nächſten liegenden Thäler zugleich auch tiefer als die von der Küſte entfernten ſind. Wenn man meine nach genauen Meſſungen entworfenen Profile aufmerkſam betrachtet, ſo ſieht man, daß beim Herab— ſteigen der Gebirgsfläche von Tenochtitlan der Reiſende b in das Thal von Iſtla, und dann der Reihe nach in die Thäler von Mescala, Papagallo und Peregrino gelangt. Die Grundfläche dieſer vier Thäler, die, wie bereits oben bemerkt worden iſt, als ausgetrocknete Behälter alter Landſeen er— ſcheinen, ragen 981, 514, 170 und 158 m über den Meeres— ſpiegel des Ozeans empor. Die tiefſten Furchen ſind zugleich auch die engſten. Eine krumme Linie, welche man über die jene Thäler einſchließenden Gebirge, über den Pik des Mar: quis (wo einſt Cortez ſein Lager aufgeſchlagen), über die Thäler von Tasco, Chilpantzingo und Posquelitos zöge, würde eine regelmäßige Kurve bilden. Bei dem Anblice derſelben könnte man in Verſuchung geraten zu glauben, dieſe Regel— mäßigkeit ſei Folge eines allgemeinen Typus, den die Natur bei Bildung aller Gebirgsmaſſen befolgte. Aber die Betrach— tung der ſüdamerikaniſchen Andeskette iſt allein fchon hinläng— lich, dieſe ſyſtematiſchen Träume zu vernichten. In Peru liegen ungleich tief gefurchte Thäler regellos nebeneinander. Ja eine Menge geognoſtiſcher Thatſachen beweiſen, daß bei Bil— dung der Gebirge dem Scheine nach geringfügige Urſachen die Materie beſtimmt haben, ſich bald in der Mitte, bald am Rande der Kordilleren in koloſſalen Maſſen anzuhäufen. Die mexikaniſche Straße nach Aſien iſt auffallend von der nach Europa verſchieden. Auf der ganzen Strecke von — — 320 km zwiſchen Mexiko und Acapulco, geht der Weg ab— wechſelnd bergauf und bergab, ſo daß man jeden Augenblick aus einer kalten Region in einen brennend heißen Himmels— ſtrich gelangt. Doch iſt dieſer Weg von der Beſchaffenheit, daß er mit leichter Mühe für Wagen befahrbar gemacht werden könnte. Von den 378 km hingegen, welche die Hauptſtadt von dem Hafen von Veracruz entfernt iſt, ſind allein 252 km für die Strecke Weges zu rechnen, welche die große Gebirgsfläche von Anahuac einnimmt. Der übrige Teil iſt ein immerwährendes, äußerſt beſchwerliches Herab— klimmen an dem Gebirgsabhange, vorzüglich von der kleinen Feſtung Perote bis Jalapa und von dieſer Stadt, einem der reizendſten und maleriſchten Punkte der Erde, bis zur Rinconada. Die Schwierigkeit dieſes Weges, welcher der Gotthardsſtraße gleicht, verteuert den Wert der inländiſchen Produkte in Veracruz. In ihr liegt der Grund, warum das mexikaniſche Mehl noch immer nicht in der Havana und auf europäiſchen Märkten mit dem Mehle von Philadelphia Preis halten kann. Gegenwärtig wird an einer herrlichen Chauſſee an dem öſtlichen Abhange der Kordillere gearbeitet. Dieſes Unter— nehmen verdankt man dem großen und lobenswürdigen Eifer der Kaufleute von Veracruz. Es wird von dem entſchie— denſten Einfluſſe auf den Wohlſtand des ganzen Königreiches Neuſpanien ſein. Frachtwagen werden bald Tauſende von Maultieren erſetzen, deren man ſich bisher zur Verſendung der Waren von einem Meere zum anderen bediente. Der aſiatiſche Handel von Acapulco wird dadurch dem europäiſchen Handel von Veracruz gleichſam näher gerückt werden. Wir haben bereits oben bemerkt, daß in den mexikani— ſchen Provinzen, welche unter dem heißen Erdſtriche liegen, ein Flächenraum von 457000 qkm ein Klima genießt, welches man eher kalt als gemäßigt nennen darf. Dieſe ganze ungeheure Länderfläche erfüllen die Kordilleren von Anahuac, eine Reihe koloſſaler Gebirge, welche als Fort— ſetzung der peruaniſchen Andeskette zu betrachten ſind. Die Antes oder Antis nämlich, ob ſie ſich gleich in den Pro— vinzen Choco und Darien beträchtlich ſenken, ſetzen doch durch [Gegenwärtig führt eine Eiſenbahn von Veracruz nach der Hauptſtadt Mexiko. — D. Herausg.] A. v. Humboldt, Neuſpanien. 1. 2 — 18 >: die Landenge von Panama nach Nordamerika über.“ Im Königreiche Guatemala erheben ſie ſich von neuem zu einer beträchtlichen Höhe. Ihr Kamm nähert fi) bald dem Stillen Meere, bald läuft er mitten durch das Land, bisweilen wendet er ſich gegen die Küſten des Mexikaniſchen Meerbuſens. So z. B. zieht ſich das Gebirgsjoch im Königreiche Guatemala vom Nicaraguaſee bis gegen die Bucht von Tehuantepec längs der weſtlichen Küſte hin. In der Provinz Oaxaca, zwiſchen den Quellen der Flüſſe Chimalapa und Goatzocoalco hält der Gebirgsrücken die Mitte des Mexikaniſchen Iſthmus. Aber in den Intendanzen von Puebla und Mexiko von 18° 30° bis zu 21° der Breite, von der Mixteca an bis zu den Bergwerken von Zimapan, läuft die Kordillere von Anahuac in gerader Richtung von Süden gegen Norden, in⸗ dem ſie ſich der öſtlichen, den Antillen gegenüberſtehenden Küſte nähert. Gerade in dieſem Teile des großen Plateaus zwiſchen Mexiko und den kleinen Städten Cordoba und Jalapa erhebt ſich eine Gebirgsgruppe, die faſt den höchſten Gipfeln des neuen Weltteiles den Rang ſtreitig machen kann. Wir wollen nur vier? dieſer rieſenmäßigen Berge nennen, deren Höhe [Dieſe Anſicht, welche Humboldts ganzer Auffaſſung der mexikaniſchen Bodenverhältniſſe zu Grunde liegt, hat ſich als Irr— tum erwieſen; denn die Landenge von Panama iſt ein nur ſehr jugendlicher Verſchluß einer waſſergefüllten Lücke zwiſchen beiden amerikaniſchen Kontinenten. — D. Herausg.] 2 Den Koffer von Perote ausgenommen, habe ich dieſe Berge ſämtlich geometriſch gemeſſen. Da aber die Standlinien ſelbſt, an welche die Höhenwinkel ſich anſchloſſen, ſchon 2000 m hoch liegen, ſo mußte dieſer erſte Teil der ſenkrechten Höhe nach Laplaces baro— metriſcher Formel berechnet werden. In dieſer Hinſicht ſind alſo meine Bergmeſſungen, wie die Condaminiſchen, ja wie alle, die man nicht am Meeresſtrande anſtellen kann, gemiſchter Natur, teils geometriſch, teils barometriſch. Das Wort Popocatepetl iſt von popocani, Rauch, und von tepetl, Berg, abgeleitet; Iztaccihuatl von iztac, weiß, und von cihuatl, Frau. Citlaltepetl bezeichnet einen Berg, welcher wie ein Stern glänzt, von Citbaline, Stern und tepetl, Berg; denn der Pik von Orizaba erſcheint in der Ferne, wenn er Feuer ſpeit, glänzend wie ein Stern. Nauhcampatepetl ſtammt von Nauhcampa her, ein Wort, welches etwas Vierkantiges bedeutet. Der letzere Name iſt eine Anſpielung auf die ſonderbare Geſtalt der kleinen auf dem Gipfel des Berges von Perote befind— 3 vor meiner Reiſe nach Neuſpanien völlig unbekannt war; den Popocatepetl (von 4500 m), den Iztaccihuatl oder die weiße Frau (von 4786 m), den Citlaltepetl (oder Pik von Orizaba von 5295 m) und den Nauhcampatepetl (oder Koffer von Perote) von 4089 m. Dieſe Gruppe feuerſpeiender Berge hat manche Aehnlichkeit mit der des Königreiches Quito. Iſt der Höhe zu trauen, welche man gegenwärtig dem St. Eliasberge? zuſchreibt, ſo kann man behaupten, daß auf der ganzen nördlichen Halbkugel die Gebirge nur unter dem 19. und unter dem 60. Grad der Breite die ungeheure Höhe von 5400 m über der Meeresfläche erreichen. Weiter nordwärts, über den 19. Grad der Breite hinaus, in der Nähe der berühmten Bergwerke von Zimapan und des Doktor, welche in der Intendanz von Mexiko liegen, wendet ſich die Kordillere, unter dem Namen Sierra Madre aufs neue von Oſten gegen Nordweſten nach San Miguel el Grande und Guanajuato hin. Nördlich von dieſer letzteren Stadt, welche man als das Potoſi von Neuſpanien betrachten kann, nimmt ſie eine außerordentliche Breite an. Bald darauf teilt ſie ſich in drei Aeſte, deren öſtlicher ſich gegen Charcas und Real de Catorce ausdehnt, ſich aber allmählich im Königreiche Neuleon verliert. Der Gebirgszweig, welcher gegen Weſten fortläuft, füllt einen großen Teil der Provinz Guadalajara aus. Nördlich von Bolanos nimmt die Sierra Madre ſchnell an Höhe ab und verflacht ſich über Culiacan und Ariſpe in der Provinz Sonora gegen die Ufer des Rio Paqui hin. Aber unter dem 30. Grad der Breite erhebt ſich in der Tara— humara dieſer weſtliche Gebirgszweig von neuem zu einer beträchtlichen Höhe und bildet in der Nähe des Kaliforniſchen Meerbuſens die durch ihre Goldwäſchereien berühmten Gebirge der Pimeria alta. Das dritte und mittlere Joch der Sierra lichen Porphyrfelſen, welchen die erſten ſpaniſchen Eroberer mit einem Koffer verglichen. (Man ſehe das Wörterbuch der aztekiſchen Sprache, von Pater Alonzo de Molina, Mexiko 1571, S. 63.) (Die jetzigen Maße für dieſe Vulkane find: 5420, 4785, 5420 m. — D. Herausg.). 2 Spaniſche Seefahrer fanden durch genaue Meſſung im Jahre 1791 die Höhe dieſes Berges über dem Meeresſpiegel zu 2797 Toiſen (5451 m); dagegen wurde fie in Lapérouſes Reife zu 1980 Toiſen (3858 m) angegeben! [Nach neueren Meſſungen ſoll er gar 5950 m hoch ſein. — D. Herausg.] a: Madre, dasjenige nämlich, welches man als die Centralkette der Mexikaniſchen Anden betrachten kann, verbreitet ſich über die ganze Oberfläche der Provinz Zacatecas. Man kann es jenſeits Durango und dem Parral (in Neubiscaya) bis zur Sierra de los Mimbres (weſtlich vom Rio grande del Norte) verfolgen. Von hier aus erſtreckt es ſich durch ganz Neu— mexiko, bis es ſich endlich mit dem Kranichgebirge und mit der Sierra Verde vereinigt. Zwei thätige Mönche, Escalante und Font, haben dieſes nördliche Gebirgsland, in welchem der Rio Gila und der Rio del Norte nahe beiſammen entſpringen, bis unter den 40. Breitengrad unterſucht. Dieſer Teil der Sierra Madre trennt die Ströme, durch deren Vereinigung das Stille Meer mit dem Antilliſchen Ozean verbunden wer— den könnte. Fidler und der unerſchrockene Mackenzie ſind in derſelben weiter nördlich zwiſchen dem 50. und 55. Breiten⸗ grad vorgedrungen. Sie haben die Fortſetzung dieſer Ge— birgskette durch den unbeſtimmten Namen der Stony-Moun⸗ tains bezeichnet.! Wir haben bis hierher mit rohen Zügen das Gemälde der Kordillere von Neuſpanien entworfen, wir haben ge— zeigt, daß faſt allein die Küſten dieſes weit ausgedehnten Reiches unter einem Himmelsſtriche liegen, der heiß genug iſt, um die Produkte zu erzeugen, auf welche der weſtliche Handel gerichtet iſt. Nur die Intendanz von Veracruz, mit Ausnahme der Gebirgsfläche, die ſich vom Perote bis zum Pik von Orizaba erſtreckt, nur Yucatan, die Küſten von Oaxaca, das Litorale von Neuſantander und Texas, das König— reich Neuleon, die Provinz Coahuila, das wüͤſte Land, wel⸗ ches man unter dem Namen des Bolſons de Mapimi be⸗ greift, die Küſten Kaliforniens, der öſtliche Teil der Provinzen Sonora, Sinaloa und Neugalicien, und die ſüdlichen Gegen: den der Intendencias Valladolid, Mexiko und Puebla ſind niedrige, von unbedeutenden Hügeln durchſchnittene Länder. Die mittlere Wärme dieſer Ebenen, wenigſtens ſoweit ſie zwiſchen den Wendekreiſen und nicht mehr als 300 m über dem Meeresſpiegel liegen, beträgt 25 bis 26° des hundert⸗ teiligen Thermometers, folglich 8 8 bis 9° mehr als die mitt— lere Temperatur von Neapel. i Dieſe heißen und fruchtbaren Länder werden von den [Es find die Rocky Mountains oder Felſengebirge der heutigen Karten. — D. Herausg.] Eingeborenen Tierras calientes genannt. Sie erzeugen Zucker— rohr, Indigo, Baumwolle und Piſang im Ueberfluß. Halten ſich Europäer, welche noch nicht völlig an ein ſo brennendes Klima gewöhnt ſind, längere Zeit in dieſen Ebenen auf, wohnen ſie zuſammengedrängt in volkreichen Städten, ſo wer— den ſie das Opfer der tödlichen Krankheit, die unter dem Namen des ſchwarzen Erbrechens (Vomito prieto) oder des gelben Fiebers bekannt iſt. Acapulco und das Thal von Papagayo gehören zu den heißeſten Länderſtrichen des ganzen Erdballes. Auf der öſtlichen Küſte von Neuſpanien wird vom Oktober bis in den März die große Hitze durch die heftigen Nordwinde unterbrochen, welche mit unglaublicher Schnelligkeit kalte Luftſchichten von der Hudſonsbai über die Inſel Cuba und über Veracruz hinführen. Dieſe Stürme herrſchen vom Monat Oktober bis in den Monat März; ſie künden ſich durch eine plötzliche Störung der regelmäßigen Luftebben oder der ſtündlichen Veränderung des Barometer— ſtandes an. Ja, ſie verurſachen oft eine ſolche Kühlung der Luft, daß um die Havana der hundertteilige Thermometer faſt bis zum Gefrierpunkte und in Veracruz bis auf 16“ herabſinkt, Erſcheinungen, welche in Ländern, die unter dem heißen Erdgürtel liegen, den Reiſenden nicht wenig be— fremden. Am öſtlichen Abhange der Kordilleren, auf einer Höhe von 1200 bis 1500 m herrſcht ewig ſanfte Frühlingsmilde, und ein geringer Temperaturwechſel von kaum 4 bis 5°. Tierras templadas nennen die Eingeborenen dieſe Gegen— den, welchen brennende Hitze ebenſo fremd iſt als über— mäßige Kälte, und in welchen die mittlere Luftwärme nicht über 20 bis 21° beträgt. Unter dieſem lieblichen Himmels— ſtriche liegen Jalapa, Tasco und Chilpantzingo, drei Städte, die wegen ihres ungemein gelinden Klimas und wegen der vielen herrlichen Obſtbäume berühmt ſind, welche die um— liegenden Fluren ſchmücken. Aber leider iſt dieſe mittlere Höhe von 1300 m beinahe dieſelbe, in welcher die Wolken über den benachbarten Meeresflächen anhaltend ſchweben; daher dieſe gemäßigten Länderſtriche, welche am Gebirgsabhange liegen (z. B. die Gegend um Jalapa) oft wochenlang in dichte Nebel eingehüllt werden. Noch haben wir der Länder zu erwähnen, welche unter dem Namen Tierras frias bekannt ſind, und zu welchen man die Gebirgsflächen rechnet, deren mittlere Temperatur (auf einer Höhe von mehr als 2200 m ur ı 22 über dem Meeresſpiegel) weniger als 17° beträgt. Der Ther⸗ mometer iſt zwar einigemal zu Mexiko bis auf 1“ unter den Gefrierpunkt gefallen; aber dieſe Erſcheinungen ſind äußerſt ſelten: meiſtenteils find die Winter daſelbſt jo gelinde wie in Neapel und die mittlere Tageswärme beträgt im Ja⸗ nuar und Februar noch 13 bis 14°. Im Sommer erhebt ſich der Thermometer im Schatten nicht über 24°. Ueber: haupt iſt die mittlere Temperatur der großen Gebirgsfläche aut Neuſpanien wie unter Roms mildem Himmel 17°. Dennoch wird dieſe Gebirgsfläche nach dem klaſſifizierenden e brauch der Eingeborenen unter die Tierras frias ge: rechnet. So unbeſtimmt oder vielmehr ſo relativ ſind die Ausdrücke kalt und warm. In dem brennenden Klima Gua: yaquils klagen die Eingeborenen über heftige Kälte, wenn der hundertteilige Thermometer plötzlich auf 24° fällt, wäh: rend er den übrigen Teil des Tages auf 30° ſteht. Alle Gebirgsebenen, welche höher ſind als das Thal von Mexiko, diejenigen z. B. deren abſolute Höhe mehr als 2500 m beträgt, haben, obwohl ſie unter den Wendekreiſen liegen, ſelbſt nach dem Gefühl der Bewohner des europäiſchen Nor: dens ein rauhes, unangenehmes Klima. Dies iſt der Fall mit den Ebenen von Toluca und den Anhöhen von Guchi— laque, wo faſt zu jeder Jahreszeit die Luftwärme nicht über 6 bis 8° ſteigt. Der Oelbaum trägt daſelbſt keine Früchte, indes er einige hundert Meter tiefer, im Thale von Mexiko auf das herrlichſte gedeiht. Die mittlere Temperatur aller dieſer Länder, welche unter dem Namen Tierras frias begriffen werden, beträgt 11 bis 13° wie in Frankreich und in der Lombardei. Dennoch iſt die Vegetation in dieſen Gegenden von Amerika weniger kräftig und ſaftvoll; die europäiſchen Pflanzen wachſen daſelbſt minder üppig und ſchnell als in ihrem eigentlichen Vater— lande. Freilich iſt auf einer Höhe von 2500 m die Strenge des mexikaniſchen Winters nicht ſehr groß, dagegen werden aber auch im Sommer die verdünnten Luftſchichten über dieſen Gebirgsflächen nicht genugſam von den Sonnenſtrahlen er— wärmt, um die Entwickelung der Blüten zu begünſtigen, und die Früchte zu vollkommener Reife zu bringen. Dieſe be: ſtändige Gleichheit der Temperatur, dieſe gänzliche Abweſen— heit großer, wenn auch nicht lange anhaltender Hitze gibt dem Klima der Hochländer zwiſchen den Wendekreiſen einen ſonderbaren, eigentümlichen Charakter. Ja, mehrere Produkte des Pflanzenreiches gedeihen weniger auf dem Rücken der Mexikaniſchen Kordilleren als in den Ebenen nördlich vom Wendekreiſe des Krebſes, ſelbſt wenn die mittlere Wärme der letzteren geringer iſt als die der Gebirgsfläche zwiſchen dem 19. und 22. Grad der Breite. Allgemeine Betrachtungen über die Konſtruktion des Erd— körpers und über die phyſiſche Einteilung von Neuſpanien gewähren nicht bloß ein naturhiſtoriſches Intereſſe. Sie ſind von nicht minderer Wichtigkeit für den Staatsmann. In Frankreich, ja faſt in ganz Europa hängen Benutzung und landwirtſchaftliche Verteilungen des Bodens beinahe aus— ſchließend von der geographiſchen Breite ab; in den Tropen— ländern von Peru, Neugranada und Neuſpanien hingegen werden Klima, Natur der Produkte, äußere Geſtalt, ich möchte ſagen, Phyſiognomie des Landes einzig und allein durch die größere und geringere Erhöhung über der Meeresfläche be— ſtimmt. Dieſer Einfluß der ſenkrechten Höhe it jo mächtig, daß der Einfluß der Breite faſt gänzlich dagegen verſchwindet. Linien, wie ſie Arthur Young und Herr Decandolle zur Be— zeichnung der Verſchiedenheit der Landeskultur auf gewöhn— lichen Horizontalprojektionen von Frankreich zogen, können zu ähnlichem Zwecke für Neuſpanien nur auf Profilen dar— geſtellt werden. Vom 19. bis zum 22. Grad der Breite wachſen in Ueberfluß Zuckerrohr, Baumwolle und vorzüglich Kakao und Indigo bis zu einer Höhe von 600 bis 800 m.! Die Kultur des europäiſchen Weizens beginnt am Abhange der Kordilleren erſt auf einer Höhe von 1400 m; ſie reicht nicht über Gebirgskuppen hinaus, die 3000 m hoch find. Der Piſang (Musa paradisiaca) dieſes wohlthätige Gewächs, welches die Hauptnahrung aller Bewohner des heißen Erd— gürtels ausmacht, trägt höher als 1550 m beinahe keine Frucht mehr. Mexikanische Eichen gedeihen nur auf einer Höhe von 800 bis 3100 m. Niedriger als 1850 m wächſt am Abhange der Gebirge gegen Veracruz hin keine Fichte. Dagegen erhebt ſich dieſer Baum nahe an der Grenze des ewigen Schnees bis zu einer Höhe von 4000 m. Hier iſt bloß von der allgemeinen Verteilung der Produkte des Pflanzenreiches die Rede. Ich werde in der Folge Gegenden anführen, in denen, durch eine beſondere Lage begünſtigt, Zucker— rohr und Baumwolle bis auf eine Höhe von 1700 m über dem Meeresſpiegel gedeihen. a Alle unter den Namen Provincias internas befannten Länderſtriche, die im gemäßigten Erdgürtel liegen, vorzüglich die unter dem 30. und 38. Grad der Breite genießen, wie der übrige Teil von Nordamerika, ein Klima, welches weſent— lich von dem des alten Kontinents unter gleichen Breiten verſchieden iſt. In Nordamerika herrſcht eine auffallende Un⸗ gleichheit zwiſchen der Temperatur der verſchiedenen Jahres— zeiten. Auf eine Sommerhitze, wie man ſie in Neapel und Sizilien antrifft, folgt eine Winterkälte Deutſchlands. Es wäre überflüſſig, hier andere Urſachen dieſer Erſcheinungen als die beträchtliche Breite des neuen Weltteils und ſeine Aus— dehnung gegen den Nordpol hin auszuführen. Einſichtsvolle Naturforſcher, beſonders H. Volney in ſeinem vortrefflichen Werke über die Beſchaffenheit des Bodens und über das Klima der Vereinigten Staaten von Nordamerika haben dieſen Gegenſtand bereits mit der Gründlichkeit und Aufmerkſamkeit behandelt, welche er verdient. Ich begnüge mich hier die ein— zige Bemerkung hinzuzufügen, daß die Verſchiedenheit der Temperatur, welche man unter gleicher Breite in Europa und in Amerika beobachtet, in denjenigen Gegenden des neuen Kontinents, welche ſich dem Stillen Meere nähern, weniger auffallend iſt als in den öſtlichen Teilen. Herr Barton be— weiſt aus dem Zuſtande des Ackerbaues und aus der natür— lichen Verteilung der Produkte des Pflanzenreiches, daß die öſtlichen Provinzen, gegen den Atlantiſchen Ozean hin be— trächtlich kälter ſind, als die weit ausgedehnten weſtlichen Ebenen, die jenſeits der Alleghanyberge liegen. Ein wenig beachteter, aber für die Fortſchritte der Na— tionalinduſtrie wichtiger Vorteil erwächſt aus der mittleren Höhe, auf welcher die Natur in Neuſpanien den großen Reichtum metalliſcher Schätze vergraben hat. In Peru liegen die vornehmſten Silberbergwerke, die von Potoſi, Pasco und Chota, weit über den Wolkenſchichten nahe bei der Grenze des ewigen Schnees. Um ſie zu bearbeiten, müſſen Vieh und Lebensmittel aus der Ferne herbeigeſchafft werden. Dazu bieten Städte auf den hohen Gebirgsrücken mitten in Gegen— den, wo das Waſſer nachts das ganze Jahr hindurch gefriert und wo kein Fruchtbaum gedeiht, den Menſchen eben keinen einladenden Aufenthalt dar. Nur die Hoffnung, ſich zu bereichern, kann den freien Mann bewegen, die Küſte oder den milden Himmelsſtrich der Gebirgsthäler zu verlafjen, um ſich auf dem einſamen Rücken — der peruaniſchen Andeskette einſam anzuſiedeln. In Neu— ſpanien findet man die ergiebigſten Erzniederlagen, die von Guanajuato, Zacatecas, Tasco und Real del Monte auf einer mäßigen Höhe von 1700 bis 2000 m. Sorgſam bebaute Felder, volkreiche Städte und Dörfer umgeben in dieſem ge— ſegneten Länderſtriche die Erzgruben. Wälder bekränzen die Gipfel der benachbarten Berge; alles erleichtert daſelbſt die Ausbeute der unterirdiſchen Schätze. Mitten unter jo vielen Begünſtigungen, welche die Na: tur dem Königreich Neuſpanien verliehen hat, leidet das— ſelbe faſt durchgehends, wie Altſpanien durch Mangel von Nale und_ von Ihiffbaren Strömen. Der Rio Bravo del korte, und der Rio Colorado ſind faſt die einzigen Flüſſe, die wegen der Länge ihres Laufes und wegen der großen Waſſermaſſe, welche ſie dem Ozean zuführen, die Aufmerk— ſamkeit des Reiſenden feſſeln können. Die Länge des Rio del Norte beträgt von den Gebirgen der Sierra Verde (öſt— lich vom See Timpanogas) bis zu ſeiner Mündung in der Provinz Neuſantander 2278 km, die Länge des Rio Colorado beträgt 1113 km. Aber leider durchſtrömen dieſe beiden Flüſſe die unbebauteſten Teile des Königreiches. Sie werden jo lange ohne Einfluß auf Gewerbfleiß und Handel bleiben, als nicht durch große Staatsveränderungen und durch andere Ereigniſſe begünſtigt, die Bevölkerung in dieſer fruchtbaren und gemäßigten Zone auffallend zunimmt. Wahrſcheinlich iſt dieſer Zeitpunkt nicht fern. Noch im Jahre 1795 waren die Ufer des Ohio ſo wenig bevölkert, daß man auf einen Flächenraum von 2587 qkm kaum 30 Familien rechnen konnte, und jetzt iſt das Land dermaßen bewohnt, daß eine Niederlaſſung von der anderen nur eine, höchſtens zwei Stun— den entfernt iſt! — In dem ganzen Teile von Neuſpanien, welcher zwi— ſchen den Wendekreiſen liegt, findet man nur kleine Flüſſe, deren Mündungen aber eine beträchtliche Breite haben. Das feſte Land iſt zu ſchmal, als daß ſich eine große Menge Waſſers auf ſo engem Raume anhäufen könnte. Die Ge— wäſſer, die vom ſteilen Abhange der Kordilleren herabſtürzen, ſind eher reißende Waſſerſtröme als Flüſſe zu nennen. In Mexiko wie in Peru verbreitet die große Annäherung der Gebirge an die Küſte Dürre über die benachbarten Ebenen. Unter den wenigen Flüſſen, die den ſüdlichen Teil von Neu— ſpanien durchſtrömen, ſind die einzigen, die man einſt für — den Handel im Inneren des Landes benutzen könnte: 1) Der Rio Goatzacoalco und der Rio Alvarado, beide liegen ſüdlich von Veracruz und erleichtern die Verbindung mit dem König: reiche Guatemala. 2) Der Rio Montezuma, welcher die Gewäſſer der Seen und der Thäler von Tenochtitlan dem Rio Panuco zuführt, und mittels deren man, uneingedenk der großen Höhe von Mexiko über den Meeresſpiegel, eine Kanalſchiffahrt von dieſer Hauptſtadt herab bis zur öſtlichen Küſte projektiert hat. 3) Der Rio Zacatula. 4) El Rio grande de Santiago, aus den Flüſſen Lerma und Las Laxas gebildet, auf dem man Getreide und Mehl aus den fruchtbaren Ebenen von Salamanca und Celaya und vielleicht ſelbſt aus der ganzen Provinz Guadalajara nach dem Hafen San Blas (an den Küſten des Stillen Meeres) verſchiffen könnte. Die Seen, deren Neuſpanien eine beträchtliche Menge zählt, und wovon die meiſten mit jedem Jahre ſichtbar kleiner werden, ſind wahrſcheinlich ſchwache Ueberreſte der großen Waſſerbehälter, welche ehemals die weit ausgedehnten ſohligen Ebenen der Kordilleren einnahmen. Ich beſchränke mich hier darauf, nur folgende zu nennen: den großen See von Cha— pala in Neugalicien, der, noch einmal ſo groß als der Boden— ſee, eine Strecke Landes von faſt 3140 qkm einnimmt; die Seen des Thales von Mexiko, welche ſich über den zehnten Teil dieſes Thales verbreiten; den See von Patzeuaro in der Intendanz Valladolid, einer der reizendſten und maleriſchten Punkte, die ich kenne; den See von Mextitlan und den See von Parras in Neubiscaya. Das Innere von Neuſpanien, vorzüglich ein Teil der hohen Gebirgsfläche von Anahuac, iſt ein baumloſes, pflanzen— armes Land; der Anblick dieſer öden, unfruchtbaren Gegend erinnert an die Ebenen von Alt- und Neukaſtilien. Manch— faltige Urſachen begründen dieſe ſonderbare Erſcheinung. Die Höhe der Mexikaniſchen Kordillere iſt jo beträchtlich, daß die Ausdünſtung auf der großen Gebirgsfläche durch die der Berg— luft eigentümliche Trockenheit anſehnlich vermehrt wird. An— dererſeits iſt das Land doch noch zu niedrig, als daß viele Gebirgsgipfel bis in die Schneeregion reichten. Dieſe Re— gion oder die Grenze des ewigen Schnees beginnt unter der Linie auf einer Höhe von 4800 m, unter dem 45. Grad der Breite mit 2550 m. In Neuſpanien unter dem 19. und 20. Grad der Breite, findet man meinen Meſſungen zufolge a ewigen Schnee auf einer Höhe von 4600 m. Von den ſechs koloſſalen Bergen, welche ſich von 19° und 19° 15° Breite in einer Linie erheben, ſind nur vier, der Pik von Orizaba, der Popocatepetl, der Iztaccihuatl und der Nevado von To— luca, mit ewigem Schnee bedeckt; die Gipfel der beiden an— deren, der Koffer von Perote, und der Vulkan von Colima erſcheinen den größten Teil des Jahres über völlig ſchneelos. Nördlich und ſüdlich von dieſem Parallel der großen Höhen, über dieſen ſchmalen Erdgürtel hinaus, in dem auch der neue Vulkan von Jorullo ausgebrochen iſt, gibt es in Neuſpanien keinen einzigen Berg, welcher mit immerwährendem Schnee bedeckt wäre. Im Monate September, wo die ewige Schneegrenze ſich am meiſten von dem Fuße der Gebirge entfernt, beginnt die— ſelbe unter dem Parallel von Mexiko, auf einer Höhe von 4500 m. Im Januar, wo ſie ſich am tiefſten herabſenkt, findet man ſie ſchon auf einer Höhe von 3700 m. Dieſer Höhenunterſchied oder die Oszillation der Schneegrenze be— trägt daher unter dem 19. Grad der Breite von einer Jahres— zeit zur anderen 800 m, unter der Linie kaum 60 bis 70 m. Man muß indes nicht die ewige Eisrinde, welche die Gipfel der Berge überzieht, mit dem Schnee verwechſeln, der zufällig zur Winterszeit in weit niedrigeren Gegenden fällt. Selbſt dieſe letztere Erſcheinung unterliegt, wie alles in der Natur, unwandelbaren Geſetzen, die von den Naturforſchern näher unterſucht zu werden verdienen. Unter dem Aequator, in der Provinz Quito, fällt dieſer ſchnell hinwegſchmelzende Schnee nur auf einer Höhe von 3800 bis 3900 m; in Neu— ſpanien, zwiſchen dem 18. und 22. Grad der Breite, ge— wöhnlich ſchon auf einer Höhe von 3000 m. Ja, man hat in den Straßen der Hauptſtadt Mexiko auf einer Höhe von 2277 m, und ſelbſt noch 780 km tiefer, in Valladolid, bis— weilen ſchneien geſehen. In den Provinzen von Neuſpanien, welche zu der Tropenregion gehören, trägt alles, Boden, Klima und Pflan— zenwuchs, gleichſam den Charakter der gemäßigten Zone. Die Nähe von Kanada, die Breite des neuen Kontinents gegen Norden hin, und die Menge Schnees, welche ſich in Polar— ländern anhäuft, kühlen die Atmoſphäre von Neu-Spanien mehr ab, als man es in Gegenden, die unter dem heißen Erdgürtel liegen, erwarten ſollte. Iſt die Winterkälte in den mexikaniſchen Gebirgsebenen e auffallend groß, ſo ſteigt auch andererſeits im Sommer die Hitze daſelbſt auf einen weit höheren Grad, als man nach der Analogie der thermometriſchen Beobachtungen vermuten ſollte, welche Bouguer und La Condamine auf der peruani— ſchen Andeskette angeſtellt haben; die große Maſſe der Kor— dilleren von Neuſpanien, die ungeheuren Ebenen, die ſich auf ihrem Rücken hinziehen, verurſachen durch Reverberation der Sonnenſtrahlen eine Wärme, welche man in weniger ebenen Hochländern, bei gleicher Erhöhung über den Meeres— ſpiegel, vergebens ſuchen würde. Dieſe Wärme und andere Lokalumſtände vermehren die Dürre, welche als ein Haupt— übel jener herrlichen Länder zu betrachten iſt. Nördlich vom 20. Grad beſonders vom 22. bis zum 30. Grad der Breite, ſind die Regengüſſe, welche ohnedies nur vom Juni bis in den September eintreten, im In⸗ neren des Landes äußerſt ſelten. Wir haben bereits oben bemerkt, daß die beträchtliche Höhe dieſer Gebirgsfläche und die Trockenheit der dünnen Luftſchichten die Aus— dünſtung beſchleunigen. Der aufſteigende Luftſtrom, die Säule warmer Luft, welche ſich über die Ebene erhebt, ver— ſcheucht und zerſtreut die Wolken; ſie hindern die Dunſt— bläschen ſich zu zerſetzen, und dieſes dürre, ſalzige, jedes Ge— ſträuches beraubte Hochland zu bewäſſern. Flußquellen find ſelten in Gebirgen, welche größtenteils aus poröſem Mandel— ſtein und aus klüftigem Porphyr beſtehen. Das eindringende Waſſer, ſtatt ſich in kleinen unterirdiſchen Behältern zu ſam— meln, verliert ſich in den Spalten der Berge, die in alten vulkaniſchen Revolutionen erſchüttert worden ſind. Es kommt erſt wieder am Fuße der Kordilleren zum Vorſchein, wo es eine Menge kleiner Flüſſe bildet, die der Geſtalt des Landes wegen von geringer Länge ſind. Dieſe Dürre der Centralgebirgsfläche, dieſer gänzliche Mangel an Bäumen, zu welchem wahrſcheinlich auch ein langes Verweilen der Gewäſſer in den hohen Thälern beitrug, ſind dem Umtriebe des Bergbaues hinderlich. Dieſes Uebel iſt ſeit der Ankunft der Europäer beträchtlich vermehrt wor— den. Die Konquiſtadoren haben die alten Waldungen zer: ſtört, ohne neue anzupflanzen, ja ſie haben durch künſtliche Austrocknung der Seen der Vegetation auf dem Plateau noch mehr geſchadet; ſalzſaure Soda und Kalkerde, ſalpeterſaures Kali, und andere ſalzige Stoffe verbreiten ſich über den alten Seeboden; ja ſie vegetieren mit einer Schnelligkeit, deren Pr Er. Erklärung den Chemiker verlegen macht. Durch dieſe alles verdrängende, der Landeskultur ſo ſchädliche Salzrinde gleicht die mexikaniſche Gebirgsfläche an einigen Stellen der hohen Ebene von Tibet, oder jenen Salzſteppen, die ſich im inneren Aſien von der chineſiſchen Mauer bis an den Aralſee er— ſtrecken. Unfruchtbarkeit und Mangel an kräftigem Pflanzen— wuchſe haben ſeit der ſpaniſchen Eroberung ſichtbar im Thal von Tenochtitlan zugenommen, ein Thal, welches, ſolange noch die Seen einen größeren Flächenraum einnahmen und durch ihre Ueberſchwemmungen den Lettenboden gleichſam aus— laugten, mit dem herrlichſten Grün geſchmückt war. Glücklicherweiſe findet dieſe Dürre des Bodens, deren Urſachen wir bis hierher entwickelt, nur an einzelnen Punkten und auf den höchſten Ebenen ſtatt. Ein großer Teil des Königreichs Neu-Spanien gehört unter die fruchtbarſten Län⸗ der der Erde. Am Abhange der Kordillere, wo feuchte Winde und häufige Nebel den Boden tränken, iſt der Pflanzenwuchs von unbeſchreiblicher Ueppigkeit und Pracht. Noch tiefer herab, an den Küſten erzeugt die Fäulnis einer großen Maſſe organiſcher Stoffe furchtbare Krankheiten, welche Europäern und überhaupt allen, die nicht an ein heißes Klima gewöhnt ſind, gefährlich werden. Unter dem brennenden Himmels— ſtriche der Tropenwelt ſind Ungeſundheit der Luft und außer— ordentliche Fruchtbarkeit des Bodens faſt unzertrennlich mit— einander verknüpft. Die Menge Regenwaſſer, welche in einem Jahre fällt, beträgt am Mexikaniſchen Meerbuſen, z. B. in Veracruz 1,62 m, während ſie in Frankreich kaum 0,70 m erreicht. Eine ſo ungeheure Feuchtigkeit befördert mit der ſchnelleren Entwickelung der vegetabiliſchen und tieriſchen Organiſation auch die Bildung gefahrdrohender Miasmen. Bei dem allen iſt Neuſpanien im ganzen (wenige Seehäfen und die tiefen Thäler abgerechnet, in denen die ärmere Volks— klaſſe von Wechſelfiebern leidet) als ein auffallend geſundes Land zu betrachten. Die Bewohner von Mexiko werden durch Erdbeben und vulkaniſche Ausbrüche ſeltener beunruhigt als die Bewohner von Quito, Guatemala und Cumana. Es gibt in den Kor: dilleren von Anahuac nur fünf brennende Vulkane, den Ori⸗ zaba, den Popocatepetl und die Berge von Tuxtla, Jorullo und Colima. Erdbeben ſind häufig an den Küſten des Stillen Meeres und ſelbſt in der Gegend von Mexiko. Sie richten aber minder große Verwüſtungen an, als die, welche die Städte Lima, Riobamba, Guatemala und Cumana von Zeit zu Zeit erlitten haben. Durch ein ebenſo ſonderbares als ſchreckliches Naturereignis ſtieg der Vulkan von Jorullo, von einer zahlloſen Menge kleiner rauchender Kegel umgeben, im September 1759, aus der Erde hervor. Unterirdiſches Ge— töſe, faſt um ſo fürchterlicher, weil es von keiner anderen vulkaniſchen Erſcheinung begleitet war, iſt monatelang im Anfange des Jahres 1784 zu Guanajuato vernommen wor— den. Dieſe Phänomene beweiſen, daß die ſchmale Zone zwi— ſchen dem 19. und 22. Grad der Breite unterirdiſches Feuer nährt, welches von Zeit zu Zeit ſelbſt in großer Entfernung von der Meeresküſte die Erdrinde durchbrüht. Die Stadt Mexiko ſteht durch ihre natürliche Lage gleich— ſam in Verbindung mit allen Teilen der civiliſierten Welt. Auf einer Landenge erbaut, welche von einer Seite die Süd— ſee, von der anderen der Atlantiſche Ozean beſpült, ſcheint ſie zu einer wichtigen Rolle auf dem großen Schauplatze po⸗ litiſcher Ereigniſſe beſtimmt zu ſein. Ein König von Spanien, der ſeine Reſidenz im Thale von Tenochtitlan aufſchlüge, könnte ſeine Befehle in fünf Wochen nach Europa, in ſechs Wochen nach Aſien, nach den Philippiniſchen Inſeln gelangen laſſen. Das unermeßliche mexikaniſche Reich mit gehörigem Fleiße angebaut, könnte faſt allein die Produkte erzeugen, welche der Fleiß ſchiffahrender Nationen auf allen übrigen Teilen des Erdballes ſammelt, Zucker, Kochenille, Kakao, Baumwolle, Kaffee, Weizen, Hanf, Flachs, Seide und Wein. Es beſitzt alle nutzbaren Metalle, ſelbſt das Queckſilber nicht ausgenommen. Herrliches Bauholz, Ueberfluß an Eiſen und Kupfer würden die Fortſchritte der mexikaniſchen Schiffahrt begünſtigen. Nur der Zuſtand der Küſten und der Mangel an Häfen von der Mündung des Rio Alvarado an bis zum Ausfluſſe des Rio Bravo ſtellen Hinderniſſe in den Weg, welche ſelbſt unter den günſtigſten politiſchen Verhältniſſen ſchwer zu entfernen ſein werden. Dieſe Hinderniſſe beſchränken ſich indes nur auf die öſtlichen Küſten. San Francisco in Neukalifornien, San Blas in der Provinz Guadalajara an der Mündung des Santiago— fluſſes, und vorzüglich Acapulco find vortreffliche Häfen. Der letztere Hafen iſt wahrſcheinlich durch ‚ige eine heftige Erd» erſchütterung gebildet. Er gehört zu den bewundernswürdigſten Meeresbuchten der bekannten Erde. Auf der ganzen Küſte des Stillen Meeres iſt Coquimbo in Chile allein dem Hafen — 31 — von Acapulco vorzuziehen, weil im letzteren zur Zeit heftiger Windſtöße das Meer bisweilen ſtürmiſch eindringt. Weiter gegen Südoſten von Acapulco liegt Rialejo, ein Hafen, der im Königreich Guatemala, wie der von Guayaquil, durch die Mündung eines ſchönen und großen Fluſſes gebildet wird. Sonzonate und Tehuantepec, wo während der guten Jahres— zeit viele Schiffe einlaufen, ſind offene Reeden, welche im Winter nicht ohne Gefahr beſucht werden können. Wirft man einen allgemeinen Blick auf die öſtliche Küſte von Neuſpanien, ſo ſieht man, daß ſie minder vorteilhaft für den Handel als die weſtliche geſtaltet iſt. Auf jener gibt es, wie ſchon oben bemerkt, eigentlich gar keinen ſicheren Hafen. Veracruz, deſſen jährliche Exportation 50 bis 60 Millionen beträgt, iſt nichts als ein ſchlechter Ankerplatz zwiſchen den Untiefen Caleta, La Gallega und Lavandera. Die phyſiſchen Urſachen, welche dieſe Lage ſo unvorteilhaft machen, ſind leicht zu ergründen. Die Küſte von Neu: ſpanien, ſo weit ſie den Mexikaniſchen Meerbuſen begrenzt, iſt als ein Damm zu betrachten, gegen den die Tropenwinde und die perpetuierliche Bewegung der ſtrömenden Gewäſſer von Oſten nach Weſten den Sand anhäufen, welchen die ſtürmiſche See aufwühlt. Der Rotationsſtrom verfolgt die Küſten von Südamerika, von Cumana bis zur Landenge von St. Darien; dort wendet er ſich nordwärts gegen das Vor— gebirge Catoche, bildet einen großen Wirbel im Mexikaniſchen Meerbuſen und dringt durch den Kanal von Florida gegen die Bank von Neufundland vor. Der Sand, welchen die umhertreibenden Gewäſſer von der Halbinſel Nucatan bis zu den Mündungen des Rio del Norte und des Miſſiſſippi an⸗ häufen, verengt allmählich das Becken des Mexikaniſchen Meer: buſens. Auffallende geognoſtiſche Thatſachen beweiſen dieſen allmählichen Zuwachs des feſten Landes; überall bemerkt man das Zurückweichen des Ozeans. Herr Ferrer hat bei dem Dorfe Soto la Marina, öſtlich von der kleinen Stadt Neu— ſantander, 10 Stunden weit von der Küſte, den Flugſand mit Seemuſcheln gemengt gefunden; dieſelben pelagiſchen Reſte habe ich in der Gegend von Antigua und Neuveracruz weit gegen Weſten bemerkt. Die Flüſſe, welche von der Sierra Madre in das Antilliſche Meer herabſtrömen, tragen nicht wenig dazu bei, die Untiefen längs der Küſte zu ver⸗ mehren. Auffallend iſt es, daß im alten Spanien gerade wie im neuen das öſtliche Litorale der Schiffahrt am hinder⸗ lichſten iſt. Längs dem Mexikaniſchen Meerbuſen vom 18. bis zum 26. Grad der Breite ſind die Küſten durch Barren beſchützt, über welche kein Schiff, welches mehr als 3 bis 3,3 m Waſſer zieht, ohne Gefahr zu ſtranden, hinwegſegeln kann. Dieſe dem Handel ſo nachteiligen Barren erleichtern die militäriſche Verteidigung des Landes gegen die herrſchſüch— tigen Entwürfe einer europäiſchen Seemacht. Mißvergnügt über den Hafen von Veracruz (wenn der gefährlichſte aller Ankerplätze den Namen eines Hafens ver— dient) ſchmeicheln ſich indeſſen die Bewohner von Neuſpa— nien mit der Hoffnung, dem Handel bequemere und ſichere Wege zu eröffnen. Südlich von Veracruz haben die Mün— dungen der Flüſſe Alvarado und Goatzacoalco, nördlich von Veracruz der Rio Tampico und vorzüglich das Dorf Soto la Marina, oberhalb der Barre von Santander, ſeit langer Zeit die Aufmerkſamkeit der Regierung gefeſſelt. Allein auch an dieſen, übrigens vorteilhaft gelegenen Punkten verhindern Untiefen das Einlaufen großer Schiffe. Man müßte die Häfen künſtlich reinigen, und es iſt ſehr ungewiß, ob die koſtſpielige Unternehmung des Ausbaggerns von dauerhaftem Nutzen ſein würde. Uebrigens iſt zu bemerken, daß die Küſten von Neuſantander und Texas, vorzüglich von der Bernard— oder Carbonerabai noch viel zu unbekannt ſind, um zu ent— ſcheiden, ob längs dieſes weit ausgedehnten Litorales das Meer überall dieſelben Sandbänke angehäuft hat. Zwei thätige, mit aſtronomiſchen Kenntniſſen ausgerüſtete Offiziere, die Herren Cevallos und Herrera, haben ſich neuerlichſt mit dieſer für die Schiffahrt wichtigen Unterſuchung der öſtlichen mexikaniſchen Küſten beſchäftigt. Unter den gegenwärtigen Verhältniſſen hängt Neuſpanien in militäriſcher Hinſicht von der Inſel Cuba ab; die Havana iſt der einzige benachbarte Hafen, in welchem die Kriegsgeſchwader einlaufen können. Es iſt der wichtigſte Punkt zur Verteidigung der mexikaniſchen Küſten. Auch hat die Regierung ſeit der letzten Einnahme der Havana durch die Engländer ungeheure Summen auf— gewendet, um die Feſtungswerke dieſes Platzes zu erweitern. Seines wahren Vorteils eingedenk, hat der Madrider Hof den Grundſatz anerkannt, daß eine europäiſche Macht nur jo lange. den Beſitz von Neuſpanien bewahren kann, als ſie Herr der Inſel Cuba bleibt. Ein Nachteil iſt in den öſtlichen Küſten mit denen ge— mein, welche der Große Ozean, oder wie man ihn mit Bear Unrecht nennt, das Stille Meer beſpült. Heftige Stürme machen beide Küſten mehrere Monate hindurch unzugänglich und ſtören die Schiffahrt. Die Nordwinde (los Nortes), eigentlich Nordweſtwinde wehen im Mexikaniſchen Meerbuſen von der Herbſtnachtgleiche bis zum Anfange des Frühlings. Am ſchwächſten ſind dieſe Winde gewöhnlich in den Monaten September und Oktober; am ſtärkſten im Monate März, bis⸗ weilen dauern ſie bis in den April; Seefahrer, welche häufig den Hafen von Veracruz beſuchen, kennen die Zeichen, welche die Nähe dieſer Stürme andeuten, wie der Arzt die Sym⸗ ptome eines Fiebers kennt. Eine große Unruhe der Queck— ſilberſäule im Barometer, eine plötzliche Unterbrechung der regelmäßigen ſtündlichen Oszillationen der Atmoſphäre ſind nach Herrn Ortas merkwürdigen Beobachtungen als ſicherſte Vorbedeutungen eines nahen Nordſturmes zu betrachten. Zu dieſen Merkmalen geſellen ſich noch andere Naturerſcheinungen: es bläſt ein kleiner Landwind (Terral) von Weſt⸗Nord⸗Weſt; auf dieſen Terral folgt eine gelinde Briſe, zuerſt aus Nordoſt, dann aus Süden; indes herrſcht eine drückende Hitze; das in der Luft aufgelöſte Waſſer ſchlägt ſich an alle Mauern von Backſteinen auf den gepflaſterten Fußboden und an die Ge— länder von Holz oder Eiſen nieder. Der Gipfel des Piks von Orizaba und des Koffers von Perote, die Gebirge von Villarica und vorzüglich die Sierra von San Martin, die fi) von Tuxtla bis zum Goatzacoalco erſtreckt, erſcheinen plötz⸗ lich unbewölkt, während ihr Fuß in einem halbdurchſichtigen Schleier von Dünſten eingehüllt iſt. Dieſe Kordilleren, be- ſonders die Schneeberge ſchneiden ſich in ſcharfen Umriſſen gegen die tiefe Himmelsbläue ab. Bei dieſem Zuſtande der Atmoſphäre beginnt der Sturm zuweilen mit ſolchem Unge— ſtüm, daß die auftobenden Wellen hoch über die Stadtmauer ſchlagen, und daß es bereits in der erſten Viertelſtunde ge— fährlich iſt, auf dem Molo, in dem Hafen zu verweilen. Alle Verbindung zwiſchen der Stadt und dem Schloſſe San Juan de Ulua iſt dann unterbrochen. Gewöhnlich dauern dieſe Nord⸗ ſtürme drei bis vier, bisweilen zehn bis zwölf Tage. Geht der Wind durch Süden in einen Oſtwind (Briſe) über, ſo iſt dieſe Veränderung gewöhnlich nur von kurzer Dauer; die Wut des Sturmes beginnt dann bald von neuem; wendet ſich dagegen der Nordwind durch Nordoſt nach Oſten, ſo kann man auf wahre Briſe oder Oſtwind und auf anhaltend ſchönes Wetter rechnen. Zur Winterszeit dauert der tropiſche Oſt⸗ A. v. Humboldt, Neuſpanien. I. 3 3 wind kaum drei bis vier Tage hinter einander. Doch iſt dieſer Zeitraum mehr als hinreichend, um zu geſtatten, daß ein aus dem Hafen von Veracruz auslaufendes Schiff die offene See erreichen und ſich von den der Küſte nahen Untiefen entfernen kann. Zuweilen empfindet man auch im Mexikaniſchen Meer- buſen in den Monaten Mai, Juni, Juli und Auguſt äußerſt heftige Windſtöße: man nennt fie Nortes Hueso de colo- rado; glücklicherweiſe gehören ſie aber zu den ſeltenen Er— ſcheinungen. Die Nordwinde und das ſchwarze Erbrechen herrſchen zu verſchiedenen Epochen. Deshalb hat der Euro— päer, der in Neuſpanien landet, und der Mexikaner, den Handelsgeſchäfte nötigen, um von dem Gebirgsplateau herab— zuſteigen und ſich in Veracruz einzuſchiffen, die furchtbare Wahl zwiſchen einer tödlichen Krankheit und einer gefahr— vollen Schiffahrt. An den weſtlichen Küſten von Neuſpanien, an denen, welche an das Große Weltmeer grenzen, iſt die Schiffahrt im Juli und Auguſt äußerſt gefährlich. Schreckliche Stürme aus Südweſten wüten dort in den Sommermonaten. In dieſer Jahreszeit, ja ſelbſt noch im September und Ok— tober iſt es äußerſt gefährlich, in den Häfen von San Blas und Acapulco, ſowie überhaupt an der ganzen Küſte von Guatemala zu landen. Aber auch vom Oktober bis zum Mai, während der ſchönen Jahreszeit (Verano de la mar del Sur) wird in dieſen Gegenden die Ruhe des ſogenannten Stillen Meeres durch die heftigen Stürme aus Nordoſten unterbrochen. Man nennt dieſe Windſtöße „Papagallos“ und Tehuantepec. Mit dieſen ſonderbaren Erſcheinungen aus eigener Er— fahrung bekannt, werde ich an einem anderen Orte unter— ſuchen, ob dieſe Papagallos, deren verheerende Wirkung nur auf einen engen Raum eingeſchränkt iſt, von der Lage benach— barter Vulkane oder von der geringen Breite der Mexikaniſchen Landenge herrühren. Da das Gleichgewicht der Atmoſphäre in den Monaten Jänner und Hornung an den Küſten des Antilliſchen Meeres geſtört iſt, ſo ſtrömen vielleicht die auf— wogenden Luftſchichten mit großem Ungeſtüm quer über den Kontinent gegen den Großen Ozean über. Der Tehuan: tepec und Papagallo wären nach dieſer Hypotheſe die Nord— winde des Mexikaniſchen Meerbuſens und die „Briſotes“ von Santa Marta. Das Anlanden an der Küſte von Salinas und Ventoſa iſt wegen des Tehuantepecjturmes faſt ebenſo „ beſchwerlich als an den Küſten von Nicaragua und Guatemala, wo in den Monaten Auguſt und September die „Tapayaguas“ herrſchen. Dieſe letzteren, wahre Südweſtwinde, ſind von Donner und heftigen Regengüſſen begleitet, während der Tehuantepec und die Papagallos! bei heiterer Himmelsbläue wüten. So werden zu verſchiedenen Zeiten faſt alle Teile Neu-Spaniens den Seefahrern gefährlich. Die Papagallos wehen vorzüglich vom Weißen Vorgebirge von Nicoya (unter 9“ 30“ der Breite bis zum Meerbuſen von Santa Catarina unter 10 45). Krankheiten, welche periodiſch die Kortſchritte der Bevölkerung unter— brechen. — Uatürliche und inokulierte Pocken. — Auhpocken. — Matlazahuatl. — Teurung der Lebensmittel. — Geſundheit der Arbeiter in den Bergwerken. Trotz der außerordentlichen Hitze der Sonne und dem Reflex ihrer ſenkrechten Strahlen vom Boden können die Küſten und die trockenen Ebenen Amerikas, welche unter dem Aequator liegen, im ganzen als geſund angeſehen werden. Leute von reiferen Jahren, beſonders ſolche, die ſich dem Greiſenalter nähern, haben ſehr wenig von dieſen Gegenden zu fürchten, deren Ungeſundheit man mit Unrecht übertrieben hat. Die Mortalität iſt beſonders in den ſehr heißen und zugleich ſehr feuchten Strichen weit beträchtlicher unter den Kindern und jungen Leuten. Längs der ganzen Küſte hin, von der Mündung des Alvarado bis Tamiagua, Tampico und gegen die Ebenen von Neuſantander herrſchen Wechſel— fieber. Ebenſo ungeſund iſt die ganze weſtliche Senkung der Kordillere von Mexiko, find es die Küſten des Südmeeres von Acapulco aus bis zu den Häfen von Colima und San Blas und man kann dieſe feuchten, furchtbaren und ungeſun— den Gegenden völlig dem Küſtenteil der Provinz Caracas vergleichen, welcher ſich von Neubarcelona bis Porto Cabello erſtreckt. Die dreitägigen Fieber find die Geißel dieſer Län— der, welche die Natur im übrigen mit der kraftvollſten und an nützlichen Produkten reichſten Vegetation ausgeſchmückt hat. Jenes Uebel wird hier aber um ſo grauſamer, da die Eingeborenen ihre Kranken im traurigſten Zuſtande ſich ſelbſt überlaſſen und die Kinder beſonders die Opfer dieſer Vernach— läſſigung werden. f Die Pocken, welche ſeit 1520 in dieſem Lande bekannt ſind, ſcheinen ihre Verwüſtungen nur alle 17 Jahre anzu: richten. In den Aequinoktialgegenden haben ſie, wie das ſchwarze Erbrechen und mehrere I Krankheiten ihre Er feſten Perioden, an denen ſie ſich regelmäßig wieder einfinden; und man möchte glauben, daß ſich in dieſen Ländern die An: lage der Eingeborenen für gewiſſe Miasmen nur in ſehr weit voneinander entfernten Perioden erneuert, indem die Pocken, deren Samen ſehr oft von europäiſchen Schiffen ge— bracht wird, nur in ſehr anſehnlichen Zwiſchenräumen epide— miſch, aber auch den Erwachſenen nur deſto gefährlicher werden. 1763 und beſonders 1779 haben die Pocken erſchreckliche Ver— wüſtungen angerichtet. Im letzteren Jahre rafften ſie bloß in der Hauptſtadt von Mexiko über 9000 Menſchen hin; die Leichenwagen durchzogen, wie in Philadelphia zur Zeit des gelben Fiebers die Straßen alle Abend, um die Leichname aufzunehmen, und ein großer Teil der mexikaniſchen Jugend ward in dieſem unglücklichen Jahre niedergemäht. Die Epidemie von 1797 war weniger mörderiſch, wozu der Eifer gewirkt haben mag, womit man die Pockenimpfung in den Umgebungen von Mexiko und im Bistum von Mi— choacan verbreitet hatte. In Valladolid, der Hauptſtadt dieſes Bistums, ſtarben von 6800 Individuen, denen die Krankheit inokuliert worden war, nicht mehr als 170, alſo 2% von 100; und dennoch hatte man bei vielen die Operation erſt zu einer Zeit vorgenommen, wo ſie wahrſcheinlich ſchon von den natürlichen Pocken angeſteckt waren. Von 100 Indivi— duen jeden Alters, welche ohne Impfung die Opfer der na— türlichen Pocken geworden, ſtarben jedesmal 14. Mehrere Perſonen, beſonders unter der Geiſtlichkeit, zeigten bei dieſer Gelegenheit den lobenswürdigſten Patriotismus, indem ſie die Fortſchritte der Epidemie durch die Inokulation aufzu— halten ſuchten. Ich will hier nur zwei gleichaufgeklärte Männer nennen, den Herrn von Neaito, Intendanten von Guanajuato und Don Manuel Abad, Kanonikus-Pönitentiarius beim Domſtift von Valladolid, deren edelmütige und uneigennützige Abſichten immer das allgemeine Beſte zum Ziele hatten. Die Pocken wurden dazumal im ganzen Königreiche mehr als 50 000 bis 60000 Menſchen eingeimpft. Seit dem Januar 1804 wurde die Kuhpockenimpfung durch die Thätigkeit eines ehrwürdigen Bürgers, Don Tomas Murphy, welcher zu verſchiedenen Malen den Virus aus Nord— amerika kommen ließ, in Mexiko eingeführt. Er fand hierbei wenige Schwierigkeiten, indem die Kuhpocken ſich als eine leichte Krankheit zeigten und die Inokulation der gewöhn— lichen Pocken die Indianer längſt an die Nützlichkeit der Idee — 38 gewöhnt hatte, durch ein kleines Uebel freiwillig einem größeren zu begegnen. Wären die Kuhpocken oder wenigſtens die ge— 1 Inokulation ſeit dem 16. Jahrhundert in der Neuen Welt bekannt geweſen, ſo würden mehrere Millionen Indianer nicht die Opfer dieſer Krankheit und beſonders der unvernünf⸗ tigen Behandlung geworden ſein, durch die man ſie ſo gefährlich gemacht hat. Bloß durch ſie iſt die Anzahl der Eingeborenen von Kalifornien auf eine ſo fürchterliche Weiſe herabgeſchmolzen. — So aber kamen die königlichen Schiffe, welche die Kuh— pocken nach den Kolonieen von Amerika und Afrika bringen ſollten, erſt kurze Zeit nach meiner Abreiſe in Veracruz an. Don Antonio Valmis, der Oberarzt dieſer Expedition, beſuchte Portorico, die Inſel Cuba, Mexiko und die Philip— piniſchen Inſeln. Sein Aufenthalt in Mexiko, wo man die Kuhpocken indes ſchon vor ſeiner Ankunft kannte, hat die Ausbreitung dieſes wohlthätigen Verwahrungsmittels ganz beſonders erleichtert. In den vorzüglichſten Städten des Königreiches bildeten ſich Komitees für die Kuhpockenimpfung (Juntas centrales), welche aus den aufgeklärteſten Männern beſtehen, von Monat zu Monat neue Operationen vornehmen laſſen, und jo darüber wachen, daß der Kuhpockenmiasmus nicht verloren geht. Er wird dies aber um ſo weniger, da er in dem Lande ſelbſt vorhanden iſt. Wirklich hat ihn Herr Valmis in der Gegend von Valladolid und im Dorfe Atlixco bei Puebla, an den Eutern der mexikaniſchen Kühe entdeckt. Nachdem dieſes Geſchäft den wohlthätigen Abſichten des Königs von Spanien gemäß ausgeführt worden iſt, darf man wohl hoffen, daß die Vaccination durch den Einfluß der Geistlichkeit, und beſonders der Miſſionäre, nach und nach bis ins Innere des Landes verbreitet werden werde. Darum muß auch Herrn Valmis Reiſe ewig denkwürdig in den Annalen der Geſchichte bleiben. Zum erſtenmal ſahen die Indianer bei dieſer Gelegenheit jene Schiffe, welche ſonſt bloß Blut- und Mordinſtrumente enthielten, der leidenden Menſch— heit die Keime der Hilfe und des Troſtes bringen! Die Ankunft der bewaffneten Fregatten, auf welchen Herr Valmis den Atlantiſchen Ozean und das Südmeer durch— ſtreifte, hat an verſchiedenen Küſten zu einer ſehr einfachen, aber nur deſto rührenderen, religiöſen Ceremonie Veranlaſſung gegeben. Die Biſchöfe, die Militärgouverneure und die im Rang ausgezeichnetſten Perſonen begaben ſich an das Seeufer. Hier nahmen ſie die Kinder, welche die Kuhpocken den Ur— n WDR eingeborenen von Amerika und dem malaiiſchen Stamme auf den Philippiniſchen Inſeln bringen ſollten, auf ihre Arme und trugen ſie unter allgemeinem Jauchzen vor die Altäre, wo ſie dem höchſten Weſen für ein ſo glückliches Ereignis dankten. Wirklich muß man die Verwüſtungen, welche die Pocken in der heißen Zone und unter einem Menſchenſtamme anrichten, deſſen phyſiſche Konſtitution allen Hautkrankheiten entgegen zu ſein ſcheint, näher kennen, um es einzuſehen, wie Herrn Jenners Entdeckung für die Aequinoktialgegenden des neuen Kontinents noch unendlich wichtiger iſt als für die gemäßigten Länder des alten. Denen, welche ſich mit der Geſchichte der Vaccination befaſſen, zu Gefallen werde ich hier ein Faktum beibringen, welches für ihren Zweck Intereſſe hat. Bis zum November 1802 waren die Kuhpocken in Lima unbekannt. Um dieſe Zeit herrſchten die natürlichen auf den Küſten des Südmeeres. Das Kauffahrteiſchiff Santo Domingo de la Calzada, legte auf ſeiner Ueberfahrt von Spanien nach Manila in Lima an, und ein Bewohner von Cadiz hatte den guten Einfall gehabt, dieſem Schiffe Kuhpockenſtoff für die Philippiniſchen Inſeln mitzugeben. Dieſe Gelegenheit benutzte man in Lima, und Herr Unanue, Profeſſor der Anatomie und Verfaſſer einer vortrefflichen phyſiologiſchen Abhandlung über das Klima von Peru,! vaccinierte verſchiedene Perſonen mit dem Virus, wel— chen das Kauffahrteiſchiff gebracht hatte. Allein es entſtand keine Blatter und man hielt den Virus bereits für verändert oder zu ſchwach, da bemerkte Herr Unanue erſt, daß die vac— einierten Perſonen alle bereits beſonders gutartige natürliche Pocken gehabt hatten und bediente ſich daher dieſes Anſteckungs— giftes, um die Epidemie auf dem Wege der gewöhnlichen Impfung minder ſchädlich zu machen. Im Laufe dieſer Epidemie, 1802, machte man auch durch einen Zufall die Entdeckung, daß die wohlthätige Wirkung der Kuhpocken ſchon lange Zeit bei den Landleuten der perua- niſchen Anden bekannt geweſen war. Man hatte einem Negerſklaven in dem Hauſe des Marquis von Valleumbroſo Dieſes Werk, welches die genaueſte Bekanntſchaft mit der franzöſiſchen und engliſchen Litteratur verrät, führt den Titel: Observaciones sobre el clima de Lima y sus influencias en los seres organizados en especial el hombre, por el Dr. D. Hipolito Unanue. Lima 1806. EIER die natürlichen Pocken einokuliert; allein er zeigte kein Sym⸗ ptom von Krankheit. Man wollte die Operation an ihm wiederholen, da erklärte er, er ſei überzeugt, daß er nie die Pocken bekommen würde, indem er beim Weiden der Kühe auf der Kordillere der Anden eine Art von Hautkrankheit gehabt habe, welche nach der Ausſage der alten indianiſchen Väter von der Berührung gewiſſer Beulen, welche man zu— weilen an den Eutern der Kühe finde, hergekommen ſei. Wer dieſe Hautkrankheit gehabt, ſetzte der Neger hinzu, iſt vor den Pocken ſicher. — Wirklich haben die Afrikaner und be— ſonders die Indianer außerordentlich viel Scharfſinn in der Beobachtung des Charakters, der Lebensweiſen und der Krank— heiten der Tiere, unter welchen ſie gewöhnlich leben. Man darf ſich daher nicht wundern, daß das gemeine Volk ſeit der Einführung des Hornviehs in Amerika die Bemerkung gemacht hat, wie die Blattern, welche man auf den Eutern der Kühe bemerkt, den Hirten eine Art von unſchädlichen Pocken mitteilen und die, welche ſie gehabt, der allgemeinen Anſteckung zur Zeit großer Epidemien völlig entgehen. Die „Matlazahuatl“, eine dem indianiſchen Stamm ganz eigene Krankheit, ſcheint ſich nur alle Jahrhunderte einmal zu zeigen. Sie wütete beſonders in den Jahren 1545, 1576 und 1736, und wird von den ſpaniſchen Schriftſtellern eine Peſt genannt. Da die letzte Epidemie der Art zu einer Zeit geherrſcht hat, wo die Heilkunde, ſelbſt in der Hauptſtadt, noch nicht einmal als Wiſſenſchaft anerkannt war, ſo fehlen uns die genaueren Nachrichten über dieſe Krankheit. Zuver— läſſig hat ſie indes einige Aehnlichkeit mit dem gelben Fieber oder dem ſchwarzen Erbrechen, greift aber keinen Weißen an, er mag nun ein Europäer ſein oder von den Ureingeborenen abſtammen. Die Individuen der kaukaſiſchen Raſſe ſcheinen dieſem tödlichen Typhus überhaupt gar nicht unterworfen zu ſein, während dagegen das gelbe Fieber oder das ſchwarze Erbrechen die mexikaniſchen Indianer nur ſehr ſelten angreift. Der hauptſächlichſte Schauplatz des Vomito prieto iſt die See— gegend, deren Klima außerordentlich heiß und feucht iſt. Die Matlazahuatl hingegen verbreitet Schrecken und Tod bis ins Innere des Landes, auf das Centralplateau und in die kälteſten und dürrſten Gegenden des Königreiches. Der Franziskanermönch Torribio (bekannter unter ſeinem mexikaniſchen Namen Motolinia) verſichert, daß die im Jahre 1520 durch einen Negerſklaven von Narväsz ein: — 1 = geführten Pocken die Hälfte der Bewohner von Mexiko dahin⸗ gerafft haben, und Torquemada hat ſogar die kühne Meinung, daß in den beiden Epidemieen der Matlazahuatl von 1545 und 1576 in der erſteren 800 000 und in der letzteren 2000000 Indianer geſtorben ſeien. Zieht man aber die Schwierigkeit in Betrachtung, welche man felbſt heutzutage in dem öſtlichen Europa findet, wenn man die Zahl der Peſt— opfer anſchlagen will, ſo darf man wohl mit allem Grund daran zweifeln, daß ſich die beiden Vizekönige Mendoza und Almanza, welche das eben eroberte Land regierten, im 16. Jahrhundert das Verzeichnis aller, von der Matlazahuatl dahingemähten Indianer verſchaffen konnten. Ich will indes die Glaubwürdigkeit dieſer beiden Mönche und ihrer Geſchichts— werke nicht angreifen, wenn es gleich ſehr unwahrſcheinlich iſt, daß ihr Kalkul auf genauen Nachrichten beruht. Es wäre ſehr merkwürdig, das Problem aufzulöſen: ob die Peſt, welche vor der Ankunft der Europäer von Zeit zu Zeit die atlantiſchen Gegenden der Vereinigten Staaten ver: wüſtet hat, und welche der berühmte Ruſh mit ſeinen An— hängern als das Prinzip des gelben Fiebers anſieht, mit der Matlazahuatl der mexikaniſchen Indianer identiſch ſei? Man darf hoffen, daß dieſe letzte Krankheit, wenn ſie ſich wieder in Neuſpanien zeigen ſollte, von den Aerzten aufs ſorg— fältigſte beobachtet werden werde. Ein drittes und vielleicht das grauſamſte Hindernis der Fortſchritte der Bevölkerung in Neuſpanien iſt die Hungers— not. Die amerikaniſchen Indianer begnügen ſich gleich den Bewohnern von Hinduſtan mit den wenigen Lebensmitteln, welche das Lebensbedürfnis erfordert, und ſie vermehren ſich, ohne daß die Subſiſtenzmittel ſich im Verhältnis zu der ſtei— genden Bevölkerung vergrößern. Indolent von Charakter über— haupt und beſonders durch ihre Lage unter einem ſchönen Klima, auf einem im Durchſchnitt fruchtbaren Boden woh— nend, bauen die Eingebornen nicht mehr Mais, Kartoffeln und Weizen, als ſie zu ihrem eigenen Unterhalt und höch— ſtens für die Konſumtion der am nächſten gelegenen Städte und Bergwerke brauchen. Freilich hat der Ackerbau ſeit zwanzig Jahren ſehr bedeutende Fortſchritte gemacht; aber die Konſumtion iſt mit der Vermehrung der Bevölkerung, durch den zügelloſen und ſonſt den Kaſten von gemiſchtem Blute völlig unbekannt geweſenen Luxus und durch die Be- arbeitung vieler neuen Erzgänge, wozu Menſchen, Pferde und BE Maultiere erfordert werden, auch außerordentlich geſtiegen. Beſchäftigen die Manufakturen gleich nur wenige Arme in Neuſpanien, ſo gehen doch viele derſelben für den Ackerbau durch die Notwendigkeit der Transporte von Waren, Erzeug— niſſen der Bergwerke, Eiſen, Pulver und Queckſilber, welche alle durch Maultiere von der Küſte nach der Hauptſtadt, von da nach den Minen und überhaupt auf dem ganzen Rücken der Kordilleren geſchehen müſſen, verloren. Viele tauſend Menſchen und Tiere bringen ihr ganzes Leben auf den großen Routen zwiſchen Veracruz und Mexiko, zwiſchen Mexiko und Acapulco, Oajaca und Durango, und den Querſtraßen zu, auf denen die Gewerke in den dürren und unangebauten Gegenden ihre Mundvorräte erhalten. Dieſe Klaſſe von Bewohnern, welche die Oekonomiſten in ihrem Syſtem ſteril und nicht produzierend nennen, iſt in Amerika alſo viel größer, als man in einem Lande erwarten ſollte, deſſen Manufaktur-Induſtrie noch ſo niedrig ſteht. Das Miß— verhältnis zwiſchen den Fortſchritten der Bevölkerung und der Vermehrung der Quantität von Lebensmitteln, die aus eigenem Anbau gewonnen werden, erneuert daher das ſchreck— liche Schauſpiel einer Hungersnot ſo oft, als eine große Dürre oder ſonſt eine Lokalurſache die Maisernte verdorben hat. Immer und überall wurde die Teurung der Lebensmittel von den zerſtörendſten Epidemieen begleitet, und auch 1784 erzeugte der Mangel unter der dürftigſten Klaſſe des Volks aſtheniſche Krankheiten. Beides Unglück vereinigt raffte viele Erwach— ſene aber noch mehr Kinder weg, und man rechnet, daß in der Stadt und den Bergwerken von Guanajuato über 8000 Menſchen geſtorben ſind. Ein höchſt ſonderbares, meteorolo— giſches Phänomen hatte am meiſten zu dieſer Hungersnot beigetragen. Der Mais war nach einer langen und außer— ordentlichen Dürre, in der Nacht vom 28. Auguſt, und was noch auffallender iſt, auf einer Höhe von 1800 m erfroren. Man rechnete über 300000 Menſchen, welche die unglückliche Vereinigung von Mangel und Krankheit im ganzen König— reich das Leben gekoſtet, und über dieſe Zahl wird man ſich um ſo weniger wundern, wenn man ſich erinnert, daß eine Hungersnot in Europa manchmal während eines einzigen Jahres die Bevölkerung weit ſtärker vermindert, als das Uebergewicht der Geborenen über die Geſtorbenen ſie in vier ganzen Jahren zu vermehren pflegt. Sachſen z. B. verlor 1772 nahe an 66000 ſeiner Bewohner; und dennoch über: mn a . wogen die Geburten die Sterbfälle in dieſem Land von 1764 © in gewöhnlichen Jahren um nicht mehr als 17000 Seelen. Die Wirkungen der Hungersnot find ſich beinah in allen Aequinoktialgegenden gleich. Ich habe im ſüdlichen Amerika, in der Provinz Neuandaluſien, ganze Dörfer geſehen, deren Bewohner ſich vom Hunger gedrungen von Zeit zu Zeit in die neuangebauten Gegenden zerſtreuen, um unter den wild— wachſenden Pflanzen Nahrung zu ſuchen, und die Miſſionäre gebrauchen all ihr Anſehen vergebens, um dieſe Entfernungen zu verhindern. In der Provinz, Los Paſtos, flüchten ſich die Indianer manchmal, wenn es an ihrem Hauptnahrungsmittel, den Kartoffeln, zu fehlen anfängt, auf den höchſten Rücken der Kordillere, und nähren ſich da von dem Mark der Achu— pallas, einer Pflanze, die ſich dem Geſchlecht der Pitcairnia nähert. Die Otomaken von Uruano, am Ufer des Orinoko, verſchlingen ganze Monate lang Thonerde, damit dieſer Bal— laſt den Magenſaft an ſich ziehe, und um ihren quälenden Hunger wenigſtens einigermaßen zu vermindern, und auf dem fruchtbaren Boden, im Schoß der großen und ſchönen gatur der Südſeeinſeln führt der Mangel an Lebensmitteln die Bewohner zum abſcheulichen Menſchenfreſſen. Ueberhaupt erfährt der ſorgloſe, phlegmatiſche Menſch unter der heißen Zone, wo eine wohlthätige Hand die Keime alles Ueberfluſſes verbreitet zu haben ſcheint, dieſes Unglück, welches die In— duſtrie der kultivierten Völker aus den unfruchtbarſten Gegen— den des Nordens verbannt hat, periodiſch. Lange hat man die Arbeiten in den Bergwerken als eine der Haupturſachen von Amerikas Entvölkerung angeſehen, und es würde wirklich ſchwer werden, den Umſtand in Zweifel zu ſetzen, daß viele Indianer in den erſten Zeiten der Er— oberung und ſelbſt noch im 17. Jahrhundert den übermäßigen Arbeiten unterlegen ſind, welche man ihnen in den Minen zumutete. Sie ſtarben ohne Nachkommenſchaft gleich ſo vie— len tauſend afrikaniſchen Sklaven, welche jährlich aus Ent— kräftung und Mangel an Nahrung und Schlaf in den Pflan— zungen der Antillen dahinſinken. In Peru iſt wenigſtens der ſüdlichſte Teil des Landes durch die Bergwerkarbeiten entvölkert; indem noch heutzutage das barbariſche Geſetz, la Mita, beſteht, vermöge deſſen der Indianer ſeinen Herd ver— laſſen muß, um in entfernten Provinzen, und wo es an Armen fehlt, die Reichtümer aus dem Inneren der Erde zu BE ſcharren. Indeſſen wird die Mita für den Indianer nicht ſowohl wegen der körperlichen Anſtrengung in der Arbeit als wegen des ſchnellen Wechſels des Klimas verderblich. Dieſe Menſchenraſſe hat die Beugſamkeit der Organiſation nicht, wodurch ſich die Europäer ſo ſehr auszeichnen, und die Ge— ſundheit eines Kupferfarbigen leidet außerordentlich durch die Verſetzung von einem heißen Klima in ein kaltes, beſonders wenn er von den Höhen der Kordillere in dieſe engen, feuch— ten Thäler herabſteigen muß, wo ſich alle Miasmen der be— nachbarten Gegenden zu ſammeln ſcheinen. In dem Königreiche Neuſpanien iſt der Bergwerkbau, ſeit wenigſtens 30 oder 40 Jahren eine freie Arbeit, und es findet ſich hier trotz Robertſons Behauptung keine Spur der Mita. Nirgends genießt die niedere Klaſſe die Früchte ihrer Anſtrengungen beſſer, als in den Minen von Mexiko. Kein Geſetz zwingt den Indianer, dieſen Arbeitszweig zu wählen oder eine Art von Minenausbeutung der andern vorzuziehen. Iſt er mit einem Bergwerksherrn unzufrie— den, ſo verläßt er ihn und bietet ſeine Arme einem an— dern an, der regelmäßiger oder in barem Geld bezahlt. Dieſe ganz zuverläſſigen und tröſtlichen Thatſachen ſind in Europa wenig bekannt. Die Zahl der mit dergleichen Arbeiten unter der Erde beſchäftigten Menſchen, welche in verſchiedene Klaſſen eingeteilt werden (Barenadores, Fäeneros, Tenateros, Bareteros), tft im ganzen Königreiche Neuſpanien nicht über 28000 bis 30000; jo daß alſo bloß ½% der ganzen Bevölke— rung unmittelbar mit der Ausbeute der metalliſchen Reich— tümer des Landes beſchäftigt iſt. Im Durchſchnitt iſt die Sterblichkeit unter den mexikani— ſchen Bergleuten nicht viel größer als unter den übrigen Volksklaſſen; wovon man ſich ſehr leicht durch die Prüfung der Totenliſten aus den verſchiedenen Kirchſpielen von Gua— najuato und Zacatecas überzeugen kann. Dieſe Erſcheinung iſt um ſo auffallender, da der Bergmann in mehreren dieſer Minen einer Temperatur ausgeſetzt iſt, welche um 6“ den Mittelſtand der Temperatur von Jamaika und Pondichery überſteigt. In der großen Perpendikulärtiefe von 513 m, im Grund des Bergwerks von Valenciana (en los planes) habe ich den hundertgradigen Thermometer auf 34“ gefunden, der in der freien Luft, beim Eingang in den Schacht, des Robertson, History of America. Bd. 2, S. 373. a Winters bis auf 4 oder 5° unter Null fällt. Der mexi⸗ kaniſche Bergmann hält es alſo bei einer Verſchiedenheit von mehr als 30° dennoch aus. Indes iſt dieſe ungeheure Hitze in der Mine Valenciana nicht die Wirkung der vielen Men⸗ ſchen und Lichter, welche in einem kleinen Raum zuſammen⸗ gedrängt ſind, ſondern vielmehr gewiſſen Lokalurſachen und geologiſchen Umſtänden zuzuſchreiben, welche wir an einem andern Ort unterſuchen werden. Es iſt merkwürdig zu beobachten, wie die Metis und Indianer, die das Erz auf ihrem Rücken heraustragen, und mit dem Namen „Tenateros“ bezeichnet werden, während ganzer ſechs Stunden unaufhörlich mit einem Gewicht von 112 bis 125 kg belajtet ſind, und in einer fo hohen Tem— peratur acht: bis zehnmal hintereinander, ohne auszuruhen, Treppen von 1800 Stufen hinaufſteigen. Der Anblick dieſer arbeitſamen und ſtarken Menſchen würde Raynal, Pauw und ſo viele andere übrigens achtungswerte Männer, welche über die Ausartung unſerer Gattung in der heißen Zone deklamiert haben, gewiß auf andere Meinungen gebracht haben. Schon Kinder von 17 Jahren tragen in den mexikaniſchen Bergwerken Steinlaſten von 50 kg. Das Handwerk der Tenateros gilt übrigens für ungeſund, ſobald ſie mehr als dreimal in der Woche die Mine betreten. Das Geſchäft des „Barenadores“ iſt indes dasjenige, welches die allerſtärkſten Konſtitutionen am ſchnellſten zu Grunde richtet. Sie ſprengen die Felſen mit Pulver und kommen ſelten über 35 Jahre, wenn ſie ſich vom Gewinn verleiten laſſen, ihre beſchwerliche Arbeit die ganze Woche fortzuſetzen. Gewöhnlich geben ſie ſich nicht länger, als 5 bis 6 Jahre mit dieſem Geſchäfte ab, und halten ſich dann an andere für ihre Geſundheit minder ſchädliche Arbeiten. Die Bergwerkskunſt vervollkommnet ſich immer mehr, und die Zöglinge der Bergſchule von Mexiko verbreiten nach und nach genaue Kenntniſſe über die Zirkulation der Luft in den Schachten und Galerien. Man fängt an, Maſchinen einzuführen, welche die alte Methode, das Erz und Waſſer durch Menſchen die ſehr ſteilen Treppen herauftragen zu laſſen, unnütz machen; und wirklich wird auch die Geſundheit der Bergleute durch den Einfluß der Mofetten und der zu anhaltenden Anſtrengung der Muskeln immer weniger ge— fährdet werden, je ähnlicher die Minen von Neu-Spanien denen von Freiberg, Klausthal und Schemnitz werden. „ Etwa 5000 bis 6000 Menſchen find mit der Amalga⸗ mation der Erze oder den ihr vorhergehenden Manipulatio- nen beſchäftigt. Viele dieſer Leute wandeln ihr ganzes Leben hindurch mit bloßen Füßen auf den Haufen von zerriebe- nem Metall, die mit Kochſalz, mit ſchwefelgeſäuertem Eiſen und mit durch den Kontakt der atmoſphäriſchen Luft und der Sonnenſtrahlen oxydiertem Merkur befeuchtet und ver: miſcht ſind. Und dennoch ſieht man mit Erſtaunen dieſe Leute im Genuß der beſten Geſundheit, und verſichern die Aerzte, welche ihre Kunſt in Gegenden treiben, wo Bergwerke ſind, einſtimmig, daß Angriffe auf das Nervenſyſtem, welche man der Wirkung vom eingezogenen oxydierten Merkur zu— ſchreiben könnte, nur ſehr ſelten daſelbſt vorkommen. In Guanajuato trinkt ein Teil der Bewohner ſogar das Waſſer, welches von der Schwemmung des Amalgams (agua de la- vaderos) abläuft, ohne die geringſte Gefahr für ſeine Ge: ſundheit; worüber ſich Europäer, welche mit den Grundſätzen der Chemie nicht ſehr vertraut waren, oft ſehr verwundert haben. Dieſes Waſſer iſt im Anfang bläulich-grau, und ent: hält ſchwarzes Merkurialoxyd, kleine Kügelchen von gedie— genem Queckſilber und Silberamalgam in ſich ſuſpendiert. Dieſe metalliſche Vermiſchung ſchlägt ſich nach und nach nieder, und das Waſſer klärt ſich auf. Derſelbe kann weder Queckſilberoxyd noch das ſalzſaure Queckſilber auflöſen, welches eines der unauflöslichſten Salze iſt, die wir kennen; allein die Maultiere lieben dieſes Waſſer dennoch ſehr, weil es eine kleine Auflöſung von Kochſalz enthält. Bei meinen Bemerkungen über die Fortſchritte der Be— völkerung in Mexiko und deren Hinderniſſe habe ich weder von den täglich aus Europa ankommenden Koloniſten noch von der Sterblichkeit, welche durch das ſchwarze Erbrechen verurſacht wird, geredet. Wir werden dieſe beiden Gegen— ſtände aber in der Folge dieſes Werks behandeln, und ich bemerke hier nur, daß der Vomito prieto ſich bloß auf den Küſten zeigt, im ganzen Königreiche zuſammen in einem gan= zen Jahr nicht über 2000 bis 3000 Menſchen hinrafft, und daß Europa jährlich kaum 800 Menſchen nach Mexiko ſchickt. Die politiſchen Schriftſteller haben jederzeit das, was ſie die Entvölkerung der Alten Welt durch die Neue genannt, über trieben, und Herr Page z. B. verſichert in ſeinem Werke über den Handel von San Domingo, daß die Vereinigten Staaten jedes Jahr durch die europäiſchen Auswanderungen SE pi über 100000 Individuen gewinnen. Allein dieſer Ausſchlag iſt zwanzigmal zu hoch; denn ſelbſt in den Jahren 1784 und 1792, wo dieſes Land am meiſten europäiſche Koloniſten em- pfing, waren ihrer nicht über 5000.! Ich behaupte daher, daß die Fortſchritte der Bevölkerung in Mexiko und in Nord- amerika bloß dem Steigen des inneren Wohlſtandes zuzu— ſchreiben ſind. ! Samuel Blodgets Economica, 1806, S. 58. [Diefe Ziffern haben ſich ſeither bekanntlich ſehr zu Ungunſten der Humboldt: ſchen Anſicht geändert. In den Vereinigten Staaten betrug die ſeit 1820 regiſtierte Einwanderung bis 1880 durchſchnittlich im Jahre 174951 Köpfe, und in dem Zeitraum 1871 bis 1880 gar 295000! — D. Herausg.] Verſchiedenheit der Kaſten. — Indianer oder amerikanifhe Arein. wohner. — Ihre Anzahl und ihre Wanderungen. — Verſchiedenheit der Sprachen. — Civiliſationsſtufe der Indianer. Die Bevölkerung beſteht in Mexiko aus denſelben Ele: menten, wie in den übrigen ſpaniſchen Kolonieen. Man unterſcheidet daſelbſt folgende ſieben Raſſen: 1) geborene Europäer, ng „Gachupines“ genannt; 2) ſpaniſche Kreo- len, oder Weiße, von europäiſcher Raſſe in Amerika geboren; 3) Metis (Meſtizos), die von Weißen und von Indianern; 4) Mulatten, welche von Negern und Indianern; 5) Zam⸗ bos, die von Negern und Weißen abſtammen; 6) Indianer ſelbſt, oder die kupferfarbige Raſſe der Ureinwohner; und 7) afrikaniſche Neger. Von den Unterabteilungen abgeſehen er— geben ſich daher vier Kaſten: Weiße, unter dem allgemeinen Namen Spanier begriffen; Neger, Indianer und die Men: ſchen, welche aus der Vermiſchung der Raſſen von Europäern, Afrikanern, amerikaniſchen Indianern und Malaien entſtan⸗ den ſind; indem ſich durch die häufige Verbindung zwiſchen Acapulco und den Philippiniſchen Inſeln manche urſprüng⸗ lichen Aſiaten, wie Chineſen und Malaien, in Neuſpanien niedergelaſſen haben. Es iſt ein in Europa ſehr verbreitetes Vorurteil, daß ſich nur noch wenige Ureinwohner von Kupferfarbe, oder Ab: kömmlinge der alten Mexikaner, erhalten haben. Freilich haben die Grauſamkeiten der Europäer die alten Bewohner der Antilliſchen Inſeln völlig ausgerottet; aber auf dem feſten Lande von Amerika iſt es doch nicht ſo weit gekommen. In Neuſpanien geht die Zahl der Indianer, bloß die von reiner ohne Vermiſchung mit Europäern oder Afrikanern ge— bliebener Raſſe gerechnet, über zwei und eine halbe Million,! [Heute ſchätzt man die Geſamtzahl der innerhalb der Meri- kaniſchen Republik lebenden unvermiſchten Indianer auf 4 bis 6 Millionen. — D. Herausg.] 3 und was noch tröſtlicher iſt, ſo hat ſich, wie oben ſchon be— merkt worden, die Bevölkerung der Ureinwohner, ſtatt zu erlöſchen, ſeit 50 Jahren beträchtlich vermehrt, was durch die Kopfjteuer oder Tributregiſter außer allen Zweifel ge: ſetzt wird. Im Durchſchnitt ſcheinen die Indianer zwei Fünfteile der ganzen Bevölkerung auszumachen und in den vier Inten— dantſchaften von Guanajuato, Valladolid, Oajaca und Puebla betragen ſie ſogar mehr, als drei Fünfteile. Dieſe große An— zahl von Ureinwohnern beweiſt indes mit Zuverläſſigkeit, wie alt die Kultur dieſes Landes bereits iſt. Wirklich findet man in der Nähe von Oajaca auch Ueberbleibſel von Denkmalen mexikaniſcher Architektur, welche einen ſchon auffallend vor— gerückten Civiliſationsſtand verraten. Im nördlichen Teil von Neuſpanien ſind die Indianer oder die kupferfarbigen Menſchen ſehr ſelten, und in den Provinzen, die man las provincias internas nennt, findet man faſt gar keine. Indes läßt die Geſchichte verſchiedene Urſachen dieſer Erſcheinung erraten. Als die Spanier Mexiko eroberten, fanden ſie in den Ländern jenſeits des Parallel— kreiſes vom 20. Grade nur ſehr wenige Einwohner. Sie waren der Aufenthalt der Chichimeken und Otomiten, zweier Nomadenvölker, deren wenige Horden ungeheure Landſtrecken inne hatten. Ackerbau und Civiliſation hingegen waren, wie wir oben bemerkt haben, auf den Plateaus, die ſich ſüdlich' vom Fluſſe Santiago erſtrecken, und der Provinz Oajaca vereinigt. Ueberhaupt ſcheint ſich die Bevölkerung vom 7. bis zum 16. Jahrhundert immer gegen Süden gedrängt zu haben. Aus den Gegenden nördlich vom Rio Gila kamen die krie— geriſchen Nationen, welche nacheinander das Land von Ana— huac überſchwemmten. Es iſt unbekannt, ob dies ihr urſprüng— liches Vaterland war oder ob ſie, eigentlich aus Aſien und der Nordweſtküſte von Amerika abſtammend, bloß die Steppen von Navajoa und vom Moqui durchzogen haben, um an den Rio Gila zu kommen. Durch die hieroglyphiſchen Gemälde der Azteken iſt uns indes das Andenken an die Hauptepochen der großen amerikaniſchen Völkerwanderung überliefert wor— den. Sie hat einige Aehnlichkeit mit derjenigen, welche Europa im fünften Jahrhundert in einen Zuſtand von Bar⸗ barei geſtürzt, deſſen traurige Folgen wir noch in mehreren unſerer geſellſchaftlichen Inſtitutionen nachfühlen müſſen. Die A. v. Humboldt, Neuſpanien. I. 4 a ee Völker hingegen, welche Mexiko durchzogen, ließen daſelbſt Spuren von Civiliſation und Kultur zurück. Die Tolteken erſchienen zum erſtenmal daſelbſt im Jahre 648; die Chichi—⸗ meken 1178, die Nahualteken 1178, die Acolhuen und die Azteken 1196. Die Tolteken führten den Mais- und Baum⸗ wollenbau ein, legten Städte und Straßen an und errich— teten die großen Pyramiden, welche wir noch heutzutage be— wundern und deren Seiten genau nach den Himmelsgegenden gerichtet ſtehen. Sie kannten den Gebrauch der hieroglyphi⸗ ſchen Gemälde, verſtanden es, Metalle zu gießen und die härteſten Steine zu behauen, und hatten ein weit vollkom⸗ meners Sonnenjahr als die Griechen und die Römer. Ihre Regierungsform bewies, daß fie von einem Volk abſtammten, welches ſelbſt ſchon große Veränderungen in ſeinem geſell— ſchaftlichen Zuſtand erfahren hatte. Aber wo war die Quelle dieſer Kultur? Wo liegt das Land, aus welchem die Tolteken und Mexikaner hervorgegangen ſind? Ueberlieferung und hiſtoriſche Hieroglyphen nennen Hue— huetlapallan, Tollan und Aztlan als den erſten Aufenthalts⸗ ort dieſer reiſenden Völker. Nichts verkündigt heutzutage eine alte Civiliſation der menſchlichen Gattung in den Ländern nördlich vom Rio Gila und in den nördlichen Gegenden über: haupt, welche Hearn, Fidler und Mackenzie durchlaufen haben. Auf der nordweſtlichen Küſte hingegen, zwiſchen Nutka und dem Cooksfluß, beſonders unter dem 57. Grad der Nordbreite, in der Bai Norfolk und dem Corkänal zeigen die Einge⸗ borenen einen entſchiedenen Geſchmack für die Hieroglyphen, und ein ausgezeichneter Gelehrter, Herr von Fleurieu, ver— mutet daher, daß dieſe Völker wohl von einer mexikaniſchen Kolonie abſtammen könnten, welche ſich zur Zeit der Erobe— rung nördlich geflüchtet hat. Dieſe ſcharfſinnige Meinung ſcheint indes weniger wahrſcheinlich, wenn man die große Entfernung betrachtet, welche dieſe Koloniſten zu durchlaufen gehabt hätten, und ſich noch erinnert, daß die mexikaniſche Kultur ſich nicht über den 20. Grad der Breite erſtreckte. Ich möchte deswegen lieber glauben, daß zur Zeit der Wanderung ! Reife von Marchand, Bd. I, S. 258, 261, 375. Dixon, S. 332. Eine Harfe in den hieroglyphiſchen Gemälden der Be— wohner der Nordweſtküſte von Amerika iſt zum wenigſten ebenſo merkwürdig als jene berühmte Harfe, welche auf einer Wand der Gräber der Könige zu Theben vorgeſtellt iſt. ii der Tolteken und Azteken gegen Suden, einige Stämme auf den Küſten von Neunorfolk und Neucornwallis ſtehen ge— blieben ſind, während die anderen ihren Zug gegen Süden fortſetzten; denn begreifen läßt ſich wohl, wie Völker, welche in Maſſe reiſten, gleich den Oſtgoten und Alanen, vom Schwarzen Meere aus bis nach Spanien gelangen konnten; aber wer wird glauben, daß ein Teil dieſer Völker zu einer Zeit, da andere Horden bereits ihre erſten Wohnungen an den Ufern des Don und Boryſthenes in Beſitz genommen hatten, wieder von Weſten nach Oſten hätte zurückkehren können? Es wäre nicht an ſeiner Stelle, wenn wir hier das große Problem von der aſiatiſchen Abſtammung der Tolteken oder Azteken in Anregung bringen wollten; denn die allge— meine Unterſuchung über den erſten Urſprung der Bewohner eines Kontinents liegt außer den Grenzen der Geſchichte, und iſt vielleicht kein Gegenſtand der philoſophiſchen Unterſuchung. Zuverläſſig gab es indes ſchon andere Völker in Mexiko, als die Tolteken auf ihrer Wanderung daſelbſt erſchienen. Die Frage, ob die Tolteken eine aſiatiſche Nation ſeien, iſt daher ganz eine andere, als die, ob alle Amerikaner von dem hohen Plateau von Tibet oder des öſtlichen Sibiriens ab— ſtammen? De Guignes glaubt aus den Annalen der Chineſen bewieſen zu haben, daß dieſes Volk ſchon ſeit 458 Amerika beſucht habe, und Horn, in ſeinem mit vielem Scharfſinn geſchriebenen Werk: De originibus Americanis (welches 1699 darm iſt), Herr Scherer, in ſeinen hiſtoriſchen Unterſuchungen über die Neue Welt, und noch ſpätere Schrift— ſteller haben die alten Verbindungen zwiſchen Aſien und Amerika ſehr wahrſcheinlich gemacht.“ Ich habe an einem andern Ort die Meinung aufgeſtellt, daß die Tolteken oder Azteken wohl ein Teil der Hiongnu ſein könnten, welche, nach den chineſiſchen Geſchichtsbüchern, unter ihrem Anführer Punon ausgewandert ſind und ſich im Norden von Sibirien verloren haben. Dieſe Nation von kriegeriſchen Hirten hat mehr als einmal die politiſche Lage des öſtlichen Aſiens verändert und iſt die nämliche, die, unter dem Namen der Hunnen, die ſchönſten Länder des civiliſierten [Die Anſicht, daß die Indianer ethnologiſch mit den hochaſiatiſchen Völkern zuſammenhängen, hat auch in der modernen Wiſſenſchaft an Beſtand gewonnen. Doch erſtreckt ſich dieſer Zu— ſammenhang wohl kaum auch auf ihre Kultur. — D. Herausg.] Europas verheert hat. Aber alle dieſe Mutmaßungen würden weit mehr Wahrſcheinlichkeit gewinnen, wenn man eine mar— lierte Analogie zwiſchen den Sprachen der Tatarei und des neuen Kontinents finden würde, welche ſich übrigens, nach den neueſten Unterſuchungen von Herrn Barton Smith, nur auf ſehr wenige Worte beſchränkt. Der Mangel an Weizen, Hafer, Gerſte und Roggen, dieſen nahrhaften Grasarten, welche man unter der allgemeinen Benennung der Cerealien begreift, ſcheint zu beweiſen, daß, wenn aſiatiſche Stämme nach Amerika gegangen ſind, ſie von irgend einem Nomaden— oder Hirtenvolk abſtammen müſſen. Auf dem alten Kon— tinent ſehen wir die Kultur der Cerealien und den Gebrauch der Milch von den älteſten Epochen her, zu denen die Ge— ſchichte aufſteigt, eingeführt. Die Bewohner des neuen Kon— tinents hingegen bauten keine andere Grasgewächſe als den Mais (Zea), und nährten ſich von gar keiner Art von Milch: werk, unerachtet ihnen die Lama, die Alpaka und zwei ganz eigene, urſprünglich dem Land angehörige Stiergattungen im Norden von Mexiko und Kanada Milch im Ueberfluß an— boten. — Dies find ſehr auffallende Kontraſte zwiſchen Völ— kern der mongoliſchen und amerikaniſchen Menſchenraſſe! Ohne uns übrigens in Vermutungen über das erſte Vater: land der Tolteken und Azteken zu verlieren, und ohne die geographiſche Lage dieſer alten Königreiche von Huehuetla— pallan und Aztlan zu beſtimmen, wollen wir bloß das an- führen, was uns die ſpaniſchen Geſchichtſchreiber berichten. Im 16. Jahrhundert waren die nördlichen Provinzen, Neu— biscaya, Sonora und Neumexiko nur ſehr wenig bevölkert. Die Eingeborenen waren Nomaden: und Jägervölker, und zogen ſich immer weiter zurück, je mehr die europäiſchen Er— oberer nördlich drangen. Bloß der Ackerbau knüpft den Menſchen an ſeinen Boden, und entwickelt die Liebe zum Vaterland, und fo ſehen wir denn auch die aztekiſchen Kolo— niſten im mittäglichen Teil von Anahuac, in dem angebauten Strich, nahe bei Tenochtitlan, die grauſamen Plackereien, die ſich die Sieger gegen ſie erlaubten, geduldig aushalten, und lieber alles ertragen, ehe ſie den Boden, welchen ihre Väter mit eigenen Händen urbar gemacht hatten, räumten. In den nördlichen Provinzen hingegen überließen die Eingeborenen den Eroberern die unangebauten Steppen, auf denen ihre Büffel graſten, und flüchteten ſich jenſeits des Gila, gegen den Rio Zaguanas und die Gebirge de las Grullas. Die indianiſchen Stämme, welche einſt das Gebiet der Vereinigten Staaten in Kanada inne hatten, beobachteten dieſelbe Politik, und zogen ſich lieber zuerſt hinter die Alleghanyberge, dann hinter den Ohio und endlich hinter den Miſſouri zurück, um nicht unter den Europäern leben zu dürfen. Aus dem näm— lichen Grunde findet man die Raſſe von Eingeborenen mit kupferfarbiger Haut weder in den Provincias internas von Neuſpanien, noch in dem kultivierten Teil der Vereinigten Staaten. Da die Wanderungen der amerikaniſchen Völker immer, wenigſtens vom ſechſten bis zum zwölften Jahrhundert, von Norden nach Süden gegangen ſind, ſo iſt es ganz klar, daß die indianiſche Bevölkerung von Neuſpanien aus ſehr hete— rogenen Elementen beſtehen muß. In dem Maße, wie die Bevölkerung ſich ſüdlich wandte, hielten einige Stämme auf ihren Wanderungen ſtille und vermiſchten ſich mit den Völ— kern, welche ihnen gerade nachfolgten; und wirklich beweiſt die große Mannigfaltigkeit von Sprachen, welche noch heutzu— tage im Königreich von Mexiko geſprochen werden, eine ebenſo große Mannigfaltigkeit von Raſſen und Abſtammungen. Dieſer Sprachen ſind über 20, und 14 davon haben bereits ziemlich vollſtändige Sprachlehren und Wörterbücher. Ihre Namen ſind folgende: die mexikaniſche oder aztekiſche Sprache; die otomitiſche, die taraskiſche, die zapotekiſche, die mixtekiſche, die mayaſche oder die Sprache von Yucatan; die totonekiſche, die popolukiſche, die matlazingiſche, die huar- tekiſche, die vermiſchte, die kakikalliſche, tarahumariſche, tepe— huaniſche und die koriſche Sprache. Weit entfernt, bloße Dialekte einer einzigen Sprache zu ſein (wie einige Schrift— ſteller mit Unwahrheit behauptet haben), ſind dieſe Sprachen vielmehr zum mindeſten ebenſo verſchieden voneinander, als das Griechiſche von dem Deutſchen, oder das Franzöſiſche von dem Polniſchen. Dies iſt wenigſtens bei ſieben dieſer Sprachen der Fall, von denen ich die Sprachlehren beſitze. Dieſe Mannigfaltigkeit von Idiomen bei den Völkern des neuen 1 [Don Manuel Drozco 9 Berra hat innerhalb des heutigen mexikaniſchen Gebietes durch ſorgfältige Zählung 51 Idiome mit 69 Dialekten, ſowie außerdem noch 62 ausgeſtorbene Sprachen kon— ſtatiert. Von dieſer Geſamtſumme von 182 verſchiedenen Mundarten konnte man aber nur 35 mit 69 Dialekten in 11 Familien grup⸗ pieren; andere 10 blieben unklaſſifiziert. — D. Herausg.] 5 Kontinentes (man darf ſie ohne Uebertreibung zu mehreren Hunderten annehmen), iſt, beſonders in Vergleichung mit den wenigen Sprachen von Aſien und Europa, ein äußerſt auf: fallendes Phänomen. Die mexikaniſche Sprache, nämlich die aztekiſche, iſt die verbreitetſte unter allen und erſtreckt ſich Vea vom 37. Grad bis an den See Nicaragua, alſo auf einer Länge von 400 Stunden. Der Abbe Clavigero hat ſogar bewieſen, daß die Tolteken, die Chichimeken (von denen die Bewohner von Tlaxcala abſtammen), die Acolhuen und die Nahuatlaken alle dieſelbe Sprache mit den Mexikanern geſprochen haben. Dieſe Sprache iſt minder ſonor, aber beinahe ebenſo ver— breitet und reich als die der Inka. Nach der mexikaniſchen oder aztekiſchen Sprache, wovon es elf gedruckte Sprachlehren gibt, iſt die der Otomiten die verbreitetſte in Neuſpanien. Ich bin überzeugt, daß eine ausführliche Beſchreibung der Sitten, des Charakters, des phyſiſchen und intellektuellen Zuſtandes der Ureinwohner von Mexiko, die die ſpaniſchen Geſetze mit dem Namen Indianer bezeichnen, viel Anziehendes für die Leſer haben würde. Das allgemeine Intereſſe, wel— ches man in Europa für dieſe Reſte der primitiven Bevölkerung des neuen Kontinentes hegt, ſtammt aus einem moraliſchen, die Menſchheit ehrenden Grunde, in dem die Geſchichte der Eroberung von Amerika und von Hinduſtan das Gemälde eines völlig ungleichen Streites zwiſchen Völkern auf der einen Seite darſtellt, die in den Künſten ſchon ſehr weit fort— geſchritten waren, und zwiſchen Völkern auf der anderen, die ſich noch auf der erſten Stufe der Civiliſation befanden. Dieſer unglückliche Stamm von Azteken, welche dem Blut— bade entronnen waren, ſchien dem Erlöſchen unter der Unter— drückung mehrerer Jahrhunderte beſtimmt zu ſein, und man kann ſich kaum überzeugen, daß beinahe drittehalb Millionen Ureinwohner ſolche langdauernde Trübſale überleben konnten. Ganz anders als die Chineſen und Japaner feſſeln die Be— wohner von Mexiko und Peru und die Indier am Ganges die Aufmerkſamkeit des gefühlvollen Beobachters; denn ſo groß iſt das Intereſſe, welches das Unglück eines beſiegten ' Das Wort Notlazomahuizteopixcatatzin bedeutet: Chr: würdiger Prieſter, den ich wie meinen Vater liebe. Mit dieſem Worte von ſiebenundzwanzig Buchſtaben reden die Mexikaner ihre Pfarrer an. Volkes einflößt, daß es oft ſogar gegen die Abkömmlinge ſeiner Sieger ungerecht macht. Um die urſprünglichen Einwohner von Neuſpanien ken⸗ nen zu lernen, dürfte man ſie nicht nur in ihrem gegen: wärtigen Zuſtande von Geiſtesverſunkenheit und Elend ſchil— dern, ſondern müßte zu der entfernten Epoche aufſteigen, wo dieſe Nation unter der Herrſchaft ihrer eigenen Geſetze all ihre eigentümliche Energie entwickeln konnte. Man müßte die hieroglyphiſchen Gemälde, ihre Bauten von gehauenen Steinen und ihre Bildhauerarbeiten unterſuchen, die ſich er— halten haben, und wenn ſie auch ſchon noch die Kindheit der Kunſt verraten, dennoch auffallende Aehnlichkeiten mit meh— reren Denkmalen der civiliſirteſten Völker zeigen. Ich ſpare dieſe Unterſuchungen indes für die hiſtoriſche Beſchreibung unſerer Reiſe nach den Tropenländern auf, indem die Natur dieſes Werkes ſich dieſen übrigens für die Geſchichte und das pſychologiſche Studium unſerer Gattung gleichwichtigen Nach— richten verſagt. Wir beſchränken uns daher, hier nur die bevorſtehenden Züge dieſes großen Gemäldes der Urvölker von Amerika anzugeben. Die Indianer von Neuſpanien gleichen im ganzen denen von Kanada, Florida, Peru und Braſilien. Die Farbe gleich bräunlich und kupferfarbig, die Haare ſchlicht und glatt, wenig Bart, unterſetzte Statur, längliche Augen, mit gegen die Schläfe emporgerichteten Winkeln; ſtark hervorragende Backen⸗ knochen, breite Lippen und im Munde ein Ausdruck von Sanftmut, welcher gegen ihren finſteren, ernſten Blick ſehr abſticht, — dies ſind ihre allgemeinen äußeren Kennzeichen. Nach der hyperboreiſchen Raſſe iſt die amerikaniſche die am wenigſten zahlreiche, ob ſie gleich den größten Raum auf der Erdkugel inne hat. Man erſtaunt beim erſten Blick über die Aehnlichkeit der Züge in den Geſichtern der Bewohner von 1½ Millionen Quadratmeilen Landes, nämlich von den Feuer: landsinſeln bis zum St. Lorenzfluß und der Beringsenge, und glaubt es ganz deutlich zu ſehen, daß ſie ſämtlich, trotz all der ungeheuren Verſchiedenheit ihrer Sprachen, aus einer Wurzel abſtammen. Denkt man aber reiflicher über dieſe anſcheinende Familienähnlichkeit nach und hat man beſonders etwas länger unter den Eingeborenen von Amerika gelebt, Ey NT ag 42000 000 qkm nad) heutigen Berechnungen. — D. Herausg.] IHR fo findet man, daß berühmte Reiſende nur einzelne Indivi⸗ duen auf den Küſten beobachten konnten und die Analogie 1 Formen in der amerikaniſchen Raſſe höchlichſt übertrieben haben. Zur Verſchiedenheit der Geſichtszüge in einem Volke trägt überhaupt die intellektuelle Kultur am meiſten bei, und bei noch barbariſchen Völkern gibt es mehr eine Stamm⸗ oder Hordenphyſiognomie als den Individuen eigentümliche Phyſiognomie. Vergleicht man die Haustiere mit denen, welche in Wäldern leben, ſo glaubt man dieſelbe Bemerkung zu machen. Ueberdies it der Europäer bei ſeinem Urteil über die große Aehnlichkeit der Raſſen mit ſchwarzbrauner Haut einer beſonderen Täuſchung ausgeſetzt, indem er ſich durch eine von der unſerigen ſo verſchiedene Hautfarbe über⸗ raſcht findet und die Gleichſtimmigkeit des Kolorits die Ver⸗ ſchiedenheit der individuellen Züge lange Zeit in ſeinen Augen verſchwinden macht. Der neue Koloniſt unterſcheidet daher die Eingeborenen mit Mühe voneinander, indem ſein Blick weniger durch den ſanften, melancholiſchen oder wilden Aus: druck der Geſichter als durch die kupferrote Farbe, die langen, glänzenden, dicken und ſo glatten Haare, daß man ſie immer für benetzt halten ſollte, gefeſſelt wird. g Indes erkennt man in dem treuen Gemälde, welches ein vortrefflicher Beobachter, Herr Volney, von den Indianern in Kanada entworfen hat, die in den Triften vom Rio Apure und vom Garony zerjtreuten Völkerſchaften. In beiden Ame— rika iſt es nur derſelbe Typus; allein diejenigen Europäer, welche die großen Flüſſe Orinoko und den Amazonenſtrom beſchifft oder Gelegenheit gehabt haben, viele verſchiedene Stämme unter der mönchiſchen Hierarchie in den Miſſionen beiſammen zu ſehen, haben gewiß die Beobachtung gemacht, daß die amerikaniſche Raſſe Völker enthält, die in ihren Ge— ſichtszügen ebenſo weſentlich voneinander abweichen, als die vielen Varietäten der kaukaſiſchen Raſſe, der Cirkaſſier, Mauren und Perſer. Die hochaufgeſchoſſene Form der Patagonier, welche das ſüdliche Ende des neuen Kontinentes bewohnen, findet ſich ſozuſagen bei den Kariben in den Ebenen vom Delta des Orinoko bis zu den Quellen des Rio Blanco. Aber welche Verſchiedenheit iſt zwiſchen dem Wuchs, der Phy— ſiognomie und der phyſiſchen Konſtitution der Kariben,“ welche Die große Nation der Kariben oder Karaiben hatte, nach— a er man unter die ſtärkſten Völker der Erde zählen darf (aber ja nicht mit den ausgearteten Zambos auf der Inſel Vincent, die man ehemals auch Kariben genannt hat, verwechſeln darf), und mit den unterſetzten Körpern der Chaymasindianer in der Provinz Cumana! Und welche Verſchiedenheit der Formen zwiſchen den Indianern von Tlascala und den Lipanen und Chichimeken des nördlichen Teiles von Mexiko! Die Eingeborenen von Neuſpanien haben eine noch weit dunkler braune Hautfarbe, als die Bewohner der heiße— ſten Länder des ſüdlichen Amerikas. Dieſe Erſcheinung iſt um ſo merkwürdiger, da in der kaukaſiſchen Raſſe, welche man auch die europäiſch-arabiſche Raſſe nennen könnte, die mittäglicheren Völker eine minder weiße Haut haben als die nördlichen. Haben daher verſchiedene aſiatiſche Nationen, welche Europa im 6. Jahrhundert überſchwemmten, auch gleich ein ſehr dunkles Kolorit, ſo ſcheint es doch, daß die Abwei— chungen der Hautfarbe bei den Völkern der weißen Raſſe weniger ihrem Urſprung und ihrer Vermiſchung als dem Lokal—⸗ einfluß des Klimas zuzuſchreiben ſind. Die Wirkung dieſes Einfluſſes ſcheint bei den Amerikanern und Negern indes gar nicht ſtattzufinden, indem dieſe Raſſen, bei welchen ſich der Kohlenwaſſerſtoff in reichlicher Menge auf die Malpighiſche Schleim⸗ oder Netzhaut abſetzt, den Eindrücken der ſie um— gebenden Luft ganz beſonders widerſtehen. Die Neger von den Gebirgen von Oberguinea ſind nicht minder ſchwarz als die näher an den Küſten wohnenden. Auch unter den Ureinwohnern des neuen Kontinentes gibt es zuverläſſig Stämme von ſehr wenig dunkler Farbe, deren Kolorit ſich dem der Araber oder Mauren nähert. Wir fanden die Völker vom Rio Negro weit dunkler braun als die vom Niederorinoko, obgleich die Ufer des erſten dieſer beiden Flüſſe ein weit friſcheres Klima genießen als die nördlicheren Ge— genden. In den Wäldern von Guyana, beſonders gegen die Quellen des Orinoko hin, leben mehrere ziemlich weiße Stämme, die Guaicas, die Guahariben und die Ariken, von denen dem ſie die Cabren ausgerottet, einen beträchtlichen Teil des ſüd— lichen Amerikas erobert, und erſtreckte ſich im 16. Jahrhundert vom Aequator bis zu den Jungfraueninſeln. Die wenigen Familien, welche zu unſerer Zeit noch in den öſtlichen Antillen übrig ge— blieben und vor kurzem von den Engländern deportiert worden ſind, waren ein Gemiſch von Kariben und Negern. ER manche ſtarke Individuen, welche kein Zeichen der die Al: binos charakteriſierenden, aſtheniſchen Krankheit an ſich haben, die Hautfarbe ganz wie die Metis haben. Und doch haben ſich dieſe Stämme nie mit Europäern vermiſcht und ſind rings von anderen ſchwarzbraunen Völkern umgeben. Die Indianer, welche in der heißen Zone die höchſten Plateaus der Anden— Kordillere bewohnen, und die, welche unter dem 45. Grad ſüdlicher Breite zwiſchen den Inſeln vom Archipel der Chonos vom Fiſchfange leben, ſind ebenſo kupferfarbig als die, welche unter einem brennenden Himmel die Bananen in den engſten und tiefſten Thälern der Aequinoktialgegend pflanzen. Hierzu kommt noch, daß die Indianer von den Gebirgen bekleidet ſind, und es längſt vor der Eroberung waren, während die Eingeborenen in den Ebenen nackt und ſomit immer den ſenk— rechten Strahlen der Sonne ausgeſetzt ſind. Und dennoch habe ich nicht bemerken können, das die bedeckten Teile des— ſelben Individuums weniger braun geweſen als die anderen, welche beſtändig der heißen und feuchten Luft ausgeſetzt waren. Ueberhaupt ſieht man überall, daß die Farbe des Amerikaners nur ſehr wenig von dem Lokalverhältnis abhängt, worin wir ihn gegenwärtig wiſſen. Wie ſchon oben bemerkt wurde, find die Mexikaner weit brauner als die Indianer von Quito und Neukanada, welche ein völlig analoges Klima genießen; ja wir finden ſogar Völkerſchaften nördlich am Rio Gila zerſtreut, die viel brauner ſind als andere, die in der Nachbarſchaft des Königreiches Guatemala wohnen. Sogar unter 54° 10“ der Nordbreite zu Cloak-Bay, mitten unter Indianern von Kupferfarbe und mit kleinen ſehr langen Augen, findet ſich ein Stamm mit ſehr großen Augen, europäiſchen Zügen und weniger brauner Haut, als unſere Landleute ſie haben. Alle dieſe Thatſachen beweiſen, daß die Natur bei aller Ver— ſchiedenheit des Klimas und Höhen, welche die mannig— faltigen Menſchenraſſen bewohnen, von dem Typus, dem ſie ſich ſeit vielen tauſend Jahren unterworfen hat, nicht abweicht. Meine Beobachtungen über die angeborene Farbe der Ureinwohner ſind freilich zum Teil den Behauptungen des berühmten Anführers der Miamis, Michikinakua, den die Angloamerikaner die „kleine Schildkröte“ nennen und welcher Herr Volney ſo koſtbare Nachrichten gegeben hat, entgegen. Er verſicherte ihn, „daß die Kinder der Indian von Kanada weiß geboren werden wie die Europäer; daß die Erwachſenen bloß von der Sonne, dem Fett und den Kräuterſäften, wo— ee mit ſie ſich die Haut einreiben, gebräunt werden, und daß derjenige Teil des Gürtels, welcher immer von Kleidung be— deckt iſt, bei den Weibern immer weiß bleibt.“ Ich habe nun die Nationen von Kanada, von welchen der Anführer der Miami redet, nicht geſehen, allein ich kann verſichern, daß die Kinder in Peru, Quito, auf der Küſte von Caracas, an den Ufern des Orinoko und in Mexiko, nie bei ihrer Geburt weiß ſind, und daß die indianiſchen Kaziken, welche eine ge— wiſſe Wohlhabenheit genießen und bekleidet im Inneren ihrer Häuſer leben, am ganzen Körper, den inneren Teil der Hände und Fußſohlen ausgenommen, rotbraun oder kupferfarbig ſind. Die Mexikaner, beſonders die von der aztekiſchen und otomitiſchen Raſſe, haben mehr Bart, als ich bei anderen Eingeborenen des ſüdlichen Amerikas bemerkt habe. In den Umgebungen der Hauptſtadt tragen faſt alle Indianer kleine Schnauzbärte und dies iſt ſogar ein charakteriſtiſches Zeichen der tributären Kaſte. Dieſe Schnauzbärte welche neuere Rei— ſende auch bei den Bewohnern der Nordweſtküſte von Amerika gefunden haben, ſind um ſo merkwürdiger, da ſelbſt berühmte Naturforſcher die Frage unentſchieden gelaſſen haben, ob die Amerikaner von Natur aus keinen Bart oder keine Haare auf dem übrigen Teile des Körpers haben oder ob ſie beides nur ſorgfältig ausreißen. Ohne übrigens hier in nähere phyſiologiſche Unterſuchungen einzugehen, kann ich wohl ver— ſichern, daß die Indianer, welche die heiße Zone des mittäg- lichen Amerikas bewohnen, im Durchſchnitte wenig Bart haben; daß ſich dieſer Bart vermehrt, wenn ſie ſich raſieren, wie wir davon die Beiſpiele in den Miſſionen der Kapuziner von Caripe geſehen haben, wo die indianiſchen Sakriſtane gern den Mönchen, ihren Herren, ähnlich ſein wollten; aber daß auch viele Individuen ganz ohne Bart und Haare geboren werden. Herr von Galeano erzählt in ſeinem Bericht von der letzten ſpaniſchen Expedition nach der Magelhaensſchen Meer— enge, daß es unter den Patagoniern viele alte Männer gebe, welche einen wiewohl kurzen und nicht ſehr ſtarken Bart haben. Vergleicht man dieſe Behauptung mit den Beobachtungen, welche Marchand, Mears und beſonders Herr Volney unter der nördlichen gemäßigten Zone gemacht haben, Volney, Tableau du climat et du sol des Etats-Unis. Vol. 11, p. 435. ® Viage al Estrecho de Magellanes. S. 331. ei More fo könnte man verfucht werden, zu glauben, daß die Indianer, je weiter ſie ſich von dem Aequator entfernen, auch deſto bärtiger werden. Uebrigens iſt dieſer Mangel an Bart der amerikaniſchen Raſſe nicht charakteriſtiſch eigen, indem manche Horden des öſtlichen Aſiens und beſonders einige afrikaniſche Völkerſchaften ſo wenig Bart haben, daß man beinahe an deſſen Daſein überhaupt zweifeln könnte. Auch beweiſen die Neger vom Kongo und die Kariben, zwei außerordentlich ſtarke Menſchenraſſen, die oft von eigentlich koloſſaler Natur ſind, daß es nur ein phyſiologiſcher Traum iſt, ein unbärtiges Kinn als ein gewiſſes Zeichen von Ausartung und phyſiſcher Schwäche der menſchlichen Gattung anzuſehen. Ueberhaupt vergißt man zu leicht, daß nicht alles, was man über die kaukaſiſche Raſſe beobachtet hat, auf die mongoliſche oder amerikaniſche, oder die der afrikaniſchen Neger anwendbar iſt. Die Eingeborenen von Neuſpanien, wenigſtens die unter europäiſcher Herrſchaft ſtehenden, erreichen im Durchſchnitt ein ziemlich hohes Alter. Ruhig ihre Felder bauend und ſeit 600 Jahren in Dörfer vereinigt, ſind ſie nicht all den Glückswechſeln ausgeſetzt, wie ſie die irrende Lebensweiſe der Jäger- und Kriegsvölker am Miſſiſippi und in den Steppen am Fluſſe Gila treffen. Bei ihrer einförmigen und beinahe völlig vegetalen Nahrung (indem ſie bloß in Mais und in Cerealien beſteht) würden ſie ein ſehr hohes Lebensalter er— reichen, wenn die Trunkſucht nicht ihre Konſtitution ſchwächte. Ihre berauſchenden Getränke beſtehen in Branntwein aus Zuckerrohr, in einer Gärung von Mais und der Jatropha— wurzel, und beſonders im Wein des Landes, dem Saft der amerikaniſchen Agave, „Pulque“ genannt. Letzteres Getränk, von welchem wir im folgenden Buch zu reden Gelegenheit . bekommen werden, iſt wegen ſeines nicht zerſetzten Zucker— prinzips ſogar nahrhaft. Wirklich nehmen viele Eingeborene, die dem Pulque ſehr ergeben ſind, oft lange Zeit faſt gar keine andere Nahrung zu ſich; und mit Mäßigung genoſſen, iſt er auch ſehr geſund, indem er den Magen ſtärkt und die Funktionen des gaſtriſchen Syſtems begünſtigt. Indes iſt das Laſter der Trunkſucht nicht ſo allgemein unter den Indianern, wie man gewöhnlich glaubt, und Euro— päer, welche öſtlich von den Alleghanygebirgen zwiſchen dem Ohio und Miſſouri gereiſt haben, werden es kaum glau— ben können, daß wir in den Wäldern von Guyana, am Ufer des Orinoko, Eingeborene gefunden haben, welche eine Ab— — 6 neigung gegen den Branntwein zeigten, den wir ihnen zu koſten gaben. Es gibt wirklich in dieſem Punkt ſehr nüchterne in— dianiſche Völkerſchaften, deren gegorene Getränke viel zu ſchwach ſind, um zu berauſchen. In Neuſpanien iſt die Trunkſucht beſonders unter den Eingeborenen im Thal von Mexiko, in den Umgebungen von Puebla und Tlaxcala und überall, wo die Maguey oder Agave im großen gebaut wird, allge— mein, und in der Hauptſtadt Mexiko ſelbſt läßt die Polizei Totenkarren durch die Straßen ziehen, um die Betrunkenen, welche in denſelben liegen, aufzuladen. Dieſe Indianer führt man wie Tote nach der Hauptwache, wo man ihnen ſodann den andern Morgen einen eiſernen Ring an den Fuß legt, und ſie drei Tage lang die Straße kehren läßt. Kommen ſie indes am vierten Tag wieder frei, ſo iſt man ſicher, mehrere von ihnen noch in der nämlichen Woche in gleichem Zuſtande wieder zu finden. Auch in den heißen Ländern an der Küſte, wo Zuckerrohr erzeugt wird, ſchadet der Gebrauch der ge— brannten Waſſer der Geſundheit des gemeinen Volks ſehr viel. Indes iſt zu hoffen, daß ſich dieſes Uebel in dem Maß vermindern wird, in welchem die Civiliſation unter einer Menſchenkaſte vorrücken kann, deren Roheit ſozuſagen beinahe tieriſch iſt. Reiſende, die nur nach der Phyſiognomie der Indianer urteilen, ſind verſucht zu glauben, daß es nur wenige alte Leute unter ihnen gebe, und wirklich iſt es auch ſehr ſchwer, eine Idee von dem Alter der Eingeborenen zu erhalten, wenn man nicht die Regiſter der Kirchſpiele unterſuchen kann, welche übrigens in den heißen Gegenden alle 20 bis 30 Jahre von den Termiten gefreſſen werden. Sie ſelbſt, nämlich die armen indianiſchen Landleute, wiſſen gewöhnlich nie, wie alt ſie ſind. Ihr Haupt wird nie grau, und es iſt unendlich viel ſeltener, einen Indianer, als einen Neger mit weißen Haaren zu fine den; auch gibt der Mangel an Bart dem erſten ein bleiben⸗ des jugendliches Anſehn. Ueberdies runzelt die Haut der Indianer nicht ſo leicht. Oft ſieht man daher in Mexiko, in der gemäßigten Zone auf der Hälfte der Kordillere, die Eingeborenen und beſonders ihre Weiber ein Alter von 100 Jahren erreichen. Ein ſolches Alter iſt gewöhnlich glück— lich, indem die mexikaniſchen und peruaniſchen Indianer ihre Muskelkraft bis an den Tod erhalten. Während meines Aüfenthalts in Lima ſtarb ſogar im Dorf Chiguata, vier Stunden von der Stadt Arequipa, der Indianer Hilario Pari — 2 — in einem Alter von 143 Jahren. Er war 90 Jahre lang mit der Indianerin Andrea Alea Zar, welche es bis auf 117 Jahre gebracht, verheiratet geweſen. Bis in ſein hundert— unddreißigſtes Jahr hatte dieſer peruaniſche Greis alle Tage drei bis vier Stunden Wegs zu Fuß gemacht, und erſt 13 Jahre vor ſeinem Tod, nach welchem ihm von zwölf Kindern nur eine Tochter von 76 Jahren übrig geblieben, war er blind geworden. Die kupferfarbigen Eingeborenen genießen einen phy— ſiſchen Vorteil, welcher ohne Zweifel von der großen Ein⸗ fachheit herrührt, womit ihre Voreltern ſeit mehreren tauſend Jahren gelebt haben. Sie ſind faſt keiner körperlichen Miß— geſtaltung ausgeſetzt, und ich habe nie einen buckligen In⸗ dianer geſehen, ſo wie man auch nur höchſt ſelten einen Schielenden, Hinkenden oder am Arme Gelähmten unter ihnen erblickt. In Ländern, deren Bewohner durch Kröpfe leiden, bemerkt man dieſe Krankheit der Schlunddrüſe nie an den Indianern und ſelten an den Metis. Zu der letzten Kaſte gehört auch der berühmte mexikaniſche Rieſe, Martin Sal⸗ meron, den man fälſchlich einen Indianer nennt, und welcher 2,224 m Höhe hat. Er iſt der Sohn eines Metis und einer Indianerin aus dem Dorfe Chilapa el Grande bei Chilpantzingo !. Betrachtet man bloß die wilden Jäger oder Krieger, ſo könnte man glauben, daß man unter ihnen nur gutgebaute Menſchen finde, indem die, welche einigermaßen mißgeſtaltet ſind, entweder vor Mühſeligkeiten umkommen oder von ihren Verwandten verlaſſen werden. Allein die mexikaniſchen und peruaniſchen Indianer, die von Quito und Neugranada, unter denen ich lange gelebt habe, ſind Landbauer, welche man bloß mit unſeren europäiſchen Bauern vergleichen kann. Man darf daher als gewiß annehmen, daß der Mangel an natürlichen Mißgeſtaltungen, den man unter ihnen bemerkt, bloß Folge Dies iſt die wahre Größe dieſes Rieſen, deſſen Verhältniſſe die beſten ſind, welche ich je an einem Menſchen dieſer Art geſehen habe. Er hat einen Zoll weiter als der Rieſe von Tornéo, den man 1735 in Paris gezeigt hat. Die amerikaniſchen Zeitungen geben Salmeron übrigens 7 Fuß 1 Zoll Pariſer Maßes. Gazeta de Goatimala 1800. Annales de Madrid, t. IV, no. 12. Die menſchliche Gattung ſcheint zwiſchen 2 Fuß 4 Zoll, und 7 Fuß 8 Zoll oder von 0,757 m und 2,489 m hin und her zu wechſeln. DF ⁰ — > ihrer Lebensweiſe und der eigentümlichen Konſtitution ihrer Raſſe iſt. Alle Menſchen von ſehr dunkelbrauner Haut, die von mongoliſchem und amerikaniſchem Urſprung ſind, und beſonders die Neger genießen denſelben Vorteil. Man möchte daher glauben, daß die arabiſch-europäiſche Raſſe eine größere Flexibilität in ihrer Organiſation habe, und daß dieſe, durch viele äußere Urſachen, durch Mannigfaltigkeit von Nahrungs— mitteln, Klima und Sitten geſtaltet, ſich gerne von ihrem urſprünglichen Typus verirre. Was wir aber über die äußere Form der amerikaniſchen Eingeborenen geſagt, beſtätigt das, was andere Reiſenden ſchon über die Aehnlichkeit zwiſchen den Amerikanern und der mon⸗ goliſchen Raſſe behauptet haben. Dieſe Aehnlichkeit zeigt ſich beſonders in der Farbe der Haut und der Haare, dem wenigen Bart, den ſtark heraustretenden Backenknochen und aus der Richtung der Augen. Auch muß man zugeben, daß die menſchliche Gattung keine einander ſich mehr nähernden Raſſen zeigt als die amerikaniſchen, die mongoliſchen, die der Man⸗ tſchu und der Malaien. Aber die Aehnlichkeit einiger Züge konſtituiert noch keine Identität der Raſſe. Scheinen auch die hieroglyphiſchen Gemälde und die Traditionen der Be: wohner von Anahuac, wie ſie von den erſten Eroberern ge— ſammelt wurden, anzuzeigen, daß ein Schwarm von irrenden Völkerſchaften ſich von Nordweſt nach Süden ergoſſen hat, ſo darf man daraus doch noch nicht ſchließen, daß alle Ein— geborenen des neuen Kontinents aſiatiſchen Urſprunges ſind. Wirklich zeigt uns auch die Oſteologie, daß der Schädel des Amerikaners von dem der mongoliſchen Raſſe weſentlich ver— ſchieden iſt. Der erſte hat eine weit abhängigere, wiewohl geradere Geſichtslinie als der des Negers, und es gibt keine Raſſe auf der Erdkugel, wo der Stirnknochen ſo ſehr nach hinten herabgedrückt oder die Stirn weniger vorſpringend wäre. Der Amerikaner hat beinahe ebenſo ſtark hervor: »Dieſe außerordentliche Verglattung findet ſich bei Völkern, welche nie ein Mittel, künſtliche Mißgeſtaltungen hervorzubringen, gekannt haben, wie das durch die mexikaniſchen, peruaniſchen und aturiſchen Schädel bewieſen wurde, welche wir, Herr Bonpland und ich, zurückgebracht, und von denen wir verſchiedene in dem Muſeum der Naturgeſchichte in Paris niedergelegt haben. Ich möchte glauben, daß der barbariſche Gebrauch, welcher unter einigen wilden Horden herrſcht, die Köpfe der Kinder zwiſchen zwei Bretter zu drücken, aus Bar rss ragende Backenknochen als der Mongole; aber ihre Umriſſe ſind gerundeter und in minder ſpitzigen Winkeln. Der Unter⸗ kiefer iſt größer als bei dem Neger und die Horizontal: äſte desſelben ſind einander näher gerückt als bei der mon⸗ goliſchen Raſſe. Das Hinterhauptbein iſt weniger gewölbt, und die Protuberanzen, welche mit dem kleineren Gehirn in Verbindung ſtehen, und auf die Herr Galls Syſtem ſo viele Wichtigkeit legt, ſind nur wenig fühlbar. Vielleicht iſt dieſe Raſſe von kupferfarbigen Menſchen, welche wir. unter dem allgemeinen Namen der amerikaniſchen Indianer begreifen, ein Gemiſch von aſiatiſchen Völkerſchaften und den primitiven Ureinwohnern dieſes Kontinents, und könnten die Figuren mit den ungeheuren Adlersnaſen, welche man auf den mexi- kaniſchen hieroglyphiſchen Gemälden, die in Wien, Veletri und Rom gezeigt werden, ſowie in den hiſtoriſchen Bruch- ſtücken bemerkt, die ich mitgebracht habe, nicht etwa die Phy⸗ ſiognomie einiger erloſchener Raſſen anzeigen? Die wilden Kanadier nennen ſich ſelbſt Metoktheniaken, aus dem Boden Entſproſſene, ohne daß ſie ſich von den Schwarzröcken, wie ſie die Miſſionäre nennen, bisher vom Gegenteil überzeugen ließen. a Was die moraliſchen Eigenſchaften der mexikaniſchen Ur⸗ einwohner betrifft, ſo iſt es ſchwer, ſie mit Richtigkeit zu beurteilen, wenn man dieſe unter langer Tyrannei ſchmach⸗ tende Kaſte bloß im jetzigen Zuſtand ihrer Erniedrigung be— trachtet. Zu Anfang der ſpaniſchen Eroberung wurden die wohlhabendſten Indianer, bei denen man eine gewiſſe intellek— tuelle Kultur vermuten konnte, größtenteils die Opfer der europäiſchen Grauſamkeit. Beſonders wütete der chriſtliche Fanatismus aber gegen die aztekiſchen Prieſter; man vertilgte alle Teopixqui oder Diener der Gottheit; alle die, welche der Idee entſtanden iſt, die Schönheit beſtehe in einer Form des Stirn⸗ knochens, welche die Raſſe auf eine ſtarke Weiſe charakteriſiere. Die Neger geben den dickſten und hervorragendſten Lippen den Vorzug; die Kalmücken den Stumpfnaſen, und die Griechen ſetzten die Ge— ſichtslinie in ihren Heroenſtatuen über die Wahrheit der Natur hinaus, von 85 bis 100°. (Cuvier, Anat. comparee, Bd. 2, S. 6.) Die Azteken, welche nie die Köpfe ihrer Kinder mißgeſtalteten, ſtellten ihre vorzüglichſten Gottheiten, wie ihre hieroglyphiſchen Handſchriften beweiſen, mit weit platterem Haupte vor, als ich es je bei einem Kariben geſehen habe. — en die Teocalli! oder die Häuſer Gottes bewohnten, und die man als die Bewahrer der hiſtoriſchen und aſtro nomiſchen Kenntniſſe des Landes anſehen konnte indem die Prieſter in Mexiko den Mittagsſchatten an den Sonnenuhren beobachteten und die Interkalationen regulierten. Die Mönche ließen ſogar die hieroglyphiſchen Gemälde verbrennen, durch welche aller Art Kenntniſſe von Generation zu Generation verpflanzt wurden. Nachdem das Volk dieſer Unterrichtsmittel beraubt war, verfiel es in eine um ſo tiefere Unwiſſenheit, da die Miſſionäre die mexikaniſchen Sprachen nur ſehr ſchlecht ver— ſtanden, und daher die alten Ideen durch wenige neue zu erſetzen vermochten. Die indianiſchen Frauen, welche noch einiges Vermögen gerettet hatten, verheirateten ſich lieber mit den Eroberern, als daß ſie die Verachtung teilten, welche man gegen die Indianer hatte, und die ſpaniſchen Soldaten ſtrebten um ſo mehr nach dergleichen Verbindungen, da nur ſehr wenige Europäerinnen der Armee gefolgt waren. So blieb denn von den Eingeborenen bloß die dürftigſte Raſſe übrig, nämlich die Landbauer, die Handwerker, unter welchen man beſonders eine große Menge Weber zählte, die Laſtträger, deren man ſich wie der Saumtiere bediente, und beſonders die Hefe des Volkes, dieſe Menge von Bettlern, welche die Unvollkommenheit der geſellſchaftlichen Inſtitutionen und den Druck des Feudalweſens bezeugten, und ſchon zu Cortez' Zeit die Straßen aller großen Städte des mexikaniſchen Reiches anfüllten. Wie ſoll man nun nach ſolch elenden Reſten über ein mächtiges Volk und über den Kulturzuſtand, auf den es ſich vom 12. bis zum 16. Jahrhundert erhoben hatte, ſowie über die intellektuelle Entwickelung urteilen, deren es noch fähig iſt? Wenn von der franzöſiſchen oder deutſchen Nation dereinſt nichts als arme Landleute übrig wären, würde man es in ihren Geſichtszügen leſen können, daß ſie Völkern an— gehört haben, die einen Descartes, Clairaut, Kepler und Leibniz hervorgebracht haben? Wir bemerken ja ſelbſt in Europa, daß das niedrige Volk während ganzer Jahrhunderte nur ſehr langſame Fort— ſchritte in der Civiliſation macht. Der bretoniſche oder nor: männiſche Bauer, der Bewohner des nördlichen Schottlands iſt heutzutage nur ſehr wenig von dem verſchieden, was er zur Zeit Heinrichs IV. und Jakobs I. war. Studiert man 1 Von Teotl, Gott, Ogg. A. v. Humboldt, Neuſpanien. I. 5 — 66 — das, was die Briefe des Cortez, die Memoiren von Bernal Diaz, welche mit der liebenswürdigſten Naivität geſchrieben ſind, und andere gleichzeitige Geſchichtſchreiber über den Zu— ſtand berichten, worin man die Bewohner von Mexiko, Tez— cuco, Chololan und Tlaxcala unter der Regierung Monte: zumas II. gefunden hat, ſo glaubt man das Gemälde der Indianer unſerer Zeit vor ſich zu haben. Es iſt dieſelbe Nacktheit in den heißen Gegenden, dieſelbe Kleidungsweiſe auf dem Centralplateau, es ſind die nämlichen Gebräuche im häuslichen Leben. Wie können auch mit den Eingeborenen große Veränderungen vorgehen, wenn man ſie in Dörfern, wo kein Weißer ſich niederzulaſſen wagt, iſoliert beiſammenhält, ſolange die Verſchiedenheit der Sprache eine beinahe unüber— ſteigliche Scheidewand zwiſchen ihnen und den Europäern er— hält, ſolange ſie durch Obrigkeiten bedrückt werden, die aus politiſchen Rückſichten aus ihnen ſelbſt gewählt werden, kurz, ſolange ſie immer noch alle ihre moraliſche und bürgerliche Vervollkommnung von einem Manne erwarten müſſen, welcher ihnen von Myſterien, Dogmen und Ceremonieen ſpricht, deren Zweck ſie nicht kennen? Wir brauchen hier nicht zu unterſuchen, was die Mexi— kaner vor der ſpaniſchen Eroberung geweſen ſind; indem wir dieſen merkwürdigen Gegenſtand zu Anfang unſeres Kapitels berührt haben. Findet man indes, daß die Eingeborenen eine genaue Kenntnis der Länge des Jahres hatten, und daß ſie am Ende ihres großen Cyklus von 104 Jahren genauer als die Griechen, Römer und Aegypter interkalierten,“ jo möchte man glauben, daß dieſe Fortſchritte nicht die Wirkung einer intellektuellen Entwickelung der Amerikaner ſelbſt geweſen, ſondern daß ſie ſie ihrer Verbindung mit irgend einem ſehr gebildeten Volke von Mittelaſien verdankten. Die Tolte— ken erſcheinen im 7. und die Azteken im 12. Jahrhundert in Neuſpanien, ſie nehmen bereits eine geogenphülce Karte von dem Lande auf, das fie durchzogen haben, bauen Herr Laplace hat in der mexikaniſchen Interkalation, zu der ich ihm die von Gama geſammelten Materialien gegeben habe, er— kannt, daß die Dauer des tropiſchen Jahres der Mexikaner beinahe mit der von den Aſtronomen von Almamon gefundenen identiſch iſt. Man ſehe über dieſe für die Geſchichte des Urſprunges der Azteken wichtige Beobachtung die Exposition du monde, troisième ddi- tion, S. 554. (F Städte, Straßendämme, Kanäle und ungeheure Pyramiden, welche völlig richtig gegen die vier Weltgegenden geſtellt ſind, und deren Baſis 438 m Länge hat. Ihr Feudalweſen, ihre bürgerliche und militäriſche Hierarchie ſind ſchon ſo verwickelt, daß man für die ſonderbare Verkettung von Autoritäten, für die Feſtſetzung des Adels und des Klerus, und für die Mög⸗ lichkeit der Erſcheinung, daß ein kleiner Teil des Volkes, welcher ſelbſt Sklave des mexikaniſchen Sultans war, die große Maſſe der Nation unterjochen konnte, daß man für die Erklärung aller dieſer Umftände eine lange Reihe politiſcher Ereigniſſe annehmen muß. Im 18 1 705 Amerika ſehen wir 5 We he Regierungsformen, als z. B. im Zaque! de Bo⸗ a (dem alten Cundinamarca), bei den Inka in Peru, 01 ſehr großen Reichen, in welchen ſich der Deſpotismus unter dem Schein einer fanften, patriarchaliſchen Herrſchaft verbarg. In Mexiko hingegen hatten ſich kleine Vftkerſe af⸗ ten, wenn ſie der Tyrannei müde waren, republikaniſche Ver— faſſungen gegeben. Allein nur nach langen Volksſtürmen können ſich dergleichen freie Konſtitutionen bilden, und die Exiſtenz von Republiken deutet daher auf keine ſehr neue Civiliſation. Wie kann man überhaupt daran zweifeln, daß ein Teil der mexikaniſchen Nation einen gewiſſen Grad von Bildung erreicht hatte, wenn man den Fleiß bedenkt, mit welchem die hieroglyphiſchen Bücher? abgefaßt waren, und Das Reich von Zaque, welches das Königreich Neugranada umfaßte, war von Idacanzas oder Bochica, einer myſteriöſen Per— ſon, geftiftet, welche, nach den Ueberlieferungen der Muysca, 2000 Jahre lang im Tempel der Sonne zu Sogamozo lebte. Die aztekiſchen Handſchriften find entweder auf Papier von Agaven oder auf Hirſchhäuten geſchrieben und oft 20 bis 22 m fang. Jede Seite hat 7 bis 10 gem Flächeninhalt. Dieſe Hand: ſchriften ſind hie und da rautenförmig eingebogen, und ſehr dünne, hölzerne Brettchen, welche an den äußerſten Enden befeſtigt ſind, machen ihren Einband und geben ihnen Aehnlichkeit mit unſeren Quartbänden. Keine Nation des Altertums, welche wir kennen, hat einen ſo ausgebreiteten Gebrauch von der Hieroglyphenſchrift gemacht; keine zeigt uns wirkliche gebundene Bücher, wie wir ſie ſo— eben beſchrieben haben. Mit dieſen Büchern muß man indes andere aztekiſche Malereien mit den nämlichen Zeichen, aber in Tapetenform von 63 gem, nicht verwechſeln. Ich habe mehrere in den Archiven des Vizekönigs von Mexiko geſehen, und beſitze ſelbſt einige Frag— mente, welche ich in dem maleriſchen Atlas ſtechen ließ, der den hiſtoriſchen Bericht von meiner Reiſe begleitet. — 68 — ſich erinnert, daß ein Bürger von Tlaxcala, mitten unter dem Waffengeräuſch, die Bequemlichkeit unſeres römiſchen Alphabetes benutzte, um in ſeiner Sprache fünf dicke Bände über die Geſchichte ſeines Vaterlandes zu ſchreiben, deſſen Unterjochung er beweinte? Wir werden hier das für die Geſchichte ſonſt ſo wichtige Problem nicht auflöſen, ob die Mexikaner im 15. Jahrhundert civiliſierter waren als die Peruaner und ob beide, wenn ſie ſich ſelbſt überlaſſen geblieben wären, in der intellektuellen Kultur nicht ſchnellere Fortſchritte gemacht hätten, als unter der Herrſchaft des ſpaniſchen Klerus geſchehen iſt? Ebenſo— wenig werden wir unterſuchen, ob die Vervollkommnung des einzelnen, trotz dem Deſpotismus der aztekiſchen Fürſten, in Mexiko weniger Hinderniſſe gefunden habe als in dem Reiche der Inka. In dem letzteren hatte der Geſetzgeber nur maſſen— weiſe auf die Menſchen wirken wollen. Er hielt ſie in einem mönchiſchen Gehorſam, behandelte ſie wie lebendige Maſchinen und zwang ſie zu Arbeiten, die durch ihre Anordnung, ihre Größe und beſonders durch die Ausdauerung derer, welche ſie ge— leitet, Erſtaunen erregen. Analyſieren wir aber den Mechanis— mus dieſer in Europa allgemein viel zu hoch geprieſenen Theo— kratie, ſo finden wir, daß man überall, wo das Volk in Kaſten geteilt iſt, deren jede ſich nur einzelnen Arbeitszweigen ergeben darf und wo die Bewohner kein Privateigentum beſitzen, ſondern nur für den Nutzen der Gemeinheit arbeiten, Kanäle, Straßen, Waſſerleitungen, Pyramiden und andere ungeheure Werke findet; aber daß ſolche Völker auch Tauſende von Jahren hindurch denſelben Anſchein von äußerlicher Behaglichkeit be— halten und doch in der moraliſchen Kultur, welche das Ne: ſultat der individuellen Freiheit iſt, beinahe um keinen Schritt vorrücken. g In dem Gemälde, welches wir von den verſchiedenen Menſchenraſſen entwerfen, die die Bevölkerung von Neu— ſpanien ausmachen, betrachten wir den mexikaniſchen Indianer bloß in ſeinem gegenwärtigen Zuſtande. Wir erkennen in ihm weder die Beweglichkeit der Empfindungen, der Gebärden und Geſichtszüge, noch die Thätigkeit des Geiſtes, welche mehrere Völker der Aequinoktialgegenden von Afrika charak— teriſieren, und es gibt gewiß keinen auffallenderen Kontraſt als den, welcher zwiſchen der ſtürmiſchen Lebhaftigkeit der Neger vom Kongo und dem anſcheinenden Phlegma des kupfer— farbigen Indianers ſtattfindet. Im Gefühl dieſes Kontraſtes — 69 — ziehen die Indianerinnen auch die Neger nicht nur den Män— nern ihrer eigenen Raſſe, ſondern den Europäern ſelbſt vor. Der mexikaniſche Eingeborene iſt, ſolange kein berauſchendes Getränk auf ihn wirkt, ernſthaft, melancholiſch und ſtille. Dieſe Ernſthaftigkeit fällt beſonders an den indianiſchen Kin— dern auf, welche in einem Alter von vier bis fünf Jahren weit mehr Verſtand und Entwickelung zeigen als die Kinder der Weißen. Der Mexikaner legt in ſeine gleichgültigſten Handlungen gerne etwas Geheimnisvolles; die heftigſten Lei— denſchaften malen ſich nicht in ſeinen Zügen; aber es iſt etwas Erſchreckliches, wenn er plötzlich aus der Ruhe in eine heftige zügellofe Bewegung übergeht. Der Eingeborene von Peru iſt weit ſanfter in ſeinen Sitten; die mexikaniſche Energie hingegen artet in Härte aus. Dieſe Verſchiedenheiten mögen indes von der des Kultus und der alten Regierung beider Länder herkommen. Dieſe Energie entwickelt ſich am meiſten bei den Bewohnern von Tlaxcala und noch in ihrer gegen— wärtigen Erniedrigung unterſcheiden ſich die Nachkommen jener Republikaner durch einen gewiſſen Charakterſtolz, den ihnen das Andenken an ihre ehemalige Größe einflößt. Die Amerikaner hängen, wie die Bewohner von Hindu— ſtan und alle anderen Völker, die lange unter bürgerlichem und religiöſem Deſpotismus geſchmachtet haben, mit außer— ordentlicher Hartnäckigkeit an ihren Gewohnheiten, Sitten und Meinungen; denn die Einführung des Chriſtentums hat auf die Eingeborenen von Mexiko faſt keine andere Wirkung ge— than, als daß ſie an die Stelle der Ceremonieen eines blu— tigen Kultus neue Ceremonieen und Symbole einer ſanften, menſchlichen Religion ſetzte. Dieſer Uebergang vom alten zum neuen Brauche war das Werk des Zwanges und nicht der Ueberzeugung und wurde durch die politiſchen Ereigniſſe herbeigeführt. Im neuen Kontinent wie im alten waren die halbbarbariſchen Völker gewohnt, aus den Händen des Siegers neue Geſetze und neue Gottheiten zu erhalten und die Urgötter des Landes ſchienen nach ihrer Beſiegung nur den fremden Göttern zu weichen. Allein in einer ſo ver— wickelten Mythologie, wie die der Mexikaner, war es leicht, eine Verwandtſchaft zwiſchen den Gottheiten von Aztlan und vom Orient zu finden, und Cortez benutzte eine Volksſage mit vieler Geſchicklichkeit, der zufolge die Spanier bloß die Abkömmlinge des Königs Quetzalcoatl waren, welcher von Mexiko aus oſtwärts gezogen war, um Kultur und Geſetze Ze in die Ferne zu verbreiten. Die Ritualbücher, die die Indianer zu Anfang der Eroberung in hieroglyphiſchen Charak— teren entwarfen und von denen ich einige Bruchſtücke beſitze, beweiſen offenbar, wie das Chriſtentum um dieſe Zeit mit der mexikaniſchen Mythologie vermiſcht wurde; indem z. B. der heilige Geiſt ſich mit dem heiligen Adler der Azteken identifizierte. Die Miſſionäre duldeten dieſe Vermiſchung von Ideen, wodurch der chriſtliche Kultus viel leichter bei den Eingeborenen Zugang fand, nicht nur, ſondern begünſtigten ſie ſogar bis auf einen gewiſſen Punkt, ſie verſicherten ſie, daß das Evangelium in uralten Zeiten ſchon in Amerika ge⸗ predigt worden ſei, und ſuchten in dem aztekiſchen Ritus die Spuren davon mit dem nämlichen Eifer auf, mit welchem die Gelehrten unſerer Tage, die ſich dem Studium des Sans— krit ergeben haben, die Analogie der griechiſchen Mythologie mit der des Ganges und Bramaputra darzuthun ſich beſtreben. Dieſe Umſtände, welche in einem anderen Werke weiter ausgeführt werden ſollen, erklären es, wie die mexikaniſchen Ureinwohner trotz ihrer Hartnäckigkeit, womit ſie allem, was von ihren Vätern kommt, anhängen, doch ſo leicht ihre alten Religionsgebräuche vergeſſen konnten. Kein Dogma hat hier dem Dogma Platz gemacht; bloß ein Ceremoniell iſt dem an— deren gewichen und die Indianer kennen nichts von der Re— ligion als die äußeren Formen des Kultus. Freunde von allem, was zu einer gewiſſen Ordnung von vorgeſchriebenen Ceremonieen gehört, finden ſie im chriſtlichen Kultus ganz be— ſondere Genüſſe, und die Kirchenfeſte, die damit verbundenen Feuerwerke, die Prozeſſionen mit Tanz und barocken Verklei— dungen ſind für das niedrige Volk reiche Quellen von Be— luſtigungen. Bei dieſen Feten zeigt ſich aber der National: charakter auch in ſeiner ganzen Individualität. Ueberall hat der chriftliche Ritus die Veränderungen des Landes, in welches er verpflanzt wurde, angenommen. Auf den Philippiniſchen und Marianiſchen Inſeln haben ihn die Völker von der ma— laiiſchen Raſſe mit ihren eigenen Ceremonieen vermiſcht und in der Provinz Paſto, auf dem Rücken der Anden-Kor— dillere habe ich Indianer geſehen, welche ſich maskiert und Schellen angehängt hatten, um, während ein Franziskaner— ne die Hoſtie emporhob, wilde Tänze um den Altar zu halten. An lange Sklaverei, ſowohl unter ihren eigenen Fürſten als unter den erſten Eroberern gewöhnt, tragen die Ein— — geborenen von Mexiko alle die Plackereien, die ſie noch oft genug von den Weißen erfahren müſſen, mit Geduld. Unter dem trügeriſchen Anſcheine von Apathie und Stumpfſinn ſetzen ſie ihnen bloß verſchleierte Liſt entgegen. Da ſie ſich nur ſelten an den Spaniern rächen können, ſo machen ſie gern mit dieſen zur Unterdrückung ihrer eigenen Mitbürger Ge— meinſchaft; indem auch ihnen, nachdem ſie jahrhundertelang geplagt und zu blindem Gehorſam gezwungen worden, die Luſt zu tyranniſieren gekommen iſt. Die indianiſchen Dörfer werden durch Obrigkeiten aus der kupferfarbigen Raſſe regiert, und ein indianiſcher Alkalde übt ſeine Gewalt mit ſo größerer Härte aus, da er überzeugt iſt, daß ihn der Pfarrer oder der ſpaniſche Subdelegat beſchützt. Ueberall thut die Unterdrückung dieſelbe Wirkung, überall zerſtört ſie die Sittlichkeit. Da die Ureinwohner faſt alle zur Klaſſe der Bauern und des niedrigen Volkes gehören, ſo iſt es nicht leicht, über ihre Anlagen für Künſte der Lebensverſchönerung zu urteilen, Indeſſen kenne ich keine Menſchenraſſe, welche ärmer an Ein— bildungskraft zu ſein ſchiene. Gelangt ein Indianer auf einen gewiſſen Grad von Kultur, ſo zeigt er eine große Leichtigkeit zu lernen, viel richtigen Verſtand, natürliche Logik und eine beſon— dere Neigung zu ſubtiliſieren oder die feinſten Verſchiedenheiten zwiſchen mehreren zu vergleichenden Gegenſtänden aufzufaſſen. Dabei räſonniert er kalt, aber mit Ordnung, ohne jedoch jene Beweglichkeit der Einbildungskraft, jenes Kolorit der Em— pfindung, jene Kunſt zu ſchaffen und hervorzubringen zu zeigen, welche die Völker des ſüdlichen Europas und mehrere afri— kaniſche Negerſtämme charakteriſiert. Ich ſpreche dieſe Mei— nung indes mit Vorbehalt aus; indem man äußerſt vorſichtig im Urteil über das ſein ſoll, was man moraliſche oder intel— lektuelle Anlagen der Völker zu nennen wagt, von denen wir durch ſo manche Scheidewand der Verſchiedenheit der Sprachen, der Gewohnheiten und Sitten getrennt find. Ein philoſo— phiſcher Beobachter findet das, was man in der Mitte des kultivierten Europas über den Nationalcharakter der Spanier, Franzoſen, Italiener und Deutſchen gedruckt hat, ſehr un— richtig. Wie dürfte ſich nun vollends ein Reiſender, der nur an einer Inſel gelandet, nur einige Zeit ſich in einem fern⸗ gelegenen Lande aufgehalten hat, das Recht anmaßen, über die verſchiedenen Seelenkräfte, das Uebergewicht des Verſtan— des, des Geiſtes und der Einbildungskraft der Nationen ab— zuurteilen? i — 72 — In Muſik und Tanz der Eingeborenen erkennt man übrigens den Mangel an Fröhlichkeit, der ſie überhaupt cha— rakteriſiert. Herr Bonpland und ich, wir haben im ganzen ſüdlichen Amerika dieſelbe Bemerkung gemacht. Ihr Geſang klingt melancholiſch und klagend. Indes zeigen die indianiſchen Weiber mehr Lebhaftigkeit als ihre Männer; allein ſie teilen das Unglück der Sklaverei, zu welcher das andere Geſchlecht bei allen Völkern, wo die Civiliſation noch ſehr unvollkommen iſt, verurteilt iſt. Sie tanzen nicht mit, ſondern find bloß zu⸗ gegen, um den Tänzern die gegorenen Getränke zu reichen, welche ſie bereitet haben. Den Mexikanern iſt ein ganz beſonderer Geſchmack für die Malerei und Skulptur in Stein und Holz geblieben und man muß ſtaunen, was ſie mit dem ſchlechteſten Meſſer an dem härteſten Holze ausrichten. Sie geben ſich beſonders viel damit ab, Heiligenbilder zu malen und Mb und ahmen hierin ſchon ſeit 300 Jahren die Modelle knechtiſch nach, welche die Europäer zu Anfang der Eroberung mitge— bracht haben. Dieſe Nachahmung gründet ſich ſogar auf einen fernher ſtammenden Glaubensſatz. In Mexiko, wie in Hin⸗ duſtan, war es nämlich den Gläubigen nicht erlaubt, das Ge— ringſte an der Figur der Idole zu verändern, ſowie überhaupt alles den Ritus der Azteken und Hindu Betreffende unwandel— baren Geſetzen unterworfen war. Man urteilt daher ſehr unrichtig über den Zuſtand der Künſte und des National- geſchmackes dieſer Völker, wenn man bloß die abenteuerlichen Figuren betrachtet, unter denen ſie ihre Gottheiten darſtellten. In Mexiko haben die chriſtlichen Bilder zum Teile dieſe Steif— heit und Härte der Züge erhalten, wodurch ſich die hierogly— phiſchen Gemälde aus Montezumas Jahrhundert charakteriſieren. Indes haben ſich verſchiedene indianiſche Kinder, welche in den Kollegien der Hauptſtadt erzogen wurden oder ihren Unter— richt in der von dem König geſtifteten Malerakademie erhalten hatten, ausgezeichnet; aber dies iſt mehr durch Fleiß als durch Genie geſchehen. Ohne den gebahnten Weg zu ver— laſſen, zeigen ſie viele Geſchicklichkeit in Betreibung der Künſte der Einbildungskraft; aber ſie verraten eine noch weit größere in bloß mechaniſchen Künſten. Dieſe Geſchicklichkeit wird der- einſt von hohem Werte ſein, wenn ſich die Manufakturen in dieſem Lande, wo einer Regierung von Kraft und Willen zu einer völligen Wiedergeburt desſelben eine neue Schöpfung aufbehalten iſt, heben werden. — 1 Die mexikaniſchen Indianer haben noch den nämlichen Geſchmack an den Blumen, wie ihn ſchon Cortez an ihnen fand. Ein Blumenſtrauß war das köſtlichſte Geſchenk, das man den Geſandten machte, welche an Montezumas Hof kamen. Dieſer Monarch und ſeine Vorgänger hatten eine Menge ſeltener Pflanzen in den Gärten von Iſtalapan zu— ſammengebracht. Der berühmte Baum mit Händen, der Cheiro— ſtemon,“ den Herr Cervantes beſchrieben und wovon man lange nur ein Exemplar gekannt hat, ſcheint anzudeuten, daß die Könige von Toluca auch fremde Bäume in dieſem Teile von Mexiko pflanzen ließen. Oft rühmt Cortez in ſeinen Briefen an Kaiſer Karl V. die Induſtrie der Mexikaner im Gartenweſen und beklagt ſich ſogar, daß man ihm die Samen der Blumen zum bloßen Gartenſchmuck und die der nutzbaren Pflanzen nicht ſchicke, um die er ſeine Freunde in Sevilla und Madrid gebeten habe. Zuverläſſig zeigt der Geſchmack an Blumen ein Gefühl für das Schöne an und man ſtaunt, ihn bei einer Nation zu finden, wo ein blutiger Kultus und die häufigen Opfer alles Zartgefühl der Seele und alle ſanf— teren Neigungen erſtickt zu haben ſcheinen. Auf dem großen Markte von Mexiko verkauft kein Eingeborener Pfirſiche, Ana— nas, Gemüſe, ſelbſt nicht einmal Pulque (gegorenen Saft der Agaven), ohne ſeine Bude mit Blumen zu ſchmücken, welche alle Tage friſch ſind und der indianiſche Krämer ſcheint eigent— lich in einer Verſchanzung von Blumen zu ſitzen. Ein Ge— hege von friſchen Kräutern, beſonders von zartblätterigen Gräſern, das 1 m hoch iſt, umgibt wie eine Mauer im Halbzirkel die zum Verkauf ausgeſtellten Früchte. Der ganz grüne Grund iſt mit Parallelen von Blumenguirlanden ab— geteilt und die kleinen Blumenſträuße, welche ſymmetriſch zwiſchen den Gehängen angebracht ſind, geben dem Ganzen das Anſehen einer mit Blumen beſäten Tapete. Ein Euro— päer, der gern die Sitten des niederen Volkes beobachtet, Herr Bonpland hat eine Zeichnung davon in unſeren Aequinoktialpflanzen, B. 1, S. 75, Platte 24, gegeben. Seit kurzem hat man Stämme von dem Arbor de las manitas in den Gärten von Montpellier und Paris. Der Cheiroſtemon iſt ebenſo merk— würdig wegen ſeiner Blumenkrone, als es der Gyrocarpus, den wir in die Gärten von Europa gebracht haben und von dem der be— rühmte Jacquin die Blüte nicht finden konnte, durch die Form ſeiner Früchte iſt. muß über die Sorgfalt und Eleganz erſtaunen, mit der die Ein⸗ geborenen die Früchte in kleinen, von ſehr leichtem Holz ge— arbeiteten Käfigen verkaufen. Die Breiäpfel (Achras) der Mammea, die Birnen und die Trauben liegen unten und der obere Teil iſt ganz mit wohlriechenden Blumen verziert. Stammt dieſe Kunſt, Früchte mit Blumen zu umſchlingen, vielleicht aus der glücklichen Epoche, da die erſten Bewohner von Anahuac lange vor Einführung der unmenſchlichen Reli— gionsbräuche gleich den Peruanern die Erſtlinge ihrer Ernten dem großen Geiſte Teotl darbrachten? Dieſe zerſtreuten Züge, welche die mexikaniſchen Ein: geborenen charakteriſieren, gehören dem indianiſchen Land— manne, deſſen Civiliſation, wie wir oben bemerkt haben, der der Chineſen und Japaner gleichkommt. Noch unvollkommener würde die Schilderung ſein, die ich von den Sitten der in— dianiſchen Nomaden zu entwerfen vermöchte, welche die Spa— nier unter dem Namen Indios bravos begreifen und von denen ich nur einige, die als Kriegsgefangene nach der Haupt— ſtadt gebracht wurden, zu Geſicht bekommen habe. Die Mecos (ein Stamm der Chichimeken), die Apachen, die Lipanen ſind Horden von Jägervölkern, die auf ihren häufig nächtlichen Zügen die Grenzen von Neubiscaya, von Sonora und Neu— mexiko beunruhigen. Dieſe Wilden verraten, wie die des ſüdlichen Amerikas weit mehr Beweglichkeit des Geiſtes und Charakterkraft als die Landbauer der Indianer. Einige Völker— ſchaften unter ihnen haben ſogar Sprachen, deren Mechanis— mus eine alte Civiliſation beweiſt. Sie lernen die europät: ſchen Sprachen nur mit der größten Schwierigkeit, drücken ſich aber in den ihrigen mit äußerſter Leichtigkeit aus. Dieſe indianiſchen Anführer, deren finſteres Schweigen den Be— obachter in Erſtaunen ſetzt, halten, wenn ein großes Intereſſe ſie aufregt, Reden, die mehrere Stunden lang dauern. Dieſe Geläufigkeit der Zunge haben wir auch in den Miſſionen des ſpaniſchen Guyana, bei den Kariben vom Niederorinoko, deren Sprache äußerſt weich und ſonor iſt, bemerkt. Nach dieſer Unterſuchung der phyſiſchen Beſchaffenheit und der intellektuellen Anlagen der Indianer müſſen wir noch einen flüchtigen Blick auf ihren geſellſchaftlichen Zuſtand werfen. Die Geſchichte der letzten Klaſſen eines Volkes iſt nichts als die Erzählung der Ereigniſſe, welche die große Un— gleichheit des Vermögens, der Genüſſe und des individuellen Glückes begründet und damit nach und nach einen Teil der ä Ba Nation unter die Vormundſchaft und die Abhängigkeit der an⸗ deren geſetzt haben. Aber dieſe Erzählung ſuchen wir beinahe ganz vergebens in den Annalen der Geſchichte. Sie bewahren wohl das Andenken an große politiſche Revolutionen, an Kriege, Eroberungen und andere Geißeln, welche die Menſchheit be— troffen haben; aber ſie laſſen uns nur weniges über das mehr oder minder klägliche Schickſal der ärmſten und zahl- reichſten Klaſſe der Geſellſchaft. Nur in einem ſehr kleinen Teile von Europa genießt der Landbauer die Früchte ſeiner Arbeit in Freiheit und dieſe bürgerliche Freiheit iſt, wie wir geſtehen muͤſſen, nicht ſowohl das Reſultat einer weit vor— gerückten Civiliſation als vielmehr die Wirkung der gewalt— ſamen Kriſen, in welchen eine Klaſſe oder ein Staat die Un— einigkeit der anderen benutzt hat. Die wahre Vervollkomm— nung der geſellſchaftlichen Inſtitutionen hängt freilich von der Aufklärung und intellektuellen Entwickelung ab; allein die Räder, welchen einen Staat bewegen, greifen ſo ſonderbar ineinander ein, daß bei einem Teile der Nation dieſe Ent— wickelung ſehr ſtarke Fortſchritte machen kann, ohne daß die Lage der letzten Klaſſen dadurch beſſer würde. Von dieſer traurigen Wahrheit liefert uns der ganze Norden die Beſtä— tigung und es gibt in dieſem Länder, wo der Landmann trotz der ſo ſehr gerühmten Civiliſation der höheren Klaſſen noch heutzutage in eben der Erniedrigung lebt, in welcher er ſich drei bis vier Jahrhunderte früher befunden hat, und wir dürften vielleicht das Schickſal der Indianer viel glücklicher finden, wenn wir es mit dem der Bauern in Kurland, Ruß— land und einem großen Teil des nördlichen Deutſchlands ver— gleichen wollten. Die Eingeborenen, welche man heutzutage in den Städten und beſonders auf dem Lande von Mexiko zerſtreut ſieht, und deren Anzahl (die von gemiſchtem Blute ausgeſchloſſen) dritte— halb Millionen beträgt, ſind entweder Abkömmlinge von ehe— maligen Landbauern oder Ueberbleibſel einiger großen in: dianiſchen Familien, die ſich nicht mit den ſpaniſchen Eroberern vermiſchen wollten, ſondern lieber die Ländereien, welche ſie ſonſt durch ihre Vaſallen bauen ließen, mit eigenen Händen bauten. Dieſer Unterſchied äußert ſich ſehr ſtark in dem politiſchen Zuſtande der Eingeborenen, indem ſie ebendaher in tributäre Indianer und in adelige Indianer oder Kaziken abgeteilt werden. Letztere haben nach den ſpaniſchen Ge— ſetzen alle Privilegien des kaſtilianiſchen Adels, aber in ihrer BR 9 heutigen Lage ift dieſer Vorteil nur ein Schein, und man vermag nur ſchwer nach dem Aeußeren die Kaziken von den an- deren Eingeborenen zu unterſcheiden, deren Voreltern zu Mon— tezumas II. Zeit bereits das niedrige Volk oder die letzte Kaſte der mexikaniſchen Nation ausmachten. Wegen der Ein⸗ fachheit ſeiner Kleidung und Nahrung und dem elenden Aus— ſehen, in dem er ſich gefällt, verwechſelt man den adeligen leicht mit dem tributären Indianer. Indes bezeigt der letz: tere dem erſteren einen Grad von Ehrfurcht, welcher noch den von den alten Konſtitutionen der aztekiſchen Hierarchie vorge— ſchriebenen Abſtand anzeigt. Allein die Familien, welche die Erbrechte des „Cacicasgo“ genießen, mißbrauchen, ſtatt die Kaſte der tributären Eingeborenen zu beſchützen, ſehr oft ihren Einfluß. In ihren Händen iſt die Magiſtratur der indianiſchen Dörfer; ſie erheben deswegen die Kopfſteuer und laſſen ſich bei dieſer Gelegenheit von den Weißen nicht nur als Werk— zeuge der Unterdrückung gebrauchen, ſondern benutzen auch ihre eigene Gewalt und ihr Anſehen, um kleine Summen zu ihrem eigenen Vorteil zu erpreſſen. Einſichtsvolle Inten⸗ danten, welche lange Zeit das Innere der indianiſchen Wirt— ſchaften ſtudiert haben, verſichern daher auch, daß die Kaziken ſehr ſchwer auf die tributären Indianer drücken, gerade wie in verſchiedenen Teilen von Europa, wo die Juden noch kein Bürgerrecht genießen, die Rabbinen den Gemeinden, welche ihnen anvertraut find, zur Laſt werden. Uebrigens find die Sit— ten unter dem aztekiſchen Adel noch ebenſo ungebildet und iſt die Civiliſation unter ihm nicht weiter gekommen, als bei dem gemeinen Volke der Indianer. Er bleibt, ſozuſagen, ebenſo iſoliert, und die Beiſpiele von eingeborenen Mexikanern, welche, im Beſitze des Cacicasgo, ſich der höheren Magiſtratur oder dem Militärſtande gewidmet haben, ſind ſehr ſelten, deſto mehrere Indianer findet man aber in dem geiſtlichen Stande, beſonders unter den Pfarrern; da hingegen die Einſamkeit der Klöſter nur für die indianiſchen Mädchen etwas Anziehendes zu haben ſcheint. Als die Spanier Mexiko eroberten, fanden ſie das Volk bereits in dem Zuſtande von Verworfenheit und Armut, wel— cher überall den Deſpotismus und das Feudalweſen begleitet. Der Kaiſer, die Prinzen, der Adel und der Klerus (die Teo⸗ pixqui) beſaßen allein die fruchtbarſten Ländereien und die Gouverneure der Provinzen erlaubten ſich ungeſtraft die här⸗ teſten Erpreſſungen. Der Landbauer war aufs tiefſte ernied⸗ rigt; die großen Straßen wimmelten, wie wir oben bemerkten, — von Bettlern, der Mangel an großen vierfüßigen Haustieren zwang viele Tauſende, den Dienſt der Saumtiere zu verſehen, und Mais, Baumwolle, Häute und andere Waren, welche die entfernteſten Provinzen als Tribut nach der Hauptſtadt ſchickten, zu transportieren. Die Eroberung machte indes den Zuſtand des niedrigen Volkes noch jämmerlicher. Man entriß den Landmann ſeinen Feldern und ſchleppte ihn auf die Gebirge, wo die Ausbeutung der Minen bereits anfing. Viele mußten der Armee folgen und bei ſchlechter Nahrung und weniger Ruhe über ſteile Gebirge hin Laſten ſchleppen, die über ihre Kräfte waren. Alles indianiſche Eigentum, bewegliches und liegendes, wurde als den Siegern gehörig angeſehen und dieſer abſcheuliche Grundſatz ward ſogar durch ein Geſetz ge— heiligt, welches den Eingeborenen nur ein kleines Stückchen Feldes um die neugebauten Kirchen herum anweiſt. Der ſpaniſche Hof ſah bald, wie ſchnell ſich der neue Kontinent entvölkerte, und nahm anſcheinend wohlthätige Maß— regeln, um dies zu verhindern: allein die Habſucht und Liſt der Eroberer (Conquistadores) wußte ſie alle zum Nachteil von denen zu lenken, deren Unglück dadurch gelindert werden ſollte. Man führte das Syſtem der Encomiendas ein. Die Eingeborenen, deren Freiheit die Königin Iſabella umſonſt proklamiert hatte, waren bis dahin Sklaven der Weißen ge— weſen, die ſich ihrer ohne Unterſchied bemächtigten. Durch die Einrichtung der Encomiendas gewann die Sklaverei aber noch regelmäßigere Formen. Um die Streitigkeiten der Kon— quiſtadoren zu beendigen, verteilte man die Reſte des unter— jochten Volkes. Die Indianer wurden in Stämme von mehreren hundert Familien abgeſondert und erhielten Herren, die von Spanien aus unter den Soldaten, welche ſich bei der Eroberung ausgezeichnet hatten, und unter den Leuten vom Nechtsfach,! die der Hof zur Regierung der Provinzen, und um ein Gegengewicht gegen die anmaßende Gewalt der Generäle nach Amerika abgeſchickt hatte, ernannt wurden. Viele und die ſchönſten Encomiendas erhielten die Mönche, und die Religion, die nach ihren Grundſätzen die Freiheit begünſtigen ſollte, erniedrigte ſich durch ihre Benutzung der Volksſklaverei. Dieſe Verteilung band die Indianer an den Dieſe mächtigen Männer hatten oft den bloßen Titel Licen— ciados, nach dem gelehrten Grade, den ſie in ihrer Fakultät genom— men hatten. u Boden; ihre Arbeit gehörte den Encomenderos, und der Leib: eigene nahm oft den Familiennamen feines Herrn an. Wirk: lich tragen noch heutzutage viele indianiſche Familien, ohne daß ſie ſich je mit europäiſchem Blute vermiſcht hätten, ſpa⸗ niſche Namen. Bei alledem hatte der Hof von Madrid den Indianern Beſchützer zu geben vermeint, da er nur das Uebel verſchlimmert und die Unterdrückung ordentlich ſyſte— matiſch gemacht hatte. In dieſem Zuſtande befanden ſich die mexikaniſchen Land⸗ bauer im 16. und 17. Jahrhundert. Von dem 18. hingegen fing ihr Schickſal allmählich an, beſſer zu werden. Die Fa⸗ milien der Konquiſtadoren erloſchen zum Teil, und die En— comiendas, welche man als Lehen betrachtete, wurden nicht wiederum an andere abgegeben. Die Vizekönige und beſon— ders die Audiencias wachten über die Intereſſen der Indianer, und ſo hat ſich ihre Freiheit und in mehreren Provinzen, ſelbſt ihr Wohlſtand ein wenig vergrößert. Beſonders iſt Karl III. durch ebenſo weiſe als nachdrückliche Maßregeln ihr Wohlthäter geworden. Er hob die Encomiendas auf; verbot die Repartimientos, durch die ſich die Corregidoren willkürlich zu Gläubigern, und ſomit zu Herren über die Arbeit der Eingeborenen gemacht hatten, indem ſie ſie, zu un— geheuren Preiſen, mit Pferden, Maultieren und Kleidung (ropa) verſahen. Die Einrichtung der Intendantſchaften, welche man dem Miniſterium des Grafen von Calvez ver— dankt, iſt beſonders eine denkwürdige Epoche für das Wohl der Indianer geworden. Die kleinen Bedrückungen, denen der Landmann von ſeiten der ſubalternen ſpaniſchen und indianiſchen Obrigkeiten ausgeſetzt war, haben ſich durch die Wachſamkeit und Thätigkeit der Intendanten äußerſt vermin⸗ dert, und die Indianer fangen nun an, die Vorteile zu ge— nießen, welche ihnen die im ganzen ſanften und menſchlichen Geſetze zugeſtanden hatten, deren ſie aber doch in den Jahr— hunderten der Barbarei und Unterdrückung beraubt geweſen waren. Der Hof hatte zu den wichtigen Poſten der Inten— danten oder Gouverneurs der Provinzen gleich im Anfang ſehr glückliche Wahlen getroffen, und unter den zwölf Män— nern, welche 1804 dieſe Stellen bekleideten, war auch nicht. einer, den die öffentliche Meinung der Beſtechlichkeit oder Unredlichkeit beſchuldigt hätte. Mexiko iſt das eigentliche Land der Ungleichheit; denn nirgends iſt fie in Verteilung der Glücksgüter, der Civili— fation, des Anbaues und der Bevölkerung größer als hier. Im Inneren des Königreiches liegen vier Städte, die nur eine oder zwei Tagereiſen voneinander entfernt ſind, und den— noch 35000, 67000, 70000 und 135000 Einwohner zählen.! Das Centralplateau von Puebla bis Mexiko, und von da bis Salamanca und Celaya, iſt mit Dörfern und Weilern ſo ſehr bedeckt, als die angebauteſten Teile der Lombardei. Aber öſtlich und weſtlich von dieſem engen Striche ziehen ſich un— urbare Felder hin, wo man auf einer Quadratſtunde nicht zehn oder zwölf Menſchen findet. Die Hauptſtadt und mehrere andere Städte beſitzen wiſſenſchaftliche Anſtalten, die man mit den europäiſchen vergleichen darf. Die Bauart der öffentlichen und der Privatgebäude, die Eleganz im Hausge— räte, die Equipagen, der Luxus in der Tracht der Frauen, der geſellſchaftliche Ton, alles verrät eine Verfeinerung, gegen welche die Nacktheit, Unwiſſenheit und Roheit des gemeinen Volkes aufs ſchreiendſte abſticht. Ja, dieſe Ungleichheit des Vermögenszuſtandes findet ſich nicht bloß unter der Kaſte der Weißen (Europäer und Kreolen), ſondern ſelbſt unter den Ureinwohnern des Landes. Betrachtet man die mexikaniſchen Indianer in Maſſe, ſo ſieht man nichts als ein Gemälde großen Elends. Nach den unfruchtbarſten Ländereien verwieſen, indolent von Cha— rakter und noch mehr zufolge ihrer politiſchen Lage, leben die Eingeborenen eigentlich nur von einem Tage zum anderen, und man würde beinahe vergebens einen unter ihnen ſuchen, der ein mittelmäßiges Vermögen beſäße. Statt glücklichen Wohlſtandes findet man dafür einige Familien, deren Ver— mögen um ſo koloſſaler ſcheint, je weniger man es unter der niedrigſten Klaſſe des Volkes erwartet. In den Intendant— ſchaften von Oajaca und Valladolid, in dem Thale von To— luca und beſonders in den Umgebungen der großen Stadt Puebla de los Angeles, gibt es mehrere Indianer, welche unter dem Anſchein von Elend beträchtliche Reichtümer ver— bergen. Als ich die kleine Stadt Cholula beſuchte, begrub man daſelbſt eine alte Indianerin, welche ihren Kindern für mehr denn 360000 Franken Maguey-(Agaven-⸗) Pflanzungen hinterließ. Dieſe Pflanzungen ſind die Weinberge und der ! [Die vier volkreichſten Städte der Mexikaniſchen Republik ſind dermalen: Mexiko mit 230000, Guadalajara mit 93875, Leon mit 90 000 und Puebla mit 70000 Einwohnern. — D. Herausg.] ee ganze Reichtum des Landes. Indes gibt es in Cholula keine Kaziken; die Indianer ſind daſelbſt alle tributär und zeich⸗ nen ſich durch große Mäßigkeit und durch ſtille, ſanfte Sitten aus; wodurch ſie ſich denn auch ſehr auffallend von ihren Nachbarn, den Tlaxcalanern, unterſcheiden, von denen viele von dem betiteltſten Adel abzuſtammen behaupten, und die ihr Elend durch ihren Hang zu Prozeſſen und uberhaupt durch einen unruhigen, ſtreitſüchtigen Geiſt vermehren. Zu den reichſten indianiſchen Familien in Cholula gehören die Axcotlan, die Sarmientos und Romeros; in Huerocinaa ſind es die Sochipiltecatl und beſonders im Dorfe Los Reyes die Tecuanoveken. Jede dieſer Familien beſitzt ein Kapital von 800 000 bis 1000000 Livres; ſie genießen, wie wir oben ſchon bemerkt haben, großes Anſehen unter den tributären Indianern; aber ſie gehen dennoch gewöhnlich barfuß, nur mit der mexikaniſchen Tunika von grobem, ſchwarzbraunem Tuch bedeckt, und überhaupt wie die Aermſten unter der Raſſe | der Eingeborenen bekleidet. Die Indianer ſind von allen indirekten Auflagen aus: genommen und zahlen kein „Alcavala“, indem ihnen das Ge: ſetz völlige Freiheit beim Verkauf ihrer Produkte geſtattet. Von Zeit zu Zeit, beſonders ſeit fünf oder ſechs Jahren her, hat es der höchſte Finanzrat von Mexiko, die Junta superior de Real Hacienda genannt, zwar verſucht, die Eingeborenen die Alcavala bezahlen zu machen; allein es iſt zu hoffen, daß ihnen der Hof von Madrid, der dieſe unglückliche Klaſſe im— mer in Schutz genommen hat, dieſe Immunität ſo lange erhalten wird, als ſie der direkten Auflage der Tribute (tributos) unterworfen ſind. Dieſe Auflage iſt eine wahre Kopfſteuer, welche die Indianer männlichen Geſchlechts vom 10. bis ins 50. Jahr bezahlen. 1601 entrichtete ein Indianer jährlich 32 Realen de plata Tribut, und vier Realen für den ser— vizio real, zuſammen etwa 23 Franken. Dieſe Summe or nach und nach in einigen Intendantſchaften bis auf 15 und ſogar 5 Franken! herabgeſetzt. In dem Bistume Michoacan und im größten Teile von Mexiko beträgt die ! Compendiö de la historia de la Real Hacienda de Nueva Espana, ein handſchriftliches Werk, welches Don Joaquin Maniau im Jahre 1793 dem Miniſter Staatsſekretär, Don Diego de Gar— doqui, vorgelegt hat, und wovon die Kopie in den Archiven des Vizekönigreichs aufbewahrt wird 7 Be Kopfſteuer heutzutage 11 Franken. Ueberdies bezahlen die Indianer, als Kirchſpielabgaben (derechos parroquiales), 10 Franken für die Taufe, 20 Franken für einen Heirats- ſchein und 32 Franken für die Beerdigung. Zu dieſen 62 Franken, welche die Kirche als Auflage von jedem einzelnen Indianer erhebt, kommen noch 25 bis 30 Franken für die ſogenannten freiwilligen Opfergaben, die mit den Namen Cargos de cofradias, Responsos und Misas para sacar animas bezeichnet werden.! Wenn die Geſetzgebung der Königin Iſabella und des Kaiſers Karl V. die Eingeborenen von ſeiten der Auflagen zu begünſtigen ſcheint, ſo beraubte ſie ſie dafür der wich— tigſten Rechte, welche die übrigen Bürger genießen. In einem Jahrhundert, wo man ſich in aller Form darüber ſtritt, ob die Indianer vernünftige Weſen ſeien, glaubte man ihnen noch eine Wohlthat damit zu erweiſen, daß man ſie als Berg— leute behandelte, für immer unter die Vormundſchaft der Weißen ſetzte, und jeden Akt, der von einer Perſon aus der kupferfarbigen Raſſe unterzeichnet war, und jede Schuld, die ſie gemacht hatte, wenn ſie über 15 Franken ging, für un⸗ gültig erklärte. Dieſe Geſetze haben ſich in ihrer vollen Kraft erhalten, und ſetzen natürlich eine unüberſteigliche Scheide— wand zwiſchen die Indianer und die übrigen Kaſten, deren Vermiſchung gleichfalls verboten iſt. Viele tauſend Ein— wohner können keinen gültigen Kontrakt machen (no pueden tratar y contratar); und zu immerwährender Minorität ver⸗ dammt, werden ſie ſich ſelbſt und dem Staate, in welchem ſie leben, zur Laſt. Ich kann das politiſche Gemälde der In⸗ dianer von Neuſpanien nicht beſſer endigen, als daß ich meinen Leſern den Auszug einer Denkſchrift vorlege, welche der Biſchof und das Kapitel von Michoacan? im Jahre 1799 Koſten für Brüderſchaften, Reſponſen und Meſſen, um die Seelen aus dem Fegfeuer zu erlöſen. 2 Informe del Obispo y Cabildo ecclesiastico de Valla- dolid de Mechoacan al Rey sobre Jurisdiecion y Ymunidades del Clero americano. Dieſer Bericht, wovon ich eine Abſchrift in mehr als zehn Bogen beſitze, wurde bei Gelegenheit des be— rühmten königlichen Befehles vom 25. Oktober 1795 gemacht, dem— zufolge die weltlichen Richter bevollmächtigt wurden, über die de— litos enormes des Klerus zu entſcheiden. Auf dieſes Recht geſtützt erlaubte ſich die Sala del crimen in Mexiko alles mögliche gegen die Pfarrer und warf ſie ſogar in die Gefängniſſe der niedrigſten A. v. Humboldt, Neuſpanien. I. 6 8 dem König eingereicht haben, und die die weiſeſten Anſichten und die liberalſten Ideen verrät. Der ehrwürdige Biſchof,! den ich noch perſönlich kennen zu lernen das Glück hatte, und der nun ein kärgliches, arbeits- volles Leben in einem Alter von 80 Jahren geendigt hat, ſtellt d dem Monarchen vor, daß bei dem gegenwärtigen Stande der Dinge die moraliſche Vervollkommnung der Indianer unmöglich iſt, wenn die Hinderniſſe nicht gehoben werden, welche ſich den Fortſchritten der Nationalinduſtrie entgegen— ſetzen. Die Grundſätze, die er ausſpricht, beſtätigt er durch mehrere Stellen aus den Werken von Montesquieu und Ber: nardin de Saint Pierre. Dieſe Citationen müſſen uns in der Feder eines Prälaten überraſchen, welcher als Ordensgeiſt— licher einen Teil ſeines Lebens in Klöſtern zugebracht hatte, und auf einem biſchöflichen Stuhle an den Ufern der Südſee ſaß. „Die Bevölkerung von Neuſpanien,“ ſagt er am Ende ſeiner Denkſchrift, „beſteht aus drei Klaſſen von Menſchen: aus Weißen oder Spaniern, Indianern und Kaſten“. Ich nehme an, daß die Spanier einen Zehnteil der Totalmaſſe ausmachen, und dennoch befinden ſich in ihren Händen beinahe alles Eigentum und alle Reichtümer des Landes. Die Sn: dianer und die Kaſten bauen den Boden; ſie dienen den Wohlhabenden und leben bloß von ihrer Hände Arbeit. Daher ſtammt aber auch dieſer Gegenſatz von Intereſſen zwiſchen den Indianern und den Weißen; dieſer gegenſeitige Haß, der ganz natürlich unter denen, welche alles, und denen, die nichts beſitzen, zwiſchen den Herren und den Sklaven ent— ſteht. Daher ſieht man auch auf der einen Seite alle Wir— kungen des Neides und der Zwietracht, Liſt, Diebſtahl und Neigung, den Weißen zu ſchaden, und auf der anderen nichts als Uebermut, Härte und Beſtreben, jeden Augenblick die Schwäche des Indianers zu benutzen. Ich weiß wohl, daß Volksklaſſen. Bei dieſem Streite trat die Audienz auf die Seite des Klerus. Jurisdiktionsſtreitigkeiten ſind überhaupt in dieſen entfernten Ländern ſehr gewöhnlich, und man verfolgt fie mit deſto mehr Hitze, da die europäiſche Politik, von der erſten Entdeckung der Neuen Welt an, die Uneinigkeit der Kaſten, der Familien und der konſtituierten Autoritäten als die Mittel angeſehen hat, die Kolonieen in Abhängigkeit von dem Mutterlande zu erhalten. Fray Antonio de San Miguel, Mönch von St. Hieronymus von Corvan, und aus den Montaſias von Santander gebürtig. 8 dieſe Uebel allenthalben aus einer großen Ungleichheit der Zuſtände entſpringen; aber ſie werden in Amerika noch viel furchtbarer, weil es da keinen Mittelſtand gibt, und man entweder reich oder elend, und adelig oder durch Geſetze und Macht der Meinung erniedrigt iſt. (Infame de de- recho y hecho.) „Wirklich befinden ſich die Indianer und die Raſſen von gemiſchtem Blute in dem Zuſtande äußerſter Demütigung. Die den Indianern eigene Farbe, die Unwiſſenheit und be— ſonders das Elend entfernen ſie unendlich weit von den Weißen, welche den erſten Rang in der Bevölkerung von Neuſpanien einnehmen. Die Privilegien, welche die Geſetze den India— nern einzuräumen ſcheinen, nutzen ihnen wenig und ſchaden ihnen ſogar, wie man wohl behaupten darf. Auf den engen Raum von 600 Varen (500 m) ſelben Durchmeſſers, welchen ein altes Geſetz den indianiſchen Dörfern vorſchreibt, einge— ſchränkt, haben die Eingeborenen ſozuſagen gar kein indivi— duelles Eigentum, ſondern müſſen die Kommunegüter bauen (bienes de communidad). Dieſer Anbau wird für fie zu einer um ſo unerträglicheren Laſt, da ſie ſeit einigen Jahren beinahe gar keine Hoffnung mehr haben, die Frucht ihrer Arbeit zu benutzen. Das neue Reglement der Intendant: ſchaften befiehlt, daß die Eingeborenen ohne beſondere Erlaub— nis des Finanzkollegiums von Mexiko (Junta superior de la Real Hacienda) feine Unterſtützung mehr aus den Kom— munekaſſen erhalten ſollten.“ (Die Kommunegüter wurden nämlich von den Intendanten verpachtet. Das Produkt der Arbeit der Eingeborenen fließt in die königlichen Kaſſen, wo die Oficiales reales unter beſonderen Rubriken über das, was man Eigentum jedes Dorfes nennt, Rechnung halten. Ich ſage, was man ſo nennt; denn ſeit mehr als 20 Jahren iſt dieſes Eigentum bloß eingebildet. Der Intendant ſelbſt kann nicht einmal darüber zu Gunſten der Eingeborenen verfügen, und dieſe ſind es bald müde, um Unterſtützung aus ihren Kommunekaſſen zu bitten. Freilich verlangt die Junta de Real Hacienda von dem Fiskal und dem Aſſeſſor des Vize— königs informes; allein jahrelang häufen ſich dieſe Papiere zuſammen und der Indianer bleibt ohne Antwort. Man iſt aber auch ſo ſehr daran gewöhnt, das Geld der Raxas de Comunidades als Summen anzuſehen, die keine feſte Beſtim— mung haben, daß der Intendant von Valladolid im Jahre 1798 nahe an eine Million ſolcher Gelder nach Madrid — 8 geſchickt hat, die ſich ſeit zwölf Jahren geſammelt hatten. Man machte dem König bei dieſer Gelegenheit die Vorſtellung, es ſei ein patriotiſches Geſchenk, welches die Indianer von Mi— hoacan ihrem Souverän zur Unterſtützung in feinem Kriege gegen England ſchickten!) „Das Geſetz verbietet die Vermiſchung der Kaſten; es verbietet den Weißen, ſich in den Dörfern der Indianer nieder— zulaſſen und hindert dieſe, es unter den Spaniern zu thun. Dieſe Iſolierung verhindert die Civiliſation aufs höchſte. Die Indianer regieren ſich überdies ſelbſt und alle ſubalternen Obrigkeiten ſind mit Kupferfarbigen beſetzt. Daher findet man denn auch in jedem Dorfe acht bis zehn alte Indianer, welche auf Koſten der anderen im völligſten Müßiggange leben und deren Anſehen ſich entweder auf vorgeblich erlauchte Geburt oder auf eine ſchlaue, vom Vater auf den Sohn fort: . geerbte Politik gründet. Dieſe Oberhäupter, meiſt die ein- zigen Perſonen im Dorfe, welche ſpaniſch verſtehen, haben natürlich das größte Intereſſe, ihre Mitbürger in tiefer Un— wiſſenheit zu erhalten und tragen am meiſten zur Dauer der Vorurteile, der Unwiſſenheit und der alten Barbarei der Sitten bei. „Da die Indianer nach den Geſetzen unfähig ſind, irgend einen Vertrag vor dem Notar abzuſchließen oder mehr als fünf Piaſter Schulden zu machen, ſo können die Eingeborenen ihr Schickſal weder als Feldarbeiter noch als Handwerker ver— beſſern und zu einiger Wohlhabenheit gelangen. Solorzano, Traſo und andere ſpaniſche Schriftſteller haben vergebens der geheimen Urſache nachgeforſcht, warum alle den Indianern eingeräumten Privilegien immer zum Nachteil dieſer Kaſte ausſchlagen; aber ich wundere mich, wie dieſe berühmten Rechts⸗ gelehrten nicht einſehen, daß das, was ſie eine geheime Ur— ſache nennen, in dem Weſen der Privilegien ſelbſt liegt. Es ſind Waffen, die nie zum Schutze derer, welche ſie verteidigen ſollten, gedient haben und von den Bürgern der übrigen Kaſten geſchickt gegen die Raſſe der Eingeborenen gebraucht werden. Eine Vereinigung ſo trauriger Umſtände hat bei den letzteren eine Trägheit des Geiſtes und einen Zuſtand von Gleichgültigkeit und Apathie hervorgebracht, in welchem der Menſch weder für Hoffnung noch für Furcht empfänglich iſt. „Die von den Negerſklaven abſtammenden Kaſten ſind von den Geſetzen für ehrlos erklärt und müſſen Tribut be: zahlen. Dieſe direkte Abgabe drückt ihnen einen unauslöſch— lichen Fleck auf und fie betrachten fie als ein Zeichen von Sklaverei, das zu den entfernteſten Generationen übergeht. Unter der Raſſe von gemiſchtem Blute, den Metis und Mulatten, gibt es viele Familien, welche man wegen Farbe, Geſichtsbildung und Geiſteskultur mit den Spaniern verwech— ſeln könnte; allein die Geſetze halten ſie in Erniedrigung und Verachtung. Bei ihrem energiſchen, feurigen Charakter leben dieſe farbigen Menſchen daher in einem Zuſtande unaufhör— licher Aufgereiztheit gegen die Weißen und es iſt nur zu ver— * daß ihre Empfindlichkeit ſie nicht häufiger zur Rache verleitet. „Die Indianer und die Kaſten ſind in den Händen der Diſtriktsobrigkeiten (Justicias territoriales), deren Immora— lität nicht wenig zu ihrem Elend beigetragen hat. Solange die Alcaldias mayores in Mexiko beſtanden, ſahen ſich die Alkalden als Kaufleute an, welche das ausſchließende Recht zu kaufen und zu verkaufen in ihren Provinzen erlangt hatten und dieſes Privilegium zu einem Gewinn von 30000 bis 200 000 Piaſtern (150000 bis 1000 000 Franken) und was noch mehr iſt, bloß in einer Zeit von 5 Jahren benutzen konnten. Dieſe Wucherer in den Staatsämtern zwangen die Indianer, von ihnen und zu willkürlichen Preiſen eine Anzahl von Vieh anzunehmen. Dadurch wurden die Eingeborenen ihre Schuldner und unter dem Vorwande, ſich Kapital und Wucher bezahlt zu machen, verfügte der Alcalde mayor ſodann das ganze Jahr hindurch über die Indianer, wie über ſeine Leibeigenen. Die individuelle Glückſeligkeit war doch gewiß bei den Un— glücklichen, welche ihre Freiheit für den Beſitz eines Pferdes oder Maultieres aufgeopfert hatten, womit ſie bloß zum Nutzen des Herrn arbeiteten, nicht größer geworden. Indes machten dennoch Ackerbau und Induſtrie unter allen dieſen Mißbräuchen Fortſchritte. „Von der Einrichtung der Intendantſchaften an wollte die Regierung alle die Bedrückungen aufhören machen, welche von den Repartimientos herkamen. Statt der Alcaldes ma- yores wurden die Subdelegados, eine Art ſubalterner Obrig— keitsperſonen, eingeſetzt, welchen aller Handel aufs ſtrengſte verboten war. Allein da man ihnen keinen feſten Sold, noch überhaupt ein feſtgeſetztes Einkommen anwies, ſo iſt das Uebel nur noch ſchlimmer geworden. Die Alcaldes mayores hatten wenigſtens überall, wo ihr eigener Vorteil nicht ins Spiel kam, die Gerechtigkeit unparteiiſch verwaltet. Allein die Sub— delegaten der Intendanten, die keine andere als bloß zufällige Einkünfte haben, glauben ſich zu widerrechtlichen Mitteln berechtigt, um fich ein Einkommen zu machen; daher dann dieſe unaufhörlichen Bedrückungen, dieſer Mißbrauch der Ge⸗ walt gegen die Armen, die Nachſicht gegen die Reichen und der ſchändliche Wucher der Gerechtigkeit. Die Intendanten finden bei der Wahl der Subdelegaten, von denen die In⸗ dianer bei dem jetzigen Stande der Dinge nur ſelten Schutz und Hilfe erwarten dürfen, die größten Schwierigkeiten. Dieſe ſuchen ſie bei den Pfarrern, und der Klerus und die Subdelegaten ſind daher im ewigen Streite miteinander. In⸗ des haben die Eingeborenen weit mehr Zutrauen zu den Pfarrern und zu den obrigkeitlichen Perſonen von höherem Range, den Intendanten und Didores (Gliedern der Au— diencia). Welche Zuneigung kann nun der Indianer in ſeinem Zuſtande von Verachtung und Erniedrigung, beinahe ohne alles Eigentum und ohne Hoffnung, ſeine Exiſtenz zu verbeſſern, zu einer Regierung haben? Das Band, welches ihn an das geſellſchaftliche Leben knüpft, hat für ihn gar keinen Vorteil, und man ſoll Eurer Majeſtät ja nicht ſagen, daß die Furcht vor der „uüchligung allein hinreichen müſſe, um Ruhe in dieſen Ländern zu erhalten. Dazu braucht es andere, mächtigere Mittel; denn wenn die neue Geſetzgebung, welche Spanien mit Ungeduld erwartet, ſich nicht mit dem Schickſale der Indianer und der farbigen Menſchen beſchäftigen ſollte, ſo würde auch der mächtige Einfluß des Klerus auf die Ge⸗ müter dieſer Unglücklichen nicht hinreichen, um ſie in Unter— würfigkeit und Ehrfurcht gegen ihren Souverän zu halten. „Man hebe die gehäſſige Perſonalauflage, den Tribut auf; zerſtöre die Schande (infamia de derecho), mit welcher un= gerechte Geſetze die farbigen Menſchen gebrandmarkt haben; erkläre ſie aller bürgerlichen Aemter fähig, zu denen kein beſonderer adeliger Titel erforderlich iſt; verteile die Kom- munegüter, welche den Eingeborenen bis jetzt in Maſſe ge— meinſchaftlich gehörten; trete einen Teil der Krondomänen (tierras realengas), welche gewöhnlich unangebaut find, an die Indianer und Kaſten ab; gebe Mexiko ein agrariſches Geſetz, wie Aſturien und C Salicien es haben und kraft deſſen der arme Feldarbeiter unter gewiſſen Bedingungen allen Boden anbauen darf, welchen die großen Landeigentümer ſeit Jahrhunderten zum Schaden der Nationalinduſtrie müßi liegen gelaſſen; geſtatte den Indianern, Kaſten und Weißen SINE volle Freiheit, fih in all den Dörfern niederzulaſſen, welche heutzutage bloß einer einzigen dieſer Klaſſen angehören; ſetze allen Richtern und Diſtriktsobrigkeiten feſte Beſoldungen aus; — dies, Eure Majeſtät, ſind die Hauptpunkte, von welchen das Glück des mexikaniſchen Volkes abhängt. „Man wird es auffallend finden, wie es jemand in einem Augenblick, da ſich die Finanzen des Staates in ſo traurigem Zuſtande befinden, wagen könne, Eurer Majeſtät die Aufhebung des Tributes vorzuſchlagen. Allein man könnte mittels einer ſehr einfachen Berechnung erweiſen, daß die Staatseinkünfte durch die vorgeſchlagenen Reformen und die den Indianern zu erteilenden Bürgerrechte, ſtatt ſich zu vermindern, beträcht— lich erhöht werden würden.“ Unſer Biſchof nimmt auf dem ganzen Umfange von Neuſpanien 810000 Familien von Indianern und farbigen Menſchen an. Viele von ihnen, be— ſonders unter denen von gemiſchtem Blute, ſind bekleidet und genießen einigen Wohlſtandes; ſie leben etwa wie das ge— meine Volk der Halbinſel und ihre Anzahl mag ein Dritteil der ganzen Bevölkerungsmaſſe ausmachen. Die jährlichen Konſumtionsbedürfniſſe für jede Familie dieſes Dritteiles können zu 300 Piaſtern angeſchlagen werden. Rechnet man für jede aus den beiden anderen Dritteilen nur 60 Piaſter! und nimmt an, daß die Indianer wie die Weißen 14 Pro: zent Alcavala bezahlen, ſo erhält man eine jährliche Einnahme von 5 Millonen Piaſtern, alſo mehr als den vierfachen Betrag des gegenwärtigen Tributes. Wir wollen die Richtigkeit der Zahl, auf welche ſich dieſer Kalkül gründet, nicht verbürgen; allein eine flüchtige Anſicht der Sache beweiſt ſchon, wie die Gleichheit der Rechte und Auflagen unter den verſchiedenen Volksklaſſen, und die damit verbundene Aufhebung der Kopf— ſteuer nicht nur kein Defizit in den Kroneinkünften bewirken, ſondern dieſe durch die Erhöhung des Wohlſtandes und Glückes der Eingeborenen noch vermehrt werden würden. Man hätte hoffen können, daß die Adminiſtrationen von drei dufgeklärten und fürs allgemeine Beſte aufs eifrigſte belebten Vizekönigen, wie der Marquis von Croix, der Graf von Revillagigedo und der Chevalier von Aſanza waren, ſehr In den heißen Gegenden von Mexiko rechnet man, daß ein. Tagelöhner jährlich für ſich und ſeine Familie, in Nahrung und Kleidern, 72 Piaſter bedürfe. In der kalten Gegend des Landes iſt der Luxus um 20 Piaſter geringer. — 88 — glückliche Veränderungen in dem politiſchen Zuſtande der In⸗ dianer hervorbringen würden; allein dieſe Hoffnungen haben ſich nicht erfüllt. Die Macht der Vizekönige iſt in der letzten Zeit ſehr vermindert worden. In allen ihren Schritten fin— den ſie ſich nicht nur durch die Finanzkammer (Junta de Real Hacienda) und den oberſten Juſtizhof (Audiencia), ſon⸗ dern beſonders durch die Maxime gehindert, welche man im Mutterlande hat, Provinzen, welche 2000 Stunden weit ent: fernt ſind und deren phyſiſchen und moraliſchen Zuſtand man nicht kennt, von daher auch in allem Einzelnen regieren zu wollen. Die Philanthropen behaupten, daß es ein Glück für die Indianer ſei, wenn man ſich in Europa gar nicht mit ihnen beſchäftige; indem eine traurige Erfahrung bewieſen hat, daß die meiſten Maßregeln, welche man daſelbſt zur Verbeſſerung ihres Zuſtandes ergriffen, gerade die entgegen— geſetzte Wirkung gethan haben. Die Civilbeamten, welche jede Neuerung verabſcheuen, und die Kreolen, die Landeigen⸗ tümer ſind und meiſt ihren Vorteil dabei finden, wenn der Feldarbeiter in Erniedrigung und Elend hingehalten wird, behaupten, daß man nichts bei den Eingeborenen verändern dürfe, weil die Weißen, ſobald man ihnen mehr Freiheit ge— ſtatten würde, alles von der Rachſucht und der Anmaßung der indianiſchen Raſſe zu fürchten hätten. Allein dieſe Sprache hört man überall, wo es darauf ankommt, die Bauern Men: ſchen- und Bürgerrechte genießen zu laſſen, und ich habe in Mexiko, Peru und in Neugranada alles das wiederholen hören, was man in verſchiedenen Teilen von Deutſchland, in Polen, Livland und Rußland gegen die Aufhebung der Leibeigenſchaft zu ſagen pflegt. Vielmehr beweiſen ſehr neue Beiſpiele, wie gefährlich es iſt, die Indianer einen status in statu bilden zu laſſen und ihre Iſolierung, ihre wilden Sitten, ihr Elend und da— mit die Gründe ihres Haſſes gegen die anderen Kaſten zu verlängern. Dieſe nämlichen ſtumpfſinnigen und indolenten Indianer, die ſich geduldig an den Kirchenthüren peitſchen laſſen, zeigen ſich jedesmal, wenn ſie in einem Volksaufruhr in Maſſe handeln, liſtig, thätig, heftig und grauſam. Es wird nicht unnütz ſein, ein Beiſpiel zum Beweiſe dieſer Behauptung anzuführen. In dem großen Aufruhr von 1781 verlor der König von Spanien beinahe den ganzen Gebirgsteil von Peru und dies zur nämlichen Zeit, da Großbritannien faſt alle ſeine Kolonieen auf dem Kontinente von Amerika einbüßte. a Joſeph Gabriel Condorcanqui, bekannt unter dem Namen des Inka Tupac-Amaru, zeigte ſich an der Spitze einer Armee von Indianern vor den Mauern von Cuzco. Er war der Sohn des Kaziken von Tongaſuca, eines Dorfes in der Provinz Tinta, oder vielmehr der Sohn von der Frau des Kaziken, indem es außer Zweifel zu ſein ſcheint, daß dieſer angebliche Inka ein Metis und ſein wahrer Vater ein Mönch war. Die Familie Condorcanqui leitet ihren Urſprung von dem Inka Sayri⸗Tupac, welcher in den dichten Wäldern weſt— wärts von Billapampa verſchwunden iſt, und von dem Inka Tupac⸗Amaru ab, der 1578 gegen Philipps II. Befehl unter dem Vizekönig Don Francisco von Toledo enthauptet wurde. Joſeph Gabriel hatte eine ſehr ſorgfältige Erziehung in Lima genoſſen und kehrte nach den Gebirgen zurück, nachdem er den ſpaniſchen Hof vergeblich um den Titel eines Marquis von Oropeſa, der der Familie des Inka Sayri-Tupac zugehört, gebeten hatte. Aus Rachſucht empörte er die indianiſchen Bergbewohner, welche ohnedies gegen den Korregidor, Arriaga, erbittert waren. Das Volk erkannte ihn als einen Abkömm— ling ſeiner rechtmäßigen Souveräne und als Sohn der Sonne. Dieſer junge Menſch benutzte den Volksenthuſiasmus, den er durch die Symbole der alten Größe des Reiches von Cuzco entflammt hatte; oft wand er die kaiſerliche Binde der Inka um ſeine Stirne, und vermiſchte die chriſtlichen Ideen ſehr geſchickt mit den Erinnerungen an den Sonnendienſt. Im Anfang ſeiner Feldzüge beſchützte er die Geiſtlichen und die Amerikaner aller Farben, und ließ ſeine Wut nur an den Europäern aus. Selbſt unter den Metis und Kreolen machte er ſich eine Partei; allein die Indianer, welche ihren neuen Verbündeten nicht recht trauten, führten bald gegen alles, was nicht von ihrer Raſſe war, einen Vertilgungskrieg. Jo— ſeph Gabriel Tupac-Amaru, von welchem ich Briefe beſitze, in denen er ſich Inka von Peru unterſchreibt, war indes minder grauſam als ſein Bruder Diego und beſonders ſein Neffe Andreas Condorcanqui, der in einem Alter von ſiebzehn Jahren viel Talente, aber auch einen blutgierigen Charakter entwickelte. Dieſe Empörung, welche in Europa wenig be— kannt ſcheint und über die ich in dem hiſtoriſchen Berichte meiner Reiſe nähere Nachrichten geben werde, dauerte beinahe wei Jahre lang. Tupac⸗Amaru hatte bereits die Provinzen uiſpicanchi, Tinta, Lampa, Azangara, Caravaja und Chum: bivilcas erobert, als ihn die Spanier mit ſeiner ganzen 99 1 gefangen nahmen, und alle zuſammen zu Cuzeo vier: teilten. Die Ehrfurcht, welche dieſer angebliche Inka den Urein— wohnern eingepflanzt hatte, war ſo groß, daß ſie ſich, trotz ihrer Furcht vor den Spaniern und von der ſiegreichen Armee umzingelt, dennoch beim Anblick des letzten Sohnes der Sonne zur Erde niederwarfen, als dieſer durch die Straßen nach dem Richtplatze geführt wurde. Der Bruder des Joſeph Gabriel Condorcanqui, welcher unter dem Namen Diego Chriſtobal Tupac-Amaru bekannt iſt, ward erſt lange nach der Beendigung dieſes Revolutionsverſuches der peruaniſchen In— dianer hingerichtet. Nachdem der Anführer in die Hände der Spanier gefallen war, hatte ſich Diego freiwillig ergeben, weil man ihm im Namen des Königs Pardon verſprochen hatte. Es ward eine förmliche Uebereinkunft zwiſchen ihm und dem ſpaniſchen General, am 26. Januar 1782, im in— dianiſchen Dorfe Siquari in der Provinz Tinta unterzeich— net. Auch lebte er ruhig in ſeiner Familie, bis er, vom Geiſte einer hinterliſtigen und mißtrauiſchen Politik, unter dem Vorwande einer neuen Verſchwörung gefangen genommen wurde. Die Grauſamkeiten, welche die Eingeborenen von Peru in den Jahren 1781 und 1782 gegen die Weißen der Kor— dillere der Anden verübt haben, wurden zum Teil in den kleinen Aufſtänden wiederholt, welche zwanzig Jahre ſpäter auf dem Plateau von Riobamba vorfielen. Es iſt daher von größter Wichtigkeit ſelbſt für die Ruhe der ſeit Jahrhunderten auf dem Kontinent der Neuen Welt angeſeſſenen Familien, daß man ſich mit den Indianern beſchäftige und ſie dem ge— genwärtigen Zuſtande von Barbarei, Verworfenheit und Elend, in welchem ſie ſich befinden, entreißt. A Weiße Kreolen und Europäer. — Ihre Civiliſation. — Ungleichheit ihres Vermögenszuſtandes. — Ueger. — Vermiſchung der Kaſten. — Verhältnis der Geſchlechter zu einander. — Lange Lebensdauer nach den verſchiedenen Raffen. — Geſelligkeit. Unter den Bewohnern von reiner Raſſe würden die Weißen die zweite Stelle erhalten, wenn man ſie nur nach dieſer Zahl anſchluͤge. Man teilt ſie in Weiße, die in Eu— ropa geboren, und in ſolche, die, von Europäern abſtammend, in den ſpaniſchen Kolonieen von Amerika oder den aſiatiſchen Inſeln zur Welt gekommen ſind. Die erſten heißen Chape— ones oder Gachupines, die anderen Criollos. Die Eingebore— nen der Kanariſchen Inſeln, die man gewöhnlich mit dem Namen Islenos (Leute von den Inſeln) bezeichnet, ſehen ſich für Europäer an. Die ſpaniſchen Geſetze räumen allen Weißen dieſelben Rechte ein, allein die, welche die Geſetze zur Ausübung bringen ſollen, ſuchen eine Gleichheit zu zerſtören, durch die ſich der europäiſche Stolz beleidigt findet. Die Regierung mißtraut den Kreolen und gibt alle Plätze von Bedeutung den im alten Spanien Geborenen. Seit einigen Jahren beſetzte man von Madrid aus ſelbſt die geringfügig— ſten Stellen im Mautweſen und der Tabaksregie, und zu einer Zeit, da ſich alle Staatsräder ihrer Erſchlaffung näher: ten, machte das Syſtem der Käuflichkeit der Aemter fürchter— liche Fortſchritte. Oft geſchah daher, nicht ſowohl aus einer argwöhniſchen, mißtrauiſchen Politik, ſondern aus bloßem Eigennutz, daß alle Stellen in europäiſche Hände kamen. Indes entſtand dadurch Grund genug zur Eiferſucht und zu ewigem Haß unter den Chapetones und den Kreolen. Der elendeſte Europäer, ohne Erziehung und Verſtandesbildung, fühlt ſich für erhaben über die Weißen des neuen Kontinents; indem er wohl weiß, daß er einſt durch Protektion ſeiner Landsleute und durch die Gunſt der in dieſem Lande ganz gewöhnlichen Glückswechſel, wo ein Vermögen ebenſo ſchnell erworben als verloren wird, eine Anſtellung erhalten kann, welche für die Eingeborenen, ſelbſt wenn ſie ſich durch Ta— lente, Kenntniſſe und moraliſche Eigenſchaften auszeichnen, unzugänglich iſt. Dieſe Eingeborenen ziehen daher den Na— men Amerikaner dem der Kreolen vor, und ſeit dem Frieden von Verſailles, und beſonders von 1789 an, hört man mit Stolz oft die Worte ausſprechen: „Ich bin kein Spanier, ſon⸗ dern ein Amerikaner,“ in welchen ſich ein Nachgefühl tiefer Kränkungen verrät. Vor dem Geſetz iſt indes jeder Kreole ein Spanier; allein der Mißbrauch der Geſetze, die falſchen Maßregeln der Kolonialregierung, das Beiſpiel der Vereinig⸗ ten Staaten von Nordamerika und der Einfluß des Geiſtes der Zeit haben die Bande gelöſt, welche einſt die ſpaniſchen Kreolen mit den europäiſchen Spaniern aufs innigſte ver— einigten. Eine weiſe Adminiſtration könnte freilich die Har— monie wieder herſtellen, die Leidenſchaften und das Nachge: fühl beruhigen, und vielleicht noch lange die Einigkeit zwi— ſchen den Gliedern derſelben großen, in Europa und Amerika, von den patagoniſchen Küſten bis zum Norden von Kalifor— nien zerſtreuten Familie erhalten. Die Zahl der Individuen, welche die weiße Raſſe aus— machen (Casta de los blancos, oder de los Espaüoles), beträgt in ganz Neuſpanien wahrſcheinlich 1200000, von denen der vierte Teil die Provincias internas bewohnt. In Neubiscaya, oder der Intendantſchaft von Durango, iſt kein einziger Unterthan, welcher Tribut bezahlt. Beinahe alle Bewohner dieſer nördlichſten Gegenden behaupten daher, daß ſie von reiner europäiſcher Raſſe ſeien. Es würde ſchwer ſein, genau zu beſtimmen, wie viele Europäer ſich unter den 1200000 Weißen! befinden, welche in Neuſpanien leben. Da in der Hauptſtadt ſelbſt, wo die Regierung die meiſten Spanier vereinigt, unter einer Bevöl— kerung von 135000 Seelen nicht einmal 2500 in Europa geborene Individuen ſind, ſo iſt es mehr als wahrſcheinlich, daß das ganze Königreich zuſammen deren nicht über 70000 bis 80000 enthält. Sie machen ſonach nur den ſiebzigſten Teil der Totalbevölkerung aus, und das Verhältnis der Europäer zu den weißen Kreolen iſt wie 1 zu 14. Gegenwärtig, wo (1876) die Bevölkerung von Mexiko auf 9389 461 Köpfe veranſchlagt ward, ſchätzt man die Geſamtzahl der Weißen nur auf eine Million. — D. Herausg.] a Die ſpaniſchen Geſetze verbieten jedem Europäer, der nicht auf der Halbinſel geboren iſt, den Eingang in die ameri— kaniſchen Beſitzungen, und die Worte Europäer und Spa⸗ nier ſind daher in Mexiko und Peru völlig ſynonym geworden. Auch können die Bewohner der entfernteren Provinzen kaum begreifen, daß es Europäer gebe, welche ihre Sprache nicht ſprechen, und ſehen letzteres als einen Beweis von niedriger Geburt an, weil in ihren Gegenden nur die unterſte Klaſſe des Volkes nicht ſpaniſch verſteht. Da ſie überdies die Ge— ſchichte des 16. Jahrhunderts beſſer kennen als die der gegen— wärtigen Zeit, jo ſtellen ſie ſich vor, daß Spanien noch im: mer ein entſchiedenes Uebergewicht über das übrige Europa habe und der Mittelpunkt aller europäiſchen Civiliſation ſei. Ganz anders iſt dies aber bei den Amerikanern, welche die Hauptſtadt bewohnen. Diejenigen unter ihnen, welche die franzöſiſche und engliſche Litteratur kennen, fallen ſogar leicht in den entgegengeſetzten Fehler, und machen ſich einen weit ungünſtigeren Begriff von dem Mutterlande, als man ihn ſelbſt zu einer Zeit, da die Verbindungen zwiſchen Spanien und dem übrigen Europa nicht ſo häufig waren, in Frank— reich hatte. Sie ziehen die Fremden anderer Länder den Spaniern vor und ſchmeicheln ſich mit dem Glauben, daß die intellektuelle Kultur weit ſchnellere Fortſchritte in den Kolonieen machte als auf der Halbinſel ſelbſt. Dieſe Fortſchritte ſind nun wirklich in Mexiko, auf der Havana, in Lima, Santa Fé, Quito, Popayan und Caracas auffallend. In Rückſicht auf Sitten, Verfeinerung des Luxus und geſellſchaftlichen Ton gleicht Havana indes unter allen großen Städten am meiſten den europäiſchen. Hier kennt man auch den Zuſtand der politiſchen Angelegenheiten und ihren Einfluß auf den Handel am allerbeſten. Allein bei allen Anſtrengungen der Patriotiſchen Geſellſchaft der Inſel Cuba, welche die Wiſſenſchaften mit dem großmütigſten Eifer aufmuntert, gedeihen dieſe doch nur langſam in einem Lande, wo der Anbau und der Preis der Kolonialprodukte die Auf— merkſamkeit der Einwohner faſt allein beſchäftigen. In Mexiko, Santa Fé und Lima iſt das Studium der Mathematik, Chemie, Mineralogie und Botanik ſchon weit verbreiteter. Ueberall indes bemerkt man eine große Bewegung der Geiſter, findet man die Jugend voll Leichtigkeit für die Erler— nung der Prinzipien der Wiſſenſchaften, und man will ſogar bemerken, daß dieſe Leichtigkeit bei den Einwohnern von Quito und Lima noch auffallender ſei als in Mexiko und Santa Fe. Die erſteren ſcheinen eine weit größere Beweglichkeit des Geiſtes und eine lebhaftere Einbildungskraft zu beſitzen; dafür ſtehen aber die Mexikaner und die Bewohner von Santa Fs in dem Rufe, viel ausdauernder in den Studien zu ſein, denen ſie ſich einmal gewidmet haben. Keine von allen Städten des neuen Kontinents, ſelbſt die der Vereinigten Staaten nicht ausgenommen,! iſt im Beſitze ſo großer und feſt gegründeter wiſſenſchaftlicher An— ſtalten, als die Hauptſtadt von Mexiko. Ich nenne hier nur die Bergſchule, welche unter dem gelehrten d'Elhuyar ſteht und auf die wir bei dem Berg- und Hüttenweſen wieder zurückkommen werden, den botaniſchen Garten, die Maler- und Bildhauer-Akademie. Letztere führt den Titel „Academia de los Nobles Artes de Mexico“ und verdankt ihr Daſein dem Patriotismus mehrerer mexikaniſchen Privatleute und der Pro— tektion des Miniſters Galvez. Die Regierung hat ihr ein geräumiges Gebäude angewieſen, worin ſich eine weit ſchönere und vollſtändigere Sammlung von Gipsabgüſſen befindet, als man ſie irgendwo in Deutſchland antrifft. Man erſtaunt darüber, wie der Apoll vom Belvedere, die Gruppe des Lao— koon und andere noch koloſſalere Statuen über Gebirgswege, welche wenigſtens ſo eng ſind, als die vom St. Gotthard, gebracht werden konnten, und iſt nicht minder überraſcht, die Meiſterwerke des Altertums unter der heißen Zone und auf einem Plateau vereinigt zu ſehen, welches noch höher liegt als das Kloſter auf dem Großen St. Bernhard. Dieſe Samm— lung von Gipsabgüſſen hat den König nahe an 200000 Franken gekoſtet. In dem Akademiegebäude, oder vielmehr in einem der dazu gehörigen Höfe, ſollte man die Reſte mexi— kaniſcher Bildhauerei, die koloſſalen Statuen von Baſalt und Porphyr, welche mit aztekiſchen Hieroglyphen bedeckt ſind, und manche Aehnlichkeit mit dem Stil der Aegypter und Hindu haben, geſammelt aufſtellen; denn es wäre gewiß merkwürdig, dieſe Denkmale der erſten Kultur unſerer Gattung, dieſe Werke eines halbbarbariſchen Volkes, das die mexikaniſchen Anden bewohnte, neben den ſchönen Formen zu ſehen, welche unter Griechenlands und Italiens Himmel geboren wurden. — In der Gegenwart iſt Mexiko bekanntlich in wiſſenſchaftlicher Hinſicht von den Vereinigten Staaten weit überflügelt. — Der Herausg.)] 3 Die Einkünfte der Akademie der ſchönen Künſte in Mexiko betragen 125 000 Franken, von welchen die Regierung 60000, das Corps der mexikaniſchen Bergmänner nahe an 25 000, und das Conſulado, oder die Handlungsinnung der Hauptſtadt, über 15000 zuſchießen. Der bisherige Einfluß dieſer Anſtalt auf den Geſchmack der Nation iſt unleugbar, und man erkennt ihn beſonders in der Anordnung der Ge— bäude, der Vollkommenheit, womit die Steine gehauen ſind, den Verzierungen der Kapitäler und den Reliefs in Stuccatur— arbeit. Welche ſchönen Gebäude findet man nicht bereits in Mexiko, und ſelbſt in Provinzialſtädten, wie Guanajuato und Queretaro! Dieſe Werke, welche oft eine Million bis andert— halb Millionen Franken koſten, könnten in den ſchönſten Straßen von Paris, Berlin oder Petersburg figurieren. Herr Tolſa, Profeſſor der Bildhauerkunſt in Mexiko, hat ſogar eine Statue Karls IV. zu Pferde gegoſſen, welche, den Mark Aurel zu Rom ausgenommen, in Schönheit und Reinheit des Stiles alles übertrifft, was wir in dieſem Fache in ganz Eu— ropa beſitzen. Man gibt allen Unterricht in der Akademie unentgeltlich, und er ſchränkt ſich nicht bloß auf Zeichnung von Landſchaften und Figuren ein, ſondern man iſt ver: nünftig genug geweſen, ſie auch noch auf andere Weiſe zur Belebung der Nationalinduſtrie zu benutzen. Die Akademie arbeitet mit Erfolg daran, den Geſchmack an Eleganz und ſchönen Formen unter den Haudwerkern zu verbreiten. In den großen, mit Argandſchen Lampen vortrefflich erleuchteten Sälen ſind alle Abende ein paar hundert junge Leute ver— ſammelt, von denen einige nach Abgüſſen oder lebendigen Modellen zeichnen und die anderen Riſſe von Möbeln, Kan— delabern und andere Bronzezieraten kopieren. Hier ver— miſchen ſich (in einem Lande, wo ſonſt die Vorurteile des Adels gegen die Kaſten ſo tief eingewurzelt ſind), Stand, Farben und Menſchenraſſen völlig, und man ſieht den In— dianer oder Metis neben dem Weißen, und den Sohn eines armen Handwerksmannes mit den Kindern der großen Herren des Landes wetteifern. Es iſt wahrhaft tröſtlich zu ſehen, wie die Kultur der Wiſſenſchaften und Künſte unter allen Zonen eine gewiſſe Gleichheit der Menſchen einführt, indem ſie ſie, wenigſtens für einige Zeit, die kleinen Leidenſchaften vergeſſen macht, deren Wirkungen die geſellſchaftliche Glück— ſeligkeit verhindern. Seit dem Ende der Regierung Karls III. und der von a Karl IV. hat das Studium der Naturgeſchichte nicht nur in Mexiko, ſondern in allen ſpaniſchen Kolonieen große Fort: ſchritte gemacht. Keine europäiſche Regierung hat ſich die Ausbreitung der Kenntniſſe im botaniſchen Fache größere Summen koſten laſſen als die ſpaniſche. Die drei botani- ſchen Expeditionen nach Peru, Neugranada und Neuſpanien, unter den Herren Ruiz und Pavon, Don Joſe Celeſtino Mutis, und den Herren Seſſe und Mocino, haben den Staat nahe an zwei Millionen Franken gekoſtet. Außerdem wurden in Manila und auf den Kanariſchen Inſeln botaniſche Gärten errichtet, auch war die Kommiſſion, welche die Pläne von dem Kanal de los Guines aufnehmen ſollte, beauftragt, die vegetabiliſchen Produkte der Inſel Cuba zu unterſuchen. Alle dieſe, zwanzig Jahre hindurch in den fruchtbarſten Gegenden des neuen Kontinents fortgeſetzten Nachforſchungen haben dass Gebiet der Wiſſenſchaft nicht nur um mehr denn 4000 neue Pflanzengattungen bereichert, ſondern auch viel zur Verbrei— tung des Geſchmackes an der Naturgeſchichte unter den Be— wohnern des Landes beigetragen. Die Stadt Mexiko enthält innerhalb den Mauern des vizeköniglichen Palaſtes einen ſehr merkwürdigen botaniſchen Garten, und der Profeſſor Cervantes hält alle Jahre einen Kurs darin, welcher ſehr ſtark beſucht wird. Außer ſeinen Herbarien beſitzt dieſer Gelehrte noch eine reiche Sammlung mexikaniſcher Mineralien. Herr Mo— cino, den wir eben als einen der Mitarbeiter des Herrn Seſſe genannt und der ſeine beſchwerlichen Exkurſionen vom Königreich Guatemala bis auf die Nordweſtküſte oder bis zur Inſel von Vancouver oder Quadra ausgedehnt hat, und Herr Echeveria, ein Pflanzen- und Tiermaler, deſſen Arbeiten mit dem Vollkommenſten, was Europa in dieſem Fache her— vorgebracht hat, wetteifern können, ſind beide geborene Neu: ſpanier, und hatten ſich, noch ehe ſie ihr Vaterland! ver— Das Publikum genießt bis jetzt nur die Entdeckungen, welche auf der botaniſchen Exkurſion durch Peru und Chile gemacht wur— den. Die großen Herbarien des Herrn Seſſe und die ungeheure Sammlung von Zeichnungen mexikaniſcher Pflanzen, die unter feinen: Augen verfertigt werden, ſind ſchon 1803 in Madrid angekommen. Mit Ungeduld erwartet man die Bekanntmachung der Floren von Neuſpanien und von Santa Fe de Bogota. Letztere iſt die Frucht vierzigjähriger Forſchungen und Beobachtungen eines der größten Botaniker des Jahrhunderts, des Herrn Mutis. — 197: ließen, bereits zu bedeutenden Plätzen unter den Gelehrten erhoben. Die Grundſätze der neuen Chemie, welche man in den ſpaniſchen Kolonieen mit der etwas zweideutigen Benennung der neuen Philoſophie (nueva filosofia) bezeichnet, find viel verbreiteter in Mexiko, als in vielen Gegenden der Halbinſel ſelbſt, und ein europäiſcher Reiſender würde erſtaunen, im Inneren des Landes, auf den Grenzen von Kalifornien, junge Mexikaner zu finden, welche von der Zerſetzung des Waſſers bei dem Amalgamationsprozeß, der an der freien Luft vor— genommen wird, reden. Die Bergſchule beſitzt ein chemiſches Laboratorium, eine geologiſche Sammlung, welche nach Wer— ners Syſtem geordnet iſt, und ein phyſikaliſches Kabinett, wo ſich nicht nur ſehr koſtbare Inſtrumente von Ramsden, Adams, Le Noir und Louis Berthoud, ſondern auch Modelle befinden, welche in der Hauptſtadt ſelbſt mit größter Genauigkeit und in den ſchönſten Hölzern des Landes ausgeführt worden ſind. Auch iſt in Mexiko das beſte mineralogiſche Werk, das die ſpaniſche Litteratur beſitzt, gedruckt worden, nämlich das Hand— buch für Oryktognoſie, welches Herr Del Rio nach den Grundſätzen der Schule von Freiberg, wo ſich der Verfaſſer gebildet, herausgegeben hat. Gleichfalls erſchien die erſte ſpaniſche Ueberſetzung von Lavoiſiers Anfangsgründen der Chemie in Mexiko. Ich führe dieſe einzelnen Thatſachen auf, weil ſie uns den Maßſtab für den Eifer geben, mit welchem die ernſthafteren Wiſſenſchaften in der Hauptſtadt von Neu— ſpanien getrieben werden; denn er iſt zuverläſſig größer als der, womit man ſich dem Studium der Sprachen und Lit— teratur des Altertums ergibt. Der Unterricht in der Mathematik iſt auf der Univer— ſität von Mexiko nicht ſo ſorgfältig als in der Bergſchule. Die Schüler der letzteren dringen tiefer in die Analyſis und erhalten Anweiſung im Integral- und Differentialkalkül. Iſt es einmal Frieden und werden durch die freie Verbindung mit Europa die aſtronomiſchen Inſtrumente (die Chronometer, die Sextanten und die Repetitionszirkel von Borda) allge: meiner, ſo wird man in den entfernteſten Gegenden des Königreichs junge Leute genug finden, welche imſtande ſind, Beobachtungen anzuſtellen und ſie nach den neueſten Metho— den zu berechnen. Uebrigens iſt der Geſchmack an der Aſtro— nomie in Mexiko ſchon ziemlich alt, und drei ausgezeichnete Männer, Velasquez, Gama und Alzate, haben ihrem Vater— A. v. Humboldt, Neuſpanien. I. 17 TR lande ſchon zu Ende des vergangenen Jahrhunderts in dieſer Wiſſenſchaft Ehre gemacht. Alle drei machten eine Menge aſtronomiſcher Beobachtungen, beſonders über die Eklipſen der Trabanten des Jupiters. Alzate, welcher den anderen an Gelehrſamkeit nachſtand, war Korreſpondent der Akademie der Wiſſenſchaften von Paris, allein nicht genau genug in ſeinen Beobachtungen und von einer oft ungeſtümen Thätigkeit, gab er ſich zu gleicher Zeit mit zu vielen Dingen ab. Die „Ga: zeta de Literatura“, welche er lange Zeit in Mexiko heraus: gab, trug beſonders viel dazu bei, die mexikaniſche Jugend hierzu aufzumuntern und in ſolcher Thätigkeit zu erhalten. Der ausgezeichnetſte Geometer, welchen Neuſpanien ſeit Siguenzas Epoche gehabt hat, war Don Joacquin Velas— quez Cardenas y Leon. Alle aſtronomiſchen und geodäti— ſchen Operationen dieſes unermüdlichen Gelehrten tragen den Charakter der größten Genauigkeit. Er war den 21. Juli 1732 im Inneren des Landes, auf dem Meierhofe Santiago Acebedocla, in der Nähe des indianiſchen Dorfes Tizicapan, geboren und bildete ſich ſozuſagen ganz allein. In ſeinem vierten Jahre teilte er ſeinem Vater die Pocken mit, der daran ſtarb, daher fein Oheim, welcher Pfarrer von Kaltocan war, ſeine Erziehung übernahm und ihn durch einen In— dianer, Namens Manuel Aſentzio, einen Mann von viel na— türlichem Verſtand und tiefen Kenntniſſen in der mexikaniſchen Geſchichte und Mythologie, unterrichten ließ. Velasquez lernte in Xaltocan mehrere indianiſche Sprachen nebſt dem Gebrauch der aztekiſchen Hieroglyphenſchrift, und es iſt ſehr zu bedauern, daß er nichts über dieſen merkwürdigen Zweig des Altertums bekannt gemacht hat. Als er in das Triden— tiniſche Kollegium nach Mexiko verſetzt wurde, fand er weder Lehrer noch Bücher noch Inſtrumente; allein er wurde, trotz der wenigen Mithilfe, in der Mathematik und in den alten Sprachen dennoch immer ſtärker, und ein glücklicher Zufall führte ihm ſogar Newtons und Bacos Werke in die Hände. In den erſteren ſchöpfte er ſeine Liebe zur Aſtro— nomie und in den letzteren die Kenntnis der wahren philo— ſophiſchen Methoden. Da er arm war, und in Mexiko keine Inſtrumente fand, ſo verfertigte er mit ſeinem Freunde, Herrn Guadalaxara (heutzutage Profeſſor der Mathematik in der Malerakademie), Augengläſer und Quadranten, und trieb zu gleicher Zeit Advokatengeſchäfte, welche in Mexiko, wie über— all, einträglicher ſind als die Beobachtungen der Geſtirne. Br! u er Ba Aller Gewinn wurde auf den Ankauf englischer Inſtrumente verwendet. Späterhin ernannte man ihn zum Profeſſor an der Univerſität, und in dieſer Stelle begleitete er auch den Viſitador Don oje de Galvez! auf feiner Reife nach Sonora. Auf einer anderen Sendung nach Kalifornien benutzte er den ſchönen Himmel dieſer Halbinſel zu einer Menge aſtronomiſcher Beobachtungen, und machte hier zuerſt die Bemerkung, daß dieſer Teil des neuen Kontinents ſchon ſeit Jahrhunderten mit einem ungeheuren Irrtum in der Längenangabe auf allen Karten um mehrere Grade weſtlicher geſetzt worden war, als er wirklich iſt. Als der Abbé Chappe, be— rühmter wegen ſeines Mutes und ſeiner Liebe zu den Wiſſen— ſchaften als wegen der Genauigkeit ſeiner Arbeit, in Kali— fornien ankam, fand er den mexikaniſchen Aſtronomen ſchon daſelbſt, der ſich zu Santa Ana ein Obſervatorium aus Mi— mojabrettern hatte zuſammenſchlagen laſſen. Auch hatte er die Lage dieſes Dorfes bereits beſtimmt, und ſagte dem Abbe Chappe, daß die Mondeklipſe den 18. Juni 1769 in Kalt: fornien ſichtbar ſein würde. Allein der franzöſiſche Geometer zweifelte ſo lange daran, bis die angekündigte Eklipſe wirk— lich eintraf. Auch ſtellte Velasquez allein eine ſehr gute Beobachtung des Durchganges der Venus durch die Sonnen— ſcheibe den 3. Juni 1768 an. Das Reſultat davon teilte er gleich am nächſten Morgen dem Abbe Chappe und den ſpaniſchen Aſtronomen Don Vicente Doz und Don Salvador de Medina mit, und der franzöſiſche Reiſende war erſtaunt über die Harmonie von Velasquez' Beobachtung mit der ſei— nigen. Wirklich mußte es ihm auch auffallend ſein, in Kali— fornien einen Mexikaner zu finden, der, ohne einer Akademie anzugehören und ohne je Neuſpanien verlaſſen zu haben, ſo viel als ein Akademiker leiſtete. 1773 führte Velasquez Der Graf von Galvez durchreiſte, ehe er das Miniſterium von Indien erhielt, den nördlichen Teil von Neuſpanien inter dem Titel eines Viſitador. Dieſen Namen erhalten diejenigen Perſonen, welche vom Hofe zu Unterſuchungen über den Zuſtand der Kolonieen beauftragt werden. Ihre Reiſe (visita) hat gewöhnlich keine an— dere Wirkung, als daß ſie einige Zeitlang der Macht der Vize— könige und der Audiencias das Gleichgewicht halten, eine ungeheure Menge von Memoiren, Bittſchriften und Vorſchlägen ſich einreichen laſſen, und ihre Gegenwart durch irgend eine neue Nuflage be: eichnen. Das Volk erwartet ſie mit ebenſoviel Ungeduld, als es ſie abreiſen ſieht. — 100 — die große geodätiſche Arbeit aus, auf die wir bei dem, was wir über den unterirdiſchen Ableitungskanal der Seen im Thale von Mexiko zu ſagen haben, wieder zurückkommen wer— den. Das weſentlichſte Verdienſt erwarb ſich dieſer uner— müdliche Mann indes um ſein Vaterland durch die Errich— tung des Tribunals und der Schule fürs Bergweſen, zu welchem er dem Hofe die Pläne vorgelegt hatte. Er endigte ſeine arbeitsreiche Laufbahn den 6. März 1786 als erſter Generaldirektor des Tribunal de Mineria mit dem Titel eines Alcalde de Corte honorario. Nachdem ich von den Arbeiten Alzates und Velasquez' geſprochen, würde es ungerecht ſein, von Gama, dem Freunde und Mitarbeiter des letzteren, zu ſchweigen. Ohne Vermögen, in der Notwendigkeit, eine zahlreiche Familie durch beſchwer— liche und beinahe mechaniſche Beſchäftigungen zu unterhalten, verkannt und vernachläſſigt, ſolange er lebte, von Mitbürgern, welche ihn nach ſeinem Tode mit Lob überhäuft, unter allen dieſen Schwierigkeiten wurde Gama aus eigener Kraft ein geſchickter, unterrichteter Aſtronom. Er ließ verſchiedene Schriften über Mondeklipſen, über die Trabanten des Jupi— ter, über den Kalender und die Zeitrechnung der alten Mexi— kaner und über das Klima von Neuſpanien drucken, welche ſämtlich eine große Richtigkeit der Ideen und Genauigkeit in den Beobachtungen verraten. — Ich habe mir erlaubt, näher in die litterariſchen Verdienſte dieſer drei mexikaniſchen Gelehrten einzugehen, weil ich durch Beiſpiele beweiſen wollte, daß die Unwiſſenheit, deren der europäiſche Stolz die Kreolen ſo gern beſchuldigt, keine Wirkung des Klimas oder eines Mangels an moraliſcher Energie, ſondern, wo ſie noch etwa ſtatt— findet, einzig und allein Folge der Iſolierung und der den Kolonieen eigenen Fehler in ihren geſellſchaftlichen Inſtitu— tionen iſt. So wie man bei der jetzigen Lage der Dinge alle intel— lektuelle Entwickelung ausſchließend in der Kaſte der Weißen findet, ſo ſind auch beinahe alle Reichtümer allein in ihrem Beſitze. Unglücklicherweiſe ſind letztere in Mexiko beinahe Der berühmte Seemann Alexander Malaſpina ſtellte wäh: rend ſeines Aufenthalts in Mexiko mit Gama Beobachtungen an, und empfahl ihn auch dem Hofe mit vieler Wärme, wie das die offiziellen Briefe Malaſpinas, welche in den Archiven des Vizekönigs aufbewahrt werden, beweiſen. — 101 — noch ungleicher verteilt als in der Capitania general von Caracas, auf der Havana und beſonders in Peru. In Cara: cas haben die reichſten Familienhäupter 200 000 Livres köur⸗ nis! Einkünfte, auf der Inſel Cuba hingegen gibt es manche, die über 600000 bis 700000 Franken haben. In dieſen beiden arbeitſamen Kolonieen hat der Ackerbau weit anſehn— lichere Reichtümer gegründet als die Bergwerke in Peru. In Lima iſt ein jährliches Einkommen von 80000 Franken ſchon ſehr ſelten, und ich kenne gegenwärtig keine peruaniſche Familie, welche eine Summe von 130 000 Franken feſter und ſicherer Einkünfte beſäße. In Neuſpanien hingegen befinden ſich Perſonen, welche, ohne ein Bergwerk zu haben, jähr- lich eine Million Franken einnehmen. Die Familie des Grafen de la Valenciana z. B. beſitzt allein auf dem Rücken der Kordillere für mehr als 25 Millionen liegender Güter, ohne das Bergwerk von Valenciana, in der Nähe von Guana— juato, zu rechnen, welches in gewöhnlichen Jahren andert— halb Millionen Livres reinen Gewinn abwirft. Die Familie, deren gegenwärtiges Haupt, der junge Graf von Valen— ciana, ſich durch einen großmütigen Charakter und ein edles Streben nach Kenntniſſen auszeichnet, teilt ſich bloß in drei Zweige, die zuſammen ſelbſt in Jahren, da die Ausbeute der Bergwerke nicht beſonders anſehnlich iſt, über 2200 000 Franken Einkünfte haben. Der Graf von Regla, deſſen jüngerer Sohn, der Marquis von San Criſtobal,? ſich in Paris durch ſeine Kenntniſſe in der Phyſik und Phyſiologie bekannt gemacht hat, ließ auf ſeine Koſten in der Havana zwei Linienſchiffe erſter Größe, ganz von Acajou- und Zedern— holz (Cedrella) bauen, und machte ſie ſeinem Monarchen zum Geſchenk. Das Vermögen des Hauſes Regla wurde durch den Erzgang der Biscaina, bei Pachuca, gegründet. Die durch ihre Wohlthätigkeit, ihre Einſichten und ihren Eifer fürs allgemeine Beſte bekannte Familie Fagoaga be— ſitzt den größten Reichtum, den je ein Bergwerk ſeinem Be— ſitzer verſchaffte, und ein einziger Erzgang, den ſie im Diſtrikt ' [Eine Livre tournois = 80 Pfennige heutiger deutſcher Reichswährung, alſo auch —= 1 Franken. — D. Herausg.] 2 Herr Tereros (dies iſt der Name, unter welchem man dieſen beſcheidenen Gelehrten in Frankreich kennt) zog lange Zeit die Belehrung, welche ihm ſein Aufenthalt in Paris anbot, einem großen Vermögen vor, das er außer Mexiko nicht genießen konnte. — 102 — von Sombrerete hat, warf in Zeit von fünf bis ſechs Mo— naten, nach Abzug aller Unkoſten, einen reinen Gewinn von 20 Millionen Livres ab. Nach dieſen Angaben ſollte man in den mexikaniſchen Familien noch unendlich größere Kapitalien vermuten, als man wirklich bei ihnen findet. Der verſtorbene Graf von Valen— ciana, der erſte dieſes Titels, zog oft in einem Jahre von ſeiner Mine allein gegen ſechs Millionen Livres reinen Ge— winn. Dieſes Einkommen war in den letzten 25 Jahren ſeines Lebens nie unter zwei bis drei Millionen Livres, und dennoch hinterließ dieſer außerordentliche Menſch, welcher ganz ohne Vermögen nach Amerika gekommen war und im— mer ſehr einfach gelebt hatte, nach ſeinem Tode, außer ſeinem Bergwerk, das das reichſte in der Welt iſt,“ nicht mehr als zehn Millionen in liegenden Gütern und Kapitalien. Wer die Haushaltung im Inneren der großen mexikaniſchen Fami— lien kennt, wundert ſich über ſolche Erſcheinungen nicht. So ſchnell gewonnenes Vermögen wird auch ebenſo ſchnell durch— gebracht. Die Ausbeutung der Bergwerke wird zu einem Spiel, dem man ſich mit grenzenloſer Leidenſchaft ergibt, und die reichen Eigentümer von Bergwerken verſchwenden unge— heure Summen an Charlatane, die ſie zu neuen Unterneh- mungen in den entfernteren Provinzen überreden. Ueberhaupt kann in einem Lande, wo alle Arbeiten jo im großen unter: nommen werden, daß ein einziger Schacht oft zwei Millionen zu graben koſtet, die falſche Ausführung eines kühnen Planes in wenigen Jahren wieder alles verzehren, was durch die Ausbeutung der reichſten Erzgänge gewonnen worden war. Hierzu kommt noch, daß ſich bei der Unordnung, welche im Inneren der meiſten großen Familien von Alt- und Neu— ſpanien herrſcht, oftmals ein Familienhaupt in Geldver— legenheit befindet, unerachtet es eine halbe Million Einkünfte hat, und fein ganzer Luxus bloß in vielen Zügen von Maul: tieren zu beſtehen ſcheint. Zuverläſſig waren die Bergwerke die Hauptquelle der großen Vermögensmaſſen in Mexiko. Viele Eigentümer von Minen haben ihren Reichtum mit großem Glück zum Kauf von Ländereien und zu eifriger Betreibung des Ackerbaues In den nordamerikaniſchen Staaten Colorado und Nevada kennt man heute noch viel reichere Minen. — D. Herausg.] ä angewandt. Indes gibt es aber auch viele mächtige Fami— lien, welche nie ſehr ergiebige Bergwerke zu benutzen hatten. Von der Art ſind z. B. die reichen Nachkommen von Cortez, oder vom Marquis del Valle, und der neapolitaniſche Herzog von Monteleone, der heutzutage im Beſitz von Cortez' Majo— rat iſt, beſitzt herrliche Ländereien in der Provinz Oajaca, in der Nähe von Toluca, und in Cuernavaca. Die reinen jährlichen Einkünfte von denſelben belaufen ſich indes nur auf 550000 Franken, indem der König dem Herzog die Er— hebung der Alcavalas und der Abgaben vom Tabak genom— men hat, und die gewöhnlichen Adminiſtrationskoſten über 125000 gehen. Auch haben ſich mehrere Gouverneure des Marquefado ſehr bereichert. Wollten die Nachkommen des großen Konquiſtador indes ſelbſt in Mexiko leben, ſo würden Be Einkünfte bald auf mehr als anderthalb Millionen treiben. Um die Anſicht der ungeheuren Reichtümer, welche ſich im Beſitze einiger Privatperſonen von Neuſpanien befinden und ſich mit denen von Großbritannien und den europäiſchen Beſitzungen in Hinduſtan meſſen können, vollſtändig zu machen, will ich einige genaue Nachrichten über die Einkünfte des mexikaniſchen Klerus und über die Geldbeiträge herſetzen, welche das Corps der Bergmänner (Cuerpo de Mineria) zur Vervollkommnung der Bergwerksbetriebſamkeit jährlich ent— richtet. Letzteres Corps, das aus den Bergwerkseigentümern beſteht und durch Deputierte, die im Tribunal de Mineria ihren Sitz haben, gebildet wird, hat in drei Jahren, von 1784 bis 1787 eine Summe von 4 Millionen Franken an ſolche Leute vorgeſchoſſen, denen es an nötigen Fonds fehlte, um große Arbeiten zu unternehmen. Im Lande ſelbſt glaubt man, daß dieſes Geld nicht ſehr nützlich angewendet worden ſei (para habilitar); allein dieſe Angabe ſelbſt beweiſt wenig— ſtens die Großmut und Wohlhabenheit derer, welche ſo frei— gebig zu ſein imſtande ſind. Noch mehr wird ein europäiſcher Leſer aber erſtaunen, wenn ich hier einen außerordent— lichen Zug von der verehrungswürdigen Familie von Fagoaga erzähle, die vor einigen Jahren einem ihrer Freunde eine Summe von mehr als viertehalb Millionen Franken ohne Zinſen geliehen hat in der Hoffnung, ſein Glück dadurch auf eine feſte Weiſe zu gründen. Dieſe Summe ging aber durch das Mißlingen der Unternehmung, welche in der Eröffnung eines neuen Bergwerks beſtanden hatte, unwiederbringlich — 103 — — 104 — verloren. Die architektoniſchen Arbeiten, welche zu der Ver— ſchönerung der Stadt Mexiko vorgenommen werden, ſind ſo koſtſpielig, daß das prächtige Gebäude, welches das Tribunal de Mineria für die Bergſchule erbauen läßt, trotz dem nied— rigen Tagelohn zum wenigſten 3 Millionen Franken koſten wird, von denen zwei Drittel ſogleich bei der Legung des erſten Grundſteines angewieſen wurden. Um den Bau zu beſchleunigen und beſonders, damit die Zöglinge bald ein Laboratorium für metallurgiſche Verſuche über die Amalgama— tion großer Mineralmaſſen (beneficio de patio) benutzen fonn: ten, hatte das Corps der mexikaniſchen Bergmänner im Jahre 1803 jeden Monat 50000 Franken ausgeſetzt. So leicht werden in einem Lande, wo ſich der Reichtum nur in wenigen Händen befindet, die ungeheuerſten Unternehmungen ausgeführt! Dieſe Ungleichheit des Vermögenszuſtandes iſt noch auf— fallender unter dem Klerus, von welchem ein Teil im äußer— ſten Elend ſchmachtet, während gewiſſe Glieder desſelben Ein— künfte genießen, welche anſehnlicher ſind als die von manchen ſouveränen Fürſten Deutſchlands. Der mexikaniſche Klerus, welcher übrigens minder zahlreich iſt als man gewöhnlich glaubt, beſteht aus 10000 Perſonen, von denen etwa die Hälfte Ordensgeiſtliche ſind, die die Kutte tragen. Rechnet man hierzu noch die Laien- oder dienenden Brüder, die Laien: ſchweſtern (Legos, Donados y Criados de los Conventos) und alle die, welche nicht den geiſtlichen Weihen beſtimmt ſind, ſo kann man den Klerus auf 13000 bis 14000 Indi⸗ viduen anjchlagen. ! Die Gerüchte, welche ſich in Europa über die Größe der mexikaniſchen Reichtümer verbreitet, haben zu übertriebenen Vorſtellungen von der Menge von Gold und Silber Anlaß gegeben, das in Neuſpanien in Gefäßen, Gerätſchaften, Küchengeſchirr u. dergl. verſchwendet ſein ſoll. Allein ein Reiſender, deſſen Einbildungskraft von Märchen von ſilbernen Schlüſſeln, Schlöſſern und Thürangeln erhitzt iſt, würde bei ſeiner Ankunft in Mexiko erſtaunen, wenn er daſelbſt im täg— Die Anzahl der Franziskanermönche beträgt in Spanien 15600, und iſt ſomit größer als die der ſämtlichen Geiſtlichkeit im König: reich Mexiko. Auf der Halbinſel enthält der Klerus mehr als 228 000 Individuen. Es fallen daſelbſt alſo auf 1000 Einwohner 20 Geiſtliche, während in Neuſpanien auf eine gleiche Zahl nur zwei zu rechnen ſind. — 105 — lichen Lebensgebrauche nicht mehr koſtbare Metalle angewendet ſähe als in Spanien, in Portugal und anderen Gegenden des ſüdlichen Curopas, und er könnte ſich höchſtens darüber wundern, daß in Mexiko, Peru oder in Santa Fs die Leute von der niederen Klaſſe an ihren nackten Füßen ungeheure ſilberne Sporen tragen, oder daß ſilberne Becher und Schüſſeln etwas Gewöhnlicheres daſelbſt ſind als in Frankreich und Eng— land. Indes möchte ſich ſein Erſtaunen bald legen, wenn er ſich erinnerte, daß das Porzellan in dieſen neu civili— ſierten Gegenden ſehr ſelten iſt, daß der Transport desſelben durch die Beſchaffenheit der Straßen ſehr erſchwert wird, und daß es in einem Lande, wo die Handlungsthätigkeit noch gering iſt, nur wenig heißen will, wenn man einige hundert Piaſter bar oder in ſilbernem Geräte benutzt. Trotz der un⸗ geheuren Verſchiedenheit des Reichtumes in Peru und Mexiko möchte ich übrigens, das Vermögen der großen Eigentümer allein betrachtet, glauben, daß in Lima mehr wahrer Wohl- ſtand herrſcht als in Mexiko. In erſterer Stadt iſt die Un— gleichheit des Vermögenszuſtandes nicht ſo groß, und wenn man daſelbſt, wie wir oben bemerkt haben, nur ſelten Privat- perſonen findet, die 50000 bis 60000 Franken Einkünfte haben, jo trifft man dafür deſto mehr mulattiſche Handwerks— leute und freigelaſſene Neger an, welche ſich durch ihre In— duſtrie mehr als nur das Nötigſte erwerben. Unter dieſer Klaſſe ſind Kapitalien von 10000 bis 15000 Piaſter ſehr gewöhnlich; da hingegen die Straßen von Mexiko von 20000 bis 30 000 Unglücklichen (Saragates, Guachinangos) wim— meln, von denen die meiſten die Nacht unter freiem Himmel zubringen und ſich bei Tage ı völlig nackt und nur in eine flanel- lene Decke gehüllt an die Sonne legen. Dieſe Indianer und Metis, die Hefe des Volkes, haben viele Aehnlichkeit mit den Lazzaroni in Neapel. Träge, ſorglos und müßig wie dieſe, haben die Guachinangos übrigens nichts Wildes in ihrem Charakter. Sie betteln nicht, ſondern arbeiten wöchentlich einen oder zwei Tage, womit ſie ſo viel verdienen, daß ſie Pulque oder Enten kaufen können, welche die mexikaniſchen Lagunen bedecken und in ihrem eigenen Fette gebraten werden. Selten überſteigt das Vermögen eines Saragaten zwei oder drei Realen, da das Volk von Lima hingegen, welches dem Luxus und den Vergnügungen mehr ergeben, aber vielleicht auch induſtriöſer iſt, oft zwei bis drei Piaſter in einem Tage durchbringt. Ueberhaupt könnte man vielleicht ſagen, daß die — 106 — Vermiſchung der Europäer und Neger überall eine thätigere und emſigere Raſſe hervorbringe als die der Weißen mit den mexikaniſchen Indianern. Von allen Kolonieen unter der heißen Zone iſt das König— reich Neuſpanien dasjenige, wo die wenigſten Neger ſind, und man kann beinahe jagen, daß es gar keine Sklaven darin gibt. Man kann ganz Meriko durchlaufen, ohne ein ſchwarzes Geſicht zu finden. Nirgends geſchieht der Dienſt in den Häuſern durch Sklaven, und Mexiko bildet in dieſer Hinſicht einen großen Kontraſt mit der Havana, mit Lima und Ca— racas. Nach genauen Erkundigungen, welche von mehreren bei der Zählung von 1793 angeſtellten Perſonen eingezogen wurden, ſcheinen in ganz Neuſpanien nicht 6000 Neger und höchſtens nur 9000 bis 10000 Sklaven zu ſein, von denen die meiſten in den Häfen von Acapulco und Veracruz oder in der heißen Gegend an der Küſte (Tierras calientes) ſind. In der Capitania general von Caracas hingegen, welche kaum ein Sechsteil der Bevölkerung von Mexiko enthält, be⸗ finden ſich viermal mehr Sklaven. In Jamaika verhalten ſich die erſteren zu denen von Neuſpanien wie 250 zu 1, und auf den Antillen, in Peru und ſelbſt in Caracas hängen bei dem jetzigen Stande der Dinge alle Fortſchritte des Acker— baues und der Induſtrie im allgemeinen von der Vermehrung der Neger ab. Auf der Inſel Cuba zum Beiſpiel, wo die Zuckerausfuhr in zwölf Jahren von 400 000 Quintalen auf 1000 000 geſtiegen iſt, wurden von 1792 bis 1803 gegen 55000 Sklaven eingebracht. Allein in Mexiko verdankt die Erhöhung des Kolonialwohlſtandes einem thätigeren Negerhandel nicht das geringſte. Vor 20 Jahren wußte man in Europa beinahe gar nichts von W Zucker und dennoch führt Veracruz allein heutzutage über 200 000 Quintalen aus, unerachtet die Fortſchritte des Zuckerrohrbaues, welche in Neu: ſpanien ſeit der Revolution auf San Domingo ſtattgefunden, die Anzahl der Sklaven glücklicherweiſe nicht auffallend ver— mehrt haben. Ueberhaupt kommen von den 74000 Negern, welche Afrika? jährlich den Aequinoktialgegenden von Amerika Nach den Tabellen der Maut von Havana, wovon ich eine Kopie beſitze, war die Einfuhr der Neger von 1799 bis 1803 34500 Köpfe, von denen 7 unter 100 jährlich ſtarben. Nach Herr Norris und den Nachrichten, welche die Kaufleute Fr ee und Aſien liefert und die in den Kolonieen ſelbſt 111000 000 Franken wert ſind, kaum 100 auf die Küſten von Mexiko. Nach den Geſetzen gibt es keine indianiſchen Sklaven in den ſpaniſchen Kolonieen. Indes geben zwei Arten von Kriegen, welche dem Anſcheine nach ſehn verſchieden ſind, durch einen ſonderbaren Mißbrauch zu einem Zuſtande Veranlaſſung, welcher mit dem des afrikaniſchen Sklaven viele Aehnlichkeit hat. Die Miſſionsmönche des ſüdlichen Amerikas machen nämlich von Zeit zu | Zeit Streifereien in die Länder, wo die ruhigen indianiſchen Stämme wohnen, die man Wilde (Indios bravos) nennt, weil ſie kein Kreuz zu machen gelernt haben, wie die gleichfalls nackten Indianer in den Miſſionen (Indios reducidos). Auf dieſen nächtlichen Zügen, welche der Fana— tismus erſonnen hat, bemächtigt man ſich aller derer, welche man erwiſchen kann, beſonders der Kinder, Weiber und Greiſe. Ohne Erbarmung trennt man die Kinder von den Müttern, damit ſie die Mittel zur Flucht nicht miteinander verabreden können. Der Mönch, welcher die Unternehmung anführt, ver: teilt die jungen Leute unter die Indianer ſeiner Miſſion, welche am meiſten zum Erfolg der Entradas beigetragen haben. Am Orinoko und an den Ufern des portugieſiſchen Fluſſes Rio Negro heißen dieſe Gefangenen Poitos und werden, bis ſie im Alter ſind, ſich zu verheiraten, wie Sklaven behandelt. Aus Begierde, Poitos zu haben, die ihnen acht bis zehn Jahre arbeiten müſſen, fordern die Indianer in den Miſſionen die Mönche ſelbſt zu ſolchen Streifzügen auf, ob die Biſchöfe gleich gewöhnlich weiſe genug waren, dieſe Unternehmungen als Mittel zu tadeln, wodurch die Religion und ihre Diener nur verhaßt werden. In Mexiko erfahren die in dem beinahe unaufhörlichen kleinen Kriege auf den Grenzen der Provincias internas gemachten Gefangenen ein noch unglücklicheres Schick— ſal als die Poitos. Gemeiniglich ſind ſie von der indianiſchen Nation der Mecos oder Apaches und werden nach Mexiko geſchleppt, wo man ſie in den Löchern eines Zuchthauſes (la Cordada) ſeufzen läßt. Einſamkeit und Verzweiflung ver— mehren hier ihre Wildheit und wenn ſie nach Veracruz und auf die Inſel Cuba gebracht werden, ſo gehen ſie daſelbſt bald zu Grunde, wie jeder wilde Indianer, der von dem Cen⸗ tralplateau herab in die niedrigen und ſomit viel heißeren von Liverpool dem britiſchen Parlament im Jahr 1887 hierüber gegeben haben. — 108 — Gegenden verſetzt wird. Man hat ſehr neue Beiſpiele, daß ſolche gefangene Mecos, wenn ſie den Kerkerlöchern entronnen waren, die größten Grauſamkeiten auf den benachbarten Landgütern begangen haben. Es wäre wohl einmal Zeit, daß ſich die Regierung mit dieſen Unglücklichen beſchäftigte, deren Anzahl ſo gering und deren Schickſal daher ſo leicht zu verbeſſern iſt. In den erſten Zeiten der Eroberung gab es, wie es ſcheint, eine Menge Kriegsgefangener in Mexiko, welche von den Siegern als Sklaven behandelt wurden. Ich habe in dieſem Bezug eine ſehr merkwürdige Stelle in dem Teſtamente des Hernan Cortez! gefunden, welches überhaupt ein hifto- riſches Denkmal iſt, das der Vergeſſenheit entriſſen zu werden verdient. Der große Kapitän, der im Laufe ſeiner Siege und beſonders in ſeinem treuloſen Betragen gegen den un⸗ glücklichen König Montezuma II. wenig Zartgefühl und Ge⸗ wiſſenhaftigkeit? gezeigt hatte, machte ſich am Ende ſeiner Laufbahn Gewiſſensſkrupel über die Rechtmäßigkeit der Titel, unter welchen er ſeine ungeheuren Güter in Mexiko beſaß. Er befiehlt daher ſeinem Sohne, die ſorgfältigſten Nach— Testamento que otorgò el Excelentisimo Senor Don Hernan Cortez, Conquistador de nueva Espana hecho en Se- villa et II. del mes de Octubre, 1547. Das Original dieſer merkwürdigen Urkunde, von der ich eine Kopie habe machen laſſen, befindet ſich in den Archiven des Hauſes del Estado (des Marquis von Valle) auf dem großen Platze von Mexiko, und iſt nie gedruckt worden. Auch habe ich in dieſem Archiv ein von Cortez kurz nach der Belagerung von Tenochtitlan abgefaßtes Memoire gefun— den, in welchem er Anweiſungen zum Bau von Straßen, Errich— tung von Herbergen an den großen Straßen und Befehle über andere Gegenſtände allgemeiner Polizei gibt. In ſeinen Briefen aus der Rica Villa de Veracruz beſchreibt Cortez dem Kaiſer Karl V. die Stadt Tenochtitlan ſo, als ob er von den Wundern der Hauptſtadt von Dorado ſpräche. Nachdem er alles, was er von dem Reichtum „dieſes mächtigen Herrn Mon: tezuma“ erfahren konnte, berichtet, verſichert er ſeinen Souverän, daß der mexikaniſche Fürſt, lebendig oder tot, in ſeine Hände fallen müſſe. „Certifigué a Vuestra Alteza, que lo habria preso 9 muerto o subdito a la real Corona de Vuestra Magestad.“ (Lorenzana, S. 39.) Es iſt zu bemerken, daß der jpanifche: General dieſen Vorſatz faßte, während er noch an der Küſte jtand, und noch gar keine Verbindung mit den Geſandten des Montezuma gehabt hatte. PP A Se EEE as) * — 109 — forſchungen über die Tribute anzuſtellen, die die mexikaniſchen Großen, welche vor der Ankunft der Spanier in Veracruz ſein Majorat beſeſſen hatten, davon gezogen, und verlangt ſogar, daß die in ſeinem Namen erhobenen Auflagen, ſoweit ſie die ehemals gewöhnlichen überſteigen, wieder an die Ein— geborenen zurückbezahlt werden ſollten. Indem er im 39. und 41. Artikel ſeines Teſtamentes von den Sklaven ſpricht, ſetzt er die denkwürdigen Worte hinzu: „Da es noch zweifel— haft iſt, ob ein Chriſt mit gutem Gewiſſen die Eingeborenen, welche im Kriege gefangen worden, als Sklaven gebrauchen darf und man bis auf den heutigen Tag dieſen wichtigen Gegenſtand noch nicht ins klare zu ſetzen vermocht hat, ſo befehle ich meinem Sohne Don Martin und denen ſeiner Nachkommen, welche mein Majorat und meine Lehen nach ihm beſitzen werden, daß ſie alle möglichen Unterſuchungen über die Rechte anſtellen ſollen, die man ſich geſetzlich gegen Kriegsgefangene erlauben darf. Die Eingeborenen, welche mir Tribut bezahlt haben und dennoch zu perſönlichem Dienſte gezwungen wurden, ſollen entſchädigt werden, wenn in der Folge entſchieden wird, daß man keine Frondienſte von ihnen fordern kann.“ Aber von wem könnte man die Entſcheidung über jo problematiſche Fragen erwarten als von dem Papſte oder von einem Konzilium? Geſtehen wir nur, daß trotz allen durch eine vorgerückte Civiliſation verbreiteten Einſichten die reichen Eigentümer in Amerika 300 Jahre ſpäter ſelbſt auf dem Totenbette kein ſo ängſtliches Gewiſſen haben. Heutzu⸗ tage bewegen Philoſophen und nicht Frömmlinge die Frage, ob es erlaubt ſei, Sklaven zu halten? Allein die geringe Aus⸗ dehnung, welche das Reich der Philoſophie jederzeit gehabt hat, läßt glauben, daß es für die duldende Menſchheit nütz⸗ licher wäre, wenn ſich ein ſolcher Skeptizismus unter den Gläu— bigen erhalten hätte. e - > Uebrigens werden die Sklaven welche glücklicherweiſe nur in geringer Anzahl in Mexiko ſind, hier, wie in allen ſpaniſchen Beſitzungen, etwas mehr von den Geſetzen beſchützt als die Neger in den Kolonieen anderer europäiſcher Nationen. Dieſe Geſetze werden immer zu Gunſten der Freiheit ausge⸗ legt, indem die Regierung die Zahl der Freigelaſſenen zu vermehren wünſcht. Ein Sklave zum Beiſpiel, der ſich durch ſeine Induſtrie einiges Geld erworben hat, kann ſeinen Herrn zwingen, ihn gegen die mäßige Summe von 1500 bis 2000 Livres in Freiheit zu ſetzen und dieſe kann ihm nicht ver⸗ 7 rn weigert werden, wenn jener auch gleich die Vorſtellung macht, daß ihn der Sklave das Dreifache gekoſtet habe oder daß er ein beſonderes einträglicheres Handwerk verſtehe. Letzterer gewinnt ſeine Freiheit, wenn er grauſam behandelt worden iſt, ſchon dadurch, ſobald der Richter ſich der Sache des Unter— drückten annimmt. Indes begreift man leicht, daß dieſes wohlthätige Geſetz oft genug umgangen wird. Allein ich habe doch im Juli 1803 und in Mexiko ſelbſt das Beiſpiel von zwei Negerſklavinnen geſehen, denen die obrigkeitliche Perſon, welche den Alcalde de Corte vertrat, die Freiheit zu— ſprach, weil ihre Gebieterin, eine Frau von den Inſeln, ihnen viele Wunden mit Scheren, Stecknadeln und Federmeſſern beigebracht hatte. In dieſem abſcheulichen Prozeſſe wurde die Dame beſchuldigt, daß ſie ihren Sklaven mit einem Schlüſſel die Zähne ausgebrochen habe, wenn ſie ſich über Zahnweh, das ſie am Arbeiten hinderte, beklagten. — Die römiſchen Matronen waren wahrlich nicht erfinderiſcher in den Handlungen ihrer Rache; denn die Barbarei iſt in allen Jahrhunderten dieſelbe, wenn die Menſchen ihren Leiden— ſchaften die Zügel ſchießen laſſen können und die Regierungen eine den Geſetzen der Natur und ſomit dem Wohle der Ge— ſellſchaft entgegenlaufende Ordnung der Dinge dulden. Wir halten die verſchiedenen Menſchenraſſen, welche heut— zutage die Bevölkerung von Neuſpanien ausmachen, auf— gezählt. Werfen wir nun den Blick auf die Naturgemälde in dem mexikaniſchen Atlas, ſo ſehen wir, daß der größte Teil dieſer Nation von 6 Millionen Menſchen als Bergbewohner angeſehen werden kann. Auf dem Plateau von Anahuac, das zweimal höher ſteht als die Wolken im Sommer, ſind Kupferfarbige, welche aus dem nordweſtlichen Teile des nörd— lichen Amerikas gekommen, Europäer und einige Neger von den Küſten von Bonny, Kalabar und Melimbo vereinigt. — Wahrlich, wenn wir in Betrachtung ziehen, daß das, was wir heutzutage Spanien nennen, ein Gemiſch von Alanen und anderen tatariſchen Horden mit den Weſtgoten und den alten Bewohnern Iberiens iſt, erinnern wir uns ferner der auffallenden Aehnlichkeit, welche zwiſchen den meiſten euro: päiſchen Sprachen, dem Sanskrit und dem Perſiſchen ſtatt— findet und denken wir über den aſiatiſchen Urſprung der No: madenſtämme nach, welche ſeit dem ſiebenten Jahrhundert in Mexiko eingedrungen ſind, ſo möchte man glauben, daß ein Teil dieſer Völker, welche ſich nach langen Streifzügen und nachdem fie ſozuſagen die Reife um die Welt gemacht hatten, wieder auf dem Rücken der Kordilleren zuſammenfanden, von einem Punkte, aber auf völlig entgegengeſetzten Wegen, aus— gegangen ſind. Um die Ueberſicht der Elemente, aus denen die Bevölkerung von Mexiko beſteht, zu vollenden, müſſen wir noch flüchtig die Verſchiedenheit der Kaſten angeben, welche aus der Vermiſchung der reinen Raſſen miteinander entſtehen. Dieſe Kaſten bilden eine ebenſo anſehnliche Maſſe als die Ureinwohner des Landes, und man kann die Totalſumme der Menſchen von gemiſchtem Blute zu 2400000 anjchlagen.! Vermöge einer Erkünſtelung ihrer Eitelkeit haben die Bewohner der Kolonieen ihre Sprache durch die Bezeichnung der feinſten Abweichungen des Kolorits in der Ausartung der Primitivfarbe bereichert. Es wird um ſo nützlicher ſein, dieſe Benennungen kennen zu lernen,? da ſie von mehreren Reiſenden verwechſelt worden ſind und dieſe Verwechſelung bei Leſung ſpaniſcher Werke über die amerika— niſchen Beſitzungen große Verwirrung verurſacht. Der Sohn eines Weißen (ſei er Kreole oder Europäer) und einer kupferfarbigen Ureingeborenen heißt Metis oder Meſtizo. Seine Farbe iſt beinahe vollkommen weiß und ſeine Haut ganz beſonders transparent. In dem wenigen Barte, der Kleinheit ſeiner Hände und Füße und einer gewiſſen ſchiefen Lage ſeiner Augen verrät ſich die indianiſche Miſchung ſeines Blutes weit häufiger als in der Art ſeiner Haare. Heiratet eine Meſtize einen Weißen, ſo iſt die zweite Gene— ration von ihnen der europäiſchen Raſſe völlig ähnlich. Da nur wenige Neger nach Neuſpanien gekommen ſind, ſo machen die Meſtizen wahrſcheinlich s aller Kaſten aus. Man hält ſie allgemein für ſanfteren Charakters als die Mulatten (Mulatos), die von einem Weißen und einer Negerin erzeugt ſind und ſich durch die Heftigkeit ihrer Leidenſchaften und eine ganz beſondere Beweglichkeit der Zunge auszeichnen. Die von Negern und Indianerinnen Abſtammenden tragen in Mexiko, in Lima und ſelbſt auf der Havana den bizarren Namen Chino, Chineſen; auf der Küſte von Caracas hingegen und wie die Geſetze beweiſen, in Neuſpanien ſelbſt, nennt man ſie Zambos. Heutzutage iſt dieſer letztere Name indes — 111 — ı [Heute wohl auf 4 Millionen. — D. Herausg.] 2 Sobre el Clima de Lima, por el Doctor Unanue, S. XLVIII, ein in Peru ſelbſt, im Jahre 1806 gedrucktes Werk. — 112 — beſonders auf die von einem Neger und einer Mulattin oder von einem Neger und einer China Abſtammenden eingeſchränkt. Von den gewöhnlichen Zambos unterſcheidet man die Zambos prietos, die von einem Neger und einer Zamba herkommen. Aus der Vermiſchung eines Weißen mit einer Mulattin ent⸗ ſteht die Kaſte der Quarteronen. Verheiratet ſich eine Quar⸗ teronin mit einem Europäer oder einem Kreolen, ſo heißt ihr Sohn ein Quinteron. Eine neue Vermiſchung mit der weißen Raſſe verlöſcht die Farbe ſo ganz, daß das Kind eines Weißen und einer Quinteronin gleichfalls weiß iſt. Die Kaſten von indianiſchem oder afrikaniſchem Blute behalten den Geruch, der der Hautausdünſtung dieſer beiden primitiven Raſſen eigen iſt. Die Indianer in Peru, welche die verſchiedenen Raſſen bei Nacht dem Geruche nach unterſcheiden, haben ſich ſogar drei Worte für den Geruch der Europäer, der Ureinwohner von Amerika und der Neger gebildet und nennen den der erſten pezuna, den der zweiten posco ! und der dritten grajo. Die Vermiſchungen, in welchen die Farbe des Kindes dunkler wird, als die der Mutter iſt, heißen salto-atras oder Sprünge rückwärts. In einem von Weißen beherrſchten Lande ſind die Familien, von welchen man annimmt, daß ſie am wenigſten mit Neger: oder Mulattenblut vermiſcht ſeien, am geehr— teſten, ſo wie es auch in Spanien für eine Art von Adel gilt, weder von Juden noch von Mauren abzuſtammen. In Amerika entſcheidet der größere oder geringere Grad von Weiß in der Farbe über den Rang, den man in der Geſell— ſchaft behauptet. Ein Weißer, welcher barfuß zu Pferde ſteigt, glaubt zum Adel des Landes zu gehören, und die Farbe be— gründet ſogar eine Art von Gleichheit unter den Menſchen, welche wie überall, wo die Civiliſation erſt wenig vorgerückt oder ſchon rückgängig iſt, gern in Prärogativen der Raſſe und Abſtammung künſteln. Streitet ſich ein gemeiner Mann mit einem betitelten Herrn des Landes, ſo ſagt er ihm ein Mal über das andere: „Glauben Sie etwa, daß Sie weißer ſeien als ich?“ und dieſer Ausdruck charakteriſiert den Zu— ſtand und den Urſprung der gegenwärtigen Ariſtokratie ganz vortrefflich. Es iſt daher für die Eitelkeit und das öffent— liche Anſehen von großer Wichtigkeit, daß der Anteil von europäiſchem Blut, welcher jeder Kaſte zuzuſchreiben iſt, bei Ein altes Wort aus der Qquichuaſprache. — 13 — allen aufs genauefte beſtimmt wird. Nach den durch die Gewohnheit angenommenen Grundſätzen hat man folgende Verhältniſſe feſtgeſetzt: Kaſten. Miſchung des Blutes. Quarteroen . ½ Neger: und Weißen⸗Blut. n e „ . 5 Zambo e 54 " " 14 " 7 Zambo prieto / „ tele 5 = Oftmals geſchieht es, daß Familien, welche im Verdacht ſtehen, daß ſie von vermiſchtem Blute ſeien, den oberſten Juſtiz⸗ hof (die Audiencia) um eine öffentliche Erklärung bitten, daß ſie zu den Weißen gehören. Dieſe Erklärungen richten ſich übrigens nicht immer nach dem Urteil der Sinne, und man ſieht ſehr braune Mulatten, die geſchickt genug geweſen ſind, ſich weiß färben zu laſſen, wie der gewöhnliche Ausdruck des Volkes in dieſem Falle heißt. Iſt die Hautfarbe dem nach— geſuchten Urteilsſpruch zu ſehr entgegen, ſo begnügt ſich der Supplikant mit einer etwas problematiſchen Entſcheidungs⸗ formel, und der Spruch lautet alsdann bloß ſo: „Dieſe oder jene können ſich ſelbſt als Weiße anſehen (que se tengan por Blancos).“ Es wäre ſehr merkwürdig, den Einfluß der Kaſtenver— ſchiedenheit auf die Verhältniſſe beider Geſchlechter zu einan— der gründlich beſtimmen zu können. Aus der Zählung von 1793 habe ich abgeſehen, daß in der Stadt Puebla und in Valladolid unter den Indianern mehr Männer als Weiber waren, da man hingegen unter den Spaniern oder unter der weißen Raſſe ein umgekehrtes Verhältnis findet. Die Inten— dantſchaften von Guanajuato und Oajaca zeigen in allen Kaſten dasſelbe Uebergewicht der Männer. Indes habe ich nicht Materialien genug erhalten können, um das Problem der Verſchiedenheit der Geſchlechter nach dem Kaſtenunterſchiede und der Wärme des Klimas oder der Höhe der Gegenden, welche der Menſch bewohnt, aufzulöſen, und wir müſſen uns daher bloß mit der Angabe allgemeiner Reſultate begnügen. In Frankreich findet man in einer beſonderen, mit äußer— ſter Sorgfalt angeſtellten Zählung, daß unter 991829 Men⸗ ſchen die lebenden Weiber ſich zu den Männern wie 9 zu 8 verhielten; Herr Peuchet! aber ſcheint bei einem Verhältnis Statistique élémentaire de la France, S. 242. A. v. Humboldt, Neuſpanien. I. 8 — von 34 zu 33 zu beharren. Zuverläſſig iſt die Zahl der Weiber in Frankreich größer als die der Männer, und werden, was ſehr bemerkenswert iſt, auf dem Lande und im Süden dieſes Staates mehr männliche Kinder geboren als in den Städten und in den Departements, welche zwiſchen dem 47. und 52. Grad der Breite liegen. In Neuſpanien hingegen gaben dieſe Berechnungen der politiſchen Arithmetik ein völlig entgegengeſetztes Re— ſultat. Die Männer ſind daſelbſt im Durchſchnitt zahlreicher als die Weiber. Wahrſcheinlich hat der Anblick der großen Städte zu der in den Kolonieen allgemein verbreiteten Idee Anlaß gegeben, daß in allen heißen Klimaten, und demzu— folge in allen heißen Gegenden der brennenden Zone mehr Mädchen als Jungen geboren werden. Die wenigen Kirch ſpielregiſter, die ich unterſuchen konnte, zeigen gerade das Gegenteil. In Panuco und Yguala, zwei Orten, die in einem ſehr heißen und ungeſunden Klima liegen, war unter neun einander folgenden Jahren nicht eines, in welchem das Ueber— gewicht nicht auf ſeiten der männlichen Geburten geweſen wäre. Im Durchſchnitt ſcheint mir daher das Verhältnis der letzteren zu den weiblichen Geburten in Neuſpanien wie 100:97 zu ſein, wodurch ein noch etwas größeres Weber: gewicht der Männer über die Weiber herauskommt als in Frankreich, wo auf 100 Jungen nur 96 Mädchen geboren werden. In dem Verhältnis der Sterbefälle, nach der Ver— ſchiedenheit der Geſchlechter, konnte ich unmöglich das von der Natur beſtimmte Geſetz erkennen. Zu Panuco ſtarben in zehn Jahren 479 Männer und 509 Frauen. In Mexiko ſtarben innerhalb fünf Jahren in dem einzigen Kirchſpiel von Sagrario 2393 Weiber und nur 1951 Männer. Nach dieſen, freilich nur wenigen Angaben ſollte das Uebergewicht der lebenden Männer noch weit größer ſein als wir es ge— funden haben; allein in anderen Gegenden ſcheinen die Todes— fälle der Männer zahlreicher zu ſein als die der Weiber. Herr von Pomelles hat indes ſchon in Frankreich ſelbſt die Be— merkung gemacht, daß die Verſchiedenheit der Geſchlechter ſich auffallender bei den Geburten als in den Todesfällen äußert; es werden daſelbſt "ır mehr männliche als weibliche Kinder geboren, und dennoch findet man unter den Landleuten, bei all ihrer ruhigen Lebensweiſe, nur ½e mehr Todesfälle unter dem männlichen als unter dem weiblichen Geſchlecht. — 15 — Aus allen diefen Angaben erhellt übrigens, daß man in Cu: ropa ſowohl als in den Aequinoktialgegenden, welche eine lange Ruhe genießen, die Zahl der Männer im Uebergewicht finden würde, wenn der Seedienſt, die Kriege und die ge: fährlichen Arbeiten, denen ſich unſer Geſchlecht überläßt, die— ſelbe nicht unaufhörlich verminderte. Die Bevölkerung der großen Städte iſt nicht von dauer: haftem Stande, und bleibt in Rückſicht auf die Verſchieden— heit der Geſchlechter durch ſich ſelbſt nicht in einem Zuſtande von Gleichgewicht. Die Weiber vom Lande kommen in die Städte, um in den Häuſern, die keine Sklaven haben, Dienſte zu thun. Viele Männer verlaſſen ihre Dörfer, um das Land als Maultiertreiber (Arrieros) zu durchſtreifen, oder ſich in Gegenden, wo beträchtliche Bergwerksinduſtrie iſt, niederzu⸗ laſſen. Was indes der Grund dieſes Mißverhältniſſes zwi⸗ ſchen den beiden Geſchlechtern in den Städten ſein möge, ſo iſt es doch zuverläſſig vorhanden. Auch in den Vereinigten Staaten von Nordamerika gaben die Zählungen der ganzen Bevölkerung, wie in Europa und in Mexiko, ein Uebergewicht der lebenden Männer.! Dieſes Uebergewicht iſt indes in jenem Lande, wo die Auswande— rung der Weißen, die Einfuhr vieler männlichen Sklaven und der Seehandel unaufhörlich die von der Natur vorgeſchriebene Ordnung unterbrechen, ſehr ungleich. In den Staaten von Vermont, von Kentucky und Südcarolina ſind beinahe 1 mehr Männer als Weiber; in Pennſylvanien hingegen und im Staate von New⸗York beträgt dies Mißverhältnis nicht s. Genießt das Königreich Neuſpanien dereinſt eine Ad— miniſtration, welche die Wiſſenſchaften begünſtigt, ſo wird die politiſche Arithmetik daſelbſt unendlich wichtigere Angaben, ſowohl für allgemeine Statiſtik als für die Naturgeſchichte des Menſchen insbeſondere liefern. Wie viele Probleme ſind noch in einem Gebirgslande zu löſen, welches unter einer und derſelben Breite die abwechſelndſten Klimate, Bewohner von drei oder vier Primitivraſſen und ein Gemiſch dieſer Raſſen in allen denkbaren Kombinationen darſtellt! Welche Unter— ſuchungen können da noch über das Alter der Mannbarkeit, die Fruchtbarkeit der Gattung, die Verſchiedenheit der Ge— ſchlechter und über die Lebensdauer angeſtellt werden, welche [Jetzt iſt dort das Gegenteil der Fall. — D. Herausg.] =. Ab we 2 oder kürzer iſt, je nach der Höhe und Temperatur der Orte, der Verſchiedenheit der Raſſen, nach der Epoche, in welcher die Koloniſten in dieſe oder jene Gegend verpflanzt wurden, und nach der Verſchiedenheit der Nahrung in Pro— vinzen, wo Bananen, Jatropha, Reis, Mais, Weizen und Kartoffeln auf engem Raume beiſammen wachſen. Ein bloßer Reiſender kann ſich keinen Nachforſchungen überlaſſen, welche viele Zeit, die Verwendung der höchſten Gewalt und das Zuſammenwirken vieler Perſonen zu einem Zwecke erfordern. Ich begnüge mich daher, nur anzuzeigen, was noch zu thun iſt, wenn die Regierung dereinſt die glück⸗ liche Lage benutzen will, in welche die Natur dieſes außer- ordentliche Land verſetzt hat. Die Arbeit, welche 1793 mit der Volkszählung der Haupt- ſtadt vorgenommen wurde, ſtellt Reſultate dar, welche am Ende dieſes Kapitels verzeichnet zu werden verdienen. Man hat in dieſem Teile der Zählung, nach der Verſchiedenheit der Raſſen, auch die Individuen unter und über 50 Jahren unter— ſchieden und gefunden, daß über dieſes Alter gekommen ſind: Individuen dieſer Raſſe 4128 Weiße, Kreolen unter der eee e von . 50371. 539 Mulattenn 7094 1789 Indianer, Kreoleen 1278 Gemiſchten Blutes.. Er 17357 So daß demnach über 50 Jahre eien find: von 100 Weißen, Kreolen aa „ E 107 SSIERROHELDE = 1er : „„ F 3 „ „ Individuen anderer gemiſchten Kaſten 3 Dieſe Berechnungen beſtätigen die bewundernswürdige Einförmigkeit, welche in allen Geſetzen der Natur herrſcht, ſcheinen aber auch anzudeuten, daß die Lebensdauer unter den beſſer gemiſchten Raſſen, und wo die Mannbarkeit ſpä⸗ ter eintritt, etwas größer iſt. Unter 2335 Europäern, welche 1793 in Mexiko lebten, waren nicht weniger als 442, die das 50. Jahr erreicht hatten, wodurch übrigens gar nicht be⸗ wieſen wird, daß die Amerikaner dreimal weniger Wahr⸗ ſcheinlichkeit haben, ein hohes Alter zu erreichen, als die Europäer; denn diefe kommen gewöhnlich erſt in einem reiferen Alter nach Indien. — 117 — Nach der Unterſuchung des phyſiſchen und moraliſchen Zuſtandes der verſchiedenen Kaſten, welche die mexikaniſche Bevölkerung ausmachen, würde der Leſer wohl gern die Fragen erörtert ſehen: Welchen Einfluß hat dieſes Gemiſch von Kaſten auf das allgemeine Wohl der Geſellſchaft? Wel— chen Grad von Genuß und individueller Glückſeligkeit kann ſich der gebildete Menſch in dem jetzigen Zuſtande des Lan— des, mitten unter ſo vielen einander widerſtreitenden Inter— eſſen, Vorurteilen und drückenden Gefühlen, verſchaffen? Wir ſprechen hier nicht von den Vorteilen, welche die ſpaniſchen Kolonieen in dem Reichtum ihrer natürlichen Pro— dukte, der Fruchtbarkeit ihres Bodens und in der Leichtigkeit beſitzen, womit der Menſch in demſelben nach ſeinem Gefallen und mit dem Thermometer in der Hand auf einem Umkreiſe von einigen Quadratſtunden die Temperatur oder das Klima ſuchen kann, welches er für ſein Alter, ſeine phyſiſche Kon— ſtitution und für die Art von Landbau, der er ſich ergeben will, am günſtigſten hält. Auch wollen wir hier kein Ge— mälde von den herrlichen Ländern entwerfen, welche an der Mitte des Gebirges, in der Gegend der Eichen und Tannen und in einer Höhe von 1000 bis 1400 m liegen, wo ein ewiger Frühling herrſcht, die köſtlichſten Früchte von Indien neben den europäiſchen wachſen und alle dieſe Genüſſe weder durch zu viele Inſekten, noch durch die Furcht vor dem gel— ben Fieber (Vomito), noch durch häufige Erdbeben geſtört werden. Hier ſoll ja nicht unterſucht werden, ob es außer den Tropenländern eine Gegend gibt, in welcher der Menſch mit weniger Arbeit die Bedürfniſſe einer zahlreichen Familie überflüſſiger befriedigen kann; denn der phyſiſche Wohlſtand der Koloniſten modifiziert ſeine intellektuelle und moraliſche Exiſtenz nicht allein. Kommt ein Europäer, welcher alles genoſſen hat, was geſellſchaftliches Leben in den civiliſierteſten Ländern anbietet, in dieſe fernen Gegenden des neuen Kontinents, ſo muß er bei jedem Schritte über den Einfluß ſeufzen, den die Kolonial⸗ regierung ſeit Jahrhunderten auf die Moralität der Bewohner gehabt hat. Der gut unterrichtete Mann, der ſich nur für die intellektuelle Entwickelung der Gattung intereſſiert, leidet daſelbſt vielleicht weniger, als der, den ein tiefes Gefühl dahin begleitet. Der erſte ſetzt ſich mit dem Mutterlande in Verbindung; der Seehandel liefert ihm Bücher und Inſtru— mente: er beobachtet mit Entzücken die Fortſchritte, welche — 118 — das Studium der ernſthaften Wiſſenſchaften in den großen Städten vom ſpaniſchen Amerika gemacht hat; die Betrach— tung einer großen, wunderbaren, in ihren Produkten äußerſt mannigfaltigen Nation entſchädigt feinen Geiſt für die Ent: behrungen, welche ſeine Lage notwendig macht; der zweite hingegen, der bloß ſein Herz genießen laſſen kann, findet das Leben in dieſen Kolonieen nur dann angenehm, wenn er ſich ganz in ſich ſelbſt zurückzieht. Will er ruhig alle Vorteile genießen, welche die Schönheit des Klimas, der Anblick einer immer friſchen Vegetation und die politiſche Ruhe der Neuen Welt ihm anbieten, ſo wird er die Abgeſchiedenheit und Ein— ſamkeit nur deſto wünſchenswerter finden. Indem ich dieſe Ideen mit Freimütigkeit ausſpreche, will ich den moraliſchen Charakter der Bewohner von Mexiko oder Peru nicht beſchul— digen, und ich ſage nicht, daß das Volk von Lima nicht ſo gut ſei, als das von Cadiz; vielmehr möchte ich glauben, was viele Reiſenden vor mir beobachtet haben, daß in den Sitten der Amerikaner eine Annehmlichkeit und Sanftmut herrſcht, welche ſich der Weichlichkeit gerade ſo nähert, wie die Energie einiger europäiſchen Nationen leicht in Härte aus: artet. Der in den ſpaniſchen Beſitzungen allgemeine Mangel an Geſelligkeit und der Haß, welcher die verwandteſten Kaſten voneinander trennt und deſſen Wirkungen das Leben der Koloniſten verbittern, ſtammt einzig und allein aus den po— litiſchen Grundſätzen, nach welchen dieſe Gegenden ſeit dem 16. Jahrhundert beherrſcht worden ſind. Eine in den wahren Intereſſen der Menſchheit hellſehende Regierung würde Ein— ſichten und Kenntniſſe mit Leichtigkeit verbreiten und den phyſiſchen Wohlſtand der Koloniſten erhöhen, wenn ſie nur nach und nach dieſe ungeheure Ungleichheit der Rechte und der Vermögenszuſtände verſchwinden machte; allein ſie würde auch ungeheure Schwierigkeiten finden, wenn die Einwohner durch ſie geſelliger werden und wenn ſie von ihr lernen ſollten, ſich ſamt und ſonders für Mitbürger anzuſehen. Vergeſſen wir ja nicht, daß ſich die Geſellſchaft in den Vereinigten Staaten ganz anders als in Mexiko und den übrigen Kontinentalgegenden der ſpaniſchen Kolonieen gebildet hat. Als die Europäer in die Alleghanygebirge eindrangen, fanden ſie nichts als ungeheure Wälder, in welchen einige Stämme von einem Jägervolke umherirrten, das durch nichts an ſeinen ungebauten Boden gefeſſelt war. Bei der An— näherung der neuen Koloniſten zogen ſich die Urbewohner — 119 — nach den weſtlichen Weideplätzen zurück, welche an den Miſſiſ— ſippi und den Miſſouri grenzen. So wurden freie Menſchen einer Raſſe und eines Urſprunges die erſten Elemente eines entſtehenden Volkes. „In Nordamerika,“ ſagt ein berühmter Staatsmann, durchläuft ein Reiſender von einer Hauptſtadt aus, wo das geſellſchaftliche Leben in ſeiner völligen Vervoll— kommnung iſt, nacheinander alle Stufen der Civiliſation und Induſtrie, und beide nehmen immer ab, bis er nach ſehr wenigen Tagen an einer unförmlichen, plumpen Hütte an— kommt, welche von neu abgeriſſenen Baumzweigen erbaut iſt. Eine ſolche Reiſe iſt gleichſam die praktiſche Analyſe des Ur— ſprunges der Völker und Staaten. Man geht von dem zu— ſammengeſetzten Ganzen aus, um zu den einfachſten Beſtand— teilen zu gelangen; man mißt in der Geſchichte der Fortſchritte des menſchlichen Geiſtes rückwärts, und findet im Raume, was nur dem Fortſchreiten der Zeit anzugehören ſcheint.““ Nirgends in ganz Neuſpanien und Peru, die Miſſio— nen ausgenommen, ſind die Koloniſten in den Naturzuſtand zurückgekehrt. Bei ihrer Anſiedelung unter ackerbauenden Völkern, welche unter ſo komplizierten und deſpotiſchen Re— gierungen lebten, benutzten die Europäer alle Vorteile, die ihnen das Uebergewicht ihrer Civiliſation, ihre Liſt und das Anſehen, welches ihnen die Eroberung gab, geſtattete. Aber dieſe beſondere Lage und das Gemiſch der Raſſen, deren Intereſſen einander geradezu entgegen ſind, wurden auch zu einer unerſchöpflichen Quelle von Haß und Uneinigkeit. In dem Maße, wie die Abkömmlinge der Europäer zahlreicher wurden als die, welche das Mutterland unmittelbar ſchickte, teilte ſich die weiße Raſſe in zwei Parteien, deren ſchmerz— liche Nachgefühle nicht durch die Bande der Blutsverwandt— ſchaft unterdrückt werden konnten. Aus einer falſchen Politik wähnte die Kolonialregierung dieſe Uneinigkeiten benutzen zu können. Je größer eine Kolonie wird, deſto mißtrauiſcher wird ihre Adminiſtration. Nach den Ideen, welche man un— glücklicherweiſe ſeit Jahrhunderten befolgt hat, werden dieſe entfernten Gegenden als Europa tributär angeſehen. Die geſetzliche Macht wird nicht nach dem Bedürfnis des Gemein— wohles verteilt, ſondern wie es die Furcht, daß das Glück der Bewohner zu ſchnell ſteigen könnte, eingibt. Der Mutter— Herr von Talleyrand, in feinem Essai sur les colonies nouvelles. — 120 — ſtaat ſucht im Bürgerzwiſt, in dem Gleichgewicht der Macht und des Anſehens und in der Verwickelung aller Triebfedern einer großen politiſchen Maſchine ſeine Sicherheit, und arbeitet unaufhörlich daran, den Parteigeiſt zu nähren und den Haß zu vermehren, welchen die Kaſten und die konſtituierten Au— toritäten von Natur aus gegeneinander hegen. Und aus ſolchem Stande der Dinge entſpringt eine Bitterkeit, welche alle Genüſſe des geſellſchaftlichen Lebens ſtört. Beſondere Statiſtik der Intendantſchaften, aus welchen das Königreich Henfpanien beſteht. — Ihr Territorialumfang und ihre Bevölkerung. In ſeinem gegenwärtigen Zuſtande iſt Neuſpanien in zwölf Intendantſchaften abgeteilt, zu denen noch drei andere von der Hauptſtadt ſehr weit entfernte Diſtrikte kommen, welche den bloßen Namen Provinzen behalten haben. Dieſe 15 Einteilungen ſind folgende: J. Unter der gemäßigten Zone. A. Nördliche Gegend, innere Gegend. 1) Provincia de Nuevo Mexico, längs dem Rio del Norte, nordwärts von dem Parallelkreiſe von 31“. 2) Intendencia de Nueva Biscaya, ſüdweſtlich vom Rio del Norte, auf dem Centralplateau, das ſich von Durango bis Chihuahua ſehr ſchnell herabſenkt. B. Nordweſtgegend am Großen Ozean. 3) Provincia de la Nueva California oder Nordweſt— ſeite der ſpaniſchen Beſitzungen in Nordamerika. 4) Provincia de la Antigua California. Ihre ſüdlichſte Spitze trifft ſchon unter die heiße Zone. 5) Intendencia de la Sonora. Der ſüdlichſte Teil von Sinaloa, worin die berühmten Bergwerke von Copala und vom Rofario liegen und auch ſchon über die Wendezirkel des Krebſes hinausreichend. C. Nordoſtgegend am Golf von Mexiko. 6) Intendencia de San Luis Potoſi. Sie umfaßt die Provinzen Texas, die Colonia de Nuevo Santander und Coahuila, vom Nuevo Reyno de Leon und die Diſtrikte von Charcas, Altamira, Catorce und Ramos. Dieſe letzteren Diſtrikte machen die eigentlich ſogenannte Intendantſchaft von San Luis aus. Der mittägliche Teil, der ſich ſüdlich von der Barra de Santander und dem Real de Catoree erſtreckt, gehört zur heißen Zone. II. Unter der heißen Zone. D. Centralgegend. 7) Intendencia de Zacatecas, den Teil ausgenommen, welcher ſich nördlich von den Bergwerken von Fresnillo er— ſtreckt. 8) Intendencia de Guadalajara. 9) Intendencia de Guanajuato. 10) Intendencia de Valladolid. 11) Intendencia de Mexico. 12) Intendencia de la Puebla. 13) Intendencia de Veracruz. E. Südweſtgegend. 14) Intendencia de Dajaca. 15) Intendencia de Merida. Dieſe Einteilungen gründen ſich auf den phyſiſchen Zu— ſtand des Landes. Wir ſehen, daß beinahe ſieben Achtteile der Bewohner unter der heißen Zone leben. Die Bevölke— rung iſt, je weiter man gegen Durango und Chihuahua kommt, um ſo dünner geſät. In dieſer Rückſicht hat Neu⸗ ſpanien eine auffallende Aehnlichkeit mit Hinduſtan, das auch nördlich an beinahe völlig unangebaute und unbewohnte Ge— genden grenzt. Von den 5 Millionen, die die Aequinoktialgegen— den von Mexiko einnehmen, bewohnen vier Fünfteile den Rücken der Kordillere oder der Plateaus, welche über der Meeresfläche ſo hoch erhaben ſind als die Straße auf dem Mont Cenis. Betrachtet man die Provinzen von Neuſpanien in Abſicht auf ihre Handelsverhältniſſe oder nach der Lage der Küſte, die ſie unmittelbar berühren, ſo kann man ſie in drei Gegen— den abteilen. I. Innere Provinzen, die ſich nicht bis an die Küſten des Ozeans erſtrecken: 1) Nuevo Mexico. 2) Nuevo Biscaya. 3) Zacatecas. 4) Guanajuato. — 123 — II. Seeprovinzen an der öſtlichen Küſte, gegen Europa gewandt: 5) San Luis Potoſi. 6) Veracruz. 7) Merida oder Yucatan. III. Seeprovinzen an der weſtlichen Küſte, gegen Aſien gewandt. 8) Neukalifornien. 9) Altkalifornien. 10) Sonora. 11) Guadalajara. 12) Valladolid. 13) Mexpiko. 14) Puebla. 15) Oajaca. Wenn ſich die Kultur von Mexiko dereinſt weniger auf dem Centralplateau oder auf dem Rücken der Kordillere ver— einigt haben wird und die Küſten angefangen, ſich zu bevöl- kern, werden dieſe Einteilungen gewiß ein großes politiſches Intereſſe haben. Die weſtlichen Seeprovinzen werden ihre Schiffe nach Nutka, nach China und Großindien ſchicken. Die Sandwichinſeln, welche von einem wilden aber indu— ſtribſen und unternehmenden Volke bewohnt ſind, ſcheinen eher dazu beſtimmt, zu ſein, mexikaniſche als europäiſche Kolo⸗ niſten zu erhalten. Sie enthalten ſehr wichtige Plätze für die Nationen, welche den Entrepothandel im Großen Ozean treiben. Bis jetzt haben die Bewohner von Neuſpanien und Peru zwar von ihrer glücklichen Lage auf einer Aſien und Neuholland entgegengeſetzten Küſte keinen Vorteil ziehen können, ja die Produkte der Südſeeinſeln ſind ihnen nicht einmal bekannt. Den Brotfruchtbaum und das Zuckerrohr von Tahiti aber, dieſe köſtliche Pflanze, deren Bau den glück— lichſten Einfluß auf den Handel der Antillen gehabt hat, werden ſie einſt, ſtatt aus den ihnen zunächſt liegenden Inſeln, von Jamaika, der Havana und von Caracas erhalten! Wie Dieſe Erwartung iſt bekanntlich nicht in Erfüllung gegangen; Nordamerikaner ſind an die Stelle der Mexikaner getreten. — D. Herausg.] BR. viele Mühe haben ſich die Vereinigten Staaten von Nord: amerika ſeit zehn Jahren gegeben, um ſich einen Weg gegen die Weſtküſten zu öffnen, dieſe Küſten, an welchen die Mexi— kaner die ſchönſten Häfen ohne Leben und Handel beſitzen.! Man iſt ungewiß, welche Grenzen man Neuſpanien auf der Nord- und der Oſtſeite geben ſoll; denn wenn ein Miſ— ſionär ein Land durchzogen oder ein königliches Schiff irgend eine Küſte geſehen hat, ſo kann man ſie doch noch nicht als zu den ſpaniſchen Kolonieen gehörig anſehen. In Mexiko ſelbſt und noch im Jahre 1770 hat der Kardinal Lorenzana freilich drucken laſſen, daß Neuſpanien vielleicht durch das Bistum Durango mit der Tatarei und Grönland zuſammen— grenze.? Allein heutzutage iſt man zu weit in der Geographie vorgerückt, um ſich ſolchen ausſchweifenden Vermutungen zu überlaſſen. Ein Vizekönig von Mexiko hat von San Blas aus die amerikaniſchen Kolonieen der Ruſſen auf der Halb— inſel Alaska unterſuchen laſſen. Auch war die Aufmerkſam— keit der mexikaniſchen Regierung lange Zeit auf die Nord— weſtküſte, beſonders bei Gelegenheit der Niederlaſſung von Nutka gerichtet, welche der Hof von Madrid am Ende auf— geben mußte, um einen Krieg mit England zu vermeiden. Die Bewohner der Vereinigten Staaten treiben ihre Civili— ſation gegen den Miſſouri hin und ſuchen ſich den Küſten des Großen Ozeans zu nähern, wohin ſie der Handel mit Fellen ruft. Indes naht ſich die Epoche, da die Grenzen von Neuſpanien durch die reißenden Fortſchritte der menſch— lichen Kultur die des ruſſiſchen Reiches und der großen Kon— föderation der amerikaniſchen Republiken berühren werden. So wie die Sachen aber jetzt ſtehen, dehnt ſich die mexika— niſche Regierung nicht weiter auf den Weſtküſten aus als bis zur Miſſion von St. Franziskus, ſüdlich vom Kap Mendocin, und in Neumexiko bis zum Dorfe Taos. Auf der Oſtſeite gegen den Staat von Louiſiana ſind die Grenzen der Intendant— ſchaft von San Luis Potoſi nur ſehr wenig beſtimmt. Der Kongreß von Waſhington ſucht fie zwar bis auf das rechte Heute find die Vereinigten Staaten längſt im Beſitze dieſer jo lange erſtrebten Küſten. — D. Herausg.] „aun si signora, si la nueva Espana por lo mas re- moto de las dioceses de Durango confina con la Tartaria y Groenlandia, per las Californias con la Tartaria y por elle Nuevo Mexico con la Groenlandia.“ (Lorenzana, ©. 38.) Ufer des Rio Bravo del Norte zurückzuweiſen; allein die Spa: nier verſtehen unter dem Namen der Provinz Texas die Weidegegenden, welche ſich bis zum Rio Mexicano oder Mer— mentas, öſtlich vom Rio Sabina erſtrecken. Statiſtiſche Analyſe. 1) Intendantſchaft von Mexiko. Dieſe ganze Intendantſchaft liegt unter der heißen Zone. Sie erſtreckt ſich von 16“ 34“ bis 21“ 57“ der Nordbreite und grenzt gegen Mitternacht an die Intendantſchaft von San Luis Potoſi, gegen Weſten an die von Guanajuato und Valladolid und gegen Oſten an die von Veracruz und Puebla. Auf der mittäglichen Seite netzen die Gewäſſer des Süd— meeres oder des Großen Ozeans die Intendantſchaft von Mexiko in einer Uferlänge von 609 km von Acapulco bis Zacatula. Ihre größte Länge von letzterem Hafen bis zu den Doctorbergwerfen ! iſt 1020 km und ihre größte Breite von Zacatula bis zu den öſtlich von Chilpantzingo gelegenen Ge— birgen 683 km. In dem nördlichen Teile in der Gegend der berühmten Bergwerke von Zimapan und des Doctor trennt ein ſchmaler Landſtrich die Intendantſchaft vom Mexikaniſchen Meerbuſen. Dies geſchieht in der Nähe von Mextitlan und der Strich hat nicht mehr als 67 km Breite. Mehr als zwei Dritteile der Intendantſchaft Mexiko ſind Gebirgsland, in welchem ungeheure Plateaus liegen, die ſich 2000 bis 2300 m über die Meeresfläche erheben und von Chalco bis Queretaro eine beinahe ununterbrochene Reihe von Ebenen von 370 km Länge und 60 bis 75 km Breite enthalten. In den der Weſtküſte benachbarten Gegenden iſt das Klima brennend heiß und ungeſund. Nur eine einzige I Die äußerſten Punkte liegen eigentlich ſüdöſtlich von Aca— pulco, bei der Mündung des Rio Neſpa, und nördlich vom Real del Doctor, bei der Stadt Valles, welche ſchon zur Intendantſchaft von San Luis Potoſi gehört. Da bedeutende Orte ſelten auf den Grenzen ſelbſt liegen, ſo hat man lieber die ihnen am nächſten befindlichen angeben wollen. Wirft man einen Blick auf meine Generalkarte von Mexiko, ſo wird man dieſe Art, die Grenzen der Intendantſchaften zu bezeichnen, gerechtfertigt finden. — 126 — Spitze, der Nevado de Toluca, welcher auf einem fruchtbaren Plateau von 2700 m Höhe ſteht, erhebt ſich bis in die untere Grenze des ewigen Schnees. Indes verliert auch der porphyritiſche Gipfel dieſes alten Vulkanes, deſſen Form der des Pichinca bei Quito ſehr viel gleicht und welcher einſt ſehr hoch geweſen zu ſein ſcheint, in den Regenmonaten des Septembers und Oktobers ſeinen Schnee. Die Höhe des Pico del Frayle oder der höchſten Spitze des Nevado de Toluca in 4620 m. Kein Gebirge in dieſer Intendantſchaft kommt dem Montblanc an Höhe gleich. Das Thal von Mexiko oder von Tenochtitlan, von wel— chem ich eine ſehr ins einzelne gehende Karte mitteile, liegt auf dem Mittelpunkte der Kordillere von Anahuac, auf dem Rücken der Porphyr- und Baſaltmandelſteingebirge, welche ſich von Süd⸗Süd⸗Oſt nach Nord-Nord-Weſt erſtrecken. Dieſes Thal hat eine ovale Form. Nach meinen Beobachtungen und denen eines ausgezeichneten Mineralogen, Herrn Don Luis Martin, hat es von der Mündung des Rio Tenango in den See Chalco bis zum Fuße des Cerro de Sincoque bei dem Desague Real de Huehuetoca 136 km Länge und von San Gabriel bei der kleinen Stadt Tezeuco bis zu den Quellen des Rio de Escapusalco bei Guisquilaca 93 km Breite.“ Der Territorial: umfang des Thales hält 13460 qkm. Seine Seen um: faſſen nicht mehr als 1212 qkm, alſo nicht einmal den zehnten Teil des ganzen Flächeninhaltes. Der Umfang des Thales, nach dem Kamme der Ge— birge gemeſſen, welche es wie eine Zirkelmauer umgeben, iſt 497 km. Dieſer Kamm iſt auf der Südſeite und be— ſonders gegen Südoſten am höchſten, wo die beiden großen Vulkane von Puebla, der Popocatepetl und der Iztaccihuatl das Thal begrenzen. Einer von den Wegen, welche von dem Thale von Tenochtitlan nach dem von Cholula und Puebla führen, geht über Tlamanalco, Ameca, La Cumbre und La Cruz del Coreo, mitten zwiſchen den beiden Vulkanen durch. ! Die Karten vom Thale von Mexiko, wie man fie bisher ge: habt hat, ſind ſo falſch, daß auf der von Herrn Mascaro welche jedes Jahr in dem Almanach von Mexiko wieder abgedruckt wird, die oben angegebenen Diſtanzen zu 193 und 126 km, 136 und 93 km beſtimmt werden. Nach dieſer Karte wahrſcheinlich gibt der Erzbiſchof Lorenzana dem ganzen Thale einen Umfang von mehr als 670 km, da er doch beinahe ein Drittel weniger iſt. ; — 127 — Dieſen nämlichen Weg hat das kleine Truppencorps des Cortez bei ſeinem erſten Einfalle gemacht. Sechs große Straßen durchſchneiden die Kordillere, welche das Thal begrenzt und deren Mittelhöhe über die Ozeans: fläche 3000 m tft; nämlich 1) die Straße von Acapulco, welche nach Huichilaque und Cuernavaca über die hohe Spitze, genannt La Cruz del Marques, geht; 2) die Straße von Toluca über Tianguillo und Lerma, eine prächtige Heerſtraße, die ich nicht genug bewundern konnte und welche mit vieler Kunſt zum Teil auf Bogen erbaut iſt; 3) die Straße von Quere⸗ taro, Guanajuato und Durango, el camino de tierra aden- tro, welche über Quautitlan, Huehuetoca und Puerto de Reyes bei Bata über Hügel wegführt, die kaum 80 m über dem Pflaſter des großen Platzes von Mexiko liegen; 4) die Straße von Pachuca. Sie zieht ſich nach den berühmten Bergwerken von Real del Monte über den Cerro Ventoſo, welcher mit Eichen, Cypreſſen und beinahe immer blühenden Roſenſträu⸗ chern bedeckt it; 5) der alte Weg von Puebla über San Bona— ventura und die Llanos de Apan; und endlich 6) der neue Weg von Puebla über Rio Frio und Tesmelucos ſüdöſtlich vom Cerro de Telapon, deſſen Diſtanz von der Sierra Nevada, ſowie die der Sierra Nevada (der Iztaccihuatl) bis zum großen Vulkan (dem Popocatepetl) den trigonometriſchen Ope⸗ rationen der Herren Velasquez und Coſtanzo zu Baſen ge— dient haben. Man tft ſchon jo lange her daran gewöhnt, von der Haupt— ſtadt Mexikos als von einer mitten in einen See gebauten Stadt zu hören, welche nur durch Dämme mit dem feſten Lande zuſammenhängt, und mag ſich daher ſehr wundern, den Mittelpunkt der heutigen Stadt in meinem mexikaniſchen Atlas um 4500 m von dem See Tezcuco und von dem von Chalco über 900 m entfernt zu finden. Man wird deswegen ent⸗ weder die Genauigkeit der in den Entdeckungsgeſchichten der Dies war im Anfang der Eroberung ein militäriſcher Punkt. Wenn die Bewohner von Neuſpanien den Namen Marquis aus— ſprechen, ohne einen Familiennamen hinzuzuſetzen, jo verſtehen ſie darunter den Hernan Cortez, Marques de el Valle de Oajaca. So bezeichnet der bloße Ausdruck el Almirante im ſpaniſchen Amerika den Chriſtoph Kolumbus. Dieſe naive Art, ſich auszudrücken, beweiſt die Ehrfurcht und Bewunderung, welche ſich für das Andenken der beiden großen Männer erhalten haben. — 128 — Neuen Welt gegebenen Beſchreibungen in Zweifel ziehen oder ſich mit der Erklärung helfen, daß die heutige Hauptſtadt von Mexiko nicht auf den nämlichen Grund gebaut ſei, auf welchem die alte Reſidenz von Montezuma! geſtanden habe. Allein es iſt völlig zuverläſſig, daß die Stadt ihre Stelle nicht verändert hat. Die Domkirche von Mexiko ſteht genau auf demſelben Platze, wo ſich der Tempel des Huitzilopochtli befand; die heutige Straße Tacuba iſt die alte Straße Tla: copan, durch welche Cortez in der traurigen Nacht (zur Aus— zeichnung la noche triste genannt) vom 1. Juli 1520 den berühmten Rückzug gemacht hat und die anſcheinende Ver— ſchiedenheit der Lage, ſo wie ſie auf den alten Karten und den meinigen angegeben iſt, kommt bloß von der Verminde— rung des Waſſers im See von Tezcuco her. Es wird nicht unnütz ſein, hier eine Stelle aus einem unter dem 30. Oktober 1520 von Cortez an Kaiſer Karl V. erlaſſenen Briefe anzuführen, worin er ein Gemälde von dem Thale von Mexiko entwirft. Es iſt mit hoher Einfachheit verfaßt, und ſchildert zugleich die Polizei, welche in dem alten Tenochtitlan herrſchte. „Die Provinz,“ jagt Cortez, „in wel: cher die Reſidenz dieſes großen Fürſten Muteczuma liegt, iſt rings von hohen und durch Abgründe durchſchnittenen Ge— birgen umgeben. Die Ebene hat beinahe 70 Stunden im Umfang und enthält zwei Seen, welche beinahe das ganze Thal ausfüllen, in dem die Einwohner von einem Umkreiſe von mehr als 50 Stunden in Kähnen fahren.“ (Hierbei iſt zu bemerken, daß Cortez bloß von zwei Seen ſpricht, weil er die von Zumpango und Kaltocan, zwiſchen denen er auf ſeiner Flucht von Mexiko nach Tlaxcalla, vor der Schlacht von Otumba, eiligſt durchzog, nur unvollkommen kannte.) „Von dieſen beiden großen Seen im Thale von Mexiko ent: hält der eine ſüßes und der andere geſalzenes Waſſer. Sie ſind bloß durch einen kleinen Strich von Gebirgen (die koni— ſchen und freiſtehenden Hügel bei Iztapalapan) voneinander Der wahre mexikaniſche Name dieſes Königs iſt Mocteuhzoma. Man unterſcheidet in der Genealogie der aztekiſchen Sultane zwei Könige dieſes Namens, von denen der eine Huehue Mocteuhzoma, und der andere, welcher in Cortez' Gefangenſchaft geſtorben iſt, Mocteuhzoma Kocojotzin genannt wird. Die Beiworte, welche vor und nach den Nennworten ſtehen, bezeichnen den älteren und jüngeren. N getrennt. Dieſe Gebirge erheben ſich mitten in der Ebene, und die Waſſer vermiſchen ſich nur in einer ſchmalen Enge, welche zwiſchen den Hügeln und der hohen Kordillere (wahr— ſcheinlich auf der öſtlichen Senkung vom Cerro de Santa Fe) liegt. Die vielen Städte und Dörfer, die auf beiden Seen gebaut ſind, treiben ihren Handel auf Kähnen und nicht über das feſte Land hin. Die große Stadt Temirtitan! (Tenoch— titlan) ſteht mitten in dem Salzſee, der ſeine Ebben und Fluten hat gleich dem Meere, und von welcher Seite des Ufers man kommen mag, ſo braucht man immer zwei Stun— den, um ſie zu erreichen. Vier Dämme führen nach dieſer Stadt. Sie ſind das Werk der Menſchenhände, und immer— hin zwei Lanzenlängen breit. Die Stadt ſelbſt iſt ſo groß, als Sevilla oder Cordoba. Die Straßen, das heißt die Haupt— ſtraßen, ſind zum Teil ſehr eng, zum Teil ſehr weit; die einen halb trocken, die anderen zur Hälfte von ſchiffbaren Kanälen durchſchnitten, welche mit hübſch gebauten hölzernen und ſo geräumigen Brücken verſehen ſind, daß zehn Reiter zugleich darüber ſetzen können. Der Markt iſt doppelt ſo groß, als der von Sevilla, und mit einem ungeheuren Por— tikus umgeben, unter welchem alle Arten von Waren, Lebens— mitteln, Kleiderſchmuck von Gold, Silber, Blei, Kupfer, edlen Steinen, Knochen, Muſcheln und Federn, von Leder und Baumwollenſtoffen zum Verkauf ausgeſtellt ſind. Auch findet man hier gehauene Steine, Ziegel und Zimmerholz. Einzelne Stellen ſind für den Verkauf von Wildbret, andere von Gemüſen und Gartenkräutern eingerichtet. Hier befinden ſich auch eigene Häuſer, wo die Barbiere (mit Schermeſſern von Obſidian) die Kopfhaare raſieren, und andere, welche unſeren Apothekerbuden gleichen, und wo ſchon völlig zubereitete Arz— neimittel, Salben und Pflaſter verkauft werden. In anderen Häuſern gibt man ums Geld zu eſſen und zu trinken, und man ſieht überhaupt ſo vielerlei Dinge auf dem Markte, daß ich nicht imſtande bin, ſie Eurer Hoheit alle aufzuzählen. Um Verwirrung zu vermeiden, werden alle Waren an abgeſon— derten Orten verkauft. Alles wird nach der Elle gemeſſen, und wir haben bis jetzt noch kein Gewicht brauchen ſehen. Temiſtitan, Temixtitan, Tenortitlan, Temihitlan, find die verſchiedenen Entſtellungen des wahren Namens Tenochtitlan. Die Azteken oder Mexikaner nannten ſich ſelbſt Tenochken, woher der Name Tenochtitlan kommt. A. v. Humboldt, Neuſpanien. I. 9 — 130 — Mitten auf dem großen Platze ſteht ein Haus, welches ich die Audiencia nennen möchte, und wo immer zehn bis zwölf Richter ſitzen, welche über die beim Handel entſtandenen Streitigkeiten entſcheiden. Eine andere Art öffentlicher Ber: ſonen iſt unaufhörlich im Gedränge verbreitet, führt die Auf: ſicht darüber, daß um billige Preiſe verkauft wird, und man hat bemerkt, wie ſie die falſchen Maße, welche ſie bei den Kaufleuten fanden, zerbrachen.“ Dies war der Zuſtand von Tenochtitlan im Jahre 1520, nach Cortez' eigener Beſchreibung. Vergebens habe ich in den Archiven ſeiner Familie, welche in der Caſa del Eſtado zu Mexiko aufbewahrt werden, den Plan geſucht, welchen dieſer große Feldherr von den Umgebungen der Hauptſtadt aufneh⸗ men ließ und dem Kaiſer ſchickte, wie er in dem dritten ſeiner von dem Kardinal Lorenzana bekannt gemachten Briefe ſagt. Der Abbate Clavigero hat einen Plan vom See Tez— cuco gewagt, wie er ſeine Grenzen im 16. Jahrhundert ver⸗ mutete. Dieſe Skizze iſt indes mit wenig Genauigkeit ge⸗ macht, jedoch immer noch der von Robertſon und anderen mit der Geographie von Mexiko ebenſowenig bekannten Europäern weit vorzuziehen. Auf der Karte vom Thale Tenochtitlan habe ich den alten Umfang des Salzſees be— zeichnet, wie ich ihn in dem hiſtoriſchen Berichte von Cortez und einigen ſeiner Zeitgenoſſen zu erkennen glaubte. Im Jahre 1520, und noch lange nachher, waren die Dörfer Iztapalapan, Covyouacan (fälſchlich Cuyacan genannt), Tacu⸗ baja und Tacuba ganz nahe an den Ufern des Sees Tezeuco gelegen. Cortez ſagt ausdrücklich, daß die meiſten Häuſer von Coyouacan, Culuacan, Churubuzeo, Mexicaleingo, Izta⸗ palapan, Cuitaguaca und Mizqueque auf Pfählen im Waſſer ſtünden, jo daß die Kanoen oft durch eine untere Thüre in dieſelben einlaufen könnten. Schon zu Cortez' Zeit bildete der Hügel von Chapultepec, auf welchem der Vizekönig, Graf von Calvez, ein Schloß bauen ließ, keine Inſel mehr in dem See Tezeuco. Auf dieſer Seite näherte ſich das feſte Land der Stadt Tenochtitlan um 3000 m und Cortez' Angabe von 15 km in ſeinem Briefe an Karl V. iſt nicht ganz richtig. Er hätte ſie auf die Hälfte herabſetzen ſollen, mit Aus— nahme jedoch des Teiles vom weſtlichen Ufer, wo der Por- phyrhügel von Chapultepec Liegt. Indes darf man glauben, daß dieſer Hügel einige A e früher, gleich dem Penol del Marques und dem der Los Banos, eine Inſel geweſen iſt; denn geologische Beobachtungen machen es jehr wahrſcheinlich, daß die Seen ſchon lange vor der Ankunft der Spanier und vor der Erbauung des Kanals von Huehuetoca im Abnehmen waren. Bevor die Azteken oder Mexikaner im Jahre 1325 auf einer Inſelgruppe die noch ſtehende Hauptſtadt gründeten, hatten ſie ſchon 52 Jahre hindurch einen anderen Teil des Sees bewohnt, welcher ſüdlicher liegt, mir aber von den In— dianern nicht genau genug angegeben werden konnte. Die Mexikaner verließen Aztlan 1160, kamen aber erſt nach einer Wanderung von 56 Jahren über Malinalco auf der Kor— dillere von Toluca und über Tula in das Thal von Tenoch— titlan. Zuerſt ließen ſie ſich in Zumpango, dann auf der ſüdlichen Senkung der Gebirge von Tepeyacac nieder, wo heutzutage die prächtige Kirche zur Lieben Frau von Guadalupe ſteht. Im Jahre 1245 (nach der Chronologie des Abbate Clavigero) kamen ſie nach Chapultepec; da ſie aber durch die kleinen Fürſten von Xalcotan, welche die ſpaniſchen Geſchicht— ſchreiber mit dem Königstitel beehren, unaufhörlich geneckt wurden, ſo flüchteten ſie ſich, um ihre Unabhängigkeit zu be— haupten, auf eine Gruppe von kleinen Inſeln, welche Acocolco hießen und auf dem ſüdlichſten Ende des Sees Tezcuco lagen. Hier lebten ſie ein halbes Jahrhundert hindurch in ſchrecklichem Elend, und waren gezwungen, ſich einzig und allein von Wurzeln der Waſſerpflanzen, von Inſekten und einem problematiſchen kriechenden Tiere zu nähren, das ſie Axolotl nannten und Herr Cuvier für die erſte Lebensform eines unbekannten Salamanders anſieht. Nachdem die Mexi— kaner aber in die Sklaverei der Könige von Tezeuco oder Acolhuacan gefallen waren, mußten ſie ihr Dorf auf dem Waſſer verlaſſen und ſich auf das feſte Land, nach Tizapan, flüchten. Die Dienſte, welche ſie ihren Herren in einem Kriege Herr Cuvier hat es in meinem Recueil d'observations zoologiques et d'anatomie comparee beſchrieben. Herr Dumeril glaubt, daß die, von Herrn Bonpland und mir mitgebrachten, ſehr gut erhaltenen Exemplare eine neue Gattung des Proteus ſeien. [Es iſt der Amblystoma Axolotl, Dum., oder der Siredon pisci- formis, Wagl., ein 14 em langer Molch, der ſich als Larve mit Kiemenbüſcheln fortpflanzt und in der Gefangenſchaft unter beſon— deren Verhältniſſen eine vollſtändige Metamorphoſe erleidet. — D. Herausg.] gegen die Bewohner von Kochimilco erwieſen, verſchafften ihnen die Freiheit wieder. Sie ließen ſich jetzt zuerſt in Acatzi— tzintlan, das ſie nach dem Namen ihres Kriegsgottes Meritli oder Huitzilopochtli, Mexicalzingo nannten, und ſpäter in Iztacalco nieder. Allein in Erfüllung eines Befehls, den ihnen das Orakel von Aztlan gegeben hatte, zogen ſie von Iztacalco auf die Inſeln, welche ſich dazumal oſt-nordöſtlich vom Hügel Chapultepec, auf dem weſtlichen Teile des Sees Tezeuco erhoben. Es hatte ſich unter dieſer Horde eine alte Tradition erhalten, vermöge deren ſie dem vom Schickſale beſtimmten Ziele ihrer Wanderung auf der Stelle begegnen ſollten, da ſie einen Adler auf dem Gipfel eines Nopal fin⸗ den würden, deſſen Wurzeln die Riſſe eines Felſens durch— dringe. Dieſer Nopal (Kaktus), welchen ihnen das Orakel verſprochen hatte, zeigte ſich den Azteken im Jahre 1325, dem zweiten Calli? der mexikaniſchen Zeitrechnung auf einer Inſel, auf welcher ſodann der Teocalli, oder Teopan, d. h. das Haus Gottes gegründet wurde, das die Spanier nachher den großen Tempel des Mexitli genannt haben. Der erſte Teocalli, um welchen die neue Stadt gebaut wurde, war wie der älteſte griechiſche Tempel, der des ie zu Delphi, welchen Pauſanias beſchrieben hat, von Holz g weſen. Das ſteinerne Gebäude hingegen, deſſen Architektur von Cortez und Bernal Diaz bewundert wurde, war von dem Könige Ahuitzotl im Jahre 1486 auf der nämlichen Stelle aufgeführt geworden. Es beſtand in einer Pyramidalform von 37 m Höhe, und lag mitten auf einem großen, mit Mauern eingeſchloſſenen Hofe. Man unterſchied daran fünf Stockwerke, wie an verſchiedenen Pyramiden von Sakhara, und ! Huitzilin bedeutet einen Kolibri, und opochtli was links iſt; indem dieſer Gott mit Kolibrifedern unter dem linken Fuße ab— gemalt wurde. Die Europäer haben den Namen Huitzilopochtli in Huichilobos und Vizlipuzli verdorben. Der Bruder dieſes Gottes, welcher beſonders von den Bewohnern von Tezcuco verehrt wurde, hieß Tlacahuepan-Cuexcotzin. ? Da der erſte Acatl mit dem Jahre 1519 der gewöhnlichen Zeitrechnung übereinſtimmt, jo kann der zweite Calli in der erſten Hälfte des 14. Jahrhunderts bloß das Jahr 1325, und nicht 1324, 1327 und 1341 fein, in welche der Erklärer der Raccolta di Men- doza, ſowie Siguenza, in der Citation des Boturini, und Betencourt in der des Torquemada, die Gründung Mexikos ſetzen. — 133 — beſonders an der von Mehedun. Der Teocalli von Tenoch— titlan ſtand, gleich allen ägyptiſchen, aſiatiſchen und mexi— kaniſchen Pyramiden, in genauer Richtung gegen die Him— melsgegenden, hatte eine Baſis von 97 m und war oben abgeſtumpft, daß er in der Entfernung einem ungeheuren Kubus ähnlich ſah, auf deſſen Spitze kleine, mit hölzernen Kuppeln bedeckte Altäre angebracht waren. Die Endſpitze dieſer Kuppeln erhob ſich 54 m über die Baſis des Gebäu— des oder über das Pflaſter ſeiner Einfaſſung. Dieſe Um— ſtände beweiſen die große Aehnlichkeit, welche der Teocalli mit jenem alten Denkmal von Babylon hatte, das von Strabo das Mauſoleum des Belus genannt wird, und nichts als eine dem Jupiter Belus geweihte Pyramide war. Weder der Teocalli, noch dieſes babyloniſche Gebäude waren Tem— pel in dem Sinne, welchen wir nach den Ueberlieferungen der Griechen und Römer mit dieſem Ausdrucke verbinden. Alle den mexikaniſchen Gottheiten geheiligten Gebäude waren abgeſtumpfte Pyramiden, wie das die großen, bis auf den heutigen Tag erhaltenen Denkmale von Teotihuacan, Cholula und Papantla beweiſen, und aus denen wir ſchließen können, wie die kleineren Tempel in den Städten Tenochtitlan und Tezeuco beſchaffen geweſen ſein mögen. Bedeckte Altäre ſtan— den auf den Spitzen der Teocalli und wir dürfen ſie daher wohl in die Klaſſe der Pyramidalmonumente von Aſien ſetzen, von denen man erſt kürzlich ſogar Spuren in Arkadien ge— funden hat; denn das koniſche Mauſoleum des Kalliſthus, ein wahrer Tumulus, der mit Fruchtbäumen beſetzt war, machte die Baſis eines kleinen, der Diana geweihten Tempels. Wir kennen die Materialien nicht, aus welchen der Teo— calli von Tenochtitlan gebaut war, denn die Geſchichtſchreiber berichten bloß, er ſei mit einem harten, polierten Steine über— zogen geweſen. Die ungeheuren Fragmente, welche man in— des von Zeit zu Zeit in der Gegend der heutigen Domkirche entdeckt, ſind von Porphyr, mit einem Grunde von Grünſtein, der voll Amphibolen und glasartigen Feldſpats iſt. Als man vor kurzem den Platz um die Domkirche pflaſterte, fand man in einer Tiefe von 10 bis 12 m Stücke Bildhauerarbeit. Wenige Nationen haben wohl größere Maſſen in Bewegung geſetzt als die Mexikaner. Der Kalender- und Opferſtein, welche auf dem großen Platze ſtehen, haben 8 bis 10 ebm. Die koloſſale Statue des Teoyaomiqui, die mit Hieroglyphen bedeckt iſt, und auf einer Diele des Univerſitätsgebäudes liegt, — 14 — it 2 m lang und 3 m breit. Auch hat mich der Kanonikus Gamboa verfichert, man ſei bei einer Grabung in der Nähe der Kapelle des Sagrario, neben einer ungeheuren Menge von polen, welche zum Teocalli gehörten, auch auf ein Stück Felſen mit Bildhauerarbeit geſtoßen, das 7 m Länge und 3 m Höhe gehabt, und das man umſonſt herauszuſchaf— fen verſucht habe. Einige Jahre nach der Belagerung von Tenochtitlan, welche ſich, wie die von Troja, in einer allgemeinen Zer— ſtörung der Stadt endigte, lag der Teocalli ſchon in Trüm— mern.“ Ich möchte daher glauben, daß die Außenſeite der abgeſtumpften Pyramide aus Thon beſtanden, welcher mit dem poröſen Mandelſteine, Tetzontli genannt, überzogen war. Wirklich fing man auch kurz vor dem Bau dieſes Tempels, unter der Regierung des Königs Ahuitzotl an, die Brüche dieſes zellenförmigen, poröſen Steines zu bearbeiten. Nichts war daher leichter, als Gebäude zu zerſtören, welche aus ſo leichten und ſo poröſen Materialien, als der Bimsſtein iſt, aufgeführt waren. Ueber die Dimenſionen dieſes Teocalli ſtimmen die meiſten Geſchichtſchreiber zwar miteinander über— ein,? indes dürften ſie doch wohl übertrieben fein. Allein Eines der koſtbarſten und älteſten Manuſkripte, welche in Mexiko aufbewahrt werden, iſt das Buch der Munizipalität (libro de el Cabildo). Ein ehrwürdiger und in der Geſchichte ſeines Vaterlandes ſehr bewanderter Geiſtlicher, der Pater Pichardo, aus dem Kloſter von St. Philipp Neri, hat mir dieſe Handſchrift ge— zeigt. Sie beginnt mit dem 8. März 1524, alſo drei Jahre nach der Belagerung, und ſpricht bereits von dem Platze, wo der große Tempel geſtanden hat. („La plaza adonde estaba el templo major.“ 2 Wenn die, welche uns Beſchreibungen und Zeichnungen vom Teocalli übermacht, ſtatt ſelbſt zu meſſen, nur die Angaben der Indianer hierüber benutzt haben, ſo beweiſt ihre Uebereinſtimmung weniger, als man auf den erſten Blick glauben ſollte. In allen Län: dern findet man übereinſtimmende Traditionen über die Größe der Gebäude, die Höhe der Türme, den Durchſchnitt der vulkaniſchen Krater und die Höhe der Katarakte. Der Nationalſtolz übertreibt dieſe Dimenſionen, und die Reiſebeſchreiber ſtimmen in ihren Be richten miteinander ſo lange überein, als ſie aus der nämlichen Quelle ſchöpfen. In dem einzelnen Falle hingegen, den wir vor uns haben, war die Uebertreibung wahrſcheinlich nicht ſehr ſtark, weil man aus der Zahl der Treppen, welche auf die Spitze des Gebäudes führten, ſehr leicht auf ſeine Höhe ſchließen konnte. die Pyramidalform dieſes mexikaniſchen Gebäudes, und feine große Aehnlichkeit mit den älteſten aſiatiſchen Denkmalen haben für uns weit mehr Merkwürdigkeit als ſeine Maſſe und Größe. Die alte Stadt Mexiko hing durch drei große Dämme, den von Tepeyacac (Guadalupe) von Tlacopan (Tacuba), und von Iztapalapan mit dem feſten Lande zuſammen. Cortez ſpricht von vier Dämmen, weil er ohne Zweifel die nach Chapultepec führende Straße auch dazu rechnete. Die Cal— zada von Iztapalapan hatte einen kleinen Arm, welcher Coyouacan mit dem kleinen Fort Xoloc verband, in welchem die Spanier bei ihrem erſten Einzuge vom mexikaniſchen Adel bewillkommt wurden. Robertſon ſpricht von einem Damme, der nach Tezeuco führte; aber dieſer Damm war nie vorhan— den, indem die Diſtanz dieſes Ortes viel zu groß und der öſtliche Teil des Sees viel zu tief iſt. Siebzehn Jahre nach der Gründung von Tenochtitlan, im Jahre 1338, trennte ſich, in Verfolg bürgerlicher Unruhen, ein Teil der Bewohner von dem anderen. Sie ließen ſich auf den nordweſtlich vom Tempel des Mexitli gelegenen Inſeln nieder. Die neue Stadt, welche zuerſt den Namen Kaltilolco und dann den von Tlatelolco erhielt, hatte einen von dem von Tenochtitlan unabhängigen König. In dem Mittelpunkte von Anahuac, wie auf dem Peloponnes, in La— tium und überall, wo die Civiliſation der menſchlichen Gat— tung noch im Beginnen iſt, bildete jede Stadt lange Zeit einen beſonderen Staat. Der mexikaniſche König Arayacatl! eroberte Tlatelolco und vereinigte es durch Brücken mit der Stadt Tenochtitlan. Ich habe unter den hieroglyphiſchen Manuffripten der alten Mexikaner, welche im Palaſt des Vizekönigs aufbewahrt werden, eine merkwürdige Malerei ge— funden, die den letzten König von Tlatelolco, Namens Mo— quihuix, vorſtellt, welcher auf der Spitze eines Gotteshauſes oder einer abgeſtumpften Pyramide getötet und die Treppen herabgeſtürzt wurde, die zum Opferſteine führten. Von dieſer Zeit an wurde der große mexikaniſche Markt, welcher bisher bei dem Teocalli von Mexitli gehalten worden, nach Tlate⸗ lolco verlegt. Von dieſer Stadt gilt daher die Beſchreibung, die wir nach Cortez' Bericht von dem mexikaniſchen Markte gegeben haben. Axayacatl regierte von 1464 bis 1477. — 136 — Was man heutzutage den Barrio von Santiago nennt, umfaßt nur einen kleinen Teil des alten Tlateloleo. Aber auf dem Wege, welcher nach Tenepantla und den Ahuahueten führt, geht man über eine Stunde lang zwiſchen den Ruinen der alten Stadt. Da erkennt man denn (wie auf der Straße von Tacuba und Iztapalapan), um wie viel kleiner das von Cortez wieder aufgebaute Mexiko iſt, als Tenochtitlan unter dem letzten Montezuma war. Die ungeheure Größe des Marktes von Tlatelolco, deſſen Grenzen man noch ſieht, be— weiſt gleichfalls, wie viel ſtärker die Bevölkerung der alten Stadt geweſen ſein muß. Die Indianer zeigen auf dieſem Platze eine mit Mauern eingefaßte Anhöhe. Sie bildete eines von den mexikaniſchen Theatern, in welchem Cortez wenige Tage vor dem Ende der Belagerung den berühmten Katapult (Trabuco de palo) aufſtellte, deſſen Anblick die Be: lagerten in den größten Schrecken ſetzte, ohne daß die Maſſe wegen der Ungeſchicklichkeit der Artilleriſten ſpielen konnte. Dieſe Anhöhe iſt heutzutage in der Halle der Kapelle von Santiago einbegriffen. Die Stadt Tenochtitlan war in vier Quartiere einge— teilt, welche Teopan oder Kochimilco, Atzacualco, Moyotla und Tlaguechiuchan oder Cuepopan hießen. Dieſe Einteilung hat ſich bis auf unſere Zeit in den Grenzen der Quartiere St. Paul, St. Sebaſtian, St. Johann und Santa Maria erhalten. Die gegenwärtigen Straßen haben großenteils die— ſelbe Richtung, die ſie ehemals gehabt und ziehen ſich von Norden nach Süden und von Oſten nach Weſten.! Was der neuen Stadt aber, wie wir oben bemerkt haben, einen ganz beſonderen und unterſcheidenden Charakter gibt, iſt der Um— ſtand, daß ſie ganz auf dem feſten Lande liegt, und zwar zwiſchen den Sitzen der beiden Seen Tezeuco und Kochimilco, und daß ſie das ſüße Waſſer auf ſchiffbaren Kanälen aus dem letzteren See erhält. Verſchiedene Umſtände haben dieſe neue Ordnung der Eigentlich von S. 16“ W. nach N. 74° O., wenigſtens auf der Seite des Kloſters von St. Auguſtin, wo ich die Azimute ge— nommen habe. Ohne Zweifel wurde die Richtung der alten Straßen durch die der vorzüglichſten Dämme beſtimmt. Nun iſt es aber nach der Lage der Stellen, auf denen ſie endigten, nicht wahr— ſcheinlich, daß dieſe genau die Mittagslinien und die Parallelen beobachtet haben. — 137 — Bu en de Jederzeit hatte der Teil des Salzſees, welcher zwiſchen den beiden Dämmen, dem ſüdlichen und weſtlichen liegt, am wenigſten Tiefe, und ſchon Cortez beklagte ſich, daß ſeine Flottille von ö welche er in Tezeuco hatte bauen laſſen, trotz der in den Dämmen gemachten Oeff— nungen nicht die ganze Stadt umſchiffen könne, die er gerade belagerte. Einzelne ſeichte Lachen wurden nach und nach zu Sumpfboden und dieſe verwandelten ſich endlich, nachdem ſie mit Furchen oder kleinen Ableitungskanälen durchſchnitten worden waren, in Chinampas und in urbares Land. Der See von Tezeueo⸗ von welchem Valmont de Bomare annahm, daß er mit dem Ozean in Verbindung ſtehe, ob er gleich nach meinen Meſſungen 2277 m über deſſen Spiegel erhoben liegt, hat keine beſonderen Quellen, wie der See von Chalco. Zieht man nun einerſeits die kleine Waſſermaſſei in Betrachtung, welche in dürren Jahren von ohnedies ſehr unanſehnlichen Flüſſen in dieſen See kommt und andererſeits die ungeheure Schnelligkeit der Ausdünſtung, wie ſie auf dem Plateau von Mexiko ſtatt— findet und worüber ich eine ganze Reihe von Beobachtungen an- geſtellt habe, ſo muß man annehmen, daß ſchon ſeit Jahrhun— derten der Mangel an Gleichgewicht zwiſchen dem Verluſte des verdampfenden Waſſers und der zuſtrömenden Maſſe des— ſelben nach und nach den See von Tezeuco auf engere Grenzen beſchränkt hat. Wirklich belehren uns auch die mexikaniſchen Annalen, wie dieſer Salzſee ſchon unter der Regierung des Königs Ahuitzotl des Waſſers ſo ſehr ermangelte, daß er die Schiffahrt unterbrach und daß man, um dieſem Uebelſtande zu begegnen und die Zuſtrömung des Waſſers zu vermehren, damals eine Waſſerleitung von Coyouacan nach Tenochtitlan aufführte. Dieſe Waſſerleitung brachte die Quellen von Huitzi— lopocho in mehrere Kanäle der Stadt, welche trocken lagen. Eine ſolche Verminderung des Waſſers, welche man ſchon vor der Ankunft der Spanier bemerkte, würde indes nur ſehr all- mählich und wenig fühlbar geſchehen ſein, wenn die Hände der Menſchen nicht von der Eroberung an dafür gearbeitet hätten, die Ordnung der Natur zu verändern. Wer die euro— päiſche Halbinſel durchreiſt hat, weiß, wie wenig Gefallen die Spanier an den Pflanzungen finden, welche den Umge— bungen der Städte und Dörfer Schatten geben, und es ſcheint, als ob die erſten Eroberer das ſchöne Thal von Tenochtitlan dem dürren, aller Vegetation beraubten Boden von Kaſtilien gleich zu machen geſtrebt hätten. Seit dem 16. Jahrhundert — 138 — hat man ohne alle Ueberlegung die Bäume, ſowohl auf dem Plateau, wo die Hauptſtadt liegt, als auf den dasſelbe um: gebenden Gebirgen abgehauen. Der Bau der neuen Stadt, welcher im Jahre 1524 angefangen wurde, erforderte eine Menge Holz zum Bauen und zum Pfahlwerk. Man fällte und fällt noch heutzutage, ohne nachzupflanzen, außer in der Nähe der Hauptſtadt, wo die letzten Vizekönige ihr Andenken durch Spaziergänge! (Paseos, Alamedas) verewigt haben, welche ihren Namen tragen. Der Mangel an Vegetation ſtellt den Boden natürlich dem direkten Einfluſſe der Sonnen— ſtrahlen bloß; die Feuchtigkeit, welche ſich in den ſchwammigen Baſaltmandelſtein eingeſenkt, verlor ſich natürlich nicht, aber ſie dünſtet ſchnell aus und verdampft überall, wo das Blätter— werk der Bäume oder der dicke Raſen den Einfluß der Sonne und der heißen Mittagswinde nicht verhindert, in Luft. Da dieſe Urſache im ganzen Thale gewirkt, ſo hat ſich der Ueberfluß an Waſſer und ſeine Zirkulation fühlbar ver— mindert. Der See von Tezcuco, der ſchönſte von den fünf Seen, welchen Cortez in ſeinen Briefen gewöhnlich ein Land— meer nennt, erhält in unſeren Tagen viel weniger Waſſer durch Infiltration als im 16. Jahrhundert, indem die Ur— barmachung und die Zerſtörung der Wälder überall die näm— lichen Folgen hat. Der General Andreoſſi hat in ſeinem klaſſiſchen Werke über den Kanal von Languedoc bewieſen, daß ſich die Quellen um den Behälter von St. Ferreol her bloß durch ein falſches Syſtem vermindert haben, welches in der Forſtverwaltung eingeführt wurde. In der Provinz Ca— racas trocknet der pittoresfe See von Tacarigua? allmählich aus, ſeit die Sonnenſtrahlen ungehindert auf den angebauten Boden der Thäler von Aragua treffen können. Was indes am meiſten zur Verminderung des Sees von Tezcuco beigetragen hat, iſt das berühmte offene Durch— bruchwerk, welches unter dem Namen des Desague real de Huehuetoca bekannt iſt und wovon wir in der Folge handeln werden. Dieſe Unternehmung, die zuerſt im Jahre 1607 als ein unterirdiſcher Durchbruch angefangen wurde, hat die Paseo de Buccarelli, de Revillagigedo, de Galvez und. de Asanza. Die Verminderung des Waſſers bildet hier von Zeit zu Zeit neue Inſeln (las aparecidas). Der See von Tacarigua, oder Neuvalencia, ſteht 474 m über der Meeresfläche. .— 139 — beiden im nördlichen Teile des Thales gelegenen Seen von Zumpango (Tzompango) und San Chriſtobal in ſehr enge Grenzen gezwungen und ſie auch verhindert, ihr Waſſer zur Regenzeit in das Becken vom See von Tezcuco auszugießen. Dieſes Waſſer überſchwemmte ſonſt die Ebenen und laugte die Erde aus, welche ſtark mit Kohlenſäure und Kochſalz ge— ſchwängert iſt. Heutzutage kann es hingegen keine Lachen mehr bilden und damit die Feuchtigkeit der mexikaniſchen Atmoſphäre nicht mehr vermehren, indem es durch einen künſt⸗ lichen Kanal in den Fluß Panuco und ſomit in den Atlan— tiſchen Ozean abgeleitet wird. Dieſer Zuſtand der Dinge wurde durch das Beſtreben bewirkt, die alte Stadt Mexiko in eine Hauptſtadt zu ver: wandeln, welche von Wagen befahren werden konnte und den Gefahren der Ueberſchwemmung weniger ausgeſetzt war. Wirk⸗ lich haben ſich auch Waſſer und Vegetation in der Schnellig— keit vermindert, in welcher ſich der Tequesquite (oder das kohlenſaure Mineralalkali) vermehrt hat. Zu Montezumas Zeit und noch lange nachher waren die Vorſtadt Tlatelolco, die Barrios von San Sebaſtian, San Juan und Santa Cruz wegen des ſchönen Grüns berühmt, das ihre Gärten ſchmückte; heutzutage zeigen dieſe Orte und beſonders die Ebenen von San Lazaro nichts als eine Kruſte von Salzblüte. Auch iſt die Fruchtbarkeit des Plateaus, ſo anſehnlich ſie übrigens noch im ſüdlichen Teile iſt, nicht mehr ſo groß als zu der Zeit, da ſich die Stadt mitten aus dem See erhob. Eine kluge Oekonomie des Waſſers und beſonders kleine Wäſſe— rungskanäle könnten dem Boden ſeine alte Fruchtbarkeit und einem Thale, das die Natur zur Hauptſtadt eines großen Reiches beſtimmt zu haben ſcheint, allen ſeinen Reichtum wiedergeben. Die gegenwärtigen Grenzen des Sees von Tezcuco find nicht genau beſtimmt, indem der Boden thonartig und jo eben iſt, daß er auf 7,4 km Umfang kaum zwei Dezi— meter Flächenverſchiedenheit gibt. Wehen die Oſtwinde da— her ſtark, 1 zieht ſich das Waſſer gegen das weſtliche Ufer zurück und legt oft eine Länge von mehr als 600 m ins Trockene. Vielleicht hat ein periodiſches Spiel dieſer Winde bei Cortez den Gedanken an eine regelmäßige Ebbe und Flut! veranlaßt, welcher übrigens durch neue Beobachtungen Auch der Genferſee zeigt eine ziemlich regelmäßige Bewegung — 140 — nicht beſtätigt worden iſt. Der See von Tezeuco hat im Durchſchnitte zwiſchen 3 und 5 m Tiefe und an einigen Stellen ſogar nicht mehr als 1 m. Daher leidet denn der Handel der kleinen Stadt Tezeuco in den trockenen Monaten Januar und Februar ſehr, indem die Bewohner verhindert werden, in ihren Kähnen nach der Hauptſtadt zu gehen. Dieſer Uebelſtand findet ſich beim See von Kochimilco nicht; denn von Chalco, Mesquic und Tlahuac aus iſt die Schiff⸗ fahrt nie unterbrochen und Mexiko erhält täglich auf dem Kanal von Iztapalapan Gemüſe, Früchte und Blumen im Ueberfluſſe. Von den fünf Seen im Thale von Mexiko iſt der von Tezeuco am meiſten mit Kochſalz und kohlenſaurem Mineral: alfali geſchwängert. Die ſalpeterſaure Schwererde beweiſt, daß dieſes Waſſer keine Auflöſung von Schwefelſäure enthält. Das meiſte und klarſte Waſſer tft das vom See von Fochi— milco. Ich habe ſeine ſpezifiſche Schwere zu 1,0009 gefun— den, da dis des bei einer Temperatur von 18° (den Thermo: meter zu 100°) deſtillierten Waſſers — 1,000 und die des Sees von Tezcuco = 1,0215 war. Letzteres Waſſer iſt alſo ſchwerer als das vom Baltiſchen Meere, aber leichter als das des Ozeans, welches unter verſchiedenen Breiten zwiſchen 1,0269 und 1,0285 erfunden worden iſt. Die Menge von geſchwefeltem Waſſerſtoff, welcher von allen mexikaniſchen Seen 1 und deſſen Ueberfluß in den Seen von Tezeuco und Chalco durch den Bleieſſig bewieſen wird, trägt in gewiſſen Jahreszeiten unſtreitig viel zur Ungeſundheit des Thales bei. Indes ſind die Wechſelfieber, was äußerſt merkwürdig iſt, an den Ufern dieſer Seen, deren Oberfläche zum Teil von Binſen und anderen Waſſ ſerpflanzen bedeckt iſt, ſehr ſelten. Mit einer Menge von Teocalli geziert, welche ſich, wie die Minarete zum Himmel erhoben, umgeben von Waſſer und Dämmen, auf Inſeln gebaut, die mit Vegetation bedeckt waren und bei der ewigen Bewegung mehrerer tauſend Boote, durch die der See belebt wurde, muß das alte Tenochtitlan nach dem Berichte der erſten Eroberer Aehnlichkeit mit einigen Städten von Holland und China oder mit dem Delta von Niederägypten gehabt haben. Die Hauptſtadt, welche die. Spanier auf demſelben Boden wieder aufbauten, gewährt des Waſſers, welche Sauſſure periodiſchen Winden zuſchreibt. [Die ſogenannte „Ruhs“. — D. Herausg.] — 141 — vielleicht keinen ſo lachenden, aber einen deſto impoſanteren, majeſtätiſcheren Anblick. Mexiko gehört zu den ſchönſten Städten, welche die Europäer in den beiden Hemiſphären aufgeführt haben und mit Ausnahme von Petersburg, Berlin, Philadelphia und einigen Quartieren von Weſtminſter gibt es vielleicht keine Stadt von demſelben Umfange, deren Boden ſo gleichförmig wagerecht, deren Straßen ſo breit und regel— mäßig, und deren öffentliche Plätze ſo groß wären, wie all dies bei der Hauptſtadt von Neuſpanien der Fall iſt. Die Architektur iſt im Durchſchnitte von ziemlich reinem Stile und manche Gebäude nehmen ſich wirklich ſehr ſchön aus. Das Aeußere der Häuſer iſt nicht mit Ornamenten überladen, und die beiden Arten von Quaderſteinen, der poröſe Mandel— ſtein, Tetzontli genannt und beſonders ein Porphyr mit glas— artigem Feldſpat ohne Quarz geben den mexikaniſchen Bauten ein gewiſſes Anſehen von Fertigkeit und ſelbſt von Pracht. Von den Balkonen und Galerieen, durch welche alle europäiſchen Städte beider Indien ſo ſehr entſtellt werden, weiß man hier nichts. Die Geländer und Gitter ſind von biscayſchem Eiſen mit Bronzeverzierungen. Und ſtatt der Dächer hat man wie in Italien und allen ſüdlichen Ländern Terraſſen auf den Häuſern. Seit dem Aufenthalte des Abbe Chappe im Jahre 1769 iſt Mexiko außerordentlich verſchönert worden. Das für die Bergſchule beſtimmte Gebäude, zu welchem die reichſten Männer des Landes eine Summe von mehr als 3 Millionen Franken beigeſteuert haben, würde den erſten Plätzen von Paris und London Ehre machen. Einige mexikaniſche Architekten, welche in der Akademie der ſchönen Künſte in der Hauptſtadt gebildet worden ſind, haben vor kurzem zwei große Hotels gebaut, von denen das eine, in dem Quartier Traspana gelegene, in ſeinem Hofe ein ſehr ſchönes Periſtyl von ovaler Form ent— hält. Mit allem Rechte bewundern die Reiſenden auf der Plaza Mayor von Mexiko, der Domkirche und dem Palaſte der Vizekönige gegenüber eine große mit viereckigen Platten von Porphyr gepflaſterte Einfaſſung, deren Gitter reich mit Bronze verziert ſind und auf deren Mitte die Statue Karls IV.! »Dieſe koloſſale Statue, von welcher oben die Rede war, wurde auf Koſten des Marquis von Branciforte, vormaligen Vizekönigs von Mexiko und Schwagers des Friedensfürſten ausgeführt. Sie hat 450 Quintale Gewicht und wurde von Herrn Tolſa, deſſen Name eine ausgezeichnete Stelle in der Geſchichte der ſpaniſchen — 142 — zu Pferde auf einem Piedeſtal von mexikaniſchem Marmor ſteht. Bei allen Fortſchritten, welche die ſchönen Künſte ſeit 30 Jahren in dieſem Lande gemacht haben, iſt indes unleug— bar, daß die Hauptſtadt von Mexiko einem Europäer weniger wegen der Größe und Schönheit ihrer öffentlichen Denkmale, als wegen der Breite und Geradheit ihrer Straßen, weniger wegen ihrer einzelnen Gebäude als wegen ihrer übereinſtim— menden Regelmäßigkeit, ihrer Ausdehnung und Lage auffallen wird. Durch ein Zuſammentreffen ungewöhnlicher Umſtände ſah ich in ſehr kurzer Zeit hintereinander Lima, Mexiko, Philadelphia, Waſhington, Paris, Rom, Neapel und die größten Städte von Deutſchland. Vergleicht man ſchnell auf: einander folgende Eindrücke miteinander, ſo iſt man oft im⸗ ſtande, eine Meinung, der man ſich zu unbedachtſam überlaſſen hatte, zu berichtigen. Allein trotz allen Vergleichungen, welche der Hauptſtadt von Mexiko nicht durchgängig günſtig ſein könnten, hat ſie eine Idee von Größe in meinem Gedächt— niſſe zurückgelaſſen, welche ich beſonders dem impoſanten Cha⸗ rakter ihrer Lage und der ſie umgebenden Natur zuſchreiben muß. Wirklich iſt auch das Gemälde, welches das Thal an einem ſchönen Sommermorgen und bei dem wolkenloſen, dunfel: azurnen Himmel, der der trockenen und dünnen Luft hoher Bildhauerei verdient, modelliert, gegoſſen und aufgeſtellt. Das Verdienſt dieſes höchſt talentvollen Mannes kann nur von denen nach ſeinem ganzen Werte geſchätzt werden, welche die Schwierig⸗ keiten kennen, die ſelbſt in dem civiliſierten Europa mit der Aus: führung ſo großer Kunſtwerke verbunden ſind. Nach dem Plane, welcher für die Stadt Waſhington ent: worfen worden iſt, und nach der Pracht ſeines Kapitols zu urteilen, von dem ich nur einen Teil geendigt geſehen habe, wird Federal City dereinſt ohne Zweifel ſchöner werden als Mexiko. Philadel⸗ phia iſt ebenſo regelmäßig gebaut, und die Alleen von Platanus, Acacia und Popolus heterophylla, welche ſeine Straßen zieren, geben dieſer Stadt eine beinahe ländliche Schönheit. Die Vege⸗ tation der Ufer des Potomac und Delaware iſt viel reicher als die, welche man in einer Höhe von mehr als 2300 m auf dem Rücken der Mexikaniſchen Kordilleren findet. Waſhington und Phila⸗ delphia werden indes immer nur europäiſchen Städten ähnlich ſehen und den Reiſenden nicht durch jenen eigentümlichen, ich möchte ſagen, exotiſchen Charakter überraſchen, welchen Mexiko, Santa Fe de Bogota, Quito und alle Hauptſtädte darſtellen, welche in den Tropenländern auf den Höhen der Großen Vernhardsſtraße und noch höher gebaut ſind. — 13 — Gebirge eigen iſt, von einem der Türme des Domes von Mexiko oder von dem Hügel von Chapultepec herab betrachtet, darſtellt, von wunderbarem Reichtum und ſeltener Mannig— faltigkeit. Eine ſchöne Vegetation umgibt dieſen Hügel. Alte Cypreſſenſtämme! von mehr als 15 bis 16 m Umfang er: heben ihre blätterloſen Scheitel über die Spitzen der Schinus, deren Wuchs den odrientaliſchen Thränenweiden ähnlich it. Von dieſer einſamen Stelle auf der Höhe des Porphyrfelſens von Chapultepec herab beherrſcht das Auge eine ungeheure Ebene und die herrlich angebauten Gefilde, welche ſich bis zu den koloſſalen Gebirgen, auf welchen der ewige Schnee liegt, erſtrecken. Die Stadt ſcheint von dem See von Tezcuco ge: netzt, deſſen Umgebungen von Dörfern und Weilern an die ſchönſten Partieen der Art in der Schweiz erinnern. Große Alleen von Ulmen und Pappeln führen auf allen Seiten nach der Stadt; zwei Waſſerleitungen durchſchneiden auf ſehr hohen Bogen die Ebene und gewähren einen ebenſo angenehmen als merkwürdigen Anblick. Gegen Norden zeigt ſich das prächtige Kloſter der Lieben Frau von Guadalupe, wie es ſich an die Gebirge von Tepeyacac lehnt, zwiſchen Schluchten, welche Dattelpalmen und baumähnliche Nukka beherbergen. Gegen Süden iſt das ganze Land zwiſchen San Angelo, Tacubaya und San Aguſtin de las Cuevas, einem ungeheuren Garten von Orangen, Pfirſichen, Aepfeln, Kirſchen und anderen euro— päiſchen Obſtbäumen ähnlich. Dieſe herrliche Kultur macht einen großen Kontraſt mit den kahlen Gebirgen, welche das Thal einſchließen und unter denen ſich die berühmten Vulkane von Puebla, Popocatepetl und Iztaccihuatl auszeichnen. Der erſte unter dieſen Bergen bildet einen ungeheuren Kegel, deſſen Krater unaufhörlich in Flammen iſt und aus der Mitte des ewigen Schnees Rauch und Aſche auswirft. Auch die gute Polizei, welche in Mexiko herrſcht, zeichnet dieſe Stadt rühmlich aus. Die meiſten Straßen haben auf beiden Seiten ſehr breite Trottoirs, ſind ſehr reinlich und des Nachts durch Spiegellaternen mit platten Dochten in Bänderform erleuchtet. Dieſe Vorteile verdankt die Stadt der Thätigkeit des Grafen von Revillagigedo, bei deſſen An— kunft noch die äußerſte Unreinlichkeit geherrſcht hatte. In ſehr geringer Tiefe findet man überall auf dem Boden von Mexiko Waſſer; es iſt aber ein wenig ſalzig, wie ! Los Ahuahuetes. Cupressus disticha, Linn, das vom See Tezcuco. Die beiden Waſſerleitungen, welche der Stadt ſüßes Waſſer zuführen, ſind von neuer Architek⸗ tur, aber der Aufmerkſamkeit jedes Reiſenden würdig. Die Quellen von trinkbarem Waſſer befinden ſich öſtlich von der Stadt, die eine auf dem kleinen, iſolierten Berge von Chapul- tepec und die andere auf dem Cerro de Santa Fs, bei der Kordillere, welche das Thal von Tenochtitlan von dem von Lerma und Toluca ſcheidet. Die Bogen der Waſſerleitung von Chapultepec dehnen ſich in einer Länge von 3300 m. Ihr Waſſer kommt auf der Südſeite der Stadt, bei dem Salto del Agua herein, iſt aber nicht ſehr klar und wird nur in den Vorſtädten von Mexiko getrunken. Am wenigſten mit luftſaurer Kalkerde geſchwängert iſt das Waſſer des Aquäduktes von Santa Fe, welcher ſich längs der Alameda hinzieht und bei der Traspana vor der Brücke von Marescala endigt. Dieſe Waſſerleitung hat beinahe 10 200 m Länge; allein die Senkung des Bodens machte nur für ein Drittel ihrer Aus— dehnung Bogen nötig. Ebenſo beträchtliche Waſſerleitungen hatte die alte Stadt Tenochtitlan. Beim Anfange der Be— lagerung zerſtörten die beiden Hauptleute Alvarado und Olid die von Chapultepec. Cortez redet in ſeinem erſten Briefe an Karl V. auch von der Quelle von Amilco bei Churubusco, deren Waſſer in Röhren von gebrannter Erde in die Stadt geführt wurde. Dieſe Quelle befindet ſich ganz nahe bei Santa Fe und man erkennt die Reſte dieſer großen Waſſer⸗ leitung noch, welche doppelte Röhren hatte, von denen die eine das Waſſer nach der Stadt führte, während die andere gereinigt wurde. Dieſes Waſſer wurde in den Kähnen ver: Der größte und ſchönſte Bau der Art, welchen die Einge— borenen aufgeführt haben, iſt die Waſſerleitung der Stadt Tezeuco. Noch ſieht man die Spuren eines großen Dammes, welcher, um die Waſſerfläche zu erhöhen, aufgeführt wurde. Wie ſollte man aber überhaupt die Induſtrie und die Thätigkeit nicht bewundern, welche die alten Mexikaner und Peruaner in der Bewäſſerung dürrer - Gegenden gezeigt haben! In dem Uferteile von Peru habe ich Ueber— bleibſel von Mauern geſehen, auf welchen das Waſſer in einer Länge von 5000 bis 6000 m von dem Fuße der Kordillere bis nach den Küſten geführt wurde. Die Eroberer des 16. Jahrhunderts zerſtörten dieſe Werke, und dieſer Teil von Peru iſt, wie Perſien, zu einer Wüſte ohne Vegetation geworden. Dies iſt die Civili— ſation, welche die Europäer den Völkern gebracht haben, welche ſie Barbaren zu nennen ſtolz genug waren! kauft, die in den Straßen von Tenochtitlan herumfuhren. Die Quellen von San Agoſtin de las Cuevas ſind indes die ſchönſten und klarſten. Auch glaubte ich, auf dem Wege von dieſem ſchönen Dorfe nach Mexiko Spuren einer alten Wafjer: leitung zu erkennen. Wir haben weiter oben die vorzüglichſten Dämme ge— nannt, durch welche die alte Stadt mit dem feſten Lande zu— ſammenhing. Dieſe Dämme ſind zum Teil noch vorhanden, und man hat ihre Anzahl ſogar noch vermehrt. Sie ſind heutzutage große gepflaſterte Heerſtraßen, welche durch Sumpf— boden fuͤhren, und weil ſie ſehr hoch ſind, den doppelten Vorteil haben, dem Wagenfuhrwerk zu dienen und den Ueber⸗ ſchwemmungen der Seen Einhalt zu thun. Die Calzada von Iztapalapan iſt auf denſelben alten Damm gegründet, auf welchem Cortez in den Gefechten mit den Belagerten Wunder von Tapferkeit gethan hat. Die Calzada von San Anton zeichnet ſich noch heutzutage durch die vielen kleinen Brücken aus, welche die Spanier und die Tlaxcalteken darauf fanden, als Cortez' Waffengefährte, Sandoval, bei Coyouacan ver— wundet wurde. Die Calzadas von San Antonio Abad, de la Piedad, de San Chriſtobal und de Guadalupe (ehemals der Damm von Tepeyacac genannt) wurden nach der großen Ueberſchwemmung von 1604, unter dem Vizekönig Don Juan de Mendoza y Luna, Marquis von Montesclaros, wieder ganz neu aufgebaut. Die einzigen Gelehrten des Landes zu jener Zeit, die Patres Torquemada und Geronimo de Zarate, be— ſorgten die Nivellierung und die Ausſteckung der Straßen. In dieſe Periode fällt auch die erſte Pflaſterung der Stadt Mexiko; denn vor dem Grafen von Revillagigedo hatte ſich noch kein Vizekönig mit ſo vielem Erfolge mit der Polizei beſchäftigt als der Marquis von Montesclaros. Die Gegenſtände, welche die Aufmerkſamkeit der Reiſen— den gewöhnlich am meiſten anziehen, ſind 1) die Kathedral— kirche. Ein kleiner Teil derſelben iſt in dem gewöhnlich ſogenannten gotiſchen Stile erbaut; das Hauptgebäude hin— gegen, das zwei mit Pilaſtern und Statuen gezierte Türme hat, von ſchöner Anordnung und noch ziemlich neu. 2) Die Münze. Sie ſtößt an den Palaſt der Vizekönige, und in ihr wurden ſeit dem Anfange des 16. Jahrhunderts über ſechs Milliarden und eine halbe in Gold- und Silbergeld ge— ſchlagen. 3) Die Klöſter, unter denen ſich beſonders das Kloſter von Sankt Franziskus auszeichnet, das bloß in A. v. Humboldt, Neuſpanien. I. 10 — 146 — Almoſen ein jährliches Einkommen von einer halben Million Franken hat. Dieſes große Gebäude ſollte anfänglich auf den Ruinen vom Tempel des Huitzilopochtli erbaut werden; da dieſe aber zum Bau der Kathedralkirche beſtimmt wurden, ſo fing man das Kloſter im Jahre 1531 auf ſeiner heutigen Stelle an. Es verdankt ir Daſein der großen Thätigkeit eines Laienbruders, Fray Pedro de Gante, eines außerordent— lichen Menſchen, den man für einen natürlichen Sohn Kai⸗ ſers Karl V. ausgibt, und welcher der Wohlthäter der Indianer geworden iſt, indem er ſie zuerſt die nützlichſten mechaniſchen Künſte der Europäer gelehrt hat. 4) Das Hoſpi⸗ tium, oder vielmehr die beiden vereinigten Hoſpizien, von denen das eine 600 und das andere 800 Kinder und alte Leute unterhält. Dieſe Anſtalt, in welcher ziemlich viel Ord— nung und Reinlichkeit, aber wenig Induſtrie herrſcht, hat 250000 Franken Einkommen. Ein reicher Kaufmann hat ihr neulich in ſeinem Teſtamente ſechs Millionen Franken vermacht, welche die königliche Schatzkammer mit dem Ver— ſprechen in Beſchlag nahm, ein Intereſſe von fünf Prozent davon zu bezahlen. 5) Die Acordada, ein ſchönes Gebäude, deſſen Gefängniſſe meiſt geräumig und luftig ſind. Man zählt in dieſem Hauſe und in den übrigen von der Acor— dada abhängigen Gefängniſſen über 1200 Perſonen, unter denen ſich eine Menge von Schleichhändlern und die unglüd: lichen gefangenen Indianer befinden, die man aus den Pro- vincias internas nach Mexiko ichleppt (Indios Mecos) und von welchen oben die Rede war. 6) Die Bergſchule, das neue, erſt angefangene Gebäude und die alte proviſoriſche Anſtalt, mit ihren ſchönen phyſikaliſchen, mechaniſchen und mineralogiſchen Sammlungen. 7) Der botaniſche Garten, in einem der Höfe des vizeköniglichen Palaſtes, zwar ſehr klein, aber äußerſt reich an ſeltenen oder für Induſtrie und Handel merkwürdigen vegetabiliſchen Produkten. 8) Die Ge— bäude der Univerſität und der öffentlichen Bibliothek, welche einer ſo großen und alten Anſtalt nicht würdig iſt. 9) Die Akademie der ſchönen Künſte, mit einer Sammlung von Gipsabgüſſen. 10) Die Statue König Karls IV. zu Pferde auf der Plaza Mayor, und 11) das Grabmal, welches der Herzog von Monteleone dem großen Cortez in einer Kapelle des Hoſpitals de las Naturales errichten ließ. Es iſt ein einfaches Familienmonument, mit einer Büſte in Bronze, welche den Helden in einem reiferen Alter darſtellt, und von — 147 — Herrn Tolſa ausgeführt worden iſt. Durchreiſt man das ſpaniſche Amerika von Buenos Ayres bis Monterey, und von Trinidad und Portorico bis nach Panama und Veragua, nirgends findet man ein Nationaldenkmal, das die öffentliche Dankbarkeit dem Ruhme des Chriſtoph Colombo und des Hernan Cortez errichtet hätte! Wer ſich dem Studium der Geſchichte und der mexika— niſchen Altertümer ergibt, findet in der Hauptſtadt keine der Trümmer großer Bauten, wie man ſie in Peru, in den Umgebungen von Cuzco und Huamachuco, zu Pachacamac bei Lima, oder zu Manſiche bei Truxillo; in der Provinz Quito am Canar und am Cayo; und in Mexiko bei Mitla und Cholula, in den Intendantſchaften von Oajaca und Puebla antrifft. Ueberhaupt ſcheint es, daß die Azteken keine anderen Denkmale gehabt, als die Teocalli, deren bizarre Form wir oben angegeben haben. Nun hatte freilich ſchon der chriſtliche Fanatismus ein großes Intereſſe, dieſe Denkmale zu zerſtören; allein auch die Sicherheit des Siegers machte dieſe Zerſtörung notwendig. Sie geſchah zum Teil während der Belagerung ſelbſt, weil dieſe abgeſtumpften Pyramiden mit Terraſſen den Streitern zu Zufluchtsorten dienten, wie der Tempel des Baal⸗Berith den Völkern von Kanaan. Sie waren ebenſo viele Schlöſſer, aus denen man den Feind vertreiben mußte! Die Privathäuſer betreffend, welche uns die ſpaniſchen Geſchichtſchreiber als ſehr niedrig ſchildern, ſo dürfen wir uns nicht wundern, daß wir bloß noch die Grundſteine oder ſehr niedriges Mauerwerk davon finden, wie man es in dem Bario de Tlatelolco und gegen den Kanal von Iſtacolco zu ſieht. Wie wenige kleine Häuſer gibt es ſelbſt in den europäiſchen Städten, deren Bau bis ins 16. Jahrhundert aufſteigt? Indes ſind die mexikaniſchen Gebäude nicht Alters wegen in Trümmer gefallen, ſondern die ſpaniſchen Eroberer, welche derſelbe Zerſtörungsgeiſt beſeelte, den die Römer bei Syrakus, in Karthago und in Griechenland gezeigt haben, glaubten die Belagerung einer mexikaniſchen Stadt nicht früher vollendet zu haben, als bis ſie alle ihre Gebäude der Erde gleich gemacht hatten. Cortez ſpricht in ſeinem dritten Briefe an Kaiſer Karl V. das ſchreckliche Syſtem ſelbſt aus, welches er in ſeinen militäriſchen Operationen beobachtete. „Trotz aller dieſer Vorteile,“ ſagt er, „die wir davongetragen, ſah ich doch wohl, daß die Einwohner der Stadt Temirtitan (Tenochtitlan) ſo aufrühreriſch und hartnäckig waren, daß ſie — 148 — lieber alle zu Grunde gehen als ſich ergeben wollten. Ich wußte daher nicht mehr, was ich für Mittel anwenden ſollte, um uns ſo viele Gefahren und Beſchwerden zu erſparen, und um die Hauptſtadt nicht völlig zu Grunde zu richten, die das ſchönſte Ding von der Welt war (a la ciudad, porque era la mas hermosa cosa del mundo). Umſonſt verſicherte ich ſie, daß ich mein Lager nicht aufheben, meine Flottille von Brigantinen nicht zurückziehen, und daß ich nicht aufhören würde, ſie zu Waſſer und zu Lande zu bekriegen, bevor ich nicht Meiſter von Temixtitan wäre. Vergebens bemerkte ich ihnen, daß ſie keine Hilfe mehr erwarten dürften, und daß es keinen Winkel der Erde gebe, woher ſie Mais, Fleiſch, Früchte und Waſſer erhalten könnten. Je mehr wir ſie an— mahnten, deſto mehr bewieſen ſie uns, daß ſie den Mut nicht verloren hätten, und ſie ſehnten ſich nach nichts anderem als nach dem Kampfe. Da die Sachen ſo ſtanden, erwog ich, wie wir nun ſchon über 40 bis 50 Tage die Stadt angegriffen, und entſchloß mich endlich, ein Mittel zu ergreifen, das unſere Sicherheit begünſtigte und in den Stand ſetzte, die Feinde noch enger einzuſchließen. Ich nahm mir daher vor, wie viele Zeit und Arbeit es uns auch koſten möchte, ſo wie wir uns einer Straße bemeiſtert hätten, auf beiden Seiten die Häuſer niederreißen zu laſſen, und zwar dermaßen, daß wir keinen Schritt vorwärts thun ſollten, ohne zuvor alles hinter uns zertrümmert und das Waſſer in feſtes Land verwandelt zu haben.“ Zu dieſem Zweck verſammelte ich die Herren und Häupter unſerer Alliierten, that ihnen meinen Entſchluß kund, und befahl ihnen, eine große Menge Arbeiter mit ihren Coas, welche den Hacken ähnlich ſind, die man in Spanien bei Aus— grabungen braucht, kommen zu laſſen. Unſere Alliierten und Freunde billigten meinen Entwurf, indem ſie hofften, daß ihr langgehegter Wunſch erfüllt und die Stadt von Grund aus zerſtört werden würde. So vergingen drei bis vier Tage Accordè de tomar un medio para nuestra seguridad y para poder mas estrechar a los enemigos; y fue que como fuesemos ganando por las calles de la ciudad, que fuesen derocando todas las casas de ellas, de un lado y del otro; por manera, que no fuesemos un paso adelante sin la de- jar todo asolado, y que lo que era agua hacerlo tierra firme; aunque hobiese toda la dilacion que se pudiese seguir. — 149 — ganz ohne Gefecht; weil wir auf die Ankunft der Landleute warteten, die uns in dem Zerſtörungsgeſchäfte Beiſtand leiſten mußten.“ Nach dieſer meiner Erzählung, welche Cortez im dritten Brief an ſeinen Souverän entwirft, darf man ſich nicht dar— über wundern, daß man beinahe keine Spur alter mexikani— ſcher Gebäude mehr antrifft. Cortez erzählt, daß die Einge— borenen, um die vielen Bedrückungen zu rächen, die ſie unter den aztekiſchen Königen erduldet hatten, ſo wie ſie von dem Zerſtörungsgeſchäft der Hauptſtadt hörten, in größter Anzahl und aus den entfernteſten Provinzen herbeikamen, um dabei hilfreiche Hand anzulegen. Die Trümmer der abgeriſſenen Gebäude dienten dazu, die Kanäle auszufüllen, und die Straßen wurden trocken gelegt, damit die ſpaniſche Kavallerie agieren konnte. Die Häuſer waren niedrig, wie in Peking in China, und teils von Holz, teils aus Tetzontli, einem leichten, zerbrechlichen, ſchwammigen Stein gebaut. „Ueber 50000 Sn: dianer,“ ſagt Cortez, „halfen uns an dem Tage, da wir über ganze Haufen von Leichnamen hin endlich die große Straße von Tacuba erreichten, und das Haus des Königs Guatimucin! verbrannten. Auch geſchah gar nichts anderes, als Sengen und Brennen. Die aus der Stadt ſagten unſeren Alliierten (den Tlaxtalteken), daß ſie unrecht thäten uns zu helfen, indem ſie dereinſt dieſe Häuſer doch wieder ſelbſt würden aufbauen Der wahre Name dieſes unglücklichen Königs, des letzten von der aztekiſchen Dynaſtie iſt Quauhtemotzin. Er iſt derſelbe, dem Cortez die Fußſohlen in Oel tauchen und nach und nach ver— brennen ließ. Allein dieſe Folter brachte ihn doch nicht dahin, daß er bekannt hätte, wo er ſeine Schätze verborgen. Sein Ende war, wie das des Königs von Acolhuacan (Tezeuco) und von Tetle— panguetzaltzin, Königs von Tlacopan (Tacuba). Dieſe drei Fürſten wurden an einem Baume aufgehangen, und zwar, um ihre Qualen zu verlängern, an den Füßen, wie ich auf einem hieroglyphiſchen Gemälde geſehen habe, das im Beſitz des Paters Pichardo (im Kloſter von San Felipe Neri) iſt. Dieſe Grauſamkeit Cortez', welche neuere Geſchichtſchreiber niederträchtig genug waren, für eine Handlung vorſichtiger Politik anzuſehen, verurſachte in der Armee ſelbſt Murren. „Der Tod des jungen Königs,“ ſagt Bernal Diaz del Caſtillo (ein alter Soldat voll Rechtlichkeit und Naivität im Ausdruck), „war eine ſehr ungerechte Sache. Auch wurde ſie von uns allen, die wir auf dem Marſche nach Comajahua in des Kapi— täns Gefolge waren, getadelt.“ — 150 — müſſen, und dies entweder für die Belagerten, wenn ſie Sieger würden, oder für uns Spanier, die wir ſie wirklich bereits gezwungen haben, das, was zerſtört worden iſt, wie— der aufzuführen.“ Ich habe das Libro del Cabildo, eine Handſchrift, von welcher oben die Rede war, und die die Geſchichte der neuen Stadt Mexiko von 1524 bis 1529 ent⸗ hält, durchlaufen und auf allen Seiten faſt nichts als die Namen der Perſonen gefunden, welche vor den Alquafits er— ſchienen, „um den Platz (Solar) zu fordern, auf welchem zuvor das Haus dieſes oder jenes mexikaniſchen Großen geſtanden hatte.“ Noch heutzutage iſt man ſogar damit beſchäftigt, die alten Kanäle, welche verſchiedene Straßen der Hauptſtadt durch— ſchneiden, auszutrocknen und zuzufüllen. Die Anzahl di:fer Kanäle hat ſich beſonders ſeit der Regierung des Grafen von Galvez vermindert, unerachtet ſie wegen der außerordentlichen Breite der Straßen den Wagen weit weniger hinderlich ſind als in den meiſten holländiſchen Städten. Unter die unbedeutenden Reſte mexikaniſcher Altertümer, welche den unterrichteten Reiſenden ſowohl in der Stadt ſelbſt, als in ihren Umgebungen intereſſieren mögen, kann man die Trümmer von den Dämmen (Albaradones) und Waſſerleitungen der Azteken zählen; ferner den ſogenannten Opferſtein, mit einem Basrelief, das den Triumph eines mexikaniſchen Königs vorſtellt; die koloſſale Statue der Göttin Teoyaomiqui, welche in einer der Galerien des Univerſitäts— gebäudes auf dem Rücken liegt und gewöhnlich mit drei bis vier Zoll Staub bedeckt iſt; die aztekiſchen Handſchriften, oder vielmehr hieroglyphiſchen Gemälde, die auf Agavenpapier, Hirſchhäuten und baumwollenen Zeugen gemalt ſind (eine koſtbare Sammlung, welche man dem Ritter Boturini! unge— rechterweiſe abgenommen hat, die überdies in den Archiven der Vizekönige ſehr ſchlecht aufbewahrt iſt und in jeder Figur die verirrte Einbildungskraſt eines Volkes bezeugt, welches mit Wohlgefallen die zuckenden Herzen von Menſchenopfern Rieſen und Ungeheuern ähnlichen Göttern darbringen ſah); die Grundmauern vom Palaſte der Könige von Acolhuacan in Tezeuco; das koloſſale Relief auf der weſtlichen Seite des Porphyrfelſens, Penol de los Banos genannt; und mehrere Verfaſſer des ſcharfſinnigen Werkes: Ydea de una nueva, historia general de la America septentrional, por el Cabellero Boturini. i — 151 — andere Gegenſtände, die den unterrichteten Beobachter an In— ſtitutionen und Werke der Völker vom mongoliſchen Stamme erinnern, und deren Beſchreibung und Zeichnungen in der hiſtoriſchen Darſtellung meiner Reiſe nach den Aequinoktial— gegenden des neuen Kontinents werden mitgeteilt werden. Die einzigen alten Denkmale im Thale von Mexiko, welche einem Europäer durch ihre Größe und Maſſe auffallen können, ſind die Reſte der beiden Pyramiden von San Juan de Teotihuacan, nordöſtlich vom See von Tezeuco. Sie waren der Sonne und dem Monde geweiht und wurden von den Eingeborenen Tonatiuh Ytzaqual, Haus der Sonne, und Meztli Ytzaqual, Haus des Mondes, genannt. Nach den Meſſungen, welche im Jahre 1803 von einem jungen meri- kaniſchen Gelehrten, dem Doktor Oteyza angeſtellt worden ſind, hat die erſte Pyramide, die am ſüdlichſten gelegene, in ihrem gegenwärtigen Zuſtande eine Baſis von 208 m Länge, und 55 m (66 mexikaniſche Varen!) perpendikuläre Höhe. Die zweite, die Mondpyramide, iſt um 11 m niedriger und hat auch eine kleinere Baſis. Nach dem Berichte der früheſten Reiſenden und nach ihrer heutigen Form ſelbſt zu urteilen, haben dieſe Denkmale den aztekiſchen Teocalli zum Muſter gedient. Die Völker, welche dieſes Land bei der Ankunft der Spanier bewohnten, ſchrieben die Pyramiden von Teoti— huacan? der toltekiſchen Nation zu, und ihre Erbauung ſtiege demnach bis ins 8. oder 9. Jahrhundert hinauf, indem Tol— lans Reich von 667 bis 1031 gedauert hat. Die Seiten dieſer Gebäude ſtehen, auf etwa 52“, genau von Norden Velasquez hat gefunden, daß die mexikaniſche Vara 31 Zoll vom alten königlichen Fuß von Paris — 0,32 m hätte. Die nördliche Faſſade des Hotels der Invaliden in Paris hat nicht mehr als 195 m Länge. 2 Siguenza hält ſie indes in ſeinen handſchriftlichen Bemer— kungen für ein Werk der olmekiſchen Nation, Matlacueje, welche um die Sierra von Tlaxcala herum wohnten. Wäre dieſe Hypo— theſe, deren hiſtoriſcher Grund uns unbekannt iſt, wahr, ſo erhielten dieſe Denkmale ein noch höheres Alter, indem die Olmeken zu den älteſten Völkern gehören, deren die aztekiſche Chronologie in Neu— ſpanien erwähnt. Man behauptet ſogar, daß dies die einzige Nation ſei, deren Wanderung nicht von Nord und Nordweſt her, (vom aſiatiſchen Mongolien?), ſondern von Oſten her (Europa?) gegangen iſt. — 152 — nach Süden und von Oſten nach Weſten. Ihr Inneres be— ſteht aus Thon mit einer Miſchung von kleinen Steinen. Dieſer Kern iſt mit einer dicken Mauer von poröſem Mandel⸗ ſtein bedeckt, und man erkennt noch die Spuren einer Kalk— lage, womit die Steine (der Tetzontli) überzogen waren. Einige Schriftſteller des 16. Jahrhunderts behaupten nach einer indianiſchen Tradition, daß das Innere dieſer Pyrami⸗ den hohl ſei. Indes verſichert der Chevalier Boturini, daß der mexikaniſche Geometer Siguenza vergebens den Verſuch gemacht habe, dieſe Gebäude durch eine Galerie zu durch— brechen. Sie bildeten vier Terraſſen, von denen heutzutage indes nur noch drei ſich erkennen laſſen, indem die Zeit und die Vegetation der Kaktus und Agaven ſehr zerſtörend auf das Aeußere De Denkmale gewirkt haben. Eine Treppe von großen Quadern führte ehemals auf die Spitze, wo nach dem Berichte der früheſten Reiſenden, Statuen aufgeſtellt waren, deren Ueberzug aus ſehr dünnen Goldplatten beſtand. Jede der vier Hauptterraſſen war in kleine Stufen von etwa einem Meter Höhe abgeteilt, deren Fugen man noch unter: ſcheiden kann. Dieſe Stufen ſind mit Stücken von Obſidian bedeckt, welche ohne Zweifel Schneideinſtrumente waren, wo— mit die toltekiſchen und aztekiſchen Prieſter (Papahua⸗ Tle⸗ macazque oder Teopixqui) in ihrem grauſamen Götterdienſte den menſchlichen Schlachtopfern die Bruſt öffneten. Es iſt bekannt, daß der Obſidian (Itztli) in großer Menge gebrochen wurde, und man ſieht die Spuren ſolcher 12 noch in vielen Brunnen zwiſchen den Bergwerken von Moran und dem Dorfe Atotonilco el Grande, in den Porphyrgebirgen von Oyamel und Jacal, eine Gegend, welche die Spanier das Meſſergebirg, el Cerro de las Navajas nennen.!“ Man wünſchte wohl die Frage aufgelöſt, ob dieſe merk— würdigen Gebäude, von denen das eine (der Tonatiuh ba: qual) nach den genauen Meſſungen meines Freundes Herrn Oteyza eine Maſſe von 128 970 Kubiktoiſen enthält, ganz von Menſchenhänden erbaut ſind oder ob die Tolteken bloß irgend einen natürlichen Hügel benutzt und mit Steinen und Kalk überzogen haben. Dieſe Frage iſt neulich, bei Gelegen— 255 N Pyramiden von Gizeh und Sakhara, in Anz Die Höhe des Jacals über die Meeresfläche habe ich zu 3124 m, und die der Roca de las Ventanas, am Fuße des Cerro de las Navajas, zu 2950 m gefunden. regung gekommen, und durch die phantaſtiſchen Hypotheſen, welche Herr Witte über den Urſprung der koloſſalen Monu— mente von Aegypten, Perſepolis und Palmyra gewagt hat, doppelt merkwürdig geworden. Da weder die Pyramide von Cholula, von der wir in der Folge reden werden, noch die von Teotihuacan durchbrochen worden ſind, ſo kann man un⸗ möglich etwas Zuverläſſiges von ihrem Inneren ſagen. Die indianiſchen Traditionen, denen zufolge ſie hohl ſein ſollen, ſind unbeſtimmt und widerſprechend. Durch ihre Lage in Ebenen. wo ſich ſonſt kein Hügel findet, wird es ſogar wahr: ſcheinlich, daß kein natürlicher Fels den Kern dieſer Denk— male ausmacht. Was indes noch ſehr bemerkenswert iſt (beſonders wenn man ſich an Pocockes Behauptungen über die ſymmetriſche Stellung der ägyptiſchen Pyramiden erinnert), liegt in dem Umſtande, daß man rings um die Häuſer der Sonne und des Mondes von Teotihuacan eine Gruppe, ich möchte ſagen ein Syſtem von Pyramiden findet, welche kaum 9 bis 10 m Höhe haben. Dieſe Denkmale, deren es mehrere Hunderte ſind, ſtehen in ſehr breiten Straßen, welche genau der Richtung der Parallelen und Meridiane folgen, und ſich auf die vier Seiten der zwei großen Pyramiden eröffnen. Auf der Südſeite des Mondtempels ſind dieſe kleinen Pyra— miden häufiger als auf der des Sonnentempels; auch waren ſie ja nach der Tradition des Landes den Sternen geweiht. Indes ſcheint es gewiß, daß ſie Gräber der Stammhäupter geweſen ſind. Dieſe ganze Ebene, welche die Spanier, nach einem Worte aus der Sprache der Inſel Cuba, Llano de los Cues nennen, hatte einſt in den aztekiſchen und toltekiſchen Sprachen den Namen Micaotl, Weg der Toten. Welche Aehn— lichkeiten mit den Denkmalen des alten Kontinents! Woher hatte dieſes toltekiſche Volk, welches nach ſeiner Ankunft auf dem Boden von Mexiko im 7. Jahrhundert nach einem gleihförmigen Plane mehrere dieſer Denkmale von koloſſaler Form. dieſe abgeſtumpften und in verſchiedene Terraſſen, wie der Tempel des Belus in Babylon, abgeteilte Pyramiden erbaute, woher hatte es das Vorbild zu dieſen Gebäuden erhalten? War es vom mongoliſchen Stamme? Und war es von demſelben Urſprunge wie die Chineſen, die Hiong-nu und die Japaner? Ein anderes altes, der Aufmerkſamkeit der Reiſenden ſehr würdiges Denkmal iſt die militäriſche Verſchanzung von Kochicalco, welche ſüd-ſüd-weſtlich von der Stadt Cuernavaca — 154 — bei Tetlama liegt und ins Kirchſpiel von Kochitepec gehört. Sie beſteht in einem iſolierten Hügel von 117 m Höhe, der mit Graben umgeben und von Menſchenhänden in fünf mit Mauerwerke überkleidete Terraſſen abgeteilt iſt. Das Ganze bildet eine abgeſtumpfte Pyramide, deren vier Seiten genau nach den vier Himmelsgegenden gerichtet ſind. Die Steine von Porphyr, mit einer Baſaltbaſis, ſind ſehr regelmäßig ge— ſchnitten und mit hieroglyphiſchen Figuren geziert, unter denen man Krokodile, welche Waſſer ausſpritzen, und was ſehr merkwürdig iſt, Menſchen, welche nach aſiatiſcher Weiſe auf den unterſchlagenen Beinen ſitzen, unterſcheidete. Die Plattform dieſes außerordentlichen Denkmals! hat etwa 900 qm Inhalt, und enthält die Ruinen eines kleinen Ge— bäudes, welches wahrſcheinlich zur letzten Zuflucht der Be— lagerten diente. Ich will dieſe flüchtige Ueberſicht der aztekiſchen Alter— tümer mit der Bezeichnung einiger Orte ſchließen, welche man wegen des Intereſſes, das ſie für die Kenner der Geſchichte der Eroberung von Mexiko durch die Spanier haben, klaſſiſch nennen kann. Der Palaſt des Montezuma ſtand genau auf derſelben Stelle, wo ſich heutzutage das Hotel des Herzogs von Monte— leone, gewöhnlich Caſa del Eſtado genannt, befindet, nämlich auf der Plaza Mayor, ſüdweſtlich von der Domkirche. Dieſer Palaſt beſtand, gleich denen der chineſiſchen Kaiſer, von welchen uns Sir George Staunton und Herr Barrow genaue Beſchreibungen geliefert haben, aus einer großen Menge ge— räumiger, aber ſehr niedriger Häuſer. Sie nahmen den ganzen Raum zwiſchen dem Empedradillo, der großen Straße von Tacuba und dem Kloſter de la Profeſa ein. Nachdem Cortez die Stadt erbaut hatte, nahm er ſeine Wohnung den Ruinen des Palaſtes der aztekiſchen Könige gegenüber, wo heutzutage der Palaſt der Vizekönige ſteht. Indes fand man bald, daß Cortez' Haus ſich beſſer zu den Verſammlungen ſchickte, und die Regierung ließ ſich daher die Caſa del Eſtado oder das alte Hotel von Cortez' Familie, welche den Titel vom Mar: quiſat des Valle de Oajaca führt, abtreten. Zur Entſchä— ! Descripcion de las antiguedades de Xochicalco dedicada a los Senores de la expedicion maritima baxo las ordenes de Don Alexandro Malaspina por Don Jose Antonio Alzate. Mexico 1791, p. 12. u ee — 155 — digung gab man ihr dafür den Platz des alten Palaſtes von Montezuma, wo ſie dann das ſchöne Gebäude aufführte, in welchem ſich die Staatsarchive befinden, und das mit der ganzen Erbſchaft an den neapolitaniſchen Herzog von Monte— leone gekommen iſt. Als Cortez den 8. November 1519 ſeinen erſten Einzug in Tenochtitlan hielt, wurde ihm und ſeinem kleinen Armee— corps, nicht im Palaſte des Montezuma, ſondern in einem Gebäude, welches einſt der König Axayacatl bewohnt hatte, Quartier angewieſen. In dieſem Gebäude hielten die Spa— nier und ihre Bundesgenoſſen, die Tlaxcalteken, den Sturm der Mexikaner aus; und hier auch ſtarb der unglückliche König Montezuma! an den Folgen einer Wunde, die er, während er ſein Volk harangierte, erhalten hatte. Noch ſieht man unbedeutende Reſte dieſer Gebäude? in den Mauerwerken hinter dem Kloſter von Santa Tereſa, am Ende der Straßen von Tacuba und Indio triſte. Eine kleine Brücke bei Bonaviſta hat ihren Namen, Sprung des Alvarado (Salto de Alvarado) zum Andenken an den wunderähnlichen Sprung, welchen der tapfere Pedro de Alvarado machte, als ſich die Spanier in der traurigen Nacht, da die Mexikaner bereits den Damm von Tlacopan Von einem ſeiner Söhne, Namens Tohualicahuatzin, und nach ſeiner Taufe Don Pedro Montezuma, ſtammen die ſpaniſchen Grafen von Montezuma und Tula ab. Die Cano Montezuma, die Andrade Montezuma, und wenn ich nicht irre, ſelbſt die Grafen von Miravalle in Mexiko leiten ihren Urſprung von der ſchönen Prin— zeſſin Tecuichpotzin, der jüngeren Tochter des letzten Königs, Monte— zuma II., oder Mocteuhzoma Kocojotzin, her. Die Nachkommen dieſes Königs vermiſchten ſich erſt in der zweiten Generation mit den Weißen. 2 Die Beweiſe für dieſe Behauptung liegen in den Handſchriften des Herrn Gama, welche ſich im Kloſter von San Felipe Neri, in den Händen des Paters Pichardo, befinden. Cortez nennt ſein Quartier in feinen Briefen la Fortaleza, die Feſtung. Der Ba: laſt von Axayacatl war wahrſcheinlich eine große Mauer, welche mehrere Gebäude umſchloß; denn man brachte hier beinahe 700 Mann unter. Die Ruinen der Stadt Manſiche in Peru geben uns eine ſehr deutliche Vorſtellung von dieſer Art amerikaniſchen Bauweſens. Jede Wohnung eines großen Herrn bildete ein beſonderes Quartier, in welchem man Höfe, Straßen, Mauern und Gräben unterſchei— den konnte. Noche triste, den 1. Juli 1520. — 156 — an mehreren Orten durchſchnitten hatten, aus der Stadt nad) den Gebirgen von Tepeyacac zurückzog. Indes ſcheint es, daß man ſchon zu Cortez' Zeit ſich über die hiſtoriſche Wahrheit dieſes Ereigniſſes geſtritten habe, unerachtet ſich die Volkstradition unter allen Klaſſen von Mexikos Bewohnern erhalten hat. Bernal Diaz betrachtet die Geſchichte des Sprunges als eine bloße Aufſchneiderei ſeines Waffenbruders, deſſen Mut und Geiſtesgegenwart er übrigens mehrmals an— rühmt und verſichert, daß der Graben zu breit geweſen ſei, um darüber wegzuſpringen. Allein ich muß bemerken, daß dieſe Anekdote mit vieler Umſtändlichkeit von der Handſchrift eines adeligen Meſtizen aus der Republik von Tlaxcala, Diego Munoz Camargo, erzählt wird. Ich habe dieſe Handſchrift, von welcher der Pater Torquemada! auch Kenntnis gehabt zu haben ſcheint, im Kloſter von San Felipe Neri nachge— ſchlagen. Ihr Verfaſſer war ein Zeitgenoſſe von Cortez, und er erzählt die Geſchichte von Alvarados Sprung mit vieler Einfachheit, ohne Anſchein von Uebertreibung und ohne über die Breite des Grabens etwas Näheres zu ſagen. In ſeiner naiven Darſtellung glaubt man einen Helden des Altertums zu erkennen, welcher Arm und Schulter auf ſeine Lanze ge— ſtützt, einen ungeheuren Sprung macht, um ſich vor ſeinen Feinden zu retten. Camargo ſetzt ſogar noch hinzu, daß noch andere Spanier Alvarados Beiſpiel nachahmen wollten, aber in Ermangelung gleicher Behendigkeit in den Graben (Aze- quia) gefallen ſind. Die Mexikaner, ſagt er, waren ſo er— ſtaunt über die Geſchicklichkeit dieſes Mannes, daß ſie, wie ſie ihn gerettet ſahen, die Erde aßen leine figürliche Redens— art, welche dieſer tlaxcaltiſche Schriftſteller aus ſeiner Vater— ſprache entlehnte, und die das Erſtaunen der Verwunderung In Mexiko und in Spanien befinden ſich noch mehrere, im 16. Jahrhundert verfaßte, hiſtoriſche Handſchriften, deren Bekannt— machung in Auszügen viel Licht auf die Geſchichte von Anahuac werfen würde. Dergleichen ſind die Handſchriften von Sahagun, Motolinia, Andreas de Olmos, Zurita, Joſeph Tobar, Fernando Pimentel Ixtlilxochitl, Antonio Montezuma, Antonio Pimentel Irtlilxochitl, Taddeo de Niza, Gabriel d' Ayala, Zapata, Ponce, Chriſtoph de Caſillo, Fernando Alba Ixtlilxochitl, Pomar, Chimal: pain, Alvarado Tezozomoc und von Gutierrez. Mit Ausnahme der fünf erſten waren alle dieſe Schriftſteller getaufte Indianer von Tlaxcala, Tezeuco, Cholula und Mexiko. Die Irtlilxochitl ſtamm— ten von der königlichen Familie von Alcohugcari ab. ausdrückt). „Die Kinder Alvarados, welcher der Hauptmann vom Sprung genannt wurde, bewieſen durch Zeugen und vor den Richtern von Tezeuco dieſe Heldenthat ihres Vaters. Ein Prozeß zwang ſie hierzu, in welchem ſie die Thaten von Alvarado de el Salto, ihres Vaters, bei der Eroberung Mexikos darſtellten.“ Ferner zeigt man den Fremden die Brücke von Clerigo, bei der Plaza Mayor von Tlatelolco, als die denkwürdige Stelle wo der letzte aztekiſche König Quauhtemotzin, Neffe ſeines Vorgängers Königs Cuitlahuagin! und Schwiegerſohn des Montezuma II. gefangen genommen wurde. Indes er— hellt aus den ſorgfältigen Nachforſchungen, welche ich mit dem Pater Pichardo angeſtellt habe, daß dieſer junge König in einem großen Waſſerbehälter, der einſt zwiſchen der Garita del Peralvillo, dem Platze von Santiago de Tlatelolco und der Brücke von Amaxac war, in die Hände des Garcia Hol— guin? gefallen iſt. Cortez befand ſich auf der Terraſſe eines Hauſes von Tlatelolco, als man ihm den königlichen Gefan— genen vorführte. „Ich ließ ihn ſich ſetzen,“ jagt der Sieger ſelbſt in ſeinem dritten Briefe an Kaiſer Karl V., „und behan— delte ihn mit Zutrauen. Allein der junge Menſch legte die Hand an einen Dolch, den ich am Gürtel trug, und bat mich, ihn zu töten, weil er nach dem, was er ſich ſelbſt und ſeinem Volke ſchuldig geweſen, keinen anderen Wunſch mehr habe, als zu ſterben.“ Dieſer Zug iſt der ſchönſten Zeit von Rom und Griechenland wert; denn die Sprache ſtarker Seelen die gegen das Unglück kämpfen, iſt unter allen Zonen, und welche Farbe die Menſchen tragen, dieſelbe. Wir haben oben sche tragiſche Ende dieſes unglücklichen Quauhtemotzin ge— ehen! ! Diejer König Cuitlahuatzin (den Solis und andere euro— päiſche Geſchichtſchreiber, welche alle mexikaniſchen Namen vermiſchen, Quetlabaca nennen) war der Bruder und Nachfolger Montezumas II. Er iſt derſelbe Fürſt, welcher ſo vielen Geſchmack an Gärten zeigte, und, nach Cortez' Bericht, eine Sammlung ſeltener Pflanzen ge— macht hat, welche man noch lange nach ſeinem Tode in Iztapalapan bewunderte. Den 31. Auguſt 1521, am 75. Tage der Belagerung. Dieſer Tag wird noch jedes Jahr durch einen Zug gefeiert, welchen der Vizekönig und die Oidores zu Pferde durch die Stadt machen, und wobei ihnen die Standarte von Cortez' ſiegreicher Armee durch den Großfähndrich der ſehr adeligen Stadt Mexiko vorgetragen wird. — 158 — Nach der gänzlichen Zerſtörung des alten Tenochtitlan blieb Cortez noch vier oder fünf Monate mit ſeinen Leuten zu Coyouacan, einem Orte, für den er immer eine große Vorliebe gezeigt hat. Er war im Anfang unentſchloſſen, ob er die Hauptſtadt nicht auf einer anderen Stelle an dem See wieder aufbauen ſollte. Indes entſchied er ſich end— lich für die alte Lage, „weil die Stadt von Temirxtitan ein— mal berühmt geworden war, weil ihre Lage wunderbarlich it, und man ſie von jeher als den Hauptort der mexikani— ſchen Provinzen angeſehen hatte.“ (Como principal y sefiora de todas estas provincias.) Uebrigens wäre es wegen der häufigen Ueberſchwemmungen, welche das alte und neue Mexiko erlitten, klüger geweſen, die Stadt öſtlich von Tezeuco oder auf die Anhöhen zwiſchen Tacuba und Tacubaya! zu ſtellen. Wirklich ſollte ſie auch, zur Zeit der großen Ueber— ſchwemmung von 1607, nach einem förmlichen Befehl Phi— lipps III. auf dieſe Anhöhen verpflanzt werden; allein das Ajuntamiento, oder der Stadtmagiſtrat, machte dem Hofe die Vorſtellung, daß der Wert der Häuſer, welche auf dieſe Weiſe zu Grunde gehen müßten, 105 Millionen Franken betrage. Man ſchien damals in Madrid nicht zu wiſſen, daß die Hauptſtadt eines ſchon 88jährigen Königreiches kein flie— gendes Lager iſt, welches man nach Gefallen von einem Orte zum anderen rücken kann! Es iſt unmöglich, die Zahl der Bewohner des alten Tenochtitlan mit einiger Gewißheit anzugeben. Nach dem Cisneros. Descripcion del sitio en el qual se halla Mexico. Alzata Topografia de Mexico. (Gazeta de Literatura, 1700. S. 32.) Die meiſten größeren Städte der ſpaniſchen Kolonieen, fo neu ſie auch zu ſein ſcheinen, ſind nachteilig gelegen. Ich ſpreche hier nicht von der Lage von Caracas, von Quito, Paſto und mehreren anderen Städten des ſüdlichen Amerikas, ſondern bloß von den mexikaniſchen Städten, wie z. B. Valladolid, das man in das ſchöne Thal von Tepare hätte bauen können; von Guadalajara, das ſich ſo nahe bei der lachenden Ebene des Fluſſes Chiconahuatenco, oder San Pedro, befindet; Pazeuaro, das man lieber auf der Stelle von Tzintzontzan gebaut ſehen würde. Wahrlich man möchte glauben, daß die neuen Koloniſten, wo ſie die Wahl zwiſchen zwei Lagen hatten, immer die gebirgigſte und den Ueberſchwemmungen am meiſten ausgeſetzte gewählt hätten. Indes haben die Spanier auch beinahe keine neuen Städte gebaut, ſondern immer die von den Eingeborenen ſelbſt geſtifteten bewohnt oder vergrößert. a Mauerwerk der zerſtörten Häuſer, nach den Berichten der erſten Eroberer und beſonders nach der Zahl der Streiter zu ur— teilen, welche die Könige Cuitlahuatzin und Quauhtemotzin den Tlaxcalteken und Spaniern entgegenſtellten, ſcheint die Bevölkerung von Tenochtitlan zum wenigſten dreimal größer geweſen zu ſein, als die des heutigen Mexiko iſt. Nach der Ver— ſicherung des Cortez war das Zuſtrömen der mexikaniſchen Handwerksleute, welche nach der Belagerung für die Spanier als Zimmerleute, Maurer, Weber, Metallgießer u. dgl. ar— beiteten, ſo groß, daß die Stadt Mexiko im Jahre 1524 bereits 30000 Einwohner zählte. Die neueren Schriftſteller haben aber die widerſprechendſten Ideen über ihre Bevölke— rung aufgeſtellt und der Abbe Clavigero beweiſt in ſeinem vortrefflichen Werke über die alte Geſchichte von Neuſpanien, wie dieſe Angaben von 60 000 bis auf 1½ Millionen von: einander abgehen. Dieſe Widerſprüche dürfen uns aber nicht in Erſtaunen ſetzen, wenn wir nur bedenken wollen, wie neu noch ſtatiſtiſche Unterſuchungen ſelbſt in den kultivierteſten Teilen von Europa ſind. Nach den neueſten und am wenigſten verdächtigen An— gaben ſcheint die gegenwärtige Bevölkerung der Hauptſtadt von Mexiko (die Truppen mitgerechnet) 135000 bis 140 000 Seelen zu jein.! f Mexiko iſt die bevölkertſte Stadt im neuen Kontinente.? Allein da ſie ein großes Viereck bildet, deſſen jede Seite nahe an 2750 m Länge hat, ſo iſt ihre Bevölkerung auf einem großen Raume verbreitet. Ihre Straßen ſind ſehr breit und ſcheinen deshalb auch äußerſt öde; ja ſie ſind dies um ſo mehr, da ſich das Volk in einem Klima, welches die Bewohner der Tropenländer für kalt anſehen, weniger der freien Luft ausſetzt als die in den Städten, die an dem Fuße der Kor— dillere liegen. Daher ſcheinen letztere (Ciudades de tierra caliente) immer viel bevölkerter als die Städte der gemäßigten oder kalten Regionen (Ciudades de tierra fria). Hat Mexiko auch mehr Bewohner als die Städte von Großbritannien und Frankreich, mit Ausnahme von London, Dublin und Paris, ſo iſt ſeine Bevölkerung auf der anderen Seite weit geringer als die der großen Städte in der Levante und in Oſtindien. Jetzt 230000. — D. Herausg | Jetzt natürlich längſt nicht mehr. — D. Herausg.] et | — 160 — Der Markt von Mexiko iſt reichlich mit Eßwaren, be— ſonders Gemüſen und Früchten aller Art verſehen. Es iſt wirklich ein merkwürdiger Anblick, den man alle Morgen bei Sonnenaufgang genießen kann, wenn dieſe Vorräte und eine große Menge Blumen auf platten Booten, die von Indianern gefahren werden, die Kanäle von Iſtacalco und Chalco herab in die Stadt kommen. Die meiſten dieſer Gemüſe werden auf den Chinampas gepflanzt, welche die Europäer ſchwim— mende Gärten genannt haben. Es gibt deren zweierlei, von denen die einen beweglich ſind und vom Winde hin und her getrieben werden, die anderen feſtſtehen und mit dem Ufer zuſammenhängen. Die ſinnreiche Erfindung der Chinampas ſcheint bis ins 14. Jahrhundert aufzuſteigen. Sie wurde durch die außer— ordentliche Lage eines Volkes veranlaßt, welches, rings von Feinden umgeben, mitten auf einem an Fiſchen eben nicht ſehr reichen See zu leben genötigt war und natürlich auf alle möglichen Mittel zu ſeinem Lebensunterhalte ſinnen mußte. Wahrſcheinlich hat die Natur ſelbſt den Azteken die erſte Idee zu dieſen ſchwimmenden Gärten gegeben. An den ſumpfigen Ufern des Sees von Kochimilco und Chalco reißt die ſtarke Bewegung des Waſſers zur Zeit ſeines hohen Standes Erd— ſchollen ab, die mit Kräutern bedeckt und mit Wurzeln durch— flochten ſind. Dieſe Schollen treibt der Wind hin und her, bis ſie ſich zuweilen zu kleinen Flößen vereinigen. Ein Men— ſchenſtamm, welcher zu ſchwach war, um ſich auf dem feſten Lande zu halten, glaubte dieſe Stücke Bodens benutzen zu müſſen, die ihm der Zufall anbot und deſſen Eigentum ihm von keinem Feinde ſtreitig gemacht wurde. Die ältejten Chi— nampas waren daher nichts, als künſtlich zuſammengefügte Raſenſtücke, die die Azteken aufhackten und anſäten. Der: gleichen ſchwimmende Inſeln bilden ſich unter allen Zonen und ich habe deren im Königreiche Quito, auf dem Fluſſe Guayaquil geſehen, welche 8 bis 9 m lang waren, mitten auf dem Strome trieben und junge Zweige von Bambusa, Pistia stratiotes, Pontedria und eine Menge anderer Vegeta— bilien trugen, deren Wurzeln ſich leicht ineinander verflochten. Auch ſah ich in Italien auf dem kleinen Lago di aqua solva in der Nähe der Thermen des Agrippa bei Tivoli ſolche kleine Inſeln, die aus Schwefel, luftſaurer Kalkerde und Blättern der Ulva thermalis beſtanden und ſich durch das leichteſte Wehen des Windes in Bewegung ſetzten. V ir A th 7 0 ee Bloße Erdſchollen, welche fih am Ufer abgeriſſen, haben alſo zur Erfindung der Chinampas Anlaß gegeben; allein die Induſtrie der aztekiſchen Nation hat dieſes Syſtem von Garten: bau nach und nach vervollkommnet. Die ſchwimmenden Gärten, welche die Spanier in großer Menge fanden und von denen noch mehrere auf dem See von Chalco übrig ſind, waren Flöße von Schilf (Totora), Aeſten, Wurzeln und Zweigen von Buſchwerk. Dieſe Beſtandteile, welche ſehr leicht ſind und ſich ganz ineinander verwickeln, bedecken die Indianer mit einer ſchwarzen Erde, welche von Natur mit Kochſalz ge— ſchwängert iſt. Durch das Waſſer, womit man die Erde aus dem See begießt, verflüchtigt ſich dieſes Salz nach und nach und je öfter man dieſe Auslaugung vornimmt, deſto frucht— barer wird der Boden. Man wendet dieſes ſelbſt bei dem Salzwaſſer aus dem See von Tezcuco mit Vorteil an, indem dieſes Waſſer, dem noch viel zu ſeiner Saturation fehlt, wenn es durch den Boden filtriert wird, das Salz vortrefflich auf— löſt. Oft enthalten die Chinampas noch die Hütte des In— dianers, welcher eine Gruppe ſolcher ſchwimmenden Gärten zu hüten hat. Man ſtößt ſie mit langen Stangen weiter oder rückt ſie damit zuſammen und treibt ſie ſo nach Gefallen von einem Ufer zum anderen. In dem Maße, wie ſich der See mit ſüßem Waſſer von dem Salzſee entfernte, befeſtigten ſich auch die beweglichen Chinampas. Von letzterer Klaſſe ſieht man am ganzen Kanal de la Viga hin, in dem Sumpflande zwiſchen dem See von Chalco und dem von Tezeuco. Jeder Chinampas bildet ein Parallelogramm von 100 m Länge und 5 bis 6 m Breite. Enge Gräben, welche ſymmetriſch miteinander zuſammen— hängen, trennen dieſe Vierecke voneinander. Der urbare Boden, der durch das häufige Begießen ſeine Salzteile ver— loren hat, erhebt ſich gegen 1 m über die Fläche des ihn um— gebenden Waſſers. Auf dieſen Chinampas baut man Bohnen, kleine Erbſen, ſpaniſchen Pfeffer (Chile, Capsicum), Kartoffeln, Artiſchocken, Blumenkohl und eine Menge anderer Gemüſe. Der Rand der Vierecke iſt gewöhnlich mit Blumen und manch— mal ſogar mit einer Roſenhecke eingefaßt. Eine Waſſerfahrt um die Chinampas von Iſtacalco gehört zu den angenehmſten Partieen, welche man in der Umgegend von Mexiko machen kann. Die Vegetation iſt auf dem unaufhörlich gewäſſerten Boden äußerſt kraftvoll. Der Phyſiker findet in dem Thale von Tenochtitlan zwei A. v. Humboldt, Neufpanien. I. ht — 162 — Quellen von Mineralwaſſer, die von der Mutter Gottes von Guadalupe und die von Penon de los Banos (dem Bäder⸗ felſen). Dieſe Quellen enthalten Kohlenſäure, ſchwefelſauren Kalk und dergleichen Soda und ſalzſaure Soda. Die vom Penon hat eine ziemlich hohe Temperatur und es find dabei ſehr heilſame und bequeme Bäder eingerichtet worden. Auch machen die Indianer in der Nähe derſelben Salz, indem ſie die mit ſalzſaurer Soda geſchwängerte Thonerde auslaugen und das Waſſer, das auf 100 Teile nur 12 bis 13 Salz enthält, zuſammenleiten. Ihre ſehr ſchlecht gearbeiteten Wärme: pfannen haben nicht mehr als ſechs Quadratfuß Fläche und 5 bis 7,5 em Tiefe und zur Feuerung wird bloß Maultier⸗ und Kuhmiſt gebraucht. Auch wird das Feuer ſo ſchlecht geleitet, daß man, um 6 kg Salz zu gewinnen, die um 35 Sous (franzöſiſcher Münze) verkauft werden, für 12 Sous Brenn⸗ material verbraucht! Dieſe Saline war ſchon zu Montezumas Zeit vorhanden und es iſt ſeither keine andere Veränderung damit vorgegangen, als daß man die irdenen Kufen gegen getriebene kupferne Pfannen vertauſchte. Der kleine Berg von Chapultepec war von dem jungen Vizekönig Galvez gewählt worden, um darauf für ſich und ſeine Nachfolger ein Luſtſchloß zu erbauen. Dieſer Bau koſtete den König gegen 1½ Millionen Livres tournois. Der Hof von Madrid mißbilligte dieſe Ausgabe, allein wie gewöhnlich, erſt nachdem ſie ſchon gemacht worden war. Die Anordnung dieſes Gebäudes iſt ſehr ſonderbar. Auf der Seite von Mexiko iſt es befeſtigt und man ſieht da ganz deutlich die vorſpringen— den Mauern und die Bruſtwehren, um die Kanonen darauf zu ſtellen, ob man gleich dieſen Teilen das Anſehen von bloß architektoniſchen . zu geben geſucht hat. Auf der Nordſeite befinden ſich Gräben und weite Souterrains, um Vorräte für mehrere Monate zu faſſen. Auch betrachtet die allgemeine Volksmeinung in Mexiko dieſes Haus der Vize— könige auf Chapultepec als eine maskierte Feſtung. Man beſchuldigte den Grafen Bernardo de Galvez ſogar des Pla: nes, daß er Neuſpanien von der Halbinſel unabhängig habe machen wollen. Der Fels von Chapultepec, jagt man, ſollte ihm zum Zufluchts- und Verteidigungsorte dienen, im Falle er von europäiſchen Truppen angegriffen werden würde. Ich habe ſehr achtungswerte Männer in den erſten Stellen ge— kannt, die dieſen Argwohn gegen den jungen Vizekönig teilten; allein die Pflicht des Geſchichtſchreibers erlaubt es nicht, ſich — 163 — jo ſchweren Beſchuldigungen leichtſinnig zu überlaſſen. Der Graf von Galvez gehörte einer Familie an, die der König Karl III. ſchnell auf eine Stufe außerordentlicher Macht und Reichtums erhoben hatte. Jung, liebenswürdig und dem Vergnügen und der Pracht ergeben, hatte er von ſeinem groß: mütigen Monarchen eine der erſten Stellen erhalten, die ein Privatmann erreichen kann, und darum möchte es wohl nicht ſein Vorteil geweſen ſein, die Bande zu zerreißen, welche die Kolonieen ſeit drei Jahrhunderten an das Mutterland knüpften. Auch würde der Graf Galvez bei aller Kunſt ſeines Beneh— mens, ſich die Gunſt des großen Haufens von Mexiko zu er— werben und trotz des Einfluſſes einer ebenſo ſchönen als all— gemein geliebten Vizekönigin das Schickſal jedes europäiſchen! Vizekönigs gehabt haben, der nach Unabhängigkeit ſtrebt; man würde ihm in einer großen Revolutionsbewegung nie verziehen haben, daß er kein Amerikaner war! Das Schloß Chapultepec ſoll für Rechnung der Regierung verkauft werden. Da es aber überall ſchwer iſt, Käufer zu feſten Plätzen zu finden, ſo haben einige Beamte der Real Hacienda angefangen, die Gläſer und Fenſterrahmen an die Meiſtbietenden zu verkaufen. Dieſer Vandalismus, welchen man Oekonomie nennt, hat dieſes Gebäude, welches 2325 m hoch und unter einem ſehr rauhen, der Gewalt der Winde ausgeſetzten Klima liegt, tief herabgebracht. Und doch wäre es vielleicht klug, dasſelbe als den einzigen Platz zu erhalten, in welchem man bei den erſten Bewegungen eines Volksaufruhres die Archive, das Barrenſilber aus der Münze und die Perſon des Vizekönigs in Sicherheit bringen könnte.“ Noch iſt man Unter den 50 Vizekönigen, welche Mexiko von 1535 bis 1808 regiert haben, war nur ein einziger in Amerika Geborener, der Peruaner Don Juan de Acunña, Marquis von Caſa Fuerte (1722 bis 1734), ein ſehr uneigennütziger und guter Adminiſtrator. Auch werden einige meiner Leſer vielleicht mit Intereſſe erfahren, daß ein Abkömmling von Chriſtoph Kolumbus und einer des Königs Montezuma Vizekönige von Neuſpanien geweſen ſind. Don Pedro Nuno Colon, Herzog von Veraguas, hielt ſeinen Einzug 1673 in Mexiko und ſtarb ſechs Tage nachher. Der Vizekönig Don Joſeph Sarmiento Valladares, Graf von Montezuma, regierte von 1697 bis 1701. [In unſeren Tagen ward Chapultepec von dem unglücklichen Kaiſer Maximilian J. von Mexiko 1864 bis 1866 bewohnt. — D. Herausg.] — 164 — in Mexiko der Empörungen (Motinos) vom 12. Februar 1608, dem 15. Januar 1624 und dem 8. Juni 1692 eingedenk. In der letzten verbrannten die Indianer im Grimme dar⸗ über, daß es an Mais mangelte, den Palaſt des Bize- königs Don Gaſpar de Sandoval, Grafen von Galve, der ſich zu dem Guardian des St. Franziskuskloſters geflüchtet hatte. Damals freilich, aber wohl auch nur damals, war der Schutz der Mönche ſo viel wert, als der eines feſten Schloſſes. Um die Beſchreibung des Thales von Mexiko zu endigen, müſſen wir noch das hydrographiſche Gemälde dieſer von Seen und kleinen Flüſſen unterbrochenen Gegend flüchtig ent— werfen, und ich ſchmeichle mir, daß es den Naturforſcher nicht weniger intereſſieren wird als den Ingenieurwaſſerbau— meiſter. Wir haben oben ſchon bemerkt, daß die Fläche der vier Hauptſeen etwa den zehnten Teil der Fläche des ganzen Thales 445 qkm ausmache. Wirklich hat der See von Xochimilco (und Chalco) 131, der See von Tezeuco 204, der von San Criſtobal 71 und der von Zumpango 26,9 qkm Umfang. Das Thal von Tenochtitlan oder Mexiko iſt ein mit einer Zirkelmauer von ſehr hohen Porphyrgebirgen umſchloſ— ſenes Baſſin. Dieſes Baſſin, deſſen Grund 2277 m über dem Meeresſpiegel ſteht, gleicht im kleinen dem ungeheuren Baſſin von Böhmen, und, wenn die Vergleichung nicht zu gewagt iſt, den Gebirgsthälern im Monde, wie ſie die Herren Herſchel und Schröter beſchrieben haben. Alle Feuchtigkeit der Kordilleren, die das Plateau von Tenochtitlan einfaſſen, fließt in dem Thale zuſammen. Kein Fluß, außer dem kleinen Bache (arroyo) Tequisquiac, welcher in einer engen Schlucht durch die nördliche Gebirgskette ſeinen Weg nach dem Rio ben oder de Montezuma ſucht, ergießt ſich aus dem— elben. Die Hauptzuflüſſe geſchehen dem Thale von Tenochtitlan 1) durch die Flüſſe, Papalotla, Tezeuco, Teotihuacan und Tepeyacac (Guadalupe), welche ihre Waſſer in den See von Tezeuco ergießen; 2) und durch die von Pachuca und Guau— titlan (Quautitlan), welche in den See von Zumpango fließen. Der letzte dieſer Flüſſe (der Rio de Guautitlan) hat den längſten Lauf, und ſeine Waſſermaſſe iſt viel beträcht⸗ licher als die der übrigen Flüſſe zuſammen. Die mexikaniſſchen Seen, welche ebenſo viele natürliche Rezipienten für das Waſſer ſind, das die ſie umgebenden — 165 — Gebirge abſetzen, erheben ſich in ihrer Entfernung von dem Centrum des Thales oder der Stelle, wo die Hauptſtadt liegt, ſtufenweiſe übereinander. Nach dem See von Tezcuco iſt die Stadt Mexiko der am niedrigſten gelegene Punkt des ganzen Thales, und nach der ſehr genauen Meſſung der Herren Velasquez und Caſtera iſt die Plaza Mayor derſelben, im ſüdlichen Winkel des vizeköniglichen Palaſtes, 1 mexi— kaniſche Vare, 1 Fuß und 1 Zoll höher! als der mittlere Waſſerſtand im See von Tezcuco.? Dieſer letztere See liegt 4 Varen und 8 Zoll tiefer, als der See von San Criſtobal, deſſen nördlichſter Teil der See von Kaltocan heißt, und wo auf zwei kleinen Inſeln die Dörfer Kaltocan Nach Herrn Ciscars klaſſiſchem Werke (sobre los nuevos pesos y medidas decimales) verhält ſich die kaſtiliſche Vare zur Toife = 0,5130 : 1,1963, und eine Toiſe iſt = 2,3316 Varen. Don Jorge Juan ſchätzte die kaſtiliſche Vare auf drei Fuß von Burgos und einen Fuß von Burgos zu 1237⅝ Linien des könig— lichen Fußes. 1783 hatte der Hof von Madrid befohlen, daß ſich das Corps der Seeartilleriſten des Varenmaßes, und das der Land— artilleriſten der Toiſen bedienen ſolle; allein es möchte wohl ſchwer ſein, den Nutzen dieſer Verſchiedenheit anzugeben. Die mexikaniſche Vare iſt = 0,839 m. 2 Die handſchriftlichen Materialien, die ich bei Verfaſſung dieſer Nachricht über die Desague benutzt habe, find: 1) die der taillierten Pläne, welche im Jahre 1802 auf Befehl des Dekans des oberſten Gerichtshofes (Decano de la Real Audiencia de Mexico), Don Cosme de Mier y Trespalacios, aufgenommen wur: den; 2) das Memoire, das Don Juan Diaz de la Calle, zweiter Offizier des Staatsſekretariats in Madrid, 1646 König Philipp IV. vorgelegt hat; 3) die Inſtruktion, welche der ehrwürdige Biſchof Palafox, Biſchof von Puebla und Vizekönig von Neuſpanien 1642 ſeinem Nachfolger, dem Vizekönig Grafen von Salvatierra (Mar— quis von Sobroſo) übergab; 4) ein Memoire, das der Kardinal Lorenzana, damaliger Erzbiſchof von Mexiko, dem Vizekönig Bucca— relli einreichte; 5) eine vom Tribunal de Cuentas in Mexiko ver— faßte Nachricht; 6) ein auf Befehl des Grafen von Revillagigedo aufgeſetztes Memoire und 7) das Informe von Velasquez. Auch muß ich das merkwürdige, in Mexiko gedruckte Werk von Zepeda, Historia del Desague, nennen. Ich habe den Kanal von Hue— huetoca ſelber zweimal unterſucht, und zwar das erſte Mal im Au— guſt 1803 und das zweite Mal vom 8. bis auf den 12. Janaur 1804, wo ich den Vizekönig Don Joſe de Iturrygaray dahin begleitete, deſſen Wohlwollen und Loyalität in ſeinen Verhältniſſen zu mir ich nicht genug rühmen kann. — 16 — und Tonanitla ſtehen. Der eigentliche See von San Criftobal iſt von dem von Kaltocan nur durch einen ſehr alten Damm getrennt, welcher nach den Dörfern San Pablo und San Tomas de Chiconautla geht. Der nördlichſte See des Thales von Mexiko, der von Zumpango (Tzompango) iſt 10 Varen, 1 Fuß und 6 Zoll höher als der mittlere Waſſerſtand des Sees von Tezeuco. Ein Damm (la Calzada de la Cruz del Rey) teilt den See von Zumpango in zwei Baſſins, deſſen weſtlichſtes den Namen der Laguna de Zitlaltepee und das öſtlichſte den der Laguna de Covotepee führt. Auf dem ſüdlichſten Ende des Thales befindet ſich der See von Chalco. Er enthält das hübſche kleine Dorf Kico, das auf einer Inſel liegt, und iſt von dem See von FKochimilco durch die Calzada de San Pedro de Tlahua, einem engen Damme, der von Tuliahualco nach San Francisco Tlaltengo geht, abgeſchnitten. Die Fläche der ſüßen Waſſerſeen von Chalco und Kochimilco liegt bloß 1 Vare und 11 Zoll höher als die Plaza Mayor der Hauptſtadt. — Ich glaubte, daß dieſe einzelnen Angaben für die Ingenieurhydographen, welche ſich eine genaue Vorſtellung von dem großen Kanale (Desague) von Huehuetoca machen wollen, merkwürdig ſein könnten. Die Verſchiedenheit der Höhen, auf welchen ſich die vier hauptſächlichſten Waſſerbehälter im Thale von Tenochtitlan befinden, iſt bei den großen Ueberſchwemmungen, denen die Stadt Mexiko ſeit langen Jahrhunderten ausgeſetzt war, fühl— bar geworden. Zu allen Zeiten war die Folge der Phäno— mene unaufhörlich dieſelbe. Der See von Zumpango, der durch dies außerordentliche Anwachſen des Rio de Guautitlan und die Zuflüſſe von Pachuca angeſchwellt wird, gießt ſein Waſſer in den See von San Criſtobal, zu welchem die Cienegas von Tepejuelo und Tlapanahuiloya führen. Der See von San Criſtobal zerreißt den Damm, der ihn vom See von Tezcuco trennt, und die ausgetretenen Waſſer vom Baſſin des letzteren erheben ihren Spiegel über 1 m und durchſtrömen, über den Salzboden von San Lazaro weg, die Straßen von Mexiko. Dies iſt der allgemeine Gang der Ueberſchwemmungen, welche ſämtlich von Norden und Nord— weſten kommen. Der Abflußkanal, welcher der Deſague de Huehuetoca heißt, hat die Beſtimmung, dieſer Gefahr vorzu- beugen; indes iſt es ganz zuverläſſig, daß durch die Ver— einigung mehrerer Umſtände die ſüdlichen Zuflüſſe (Avenidas del Sur), auf welche der Deſague unglücklicherweiſe nicht — 167 — wirkt, der Hauptſtadt ebenſo verderblich werden könnten. Die Seen von Chalco und Fochimilco würden ſicher austreten, wenn bei einer ſtarken Eruption des Vulkanes von Popo- catepetl dieſes koloſſale Gebirge plötzlich ſeinen Schnee verlöre. Während ich mich 1802 in Guayaquil auf den Küſten der Provinz Quito befand, war der Kegel des Cotopaxi durch die Wirkung des vulkaniſchen Feuers dermaßen erhitzt, daß er beinahe in einer Nacht ſeine ungeheure Schneemütze verlor. Auf dem neuen Kontinent ſind Eruptionen und große Erd— beben oft von Platzregen begleitet, die ganze Monate fort— dauern, und welche Gefahren drohten der Hauptſtadt ſelbſt, wenn dieſe Phänomene in dem Thale von Mexiko unter einer Zone ſtattfänden, wo auch in wenig feuchten Jahren bis auf 15 Dezimeter Regen fällt. Die Bewohner von Neuſpanien wollen in der Zahl von Jahren, die zwiſchen die großen Ueberſchwemmungen fallen, beſtimmte Perioden erkennen, und wirklich beweiſt auch die Erfahrung, daß die außerordentlichen Waſſeran— ſchwellungen im Thale von Mexiko beinahe alle 25 Jahre ſtattfinden.! Seit der Ankunft der Spanier hat die Haupt— ſtadt fünf große Ueberſchwemmungen erlitten, nämlich: 1553 unter dem Vizekönig Don Luis de Velasco (el Viejo), Con: netable von Kaſtilien; 1580 unter dem Vizekönig Don Mar— tin Enriquez de Almanza; 1604 unter dem Vizekönig Mar- quis von Montesclaros; 1607 unter dem Vizekönig Don Luis de Velasco (el Segundo), Marquis von Salinas; und 1629 unter dem Vizekönig Marquis von Ceralvo. Letztere Heberſchwemmung iſt die einzige, die ſeit der Eröffnung des Ausleerungskanals von Huehuetoca jtattgehabt hat, und wir werden in der Folge ſehen, durch welche Umſtände ſie herbei— geführt wurde. Seit 1629 iſt das Waſſer in dem Thale von Mexiko ſiebenmal auf eine ſehr furchtbare Weiſe gewachſen, die Stadt aber immer durch den Deſague vor Ueberſchwemmung geſchützt worden. Dieſe ſieben ſehr regneriſchen Jahre waren: 1648, 1675, 1707, 1732, 1748, 1772 und 1795. Vergleicht man die elf eben angegebenen Epochen untereinander, ſo findet man als Zeitpunkt ihres ſchädlichen Wiedereintreffens die Toaldo glaubt aus einer Menge von Beobachtungen ſchließen zu können, daß die ſehr regneriſchen Jahre und ſomit die großen Ueberſchwemmungen alle 19 Jahre, nach dem Cyklus von Saros, wiederkommen. — 168 — Anzahl von 27, 24, 3, 26, 19, 27, 32, 25, 16, 24 und 23 Jahren, alſo eine Reihe von Zahlen, die doch gewiß mehr Regelmäßigkeit verraten, als die, welche man in Lima in der Wiederholung der großen Erdbeben erkennen will. Die Lage der Hauptſtadt von Mexiko iſt um ſo gefähr⸗ licher, da ſich die Verſchiedenheit der Horizontalfläche, welche zwiſchen dem Spiegel des Sees von Tezeuco und dem Boden, worauf die Häuſer gebaut find, von Jahr zu Jahr verringert. Dieſer Boden iſt eine feſte Fläche, beſonders ſeitdem die Straßen von Mexiko unter der Regierung des Grafen von Revillagigedo gepflaſtert worden ſind. Der Grund des Sees von Tezeuco hingegen erhebt ſich allmählich durch den Schlamm und die Steine, welche die kleinen Gießbäche hineinſchwem⸗ men, und die Aufhaufungen in den Behältern bilden, in die ſie kommen. Um ſolchem Nachteil abzuhelfen, haben die Venetianer die Brenta, die Piave, die Livenza und andere Flüſſe, welche in den Lagunen Anwurf machten, von denſelben abgeleitet. Könnte man ſich auf alle Refultate eines im 16. Jahrhunderts angejtellten Nivellements ver: lajien, jo würde man mit Gewißheit finden, daß der Plaza Mayor von Mexiko ehemals über 1,1 m über den Waſſer⸗ ſpiegel des Sees von Tezeuco geſtanden hat, und daß ſich dieſer Mittelſtand ſeiner Flache von Jahr zu Jahr ver⸗ ändert. Haben ſich auf der einen Seite die Feuchtigkeit der Atmoſphäre und die Waſſerquellen in den das Thal umge⸗ benden Gebirgen durch die Zerſtörung der Wälder vermindert, ſo hat der Anbau des Bodens auf der anderen Seite auch die Wirkung der Erdanhäufungen und die Schnelligkeit der Ueberſchwemmungen vergrößert. Der General Andreoſſy hat in ſeinem vortrefflichen Werk über den Languedoker Kanal dieſe Urſachen, welche unter allen Himmelsſtrichen dieſelben ſind, ſehr wichtig gemacht. Waſſer, das über Grasboden wegfließt, bildet weniger Erdanhäufungen, als wenn es über urbaren Grund geht. Dieſes Gras aber, beſtehe es nun aus Gras: arten, wie in Europa, oder aus kleinen Alpenpflanzen, wie in Mexiko, erhält ſich nur im Schatten von Wäldern. Außer⸗ dem iſt das Buſchwerk und das aufrechte Holz auch dem Schneewaſſer hinderlich, das an dem Abhange der Gebirge herabläuft. Haben dieſe Abhänge keine Vegetation, ſo werden die Waſſerarme weniger aufgehalten und vereinigen ſich ſchneller zu Gießbächen, deren Anwuchs die Seen in der Nachbarſchaft von Mexiko aufſchwellt. — . —««— d — 169 — Der natürlichen Ordnung zufolge ging in den hydrau— liſchen Arbeiten, welche man unternahm, um die Hauptſtadt vor den Gefahren einer Ueberſchwemmung zu ſichern, das Syſtem der Dämme dem der Ableitungskanäle voran. Als die Stadt Tenochtitlan im Jahre 1446 jo ſehr überſchwemmt war, daß keine ihrer Straßen mehr trocken lag, ließ Monte⸗ zuma I. (Huehue Mocteuhzoma) auf den Rat des Königs von Tezeuco, Nezahualcoyotl, einen Damm aufführen, der über 12000 m lang, und 20 m breit war. Dieſer Damm, wovon ein Teil in dem See ſelbſt lag, beſtand in einer Mauer von Steinen und Thon, die auf beiden Seiten mit einer Reihe von Paliſſaden verſehen war, und noch heuzutage ſieht man ſehr anſehnliche Reſte davon in den Ebenen von San Lazaro. Dieſer Damm Montezumas I. wurde nach der großen Ueber⸗ ſchwemmung von 1498, welche durch die Unklugheit des Königs Ahuitzotl verurſacht worden war, ausgebeſſert und vergrößert. Dieſer Fürſt hatte, wie oben bemerkt wurde, die anſehnlichen Quellen von Huitzilopochto in den See von Tezcuco leiten laſſen, indem er völlig vergaß, daß letzterer, wenn er auch gleich in dürren Zeiten ganz trocken daliegt, in regneriſchen Jahren immer gefährlicher wird, je mehr man ſeine Zuflüſſe vermehrt. Ahuitzotl hatte ſogar einen Bürger von Coyouacan, Namens Tzotzomatzin, umbringen laſſen, weil er es gewagt, ihm die Gefahr vorauszuſagen, der er die Hauptſtadt durch die neue Waſſerleitung von Huitzilopochco ausſetzte; aber nur kurze Zeit nachher ertrank der junge mexikaniſche König beinahe in ſeinem eigenen Palaſte. Das Waſſer ſchwoll mit ſolcher Schnelligkeit an, daß er, indem er ſich durch eine Thüre, welche aus dem Erdgeſchoß nach der Straße führte rettete, gefährlich am Kopfe verwundet wurde. Die Azteken hatten die Dämme (Calzadas) von Tlahua und Mexicalcingo, und den Albaradon, der ſich von Iztapa⸗ lapan nach Tepeyacac (Guadalupe) verlängert, und deſſen Trümmer noch in ihrem jetzigen Zuſtande der Stadt Mexiko ſehr nützlich ſind, aufgeführt. Dieſes Dammſyſtem welches die Spanier noch bis zu Anfang des 17. Jahrhunderts be— folgten, war zugleich ein Verteidigungsmittel, das wenn auch nicht ganz ſichernd, doch wenigſtens zu einer Zeit beinahe hinreichend war, da die 1 von Tenochtitlan, noch in Kähnen fahrend, gegen die Wirkungen kleiner Ueberſchwem⸗ mungen viel gleichgültiger waren. Der Ueberfluß an Wäl⸗ dern und Pflanzungen erleichterte dazumal den Bau auf — 170 — Grundpfählen Das mäßige Volk begnügte ſich mit den Pro— dukten der ſchwimmenden Gärten (Chinampas), und es be— durfte nur jehr wenig urbaren Boden. Das Austreten des Sees von Tezeuco hatte für Menſchen, welche in Häuſern lebten, die häufig von Kanälen durchſchnitten waren, nichts Furchtbares. Als die neue Stadt Mexiko, welche von Hernan Cortez wieder aufgebaut worden, im Jahre 1553 die erſte Ueber— ſchwemmung erfuhr, ließ der Vizekönig Velasco I. den Alba— radon von San Lazaro aufführen. Dieſes Werk, das nach dem Muſter der indianiſchen Dämme gemacht worden war, litt in der zweiten Ueberſchwemmung im Jahre 1580 ſehr, und bei der dritten von 1604 mußte man es ganz wieder herſtellen. Der Vizekönig Montesclaros fügte dazumal zur Sicherheit der Hauptſtadt den Behälter (Presa) von Deulma und die drei Calzadas von der Mutter Gottes von Guada— lupe, von San Criſtobal und von San Antonio Abad hinzu. Kaum waren dieſe großen Werke vollendet, als die Hauptſtadt durch ein Zuſammentreffen außerordentlicher Um— ſtände im Jahre 1607 aufs neue überſchwemmt wurde. Nie waren ſich vormals zwei Ueberſchwemmungen ſo ſchnell nachgefolgt und nie iſt ſeither der Cyklus dieſes Unglückes kürzer geweſen als 16 oder 17 Jahre. Endlich da man des Baues von Dämmen (Albaradones), welche das Waſſer perio— diſch wieder zerſtörte, müde war, ſah man ein, daß man einmal das alte hydrauliſche Syſtem der Indianer aufgeben und das der Ableitungskanäle annehmen müßte. Dieſe Ber: änderung ſchien um ſo notwendiger, da die von den Spa— niern bewohnte Stadt der ehemaligen Hauptſtadt des azteki— ſchen Reiches nicht im geringſten mehr ähnlich war. Nur in wenigen Straßen konnte man noch in Kähnen fahren und die Nachteile und Verluſte, die die Ueberſchwemmungen zur Folge hatten, waren daher ungleich größer geworden, als ſie zu Montezumas Zeit geweſen. Da man die außerordentliche Anſchwellung des Rio de Guautitlan und feiner Zuflüſſe als die hauptſächliche Urſache der Ueberſchwemmungen anſah, ſo ſtellte ſich der Gedanke natürlich ſelbſt dar, daß man dieſen Fluß verhindern müſſe, ſich in den See von Zumpango zu ergießen, deſſen mittlerer Waſſerſtand auf feiner Fläche 7¼ m höher iſt, als der Boden des großen Platzes von Mexiko. In einem Thale, das rings von hohen Gebirgen eingeſchloſſen iſt, konnte man dem Rio — 171 — de Guautitlan keinen anderen Ausgang verſchaffen als durch eine unterirdiſche Galerie oder einen durch dieſe Gebirge durchgeſtochenen offenen Kanal. Wirklich hatten ſchon im Jahre 1580, zur Zeit der großen Ueberſchwemmung zwei einſichtsvolle Männer, der Licenciado Obregon und der Maeſtro Arciniega der Regierung den Vorſchlag gemacht, eine Galerie zwiſchen dem Cerro de Sincoque und der Loma de Nochi— ſtongo durchbrechen zu laſſen. Dieſer Punkt mußte auch mehr als jeder andere die Aufmerkſamkeit derer, welche die Bildung des mexikaniſchen Bodens ſtudiert hatten, anziehen. Er be— findet ſich am nächſten bei dem Rio de Guautitlan, der mit allem Rechte als der gefährlichſte Feind der Hauptſtadt an: geſehen wird. Nirgends ſind die Gebirge, welche das Pla: teau einſchließen, niedriger, und nirgends haben ſie weniger Maſſe als nord⸗nord⸗weſtlich von Huehuetoca, bei den Hügeln von Nochiſtongo. Unterſucht man dieſen Mergelboden, deſſen horizontale Lagen einen Ausſchnitt von Porphyr aus: füllen, ſo möchte man ſagen, daß auf dieſer Stelle einſt das babe von Tenochtitlan mit dem von Tula zuſammengehangen abe. Im Jahre 1607 beauftragte der Vizekönig Marquis de Salinas den Enrico (Heinrich) Martinez, die mexikaniſchen Seen künſtlich auszuleeren. In Neuſpanien glaubt man gewöhnlich, daß dieſer berühmte Ingenieur, der den Deſague de Huehuetoca erbaut hat, ein Holländer oder Deutſcher ge— weſen iſt. Wirklich deutet auch ſein Name eine fremde Fa— milie an, doch ſcheint er in Spanien ſelbſt erzogen zu ſein. Der König hatte ihm den Titel ſeines Kosmographen erteilt und es gibt auch eine Schrift über Trigonometrie von ihm, welche in Mexiko gedruckt und heutzutage ſehr ſelten geworden iſt. Enrico Martinez, Alonzo Martinez, Damian Davila und Juan de Ysla jtellten ein allgemeines Nivellement im ganzen Thale an, deſſen Richtigkeit durch die im Jahre 1774 von dem gelehrten Geometer Don Joaquin Velasquez gemachten Meſſungen bewieſen wurde. Der königliche Kosmograph Enrico Martinez, legte zwei Kanalentwürfe vor, den einen zur Ausleerung der drei Seen von Zumpango, Tezeuco und San Criſtobal; den anderen zur Ausleerung des Sees von Zum— pango allein. Nach beiden Plänen ſollte die Ableitung des Waſſers durch die unterirdiſche Galerie von Nochiſtongo ge— ſchehen, wie ſie Obregon und Arciniega 1580 vorgeſchlagen hatten. Da aber die Entfernung des Sees von Tezeuco bei — 12 — der Mündung des Rio Guautitlan gegen 32000 m betrug, ſo beſchränkte ſich die Regierung lieber auf den Kanal von Zumpango. Dieſer Kanal wurde dermaßen angefangen, daß er zugleich das Waſſer vom See, deſſen Namen er führt und von dem Fluſſe Guautitlan aufnahm. Es iſt daher falſch, daß der von Martinez vorgeſchlagene Deſague in ſeinem Prinzip negativ war, das heißt, daß er bloß den Rio de Guautitlan verhinderte, ſich in den See von Zumpango zu ergießen. Der Zweig des Kanals, welcher das Waſſer des Sees nach der Galerie führte, füllte ſich durch Erdanhäufungen aus und dann diente der Deſague freilich bloß für den Guautitlan, deſſen Lauf er veränderte. Als daher Herr Mier neuerdings die direkte Ausleerung der Seen von San Criſto— bal und von Zumpango unternahm, erinnerte man ſich in Mexiko kaum noch, daß 188 Jahre früher dieſelbe Arbeit für das erſte der großen Baſſins unternommen worden war. Die berühmte unterirdiſche Galerie von Nochiſtongo wurde den 28. November 1607 angefangen. Der Vizekönig that in Gegenwart der Audiencia den erſten Schlag mit dem Karſt. 15000 Indianer wurden mit dieſer Arbeit beſchäftigt, welche mit einer außerordentlichen Schnelligkeit geendigt wurde, da man an vielen Schachten zugleich arbeitete. Die armen Eingeborenen wurden mit der größten Härte behandelt. Der Gebrauch des Karſt und der Schaufel reichten hin, die lockere Erde zu durchſtechen. Nach elfmonatlicher, ununterbrochener Arbeit war die Galerie (el Socabon), welche über 6600 m Länge, 3,5 m Breite und 42 m Höhe hatte, fertig. Im Dezember 1608 wurde der Vizekönig und der Erzbiſchof von Mexiko von dem Ingenieur eingeladen, ſich nach Huehuetoca zu begeben, um das Wafjer! aus dem See von Zumpango und vom Rio de Guautttlan durch die Galerie abfließen zu ſehen. Nach Zepedas Bericht machte der Vizekönig Marquis von Salinas über 2000 m zu Pferde in dieſem unterirdiſchen Gange. Auf der anderen Seite des Hügels von Nochiſtongo iſt der Rio de Montezuma (oder von Tula), der ſich in den Fluß Panuco ergießt. Von der nördlichſten Spitze des So— cabon an, welche die Boca de San Gregorio heißt, hatte Martinez eine dem Himmel offene Rigole angebracht, welche in einer direkten Entfernung von 8600 m die Waſſer der Das erſte Waſſer war ſeit dem 17. September 1608 durch— gefloſſen. — 13 — Galerie nach der kleinen Kaskade (Salto) des Rio de Tula führte. Von dieſer Kaskade an hat dasſelbe Waſſer nach meinen Meſſungen bis zum Golf von Mexiko 2135 m herab: zufließen, was bei einer Länge von 323 000 m den Fall des: jelben im Durchſchnitte zu 6 m auf 1000 m beſtimmt. Ein unterirdiſcher Durchgang von 6600 m Länge mit einer Oeffnung von 10% qm im Profil, der zu einem Aus: leerungskanal beſtimmt iſt und in weniger als in einem Jahre vollendet worden, iſt ein hydrauliſches Werk, das zu unſerer Zeit und in Europa ſogar die Aufmerkſamkeit der Ingenieure feſſeln würde; denn erſt ſeit Ende des 17. Jahrhunderts, da der berühmte Franz Andreoſſy an dem Languedoker Kanal durch den Durchgang von Malpas ein großes Muſter auf— geſtellt hat, ſind dergleichen unterirdiſche Durchbrüche gemeiner geworden. Der Kanal, welcher die Themſe mit der Severn vereinigt, geht bei Sapperton in einer Länge von mehr als 4000 m durch eine Kette ſehr hoher Gebirge. Der große unterirdiſche Kanal von Bridgwater, welcher bei Worsley in der Gegend von Mancheſter zum Transporte der Steinkohlen dient, hat, wenn man ſeine verſchiedenen Arme zuſammen— nimmt, eine Ausdehnung von 19200 m. Der Kanal in der Pikardie, an welchem man gegenwärtig arbeitet, ſollte nach dem erſten Plane einen unterirdiſchen ſchiffbaren Durchgang von 13700 m Länge, 7 m Breite und 8 m Höhe erhalten.! Kaum hatte ein Teil des Waſſers aus dem Thale von Mexiko gegen den Atlantiſchen Ozean abzufließen angefangen, als man Martinez ſchon vorwarf, daß er eine Galerie ge— graben habe, welche weder breit, noch dauerhaft, noch tief genug war, um das Waſſer, wenn es ſtark anwuchs, zu faſſen. Er antwortete, daß er verſchiedene Pläne vorgelegt, die Regierung aber das Mittel vorgezogen habe, welches am ſchnellſten auszuführen war. Wirklich bewirkte der ſchnelle Wechſel der Feuchtigkeit und der Trockenheit in der lockeren Erde häufigen Einſturz, und man ſah ſich bald genötigt, die Decke, welche nur aus einer Abwechſelung von Lagen Mergel Der Georgſtollen im Harz, eine im Jahre 1777 angefangene und 1800 geendigte Galerie, hat 10 438 m Länge und koſtete 1600 000 Franken. Bei Forth arbeitet man in den Steinkohlen⸗ gruben über 3000 m unter den Meeresgrund hinein, ohne Infil⸗ trationen ausgeſetzt zu ſein. Der unterirdiſche Kanal von Bridg⸗ water iſt zwei Drittel ſo lang, als die Meerenge von Calais breit. — 174 — und verhärtetem Thon, Tepetate genannt, beſtand, zu ſtützen. Anfänglich bediente man ſich des Bretterwerkes, das mit einem Geſimſe von dünnen Balken auf Pfeilern ruhte. Da aber harzhaltiges Holz in dieſem Teile des Thales ſelten war, ſo erſetzte Martinez die Bretterdecke ſpäter mit Mauer⸗ werk. Dieſes Mauerwerk war nach den Ueberbleibſeln, die man in der Obra del Conſolado noch davon ſieht, zu ur— teilen, ſehr gut ausgeführt, aber in ſeinem Prinzipe mangel⸗ haft. Der Ingenieur hatte, ſtatt die Galerie von der Decke bis zu der Rigole auf dem Boden mit einem fortlaufenden Gewölbe von elliptiſchem Ausſchnitte zu bekleiden (wie man ſie in den Bergwerken anlegt, wenn eine Quergalerie durch lockeren Sand gegraben wird), bloß Bogen gebaut, welche auf ſehr unfeſtem Grunde ruhten. Das Waſſer, dem man einen zu ſtarken Fall gegeben hatte, untergrub nach und nach die Seitenmauern und ſetzte eine ungeheure Menge Erde und Kies in der Rigole der Galerie an, weil man gar kein Mittel angewandt hatte, es vorher zu filtrieren, wie z. B. dadurch hätte geſchehen können, daß man es durch ein Petategewebe geleitet, wie es die Indianer aus den Faſern der Palm⸗ ſtengel machen. Martinez begegnete dieſem Uebelſtande da— durch, daß er in der Galerie von einer Entfernung zur an: deren eine Art von Krippen oder kleine Schleuſen anbrachte, die ſich ſchnell öffneten und damit den Durchgang reinigen ſollten. Allein auch dieſes Mittel war unzureichend und die Galerie verſtopfte ſich durch die unaufhörlichen Erdanhäufungen. Vom Jahre 1608 ſtritten ſich die mexikaniſchen Inge— nieure, ob man den Socabon von Nochiſtongo erweitern, oder ſein Mauerwerk vollenden, oder einen ganz offenen Durchbruch mit Abhebung aller auf dem Gewölbe laſtenden Erde machen, oder aber auf einem niedrigeren Punkte eine neue Auslee— rungsgalerie unternehmen ſollte, welche außer dem Waſſer des Fluſſes Guautitlan und des Sees von Zumpango auch das des Sees von Tezeuco abführen könnte. Der Erzbiſchof und Vizekönig Don Garcia Guerra von dem Dominikanerorden ließ im Jahre 1611 neue Nivellierungen durch Alonſo de Arias, Oberintendanten des königlichen Arſenals (Armero mayor) und Inſpektor des Befeſtigungsweſens (Maestro. mayor de fortificaciones), einen ſehr rechtſchaffenen Mann, der damals in großem Rufe ſtand, vornehmen. Arias ſchien Martinez' Arbeiten zu billigen; allein der Vizekönig konnte zu keinem definitiven Entſchluſſe kommen. Des Streites der — 175 — Ingenieure müde, ſandte der Hof von Madrid im Jahre 1614 einen Holländer, Adrian Boot, nach Mexiko, deſſen Kennt— niſſe in der Waſſerbaukunſt in den Denkſchriften jener Zeit, welche in den Archiven der Vizekönige aufbewahrt ſind, hoch gerühmt werden. Dieſer Fremde, welcher Philipp III. durch ſeinen Geſandten am franzöſiſchen Hofe empfohlen worden war, ſprach aufs neue zu Gunſten des indianiſchen Syſtemes und gab den Rat, rings um die Hauptſtadt große Dämme und mit Mauerwerk bekleidete Erdwälle aufzuführen. Indes brachte er es erſt 1623 dahin, daß die Galerie von Nochi— ſtongo ganz aufgegeben wurde. Eben war ein neuer Vize— könig, der Marquis von Guelves, in Mexiko angekommen, welcher noch keine der großen Ueberſchwemmungen geſehen hatte, die das Austreten des Rio de Guautitlan verurſachte. Er war daher verwegen genug, dem Ingenieur Martinez den Befehl zu geben, den unterirdiſchen Durchgang zu verſtopfen und das Waſſer auf dem See von Zumpango und San Criſtobal in den See von Tezcuco zu leiten, um zu ſehen, ob die Gefahr wirklich ſo groß ſei, wie man ſie ihm vorgeſtellt hatte. Natürlich ſchwoll dieſer See außerordentlich an; der Befehl wurde zurückgenommen und Martinez ſetzte die Ar— beiten an der Galerie bis zum 20. Juni 1629 fort, wo ein Ereignis vorfiel, deſſen wahre Urſachen immer ein Ge— heimnis geblieben ſind.“ Es war ſehr ſtarker Regen gefallen, der Ingenieur hatte den unterirdiſchen Gang verſtopft und die Stadt Mexiko ſtand eines Morgens plötzlich 1 m Höhe im Waſſer. Bloß die Plaza Mayor, der Platz des Volador und die Vorſtadt von Santiago de Tlatelolco lagen noch trocken, und in den übrigen Straßen fuhr man in Kähnen. Martinez wird ins Gefäng- nis geworfen, weil man behauptete, er habe die Abteilungs— galerie geſchloſſen, um den Ungläubigen einen offenbaren und negativen Beweis von der Nützlichkeit ſeines Werkes zu geben. Dagegen erklärte er aber, daß er, indem er eine weit anſehn— lichere Waſſermaſſe ankommen geſehen, als ſeine enge Galerie hätte faſſen können, lieber die Hauptſtadt der vorübergehenden Gefahr einer Ueberſchwemmung habe ausſetzen als an einem Tage die Arbeit ſo vieler Jahre durch die Gewalt des Elementes zerſtören laſſen wollen. Gegen alle Erwartung blieb Mexiko Nach einigen handſchriftlichen Nachrichten erſt den 20. Sep: tember. — 176 — fünf Jahre lang, von 1629 bis 1634! unter Waſſer. Man befuhr die Straßen in Kähnen, wie vor der Eroberung im alten Tenochtitlan geſchehen war, und baute längs den Häuſern hin hölzerne Brücken, welche als Quais für die Fußgänger dienten. Inzwiſchen wurden vier verſchiedene Pläne dem Vizekönig Marquis von Ceralvo vorgelegt und von ihm unterſucht. Simon Mendez, ein Einwohner von Valladolid de Michoacan ſtellte in einer Denkſchrift dar, daß der Boden des Plateau von Tenochtitlan auf der Nordweſtſeite gegen Huehuetoca und den Hügel von Nochiſtongo hin beträchtlich emporſteige; daß der Punkt, wo Martinez die Bergkette, welche das Thal rings einſchließt, angegriffen, der mittlere Höheſtand vom Waſſer— ſpiegel des am erhabenſten gelegenen Sees (des von Zum: pango) und nicht dem des am niedrigſten ſtehenden (von Tez: cuco) gleichkomme und daß ſich vielmehr der Boden des Thales nördlich von dem Dorfe Carpio, öſtlich von den Seen von Zumpango und San Criſtobal beträchtlich ſenke. Mendez ſchlug daher vor, den See von Tezcuco durch eine Ableitungs— galerie auszutrocknen, welche zwiſchen Kaltocan und Santa Lucia gehen und ſich in den Bach (Arroyo) Tequisquiac er: gießen ſollte, welcher, wie ſchon oben bemerkt worden iſt, in den Rio de Montezuma oder de Tula fließt. Mendez fing wirklich dieſen Deſague, wie er ihn entworfen hatte, auf dem niedrigſten Punkte an, und ſchon waren vier Luftſchachte (puits d'airage, lumbreras) vollendet, als die immer unent: ſchloſſene und ſchwankende Regierung die Unternehmung, weil ſie ihr zu weit ausſehend und zu koſtſpielig ſchien, wieder aufgab. Auf einer anderen Seite ſchlugen Antonio Roman und Juan Alvarez von Toledo im Jahre 1630 die Austrock— nung des Thales durch einen Zwiſchenpunkt vor, nämlich durch den See von San Criſtobal; indem man das Waſſer in die Schlucht (Barranca) von Huiputzth vorwärts von dem Dorfe San Mateo und vier Meilen weſtlich von der kleinen Stadt Pachuca leitete. Auf dieſen Plan achteten der Vize— könig und die Audiencia ebenſowenig, als auf den des Maires von Oculma, Criſtobal de Padilla, welcher drei per— pendikuläre Höhlen oder natürliche Schlünde (Boquerones) 1 Mehrere Nachrichten geben an, daß die Ueberſchwemmung nur bis 1631 gedauert, aber gegen Ende des Jahres 1633 wieder angefangen habe. — 17 — in dem Bezirke des Thales von Oculma ſelbſt entdeckt hatte und ſich ihrer zur Ausleerung der Seen bedienen wollte. Der kleine Fluß Teotihuacan verliert ſich in dieſen Boque— rones und Padilla machte den Vorſchlag, auch das Waſſer des Sees von Tezeuco über Oculma und die Meierei Tez— quititlan in dieſelben zu leiten. Dieſe Idee, die natürlichen Grotten in den Lagen von blaſigem Mandelſteine zu benutzen, gab dem Jeſuiten Fran- cisco Calderon zu einem ähnlichen, nicht minder gigantesken Plane Veranlaſſung. Dieſer Mönch behauptete, daß ſich auf dem Grunde des Sees von Tezcuco, nahe bei dem Penol de los Banos, ein Loch (Sumidero) befinde, das, wenn es gehörig erweitert würde, alles Waſſer verſchlingen würde. Dieſe Behauptung unterſtützte er mit dem Zeugniſſe der ein⸗ ſichtsvollſten Eingeborenen und der alten indianiſchen Karten. Der Vizekönig beauftragte die Prälaten aller geiſtlichen Dr: den (die ſich wohl am beſten auf hydrauliſche Gegenſtände verſtehen mußten) mit der Prüfung dieſes Planes. Drei Monate lang, vom September bis zum Dezember 1635 fon- dierten die Mönche und der Jeſuit vergebens und der Sumi— dero wurde nicht gefunden, unerachtet ſelbſt heutzutage noch viele Indianer ebenſo hartnäckig an ſein Daſein glauben als der Pater Calderon. Allein welche geologiſche Meinung man auch über den vulkaniſchen oder neptuniſchen Urſprung des blaſigen Mandelſteines haben mag, ſo iſt es doch nicht wahr: ſcheinlich, daß dieſe problematiſche Felsart Höhlen enthält, welche geräumig genug find, das Waſſer des Sees von Tez— cuco, das auch zur Zeit der Dürre immer noch zu mehr als 251700000 ebm angeſchlagen werden muß, zu faſſen. Bloß in Schichten von ſekundärem Gips, wie in Thüringen, kann man es zuweilen wagen, anſehnliche Waſſermaſſen in natür⸗ liche Grotten (Gipsſchlotten) zu leiten. In dieſe läßt man die Ableitungsgalerien, welche im Inneren einer Mine von Kupferſchiefer angefangen werden, ſich ausſtoßen, ohne ſich weiter um den Weg zu bekümmern, den das Waſſer, welches die metallurgiſchen Arbeiten hinderte, nehmen mag. Wie kann man aber auf die Anwendung eines ſolchen Lokalmittels debe i wenn von einem großen hydrauliſchen Werke die ede iſt? Während der Ueberſchwemmung von Mexiko, welche fünf Jahre hintereinander fortdauerte, ſtieg das Elend des niedrigen Volkes aufs höchſte. Aller Handel hörte auf, viele Häuſer A. v. Humboldt, Neuſpanien. I. 12 — 178 — fielen zuſammen und andere wurden wenigſtens unbewohnbar. In dieſer jammervollen Zeit zeichnete ſich der Erzbiſchof Francisco Manzo y Zuniga durch ſeine Wohlthätigkeit aus. Täglich fuhr er in einem Kahne herum und verteilte Brot an die Armen in den überſchwemmten Straßen. Der Hof von Madrid befahl 1635 zum zweitenmal, die Stadt in die Ebene zwiſchen Tacuba und Tacubaya zu verſetzen, allein der Magiſtrat (Cabildo) machte die Vorſtellung, daß der Wert der Gebäude (Fincas), die man im Jahre 1607 zu 150 Mil⸗ lionen Livres tournois angeſchlagen hatte und welche man nun verlaſſen ſollte, ſchon über 200 Millionen betrage. Bei dieſem Unglück ließ der Vizekönig das Bild der heiligen Jungfrau von Guadalupe! nach Mexiko bringen. Lange blieb es in der überſchwemmten Stadt; allein das Waſſer verlief ſich nicht früher als 1634, wo die Erde durch ſehr häufige und äußerſt ſtarke Erdſtöße in dem Thale platzte; welches Phänomen, wie die Ungläubigen ſagen, das Wunder des an⸗ gebeteten Bildes höchlichſt begünſtigte. Bei öffentlichem Unglück nehmen die Einwohner von Mexiko zu den beiden berühmten Mutter-Gottes-Bildern von Guadalupe und de los Remedios ihre Zuflucht. Das erſte wird als einhei— miſch betrachtet, indem es unter Blumen in dem Taſchentuche eines Indianers erſchienen iſt; letzteres hingegen wurde zur Zeit der Eroberung aus Spanien in das Land gebracht. Der Parteigeiſt, welcher zwiſchen den Kreolen und Europäern (Gachupines) obwaltet, gibt dem religiöſen Glauben einen beſonderen Unterſchied. Das niedrige Volk von Kreolen und Indianern ſieht es ſehr ungern, wenn der Erzbiſchof zur Zeit großer Dürre das Bild der Mutter Gottes de los Remedios vorzugsweiſe nach Mexiko bringen läßt. Daher ſtammt auch das Sprichwort, welches den gegenſeitigen Haß der Kaſten ſo charakteriſtiſch bezeichnet: Alles, ſelbſt das Waſſer, müſſen wir von Europa erhalten (hasta el agua nos debe venir de la Gachupina)! Läßt die Dürre trotz der Gegenwart der Mutter Gottes de los Remedios nicht nach (wie man indes nur wenige Beiſpiele geſehen haben will), fo erlaubt der Erzbiſchof den In— dianern, das Bild der Madonna von Guadalupe zu holen. Dieſe Erlaubnis verbreitet allgemeine Freude unter dem mexikaniſchen Volke, beſonders wenn die lange Dürre ſich (wie überall) in ſtarken Regen endigt. Ich habe Werke über Trigonometrie geſehen, die in Neu: ſpanien gedruckt und der Mutter Gottes von Guadalupe zugeeignet waren. Auf dem Hügel von Teyeyacac, an deſſen Fuße ihr reiches Heiligtum ſteht, befand ſich einſt der Tempel der mexikaniſchen Ceres, Onantzin (unfere Mutter), oder Cen-teotl (Göttin des Mais) oder auch Tzin-teotl (Göttin⸗Gebärerin) genannt. — 179 — Der Vizekönig Marquis von Ceralvo ſetzte den Ange: nieur Martinez wieder in Freiheit. Er ließ die Calzada (Damm) von San Criſtobal beinahe in dem Zuſtande auf— führen, worin man ſie heutzutage erblickt. Schleuſen (Com- puertas) geſtatten die Verbindung des Sees von San Criſtobal mit dem von Tezeuco, deſſen Waſſerkanal gewöhn— lich nur 3 bis 3,2 m niedriger iſt. Schon 1609 hatte Martinez angefangen, einen kleinen Teil der unterirdiſchen Galerie von Nochiſtongo in einen dem Himmel offenen Durchbruch zu verwandeln; allein nach der Ueberſchwemmung von 1634 erhielt er Befehl, dieſe zu langwierige und zu koſtbare Arbeit aufzugeben, und den Deſague durch die Er— weiterung ſeiner Galerie zu vollenden. Das Reſultat einer beſonderen Auflage auf die Konſumtion der Lebensmittel (Derecho de sisas) war von dem Marquis von Salinas zur Unterhaltung der hydrauliſchen Arbeiten des Martinez be— ſtimmt worden. Der Marquis von Cadereyta vermehrte die Einkünfte der Kaſſe des Deſague noch mit einer neuen Auf— lage von 25 Piaſtern, womit er die Einfuhr jeder Pipe ſpaniſchen Weines beſchwerte. Beide Abgaben beſtehen noch jetzt; allein nur wenig von ihrem Ertrage kommt dem Deſague zu gute. Zu Anfang des 18. Jahrhunderts beſtimmte der Hof die Hälfte der Weinacciſe für die Unterhaltung der Be— feſtigungswerke des Schloſſes von San Juan d'Ulua, und ſeit 1779 erhält die Kaſſe der hydrauliſchen Arbeiten im Thale von Mexiko nicht mehr als fünf Franken, welche jedes aus Europa kommende und über Veracruz eingeführte Baril Weines bezahlt. y Von 1634 bis 1637 wurde die Arbeit an dem Deſague mit wenig Nachdruck fortgeſetzt; indem der Vizekönig Mar⸗ quis von Villena, (Herzog von Escalona) dem Pater Luis Flores, Generalkommiſſär des Franziskanerordens, die Leitung derſelben übertragen hatte. Indes rühmt man dennoch die Thätigkeit dieſes Geiſtlichen, unter deſſen Adminiſtration man das Austrocknungsſyſtem zum drittenmal veränderte, ſehr. Man entſchloß ſich ein für allemal die Galerie (Socabon) aufzugeben, das Gehirn des Gewölbes wegzuheben und einen ungeheuren Bergdurchſchnitt (Tajo abierto) zu machen, von welchem der alte unterirdiſche Durchgang bloß die Rigole bilden ſollte. Die Franziskanermönche wußten ſich im Beſitze der Leitung der hydrauliſchen Arbeiten zu erhalten, und es gelang — 180 — ihnen alles um ſo beſſer, da ſich um dieſe Zeit! der Poſten des Vizekönigs hintereinander im Beſitz eines Biſchofs von Puebla, Palafox, eines Biſchofs von Yucatan, Torres, eines Grafen von Banos, der eine ſehr glänzende Laufbahn mit dem Eintritt in den Orden der Karmeliterbarfüßer endigte, und eines Erzbiſchoßs von Mexiko und Auguſtinermönches, Namens Eriquez de Ribera, befand. Der Unwiſſenheit und Langſamkeit der Mönche müde, erhielt endlich ein Juriſt, der Fiskal Martin de Solis, im Jahre 1675 vom Hofe von Madrid die Adminiſtration des Deſague. Er verſprach die Bergkette in zwei Monaten zu durchſchneiden, und ſeine Unternehmung gelang ſo gut, daß 80 Jahre kaum hinreichten, den Schaden, den er in wenigen Tagen verurſacht, wieder gut zu machen. Auf den Rat des Ingenieurs Francisco Poſuelo de Eſpinoſa ließ der Fiskal auf einmal mehr Erde in die Rigole werfen, als die Gewalt des Waſſers hinweg⸗ führen konnte. Dadurch verſtopfte ſich die Oeffnung ganz. Noch 1760 erkannte man die Spuren des Einſturzes, den Solis Unklugheit verurſacht hatte. Der Vizekönig Graf von Montlova glaubte daher mit allem Recht, daß die Langſam⸗ keit der Franziskanermönche minder ſchädlich ſei als die ver: wegene Thätigkeit des Juriſten, und ſetzte den Pater Fray Manuel Cabrera 1687 wieder in ſeine Stelle als Oberinten⸗ danten (Super Intendente de la real obra del Desague de Huehuetoca) ein, und dieſer rächte ſich an dem Fiskal durch die Herausgabe eines Werkes, das den bizarren Titel hat: „Aufgeklärte Wahrheiten und widerlegte Anmaßungen, ver⸗ möge deren eine mächtige und giftvolle Feder in einem ſchlecht verfaßten Berichte zu beweiſen geſucht hat, daß die Arbeit an dem Deſague 1675 geendigt war.“? Der unterirdiſche Durchgang war in wenigen Jahren durchgebrochen und mit Mauerwerk bekleidet worden; allein man brauchte zwei Jahrhunderte, um den offenen Durchſchnitt des Berges in lockerer Erde und in Profilen von 80 bis 100 m Breite und 40 bis 50 m perpendikulärer Tiefe zu Vom 9. Juni 1641 bis zum 13. Dezember 1673. 2 Verdad aclarada y desvanecidas imposturas, con que lo ardiente y envenenado de una pluma poderosa en esta Nueva Espana, en un dietamen mal instrido, quisö persuadir, averse acabado y perfectionado el ano 1675, la fabrica del Real Desague de Mexico, — 181 — vollenden. Man vernachläſſigte die Arbeit in dürren Jahren und nahm ſie mit außerordentlicher Energie in den wenigen Monaten, welche großen Ueberſchwemmungen oder einem Austreten des Fluſſes Guautitlan folgten, wieder vor. Die Ueberſchwemmung, von welcher die Hauptſtadt 1747 bedroht wurde, beſtimmte den Grafen von Guemes, ſich wieder mit dem Deſague zu beſchäftigen. Allein neue Saumſeligkeit trat bis 1762 ein, wo man nach einem ſehr regnichten Winter ſtarke Waſſersnot zu fürchten hatte. Noch lagen auf der nörd— lichen Seite von Martinez' unterirdiſcher Galerie 1938 m Boden, die noch nicht in einen offenen Durchſchnitt (Tajo abierto) verwandelt worden waren, und da ſie überhaupt zu eng war, ſo geſchah es oft, daß das Waſſer nicht frei genug gegen den Salto de Tula ablaufen konnte. 1767 endlich, unter der Adminiſtration eines flamändi— ſchen Vizekönigs, des Marquis von Croix, übernahm das Corps der Kaufleute von Mexiko, welche das Tribunal des Conſulado in der Hauptſtadt bildeten, die Beendigung des Deſague unter der Bedingung, zur Entſchädigung für ſeine Vorſchüſſe die Siſa und die Weinauflage erheben zu dürfen. Die Koſten des Werkes wurden von den Ingenieuren zu ſechs Millionen Franken angeſchlagen, und das Conſulado führte es wirklich mit einem Aufwande von vier Millionen aus; allein ſtatt, wie feſtgeſetzt worden war, den Durchſchnitt des Ge— birges in fünf Jahren zu vollenden und der Rigole 8 m Breite zu geben, wurde der Kanal erſt 1789 und zwar nicht breiter, als Martinez' Galerie geweſen war, fertig. Seit der Zeit hat man unaufhörlich daran gearbeitet, das Werk zu vervollkommnen, indem man den Grund des Ausſchnittes erweiterte und die Abhänge ſanfter machte. Indes fehlt noch immer viel dazu, bis der Kanal vor Erdfällen ganz ge— ſichert iſt, und dieſe ſind um ſo gefährlicher, da die Aus— lockerungen auf der Seite in dem Maße zunehmen, in welchem der Lauf des Waſſers an ſeiner Schnelligkeit verliert. Studiert man in den Archiven von Meriko die Geſchichte der hydrauliſchen Arbeiten von Nochiſtongo, ſo bemerkt man eine unaufhörliche Unſchlüſſigkeit der Regierung und eine Veränderlichkeit von Meinungen und Vorſtellungen, welche die Gefahr ſtatt zu entfernen nur noch vermehren. Der Vize— könig macht in Begleitung der Audiencia und der Domherren Beſuche an Ort und Stelle; der Fiskal und andere Rechts⸗ gelehrten verfertigen Schriften darüber; Junten werden nieder— — 12 — geſetzt; Ratſchläge von den Franziskanermönchen erteilt; alle 15 oder 20 Jahre, wenn die Seen auszutreten drohen, ent⸗ ſteht eine ſtürmiſche Thätigkeit, und iſt die Gefahr vorüber, jo tritt ſogleich wieder Saumſeligkeit und ſtrafbare Sorg⸗ loſigkeit ein. 25 Millionen Livres tournois werden ver: ſchleudert, weil man nie Mut genug hat, den nämlichen Plan zu verfolgen, und zwei Jahunderte lang zwiſchen dem Damm— ſyſtem der Indianer und der Ausleerungskanäle, zwiſchen dem Plan einer unterirdiſchen Galerie (Socabon) und dem eines offenen Durchbruches des Gebirges (Tajo abierto) hin und her ſchwankt. Martinez' Galerie läßt man zuſammenſtürzen, weil man eine größere und tiefere unternehmen will, und vernachläſſigt die Durchſchneidung des Gebirges von Nochi— ſtongo zu vollenden, weil man ſich über den Plan eines Kanales von Tezcuco zankt, der nie zuſtande gekommen iſt. In ſeinem jetzigen Zuſtande gehört der Deſague zu den rieſenhafteſten hydrauliſchen Arbeiten, welche je von Menſchen ausgeführt worden ſind. Man ſieht ihn mit einer Art von Bewunderung an, beſonders wenn man die Natur des Bo- dens und die ungeheure Breite, Tiefe und Länge des Gra⸗ bens in Betracht zieht. Hätte dieſer Graben 10 m tief Waſſer, jo könnten die größten Kriegsjchiffe! zwiſchen der Bergreihe durchfahren, welche das Plateau von Mexiko gegen Nordoſten begrenzt. In die Bewunderung, die dieſes Werk einflößt, miſchen ſich aber dennoch niederſchlagende Ideen. Man er— innert ſich, wie viele Indianer hier, teils durch die Unwiſſen— heit der Ingenieure, teils durch die zu ſchwere Arbeit, welche man ihnen in den Jahrhunderten der Barbarei und Grauſamkeit zumutete, zu Grunde gegangen ſind. Man unterſucht, ob es eines ſo langſamen und koſtſpieligen Mittels bedürft hätte, um eine nicht ſehr anſehnliche Waſſermaſſe aus einem auf allen Seiten geſchloſſenen Thale hinauszuleiten, und bedauert am Ende, daß ſo viel vereinigte Kraft nicht auf einen größeren und nützlicheren Zweck verwendet worden iſt, wie z. B. auf die Eröffnung nicht eines Kanales, ſondern einer Durchfahrt durch irgend einen Iſthmus, der die Schiffahrt hindert. Heinrich Martinez' Plan war mit vielem Verſtande ge— dacht und wurde mit erſtaunlicher Schnelligkeit ausgeführt.“ Die Natur des Bodens und die Form des Thales machten einen unterirdiſchen Durchbruch nötig, und das Problem wäre Natürlich jener Zeit. — D. Herausg.] — 13 — auf eine vollſtändige und dauerhafte Weiſe gelöſt geweſen, 1) wenn die Galerie auf einem niedrigeren Punkte, welcher dem Waſſerſpiegel des unterſten Sees gleich geweſen, ange— fangen worden wäre; und 2) wenn man dieſe Galerie in elliptiſcher Form durchgebrochen und ganz mit einer feſten Mauer und einem gleichfalls elliptiſchen Gewölbe bekleidet hätte. Der von Martinez ausgeführte Durchbruch hatte, wie wir oben ſchon bemerkt, bloß 15 qm im Profil; um aber über das Maß zu urteilen, in welchem eine Ableitungsgalerie angelegt werden mußte, hätte man genau die Waſſermaſſe kennen müſſen, welche der Fluß Guautitlan und der See von Zumpango zur Zeit ihres großen Anſchwellens herbei— führen. Von einer ſolchen Schätzung habe ich nichts in den Denkſchriften von Zepeda, Cabrera, Velasquez und Caſtera finden können; nach meinen eigenen, an Ort und Stelle und auf dem Teile des Gebirgsdurchſchnittes (el corte o tajo), welcher la obra del consulado genannt wird, gemachten Unterſuchungen aber hat es mir geſchienen, daß das Waſſer zur Zeit außerordentlichen Regens ein Profil von 8 bis 10 qm darſtellte, und daß dieſer Umfang bei außerordent- lichen Austretungen des Fluſſes Guautitlan auf 30 bis 40 m ſtieg. Auch haben mich die Indianer verſichert, daß ſich die Rigole, welche den Grund des Tajo bildet, in letzterem Falle dermaßen füllt, daß die Ruinen vom alten Gewölbe des Martinez unter der Waſſerfläche ſtehen. Fanden die In⸗ genieure zu viele Schwierigkeit in der Ausführung einer elliptiſchen Galerie von mehr als 4 bis 5 m Breite, jo wäre es offenbar beſſer geweſen, das Gewölbe in ſeiner Mitte mit einem Pfeiler zu ſtützen, oder zwei Galerien zugleich zu graben, als einen offenen Durchbruch zu machen. Dergleichen Durch— brüche ſind nur bei wenig erhabenen, nicht ſehr breiten Hügeln, welche aus Schichten beſtehen, die der Lockerung weniger unter— worfen ſind, vorteilhaft. Um eine Waſſermaſſe, welche ge— wöhnlich 8, und zuweilen 15 bis 20 qm Profil hat, durch das Gebirge von Nochiſtongo zu führen, glaubte man einen Der Ingenieur Inieſta behauptete ſogar, daß das Waſſer, bei großem Anwachſen desſelben, in dem Kanale nächſt der Boveda real bis auf 20 oder 25 m ſteige. Velasquez hingegen verſichert, daß dieſe Schätzungen außerordentlich übertrieben ſeien. (Declara- cion del Maestro Iniesta und Informe de Velasquez, beide hand: ſchriftlich vorhanden.) — 184 — Graben durchbrechen zu müſſen, deſſen Profil in ſehr anſehn— lichen „Diſtanzen 1800 bis 3000 qm hält! In ſeinem jetzigen Zuſtande hat der Ableitungskanal (Desague) von Huhehuetoca, nach Herrn Velasquez' Mei: ſungen:! Mexik. Varen Meter Von der Schleuſe von Vertideros bis zur Brücke von Huehuetoca . . 4870 oder 4087 Von der Brücke von Huehuetoca bis zur Schleuſe der heil. Maria. . . 2660 „ 2232 Von der Compuerta de Santa Maria bis zur Schleuſe von Valderas .. 1400 „ 1175 Von der Compuerta von Valderas bis Boveda real 3290 „ 2761 Von der Boveda real bis zu den Ueber⸗ bleibſeln der alten unterirdiſchen Galerie Techo Baxo genannt . 650 „ 545 Von Techo Baxo bis zur Galerie der Vizekönige 1270 „ 1066 Von Canon de los Vireyes bis zur Boca de San Gregorio. 610 „ 512 Von der Boca de San Gregorio bis zu der niedergeriſſenen Schleuſe 1400 „ 1175 Von der Preſa demolida bis zur Brücke der Kaskade. 7950 „ 66 Von der Puente del Salto bis zur Kas⸗ kade ſelbſt (Salto del Rio de Tula) . 430 „ 361 Länge des Kanales von Vertideros bis zum Salto .. 24 530 oder 20585 Von dieſer Lange 5 von 204, km iſt der vierte Teil, in welchem die Kette der Hügel von Nochiſtongo (öftlich von Cerro de Sincoque) liegen, in einer außerordentlichen Tiefe durchbrochen. Da, wo die Seitenwand des Kanales am höchſten iſt, bei dem alten Schachte von Juan Garcia, hat der Durchſchnitt des Berges, in einer Länge von mehr als 800 m, eine Perpendikulärtiefe von 45 bis 60 m und auf ſeiner Spitze, von einer Böſchung zur anderen, 85 bis 110 m Informe y exposicion de las oporaciones hechas para examinar la posibilidad del Desague general de la Laguna de Mexico y otros fines a el conducientes, 1774. (Eine hand: ſchriftliche Denkſchrift, ©. 5.) Breite.! Ueber 3500 m lang beträgt die Tiefe des Aus: ſchnittes 30 bis 50 m. Die Rigole, in welcher das Waſſer fließt, hat gewöhnlich nur 3 bis 4 m Breite; allein in einem großen Teile des Deſague, wie man in den Profilen ſieht, die ich der 15. Platte meines mexikaniſchen Atlaſſes beigefügt habe, iſt der obere Teil des Ausſchnittes im Verhältnis zu ſeiner Tiefe nicht breit genug, ſo daß die Seitenwände, ſtatt 40 oder 45° Senkung zu haben, viel zu ſteil ablaufen und daher unaufhörliche Erdfälle bilden. Beſonders ſieht man in der Obra del Conſulado die ungeheure Erdanhäufung von hergeſchwemmtem Boden, welche die Natur auf dem Baſalt— porphyr des Thales von Mexiko angelegt hat. Als ich die Treppe der Vizekönige herabſtieg, zählte ich 25 Schichten von verhärtetem Thon, die mit ebenſoviel Mergelſchichten abwech— ſelten, und dieſe enthielten Kugeln von faſerigem Kalk mit zellenförmiger Oberfläche. Auch hat man beim Ausgraben des Deſague die verſteinerten Elefantenknochen gefunden, von denen ich in einem anderen Werke geſprochen habe. Auf beiden Seiten des Bergdurchſchnittes ſieht man be— trächtliche Hügel, welche von der ausgegrabenen Erde gebildet wurden, und ſich nach und nach mit Vegetation zu bedecken anfangen. Da die Herausſchaffung dieſes Abraumes eine außerordentlich beſchwerliche und langſame Arbeit war, ſo be— diente man ſich in letzteren Zeiten der ſchon von Enrico Martinez angewandten Methode, und ſchwellte das Waſſer vermittelſt kleiner Schleuſen dermaßen an, daß die Gewalt des Stromes den in die Rigole geworfenen Abraum weg— führte. Bei dieſer Arbeit kamen oft 20 bis 30 Indianer auf einmal um. Man band ſie an Seile und zwang ſie, an denſelben aufgehangen, den Schutt in der Mitte des Waſſers zu vereinigen; allein oft ſchleuderte ſie die reißende Flut gegen abgeriſſene Felſenblöcke, die ſie zerſchmetterten. Wir haben weiter oben bemerkt, daß der Arm von Martinez' Kanal, welcher ſich gegen den See von Zumpango hingießt, ſeit 1623 verſtopft, und dadurch (um mich des Ausdruckes der heutigen mexikaniſchen Ingenieure zu bedienen) bloß negativ Um ſich eine klarere Vorſtellung von der ungeheuren Breite dieſes Grabens bei der Obra del Conſulado zu machen, braucht man ſich bloß zu erinnern, daß die Seine in Paris beim Hafen Bona⸗ parte 102 m, beim Pont royal 136 und bei der Brücke von Auſter⸗ litz, in der Nähe des Jardin des Plantes 175 m Breite hat. — 186 — geworden war, d. h. den Fluß Guautitlan nur verhinderte, ſich in den See zu ergießen. Wenn das Waſſer ſtark an⸗ wuchs, ſo wurde man den Nachteil inne, der für die Stadt Mexiko aus dieſem Zuſtande der Dinge entſtand. Trat der Rio de Guautitlan aus, ſo ſchüttete er einen Teil ſeines Waſſers in das Becken von Zumpango, und dieſes, welches überdies durch die Zuſtrömung von San Mateo und Pachuca anſchwoll, vereinigte ſich mit dem See von San Criſtobal. Allein es wäre ſehr koſtſpielig geweſen, das Bett des Fluſſes Guau⸗ titlan zu erweitern, ſeine Beugungen abzuſchneiden und ſeinen Lauf gerade zu machen, und dieſes Mittel würde erſt nicht einmal alle Gefahr der Ueberſchwemmung entfernt haben. Man faßte daher gegen Ende des verfloſſenen Jahrhunderts, unter der Leitung von Don Cosme de Mier y Trespalacios, Generaloberintendanten des Deſague, den weiſen Entſchluß, zwei Kanäle zu eröffnen, welche das Waſſer aus den Seen von Zumpango und San Criſtobal nach dem Bergdurchſchnitte von Nochiſtongo führten. Der erſte von dieſen beiden Kanälen wurde 1796 und der zweite 1798 angefangen, und der eine hat 8900, der andere 13000 m Länge. Der Ausleerungs— kanal von San Criſtobal vereinigt ſich mit dem von Zum— pango ſüdöſtlich von Huehuetoca, 5000 m weit von ſeiner Mündung in den Deſague von Martinez. Beide Werke haben über eine Million Livres tournois gekoſtet. Die Waſſerfläche ſteht in beiden 8 bis 12 m niedriger, als der ſie umgebende Boden, und ſie haben im kleinen die nämlichen Fehler, wie der große Durchbruch von Nochiſtongo. Ihre Abhänge ſind viel zu jähe und an vielen Orten beinahe ſenkrecht; auch ſtürzt die lockere Erde ſo häufig in dieſelben hinein, daß die Unterhaltung dieſer beiden Kanäle des Herrn Mier jährlich über 16000 bis 20000 Franken koſtet. Nehmen die Vizekönige den Deſague in Augenſchein (la visita) wozu ſie zwei Tage brauchen, und wofür ſie ehemals ein Geſchenk von 3000 Piaſtern erhielten, ſo ſchiffen fie ſich bei ihrem Palaſte,“ auf dem ſüdlichen Ufer des Sees von San Criſtobal ein, und gehen zu Waſſer ſieben gewöhnliche Meilen weit, bis über Huehue— toca hinaus. Dieſer ſogenannte Palacio de los Vireyes, in welchem man eine prächtige Ausſicht auf den See von Tezeuco und den mit ewigem Schnee bedeckten Vulkan Popocatepec hat, ſieht eher einem großen Pachthauſe als einem Palaſte gleich. — 187 — Nach einem handſchriftlichen Memoire von Don Ignacio Caſtera, gegenwärtigem Inſpektor (Maestro mayor) der hy: drauliſchen Gewerke in dem Thale von Mexiko, hat der De— ſague mit Einſchluß der Dämmeausbeſſerungen (Albaradones), ſeit 1607 bis 1789, 5547 670 harte Piaſter gekoſtet. Rechnet man zu dieſer ungeheuren Summe noch 600000 bis 700000 Piaſter, welche in den nächſtfolgenden 15 Jahren aufgewendet wurden, ſo findet man, daß alle dieſe Arbeiten zuſammen (der Durchbruch des Gebirges von Nochiſtongo, die Dämme und die beiden Kanäle der oberen Seen) über 31 Millionen Livres tournois gekoſtet haben. Der Koſtenanſchlag des Languedoker Kanales, der 238648 m Länge hat, betrug (trotz dem Bau von 62 Schleuſen, und dem prächtigen Behälter von St. Ferreol) nicht weiter, als 4897000 Franken; aber die Unterhaltung dieſes Werkes verzehrte von 1686 bis 1791 die Summe von 22999000 Franken.! Faſſen wir alles, was wir über die in der Ebene von Mexiko ausgeführten hydrauliſchen Arbeiten geſagt haben, zu— ſammen, ſo ſehen wir, daß die Sicherheit der Hauptſtadt gegenwärtig auf folgenden Punkten beruht: J) auf den ſtei— nernen Dämmen, welche das Waſſer von Zumpango hindern, ſich in den See von San Criſtobal, und das von letzterem, ſich in den See von Tezeuco zu ergießen; 2) auf den Däm⸗ men und Schleuſen von Tlahuac und Mexicaleingo, die fi der Austretung der Seen von Chalco und Kochimilco wider: ſetzen; 3) auf dem Deſague von Enrico Martinez, vermöge deſſen der Fluß Guautitlan die Gebirge durchſchneidet, um in das Thal von Tula zu gelangen; und 4) auf den beiden Kanälen des Herrn Mier, durch die man die Seen von Zum— pango und San Criſtobal nach Gefallen ausleeren kann. Alle dieſe vielfältigen Mittel ſchützen die Hauptſtadt in: des doch nicht vor den Ueberſchwemmungen, welche von Norden und Nordweſten kommen. Trotz aller Ausgaben, die man gemacht hat, wird die Stadt ſo lange in großer Gefahr ſein, als noch kein Kanal geradezu nach dem See von Tez⸗ cuco geführt wird. Das Waſſer dieſes Sees kann anſchwellen ohne daß das von San Criſtobal ſeine Dämme zu durch— brechen braucht. Die große Ueberſchwemmung von Mexiko, unter der Regierung von Ahuitzotl, kam bloß von häufigem ! Andreossy, Historie du Canal du Midi, S. 289. — 188 — Regen! und von dem Austreten der ſüdlichſten Seen, von Chalco und KXochimilco her. Das Waſſer ſtieg 5 bis 6 m über den Boden in den Straßen. 1763 und anfangs 1764 ſah man die Hauptſtadt gleichfalls in größter Gefahr. Von allen Seiten überſchwemmt, bildete ſie mehrere Monate lang eine Inſel, und dies geſchah, ohne daß ſich ein Tropfen Waſſers aus dem Fluſſe Guautitlan in den See von Tez⸗ cuco ergoß. Dieſes Anſchwellen desſelben wurde alſo bloß durch die kleinen Zuflüſſe verurſacht, welche von Oſten, Weſten und Süden kommen. Ueberall quoll Waſſer aus der Erde, und dies wahrſcheinlich durch den hydroſtatiſchen Druck, den es erhielt, indem es ſich in die umgebenden Berge einſenkte. Am 6. September 1772 fiel? im Thale von Mexiko jo ein ſtarker und plötzlicher Platzregen, daß er allen Anſchein einer Waſſerhoſe (Manga de agua) hatte. Glücklicherweiſe fand dieſes Phänomen bloß in dem nördlichen und nordweſtlichen Teile des Thales ſtatt. Der Kanal von Huehuetoca that als— dann die wohlthätigſte Wirkung, unerachtet dennoch ein großer Landſtrich zwiſchen San Criſtobal, Ecatepec, San Mateo, Santa Ines und Guautitlan dermaßen überſchwemmt wurde, daß viele Häuſer in Trümmer fielen. Wäre dieſe Wolke aber gerade über der Schale des Sees von Tezcuco geplatzt, ſo hätte ſich die Hauptſtadt der drohendſten Gefahr ausgeſetzt geſehen. Dieſe Umſtände, und noch mehrere andere, die ich weiter oben ausgeführt habe, beweiſen zur Genüge, wie un⸗ erläßlich es für die Regierung wird, ſich mit Ausleerung der der Stadt Mexiko am nächſten gelegenen Seen zu beſchäftigen. Dieſe Notwendigkeit wird aber von Tag zu Tag noch drin— gender, indem die Erde welche in die Seen von Tezeuco und Chalco geſchwemmt wird, ihren Grund unaufhörlich erhöht. Wirklich gab auch der Vizekönig Iturrigarray, während meines Aufenthaltes in Huehuetoca im Januar 1804, Befehl zur Erbauung des Kanales von Tezeuco, wie er ſchon von Martinez entworfen und von Velasquez neuerdings nivelliert 1 Die indianischen Geſchichtſchreiber erzählen, daß um dieſe Zeit große Maſſen Waſſers aus dem Inneren der Erde am Abhange der Gebirge herausbrachen, und daß dasſelbe Fiſche enthielt, die man bloß in den Flüſſen der heißen Gegenden (Pescados de tierra caliente) findet, ein Phänomen, das wegen der Höhe des mexika— niſchen Plateaus ſchwer zu erklären iſt. 2 Informe de Velasquez (eine Handſchrift), S. 25. — 189 — worden war. Dieſer Kanal, deſſen Koſten zu 3 Millionen Livres angeſchlagen wurden, ſoll von der Nordweſtſpitze des Sees von Tezeuco auf einem Punkte bei der erſten Schleuſe der Calzada von San Criſtobal, Süd 36° Dit, in einer Ent⸗ fernung von 4590 m auslaufen. Zuerſt wird er die große dürre Ebene, in welcher ſich die freiſtehenden Berge der Las Cruces de Ecatepec und von Chiconautla! befinden, durch— ſchneiden und ſich dann über die Meierei von Santa Ines gegen den Kanal von Huehuetoca hinziehen. Seine ganze Länge bis zur Schleuſe von Vertideros wird 31901 m be⸗ tragen; was aber die Ausführung dieſes Planes beſonders koſtſpielig machen muß, iſt die Notwendigkeit, in der man ſich befinden wird, die Rigole des alten Deſague von Ver— tideros an bis über die Boveda real hinaus zu vertiefen, in⸗ dem der erſte von dieſen beiden Punkten 9,078 m höher und der andere 9,181 m tiefer iſt als der mittlere Höhen: ſtand vom Waſſerſpiegel des Sees von Tezeuco.? Ihre Ent: Die erſte dieſer Bergſpitzen hat, nach Herrn Velasquez' geodäti— ſchen Meſſungen, 404, die zweite 378 mexikaniſche Varen (339 und 317 m) Höhe über dem mittleren Flächenſtande des Sees von Tezcuco. 2 Um die Beſchreibung dieſes großen hydrauliſchen Werkes zu vollenden, und zugleich der Platte, welche das Profil im Durchſchnitt des Gebirges darſtellt, größeres Intereſſe zu geben, wollen wir hier die hauptſächlichſten Reſultate von Velasquez' Nivellement angeben. Verbeſſert man dieſe Reſultate durch Hebung des Fehlers der Re— fraktion und durch die Reduktion des anſcheinenden wagerechten Flächezuſtandes auf den wahren, ſo ſtimmen ſie ſo ziemlich mit den von Enrico Martinez und Arias zu Anfang des 17. Jahrhunderts gegebenen überein; beweiſen aber auch die Unrichtigkeit der im Jahre 1764 von Don Yldefonſo Yniefta vorgenommenen Flächen— meſſungen, denen zufolge fi) die Ausleerung des Sees von Tezeuco als ein weit ſchwerer zu löſendes Problem darſtellte, als es wirk— lich iſt. Wir werden durch — die Punkte bezeichnen, welche höher, und durch — die, die niedriger ſind als der mittlere Höhenſtand vom Waſſerſpiegel des Sees von Tezeuco in den Jahren 1773 und 1774, oder als das an ſeinem Ufer Süd 360 öſtlich von der erſten Schleuſe der Calzada von San Criſtobal, in einer Entfernung von 5475 mexikaniſchen Varen ſtehende Zeichen. Der Grund des Fluſſes Guau— Varas Palmos Dedos Granos titlan bei der Schleuſe von Verti⸗ deros . .. 2 10 3 2 3 Der Grund des Deſague un⸗ ter der Brücke von Huehuetoca + 8 0 2 1 — 190 — fernung beträgt nahe an 10 200 m. Um indes das Bett des gegenwärtigen Deſague nicht in noch viel anſehnlichere Länge vertiefen zu dürfen, rechnet man darauf, dem neuen Kanale auf 1000 m nur 0,2 m Fall zu geben. 1607 wurde der Plan des Ingenieurs Martinez bloß darum verworfen, weil man annahm, daß man dem fließenden Waſſer auf 100 m 0,5 m Fall geben müſſe. Alonſo de Arias bewies damals durch Vitruvs Zeugnis, daß man, um das Waſſer des Sees von Tezcuco in den Rio de Tula zu leiten, dem neuen Kanale eine ungeheure Tiefe geben müßte und daß am Fuße der Kaskade, bei der Hacienda del Salto ſeine Fläche doch noch um 200 m unter der des Fluſſes ſtehen würde. Mar: tinez mußte der Gewalt der Vorurteile und der Autorität der Alten nachgeben! Wir denken, daß, wenn es klug iſt, Kanälen, die für die Schiffahrt beſtimmt ſind, wenig Fall zu geben, es im Durchſchnitt von Nutzen tft, Austrodnungs: kanälen einen ſtarken Fall zu geben; allein es gibt beſondere Fälle, wo die Natur des Erdreiches nicht geſtattet, in hydrau⸗ liſchen Werken alle Vorteile zu vereinigen, welche die Theorie vorgeſchrieben hat. Zieht man die großen Unkoſten in Betrachtung, welche die in dem Rio del Deſague von der Schleuſe von Verti— 4 ‘ Varas Palmos Dedos Granos Derſelbe bei der Schleuſe von Santa Marigngn n rlbk 3 8 3 Derſelbe über der Schleuſe von Baäldesas „ e e 1 11 2 Derſelbe unter der Boveda Reale, DER e., El 3 9 3 Derſelbe unter der Boveda de Bee Bao nl 0 6 1 Derſelbe unter der Boca de San Gregori — 23 1 11 2 Derſelbe über dem Salto del Rid! e, IRRE e 1 9 0 Derſelbe unter dem Salto del Rio . . 2ER 2 9 0 Es iſt zu bemerken, daß die Vare in 4 Palmen, 48 Zoll, und 192 Granos eingeteilt wird, daß eine Toiſe = 3,3228 mexika⸗ niſche Varen, und eine mexikaniſche Vare = 0,839169 m ift, und dieſes zwar nach den Verſuchen, welche mit einer ſchon ſeit König Philipps II. Zeit in der Caſa del Cabildo zu Mexiko aufbewahrten Vare angeſtellt worden ſind. — 191 — deros oder der von Valderas bis zur Boveda Real nötigen Ausgrabungen verurſachen werden, ſo iſt man verſucht zu glauben, daß es wohl leichter ſein möchte, die Hauptſtadt vor der Gefahr, welche ihr der See von Tezcuco immer noch droht, zu ſchützen, wenn man auf den Plan zurückkäme, deſſen Ausführung Simon Mendez während der großen Ueber— ſchwemmung von 1629 bis 1634 angefangen hat. Herr Ve— lasquez hat dieſen Plan 1774 aufs neue unterſucht, und dieſer Geometer verſichert, nachdem er den Boden nivelliert hat, daß 28 Luftſchächte und eine unterirdiſche Galerie von 13000 m Länge, welche das Waſſer von Tezeuco durch das Gebirge von Zitlaltepec in den Fluß Tequixquiac leitete, mit geringen Koſten und viel ſchneller ausgeführt werden würden, als die Erweiterung vom Graben des Deſague, die Vergrößerung jeiner Tiefe auf einer Länge von mehr als 9000 m und ein Kanal, der vom See von Tezcuco bis zur Schleuſe von Vertideros bei Huehuetoca gegraben werden müßte. Ich war bei den Konferenzen zugegen, welche 1804 dem Beſchluſſe vorangingen, letzteren See durch den alten Durchſchnitt des Gebirges von Nochiſtongo abzuleiten. Die Vorteile und Nach: teile von Mendez' Plan wurden aber in dieſen Konferenzen nicht unterſucht. Es iſt zu hoffen, daß man ſich bei Grabung des neuen Kanales von Tezcuco ernſtlicher mit dem Schickſale der In⸗ dianer beſchäftigen wird als bisher, ſelbſt bei Ausführung der Rigolen von Zumpango und San Criftobal in den Jahren 1796 und 1798 geſchehen iſt. Die Eingeborenen hegen den entſchiedenſten Haß gegen den Deſague von Huehuetoca. Eine hydrauliſche Unternehmung wird von ihnen als ein öffentliches Unglück angeſehen und dies nicht nur wegen der vielen Menſchen, welche durch traurige Zufälle bei der Durch⸗ ſchneidung des Gebirges zu Grunde gegangen ſind, ſondern beſonders weil ſie zur Arbeit gezwungen wurden, ihre häus— lichen Angelegenheiten vernachläſſigen mußten und während der Ausleerung der Seen in die größte Dürftigkeit verfielen. Seit zwei Jahrhunderten waren mehrere tauſend Indianer beinahe unaufhörlich hier beſchäftigt und man kann den De— ſague als die Haupturſache des Elendes der Eingeborenen im Thale von Mexiko anſehen. Die große Feuchtigkeit, der ſie in dem Graben von Nochiſtongo ausgeſetzt waren, erzeugte tödliche Krankheiten unter ihnen, und noch vor wenigen Jahren war man ſo grauſam, die Indianer an Seile zu binden und — 192 — ſie wie Galeerenſklaven und manchmal krank und ſterbend auf der Stelle ſelbſt arbeiten zu machen. Vermöge einer Miß⸗ deutung der Geſetze und eines Mißbrauches der feit der Or: ganiſation der Intendantſchaften eingeführten Grundſätze wird die Arbeit an dem Deſague von Huehuetoca als ein außerordentlicher Frondienſt angeſehen. Ein ſolches Ueber— bleibſel von Mita ſollte man nicht in einem Lande erwarten, wo die Ausbeutung der Bergwerke heutzutage ein völlig freies Geſchäft iſt und der Eingeborene überhaupt eine größere perſönliche Freiheit genießt als in dem nordöſtlichen Teile von Europa. Als ich die Aufmerkſamkeit des Vizekönigs auf dieſe wichtigen Betrachtungen leitete, bediente ich mich der häufigen Zeugniſſe, welche das Informe de Zepeda ent⸗ hält. Man lieſt darin auf allen Seiten, „daß der Deſague die Bevölkerung und den Wohlſtand der Indianer vermindert hat und daß man dieſen oder jenen hydrauliſchen Plan nicht in Ausführung zu ſetzen wagt, weil die Ingenieure nicht mehr über ſo viele Indianer verfügen können wie zur Zeit des Vizekönigs Don Luis de Velasco II.“ Indes iſt es wenigſtens tröſtlich, zu bemerken, was wir zu Anfang des vierten Kapitels zu entwickeln geſucht haben, daß dieſe pro— greſſive Entvölkerung nur in dem Centralteile des alten Ana: huac ſtattfindet. : Bei allen hydrauliſchen Arbeiten in dem Thale von Mexiko wurde das Waſſer bloß als ein Feind betrachtet, gegen den man ſich entweder durch Dämme oder durch Aus— leerungskanäle verteidigen muß. Wir haben weiter oben be— wieſen, daß dieſes Verfahren, beſonders das europäiſche Sy⸗ ſtem einer künſtlichen Austrocknung, den Keim der Fruchtbar— keit auf einem großen Teile des Plateaus von Tenochtitlan zerſtört hat. Die Anflüge von kohlenſaurem Kali (Teques- quite) vermehrten ſich in dem Maße, in welchem die Feuch— tigkeit der Atmoſphäre und die Maſſe fließenden Waſſers abnahmen. Schöne Weiden gewannen nach und nach die An— ſicht dürrer Steppen. Auf ganz großen Strichen zeigt der Boden des Thales nichts anderes als eine Kruſte von ver— härtetem Thon (Tepetate) ohne Vegetation und mit häufigen Riſſen. Und doch wäre es ſo leicht geweſen, die natürlichen Vorteile des Bodens zu benutzen und die Ausleerungskanäle der Seen nach Gefallen zur Bewäſſerung der dürren Ebenen und zur inneren Schiffahrt zu gebrauchen. Die großen Waſſer⸗ ſchalen, welche gleichſam ſtockweiſe übereinander ſtehen, er — 193 — leichtern die Anlegung von Bewäſſerungskanälen im höchſten Grade. Südöſtlich von Huehuetoca befinden ſich drei Schleu— ſen, los Vertideros genannt, die man nur eröffnete, wenn man den Fluß Guautitlan in den See von Zumpango leiten oder wenn man den Rio del Deſague (den Durchſchnitt des Berges) trocken legen will, um ſeine Rigole zu reinigen oder zu vertiefen. Da ſich die Spur der alten Mündung des Rio de Guautitlan, wie ſie 1607 geweſen iſt, nach und nach verloren hat, ſo hat man von Vertideros bis zum See von Zumpango einen neuen Kanal gegraben. Anſtatt das Waſſer aus dieſem See und dem von San Criſtobal unaufhörlich aus dem Thale hinaus in den Atlantiſchen Ozean zu führen, hätte man in den Zwiſchenräumen von 18 oder 20 Jahren, in welchen oftmals keine Ueberſchwemmung eintritt, das Waſſer des Deſague in den niedrigſten Strecken des Thales zum Beſten des Ackerbaues benutzen und Waſſerbehälter für die Zeit der Dürre anlegen können. Allein man folgte lieber dem ſchon von alters her in Madrid gegebenen Befehle, „daß kein Tropfen Waſſer aus dem See von San Criſtobal in den von Tezeuco kommen dürfe, außer einmal des Jahres, wenn man die Schleuſen (las Compuertas de la Calzada) öffnet, und in dem erſten dieſer Seen den Fiſchfang anſtellt“.! Der Handel der Indianer von Tezcuco liegt aus Mangel an Waſſer in dem Salzſee, der ſie von der Hauptſtadt trennt, ganze Monate lang danieder; dürre Strecken Boden dehnen ſich unter dem mittleren Höhenſtande des Waſſers von Guau— titlan unter den nördlichen Seen hin und dennoch iſt es ſeit Jahrhunderten noch niemand eingefallen, den Bedürfniſſen des Ackerbaues und der inneren Schiffahrt zu Hilfe zu kommen. Freilich war ſchon lange ein kleiner Kanal (Sanja) von dem See von Tezeuco bis zu dem von San Criſtobal vorhanden; aber ein Schleuſeneinſatz von 4 m Fall hätte die Kähne in den Stand geſetzt, von der Hauptſtadt bis nach dem letzten dieſer Seen zu fahren, und auf Herrn Miers Kanälen wären Dieſer Fiſchfang iſt eines der ſchönſten ländlichen Feſte für die Bewohner der Hauptſtadt. Die Indianer bauen alsdann Hütten auf den Ufern des Sees von San Criſtobal, welcher während dieſes Vergnügens beinahe ganz trocken gelegt wird, und dieſe Sitte er— innert an den Fiſchfang, den die Aegypter, nach Herodots Erzäh— lung, zweimal des Jahres bei Eröffnung der Bewäſſerungsſchleuſen im See Moeris angeſtellt haben. A. v. Humboldt, Neuſpanien. I. 13 — 194 — ſie ſogar bis zum Dorfe Huehuetoca gelangt. So würde eine Waſſerkommunikation von dem ſüdlichen Ufer des Sees von Chalco bis zur nördlichen Grenze des Thales in einer Ausdehnung von 80 000 m zuſtande gekommen fein. Unter: richtete und von hohem patriotiſchem Eifer belebte Männer haben es freilich gewagt, ihre Stimmen! für dieſe Ideen zu erheben; allein die Regierung, welche ſo lange die beſten Pläne entworfen hatte, wollte das Waſſer der mexikaniſchen Seen nicht anders anſehen, als wie ein ſchädliches Element, von welchem man die Umgebungen der Hauptſtadt befreien mußte und dem man keinen anderen Lauf geſtatten durfte, als den Ausfluß gegen die Küſten des Ozeans. Nun aber, da der Kanal von Tezcuco auf Befehl des Vizekönigs Don Joſeph de Iturrigarray eröffnet werden ſoll, kann die freie Schiffahrt durch das große und ſchöne Thal von Tenochtitlan gar kein Hindernis mehr finden und das Getreide und die übrigen Erzeugniſſe von Tula und Guautit— lan werden zu Waſſer nach der Hauptſtadt kommen. Den wohlthätigſten Einfluß aber würde ein von Chalco nach Huehuetoca ſchiffbarer Kanal auf denjenigen Teil des inneren Handels von Neuſpanien haben, welchen man durch den Namen des Comercio de tierra adentro bezeichnet und der in gerader Linie von der Hauptſtadt aus nach Du— rango, Chihuahua und Santa Fe in Neumexiko geht. Hue— huetoca könnte in Zukunft der Entrepotplatz für dieſen wid): tigen Handel werden, zu welchem über 50000 bis 60 000 Saum⸗ tiere (Recuas) gebraucht werden. Die Maultiertreiber (Arrieros) von Neubiscaya und Santa Fes fürchten auf dieſer Straße von 500 Meilen keine Tagereiſe ſo ſehr, wie die von Huehuetoca nach Mexiko. Zur Regenzeit werden die Wege in dem nordweſt— lichen Teile des Thales, wo der Baſaltmandelſtein mit einer dicken Lage Thon bedeckt iſt, beinahe ganz unbrauchbar. Viele Maultiere gehen auf denſelben zu Grunde und die übrigen können ſich wenigſtens in den Umgebungen der Hauptſtadt, wo es weder die guten Weideplätze noch die großen Gemeintriften (Exidos) wie in Huehuetoca gibt, nicht von ihren Anſtrengungen er— holen. Man muß ſich lange in Ländern aufgehalten haben, wo aller Art Handel durch Karawanen von Kamelen oder Maultieren getrieben wird, um den großen Einfluß der Gegen— Zum Beiſpiel Herr Velasquez am Schluſſe feines Informe sobre el Desague (handſchriftlich). — 195 — ſtände, die wir eben abgehandelt haben, auf das Glück der Einwohner in ſeinem ganzen Umfange würdigen zu können. Die in dem ſüdlichen Teile des Thales von Tenochtit— lan gelegenen Seen ſetzen auf ihrer Oberfläche Miasmen von geſchwefeltem Waſſerſtoff ab, die man, wenn der Südwind weht, in den Straßen von Mexiko riecht. Die Azteken bezeichneten ſie ehemals in ihrer hieroglyphiſchen Schrift mit einem Toten— kopfe. Der See von Kochimilco iſt zum großen Teile mit Pflanzen aus der Familie der Simſen und Cyperngräſern an— gefüllt, welche in geringer Tiefe unter einer Lage ſtehenden Waſſers vegetieren. Man hat der Regierung kürzlich den Vorſchlag gemacht, in gerader Linie von der kleinen Stadt Chalco nach Mexiko einen ſchiffbaren Kanal zu graben, der um ein Drittel kürzer wäre, als der bereits vorhandene iſt, auch hegt man zu gleicher Zeit den Plan, die Baſſins der Seen von Kochimilco und Chalco auszutrocknen und den Bo— den davon zu verkaufen, welcher, ſeit Jahrhunderten mit ſüßem Waſſer ausgelaugt, ſehr fruchtbar geworden iſt. Indes würde der See von Chalco, da er in ſeinem Mittelpunkte eine größere Tiefe hat als der See von Tezeuco, nie ganz aus: geleert werden können. Der Ackerbau und die Geſundheit der Luft aber müßten durch die Ausführung dieſes Planes von Herrn Caſtera gleich ſehr gewinnen; denn die ſüdliche Spitze des Thales enthält im Durchſchnitte den für den Acker— bau geeignetſten Boden, weil das kohlenſaure und das ſchwe— felſaure Kali hier wegen der unaufhörlichen Filtrationen des von den Höhen des Cerro d' Ajusco, des Guarda und der Vul— kane abrinnenden Waſſers in geringerer Menge vorhanden ſind. Uebrigens darf nicht vergeſſen werden, daß die Aus— leerung beider Seen die Trockenheit der Atmoſphäre in einem Thale, wo der Deluciche? Hygrometer oft auf 15° fällt, noch mehr vermehren würde, und dieſes Uebel wird ſo lange un— vermeidlich ſein, als man die hydrauliſchen Arbeiten nicht mit einem allgemeinen Syſteme verbindet, die Bewäſſerungs— ! Informe de Don Ignacio Castera (Handſchrift), S. 14. > Wenn die Temperatur der Luft 23 Centigrade hat, jo ſind die 15° des Delucihen Hygrometers mit Fiſchbein jo viel, als 42“ auf dem Sauſſureſchen Hygrometer mit Haaren. Ich habe die Urſachen dieſer außerordentlichen Trockenheit in dem phyſikaliſchen Gemälde der Aequinoktialgegenden, welches meinem Verſuch über die Geographie der Pflanzen beigefügt iſt, unterſucht. — 196 — kanäle nicht vermehrt, keine Waſſerbehälter für die Zeit der Dürre anlegt und keine Schleuſen baut, welche dem verſchie— denen Drucke der ungleichen Zuführungskanäle das Gleich— gewicht haltend, ſich öffnen, um das Waſſer der anſchwellenden Flüſſe zu empfangen und aufzubehalten. Dieſe Waſſer— behälter könnten, wenn ſie in gehöriger Höhe angebracht würden, noch dazu benutzt werden, zuweilen die Straßen der Hauptſtadt zu waſchen und zu reinigen. N Zur Zeit einer eben entſtehenden Civiliſation ſind kühne Entwürfe und rieſenhafte Pläne viel verführeriſcher als die einfachſten und am leichteſten ausführbaren Ideen. Statt daher ein Syſtem von kleinen Kanälen für die innere Schiff— fahrt in dem Thale anzulegen, verlor man ſich unter dem Vizekönig Grafen von Revillagigedo, in unnütze Spekulatio⸗ nen über die Möglichkeit einer Kommunikation zu Waſſer zwiſchen der Hauptſtadt und dem Hafen von Tampico. Als man das Waſſer der Seen, durch das Gebirge von Nochi— ſtongo hindurch, den Fluß Tula (auch Rio de Montezuma genannt) herab und mit dem Fluſſe Panuco in den meri- kaniſchen Meerbuſen fließen ſah, gewann man Hoffnung, daß dieſe Straße dem Handel von Veracruz geöffnet werden könnte. Für mehr denn 100 Millionen Livres tournois Waren werden jährlich durch Maultiere von der Europa gegenüberliegenden Küſte bis auf das Plateau im Inneren des Landes getragen, und Mehl, Leder und die metalliſchen Reichtümer auf gleiche Weiſe von dem Centralplateau nach Veracruz herabgebracht. Das Entrepot dieſes ungeheuren Handels iſt die Hauptſtadt. Der Landweg, den man in Ermangelung eines Kanales von der Küſte aus bis nach Perote anlegen muß, wird mehrere Millionen Piaſter koſten; aber die Luft in dem Hafen von Tampico ſcheint bis jetzt für die Europäer und die Bewohner der kalten Gegenden von Mexiko weniger ſchädlich zu fein als das Klima von Veracruz. Können Schiffe, welche 4,5 bis 6 m tief Waſſer haben, auch gleich wegen der vor jenem Hafen liegenden Bank nicht in denſelben einlaufen, ſo möchte er dennoch dem ge— fährlichen Ankergrunde in den niedrigen Tiefen von Veracruz vorzuziehen ſein. Aus dieſen Gründen dürfte daher eine Schiffahrt von der Hauptſtadt bis nach Tampico, ſo groß auch die Koften für die Ausführung eines jo kühnen Ent: wurfes ſein möchten, zu wünſchen ſein. Allein in einem Lande, wo ein bloßer Privatmann, der — 197 — Graf de la Valenciana, in einem einzigen Bergwerke! drei Schachte graben ließ, die ihn über neuntehalb Millionen Franken koſteten, darf man keine Koſten ſcheuen. Ebenſo—⸗ wenig iſt die Möglichkeit der Ausführung eines Kanales von dem Thale von Tenochtitlan nach dem Hafen von Tampico zu leugnen. Bei dem gegenwärtigen Zuſtande der hydrau— liſchen Architektur kann man überall, wo die Natur Abteilungs— punkte geſtattet, welche die Vereinigung zwiſchen zwei Haupt— rezipienten bilden, Schiffe über hohe Gebirge wegführen, und der General Andreoſſy hat verſchiedene dergleichen Punkte in den Vogeſiſchen Gebirgen und in anderen Teilen Frankreichs angegeben.“ Herr Prony hat die Zeit berechnet, welche ein Schiff brauchte, um die Alpen zu paſſieren, wenn man die bei dem Yojpikium von Mont Cenis gelegenen Seen benutzend zwiſchen Lans⸗le-Bourg und dem Thale von Suſa eine Kom⸗ munikation zu Waſſer anlegte, und dieſer vortreffliche Inge— nieur bewies ſogar durch ſeine . daß in dieſem beſonderen Falle der Landtransport der Langſamkeit der Schleuſen vorzuziehen wäre. Die von Reynolds erfundenen und von Fulton vervollkommneten abhängigen Flächen und die Taucherſchleuſen der Herren Hudleſton und Betancourt, zwei beim Syſtem von kleinen Kanälen gleich anwendbare Erfindungen, haben die künſtlichen Mittel der Schiffahrt in gebirgigen Ländern aufs glücklichſte vermehrt. Wie groß aber auch die Erſparnis von Waſſer und Zeit ſein mag, die man erreichen kann, ſo gibt es gewiſſe Maxima der Höhe des Durchgangspunktes, über welche hinaus die Kanäle keinen Vorteil mehr vor dem Räderfuhrwerk haben. Das Waſſer des Sees von Tezcuco, öſtlich von der Hauptſtadt Mexiko liegt 2276 m über der Meeresfläche bei Tampico! Selbſt wenn man Schleuſeneinſätze auf Gewölben (des sas acolles) anbrächte, brauchte man bei 200 Schleuſen, um die Schiffe auf eine ſo ungeheure Höhe zu erheben. Müßten aber die Zuführungskanäle in dem Mexikaniſchen Kanale nur wie in dem Languedoker verteilt werden, deſſen Teilungspunkt (zu Naurouſe) bloß eine ſenkrechte Höhe von 189 m hat, fo käme die Zahl der Schleuſen ſchon auf 330 bis 340. Ich kenne das Bett des Fluſſes Montezuma, jenſeits des Thales von Tula (des alten Tollan), nicht; und ebenſowenig ſind mir Bei Guanajuato. 2 Andreoſſy, Ueber den Languedoker Kanal, S. 45. — 198 — die einzelnen Abteilungen ſeines Falles bis in die Gegenden von Zimapan und vom Doctor bekannt; ſondern ich erinnere mich bloß, daß die Kähne durch Ruder oder durch Seile ge— zogen auf den großen Flüſſen des ſüdlichen Amerikas ohne Schleuſen, und auf eine Weite von 180 Meilen, 300 m hoch ſtromauf fahren. Aber trotz dieſer Aehnlichkeit und der Vergleichung mit den großen in Europa ausgeführten Werken kann ich mich kaum überzeugen, daß ein Schiffahrtskanal, von dem Plateau von Anahuac bis an die Küſten des Meeres der Antillen eine hydrauliſche Unternehmung iſt, zu der man raten darf! Die hauptſächlichſten Städte (Ciudades y villas) der Intendantſchaft von Mexiko ſind folgende: Mexiko, Hauptſtadt des Königreiches Neuſpanien. Höhe 2277 m und Bevölkerung im Jahre 1803: Seelen 137000. Tezeuco mit Baumwollenmanufakturen, welche ehe— mals ſehr anſehnlich waren, aber durch die Konkurrenz derer von Queretaro viel verloren haben. i Coyoacan mit einem Frauenkloſter, das von Hernan Cortez geſtiftet wurde, und wohin er ſeinem Teſtament zu⸗ folge begraben ſein wollte, „in welchem Teile der Welt er auch ſeine Tage endigen würde“. Wir haben aber oben geſehen, daß dieſe Klauſel ſeines Teſtamentes nicht erfüllt worden iſt. Tacubaya weſtlich von der Hauptſtadt, mit einem erz— biſchöflichen Palaſte und einer ſchönen Pflanzung europäiſcher Olivenbäume. Tacuba, das alte Tlacopan, die ehemalige Hauptſtadt eines kleinen Königreiches der Tepaneken. Cuernavaca, das alte Quauhuahuac, auf dem ſüdlichen Abhange der Kordillere von Huichilaque, unter einem ge— mäßigten, äußerſt angenehmen und für die Kultur der europäi— ſchen Fruchtbäume höchſt geeigneten Klima. Höhe! 1655 m. ı Herr Alzate verſichert in der Litteraturzeitung von Mexiko (1760, S. 220), daß die abſolute Höhe der Orte in Neuſpanien ſehr geringen Einfluß auf ihre Temperatur hat. Er führt als Beiſpiel die Stadt Cuernavaca an, welche ſeiner Angabe nach auf gleicher Höhe mit der Hauptſtadt von Mexiko über dem Spiegel des Ozeans * = 1 Chilpantzingo (Chilpantzinco), von ſehr fruchtbaren Getreidefeldern umgeben. Tasco (Tlachco), mit einer ſchönen Parochialkirche, die gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts von einem Franzoſen, Joſeph de Laborde, welcher in ſehr kurzer Zeit durch die Ausbeutung der mexikaniſchen Bergwerke ungeheure Reich— tümer gewonnen hatte, aufgeführt und dotiert wurde. Der Bau der Kirche allein koſtete ihn über zwei Millionen Fran— ken. Nachdem er aber gegen das Ende ſeines Lebens in die äußerſte Armut geraten war, erhielt er von dem Erzbiſchof von Mexiko die Erlaubnis, zu ſeinem Vorteil die prächtige Sonne (Custodia), welche reich mit Diamanten geſchmückt war, und die er in glücklicheren Zeiten dem Tabernakel der Paro— chialkirche von Tasco aus Frömmigkeit zum Geſchenk ge— macht hatte, an die Hauptkirche von Mexiko zu verkaufen. Höhe der Stadt 783 m. Acapulco (Acapolco), an eine Kette von Granit— gebirgen gelehnt, welche durch das Zurückprallen der Sonnen— ſtrahlen die erdrückende Hitze des Klimas vermehren. Kürz— lich hat man bei der Bai von Langoſta den berühmten Ge— birgsdurchbruch (Abra de San Nicolas), welcher die Beſtimmung hat, den Seewinden Zugang zu der Stadt zu verſchaffen, vollendet. Die Bevölkerung dieſer erbärmlichen Stadt, welche beinahe ausſchließend von farbigen Menſchen bewohnt iſt, beläuft ſich zur Zeit der Ankunft der Galione von Manilla (Nao de China) auf 9000 Seelen, iſt aber gewöhnlich nicht höher als 4000. Zacatula, ein kleiner Hafen am Südmeere, auf den Grenzen der Intendantſchaft von Valladolid, zwiſchen den Häfen Sihuantanejo und Colima. Lerma, beim Eingang in das Thal von Toluca, auf einem Sumpfboden. Toluca (Tolocan), am Fuße des Porphyrgebirges von ſteht, und ihr herrliches Klima bloß ihrer Lage auf der Süd— ſeite einer hohen Gebirgskette verdankt. Allein Herr Alzate hat ſich in der Höhenangabe dieſer Stadt um mehr als 600 m ge— irrt! Cortez, welcher alle Namen der aztekiſchen Sprache verſtüm⸗ melt, nennt dieſe Stadt Coadnabaced, und in dieſem Namen iſt doch wahrſcheinlich ihr eigentlicher, Quauhuahuae, ſchwer zu er— kennen. Jetzt 5000. — D. Herausg.] — 200 — San Miguel de Tutucuitlapilco, in einem an Mais und Maguey (Agave) reichen Thale. Höhe 2687 m. Pachuca, mit Tasco der älteſte Bergwerksort des Königreichs, ſo wie das benachbarte Dorf Pachuquillo für das erſte chriſtliche Dorf gehalten wird, das die Spanier an— gelegt haben. Höhe 2482 m. Cadereita, mit ſchönen Brüchen von Thonporphyr. San Juan del Rio, umgeben von Gärten, welche mit Reben und Anona geſchmückt ſind. Höhe 1978 m. Queretaro, berühmt wegen der Schönheit ſeiner Ge— bäude, ſeiner Waſſerleitung und ſeiner Tuchmanufakturen. Höhe 1940 m und gegenwärtige Bevölkerung 35 000, ' Die bedeutendſten Bergwerke, bloß in Rückſicht auf ihren gegenwärtigen Reichtum betrachtet, ſind: Die Veta Biscaina de Real del Monte bei Pachuca; Zimapan, El Doctor und Tehulilotepec bei Tasco. 2) Intendantſchaft von Puebla. Dieſe Intendantſchaft, welche bloß auf einer Küſte von 26 Meilen Länge, von dem Großen Ozean genetzt wird, erſtreckt ſich von 16° 57° bis 20° 40“ der nördlichen Breite. Sie liegt demnach ganz unter der heißen Zone und grenzt gegen Nordoſten an die Intendantſchaft von Veracruz, gegen Oſten an die von Oajaca, gegen Süden an den Ozean und gegen Weſten an die Intendantſchaft von Mexiko. Ihre größte Länge, von der Mündung des kleinen Fluſſes Tecoyame bis gegen Mextitlan, beträgt 875 km, und ihre größte Breite, von Techuacan bis Mecameca, 370 km. Der größte Teil der Intendantſchaft von Puebla wird von den hohen Kordilleren von Anahuac durchſchnitten. Ueber den 18. Grad der Breite hinaus iſt das Land ein an Weizen, Mais, Agaven und Fruchtbäumen äußerſt fruchtbares Plateau, das 1800 bis 2000 m über dem Spiegel des Ozeans liegt. Auch befindet ſich in dieſer Intendantſchaft das höchſte Ge— birge von ganz Neuſpanien, der Popocatepetl. Dieſer Vul⸗ kan, den ich zuerſt gemeſſen habe, iſt unaufhörlich in Flammen; Jetzt 27560. — D. Herausg.] R W r — 201 — indes ſieht man ſeit Jahrhunderten bloß Rauch und Aſche aus ſeinem Krater hervorgehen. Er liegt 600 m höher als die höchſten Bergſpitzen auf dem alten Kontinent, und von der Landenge von Panama bis zur Beringsſtraße, welche Aſien von Amerika ſcheidet, iſt uns nur eine Höhe, nämlich die des St. Eliasberges, bekannt, welche die des großen Vulkanes von Puebla noch übertrifft. Die Bevölkerung dieſer Intendantſchaft iſt noch un— gleicher verteilt als die in der Intendantſchaft von Mexiko und auf dem Plateau, welches ſich von dem öſtlichen Abhange der Nevados! bis in die Gegend von Perote ausdehnt und beſonders in den hohen und ſchönen Ebenen zwiſchen Cholula, Puebla und Tlaxcala vereinigt. Beinahe alles Land, das ſich von dem Centralplateau gegen San Luis und Ygualapa an den Küſten des Südmeeres hin erſtreckt, liegt wüſt und öde, unerachtet es zum Bau des Zuckers, der Baumwolle und anderer der koſtbarſten Produkte der Tropenländer ge— eignet iſt. N Das Plateau von Puebla enthält merkwürdige Spuren der älteſten mexikaniſchen Civiliſation. Die Befeſtigungen von Tlaxcalla ſind von ſpäterem Bau als die große Pyramide von Cholula, von der ich in dem hiſtoriſchen Berichte von meinen Reiſen in das Innere des neuen Kontinents eine Zeichnung und die ausführliche Beſchreibung liefern werde. Ich brauche daher hier bloß zu bemerken, daß dieſe Pyramide, auf deren Spitze ich viele aſtronomiſche Beobachtungen ange— ſtellt habe, in vier Abteilungen übereinander beſteht, daß ſie in ihrem gegenwärtigen Zuſtande bloß 54 m perpendikulärer Höhe, aber 439 m horizontaler Breite an ihrer Baſis hat; daß ihre Seiten genau nach der Richtung der Meridiane und Parallelkreiſe geſtellt ſind, und daß ſie (wie der Durchbruch gezeigt, den man vor wenigen Jahren auf ihrer Nordſeite Die Ausdrücke Nevado und Sierra Nevada bezeichnen im Spaniſchen keine Gebirge, welche ſich im Sommer von Zeit zu Zeit mit Schnee bedecken, ſondern Berggipfel, welche in die Region des ewigen Schnees hineinreichen. Ich ziehe dieſes fremde Wort langen Umſchreibungen und dem unpaſſenden Ausdruck Schneegebirge vor, welchen die nach Peru geſchickten Akademiker zuweilen gebrauchen. Ueberdies gibt das Wort Nevado, wenn es dem Namen eines Ge— birges beigeſetzt wird, eine Idee von dem Minimum der Höhe ſeines Gipfels. — 202 — verſucht hat) aus Lagen von Backſteinen beſteht, die mit an— deren von Thon abwechſeln. Dieſe Angaben reichen hin, um in dem Bau dieſes Werkes denſelben Typus zu erkennen, welchen die Form der Pyramiden von Teotihuacan verrät, von denen wir oben geſprochen haben; auch beweiſen ſie ſchon die große Aehnlichkeit, welche zwiſchen dieſen von den älteſten Bewohnern von Anahuac aufgeführten Denkmalen, dem Tem— pel des Belus in Babylon und den Pyramiden von Menſchich— Daſchur bei Sakhara in Aegypten obwaltet. Die Plattform der abgeſtumpften Pyramide von Cholula hat eine Oberfläche von 4200 qm. In ihrer Mitte erhebt ſich eine Kirche der Lieben Frau de los Remedios, welche von Cypreſſen umgeben iſt, und worin alle Morgen von einem Geiſtlichen aus dem indianiſchen Stamme, der immer auf der Spitze dieſes Denkmals wohnt, Meſſe geleſen wird. Von dieſer Plattform herab genießt man eine entzückende und im— poſante Ausſicht auf den Vulkan von Puebla, auf den Pik von Orizaba und auf die kleine Kordillere von Matlacueye,“ welche einſt das Gebiet der Cholulanen von dem der repu— blikaniſchen Tlaxcalteken trennte. Die Pyramide oder der Teocalli von Cholula hat genau dieſelbe Höhe wie der Tonatiuh Iztaqual von Teotihuacan, den wir oben beſchrieben haben, und iſt 3 m höher als der Mycerinus, oder die dritte von den großen Pyramiden aus der Gruppe dieſer Denkmale bei Gizeh. Die anſcheinende Länge ihrer Baſis betreffend, ſo übertrifft ſie die von allen ähnlichen Werken, welche die Reiſenden auf dem alten Kon— tinent gefunden haben, und iſt beinahe doppelt ſo groß als die der großen Pyramide, welche unter Cheops' Namen be— kannt iſt. Wer ſich durch die Vergleichung bekannter Gegen— ſtände eine klare Vorſtellung von der beträchtlichen Maſſe dieſes mexikaniſchen Denkmales machen will, der denke ſich ein Quadrat, welches viermal größer als der Platz Vendome in Paris und mit einem Berge von Backſteinen bedeckt iſt, der ſich doppelt ſo hoch als der Louvre erhebt! Vielleicht beſteht auch nicht der ganze Kern der Pyramide von Cholula aus Backſteinen, und ſind dieſe nur, wie ſchon ein berühmter Auch die Sierra Malinche oder Doßa Maria genannt. Ma: linche ſcheint von Malintzin herzukommen, einem Worte, das (aus welchem Grunde, iſt mir nicht bekannt), heutzutage die Mutter Gottes bezeichnet. — 203 — Altertumsforſcher, Herr Zoßga in Rom, vermutet hat, die Bekleidung eines Haufens von Steinen und Mörtel, gleich mehreren Pyramiden von Sakhara, welche ſchon Pococke und neuerdings Herr Grobert beſucht hat. Der Weg von Puebla nach Mecameca indes, welcher durch einen Teil vom erſten Stockwerk dieſes Teocalli gebrochen iſt, beſtätigt dieſe Ver⸗ mutung nicht. Die alte Höhe dieſes außerordentlichen Denkmales iſt uns unbekannt. In ſeinem jetzigen Zuſtande verhält ſich die Länge ſeiner Baſis! zu ſeiner perpendikulären Höhe wie Ich will hier die wahren Dimenſionen der drei großen Py⸗ ramiden, nach Herr Groberts intereſſantem Werke geben, und ihnen die der Pyramidendenkmale von Backſteinen zu Sakhara in Aegypten, und der von Teotihuacan und Cholula in Mexiko zur Seite ſtellen. Die Zahlen ſind Meter. Pyramiden von Stein Pyramiden von Backſteinen 2 = mit 5 Stock- mit 4 Stockwerken 2 = = werfen in in Mexiko 2 = =2 Aegypten > 5) S |beiSafhara) Teotihuacan Cholula Höhe 145,5 126 52,2 55,5 55,8 Länge der Baſis 236,5 212,7 90,9 68,2 209,4 440 Es iſt merkwürdig zu bemerken: 1) daß die Völker von Ana: huac den Vorſatz gehabt haben, der Pyramide von Cholula die: ſelbe Höhe, aber die doppelte Baſis der von Tonatiuh-Itzaqual zu geben; und 2) daß die größte aller ägyptiſchen Pyramiden, die von Aſychis, deren Baſis 260 in Länge hat, nicht von Steinen, ſondern von Backſteinen aufgeführt iſt. Die Domkirche von Straßburg iſt 2,6 m und das Kreuz auf der Peterskirche in Rom 13,3 m niedriger als der Cheops. Es gibt in Mexiko, und zwar in den Wäldern von Papantla, in geringer Erhabenheit über dem Meeresſpiegel, auf den Plateaus von Cholula und Teotihuacan, Pyramiden von mehreren Stockwerken, welche höher ſind als unſere Alpenſtraßen. Man ſieht mit Erſtaunen, wie der Menſch auch in Gegenden, die noch ſo weit voneinander entfernt ſind, und unter den verſchiedenſten Klimaten, in ſeinen Bauten, ſeinen Verzierungen, feinen Ge: bräuchen, und ſelbſt in ſeinen politiſchen Inſtitutionen, denſelben Typus befolgt. — 204 — 8 zu 1, da hingegen bei den drei großen Pyramiden von Gizeh dieſes Verhältnis wie 1/0 und 1/40 zu 1 oder ungefähr wie 8 zu 5 iſt. Wir haben weiter oben ſchon bemerkt, daß die Häuſer der Sonne und des Mondes, oder die pyramida— liſchen Denkmale von Teotihuacan, nordöſtlich von Mexiko, mit einem Syſtem von kleinen ſymmetriſch geordneten Pyra— miden umgeben ſind. Herr Grobert hat eine ſehr merkwür— dige Zeichnung von der gleichfalls regelmäßigen Verteilung der kleinen Pyramiden, welche um den Cheops und den My— cerinus zu Gizeh herumſtehen, bekannt gemacht. Der Teocalli von Cholula ſcheint, wenn man ihn anders mit den großen ägyptiſchen Denkmalen vergleichen darf, nach einem ähnlichen Plane gebaut zu ſein, und man ſieht auf der Weſtſeite den Cerros von Tecaxete und von Zapoteca gegenüber noch zwei vollkommen prismatiſche Maſſen. Die eine derſelben heißt heutzutage Alcoscac oder Iſtenenetl, die andere der Cerro de la Cruz und letztere, die von Stampferde (en pisé) gebaut iſt, hat bloß 15 m Höhe. Die Intendantſchaft Puebla zeigt dem neugierigen Rei— ſenden auch eines der älteſten Denkmale von Vegetation. Der berühmte Ahahuete! oder die Cypreſſe im Dorfe Atlixco hat 23,3 m Umfang und ganz gemeſſen (denn ihr Stamm iſt ausgehöhlt) im Durchſchnitt 4,8 m. Dieſe Cypreſſe iſt alſo, mit einigen Schuhen Unterſchied, ſo dick als der Baobab (Adansonia digitata) am Senegal. Der Diſtrikt der alten Republik Tlaxcalla, die von In— dianern bewohnt wurde, welche auf ihre Privilegien äußerſt eiferſüchtig und zu bürgerlichen Unruhen ſehr geneigt waren, bildete ſeit langer Zeit eine eigene Regierung. Ich habe ihn in meiner Generalkarte von Neuſpanien als noch zur In— tendantſchaft von Puebla gehörig angezeigt; allein durch eine neue Veränderung in der Finanzadminiſtration ſind Tlaxcalla und Quautla de las Amilpas zu gleicher Zeit, da Tlapa und Ygualapa von der Intendantſchaft von Mexiko getrennt wur— den, mit derſelben vereinigt worden. Cholula, Tlaxcalla und Huexotzingo ſind die drei Re— publiken, welche ganze Jahrhunderte hindurch dem mexikani— ſchen Reiche widerſtanden haben, unerachtet ihre unglückliche ariſtokratiſche Verfaſſung dem niedrigen Volke kaum mehr 1 Cupressus disticha, Linn. — 205 — Freiheit geftattete, als es unter der Feudalregierung der aztekiſchen Könige genoſſen haben würde. Die Fortſchritte der Nationalinduſtrie und des Wohl— ſtandes der Bewohner dieſer Provinz waren, trotz des thäti— gen Eifers eines ebenſo aufgeklärten als ehrwürdigen In— tendanten, Don Manuel de Flon, der kürzlich den Titel eines Grafen von Cadena geerbt hat, ſehr langſam. Der einſt ſo blühende Mehlhandel hat durch die ungeheure Verteuerung des Transportes von dem mexikaniſchen Plateau nach der Havana und beſonders durch den Mangel an Saumtieren ſehr gelitten. Auch hat der Handel, den die Stadt Puebla bis 1710 mit Hüten und Fayence nach Peru getrieben, ganz aufgehört. Das größte Uebel aber, das den allgemeinen Wohlſtand verhindert, beſteht darin, daß vier Fünfteile alles Grundeigentums (Fincas) Leuten von der toten Hand, d. h. den Mönchen, Kapiteln, Brüderſchaften und Hoſpitälern gehören. Die Intendantſchaft von Puebla beſitzt ſehr anſehnliche Salzwerke bei Chila, Kicotlan, Ocotlan (in dem Diſtrikte von Chiautla) und bei Zapotitlan. Der unter dem Namen des Marmors von Puebla bekannte ſchöne Marmor, welcher dem von Bizaru, Real del Doctor, vorzuziehen iſt, wird in den Brüchen von Totamehuacan und von Tecali, zwei und ſieben Meilen weit von dem Hauptorte der Intendantſchaft, gebrochen. Die luftſaure Kalkerde von Tecali iſt transparent, 15 der Gipsalabaſter von Volterra und der Phengit der ten. Die Eingeborenen dieſer Provinz reden drei ganz ver— ſchiedene Sprachen, nämlich die mexikaniſche, die totonakiſche und die tlapanekiſche. Die erſte derſelben iſt den Bewohnern von Puebla, Cholula und Tlaxcalla, die zweite denen von Zacatlan und die dritte denen der Gegend von Tlapa eigen. Die vorzüglichſten Städte der Intendantſchaft von Puebla ſind folgende: La Puebla de los Angeles, Haup tſtadt der Inten— dantſchaft, und bevölkerter als Lima, Quito, Santa Fe und Caracas. Nach Mexiko, Guanajuato und Havana iſt dies die anſehnlichſte Stadt in den ſpaniſchen Kolonieen auf dem neuen Kontinent. Puebla gehört zu den ſehr wenigen ameri— — 206 — kaniſchen Städten, welche durch europäiſche Koloniſten ge— gründet worden ſind; denn in der Ebene von Acoxate oder Cuitlaxcoapan, und an der Stelle, wo heutzutage die Haupt— ſtadt der Provinz ſteht, befanden ſich zu Anfang des 16. Jahr: hunderts bloß einige von den Indianern von Cholula be— wohnte Hütten. Das Privilegium von Puebla iſt vom 28. September 1531 datiert. 1802 betrug die Konſumtion der Bewohner dieſer Stadt 52951 Cargas (jede von 300 Pfunden) Weizenmehl, und 36000 Cargas Mais. Die Höhe des Bodens iſt auf der Plaza Mayor 2196 m und ihre Be— völkerung 67800. i 5 Tlaxcalla iſt ſo tief von ſeiner alten Größe herabge— ſunken, daß man daſelbſt nur noch 3400 Einwohner zählt, unter denen bloß 900 Indianer von unvermiſchtem Stamme ſind. Und dennoch fand Cortez einſt in dieſer Stadt eine Bevölkerung, welche ihm anſehnlicher deuchte, als die von Granada. Cholula, Churultecal von Cortez? genannt, mit ſchönen Jetzt 64588. — D. Herausg.] Dieſer große Konquiſtador entwirft, mit der ihm eigenen Ein— fachheit des Stils, ein merkwürdiges Gemälde der alten Stadt Cholula. „Die Bewohner dieſer Stadt,“ ſagt er in ſeinem dritten Briefe an Kaiſer Karl V., „ſind beſſer gekleidet, als die, welche uns bisher vorgekommen ſind. Die wohlhabenden unter ihnen tragen Mäntel (Albornoces) über ihren Anzug. Dieſe Mäntel unterſchei— den ſich aber von den afrikaniſchen dadurch, daß ſie Taſchen haben, obwohl Schnitt, Zeug und Franſen dieſelben ſind. Die Umge— bungen der Stadt ſind ſehr fruchtbar und wohl angebaut. Bei— nahe alle Felder können bewäſſert werden, und die Stadt iſt viel ſchöner als alle ſpaniſchen Städte, denn ſie iſt wohl befeſtigt und auf einer gleichen Fläche gebaut. Ich kann Eure Hoheit verſichern, daß ich von einer Moſchee (Mezquita, womit Cortez immer die Teocalli bezeichnet) herab 400 und mehrere Türme gezählt habe, welche ſämtlich zu Moſcheen gehörten. Die Einwohnerſchaft iſt ſo beträchtlich, daß kein Zoll Landes unangebaut liegt; und dennoch ſind die Indianer an mehreren Orten der Hungersnot ausgeſetzt, und fordern auf den Straßen, in den Häuſern und auf dem Markte Almoſen, wie die Bettler in Spanien und anderen civilifierten Län: — dern.“ Es iſt merkwürdig, daß der ſpaniſche General die Bettelei als ein Zeichen von Civiliſation anſieht. Er ſagt: „Gente, que piden como hay en Espana y en otras partes, que hay gente de razon.“ — 207 — Agavenpflanzungen umgeben und mit einer Bevölkerung von 16 000. ' " Atlirco, mit allem Rechte gerühmt wegen der Schönheit ſeines Klimas, der großen Fruchtbarkeit ſeiner Felder, und dem Ueberfluſſe an ſchmackhaften Früchten (beſonders der Anona cherimolia, Lin. chilimoya) und der verſchiedenen Paſſifloren (Parchas), die in der Umgegend wachſen. Tehuacan de las Granadas, das alte Teohuacan de la Mizteca, einer der beſuchteſten heiligen Orte vor der Ankunft der Spanier. Tepeaca oder Tepeyacac, zum Marquiſat des Cortez gehörig. Dieſe Stadt hieß zu Anfang der Eroberung Segura de la Frontera. In dem Diſtrikte von Tepeaca liegt das ſchöne indianiſche Dorf, heutzutage Huacachula (das alte ellen genannt, in einem an Fruchtbäumen reichen Thale. „Huajoeingo oder Huexotzingo, einſt der Hauptort einer kleinen Republik dieſes Namens, welche mit denen von Tlaxcalla und Cholula in Feindſchaft lebte. 3) Intendantſchaft von Guanajuato. Dieſe Provinz, welche ganz auf dem Rücken der hohen Kordillere von Anahuac liegt, iſt die bevölkertſte in Neu— ſpanien und zugleich diejenige, in welcher die Bevölkerung am gleichſten verteilt iſt. Ihre Länge, von dem See von Chapala bis nordöſtlich von San Felipe beträgt 385 km und ihre Breite von Villa de Leon bis Celaya 230 km. Ihr Territorialumfang iſt ungefähr derſelbe wie der des Königreiches Murcia und ihre relative Bevölkerung überſteigt die des Königreiches Aſturien. Auch iſt ſie ſtärker als die relative Bevölkerung des Departements der oberen und nie— deren Alpen, der Oſtpyrenäen und der Landes. Der höchſte Punkt dieſes gebirgigen Landes ſcheint das Gebirge de los Llanitos in der Sierra de Santa Roſa zu ſein. Ich habe ſeine Höhe über dem Meeresſpiegel zu 2815 m gefunden. Dieſe ſchöne Provinz, welche einen Teil des alten König— reiches Michoacan ausmachte, verdankt ihre Kultur beinahe einzig und allein den Europäern, die im 16. Jahrhundert Jetzt 5000. — D. Herausg.] — 208 — den erſten Keim von Civiliſation dahin gebracht haben. In dieſen nördlichen Gegenden, an dem Ufer des Rio de Lerma, einſt Tololotlan genannt, wurden die Nomaden: und Jäger⸗ völker geſchlagen, welche die Geſchichtſchreiber mit dem unbe— ſtimmten Namen der Chichimeken bezeichnen und die zu den Stämmen der Pames-, Capuces-, Samues-, Mayolias-, Gua⸗ manes- und Guachichilesindianer gehörten. In dem Maße, wie das Land von dieſen herumſchweifenden kriegeriſchen Na— tionen verlaſſen wurde, verpflanzten die ſpaniſchen Eroberer Kolonieen mexikaniſcher oder aztekiſcher Indianer in dasſelbe. Lange Zeit waren die Fortſchritte des Ackerbaues beträcht— licher daſelbſt als die Ausbeutung der Bergwerke. Dieſe, welche zu Anfang der Eroberung wenig Ruf hatten, wurden während des 17. und 18. Jahrhunderts beinahe ganz ver— laſſen, und haben ſich erſt ſeit 30 oder 40 Jahren in An: ſehung ihres Reichtums über die Bergwerke von Pachuca, Zacatecas und Bolanos erhoben. Ihr Ertrag iſt aber heut— zutage viel anſehnlicher, als der der Minen von Potoſi oder irgend eines anderen Bergwerkes auf beiden Kontinenten je— mals geweſen iſt. Man zählt in der Intendantſchaft Guanajuato 3 Ciu: dades (nämlich: Guanajuato, Celaya und Salvatierra) vier Villas (nämlich: San Miguel el Grande, Leon, San Felipe und Salamanca), 37 Dörfer oder Pueblos, 33 Kirchſpiele (Paroquias), 448 Pachthöfe (Haciendas). Die bemerkenswerteſten Städte dieſer Intendantſchaft ſind folgende: Guanajuato oder Santa Fé de Goanojauto. Der Bau dieſer Stadt wurde 1554 von den Spaniern angefangen. Sie erhielt im Jahre 1619 das königliche Privilegium als Villa und das als Ciudad den 8. Dezember 1741. Die Höhe der Plaza Major iſt 2084 m; die von Va— lenciana, an dem Rande des neuen Schachtes (Tiro nuevo) 2313 m und die von Rayas, an der Mündung der Galerie 2157 m. Salamanca, eine hübſche kleine Stadt in einer Ebene gelegen, welche ſich allmählich über Temascatio, Burras und Cuevas gegen Guanojuato erhebt. Höhe 1835 m. Celaya. Man hat kürzlich in Celaya, Queretaro und Guanajuato koſtſpielige Gebäude aufgeführt. Die Karmeliter— kirche in Celaya iſt in ſchönem Stile erbaut und mit korin— thiſchen und ioniſchen Säulen geziert. Höhe 1835 m. — 209 — Villa de Leon, in einer an Getreide äußerſt frucht— baren Ebene. Von dieſer Stadt an bis nach San Juan del Rio findet man den ſchönſten Weizen-, Gerſten- und Maisbau. San Miguel el Grande, berühmt wegen der Sn: duſtrie ſeiner Bewohner in Fabrikation baumwollener Zeuge. In dieſer Provinz findet man die heißen Quellen von San Joſe de Comangillas, welche aus einer Baſaltbreccie hervordringen und deren Temperatur (nach meinen in Ver— bindung mit Herrn Roxas angeſtellten Verſuchen) 96,3“ auf dem Thermometer von hundert Graden iſt. 4) Intendantſchaft von Valladolid. Zur Zeit der Eroberung durch die Spanier machte dieſe Intendantſchaft einen Teil vom Königreiche Michoacan aus, das ſich von dem Rio de Zacatula bis nach dem Hafen de la Navidad und von den Gebirgen von ala und Colima bis an den Fluß Lerma und den See von Chapala erſtreckte. Die Hauptſtadt dieſes Königreiches Michoacan, welches wie die Republiken Tlaxcalla, Huexotzingo und Cholola, jeder— zeit von dem mexikaniſchen Reiche unabhängig war, hieß Tzintzontzan und lag an den Ufern eines außerordentlich male— riſchen Sees, genannt der See von Patzceuaro. Tzintzontzan, das die Azteken Huitzitzila heißen, iſt ein indianiſches Dorf, das aber doch den hochtönenden Titel Stadt (Ciudad) bei: behalten hat. Die Intendantſchaft von Valladolid, gewöhnlich die von Michoacan im Lande ſelbſt genannt, wird nordwärts durch den Rio de Lerma begrenzt, der weiter öſtlich den Namen Rio Grande de Santiago annimmt. Gegen Oſten und Nordoſten ſtößt ſie an die Intendantſchaft von Mexiko, gegen Norden an die von Guanajuato und gegen Weſten an die von Guada— lajara. Die größte Länge der Provinz Valladolid beträgt 580 km, von dem Hafen von Zacatula bis zu den Baſalt— gebirgen von Palangeo, alſo in der Richtung von Süd-Süd—⸗ Dit nach Nord⸗Nord⸗Oſt. Sie wird auf einer Küſtenausdeh— nung von 280 km von dem Südmeere benetzt. Auf dem weſtlichen Abhange der Kordillere von Anahuae gelegen, von Hügeln und lieblichen Thälern durchſchnitten A. v. Humboldt, Neuſpanien. I. 14 — 210 — und mit dem unter der heißen Zone ſo ungewöhnlichen Ans blick großer, durch Bäche bewäſſerter Wieſen, genießt die Pro: vinz Valladolid im ganzen ein ſanftes, gemäßigtes und der Geſundheit ihrer Bewohner äußerſt zuträgliches Klima. Nur wenn man von dem Plateau von Ario herabkommt und ſich der Küſte nähert, findet man Gegenden, in welchen die neuen Koloniſten und ſelbſt die Eingeborenen der Geißel von Faul— und Wechſelfiebern unterworfen ſind. Die höchſte Bergſpitze in dieſer Intendantſchaft iſt der Pik von Tancitaro, öſtlich von Tuxpan. Ich habe ihn nicht nahe genug ſehen können, um ihn genau zu meſſen; es iſt aber zuverläſſig, daß er viel höher iſt als der Vulkan von Colima, und auch öfters mit Schnee bedeckt wird. Oeſtlich von dem Pik von Tancitaro hat ſich in der Nacht vom 29. September 1759 der Vulkan von Jorullo! (Xorullo oder Juruyo) gebildet, an deſſen Krater wir, Herr Bonpland und ich, den 19. Sep- tember 1803 geſtiegen ſind. Die große Kataſtrophe, in welcher dieſer Berg aus der Erde hervorging, und wodurch ein an— ſehnlicher Landſtrich eine ganz andere Geſtalt erhielt, iſt viel— leicht eine der außerordentlichſten Naturrevolutionen, welche die Geſchichte unſeres Planeten aufzuweiſen hat.. Die Geo: logie gibt diejenigen Stellen des Ozeans an, wo ſich in neueren Zeiten, ſeit 2000 Jahren, in der Nähe der Azoren, im Aegeiſchen Meere und ſüdlich von Island vulkaniſche Inſelchen aus der Meeresfläche erhoben haben; aber ſie zeigt uns kein anderes Beiſpiel, daß ſich in dem Inneren des Kontinentes, 267 km weit von den Küſten und über 312 km Die Höhen, welche ich gegenwärtig angebe, gründen ſich auf Herrn Laplaces barometriſche Formel. Sie ſind das Reſultat von Herrn Oltmanns letzter Arbeit, und weichen zuweilen um 20 bis 30 m von den in der Geographie der Pflanzen enthaltenen Anz gaben ab; indem dieſes Werk wenige Monate nach meiner Zurück— kunft nach Europa zu einer Zeit herausgegeben wurde, da ich einer ſo großen Menge von Berechnungen unmöglich noch alle die Ge— nauigkeit geben konnte, deren ſie fähig waren. 2 Strabo berichtet, daß eine vulkaniſche Exploſion in den Ebenen bei Methone, am Ufer des Golfs der Hermione, einen Berg von Schlacken (Monte nuovo) gebildet habe, dem er die ungeheure Höhe von ſieben Stadien gibt. Sind dies nun olympiſche Stadien, ſo machen ſie 1249 m! — Wie übertrieben dieſe Angabe auch ſein mag, ſo verdient dieſes geologiſche Faktum dennoch die Aufmerk— ſamkeit der Reiſenden. = Ban Ferne von jedem anderen in Bewegung befindlichen Vulkan plötzlich mitten unter tauſend kleinen brennenden Kegeln ein Berg von Schlacken und Aſche, 517 m hoch (bloß im Ver— hältnis zu dem Flächenſtande der benachbarten Ebenen ge— rechnet) gebildet hat. Dieſes merkwürdige Phänomen wurde von einem Jeſuiten, dem Pater Raphael Landivar, von Guate— mala gebürtig, in lateiniſchen Hexametern beſungen. Der Abbe Clavigero! hat es zwar in der alten Geſchichte feines Vaterlandes berührt, allein es blieb den Mineralogen und Phyſikern von Europa dennoch völlig unbekannt, ob dieſes Er— eignis gleich erſt vor 50 Jahren, nur ſechs Tagereiſen weit von der Hauptſtadt von Mexiko entfernt auf dem Abhange des Centralplateaus gegen die Küſten des Südmeeres ſtatt— gehabt hat! Eine große Ebene dehnt ſich von den Hügeln von Agua— ſarco bis zu den Dörfern von Teipa und Petatlan aus, welche durch ihren ſchönen Baumwollenbau berühmt ſind. Zwiſchen den Picachos del Mortero, den Cerros de las Cuevas und de Cuiche hat dieſe Ebene nur 750 und 800 m Höhe über dem Meeresſpiegel. Mitten auf einem Erdſtriche, in welchem der Porphyr mit einer Grünſteinbaſis herrſcht, erheben ſich Baſaltkegel, deren Spitzen von immer grünen Eichen, mit lorbeer⸗ und olivenähnlichen Blättern und kleinen Palm— bäumen mit fächerförmigen Blättern gekrönt ſind. Dieſe ſchöne Vegetation kontraſtiert wunderbarlich mit der dürren, von dem vulkaniſchen Feuer verwüſteten Ebene. Bis gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts erſtreckten ſich die Felder, die mit Zuckerrohr und Indigo bepflanzt waren, zwiſchen den beiden Bächen Cuitimba und San Pedro. Sie waren von Baſaltgebirgen begrenzt, deren Bau anzuzeigen ſcheint, daß dieſes ganze Land vor uralten Zeiten ſchon mehrere— mal durch Vulkane umgekehrt worden iſt. Dieſe künſtlich gewäſſerten Gefilde gehörten zu dem Pachthofe (Hacienda) von San Pedro de Jorullo, einem der größten und reichſten des Landes. Im Juni 1759 ließ ſich ein unterirdiſches Geräuſch hören. Schreckliches Gebrüll (Bramidos) war von häufigen Erdſtößen begleitet. Dieſe dauerten 50 bis 60 Tage lang und verſetzten die Bewohner der Hacienda in die größte Beſtürzung. 1 Storia antica di Messico, Bd. I, S. 42 und Rusticatio mexicana (des Pater Landivars Gedicht, von welchem 1782 zu Bologna eine zweite Ausgabe erſchienen iſt), S. 17. — 212 — Mit Anfang des Monates September ſchien alles eine voll⸗ kommene Ruhe anzuzeigen, als ſich in der Nacht vom 28. auf den 29. aufs neue ein fürchterliches unterirdiſches Getöſe vernehmen ließ. In ihrem Schrecken flüchteten ſich die Sn: dianer auf die Gebirge von Aguaſarco. Ein Landſtrich von 3 bis 4 Quadratmeilen Umfang, den man Malpays nennt, erhob ſich in Form einer Blaſe, und noch heutzutage erkennt man in den zerbrochenen Schichten die Grenzen dieſer Er— hebung. An ſeinem Rande hat das Malpays nur 12 m Höhe über dem alten Flächenſtande der ſogenannten Ebene, las playas de Jorullo; allein die Wölbung des aufgetriebenen 1 ſteigt gegen die Mitte zu allmählich bis auf 160 m Höhe. f Diejenigen, welche auf der Spitze des Aguaſaro Zeugen dieſer großen Kataſtrophe geweſen ſind, verſichern, daß auf einer Ausdehnung von mehr als einer halben Quadratmeile Flammen hervorbrachen, Trümmer durchglühter Felſen auf eine ungeheure Höhe emporgeſchleudert wurden, und daß man durch eine dicke, von vulkaniſchem Feuer beleuchtete Aſchen— wolke, gleich dem ſturmbewegten Meere, die erweichte Decke der Erde aufſchwellen ſah. Die Flüſſe Cuitimba und San Pedro ſtürzten ſich in die brennenden Schluchten; die Ver: ſetzung des Waſſers fachte die Flammen noch mehr an und dieſe waren ſogar in der Stadt Patzcuaro ſichtbar, unerachtet fie auf einem ſehr breiten Plateau 1400 m über den Ebenen der Playas de Jorullo liegt. Die Eruptionen von Schlamm, beſonders von Thonſchichten, welche aufgelöſte Baſaltkugeln mit konzentriſchen Schichten umhüllen, ſcheinen anzuzeigen, daß unterirdiſche Waſſer in dieſer außerordentlichen Revolution eine große Rolle geſpielt haben. Tauſende von kleinen Ke— geln, welche 2 bis 3 m Höhe hatten und die Eingeborenen Oefen (Hornitos) nennen, ſtiegen aus dem aufgeblaſenen Ge— wölbe des Malpays hervor. Unerachtet nach dem Zeugniſſe der Indianer die Hitze dieſer vulkaniſchen Oefen ſeit fünfzehn Jahren beträchtlich abgenommen hat, ſo ſah ich den Thermo— meter dennoch, wenn ich ihn in die Riſſe ſenkte, aus denen Waſſerdünſte ausſtiegen, auf 95“ ſteigen. Jeder dieſer kleinen Kegel iſt eine Fumarole, aus der ſich ein dicker Rauch auf 10 bis 15 m erhebt, und bei vielen hört man ein unterirdi- ſches Geräuſch, welches die Nähe eines ſiedenden Fluidums zu verraten ſcheint. In der Mitte dieſer Oefen und aus einem Riſſe, der — 213 — ſich von Nord⸗Nord⸗Oſt nach Süd⸗Süd⸗Oſt hinzieht, find ſechs große Erdhaufen, jeder ungefähr 4 bis 5 m über den alten Höheſtand der Ebene erhaben, aufgeſtiegen. Es iſt eigentlich das Phänomen vom Monte Nuovo bei Neapel, das ſich hier in einer Reihe von vulkaniſchen Hügeln mehreremal wieder— holt hat. Der höchſte unter dieſen ungeheuren Erdhaufen, welche an die Puys in der Auvergne erinnern, iſt der große Vulkan von Jorullo. Er ſteht unaufhörlich in Flammen und hat auf der Nordſeite eine ungeheure Menge ſchlackiger und baſaltiſcher Laven ausgeworfen, welche Trümmer von primi— tiven Felsarten enthalten. Dieſe große Eruptionen des Gen: tralvulkanes dauerten bis in die Mitte des Februars 1760 und wurden in den darauf folgenden Jahren allmählich ſeltener. Aus Furcht vor dem ſchrecklichen Getöſe des neuen Vulkanes verließen die Indianer anfänglich alle Dörfer auf 7 bis 8 Meilen in der Runde um die Playas de Jorullo; ſie ge— wöhnten ſich aber in wenigen Monaten an das furchtbare Schauſpiel, kehrten in ihre Hütten zurück und ſtiegen auf der Seite der Gebirge von Aguaſarco und Santa Ines hinab, um die Feuergarben zu bewundern, welche aus einer zahl— loſen Menge großer und kleiner vulkaniſcher Mündungen herausſchnellten. Dazumal waren alle Dächer der Häuſer von Queretaro in einer Entfernung von 360 km in gerader Linie von dem Orte der Exploſion an gerechnet, mit Aſche bedeckt. Unerachtet das unterirdiſche Feuer gegenwärtig nicht ſehr lebhaft zu ſein ſcheint! und das Malpays und der 1 Wir fanden die Luft in der Tiefe des Kraters zu 47°, und an einigen Stellen zu 58 und 60“. Um dahin zu gelangen, muß— ten wir über Riſſe wegſetzen, aus welchen Schwefeldünſte aufſtiegen, und in denen ſich der Thermometer bis auf 85“ erhob. Der Gang über dieſe Riſſe und die Haufen von Schlacken, die beträchtliche Löcher bedecken, machen das Hinunterſteigen in den Krater ſehr ge— fährlich. Ich verſpare die näheren Nachrichten von meinen geolo— giſchen Unterſuchungen über den Vulkan von Jorullo für den hiſto— riſchen Bericht meiner Reiſe. Der Atlas, welchen ich derſelben beilegen werde, wird drei Kupferplatten enthalten: 1) die maleriſche Anſicht des neuen Vulkans, welcher dreimal höher iſt, als der Monte Nuovo bei Pozzuoli, der ſich 1538 beinahe am Ufer des Mittelländiſchen Meeres aus der Erde erhoben hat; 2) den ſenk— rechten Durchſchnitt oder das Profil des Malpays und des ganzen aufgetriebenen Erdreichs; 3) die geographiſche Karte der Ebenen von Jorullo, vermittelſt des Sextanten und mit Anwendung der — 214 — große Vulkan ſich mit Vegetation zu bedecken anfangen, jo fanden wir doch die umgebende Luft durch die kleinen Oefen (Hornitos) fo erhitzt, daß der Thermometer ſehr entfernt vom Boden und im Schatten doch auf 43° ſtieg. Dieſer Umſtand ſcheint zu beweiſen, daß in dem Zeugnis einiger alter In— dianer gar keine Uebertreibung liegt, wenn ſie erzählen, daß die Ebenen von Jorullo mehrere Jahre lang nach der erſten Eruption und ſelbſt in einer großen Entfernung von dem aufgetriebenen Boden wegen der außerordentlichen Hitze, die daſelbſt herrſchte, unbewohnbar waren. Noch zeigt man dem Reiſenden bei dem Cerro de Santa Ines die Flüſſe Cuitimba und San Pedro, deren klare Waſſer ehemals die Zuckerrohrfelder in Don André Pi— mentels Pflanzung genetzt haben. Dieſe Quellen verloren ſich in der Nacht vom 29. September 1759; dafür ſieht man aber nun etwas weſtlicher, in einer Entfernung von 200 m in dem aufgetriebenen Boden ſelbſt zwei Flüſſe, welche das Thongewölbe der Hornitos durchbrochen haben, und ſich als warme mineraliſche Waſſer ergießen, in denen der Thermo— meter auf 52.7“ ſteigt. Die Indianer haben ihnen die Namen San Pedro und Cuitimba gelaſſen, weil man an mehreren Stellen des Malpays große Waſſermaſſen von Oſten nach Weſten, von den Gebirgen von Santa Ines nach der Hacienda de la Preſentacion, fließen zu hören glaubt. Bei dieſer Wohnung befindet ſich ein Bach, der geſchwefelten Waſſerſtoff abſetzt. Er iſt über 7 m breit und ſomit die reichſte Schwefelwaſſerquelle, die ich irgendwo geſehen habe. Nach der Meinung der Eingeborenen ſind die außer— ordentlichen Veränderungen, die wir eben beſchrieben haben, dieſe Kruſte von aufgetriebenem Erdreich, welche durch das vulkaniſche Feuer geplatzt iſt, und dieſe Berge von Schlacken und aufgehäufter Aſche, das Werk der Mönche, und offenbar das größte, was ſie je auf beiden Hemiſphären ausgeführt haben! In der Hütte, welche wir auf den Playas von Jo— rullo bewohnten, erzählte uns unſer alter indianiſcher Wirt, Methode von perpendikulären Baſen und Höhenwinkeln aufgenom— men. Die vulkaniſchen Produkte dieſes ganz umgekehrten Erdreiches - befinden ſich im Kabinett der Bergſchule zu Berlin, und die Pflan— zen, die ich in dieſer Gegend geſammelt habe, machen einen Teil der Herbarien aus, welche ich im naturhiſtoriſchen Muſeum in Paris niedergelegt habe, — 215 — daß 1759 einige Kapuziner, die ſich auf Miſſion befanden, in der Wohnung von San Pedro gepredigt, aber weil ſie keine günſtige Aufnahme gefunden (vielleicht nicht ſo gut zu eſſen bekommen, als ſie erwartet), dieſe damals ſo ſchöne und fruchtbare Gegend mit den ſchrecklichſten Verwünſchungen und Flüchen belaſtet und prophezeit hätten, daß die ganze Wohnung von Flammen, die aus der Erde hervorbrechen müßten, verſchlungen werden, und ſpäter die umgebende Luft dermaßen erkalten würde, daß die benachbarten Berge ſich mit ewigem Schnee und Eis bedecken würden. Da die erſte dieſer Verwünſchungen ſo ſchreckliche Folgen gehabt hat, ſo ſieht das niedrige Volk unter den Indianern die allmähliche Erkaltung des Vulkans als das unglückliche Vorzeichen eines ewigen Winters an. Ich glaubte dieſe Volksſage, welche in dem epiſchen Gedichte des Jeſuiten Landivar einen würdigen Platz gefunden hätte, anführen zu müſſen, weil ſie einen auf— fallenden Zug in dem Gemälde der Sitten und Vorurteile dieſer entfernten Länder darſtellt. Sie beweiſt zugleich die thätige Induſtrie einer Menſchenklaſſe, welche die Leichtgläu— bigkeit des Volkes zu oft benutzt, und indem ſie ſich das Anſehen gibt, daß ſie durch ihren Einfluß die unveränderlichen Geſetze der Natur aufhalten könne, von allem Vorteil zu ziehen weiß, um ihre Herrſchaft auf die Furcht vor phyſiſchen Uebeln zu gründen. Die Lage des neuen Vulkans von Jorullo gibt zu einer ſehr merkwürdigen geologiſchen Beobachtung Anlaß. Wir haben weiter oben ſchon bemerkt, daß es in Neuſpanien eine Parallele von großen Höhen, oder eine enge, zwiſchen 18° 59° und 19° 12“ enthaltene Zone gibt, in welcher alle Spitzen von Anahuac liegen, die ſich über die Re— gion des ewigen Schnees erheben. Dieſe Spitzen ſind ent— weder noch wirklich in Flammen ſtehende Vulkane, oder Berge, deren Form ſowie die Natur ihrer Felsarten es im höchſten Grade wahrſcheinlich macht, daß ſie einſt unterirdi— ſches Feuer enthalten haben. Geht man von den Küſten des Meeres der Antillen aus, ſo findet man von Oſten nach Weſten den Pik von Orizaba, die beiden Vulkane von Puebla, den Nevado von Toluca, den Pik non Tancitaro und den Vulkan von Colima. Dieſe großen Höhen ſtehen, anſtatt den Kamm der Kordillere von Anahuac zu bilden und ihrer Richtung von Südoſt nach Nordweſt zu folgen, vielmehr auf einer Linie, welche der Achſe der großen Gebirgskette — 216 — perpendikulär iſt. Zuverläſſig iſt es in hohem Grade be— merkenswert, daß ſich der neue Vulkan von Jorullo auf der Verlängerung dieſer Linie und auf gleicher Parallele mit den alten mexikaniſchen Vulkanen gebildet hat! Ein Blick auf meinen Plan von den Umgebungen vom Jorullo beweiſt, daß die ſechs großen Erdhügel auf einem Gange, der die Ebene von dem Cerro de las Cuevas bis zu dem Picacho del Mortero durchſchneidet, aus der Erde her— vorgegangen ſind, ſo wie ſich auch die Boche Nuove des Veſuvs auf der Verlängerung eines Riſſes befinden. Sollten uns dieſe Analogieen nicht zu der Vermutung berechtigen, daß ſich in dieſem Teile von Mexiko, ſehr tief im Inneren der Erde, ein Riß befindet, der ſich in einer Länge von 137 Meilen (900 km) von Oſten nach Weſten hinzieht, und durch welchen ſich das vulkaniſche Feuer, nach Durchbrechung der äußeren Kruſte der Porphyrfelſen, zu verſchiedenen Zeiten von der Küſte des mexikaniſchen Golfs bis an die Südſee Luft ge— macht hat? Und verlängert ſich dieſer Riß nicht etwa bis zu der kleinen Inſelgruppe, die Herr Colnet den Archipelagus von Revillagigedo genannt hat, und in deren Nähe man, auf gleicher Parallele mit den mexikaniſchen Vulkanen, Bimsſteine ſchwimmen geſehen hat? Naturforſcher, welche die Thatſachen der beſchreibenden Geologie von den theoretiſchen Träume— reien über den Primitivzuſtand unſerer Erde unterſcheiden, werden mir gewiß verzeihen, daß ich dieſe Beobachtungen auf der Generalkarte von Neuſpanien in meinem mexikaniſchen Atlas bezeichnet habe. Außerdem gibt es von dem See von Cuiſeo an, der mit ſalzſaurem Kali geſchwängert iſt, und ge— ſchwefelten Waſſerſtoff ausdünſtet, bis zu der Stadt Valla— dolid, alſo auf einem Umfange von 40 Quadratmeilen, eine große Menge heißer Quellen, welche allgemein bloß Salzſäure ohne Spuren von ſchwefelſaurer Erde oder metalliſchen Salzen enthalten. Dergleichen find die Mineralwaſſer von Chucan— diro, von Cuinche, von San Sebaſtian und von San Juan Tararamco. Der Umfang der Intendantſchaft von Valladolid iſt um ein Fünfteil geringer als der von Irland, aber ihre relative Bevölkerung zweimal größer als die von Finnland. Man zählt in dieſer Provinz 3 Ciudades (Valladolid, Tzintzontzan und Patzeuaro), 3 Villas (Zitacuaro, Zamora und Charo), 263 Dörfer, 205 Kirchſpiele und 326 Meierhöfe. Die Indianer, welche die Provinz Valladolid bewohnen, — 217 — bilden drei Völker von verſchiedenem Urſprunge, und zwar: die Tarasken, im 16. Jahrhundert berühmt wegen ihrer mil— den Sitten, ihrer Induſtrie in mechaniſchen Künſten, und der Harmonie ihrer an Selbſtlautern reichen Sprache; die Oto— miten, ein Stamm, der noch heutzutage in der Civiliſation ſehr weit zurück iſt, und eine Sprache voll Naſen- und Kehlen— tönen redet; die Chichimeken, welche gleich den Tlaxcalteken, Nahuatlaken und Azteken die mexikaniſche Sprache beibehalten haben. Der ganze ſüdliche Teil dieſer Intendantſchaft iſt von Indianern bewohnt, und man findet in den Dörfern gar kein anderes weißes Geſicht, als höchſtens das des Pfarrers, welcher überdies ſelber oft ein Indianer oder Mu— latte iſt. Die Pfründen ſind daſelbſt ſo armſelig, daß der Biſchof von Michoacan nur mit größter Mühe Geiſtliche findet, die ſich entſchließen können, ſich in einem Lande nieder— zulaſſen, wo man beinahe nie ſpaniſch reden hört, und wo die Pfarrer oftmals längs der Küſte des Großen Ozeans in den erſten ſieben oder acht Monaten ihres Aufenthaltes an den bösartigen Fiebern dahinſterben. Die hauptſächlichſten Orte der Provinz von Valladolid ſind folgende: Valladolid de Michoacan, Hauptſtadt der Intendant: ſchaft, Sitz eines Biſchofs, und im Genuſſe eines herrlichen Klimas. Seine Höhe über dem Meeresſpiegel beträgt 1950 m und dennoch hat man auf dieſer ſo mittelmäßigen Höhe und unter 19“ 42“ der Breite ſchon Schnee in den Straßen von Valladolid fallen geſehen. Dieſes Beiſpiel einer plötz⸗ lichen Erkaltung der Atmoſphäre, welche ohne Zweifel durch den Nordwind verurſacht wird, iſt viel auffallender als der Schnee, welcher den Tag vor der Hinwegführung der Jeſuiten in den Straßen von Mexiko gefallen iſt! Die neue Waſſer— leitung, durch die die Stadt ihr trinkbares Waſſer erhält, wurde auf Koſten des letzten Biſchofs, Fray Antonio de San Miguel erbaut, und koſtete ihn gegen eine halbe Million Franken. Patzeuaro, an den Ufern des maleriſchen Sees von gleichem Namen und dem indianiſchen Dorfe Janicho gegen— über, das in einer Entfernung von einer kleinen Meile auf einer reizenden Inſel mitten in dem See liegt. In Patz— cuaro ruht die Aſche eines auszeichnungswerten Mannes, — 218 — deſſen Andenken noch nach drittehalb Jahrhunderten von den Indianern verehrt iſt, nämlich des berühmten Vasco de Qui: roga, erſten Biſchofs von Michoacan, der 1556 im Dorfe Uruapa geſtorben iſt. Dieſem eifrigen Prälaten, den die In— dianer noch heutzutage ihren Vater (Tata don Vasco) nennen, gelang die Beſchützung der unglücklichen Bewohner von Mexiko beſſer als dem tugendhaften Biſchof von Chiapa, Bartolomé de las Caſas. Quiroga wurde beſonders der Wohlthäter der taraskiſchen Indianer, deren Induſtrie er anfeuerte. Er ſchrieb jedem einzelnen Dorfe einen eigenen Handlungszweig vor, und dieſe ſeine nützlichen Anſtalten haben ſich großenteils bis auf unſere Zeit erhalten. Die Höhe von Patzceuaro tft 2200 m. a N Tzintzontzan oder Huitzitzilla, die alte Hauptſtadt des Königreichs Michoacan, von der wir weiter oben geſprochen haben. f Die Intendantſchaft von Valladolid enthält die Berg— werke von Zitacuaro, Angangueo, Tlalpujahua, Neal del Oro und Ynguaran. 5) Intendantſchaft Guadalajara. Die Provinz, welche einen Teil des Königreichs Nueva Galicia ausmacht, hat beinahe eine zweimal größere Aus— dehnung als Portugal, aber auch eine fünfmal geringere Be— völkerung. Sie grenzt gegen Norden an die Intendantſchaften Sonora und Durango, gegen Oſten an die von Zacatecas und Guanajuato, gegen Süden an die Provinz Valladolid und gegen Weſten auf einer Küſtenlänge von 910 km an das Stille Meer. Ihre größte Breite, vom Hafen San Blas bis zu der Stadt Lagos, beträgt 740 km, und ihre größte Länge von Süden nach Norden oder DOM Vulkan von Colima bis nach San Andreas Teul 875 km. Die Intendantſchaft Guadalajara wird von Oſten nach Weſten vom Rio de Santiago durchſchnitten, einem anſehn— lichen Fluſſe, der mit dem See von Chapala zuſammenhängt, und dereinſt, wenn die Civiliſation höher in dieſem Lande geſtiegen ſein wird, für die innere Schiffahrt, von Salamanca und Celaya bis nach dem Hafen von San Blas, wichtig werden kann. Der ganze öſtliche Teil dieſer Provinz nimmt das Plateau und den weſtlichen Abhange der Kordilleren von Anahuac ein. Die Seegegenden, bejonders die längs der großen Bai von Banderas gelegenen, ſind mit Wäldern bedeckt und geben vortreffliches Bauholz. Allein die Bewohner ſind einer ungeſunden und äußerſt heißen Luft ausgeſetzt. Das Innere des Landes genießt jedoch ein gemäßigtes und der Geſundheit zuträgliches Klima. Der Vulkan von Colima, deſſen Lage man noch nicht durch aſtronomiſche Beobachtungen beſtimmt hat, iſt der we— ſentlichſte unter den Vulkanen von Neuſpanien, welche auf einer Linie und in Parallelrichtung ſtehen. Er ſtößt häufig Aſche und Rauch aus. Ein aufgeklärter Geiſtlicher, welcher lange vor meiner Ankunft in Mexiko daſelbſt mehrere ſehr genaue barometriſche Meſſungen angeſtellt hatte, Don Ma— nuel Abad, Großvikar des Bistums Michoacan, ſchätzt die Höhe des Vulkans von Colima über dem Meeresſpiegel auf 2800 m. „Dieſer freiſtehende Berg,“ bemerkt Herr Abad, „ſcheint, wenn man ſeinen Gipfel mit dem Boden von Zapo— tilti und Zapotlan, zwei Dörfern vergleicht, welche 2000 Varen hoch über der Küſte gelegen ſind, nur eine mittelmäßige Höhe zu haben. Allein von der kleinen Stadt Colima aus zeigt ſich der Vulkan in ſeiner ganzen Größe. Er wird bloß dann mit Schnee bedeckt, wenn dieſer durch die Wirkung der Nord— winde in der benachbarten Gebirgskette fällt. Den 8. De— zember 1788 wurde der Vulkan beinahe bis auf zwei Drittel ſeiner Höhe! mit Schnee bedeckt; allein er blieb die nächſt— folgenden zwei Monate bloß auf der Nordſeite des Berges, gegen Zapotlan zu, liegen. Als ich ihn zu Anfang des Jah— res 1791 über Sayula, Tuxpan und Colima bereiſte, fand ich nicht die geringſte Spur von Schnee auf ſeinem Gipfel.“ Nach einem handſchriftlichen Memoire, das der Inten— dant von Guadalajara dem Tribunal des Conſulado in Veracruz übergeben hat, betrug der Wert der Erzeugniſſe des Ackerbaues in dieſer Intendantſchaft 1802 die Summe von 2599000 Piaſtern (nahe an 13 Millionen Franken). 1 Nehmen wir an, daß der Schnee den Vulkan bloß zur Hälfte ſeiner Höhe bedeckt. Nun fällt in dem weſtlichen Teile von Neu— ſpanien manchmal unter einer Breite von 18 bis 20 Graden und auf einer Höhe von 1600 m Schnee. Dieſen meteorologiſchen Be— trachtungen zufolge dürfte der Vulkan von Colima etwa 3200 m Höhe haben. — 20 — Der Wert der Manufakturinduſtrie aber wurde zu 3302 200 Piaſtern oder 16 Millionen Franken angeſchlagen. Die Provinz Guadalajara enthält 2 Ciudades, 6 Villas und 322 Dörfer. Die berühmteſten Bergwerke in derſelben find die von Bolanos, Aſientos de Ibarra, Hoſtotipaquillo, Copala und Huichichila bei Tepic. Die vorzüglichſten Städte ſind: Guadalajara, auf dem linken Ufer des Fluſſes Santiago, Reſidenz des Intendanten, des Biſchofs und des oberſten Gerichtshofes (Audiencia). San Blas, Hafen und Reſidenz des Departemento de Marina, an der Mündung des Rio de Santiago. Die dabei Angeſtellten (Oficiales reales) befinden ſich in Tepie, einer kleinen Stadt, deren Klima nicht ſo heiß und viel geſünder iſt. Schon ſeit zehn Jahren beſchäftigt man ſich mit der Frage, ob es nützlich wäre, die Werften, die Magazine und das ganze Seedepartement von San Blas nach Acapulco zu verlegen. In letzterem Hafen fehlt es ganz an Schiffsbau— holz, und die Luft iſt daſelbſt ebenſo ungeſund als in San Blas; allein die entworfene Veränderung würde, indem ſie die Konzentrierung der Seemacht begünſtigte, der Regierung die Kenntnis der Bedürfniſſe der Marine und die Mittel, ihnen zu Hilfe zu kommen, erleichtern. Compoſtela, ſüdwärts von Tepie. Nordweſtlich von Compoſtela, nämlich in den Partidos von Autlan, Ahurcatlan und Acaponeta, baute man ehemals einen ganz vorzüglich guten Tabak. Aguas Calientes, ſüdwärts von den Bachwerken der Aſientos de Ibarra, eine kleine, ſehr bevölkerte Stadt. Villa de la Purificacion, nordweſtlich von dem Hafen von Guatlan, ehemals Santiago de Buena Eſperanza genannt und berühmt durch die Entdeckungsreiſe, welche Diego Hur— tado de Mendoza 1532 angeſtellt hat. Lagos, nördlich von der Stadt Leon, auf einem an Weizen fruchtbaren Plateau, auf den Grenzen der Intendant— ſchaft Guanajuato gelegen. Colima, 15 km ſüdlich von dem Vulkan von Colima. — 221 — 6) Intendantſchaft von Zacatecas. Dieſe ganz beſonders menſchenarme Provinz liegt auf einem gebirgigen, dürren und einer unaufhörlichen Unregel— mäßigkeit der Luft ausgeſetzten Boden. Ihre Grenzen ſind gegen Norden die Intendantſchaft Durango, gegen Oſten die von San Luis Potoſi, gegen Süden die Provinz Guanajuato und gegen Weſten die von Guadalajara. Ihre größte Länge beträgt 630 und ihre größte Breite, von Sombrerete bis Real de Ramos, 380 km. Die Intendantſchaft von Zacatecas hat n ler gleichen Umfang wie die Schweiz, der ſie auch ſonſt in verſchiedenen⸗ geologiſchen Beziehungen ähnlich iſt. Ihre relative Bevöl- kerung kommt der von Schweden kaum gleich. Das Plateau, welches das Centrum der Intendantſchaft Zacatecas bildet und ſich über 2000 m erhebt, beſteht aus Syenit, einer Felsart, auf welcher nach Herrn Valencias! ſchönen Beobachtungen, Schichten von Primitivſchiefer und von Chloritſchiefer ruhen. Der Schiefer bildet die Baſis der Gebirge von Grauwacken und Trappporphyr. Nordwärts von der Stadt Zacatecas liegen neue kleine Seen, welche reich an Kochſalz und beſonders an luftſaurem Kali ſind.? Dieſes Karbonat, das man nach dem alten mexikaniſchen Worte tequixquilit mit dem Namen Tequesquite bezeichnet, wird beim Schmelzen des ſalzſauren und des geſchwefelten Silbers ſehr ſtark gebraucht. Ein Advokat von Zacatecas, Herr Garces, hat neuerdings die Aufmerkſamkeit feiner Lands— leute auf den Tequesquite geleitet, der ſich auch in Zacualco, zwiſchen Valladolid und Guadalajara, in dem Thale von San Francisco, bei San Luis Potoſi, in Acusquillo, bei den Berg— werken von Bolanos in Chorro, bei Durango, und in fünf Seen um die Stadt Chihuahua befindet. Das Centralplateau von Aſien iſt nicht reicher an Kali als Mexiko. Don Vicente Valencia, Zögling des Herrn Del Rio und der Bergſchule in Mexiko, hat eine merkwürdige Beſchreibung der Bergwerke von Mexiko verfaßt. (Gazeta de Mexico, Tom. XI, S. 417.) 2 Don Joseph Garces y Eguia. Del beneficio de los me- tales de oro y plata. Mexiko 1802. S. 11 und 49. (Ein Werk, das ſehr gründliche chemiſche Kenntniſſe verrät.) — 22 — Die merkwürdigſten Orte dieſer Provinz ſind: Zacatecas, heutzutage nach Guanajuato der berühmteſte Bergwerksort in Neuſpanien. Seine Bevölkerung beträgt zum wenigſten 33000. Fresnillo, auf dem Wege von Zacatecas nach Durango. Sombrerete, Hauptort und Reſidenz einer Diputacion de Minerva. Außer den drei angezeigten Orten enthält die Inten— dantſchaft von Zacatecas noch merkwürdige Erzgänze bei Sierra de Pinos, Chalchihuites, San Miguel del Mezquitas und Mazapil. In dieſer Provinz auch, und zwar in dem Berg: werke der Veta negra de Sombrerete, hat ſich der reichſte Erzgang gezeigt, welcher je auf beiden Hemiſphären geſehen worden iſt.“ i 7) Intendantſchaft Oajaca. Der Name dieſer Provinz, welche andere Geographen unrichtigerweiſe Guaxaca benennen, kommt von dem mexi— kaniſchen Namen der Stadt und des Thales Huaxyacac her, einem der Hauptorte im Lande der Zapoteken, der bei: nahe ſo anſehnlich war als ihre Hauptſtadt Teotzapotlan. Die Intendantſchaft Oajaca iſt eines der reizendſten Länder in dieſer Gegend der Erde. Schönheit und Geſundheit des Klimas, Fruchtbarkeit des Bodens, Reichtum und Mannig⸗ faltigkeit ſeiner Produkte, alles vereinigt ſich hier zum Glück der Bewohner. Darum war auch dieſe Provinz ſeit den ent— fernteſten Zeiten immer der Mittelpunkt einer ziemlich weit vorgerückten Civiliſation. Sie grenzt nördlich an die Intendantſchaft Veracruz, öſtlich an das Königreich Guatemala, weſtwärts an die Pro— vinz Puebla und gegen Süden, in einer Küſtenlänge von 820 km, an den Großen Ozean. Ihr Umfang übertrifft den von Böhmen und Mähren zuſammengenommen; aber ihre abſolute Bevölkerung iſt neunmal kleiner, und kommt alſo, relativ betrachtet, der des europäiſchen Rußlands gleich. Jetzt 32000. — D. Herausg.] [Seither durch die Silbergruben in Colorado und Nevada übertroffen. — D. Herausg.] — — 228 — Der gebirgige Boden der Intendantſchaft Dajaca Fon: traſtiert ſehr ſtark gegen den der Provinzen Puebla, Mexiko und Valladolid. Statt der Schichten von Baſalt, von Man— delſteinen und von Porphyr mit einer Baſis von Grünſtein, welche den Boden von Anahuac von 18° bis 22“ der Breite bedecken, ſieht man in den Gebirgen der Mixteca und der Zapoteca bloß Granit und Gneis, und die Gebirgskette, mit einer Bildung von Trapp, beginnt erſt ſüdoſtwärts, auf den weſtlichen Küſten des Königreichs Guatemala. Wir kennen von keinem der Granitgipfel in der Intendantſchaft Oajaca die Höhe; allein die Bewohner dieſes ſchönen Landes be— trachten den Cerro de Cempoaltepec bei Villalta, von welchem aus man zwei Meere ſieht, als einen der höchſten unter ihnen. Indes beweiſt dieſe Ausdehnung des Horizontes bloß eine Höhe von 2350 m.! Dieſelbe impoſante Ausſicht ſoll man auch auf der Gineta, auf den Grenzen der Bistümer Oajaca und Chiapa, 90 km von dem Hafen von Tehuan— 50 auf der großen Straße von Guatemala nach Mexiko aben. Die Vegetation iſt in der ganzen Provinz Oajaca ſchön und kräftig, und dies beſonders auf den mittleren Höhen des Landes, in der gemäßigten Region, wo vom Monat Mai bis zum Oktober ſtarker Regen fällt. Im Dorfe Santa Maria del Tule, 22 km öſtlich von der Hauptſtadt, zwiſchen Santa Lucia und Tlacochiguaya, befindet ſich ein unge— heurer Stamm von einer Cupressus disticha (sabino), welcher 36 m Umfang hat. Dieſer alte Baum iſt demnach viel dicker als die Cypreſſe von Atlixco, von der wir oben geſprochen haben, als der Drachenbaum auf den Kanariſchen Inſeln und als alle Boabab (Adansonie) in Afrika. Indes hat Herr Anza bei genauerer Unterſuchung desſelben gefun— den, daß das, was die Bewunderung der Reiſenden er— regt, nicht bloß ein einziger Stamm iſt, ſondern daß drei Der ſichtbare Horizont eines Gebirges von 2350 m Höhe hält 3° 20“ Durchſchnitt. Man hat die Frage aufgeworfen, ob man von dem Nevado de Toluca aus beide Meere ſehen könnte. Der ſichtbare Horizont dieſes Gebirges hat 2° 21“ oder 430 km im Halbmeſſer, wenn man nur eine gewöhnliche Refraktion annimmt. Die beiden mexikaniſchen Küſten, welche dem Nevado am nächſten ſtehen, wie die von Cojuca und Tuxpan, ſind 400 und 474 km von ihm entfernt. — 224 — vereinigte Stämme den berühmten Sabina von Santa Maria del Tule bilden. Die Intendantſchaft Oajaca enthält zwei Gebirgsländer, die man ſeit den älteſten Zeiten mit den Namen Mirxteca und Zapoteca bezeichnet. Dieſe Benennungen, welche ſich bis auf unſere Zeit erhalten haben, deuten eine große Ver— ſchiedenheit in der Abſtammung der Eingeborenen an. Das alte Mixtecapan teilt ſich heutzutage in das Ober- und Nieder— mixteca (Mixteca alta y baxa), und die öſtliche Grenze des erſteren, das an die Intendantſchaft Puebla grenzt, zieht ſich von Ticombaca über Quaxiniquilapa und zwiſchen Colotepece und Tamaſulapa hindurch gegen die Südſee. Die Indianer e ein thätiges, verſtändiges und induſtriöſes 0 Umfaßt die Provinz Oajaca auch keine durch ihren Um⸗ fang ſo ſtaunenerregenden Denkmale alter aztekiſcher Archi— tektur, wie die Götterhäuſer (Teocalli) von Cholula, Bas pantla und Teotihuacan, ſo enthält ſie dafür Ruinen von Gebäuden, die wegen ihrer Anordnung und der Eleganz ihrer Ornamente weit mehr Aufmerkſamkeit verdienen. Die Mauern des Palaſtes von Mitla ſind mit Labyrinthen aus Moſaik von kleinen Porphyrſteinen verziert und man erkennt auf denſelben die nämliche Zeichnung, die man auf den fälſchlich ſogenann— ten etruriſchen Vaſen oder in dem Fries vom alten Tempel des Deus ridiculus, bei der Grotte der Nymphe Egeria zu Rom, bewundert. Ich habe einen Teil dieſer amerikaniſchen Ruinen, welche von dem Oberſt Don Pedro de Laguna und einem geſchickten Architekten, Don Luis Martin, ſehr ſorg⸗ fältig gezeichnet worden ſind, ſtechen laſſen. Findet man in⸗ des die große Aehnlichkeit zwiſchen den Verzierungen des Palaſtes von Mitla und denen der Griechen und Römer auch mit allem Rechte auffallend, ſo darf man ſich darum doch den hiſtoriſchen Hypotheſen über die alten Kommunikationen, welche zwiſchen beiden Kontinenten ſtattgefunden haben können, nicht leichtſinnig überlaſſen; denn man muß nie vergeſſen, daß ſich die Menſchen beinahe unter allen Zonen (wie ich an einer anderen Stelle zu entwickeln geſucht habe) in einer rhythmiſchen Wiederholung derſelben Formen, welche den Hauptcharakter alles deſſen, was wir griechiſche Ornamente, 1 Der tiefſte Kenner der ägyptiſchen Altertümer, Herr Zoöga, Mäanders, Labyrinthe, Arabesken und dergleichen nennen, ge: fallen haben. Das Dorf Mitla hieß einſt Miguitlan, ein Wort, das in der mexikaniſchen Sprache einen düſteren Ort, einen Ort der Traurigkeit bezeichnet; die zapotekiſchen Indianer aber nennen es Leoba, welches Grab bedeutet. Wirklich war der Palaſt von Mitla, deſſen Alter man nicht mehr kennt, nach der Tradition der Eingeborenen, und wie auch die ganze An— ordnung aller ſeiner einzelnen Teile verrät, ein über den Gräbern der Könige gebauter Palaſt, in welchen ſich der Sou— verän nach dem Tode eines Sohnes, einer Gattin oder Mutter auf einige Zeit zurückzog. Vergleicht man die Größe dieſer Gräber mit der Kleinheit der Gebäude, in denen die Leben— den wohnten, ſo möchte man mit Diodor von Sizilien ſagen, daß es Völker gibt, welche prächtige Denkmale nur für die Toten errichten, weil ſie dieſes Daſein für kurz und ſchnell vorübergehend anſehen, und es nicht der Mühe wert halten, ähnliche Werke für die Lebenden aufzuführen. Der Palaſt oder vielmehr die Gräber von Mitla bilden drei ſymmetriſch geſtellte Gebäude in einer äußerſt romanti— ſchen Lage. Das Hauptgebäude hat ſich am beſten erhalten und iſt 40 m lang. Eine in einem Brunnen angebrachte Treppe führt in ein unterirdiſches Gemach von 27 m Länge und 8 m Breite. Dieſes traurige Gemach, das für die Gräber beſtimmt war, iſt mit denſelben griechiſchen Ornamenten be— deckt, womit die äußeren Mauern des Gebäudes verziert ſind. Was indes die Ruinen von Mitla von allen anderen Ueberbleibſeln der mexikaniſchen Architektur unterſcheidet, ſind ſechs Porphyrſäulen, welche mitten in einem großen Saale ſtehen und deſſen Decke ſtützen. Dieſe Säulen, beinahe die einzigen, die man auf dem neuen Kontinente gefunden, ver- raten die Kindheit der Kunſt. Sie haben weder Baſen noch Debitel und man ſieht bloß an ihrem oberen Teile einige Verjüngung. Ihre ganze Höhe beträgt 5 m, aber der Schaft beſteht jedesmal aus einem einzigen Skück von amphiboliſchem Porphyr. Mehr als ein Dritteil iſt mit Schutt bedeckt, der ſich ſeit Jahrhunderten angehäuft hat. Nach deſſen Hinweg— räumung fanden wir, Herr Martin und ich, ihre Höhe gleich ſechs ihrer Durchmeſſer. Verhielte ſich der untere Durchmeſſer hat die merkwürdige Beobachtung gemacht, daß die Aegypter dieſe Art von Verzierungen nie gebraucht haben. A. v. Humboldt, Neuſpanien. I. 15 — 2 dieſer Säulen zu dem oberen nicht wie 3 zu 2, ſo ergäbe ſich, daß ihre Anordnung noch leichter wäre, als die der tos— caniſchen Säulenordnung. 9 Die Verteilung der Gemächer im Inneren dieſes ſonder— baren Gebäudes hat auffallende Aehnlichkeiten mit derjenigen, welche man in den Monumenten von Oberägypten ſieht, wie ſie Herr Denon und die Gelehrten des Inſtitutes von Kairo gezeichnet haben. Herr von Laguna hat in den Ruinen von Mitla merkwürdige Malereien gefunden, die Kriegstrophäen und Opfer darſtellen. Ich werde an einem anderen Orte (in dem hiſtoriſchen Berichte von meiner Reiſe) Gelegenheit haben, wieder auf dieſe Reſte einer alten Civiliſation zurück— zukommen. Die Intendantſchaft Oajaca hat allein die Kochenillen— kultur (Coceus eacti), einen Induſtriezweig, den ſie ehe— mals mit den Provinzen Puebla und Neugalicien teilte, bei— behalten. a Ku Die Familie von Hernan Cortez führt den Titel des Marquis von Oajaca. Ihr Majorat beſteht aus vier Villas del Marquiſado und 49 Dörfern, die eine Bevölkerung von 17700 Menſchen umfaſſen. Die bemerkenswerteſten Orte dieſer Provinz ſind: Dajaca oder Guaxaca, das alte Huaxyacac und zu An: fang der Belagerung Antequera genannt. Thiery de Menon— ville gibt dieſer Stadt nur 6000 Einwohner; allein bei der Zählung von 1792 fand man 24400. Tehuantepec oder Teguantepeque, ein Hafen im Hinter: grunde einer Bucht, die der Ozean zwiſchen den kleinen Dör- fern San Francisco, San Dioniſio und Santa Maria de la mar bildet. Dieſer Hafen iſt durch eine gefährliche Bank geſchützt und wird dereinſt ſehr wichtig werden, wenn ſich die Schiffahrt überhaupt und beſonders der Transport des Indigo von Guatemala auf dem Rio Guatzacoalco mehr ausge: breitet hat. San Antonio de los Cues, ein ſehr bevölkerter Ort auf dem Wege von Orizaba nach Oajaca, der durch die Ueber— bleibſel alter mexikaniſchen Befeſtigungen berühmt iſt. 1 0 Jetzt 26 200. — D. Herausg.] — 227 — Die am fleißigſten bearbeiteten Bergwerke dieſer Inten⸗ Be ſind die von Villalta, Zolaga, Yrtepexi und Toto: moſtla. 8) Intendantſchaft Merida. Dieſe Intendantſchaft, über welche uns Herr Gilbert! koſtbare Nachrichten geliefert hat, umfaßt die große Halbinſel Nukatan zwiſchen der Bai von Champeſche und Honduras. Durch das Vorgebirge Catoche, welches 380 km weit von den Kalkhügeln vom Kap San Antonio entfernt iſt, ſcheint Mexiko vor der Durchbrechung des Meeres der Antillen mit der Inſel Cuba zuſammengehangen zu haben. Die Provinz Merida grenzt gegen Süden an das König— reich Guatemala und gegen Oſten an die Intendantſchaft Veracruz, von der ſie durch den Rio Baraderas, ſonſt auch Krokodilsfluß (Rio Lagartos) genannt, getrennt iſt. Auf ihrer Weſtſeite dehnen ſich die engliſchen Niederlaſſungen bis zu der Mündung des Rio Hondo, nördlich von der Hannover— bai, der Inſel Ubero gegenüber (Ambergrese Key) aus. In dieſer Gegend iſt Salamanca oder das kleine Fort von San Felipe de Bacalar, der ſüdlichſte Punkt der von den Spaniern bewohnten Küſte. Die Halbinſel Yucatan, deren nördliche Küſte von dem Kap Catoche, bei der Contoyinſel bis zu der Punta de Pie— dras (auf einer Länge von 600. km) genau der Richtung der Rotationsſtrömung folgt, iſt eine große Ebene, deren In— neres von Nordweſt nach Südweſt von einer Kekte nicht ſehr hoher Hügel durchſchnitten wird. Die Gegenden, welche ſich öſtlich von dieſen Hügeln gegen die Himmelfahrts- und die Heiligengeiſtbai ausdehnen, ſcheinen die fruchtbarſten zu ſein Dieſer einſichtsvolle Beobachter hat einen großen Teil der ſpaniſchen Kolonieen bereiſt, aber das Unglück gehabt, in einem Schiffbruch auf der Südſeite der Inſel Cuba zwiſchen den Untiefen der Gärten des Königs, deren aſtronomiſche Lage ich beſtimmt habe, die ſtatiſtiſchen Materialien zu verlieren, die er geſammelt hatte. Es iſt nicht unnütz, hier zu bemerken, daß Herr Gilbert, ohne meine Angaben zu kennen, ſondern bloß nach eigener Schätzung der Zahl der Dörfer und ihrer Bevölkerung, gefunden hat, daß Yucatan, im Jahre 1801 etwa eine halbe Million Menſchen aller Kaſten und Farben enthalten müßte. Be und waren auch wirklich einſt die bevölkertſten. Die Trüm— mer europäiſcher Gebäude, die man auf der Cozumelinſel mitten in einem Gehölze von Palmbäumen ſieht, zeigen an, daß ſie, obgleich heutzutage völlig verlaſſen, ſchon zu Anfang der Eroberung von ſpaniſchen Koloniſten bevölkert war. Seit— dem ſich aber die Engländer zwiſchen Orno und Rio Hondo niedergelaſſen, hat die Regierung, um den Schleichhandel zu vermindern, die ſpaniſche und indianiſche Bevölkerung in dem weſtlich von den Gebirgen Yucatans gelegenen Teile der Halbinſel zuſammengezogen und den Koloniſten verboten, ſich auf der weſtlichen Küſte, an den Ufern des Rio Bacalar und auf Rio Hondo anzuſiedeln. Solchermaßen iſt dieſer ganze große Landſtrich verödet und man findet nur noch den Mili— tärpoſten (Presidio) von Salamanca in demſelben. Die Intendantſchaft Merida iſt eines der heißeſten und dabei dennoch geſündeſten Länder des äquinoktialen Amerikas. Dieſe Geſundheit des Klimas kommt in Yucatan wie in Coro, Cumana und auf der Margareteninſel ohne Zweifel von der großen Trockenheit des Bodens und der Atmoſphäre her. Auf der ganzen Küſte, von Campeche oder von der Mün— dung des Rio de San Francisco an bis zum Kap Catoche findet der Reiſende nicht eine einzige Quelle ſüßen Waſſers; aber bei letzterem Kap hat die Natur das nämliche Phänomen wiederholt, welches ſich ſüdlich von der Inſel Cuba in der Bai von Nagua zeigt und das ich an einem anderen Orte be— ſchrieben habe. An der Nordküſte von Yucatan, bei der Mün— dung des Rio Lagartos ſprudeln nämlich 400 m weit vom Ufer Quellen von ſüßem Waſſer in die Höhe. Dieſe merk— würdigen Quellen nennt man die Mündungen (Bocas) von Conil. Wahrſcheinlich erhebt ſich das ſüße Waſſer, nachdem es die Kalkfelſen, in deren Riſſe es ſtrömt, durchbrochen hat, durch einen ſtarken hydroſtatiſchen Druck über die Fläche des Salzwaſſers. Die Indianer dieſer Intendantſchaft reden die Maya— ſprache, welche ſtark durch die Kehle geht und von der es vier ziemlich vollſtändige Wörterbücher von Pedro Beltran, Andres de Avendano, Fray Antonio de Ciudad-Real und Luis de Villalpando gibt. Nie war die Halbinſel den mexi— kaniſchen oder aztekiſchen Königen unterworfen; aber die erſten Eroberer derſelben, Bernal Diaz, Hernandez de Cordova und der tapfere Juan de Grijalva erſtaunten ſchon über den hohen Grad von Civiliſation, den ſie unter ihren Bewohnern an— — 229 — trafen. Sie fanden hier Häuſer, die mit Steinen und Kalk aufgeführt waren, pyramidaliſche Gebäude (Teocalli), welche ſie mit den Moſcheen der Mauren verglichen, Felder mit Hecken eingeſchloſſen, kurz ein Volk, das gut bekleidet war, gut regiert wurde und ſich hierin von den Bewohnern der Inſel Cuba ſehr unterſchied. Noch heutzutage ſieht man viele Rui— nen,! beſonders von Grabmälern (Guacas) oſtwärts von der kleinen Centralbergkette des Landes. Im ſüdlichen Teile desſelben, den dichte Wälder und eine kräftige Vegetation beinahe unzugänglich machen, haben einige indianiſche Stämme ſich unabhängig erhalten. . | Die Provinz Merida erzeugt wie alle Länder der heißen Zone, deren Boden ſich nicht 1300 m über die Meeresfläche erhebt, keine anderen Nahrungsmittel für ihre Bewohner als Mais, Wurzeln von Jatropha und Dioscorea, aber kein europäiſches Getreide. Dafür wachſen die Bäume, welche das berühmte Campecheholz (Haematoxylon campechianum) liefern, in mehreren Diſtrikten dieſer Intendantſchaft in großer Menge. Das Fällen derſelben (Cortes de palo Campeche) wird jedes Jahr an den Ufern des Rio Champoton vorge— nommen, deſſen Mündung ſich ſüdlich von der Stadt Cam— peche, 30 km von dem kleinen Dorfe Lerma befindet. Bloß mit außerordentlicher Erlaubnis des Intendanten von Merida, der den Titel eines Gouverneur-Generalkapitäns führt, kön— nen die Kaufleute von Zeit zu Zeit auch oſtwärts von den Gebirgen bei der Himmelfahrts-, der Todos los Santos— und der Eſpirito Santobai Campecheholz fällen laſſen. In den Buchten der Oſtküſte treiben die Engländer einen ſehr ausgebreiteten und gewinnreichen Schleichhandel. Iſt das Campecheholz gefällt, ſo bleibt es, um auszutrocknen, ein ganzes Jahr liegen, ehe man es nach Veracruz, nach der Havana oder Cadiz abſendet. In Campeche wird das Quintal dieſes ausgetrockneten Holzes (Palo de tinta) zu 2 bis 2½ Piaſter (10 Franken 50 Centimen bis 12 Franken 88 Centimen) verkauft. Indes findet ſich das Hämatoxylon, welches in Nucatan und auf der Hondurasküſte in größter Maſſe wächſt, in allen Wäldern des äquinoktialen Amerikas, wo die mittlere Temperatur der [Seither ſind über 50, teils ſehr große Ruinenſtädte in Yu— catan entdeckt worden, darunter Uxmal, das amerikaniſche Theben, mit 22 km Umfang und zahlreichen Ueberreſten von Tempeln, Türmen, Paläſten, Pyramiden, Grabmälern. — D. Herausg.] — 230 — Luft nicht unter 22° des hundertgradigen Thermometers ſteht. Auch die Küſte von Paria in Neuandaluſien könnte dereinſt einen anſehnlichen Handel mit Campeche- und Bra: ſilienholz (Caesalpina), welches ſie beides in größtem Weber: fluſſe hervorbringt, treiben. Die ausgezeichnetſten Orte der Intendantſchaft Merida ſind folgende: Merida de Nucatan, die Hauptſtadt, 75 km im Inneren des Landes und in einer dürren Ebene ſtehend. Der kleine Hafen von Merida, Siſal genannt, iſt weſtlich von Chaboana, einer nahe an 90 km langen Sandbank gegenüber. Campeche, an dem Rio de San Francisco, mit einem Hafen, der nicht ganz ſicher iſt. Die Schiffe müſſen daher fern vom Ufer ankern. In der Mayaſprache bedeutet cam eine Schlange, und peche das kleine Inſekt (Acarus) das die Spanier garapata nennen und deſſen Hautſtiche heftige Schmerzen verurſachen. Zwiſchen Campeche und Merida liegen zwei ſehr beträchtliche indianiſche Dörfer, Jampolton und Heeilchacan. Die Ausfuhr des Wachſes von Yucatan tft einer der ergiebigſten Handlungszweige dieſer Stadt. Ihre ge— wöhnliche Bevölkerung beträgt 6000. Valladolid, eine kleine Stadt, in deren Umgebungen viele und ganz vortreffliche Baumwolle gewonnen wird. Sie geht indes zu ſehr niedrigen Preiſen weg, weil ſie den großen Fehler hat, daß ſie ſchwer von den Samenkörnern loszu: machen iſt. Im Lande ſelbſt verſteht man es gar nicht, ſie zu reinigen (despepitar oder desmotar), und da die Körner ſehr ſchwer ſind, ſo verliert ſie zwei Drittel ihres Wertes durch die Frachtkoſten. 9) Intendantſchaft Veracruz. Dieſe unter dem brennenden Himmel der Tropenländer gelegene Provinz erſtreckt ſich längs dem Mexikaniſchen Meer— buſen, von dem Rio Baraderas an (oder de los Lagartos) bis zu dem großen Panucoſtrome, welcher in den metallreichen Gebirgen von San Luis Potoſi entſpringt, und umfaßt jomit — 231 — einen ſehr beträchtlichen Teil der Oſtküſte von Neuſpanien. Ihre Länge von der Bai von Terminos, bei der Inſel del Carmen, bis zu dem kleinen Hafen von Tampico, beträgt 1630 km, und ihre Breite im Durchſchnitt 185 bis 210 km. Ostwärts grenzt fie an die Halbinſel Merida, weſtwärts an die Intendantſchaften von Oajaca, Puebla und Mexiko und nördlich an die Kolonie von Neuſantander. Ein Blick auf die neunte und zehnte Platte meines mexikaniſchen Atlaſſes zeigt die außerordentliche Bildung dieſes Landes, das einſt unter den Namen Cuetlachtlan be: griffen wurde. Es gibt im neuen Kontinent wenige Gegen— den, wo dem Reiſenden das Zuſammentreffen der entgegen— geſetzten Klimate ſo oft und ſo ſtark auffällt. Der ganze weſtliche Teil dieſer Intendantſchaft nimmt den Abhang der Kordilleren von Anahuac ein. In einem Tage ſteigen die Bewohner daſelbſt von der Zone des ewigen Schnees in die am Meere gelegenen Ebenen herab, in welchen eine erſtickende Hitze herrſcht. Nirgends erkennt man ſo leicht die bewunderns— würdige Ordnung, worin die verſchiedenen Stämme der Vege— tabilien gleichſam ſchichtenweiſe aufeinander folgen, als wenn man von Veracruz nach dem Plateau von Perote hinauf— ſteigt. Bei jedem Schritte ſieht man alsdann die Phyſio— gnomie des Landes, den Anblick des Himmels, den Wuchs der Pflanzen, die Figur der Tiere, die Lebensweiſe der Men— ſchen, und die Kulturweiſen, denen ſie ſich ergeben, wechſeln. Je höher man kommt, ſcheint die Natur minder belebt, die Schönheit der vegetabiliſchen Formen geringer, ſind die Stengel weniger ſaftig, die Blüten kleiner und nicht mehr ſo ſchön gefärbt. Indes gibt der Anblick der mexikaniſchen Eiche dem Reiſenden, der in Veracruz gelandet iſt, wieder Mut; indem ihm ihre Gegenwart anzeigt, daß er jene mit allem Recht von den Völkern des Nordens gefürchtete Zone, unter welcher das gelbe Fieber ſeine Verwüſtungen in Neu— ſpanien anrichtet, verlaſſen hat. Dieſelbe niedrige Grenze der Eichen deutet dem Koloniſten, der das Centralplateau bewohnt, an, wie weit er gegen die Küſten herabſteigen kann, ohne die tödliche Krankheit des Vomito fürchten zu dürfen. Bei Jalapa verkündigen die Liquidambarwälder durch ihr friſches Grün, daß auf dieſer Höhe die über dem Ozean hängenden Wolken die Baſaltgipfel der Kordillere berühren. Noch höher, bei Banderilla, reift die nahrhafte Bananen- frucht ſchon nicht mehr. In dieſer kalten nebligen Gegend Zr > h zwingt das Bedürfnis den Indianer zur Arbeit und erweckt ſeine Induſtrie. Auf der Höhe von San Miguel miſchen ſich bereits Tannen unter die Eichen, und der Reiſende findet ſie bis auf den erhabenen Ebenen des Perote, welche ihm den lachenden Anblick von Weizenfeldern zeigen. 800 m höher wird das Klima ſelbſt für die Eichen zu kalt. Bloß Tannen bedecken die Felſen, deren Spitzen in die Zone des ewigen Schnees reichen. So durchläuft der Naturforſcher in dieſem wunderbaren Lande in wenigen Stunden die ganze Stufen⸗ leiter der Vegetation von der Helikonia und dem Bananas, deſſen glänzende Blätter ſich in ungeheuren Dimenſionen entwickeln, bis zu dem verengten Zellengewebe der Harz— bäume! g Die Natur hat die Provinz Veracruz mit den koſtbarſten Produkten bereichert. Am Fuße der Kordillere, in den immer grünen Wäldern von Papantla, Nautla und St. Andreas Tuxtla, wächſt die Liane (Epidendrum vanilla), deren gewürz⸗ hafte Frucht zur Schokolade gebraucht wird. Bei den india— niſchen Dörfern Colipa und Miſantla findet man den ſchönen Convolvulus jalapae, deſſen knollige Wurzel die Jalape, eines der kräftigſten und wohlthätigſten Purgiermittel liefert. Im öſtlichen Teile dieſer Intendantſchaft bringen die Wälder, welche ſich gegen das Ufer des Baraderas erſtrecken, die Myrte (Myrtus pimenta) hervor, deren Samenkorn ein an: genehmes Gewürz und im Handel unter dem Namen: Pimienta de Tabasco bekannt iſt. Der Kakao von Acayucan würde ſehr geſucht ſein, wenn ſich die Eingeborenen dem Bau ſeines Baumes fleißiger ergäben. An dem öſtlichen und ſüd— lichen Abhange des Piks von Orizaba, in den Thälern, welche ſich gegen die kleine Stadt Cordoba hin ausdehnen, wird Tabak von ganz vorzüglicher Qualität gebaut, der der Krone jährlich über 18 Millionen Franken einträgt. Der Smilax, deſſen Wurzel die wahre Sarſaparille iſt, wächſt in den feuchten, ſchattigen Schluchten der Kordillere. Die Baumwolle. von Veracruz iſt wegen ihrer Feinheit und Weiße berühmt, und das Zuckerrohr daſelbſt ebenſo gehaltreich als auf der Inſel Cuba, und gehaltreicher als in den Pflanzungen von San Domingo. Dieſe Intendantſchaft allein wäre imſtande, den Handel im Hafen von Veracruz zu beleben, wenn die Anzahl der Koloniſten beträchtlicher wäre, und wenn ihre Trägheit, die Wirkung der gütigen Natur und der Leichtigkeit, ſich ohne — 233 — Arbeit die erſten Lebensbedürfniſſe zu verſchaffen, nicht die Fortſchritte der Induſtrie aufhielte. Die alte Bevölkerung von Mexiko war im Inneren des Landes, auf dem Plateau ſelbſt vereinigt; indem die mexikaniſchen Völker, welche, wie wir weiter oben auseinandergeſetzt haben, aus nördlichen Ge: genden abſtammten, auf ihren Wanderungen den Rücken der Kordilleren mit feinem, ihrem vaterländiſchen ähnlichen Klima vorzogen. Ohne Zweifel war indes zur Zeit der erſten An— kunft der Spanier auf der Küſte von Chalchiuhcuecan (Vera— cruz) das ganze Uferland, von dem Fluſſe Papaloapan (Al: varado) bis nach Huaxtecapan beſſer bevölkert und angebaut als heutzutage. Je höher die Eroberer aber gegen das Pla— teau aufſtiegen, deſto näher fanden ſie die Dörfer aneinander gelegen, in deſto kleinere Stücke das Land verteilt, und das Volk deſto civiliſierter. Die Spanier, welche neue Städte zu gründen glaubten, wenn ſie nur den ſchon von den Azteken gebauten europäiſche Namen gaben, folgten den Spuren der Civiliſation der Eingeborenen. Dabei hatten ſie aber noch mächtigere Beweggründe, ſich auf dem Plateau von Anahuac niederzulaſſen. Sie fürchteten die Hitze und die Krankheiten, welche in den Ebenen herrſchten; auch wurden ſie durch das Suchen nach koſtbaren Metallen, den Bau des Weizens und der europäiſchen Fruchtbäume, die Aehnlichkeit des Klimas mit dem von Kaſtilien, ſowie durch andere ſchon beſprochene Urſachen bewogen, ſich auf dem Rücken der Kordilleren anzuſiedeln. So— lange die Encomenderos, die ihnen von dem Geſetze zugeſtande— nen Rechte mißbrauchend, die Indianer als Leibeigene behan— delten, wurden viele von den letzteren von den Küſtengegenden auf das Plateau im Inneren verpflanzt, um entweder in den Bergwerken zu arbeiten, oder bloß dem Wohnorte ihrer Herren näher zu ſein. Zwei ganze Jahrhunderte hindurch war der Handel mit amerikaniſchem Indigo, Zucker und Baumwolle im höchſten Grade unbedeutend. Nichts munterte die Weißen auf, ſich in den Ebenen, welche das wahre Klima von Indien haben, anzubauen und man könnte wohl jagen, daß die Eu: ropäer bloß in die Tropenländer kamen, um die gemäßigte Zone derſelben zu bewohnen. Seitdem ſich aber die Konſumtion des Zuckers beträcht— lich vermehrt hat, und der Handel mit dem neuen Kontinent überhaupt viele Produkte liefert, welche Europa ſonſt allein aus Aſien und Afrika bezog, haben die Ebenen (Tierras calientes) offenbar einen größeren Reiz gewonnen, ſich in — 234 — denſelben anzuſiedeln. Daher vermehrten ſich auch beſonders ſeit den traurigen Ereigniſſen auf San Domingo, welche den ſpaniſchen Kolonieen überhaupt einen großen Schwung ge— geben haben, die Zuckerrohr- und Baumwollenpflanzungen äußerſt in der Provinz Veracruz. Dieſe Fortſchritte ſind indes auf den mexikaniſchen Küſten noch nicht ſehr auffallend; indem es Jahrhunderte braucht, bis dieſe Wüſten bevölkert ſind. Heutzutage ſind daher ganze Striche von mehreren Quadratmeilen noch bloß mit zwei bis drei Hütten (Hatos de ganado) beſetzt, um welche herum halbwilde Ochſen graſen. Einige wenige mächtige Familien, die auf dem Centralplateau wohnen, ſind im Beſitz des größten Teiles vom Uferlande der Intendantſchaften Veracruz und San Luis Potoſi. Kein agrariſches Geſetz zwingt dieſe reichen Eigentümer, ihre Ma: jorate (Mayorazgos) zu verkaufen, wenn ſie auch gleich die ungeheuren Landſtriche, die dazu gehören, nicht ſelbſt anbauen wollen. Sie bedrücken ihre Pächter und jagen ſie nach Ge— fallen fort. Zu dieſem Uebel, das die Küſten des Mexikaniſchen Golfes mit Andaluſien und einem großen Teile von Spanien gemein haben, geſellen ſich noch andere Urſachen der Entvölkerung. Die Intendantſchaft Veracruz hat für ein ſo wenig bevöl— kertes Land eine viel zu ſtarke Miliz und der Kriegsdienſt laſtet daher ſchwer auf dem Feldarbeiter. Er flieht daher auch die Küſten, um nicht gezwungen zu werden, in das Corps der Lanceros und der Milicianos zu treten. Auch die Matro— ſenaushebungen für die königliche Marine wiederholen ſich zu ſchnell, und werden mit zu viel Willkür behandelt. Da die Regierung bisher jedes Mittel, die Bevölkerung dieſer öden Küſte zu vermehren, vernachläſſigt hat, ſo erfolgte aus dieſen Umſtänden der größte Mangel an Armen zur Arbeit, und eine Teurung der Lebensmittel, wie ſie bei der großen Fruchtbarkeit des Bodens kaum glaublich iſt. Die Intendantſchaft Veracruz enthält zwei Koloſſalſpitzen, von denen die erſte, der Vulkan von Orizaba, nach dem Popo— catepetl, das höchſte Gebirge in Neuſpanien iſt.“ Der Gipfel dieſes abgeſtumpften Kegels hat ſich gegen Südoſten etwas geſenkt, und man ſieht den Ausſchnitt des Kraters ſehr weit, ſogar in der Stadt Jalapa. Die zweite Spitze, der Koffer Neuere Meſſungen ſtellen den Orizaba über den Popoca— tepetl. — D. Herausg.] f — 235 — von Perote, iſt nach meinen Meſſungen beinahe 400 m höher als der Pik von Tenerifa und dient den Schiffern, die nach Veracruz ſteuern, zum Signal. Da dieſer Umſtand die Be— ſtimmung ſeiner aſtronomiſchen Lage ſehr wichtig macht, ſo habe ich auf dem Koffer ſelbſt die Polhöhe vor- und nad)- mittags gemeſſen. Eine dicke Lage Bimsſtein umgibt dieſes porphyritiſche Gebirge. Auf ſeinem Gipfel ſieht man jedoch keine Spur eines Kraters; allein die Lavaſtröme, die man zwiſchen dem kleinen Dorfe de las Vigas und de Hoya bemerkt, ſcheinen die Wirkungen eines ſehr alten Seitenaus— bruches zu ſein. Der kleine Vulkan von Turtla, der ſich an die Sierra de San Martin lehnt, liegt 30 km von der Küſte ſüdöſtlich von dem Hafen von Veracruz, bei dem in: dianiſchen Dorfe Santiago de Turtla, und befindet ſich dem— nach außerhalb der Parallellinie der brennenden Vulkane von Mexiko, die wir oben angezeigt haben. Seine letzte ſehr be— trächtliche Eruption fand den 2. März 1793 ſtatt, und die vulkaniſche Aſche bedeckte damals die Dächer der Häuſer von Dajaca, Veracruz und Perote. An letzterem Orte, welcher 422 km in gerader Linie! von dem Vulkan von Turtla ent: fernt iſt, gleicht das unterirdiſche Getöſe den Schüſſen von ſchwerer Artillerie. In dem nördlichen Teile der Intendantſchaft Veracruz, weſtlich von der Mündung des Rio Tecolutla befindet ſich 15 km von dem großen indianiſchen Dorfe Papantla ein ſehr altes pyramidaliſches Gebäude, das mitten in einem dichten Walde, in tonakiſcher Sprache Tajin genannt, liegt. Jahrhunderte hindurch verbargen die Eingeborenen den Spa⸗ niern dieſes Denkmal, welches ſie von alters her verehren, und erſt vor etwa 30 Jahren wurde es durch Zufall von einigen Jägern entdeckt. Ein ebenſo beſcheidener als einſichts— voller Beobachter, Herr Dupe,? der ſich ſchon lange her mit 1 Dieſe Entfernung iſt größer, als die von Neapel nach Rom, und doch hört man den Veſuv nicht über Gaeta hinaus. Herr Bonpland und ich, wir haben beim Ausbruch des Cotopari im Jahre 1802 das Gebrülle desſelben 534 km weit vom Krater, auf der Südſee, weſtlich von der Inſel de la Puna ganz deutlich gehört. 1744 hörte man dieſen Vulkan in Honda und Mompox, an den Ufern des Magdalenenfluſſes. 2 Kapitän in königlich ſpaniſchen Dienſten. In ſeinem Beſitze befindet ſich die Büſte einer mexikaniſchen Prieſterin von Baſalt, — 236 — merkwürdigen Nachforſchungen über die Architektur und die Idole der Mexikaner beſchäftigt, hat die Pyramide von Pa— pantla bereiſt, und beſonders ſorgfältig den Schnitt der Steine, aus denen ſie erbaut iſt, unterſucht, ſowie auch die Hiero— glyphen abgezeichnet, mit welchen dieſe ungeheuren Maſſen bedeckt ſind. Es wäre zu wünſchen, daß er ſich entſchließen möchte, die Beſchreibung dieſes merkwürdigen Denkmals be— kannt zu machen. Die im Jahre 1785 in der mexikaniſchen Zeitung erſchienene Figur iſt ſehr unvollkommen. Die Pyramide von Papantla iſt nicht, wie die von Cho— lula und Teotihuacan, von Backſteinen oder Thon, mit einer Miſchung von Kieſeln und einer Bekleidung von Mandelſtein, ſondern einzig und allein von ungeheuren Porphyrquadern aufgeführt. In den Fugen ſieht man den Mörtel ganz deutlich. Uebrigens iſt dieſes Gebäude nicht ſowohl wegen ſeiner Größe als wegen ſeiner ganzen Anordnung, der feinen Bearbeitung ſeiner Steine und der äußerſten Regelmäßigkeit ihres Schnittes merkwürdig. Die Baſis desſelben iſt ein ganz genaues Qua: drat, deſſen jede Seite 25 m Länge hat; ſeine perpendikuläre Höhe aber ſcheint kaum 16 bis 20 m zu betragen. Wie alle mexikaniſchen Teocalli, beſteht auch dieſes Monument aus mehreren Abſätzen, von denen man noch ſechs unterſcheiden kann, und der ſiebente durch die Vegetation, welche die Seite bedeckt, verſenkt zu ſein ſcheint. Eine große Treppe von 57 Stufen führt auf die ſtumpfe Spitze dieſes Teocallis, wo die Menſchenopfer vorgenommen wurden, und auf beiden Seiten dieſer großen Treppe befindet ſich eine kleinere. Die Be— kleidung der Abſätze iſt voll Hieroglyphen, unter denen man Schlangen und Krokodile in erhabener Arbeit erkennt. Jeder Abſatz hat überdies eine Menge viereckiger und ganz ſymme— triſch verteilter Niſchen, und zwar der erſte 24, der zweite 20, und der dritte 16. Die ſämtliche Zahl derſelben an der Haupt— maſſe des Gebäudes beträgt 366, und 12 an der Treppe auf der Oſtſeite. Der Abbé Marquez vermutet, daß dieſe 378 Niſchen ſich auf das Kalenderſyſtem der Mexikaner beziehen, und glaubt ſogar, daß in jeder derſelben eine der zwanzig Figuren wiederholt war, die in der Hieroglyphenſprache der Tolteken, zur ſymboliſchen Bezeichnung des Tages, des ge— meinen Jahres und der Schalttage am Ende des Cyklus die ich durch Herrn Maſſard habe ſtechen laſſen, und welche mit der Calanthica der Iſisköpfe große Aehnlichkeit hat. — 237 — dienten. Wirklich beſtand das Jahr bei ihnen aus 18 Mona: ten, jeder von 20 Tagen, welche 360 Tage ausmachten, zu denen man noch nach ägyptiſchem Gebrauche 5 Ergänzungs- tage, Nemontemi genannt, hinzuſetzte. Die Interkalation wurde alle 52 Jahre vorgenommen, da man den Cyklus um 15 Tage vergrößerte, welches denn (360 +5 + 13 =) 378 einfache oder zuſammengeſetzte Zeichen der Tage des bürgerlichen Kalenders gab, den man Compohualilhuitl oder Tonalpohualli nannte, um ihn von dem Comilhuitlapohualliztli oder dem Ritualkalender zu unterſcheiden, deſſen ſich die Prieſter bedienten, um die Wiederkehr der Opfer anzuzeigen. Uebrigens will ich hier die Hypotheſe des Abbé Marquez nicht unterſuchen, ſondern nur bemerken, daß ſie an die aſtro— nomiſchen Erklärungen erinnert, die ein berühmter Hiſtoriker, Herr Gatterer, von der Anzahl der Gemächer und Stufen in dem großen ägyptiſchen Labyrinth gegeben hat. Die ausgezeichnetſten Städte dieſer Provinz ſind: Veracruz, Reſidenz des Intendanten und Mittelpunkt des Handels mit Europa und den Antillen. Dieſe Stadt iſt hübſch und ſehr regelmäßig gebaut und von einſichtsvollen, thätigen und mit Eifer für das Wohl ihres Vaterlandes be— lebten Kaufleuten bewohnt. Sie hat in den letzten Jahren in Rückſicht auf innere Polizei ſehr gewonnen. Die Küſte, auf welcher Veracruz liegt, hieß ehemals Chalchiuheuecan, und die Inſel, auf der man mit ungeheuren Koſten (nach der ge— wöhnlichen Angabe 200 Millionen Franken) das Fort von San Juan de Ulua aufgeführt hat, wurde ſchon von Juan de Grijalva im Jahre 1518 beſucht. Er gab ihr den Namen Ulua, weil er daſelbſt die Ueberbleibſel von zwei unglücklichen Menſchenopfern! fand und auf feine Frage nach dem Grunde ſolch grauſamen Gebrauches die Antwort erhielt, daß es auf Befehl der Könige von Acolhua oder Mexiko geſchehe. Die Spanier hatten keine anderen Dolmetſcher als die Indianer von Yucatan, verſtanden die Antwort daher falſch und glaubten, daß Ulua der Name der Inſel ſei. Solchen Mißverſtändniſſen ver— Dieſe Opfer wurden, wie es ſcheint, auf mehreren von den kleinen Inſeln vorgenommen, die den Hafen von Veracruz umgeben. Eine derſelben, die von den Seefahrern ſehr gefürchtet wird, heißt heutzutage noch die Isla de Sacrificios. — 238 — danken Peru, die Küſte von Paria und viele andere Pro— vinzen ihre gegenwärtigen Benennungen. Die Stadt Vera⸗ cruz heißt zuweilen auch Veracruz Nueva, zur Unterſcheidung von Veracruz Vieja, das bei der Mündung des Rio Antigua liegt und von den meiſten Geſchichtſchreibern als die erſte von Cortez gegründete Kolonie angeſehen wird. Indes hat der Abbe Clavigero die Falſchheit dieſer Behauptung erwieſen. Die Stadt, welche im Jahre 1519 angefangen und Villarica oder La Villarica de Veracruz genannt wurde, lag 22 km von Cempoalla, dem Hauptorte der Totonaken, bei dem kleinen Hafen von Chiahuitzla, den man in Robertſons Werke kaum noch unter dem Namen Quiabislan erkennt. Drei Jahre nachher verödete Villarica ganz und die Spanier legten jüd- wärts eine andere Stadt an, die den Namen Antigua erhalten hat. Auch dieſe zweite Kolonie wurde, wie man im Lande ſelbſt glaubt, wegen der Krankheit des Vomito, welche dazu— mal ſchon über zwei Dritteile der zur Zeit der großen Hitze landenden Europäer hinwegraffte, wieder verlaſſen. Der Vizekönig Graf von Monterey, welcher Mexiko am Ende des 16. Jahrhunderts regierte, ließ den Grund von Nueva Vera— cruz oder der gegenwärtigen Stadt, der Inſel San Juan d'Ulua gegenüber auf der Küſte von Chalchiuheuecan und auf der nämlichen Stelle liegen, wo Cortez den 21. April 1519 gelandet hatte. Dieſe dritte Stadt Veracruz erhielt die Privilegien einer Stadt erſt 1615 unter König Philipp III. Sie liegt in einer dürren Ebene, der es ganz an fließendem Waſſer fehlt und auf welcher die heftigen Nordwinde, die vom Oktober bis in den April wehen, Hügel von Flugſand gebildet haben. Dieſe Dünen (Meganos de arena) verän: dern jedes Jahr Form und Stelle. Sie ſind 8 bis 12 m hoch und vermehren die erſtickende Hitze der Luft in Veracruz nicht wenig durch das Zurückprallen der Sonnenſtrahlen und durch die hohe Temperatur, die ſie während des Sommers ſelbſt gewinnen. Zwiſchen der Stadt und dem Aroyo Gavilan befindet ſich mitten unter den Dünen Sumpfland, das mit allerhand Geſträuche überwachſen iſt. Die ſtehenden Waſſer des Baxio de la Tembladera und die kleinen Lagunen der Hormiga, des Rancho de la Hortaliza und von Arjona er— zeugen Wechſelfieber unter den Eingeborenen und ſpielen wahr: . ſcheinlich auch eine wichtige Rolle unter den traurigen Ur— ſachen des Vomito prieto, die wir in der Folge noch näher unterſuchen werden. Alle Gebäude von Veracruz und vom — 239 — Schloſſe Ulua ſind von Materialien erbaut, die man aus dem Grunde des Ozeans heraufgeholt hat und die die ſteinernen Wohnungen der Madreporen (Piedras de mucana) ſind, in⸗ dem man in der Nähe der Stadt gar keine Steine findet. Der Sand bedeckt die Sekundärbildungen, welche auf dem Porphyr von Encero ruhen und erſt bei Acazonica, einem Meierhofe der Jeſuiten, der einſt wegen ſeiner Brüche von ſchönem blätterigen Gipſe berühmt war, zum Vorſchein kommen. Gräbt man 1 m tief in dem Sandboden von Veracruz, jo findet man ſüßes Waſſer, das aber bloß von der Filtration der Lagunen zwiſchen den Dünen herkommt. Es iſt Regen— waſſer, das mit Wurzeln der Vegetabilien im Kontakte ge— weſen, ſehr ſchlecht iſt und nur zum Waſchen dient. Die niedrige Volksklaſſe muß ſich daher, was für die mediziniſche Topographie von Veracruz von Wichtigkeit iſt, mit dem Waſſer eines Grabens (Zanja), der von den Meganos kommt, behelfen, das etwas beſſer iſt als das aus den Brunnen oder aus dem Bache Tenoya. Die Wohlhabenden hingegen trinken Regen— waſſer, welches in Ziſternen geſammelt wird, deren Bau, mit Ausnahme der ſchönen Ziſternen (Algibes) vom Schloſſe San Juan d'Ulua ſehr fehlerhaft iſt. Das Waſſer der letzteren iſt ſehr klar und geſund, wird aber nur unter das Mili— tär verteilt. Seit Jahrhunderten hat man den Mangel an gutem Trinkwaſſer für eine der vielen Urſachen von den Krankheiten der Bewohner angeſehen. 1704 machte man den Plan, einen Teil des ſchönen Fluſſes Jamapa in den Hafen von Veracruz zu leiten und König Philipp V. ſandte wir: lich einen franzöſiſchen Ingenieur hierher, um den Boden zu unterſuchen. Dieſer aber, wahrſcheinlich des Aufenthaltes in einem ſo heißen und unangenehmen Lande müde, erklärte die Ausführung dieſes Entwurfes für unmöglich. Im Jahre 1756 begann der Streit zwiſchen den Ingenieuren, der Muni— zipalität, dem Gouverneur, dem Aſſeſſor des Vizekönigs und dem Fiskal aufs neue, und man hat bis jetzt, bloß mit Unter⸗ ſuchung der Kunſterfahrenen und mit Gerichtskoſten (denn in den ſpaniſchen Kolonieen wird alles zum Prozeß), die Summe von 2250000 Franken aufgewendet. Ehe man den Boden nivellierte, baute man 1100 m über dem Dorfe Jamapa einen Damm, der ſchon wieder zur Hälfte zerſtört iſt und 172 Millionen Franken gekoſtet hat. Auch läßt ſich die Re⸗ gierung ſeit mehr als zwölf Jahren eine Abgabe von Mehl bezahlen, die über 150 000 Franken jährlich einträgt. Eine — 240 — gemauerte Waſſerleitung (Atarxea), die ein Waſſerprofil von 116 gem faſſen kann, iſt bereits in einer Länge von 900 m fertig; und doch ſind trotz aller Koſten und Haufen von Memoiren und Berichten im Archive die Waſſer des Rio Jamapa noch über 23000 m von der Stadt Veracruz entfernt. Grit 1795 endigte man damit, wo man hätte an: fangen ſollen; man nivellierte den Boden und fand, daß die mittlere Waſſerhöhe des Jamapa 8,88 m über der Fläche der Straßen von Veracruz iſt. Damit ſah man denn freilich ein, daß der große Damm in Medellin angebracht werden mußte und daß man ihn aus Unwiſſenheit nicht nur auf einem zu hohen Punkte, ſondern auch 7500 m weiter von dem Hafen entfernt angelegt hatte, als der Fall des Waſſers not— wendig erforderte. So wie die Sachen jetzt ſtehen, iſt der Bau der Waſſerleitung von dem Rio Jamapa bis Veracruz auf fünf oder ſechs Millionen Franken angeſchlagen worden. In einem an koſtbaren Metallen ſo unendlich reichen Lande ſchreckt freilich die Größe dieſer Summe die Regierung nicht ab; allein man hat den Plan hinausgeſchoben, weil man ſeit kurzem berechnete, daß zehn öffentliche Ziſternen, jede von 670 ebm Inhalt außerhalb der Stadt gebaut, zuſammen nur 700000 Franken koſten und für eine Bevölkerung von 16 000 Menſchen hinreichen würden. „Warum,“ heißt es in dem Berichte des Vizekönigs, „warum ſo in der Ferne ſuchen, was ſo nahe liegt? Warum den ebenſo regelmäßigen als überflüſſigen Regen nicht benutzen, der nach den genauen Unterſuchungen des Oberſten Conſtanzo jährlich mehr Waſſer bringt, als in Frankreich und Deutſchland fällt?“ Die ge— wöhnliche Bevölkerung von Veracruz mit Ausnahme der Miliz und der Seeleute beträgt 16 000. Jalapa (Talapan), eine Stadt am Fuße des Bajalt: gebirges von Macultepee in einer ſehr romantiſchen Lage. Das Kloſter von St. Franziskus gleicht, wie alle von Cortez gegründeten Klöſter, in der Entfernung einer kleinen Feſtung; denn in den erſten Zeiten der Eroberung baute man alle Klöſter und Kirchen ſo, daß ſie im Falle eines Aufſtan— des der Eingeborenen zur Verteidigung dienen konnten. In dieſem Kloſter von St. Franziskus genießt man eine präch— tige Ausſicht auf die koloſſalen Gipfel des Cofre und des Piks von Orizaba, auf den Abhang der Kordillere (gegen den Encero, Otates und Apazapa hin), den Fluß Antigua und ſogar auf den Ozean. Die dichten Wälder von Styrax, 3 u E 5 h F 4 — 241 — Piper, Melaſtomen und Farnkrautbäumen, beſonders die, welche den Weg von Pacho und San Andres durchſchneiden, die Ufer des kleinen Sees de los Berrios und die nach dem Dorfe Huastepec führenden Anhöhen bieten die angenehmſten Spaziergänge dar. Der Himmel von Jalapa, welcher im Sommer ſo ſchön und klar iſt, macht den Menſchen vom De— zember bis in den Februar ganz melancholiſch; denn ſowie in Veracruz der Nordwind weht, umhüllt ein dicker Nebel 5 EF. * die Bewohner von Jalapa. Der Thermometer fällt alsdann auf 12 bis 16“ und es verſtreichen in dieſer Jahreszeit (estacion de los Nortes) oft zwei bis drei Wochen, ehe man die Sonne und die Sterne wieder ſieht. Die reichſten leute von Veracruz haben Landhäuſer in Jalapa, in welchen ſie eine angenehme Kühlung genießen, während die Küſte durch Moskiten, die ſchreckliche Hitze und das gelbe Fieber für ihre Bewohner äußerſt unangenehm wird. Man findet in dieſer kleinen Stadt eine Anſtalt, welche das, was ich oben über die Fortſchritte der intellektuellen Kultur von Mexiko behauptet habe, beſtätigt; nämlich eine vortreffliche Zeichnungsſchule, die erſt ſeit einigen Jahren gegründet wor: den iſt und in der die Kinder der armen Handwerker auf Koſten der Wohlhabenden Unterricht erhalten. Die Höhe von Jalapa über dem Meeresſpiegel beträgt 1320 m und ſeine Bevölkerung wird geſchätzt auf 13 000. Perote (das alte Pinahuizapan), das kleine Fort von San Carlos de Perote liegt nördlich von dem großen Markt⸗ flecken Perote und iſt eher ein Waffenplatz als eine Feſtung. Die Ebenen umher find äußerſt unfruchtbar und mit Bims- ſtein bedeckt; auch fehlt es gänzlich an Bäumen, außer einigen einzelnen Cypreſſen⸗ und Molinaſtämmen. Die Höhe von Perote iſt 2353 m. Cordoba, eine Stadt auf dem öſtlichen Abhange des Piks von Orizaba in einem viel heißeren Klima, als das von Jalapa iſt. Die Umgebungen von Cordoba und Orizaba er— zeugen allen Tabak, der in Neuſpanien verbraucht wird. Orizaba, öſtlich von Cordoba, etwas nordwärts vom Rio Blanco, der ſich in die Laguna d' Alvarado ergießt. Man 5 ſich lange darüber geſtritten, ob die neue Straße von exiko nach Veracruz über Jalapa oder Orizaba gehen ſollte. Weil nun beiden Städten ſehr viel daran liegt, wie ſich dieſer Jetzt 12 400. — D. Herausg.] A. v. Humboldt, Neuſpanien. I. 16 — 242 — Streit endigt, ſo hat ihre Rivalität alle möglichen Mittel er— griffen, um ihre Anſprüche bei den konſtituierten Autoritäten überwiegend zu machen. Da geſchah es denn, daß die Vizekönige bald die eine, bald die andere Partei ergriffen, und daß mwäh- rend dieſer Ungewißheit gar keine Straße angelegt wurde. Seit einigen Jahren endlich iſt aber doch eine ſchöne Heer— ſtraße von dem kleinen Fort Perote bis nach Jalapa und von da nach Encero angelegt worden. Tlacotlalpan, Hauptort der alten Provinz Tabasco. Etwas nördlicher liegen die kleinen Städte Victoria und Villa Hermoſa, deren erſtere eine der älteſten Städte in Neu— ſpanien iſt. Die Intendantſchaft Veracruz hat keine Bergwerke von einiger Bedeutung. Die von Zomelahuacan bei Jalaeingo ſind beinahe ganz verlaſſen worden. 10) Intendantſchaft von San Luis Potoſi. Dieſe Intendantſchaft begreift den ganzen nordöſtlichen Teil des Königreiches Neuſpanien. Da ſie an völlig öde oder wenigſtens nur von unabhängigen und als Nomaden lebenden Indianer bewohnte Länder ſtößt, ſo kann man ſagen, daß ihre nördlicheren Grenzen beinahe gar nicht beſtimmt ſind. Die Gebirgsgegend, der Bolſon de Mapimi genannt, umfaßt über 165 188 qkm und aus ihr kommen die Apachen, die jo oft die Koloniſten von Coahuila und Neubiscaya an: greifen. Zwiſchen dieſe beiden Provinzen eingeſchloſſen und nordwärts von dem großen Rio del Norte begrenzt, wird der Bolſon de Mapimi bald als ein von den Spaniern noch nicht erobertes Land, bald als ein Teil der Intendant— ſchaft Durango angeſehen. Ich habe indes die Grenzen von Coahuila und Texas bei der Mündung des Rio Puerco und gegen die Quellen des Rio San Saba ſo gezogen, wie ich ſie in den Spezialkarten gefunden, welche in den Archiven des Vizekönigs aufbewahrt werden und von den Ingenieuren des Königs von Spanien aufgenommen worden ſind. Wie kann man aber genau die Territorialgrenzen in ungeheuren Steppen beſtimmen, wo jeder Meierhof 100 bis 150 km von dem anderen entfernt iſt und wo man beinahe keine Spur von urbar gemachtem Boden oder von Kultur über— haupt findet? A TV“ Er N == Die Intendantſchaft San Luis Potoſi umfaßt ſehr hetero: gene Beſtandteile, deren verſchiedene Benennungen zu vielen geographiſchen Verſtößen Anlaß gegeben haben. Sie beſteht aus Provinzen, von denen einige zu den Provincias internas, die anderen zu dem eigentlichen Königreich Neuſpanien ge— hören. Unter den erſten ſtehen zwei unmittelbar unter dem Kommandanten der Provincias internas, und die beiden an— deren werden als Provincias internas > Vireynato angeſehen. Die Intendantſchaft von San Luis begreift nahe an 1700 km Küſtenlandes, alſo gerade eine Ausdehnung wie die von Genua nach Reggio in Kalabrien. Allein einige kleine Schiffe r welche von den Antillen kommen und entweder in Tampico oder auf dem Ankergrunde von Neuſantander Fleiſch laden, iſt dieſe ganze Küſte ohne Handel und ohne Leben, und derjenige Teil, welcher ſich von der Mündung des großen Fluſſes del Norte bis gegen den Rio Sabina erſtreckt, beinahe noch ganz unbekannt. Wirklich wurde er nie von Seefahrern unterſucht, und dennoch wäre es ſehr wichtig, auf dieſer nördlichſten Seite des Mexikaniſchen Meer— buſens einen guten Hafen zu entdecken. Unglücklicherweiſe finden ſich überall auf der Oſtküſte von Neuſpanien dieſel— ben Hinderniſſe, nämlich: Mangel an Tiefe für Schiffe, die über 3,8 m Waſſer haben, Bänke an den Mündungen der Flüſſe, Landzungen und lange kleine Inſeln, deren Richtung mit der des feſten Landes parallel iſt, und die den Ein⸗ gang in das innere Baſſin verſperren. Die Küſte der Pro⸗ vinzen Santander und Texas iſt, vom 21. bis 29. Grad der Breite ganz beſonders ausgeſchweift, und enthält eine Reihe von inneren Baſſins die 30 bis 37 km breit und 300 bis 370 km lang ſind. Man nennt ſie Lagunas oder Salzſeen, und einige unter ihnen (wie z. B. die Laguna de Tamiagua) ſind wahre Straßen ohne Ausgang (Impasses). Andere hin⸗ gegen, wie die Laguna Madre und die von San Bernardo, hängen durch mehrere Kanäle mit dem Ozean zuſammen, und begünſtigen die Uferſchiffahrt ſehr; indem die Küſtenfahrer in denſelben vor den großen Meereswogen ſicher ſind. Es wäre für die Geologie merkwürdig, wenn auf Ort und Stelle unterſucht würde, ob dieſe Lagunen durch heftige Strömungen, die ſehr tief in das Land eingedrungen, gebildet wurden, oder ob dieſe langen, eng an der Küſte hin gereihten kleinen In⸗ ſeln bloß Sandbänke ſind, die ſich nach und nach über den gewöhnlichen Höheſtand des Meeres erhoben haben. — 244 — In der ganzen Intendantſchaft San Luis Potoſi iſt bloß der an die Provinz Zacatecas ſtoßende Teil, in welchem die reichen Bergwerke von Charcas, Guadalcazar und Catorce liegen, ein kaltes gebirgiges Land. Das Bistum Monterey hingegen, das den hochtönenden Titel Neues Königreich Leon führt, Coahuila, Santander und Texas ſind ſehr niedrige Gegenden, mit weniger Abwechſelung, in welchen der Boden mit Sekundärbildungen und Anſchwemmungen bedeckt iſt. Sie genießen ein ſehr ungleiches Klima, im Sommer eine außer: ordentliche Hitze, und im Winter, wenn die Nordwinde ganze Maſſen kalter Luft von Kanada gegen die heiße Zone herunter— treiben, eine beißende Kälte. Seit Abtretung Louiſianas an die Vereinigten Staaten ſind die Grenzen der Provinz Texas und die Grafſchaft Natchitoches, die einen integrierenden Teil des amerikaniſchen Staatenbundes ausmacht, Gegenſtand eines ebenſo lange dau— ernden als unfruchtbaren Streites geworden. Mehrere Glie— der des Kongreſſes von Waſhington waren der Meinung, daß man das Territorium von Louiſiana bis an das linke Ufer des Rio Bravo del Norte ausdehnen könne. Ihnen zu— folge „gehörte alles Land, das die Mexikaner die Provinz Texas nennen, ehemals zu Louiſiana: nun ſollen die Ver: einigten Staaten letztere Provinz mit allen Rechten beſitzen, mit denen ſie Frankreich vor Abtretung an Spanien beſeſſen hat; alſo können weder die von den Vizekönigen von Mexiko eingeführten neuen Benennungen, noch die Bewegungen der Bevölkerung von Texas nach Oſten den rechtmäßigen An: ſprüchen des Kongreſſes das geringſte benehmen.“ Während dieſes Streits hatte die amerikaniſche Regierung oft die Nieder: laſſung angeführt, welche ein Franzoſe, Herr von Laſale, ums Jahr 1685, ohne, wie es ſcheint, den Rechten der ſpaniſchen Krone Eintrag zu thun, an der Bai von St. Bernhard ge— macht hatte. a Unterſucht man meine Generalkarte von Mexiko und deſſen Grenzländern gegen Oſten, ſo ſieht man, wie weit es noch von der St. Bernhardsbai bis zur Mündung des Rio del Norte iſt. Auch führen die Mexikaner mit gutem Grunde zu ihren Gunſten an, daß die ſpaniſche Bevölkerung von Texas ſehr alt iſt, daß ſie in den erſten Zeiten der Erobe— rung ſich über Linares, Revilla und Camargo, aus dem ns neren von Neuſpanien verbreitet, und daß Herr von Laſale, als er weſtlich vom Miſſiſſippi landete, deſſen Mündung er — 245 — verfehlte, unter den Wilden, die er bekämpfte, bereits Spanier gefunden hat. Gegenwärtig betrachtet daher der Intendant von San Luis Potoſi den Rio Mermentas oder Mexicano der ſich öſtlich von dem Rio de la Sabina in den Golf von Mexiko ergießt, als die Oſtgrenze der Provinz Texas und ſomit ſeiner ganzen Intendantſchaft. Uebrigens iſt es nicht unnütz, hier zu bemerken, daß dieſer Streit über die wahren Grenzen von Neuſpanien erſt dann wichtig werden wird, wenn die Koloniſten von Louiſiana das Land bis unmittelbar an die von mexikaniſchen Kolo— niſten bewohnten Gegenden angebaut haben werden, und z. B. ein Dorf der Provinz Texas nahe an einem in der Grafſchaft Opheluſſas ſtehen wird. Gegenwärtig iſt indes das Fort Clayborne, das bei der alten ſpaniſchen Miſſion der Adayes (Adaes oder Adaiſſes) an dem Roten Fluſſe liegt, diejenige Niederlaſſung in Louiſiana, die den Militärpoſten (Presidios) der Provinz Texas am nächſten ſteht; und doch ſind es immer noch 500 km von dem Preſidio de Nacog- doch bis nach dem Fort Clayborne. Große Steppen, die mit Gras bedeckt ſind, bilden die gemeinſchaftlichen Grenzen des Gebietes der amerikaniſchen Freiſtaaten und des mexikaniſchen Reiches. Alles Land, was weſtlich vom Miſſiſſippi liegt, vom Ochſenfluſſe an bis zum Rio Colorado von Texas, iſt unbe— wohnt. Auch finden ſich in dieſen Steppen, die zum Teil Sumpfboden enthalten, Hinderniſſe, die ſchwer zu überwinden ſind. Man kann ſie als einen Seearm anſehen, der zwei Nachbarküſten ſcheidet, aber doch der Induſtrie neuer Kolo— niſten nicht widerſtehen kann. In den Vereinigten Staaten hat ſich die Bevölkerung der atlantiſchen Provinzen zuerſt gegen den Ohio und den Tenneſſee, und dann gegen Loui⸗ ſiana gewandt. Ein Teil dieſer beweglichen Bevölkerung wird ſich noch weiter gegen Weſten ziehen. Bloß beim Na— men des mexikaniſchen Gebietes wird man an die Nähe von Bergwerken denken, und die amerikaniſchen Koloniſten am Ufer des Rio Mermentas glauben gewiß, bereits an einen Boden zu ſtoßen, der metalliſche Reichtümer enthält. Dieſer unter dem niedrigen Volke verbreitete Irrtum wird neue Auswanderungen veranlaſſen, und man wird erſt ſehr ſpät erfahren, daß die berühmten Bergwerke von Catorce, die Louiſiana am nächſten liegen, doch noch 2200 km von ihr entfernt ſind. Mehrere meiner mexikaniſchen Freunde haben den Land— — 246 — weg von Neuorleans nach der Hauptſtadt Neuſpaniens ge— macht. Dieſe Straße, die von den Bewohnern von Louiſiana, welche nach den Provincias internas kommen, um Pferde zu kaufen, gebahnt wurde, beträgt über 4000 km, und hat demnach eine gleiche Länge mit dem Wege von Madrid nach Warſchau. Sie ſoll wegen Mangels an Waſſer und an Wohnungen ſehr beſchwerlich ſein; doch kann ſie unmöglich ſo viele Schwierigkeiten enthalten, als die über den Rücken der Kordilleren von Santa Fe in Neugranada bis nach Quito oder von Quito nach Cuzco gezogenen Pfade. Auf dieſem Wege iſt auch ein mutiger Reiſender, Herr Pages, franzö— ſiſcher Linienſchiffskapitän, im Jahre 1767 von Louiſiana nach Acapulco gereiſt. Seine Nachrichten über die Intendantſchaft San Luis Potoſi und die Straße von Queretaro nach Aca— pulco, die ich 30 Jahre nach ihm gemacht habe, verraten einen richtigen Blick und große Wahrheitsliebe; allein er iſt unglücklicherweiſe in der Orthographie der mexikaniſchen und ſpaniſchen Namen ſo wenig genau, daß man in ſeinen Be— ſchreibungen nur mit Mühe die Orte wieder erkennt, durch die er gekommen iſt.! Der Weg von Louiſiana nach Mexiko hat bis zu dem Rio del Norte wenig Schwierigkeiten, und erſt von Saltillo aus fängt man an, gegen des Plateau von Anahuac emporzuſteigen. Der Abhang der Kordillere iſt hier gar nicht ſteil, und es unterliegt, nach den Fortſchritten der Civiliſation auf dem neuen Kontinent zu urteilen, gar keinem Zweifel, daß die Landkommunikation zwiſchen den Vereinigten Staaten und Neuſpanien nach und nach ſehr häufig werden und daß mit der Zeit öffentliche Wagen von Philadelphia und Waſhington bis nach Mexiko und Acapulco fahren werden. Die drei Grafſchaften des Staates von Louiſiana, oder Neuorleans, die dem öden Lande, welches man als die öſtliche Grenze der Provinz Texas anſieht, am nächſten liegen, ſind, von Suͤden nach Norden gezählt, die Grafſchaften Atta— cappas, der Opheluſſas und Natchitoches. Die letzten Nieder: laſſungen von Louiſiana ſtehen auf einem Meridian, 185 km öſtlich von der Mündung des Rio Mermentas, der nördlichſte Ort aber iſt das Fort Clayborne de Natchitoches, 52 km Herr Pages nennt Loredo: La Rheda; das Fort de la Bahia del Eſpirito Santo: Labadia; Orquoquiſſas: Acoquiſſa; Saltillo: Saltille; Coahuila: Cuwilla. — 247 — oſtwärts von der alten Stelle der Miſſion der Adayes. Nord— weſtlich von Clayborne liegt der Spaniſche See, aus deſſen Mitte ſich ein großer, mit Stalaktiten bedeckter Felſen erhebt. Geht man von dieſem See aus nach Süd-Süd-Oſt, jo findet man an dem Ende dieſes ſchönen von Koloniſten franzöſiſchen Urſprunges angebauten Landes zuerſt das kleine Dorf San Landry, 22 km nördlich von den Quellen des Rio Mermentas; dann die Wohnung von San Martin und endlich Neu— iberien, an dem Fluſſe Teche, bei dem Kanal Boutet, der in den See Taſe führt. Da jenſeits vom öſtlichen Ufer des Rio Sabina keine mexikaniſche Niederlaſſung mehr iſt, ſo folgt daraus, daß das unbewohnte Land, welches die Dörfer Louiſianas von den Miſſionen von Texas ſcheidet, über 82600 qkm beträgt. Der ſüdlichſte Teil dieſes Wieſen— landes, zwiſchen den Baien Garcuſiu und Sabina, beſteht aus unwegbaren Sümpfen, und die Straße von Louiſiana nach Mexiko geht daher auch nördlicher, parallel mit dem 32. Grade. Von Natchez wenden ſich die Reiſenden nördlich von dem See Cataouillou gegen das Fort Clayborne hin, und kommen ſodann über die alte Stelle der Adayes von Chichi am Brunnen der Pater Gama vorbei. Ein geſchickter Ingenieur, Herr Lafond, deſſen Karte vieles Licht über dieſe Gegenden verbreitet, bemerkt, daß ſich 60 km nordwärts von dem Poſten Chichi Hügel erheben, die reich an Stein— kohlen ſind, und in der Entfernung ein unterirdiſches Getöſe gleich Kanonenſchüſſen hören laſſen. Sollte dieſes merkwür— dige Phänomen vielleicht eine Abſetzung von Hydrogen an— deuten, die durch den Brand einer Lage von Steinkohlen verurſacht wird? Von den Adayes an geht die Straße von Mexiko über San Antonio de Bejar, Loredo (am Ufer des Rio grande del Norte), Saltillo, Charcas, San Luis Potoſi und Queretaro nach der Hauptſtadt von Neuſpanien, und man braucht drittehalb Monate, um dieſes ungeheure Land zu durchreiſen, in welchem man von dem linken Ufer des Rio Grande del Norte an bis zu den Natchitoches beinahe immer unter freiem Himmel Quartier nehmen muß. Die vorzüglichſten Orte der Intendantſchaft von San Luis ſind folgende: San Luis Potoſi, Reſidenz des Intendanten, und an dem öſtlichen Abhange des Plateaus von Anahuac, weſt— wärts von den Quellen des Rio de Panuco gelegen. — 248 — Nuevo Santander, Hauptſtadt der Provinz dieſes Namens. Die Bank von Santander hindert Schiffe, die über 8 bis 10 Palmen Waſſer haben, am Einlaufen. Das Dorf Soto la Marina, öſtlich von Santander, könnte für den Handel dieſer Küſte ſehr wichtig werden, wenn man ſeinen Hafen ausreinigen würde. Heutzutage iſt die Provinz Santander indes ſo öde, daß man 1802 ſehr fruchtbare Striche von 550 bis 660 qkm um 2 bis 3 Franken ver⸗ kauft hat. Charcas oder Santa Maria de las Charcas, ein ſehr anſehnlicher Flecken, in welchem eine Deputation de Minas ihren Sitz hat. Catorce oder La puriſima Concepcion de Alamos de Catorce, eines der reichſten Bergwerke von Neuſpanien. Das Real de Catorce beſteht indes erſt ſeit 1773, wo Don Sebaſtian Coronado und Don Bernabe Antonio Zepeda dieſe berühmten Gänge entdeckten, welche jedes Jahr über 18 bis 20 Millionen abwerfen. Monterey, Sitz eines Biſchofs in dem kleinen König: reich Leon. Linares, in demſelben Königreich, zwiſchen dem Rio Tigre und dem großen Rio Bravo del Norte. Monclova, ein Militärpoſten (Presidio), Hauptſtadt der Provinz Coahuila, Reſidenz eines Gouverneurs. San Antonio de Bejar, Hauptſtadt der Provinz Texas, zwiſchen dem Rio de los Nogales und dem Rio San Antonio. 11) Intendantſchaft Durango. Dieſe Intendantſchaft, welche unter dem Namen Neu: biscaya bekannter iſt, gehört, wie Sonora und Nuevo Mexico, zu den Provincias internas oceidentales. Sie umfaßt einen Landſtrich, der viel anſehnlicher iſt, als die drei britiſchen Königreiche zuſammen, und doch überſteigt ihre Bevölkerung kaum die der beiden Städte Birmingham und Mancheſter miteinander. Ihre Länge von Süden nach Norden, von den berühmten Bergwerken von Guariſamey bis zu den Gebirgen von Carcay, nordweſtlich von Preſidio de Panos, beträgt 1720 km. Ihre Breite aber iſt ſehr ungleich, und bei Parral kaum 430 km. — 249 — Die Provinz Durango, oder Nueva Biscaya, grenzt gegen Süden an Nueva Galicia, nämlich an die beiden In— tendantſchaften Zacatecas und Guadalajara, gegen Südoſten an einen kleinen Teil der Intendantſchaft San Luis Potoſi, und gegen Weſten an die von Sonora. Gegen Norden und beſonders gegen Oſten ſtößt ſie auf einer Linie von mehr als 1480 km an ein unangebautes, von unabhängigen und ſehr kriegeriſchen Indianern bewohntes Land. Die Acoclames, die Cocoyames und die Apaches Mescaleros und Farao— nes bewohnen den Bolſon de Mapimi, die Gebirge von Chanate und die der los Organos, auf dem linken Ufer des Rio grande del Norte. Die Apaches Mimbrenos hingegen halten ſich mehr weſtwärts in den wilden Schluchten der Sierra de Acha. Die Comanchen und die zahlreichen Stämme der Chichimeken, welche die Spanier unter dem unbeſtimmten Namen der Mecos begreifen, berunruhigen die Bewohner von Neubiscaya, und ſetzen ſie in die Notwendigkeit, nicht anders als bewaffnet und in Karawanen zu reifen. Die Militär: poſten (Presidios), mit denen man die weiten Grenzen der Provincias internas verſehen hat, ſind zu weit voneinander entfernt, um die Einfälle dieſer Wilden zu hindern, die, den Beduinen der Wüſte gleich, jede Liſt des kleinen Krieges kennen. Die Comanchen, die tödlichſten Feinde der Apaches, von denen mehrere Horden mit den ſpaniſchen Koloniſten im Frieden leben, ſind für die Bewohner von Neubiscaya und Neumexiko am allerfurchtbarſten. Wie die Patagonier der Magelhaensſchen Meerenge, haben ſie die Kunſt gelernt, die Pferde zu bändigen, welche ſeit der Ankunft der Europäer in dieſen Gegenden wild geworden ſind, und unterrichtete Reiſende verſichern, daß die Araber ſelbſt keine gewandteren und flüchtigeren Reiter ſind als die Comanchen. Seit Jahr— hunderten durchziehen ſie daher auch Ebenen, welche, von Ge— birgen durchſchnitten, ihnen Gelegenbeit geben, ſich in Hinter— halt zu ſtellen, um die Reiſenden zu überfallen. Wie beinahe alle, Wilden, die in Steppen umherirren, kennen ſie ihr ur— ſprüngliches Vaterland nicht. Sie haben Zelte von Büffel— fellen, die ſie nicht auf ihre Pferde, ſondern auf große Hunde laden, welche die Horde begleiten. Dieſer Umſtand, der ſchon in dem handſchriftlichen Tagebuche der Reiſe des Biſchofs Tamaron angeführt wird, iſt ſehr bemerkenswert und erinnert 1 Diario de la visita diocesana del ilustrisimo Senor Be an ähnliche Sitten unter mehreren Völkern des nördlichen Aſiens. Die Comanchen machen ſich den Spaniern um ſo furchtbarer, da ſie alle erwachſenen Gefangenen töten und nur die Kinder leben laſſen, welche ſie mit Sorgfalt zu ihren Sklaven aufziehen. Die Anzahl der kriegeriſchen und wilden Indianer (In— dios bravos), welche die Grenzen von Neubiscaya beunruhigen, hat ſich ſeit dem Ende des letzten Jahrhunderts ein wenig vermindert. Sie ſuchen nicht mehr ſo oft wie ehemals in das Innere des bewohnten Landes einzudringen, um ſpaniſche Dörfer zu plündern und zu zerſtören. Indes iſt ihre Erbit— terung gegen die Weißen noch immer gleich ſtark und die Wirkung eines Ausrottungskrieges, den eine barbariſche Politik angefangen und mit mehr Mut als Erfolg fortgeſetzt hat. Indianer haben ſich gegen Norden in dem Moqui und in den Gebirgen von Navajoa zuſammengezogen, wo ſie den Bewohnern von Neumexiko einen ſehr anſehnlichen Landſtrich wieder abnahmen. Dieſer Stand der Dinge hat ſehr traurige Folgen gehabt, welche man noch Jahrhunderte lang empfin— den wird und die einer Unterſuchung wohl wert ſind. Dieſe Kriege haben die Hoffnnng, dieſe wilden Horden auf gelinden Wegen zum geſelligen Leben zu führen, wenn auch nicht ganz. zerſtört, doch wenigſtens weit hinausgeſchoben und Rachſucht und alter Haß eine beinahe unüberſteigliche Scheidewand zwiſchen den Indianern und den Weißen befeſtigt. Viele Stämme der Apaches, der Moqui und Yuta, die man unter dem Namen der friedlichen Indianer (Indios de paz) begreift, ſind auf dem Boden feſt, vereinigen ihre Hütten und bauen Mais. Vielleicht würden ſie ſich leichter mit den ſpaniſchen Koloniſten einlaſſen, wenn mexikaniſche Indianer unter dieſen wären. Die Aehnlichkeit von Sitten und Ge— wohnheiten, die Analogie, nicht in den Tönen, aber in dem Mechanismus und dem allgemeinen Bau der amerikaniſchen Sprachen können unter Völkern von gleichem Urſprunge ſehr mächtige Verbindungsmittel werden, und einer weiſen Geſetz— gebung gelänge es vielleicht, das Andenken an die Zeiten der Barbaren zu verlöſchen, da ein Korporal oder Sergeant in den Provincias internas mit ſeinen Leuten auf die Indianer wie bei einem Treibjagen von rotem Wildbret Jagd machte. Tamaron, Obispo de Durango, hecha en 1759 y 1760 (hand: ſchriftlich). * Wahrſcheinlich würde ein Kupferfarbiger ſich lieber entſchließen, in einem von Menſchen ſeiner Raſſe bewohnten Dorfe ſich niederzulaſſen, als ſich mit den Weißen, die ihn mit Stolz meiſtern, zu vereinigen. Allein wir haben geſehen, daß es unglücklicherweiſe in Neubiscaya und in Neumexiko beinahe gar keine Einwohner von aztekiſcher Abſtammung gibt. In der erſten von dieſen Provinzen iſt nicht ein einziges tribu— täres Individuum; indem alle Einwohner Weiße ſind oder ſich doch dafür anſehen. Alle glauben das Recht zu haben, den Titel Don vor ihren Taufnamen zu ſetzen und wenn ſie auch nichts weiter ſind als das, was man auf den fran— zöſiſchen Inſeln durch eine Erkünſtelung der Ariſtokratie, die die Sprachen bereichert, petits blanes oder messieurs pas— sables genannt hat. Dieſer Kampf gegen die Eingeborenen, der Jahrhunderte fortgedauert hat; die Notwendigkeit, in welcher ſich der Kolo— niſt, der auf einem einzeln ſtehenden Pachthofe lebt oder durch dürre Wüſten reiſt, befindet, unaufhörlich für ſeine eigene Sicherheit zu wachen, ſeine Herde, ſein Haus, ſein Weib und ſogar ſeine Kinder gegen die Einfälle wilder Nomaden zu verteidigen; kurz, dieſer Naturzuſtand, der ſich bei allem Anſcheine alter Civiliſation erhalten hat, gibt dem Charakter der Bewohner des nördlichen Neuſpaniens eine beſondere Energie und eine eigene Kraft. Hierzu wirken gewiß auch noch die Natur des Klimas, das gemäßigt iſt, die äußerſt geſunde Luft, die Notwendigkeit der Arbeit auf einem nicht beſonders reichen und fruchtbaren Boden und der gänzliche Mangel an Indianern und Sklaven, die die Weißen ge— brauchen könnten, um ſich dem Müßiggange und der Faulheit ohne Gefahr zu überlaſſen. Die Entwickelung der menſchlichen Kräfte wird in den Provincias internas durch ein ſehr thä— tiges Leben, meiſt zu Pferde, und durch die ganz beſondere Sorgfalt begünſtigt, welche die reichen Hornviehherden, die halb wild auf den Weiden umherirren, erfordern. Zu ſolcher Kraft eines geſunden ſtarken Körpers geſellt ſich große Seelen— ſtärke und glückliche Anlage für Verſtandesausbildung, und die Aufſeher der Erziehungsanſtalten in Mexiko haben längſt ſchon die Bemerkung gemacht, daß die meiſten jungen Leute, die ſich durch ſchnelle Fortſchritte in den Wiſſenſchaften aus— gezeichnet haben, aus den nördlichſten Provinzen von Neu— ſpanien gebürtig waren. Die Intendantſchaft Durango umfaßt die nördlichſte — 252 — Spitze des großen Plateaus von Anahuac, die ſich nordoſt— wärts gegen die Ufer des Rio Grande del Norte herabſenkt. Doch hat die Umgegend von Durango nach den barometriſchen Meſſungen des Don Juan Joſe de Oteyza immer noch über 2000 m Höhe über dem Meeresſpiegel. Der Boden ſcheint dieſe große Höhe ſelbſt noch gegen Chihuahua hin zu haben; denn die Centralkette der Sierra Madre nimmt (wie wir in dem all— gemeinen Gemälde dieſes Landes angezeigt haben) bei San Joſe del Parral die Richtung gegen Nord-Nordweſten, der Sierra Verde und der Sierra de las Grullas zu. 8 Man zählt in Neubiscaya eine Stadt oder Ciudad (Du⸗ rango), ſechs Villas (Chihuahua, San Juan del Rio, Nombre de Dios, Papasquiaro, Saltillo und Mapimi), 199 Dörfer oder Pueblos, 75 Kirchſpiele oder Paroquias, 152 Pachthöfe, Haciendas, 37 Miſſionen und 400 Hütten oder Ranchos. Die hauptſächlichſten Ortſchaften ſind: Durango oder Guadiana, Reſidenz eines Intendanten und eines Biſchofes im ſüdlichſten Teile von Neubiscaya, 1260 km in gerader Linie gerechnet von der Stadt Mexiko, 2210 km von Santa Fe gelegen und 2087 m über dem Meeresſpiegel erhaben. Sehr oft fällt in Durango Schnee, und der Thermometer ſinkt hier (unter 24° 25° der Breite) bis auf 8“ unter dem Gefrierpunkte. Zwiſchen der Haupt— ſtadt, den Wohnungen del Ojo und del Chorro und der kleinen Stadt Nombre de Dios erhebt ſich mitten auf einem ſehr ebenen Plateau die ſogenannte Brena, eine Gruppe von Felſen, die mit Bimsſtein bedeckt ſind. Dieſe grotesk geſtaltete Gruppe hat von Norden nach Süden 90 km Länge und von Oſten nach Weſten 45 km Breite und verdient die be— ſondere Aufmerkſamkeit der Mineralogen. Die Felſen, aus denen ſie beſteht, ſind von Baſaltmandelſtein und ſcheinen von vulkaniſchem Feuer herausgetrieben worden zu ſein. Herr Oteyza hat die benachbarten Gebirge, beſonders das vom Frayle bei der Hacienda del Ojo, unterſucht und auf ſeiner Spitze einen Krater von beinahe 100 m Umfang und über 30 m perpendifulärer Tiefe gefunden. Auch befindet ſich in der Nähe von Durango jene ungeheure Maſſe von fletſch— barem Eiſen und Nickel iſoliert in der Ebene liegend, deren Zuſammenſetzung mit dem Aerolithen identiſch iſt, welcher 1751 zu Hraſchina bei Agram in Ungarn vom Himmel fiel. . Der gelehrte Direktor vom Tribunal de Mineria de Mexico, Don Fauſto d'Elhuyar, hat mir Stücke davon mitgeteilt, die ich an verſchiedene Kabinette von Europa abgegeben und deren Analyſe die Herren Vauquelin und Klapproth bekannt gemacht haben. Man verſichert, daß dieſe Maſſe von Durango bei 1900 Myriagramm, alſo 400mal größeres Gewicht hat als der Aerolith, welchen Herr Rubin de Celis zu Olumpa in dem Tucuman entdeckt hat. Ein ſehr ausgezeichneter Mine— raloge, Herr Friedrich Sonnenſchmidt,! der einen viel größeren Teil von Mexiko bereiſt hat als ich, hat 1792 auch im In— neren der Stadt Zacatecas eine Maſſe fletſchbaren Eiſens von 97 Myriagramm Gewicht gefunden. Die äußeren und phyſiſchen Charaktere derſelben waren dem fletſchbaren Eiſen völlig analog, welches von dem berühmten Pallas beſchrieben worden iſt. Die Bevölkerung von Durango beträgt 12 000. Chihuahua, Reſidenz des Generalkapitäns der Pro— vineias internas, öſtlich von dem großen Real de Santa Roſa de Coſiquiriachi gelegen und von beträchtlichen Berg— werken umgeben. San Juan del Rio, ſüdweſtlich vom See von Parras. Man muß dieſe Stadt nicht mit einem Orte ähnlichen Na: mens verwechſeln, der in der Intendantſchaft Mexiko öſtlich von Queretaro liegt. Nombre de Dios eine beträchtliche Stadt auf dem Wege zu den berühmten Bergwerken von Sombrerete in Durango. Papasquiaro eine kleine Stadt auf der Südſeite des Rio de Nazas. Saltillo, auf den Grenzen der Provinz Coahuila und des kleinen Königreiches Leon. Dieſe Stadt iſt mit dürren Ebenen umgeben, in welchen die Reiſenden durch den Mangel an Quellwaſſer ſehr leiden. Das Plateau, auf welchem Sal- tillo liegt, ſenkt ſich gegen Monclova, den Rio del Norte und die Provinz Texas zu, wo man ſtatt des europäiſchen Getreides die Felder bloß mit Kaktus bedeckt findet. Mapimi, mit einem Militärpoſten (Presidio), öſtlich von dem Cerro de la Cadena auf dem Lande des unan— gebauten Landſtriches, der der Bolſon de Mapimi heißt. Parras, bei dem See dieſes Namens, weſtlich von Sal— tillo. Eine Art von Reben, die die Spanier in dieſer ſchönen Gegend wild wachſend gefunden, hat dieſer Stadt den Namen 1 Gazeta de Mexico, T. V, S. 59. — 254 — Parras zugezogen. Die Eroberer verpflanzten hierher die aſiatiſche Vitis vinifera, und dieſer neue Induſtriezweig hat trotz dem Haſſe, den die Monopoliſten von Cadiz ſeit Jahr— hunderten der Kultur des Oelbaumes, der Reben und des Maulbeerbaumes in den Provinzen des ſpaniſchen Amerikas geſchworen, ſehr gut eingeſchlagen. San Pedro de Batopilas, ehemals wegen des Reichtums ſeiner Bergwerke ſehr berühmt und weſtwärts von dem Rio de Conchos gelegen. San Joſe de Parral, Reſidenz einer Deputacion de minas. Der Name dieſes Real kommt, wie der der Stadt Parras von der Menge wilder Reben her, welche das Land bei der Ankunft der Spanier bedeckten. Santa Roſa de Coſiquiriachi, am Fuße der Sierra de los Metates, mit Silberbergwerken umgeben. Ich habe ein noch ſehr neues Memoire der Intendanten von Durango geſehen, in welchem die Bevölkerung von dieſem Real ange— geben war auf 10 700. Guariſamey, ſehr alte Bergwerke auf dem Wege von Durango nach Copala. 12) Intendantſchaft Sonora. Dieſe Intendantſchaft, welche noch entvölkerter iſt als die von Durango, erſtreckt ſich längs dem Golfe von Kali: fornien, der auch Cortez' Meer heißt. Ihre Küſtenlänge be— trägt von der großen Bai von Bayona oder dem Rio del Roſario an bis zur Mündung des Rio Colorado, ſonſt Rio de Balzas genannt, an deſſen Ufer die Miſſionäre Pedro Nadal und Marcos de Niza im 16. Jahrhundert aſtrono— miſche Beobachtungen angeſtellt haben, über 2000 km. Ihre Breite iſt ſehr abwechſelnd; denn von dem Wendezirkel des Krebſes an bis zum 28. Grad der Breite geht ſie kaum über 370 km, nimmt aber mehr nordwärts gegen den Rio Gila dermaßen zu, daß ſie auf dem Parallelkreiſe von Ariſpe über 950 km ausmacht. Die Intendantſchaft Sonora bedeckt einen gebirgigen Landſtrich, der mehr Flächenraum hat als halb Frankreich; ihre abſolute Bevölkerung erreicht aber kaum den vierten Teil von der der bevölkertſten Departements dieſes Reiches. Der Intendant hat ſeinen Sitz in der Stadt Ariſpe und iſt wie 255 — der von San Luis Potoſi mit der Adminiſtration mehrerer anderer Provinzen beauftragt, welche die beſonderen Namen, die ſie vor der Vereinigung hatten, beibehalten haben. Die Intendantſchaft Sonora umfaßt ſomit die drei Provinzen Cinaloa oder Sinaloa, Oſtimury und das eigentliche Sonora. Die erſtere erſtreckt ſich von dem Rio del Roſario bis zum Rio del Fuerte; die zweite von letzterem Fluſſe bis zum Mayo— ſtrom. Die Provinz Sonora aber, die die alten Karten auch unter dem Namen Neunavarra haben, nimmt das ganze nörd— liche Ende der Intendantſchaft ein. Der kleine Diſtrikt Oſti— mury wird heutzutage als in der Provinz Sinaloa einge— ſchloſſen angeſehen. Die Intendantſchaft Sonora ſtößt gegen Weſten an das Meer, gegen Süden an die Intendantſchaft Guadalajara und gegen Oſten an einen ſehr wenig angebauten Teil von Neubiscaya. Ihre Grenzen gegen Norden ſind noch ſehr unbeſtimmt. Die Dörfer der Pimeria alta ſind von den Bächen des Rio Gila durch eine Gegend geſchieden, welche von unabhängigen Indianern bewohnt wird, die zu erobern! bis jetzt weder den in den Preſidios ſtehenden Soldaten noch den Mönchen der benachbarten Miſſionen gelungen iſt. Die drei beträchtlichſten Flüſſe von Sonora ſind der Culia— can, der Mayo und der Yaqui oder Sonora. Bei der Mün— dung des Rio Mayo im Hafen von Guitivis, auch Santa Cruz de Mayo genannt, ſchifft ſich der Kurier, welcher die Depeſchen der Regierung und den Briefwechſel des Publi— kums überbringt, nach Kalifornien ein. Dieſer Kurier geht zu Pferde von Guatemala nach Mexiko und von da über Guadalajara und den Roſario nach Guitivis. Von hier durch— ſchneidet er in einer Lancha das Meer von Cortez und landet im Dorfe Loreto in Altkalifornien. Von dieſem Dorfe aus werden die Briefe von Miſſion zu Miſſion nach Monterey und nach dem Hafen San Francisco geſchickt, der in Neu: kalifornien unter 37 48“ der nördlichen Breite liegt. Sie durchlaufen auf dieſer Poſtſtraße über 6800 km Weges, alſo eine Entfernung, wie die von Liſſabon nach Cherſon iſt. Der Lauf des Fluſſes Paqui oder Sonora iſt ſehr lang. Er ent— Auf die Konquifta gehen, erobern (conquistar) find techniſche Ausdrücke, womit die Miſſionäre in Amerika ſagen wollen, daß ſie Kreuze aufgerichtet, um welche her die Indianer einige Hütten ge— baut haben. Zum Unglück für die Eingeborenen ſind aber erobern und civiliſieren nicht ſynonym. ſpringt auf dem weſtlichen Abhange der Sierra Madre, deren ziemlich niedriger Kamm zwiſchen Ariſpe und dem Preſidio de Fronteras durchläuft. Bei ſeiner Mündung liegt das kleine Fort Guaymas. Der nördliche Teil der Intendantſchaft Sonora heißt wegen eines zahlreichen Stammes von Pimasindianern, die ihn bewohnen, die Pimeria. Die meiſten von dieſen Indianern leben unter der Herrſchaft von Miſſionären und folgen den katholiſchen Religionsgebräuchen. Man unterſcheidet die Pimeria alta von der Pimeria baja. Letztere enthält das Preſidio de Buenaviſta; erſtere erſtreckt ſich von dem Militärpoſten (Presidio) von Ternate bis gegen den Rio Gila hin. Dieſes Gebirgsland der Pimeria alta iſt der Choco von Nordamerika. Alle Schluchten und ſelbſt die Ebenen enthalten Goldſand in dem angeſchwemmten Boden und man hat hier pepites reinen Goldes von 2 bis 3 kg Gewicht gefunden. Aber dieſe La— vaderos werden wegen der häufigen Einfälle der unabhängigen Indianer und beſonders wegen der Teuerung der Lebens— mittel, welche ſehr weit hergeſchafft werden müſſen, wenig benutzt. Weiter nördlich, auf dem rechten Ufer des Rio de la Ascenſion, leben ſehr kriegeriſche Indianer, die Seris, denen mehrere mexikaniſche Gelehrte wegen der Aehnlichkeit ihres Namens mit den Seri, welche die alten Geographen an den Fuß der Gebirge von Ottorocorras, oſtwärts von Seythia extra Imaum ſetzen, einen aſiatiſchen Urſprung beimeſſen. Bis jetzt beſteht keine ununterbrochen fortdauernde Kom— munikation zwiſchen Sonora, Neumexiko und Neukalifornien, unerachtet der Madrider Hof die Anlegung von Preſidios und Miſſionen zwiſchen dem Rio Gila und dem Rio Colo— rado oftmals befohlen hat. Auch trug die unbeſonnene Militär— expedition des Don Joſe Galvez nichts dazu bei, die Nord— grenzen der Intendantſchaft Sonora auf eine feſtſtehende Weiſe auszudehnen. Aber zwei mutigen und unternehmenden Mönchen, den Patern Garces und Font, iſt es gelungen, zu Lande, ohne das Meer von Cortez zu befahren und ohne die Halbinſel von Altkalifornien zu berühren, mitten durch Länder, die von unabhängigen Indianern bewohnt ſind, von den Miſſionen der Pimeria alta bis nach Monterey und in den Hafen von San Francisco zu kommen.“ Dieſe kühne Dermalen werden dieſe Gebiete von der ſüdpacifiſchen Eiſen⸗ bahn durchſchnitten. — D. Herausg.] — 257 — Unternehmung, über die das Kollegium der Propaganda in Queretaro eine merkwürdige Notiz bekannt gemacht, hat auch neue Nachrichten über die Trümmer der Caſa grande ge— liefert, welche die mexikaniſchen Geſchichtsforſcher für den Aufenthaltsort der Azteken anſehen, als dieſe gegen Ende des 12. Jahrhunderts am Rio Gila ankamen. Der Pater Francisco Garcses verließ in Begleitung des Paters Font, der den Auftrag hatte, Breitenbeobachtungen an— zuſtellen, das Preſidio d'Horcaſitas am 20. April 1773. Nach elf Tagereiſen kam er in eine ſchöne, große Ebene, eine Meile von dem ſüdlichen Ufer des Rio Gila, wo er die Trümmer einer alten aztekiſchen Stadt erkannte, in deren Mitte ſich die Caſa grande erhebt. Dieſe Trümmer nehmen einen Um⸗ fang von einer Quadratmeile ein. Das große Haus iſt genau nach den vier Weltgegenden geſtellt, hat von Norden nach Süden 136 m Länge, von Oſten nach Weſten 84 m Breite und iſt von Kleiberlehm (Tapia) aufgeführt. Die Wände ſind von ungleicher Größe, aber ganz ſymmetriſch geſtellt. Die Mauern haben bloß 1,2 m Dicke. Man ſieht noch, daß dieſes Gebäude drei Stockwerke und eine Terraſſe hatte. Die Treppe befand ſich außerhalb und war wahrſcheinlich von Holz. Dieſelbe Bauart findet ſich in allen Dörfern der unabhängigen Indianer von Moqui, weſtlich von Neumerifo. In der Caſa grande unterſcheidet man fünf Zimmer, von denen jedes 8,3 m lang, 3,3 m breit und 3,5 m hoch iſt. Eine von ſchwerfälligen Türmen unterbrochene Mauer um— ſchließt das Hauptgebäude und ſcheint zu ſeiner Verteidigung beſtimmt geweſen zu fein. Der Pater Garces entdeckte die Spuren eines künſtlichen Kanales, welcher Waſſer aus dem Rio Gila nach der Stadt führte. Die ganze Ebene umher Chronica serifica de el Colegio de Propaganda fede de Queretaro, por Fray Domingo Arricivita, Mexico 1792. Bd. II, S. 396, 426 und 462. Dieſe Chronik, die einen dicken Folio⸗ band von 600 Seiten füllt, verdiente wohl, daß man einen Aus: zug daraus machte. Sie enthält ſehr genaue hiſtoriſche Nachrichten über die indianiſchen Stämme, welche Kalifornien, Sonora, Moqui, Navajoa und die Ufer des Rio Gila bewohnen. Indes habe ich nicht erfahren können, welcher Inſtrumente ſich der Pater Font auf ſeinen Reiſen nach dem Rio Colorado, von 1771 bis 1776, bedient hat, und ich fürchte faſt, daß es nur ein Sonnen— ring war. A. v. Humboldt, Neuſpanien. I. 17 . iſt mit zerbrochenen irdenen Krügen und Töpfen bedeckt, welche hübſch weiß, rot und blau bemalt waren. Auch findet man unter dieſen Ueberbleibſeln von mexikaniſchem Fayence Stücke von Obſidian (Itztli), was ſehr merkwürdig iſt, indem es beweiſt, daß die Azteken durch irgend eine unbekannte nörd- liche Gegend gekommen waren, die dieſe vulkaniſche Subſtanz enthält, und daß nicht der Ueberfluß von Obſidian in Neu⸗ ſpanien den Gedanken zu Raſiermeſſern und Waffen von Itztli gegeben hat. Uebrigens darf man die Ruinen dieſer Stadt am Gila, dem Mittelpunkte einer alten Civiliſation der amerikaniſchen Völkerſchaften nicht mit den Caſas grandes in Neubiscaya verwechſeln, die zwiſchen dem Preſidio de Manos und dem von San Buenaventura zu finden ſind. Letztere werden von den Eingeborenen ſelbſt als der dritte Nieder: laſſungsort der Azteken angeſehen und dies in der ſehr un: beſtimmten Vorausſetzung, daß die aztekiſche Nation auf ihrer Wanderung von Aztlan nach Tula und dem Thale von Te— nochtitlan drei Stationen gemacht habe, die erſtere bei dem See Teguyo (ſüdwärts von der fabelhaften Stadt Quivira, dem mexikaniſchen Dorado), die zweite am Rio Gila und die dritte in der Gegend von Panos. Die Indianer, welche in den Ebenen bei den Caſas grandes vom Rio Gila wohnen und nie die geringſte Ver— bindung mit den Bewohnern von Sonora gehabt haben, ver: dienen den Namen Indios bravos auf keine Weiſe. Ihre geſellſchaftliche Kultur weicht von dem Zuſtande der Wilden, die auf den Ufern des Miſſouri und in anderen Gegenden von Kanada umherirren, aufs höchſte ab. Die Patres Garces und Font fanden die Indianer auf dem ſüdlichen Ufer des Gila bekleidet, ruhig das Land bauend und zu 2000 bis 3000 in Dörfern vereinigt, welche ſie Uturicut und Sutaquiſan nannten. Sie ſahen Felder, auf denen Mais, Baumwolle und Flafchenfürbifje- gezogen wurden. Um die Bekehrung dieſer Indianer zu verſuchen, zeigten ihnen die Miſſionäre ein Gemälde, das auf einem großen Stücke baumwollenen Zeuges angebracht war und einen zum hölliſchen Feuer ver— dammten Sünder darſtellte. Das Gemälde machte ihnen wirk— lich bange und fie baten den Pater Garces, dasſelbe nicht mehr aufzurollen, und ihnen überhaupt nicht mehr davon zu reden, was ihnen ſeiner Meinung zufolge nach ihrem Tode begegnen würde. Dieſe Eingeborenen ſind von ſanftem, loyalem Charakter. Der Pater Font ließ ihnen durch ſeine — 259 — Dolmetſcher von der Sicherheit ſprechen, welche in den chriſtlichen Miſſionen herrſchte, wo ein indianiſcher Alkalde die Gerechtig— keit handhabte; allein der Anführer derſelben antwortete ihm: „Dieſe Ordnung der Dinge kann für euch nötig ſein. Wir aber ſtehlen nicht, ſtreiten uns ſelten und brauchen alſo keinen Alkalden.“ Die Civiliſation, die man bei den Eingeborenen in der Nähe der Nordweſtküſte von Amerika von 33° bis 54° der Breite findet, iſt ein ſehr auffallendes Phänomen, das einiges Licht über die Geſchichte der erſten Wanderungen der mexikaniſchen Völkerſchaften verbreitet. Man zählt in der Provinz Sonora eine Stadt (Ciudad) nämlich Ariſpe; zwei Villas, nämlich Sonora und Hoſti— muri; 64 Dörfer (Pueblos), 15 Kirchſpiele (Paroquias), 43 Miſſionen, 20 Meierhöfe (Haciendas) und 25 Pachthöfe (Ranchos). Die vorzüglichſten Orte der Intendantſchaft von Sonora ſind folgende: Ariſpe, Reſidenz des Intendanten, ſüdlich und weſtlich von den Preſidios Bacuachi und Baviſpe. Perſonen, welche den Herrn Galvez auf ſeiner Expedition durch Sonora be— gleitet haben, verſichern, daß die Miſſion Ures, bei Pitic, viel geeigneter zur Hauptſtadt der Intendantſchaft geweſen wäre als Ariſpe. Sonora, ſüdlich von Ariſpe und nordoſtwärts von dem Preſidio Horcaſitas. Hoſtimuri, eine kleine, ſehr volkreiche Stadt, die mit beträchtlichen Bergwerken umgeben iſt. Culiacan, in der mexikaniſchen Geſchichte unter dem Namen Hueicolhuacan berühmt. Sinaloa, auch Villa de San Felipe y Santiago, öſtlich von dem Hafen Santa Maria d'Ahome. El Roſario bei den reichen Bergwerken von Copala. Villa del Fuerte oder Montesclaros, nördlich von Sinaloa. Los Alamos, zwiſchen dem Rio del Fuerte und dem Rio Mayo, Reſidenz einer Diputacion de Mineria. — 260 — 13) Provinz Neumerifo.! Verſchiedene Geographen ſcheinen Neumexiko mit den Provincias internas zu verwechſeln; denn ſie reden davon als von einem an Bergwerken reichen und an Flächeninhalt ſehr weit umfaſſenden Lande. Der berühmte Verfaſſer der philoſophiſchen Geſchichte der europäiſchen Niederlaſſungen in beiden Indien hat hauptſächlich zur Verbreitung dieſes Ser: tums beigetragen. Allein das, was er das Reich Neumexiko nennt, iſt bloß eine von armen Koloniſten bewohnte Ufer— gegend. Es iſt ein fruchtbares aber entvölkertes und ſoviel man bis jetzt glaubt, von allem metalliſchen Reichtum ent: blößtes Land, das ſich längs dem Rio del Norte, von 31 bis 38˙ der nördl. Br. erſtreckt, von Süden nach Norden 1400 km Länge und von Oſten nach Weſten 220 bis 300 km Breite hat. Dieſe Provinz hat alſo weit weniger Territorialumfang, als diejenigen Bewohner derſelben, die wenig Kenntnis von der Geographie haben, ſelbſt glauben. Die Nationaleitelfeit vergrößert ſo gern die Raumbeſtimmungen und ſetzt, wenn auch nicht in der Wirklichkeit, doch in der Einbildung, die Grenzen des von den Spaniern beſetzten Landes hinaus. In den Memoiren, die mir über die mexikaniſchen Bergwerke mitgeteilt wurden, wird z. B. die Entfernung von Ariſpe nach Roſario auf 300 und von Ariſpe nach Copala auf 400 Seemeilen geſchätzt, wobei natürlich gar nicht in Anſchlag gebracht worden iſt, daß die ganze Intendantſchaft Sonora überhaupt nur 2000 km Länge hat. Aus gleichem Grunde, und beſonders um ſich die Gunſt des Hofes zu gewinnen, haben die Konquiftadoren, die Miſſionäre und die erſten Kolo— niſten kleinen Dingen große Namen gegeben. So haben wir weiter oben ein ganzes Königreich, Sen, beſchrieben, deſſen ſämtliche Bevölkerung nicht einmal der Zahl aller Franzisfaner: mönche in Spanien gleichkommt. Oft nehmen einige Hütten, die bei einander ſtehen, den hochtönenden Titel Stadt an; ein in den Wäldern der Guyana aufgepflanztes Kreuz figuriert manchmal auf den nach Rom und Madrid geſchickten Miſ— ſionskarten, als ein von den Indianern bewohntes Dorf, und erſt wenn er lange genug in den ſpaniſchen Kolonieen gelebt, und dieſe eingebildeten Königreiche, Städte und Dörfer [Das Gebiet gehört dermalen in feinem ganzen Umfange den Vereinigten Staaten. — D. Herausg.] — 261 — ach geſehen hat, bildet ſich der Reiſende den Maßſtab, nach welchem er die Gegenſtände auf ihren wahren Wert zurück— ſetzen kann. Die ſpaniſchen Eroberer machten wenige Jahre nach der Zerſtörung des aztekiſchen Reiches ſtehende Niederlaſſungen im Norden von Anahuac. Die Stadt Durango wurde unter der Adminiſtration des zweiten Vizekönigs von Neuſpanien, Velasco el Primaro, im Jahre 1559 gegründet. Damals war ſie ein Militärpoſten gegen die Einfälle der Chichimeki— ſchen Indianer. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts ſchickte der Vizekönig, Graf von Monterey, den tapferen Juan de Onate nach Neumexiko. Dieſer General verjagte die einge— borenen Nomadenſtämme und bevölkerte die Ufer des großen Rio del Norte. Von der Stadt Chihuahua aus kann man bis nach Santa Fe in Neumexiko zu Wagen gehen, und man bedient ſich hier gewöhnlich einer Art von Kaleſchen, die die Kata— lonier „Volantes“ nennen. Der Weg iſt ſchön und eben, und zieht ſich an dem öſtlichen Geſtade des 1 Stromes (Rio Grande) hin, über den man bei dem Paſo del Norte kommt. Die Ufer dieſes Fluſſes ſind ſehr maleriſch und mit ſchönen Pappeln⸗ und anderen Bäumen der gemäßigten Zone geziert. Es iſt auffallend, daß die Provinz Neumexiko, nach zwei Jahrhunderten Koloniſation, noch nicht mit der Intendant⸗ ſchaft Neubiscaya zuſammenſtößt. Eine Wüſte, in welcher die Reiſenden manchmal von Comanchesindianern angefallen wer— den, ſcheidet noch beide Provinzen, und dehnt ſich vom Paſo del Norte bis gegen die Stadt Albuquerque hin. Indes war dieſer Strich unangebauten und unbevölkerten Landes vor dem Jahre 1680, da ein allgemeiner Aufſtand der Indianer in ganz Neuſpanien war, nicht ſo beträchtlich; denn es gab damals noch drei Dörfer, San Pascual, Semiſiete und So⸗ corro, welche zwiſchen dem Sumpfe des Muerto und der Stadt Santa Fé lagen. Der Biſchof Tamaron ſah 1760 noch die Ruinen davon, und fand wildgewordene Aprikoſen— bäume auf dem Felde, welche die alte Kultur des Landes ver— rieten. Die zwei, für die Reiſenden gefährlichſten Punkte ſind der Engpaß von Robledo, weſtwärts vom Rio del Norte, der Sierra de Dona Anna gegenüber, und die Wüſte des Muerto; denn hier wurden ſchon viele Weißen von indianiſchen No— maden getötet. Die Wüſte des Muerto iſt eine Ebene, die 220 km — 262 — lang iſt und kein Waſſer hat. Ueberhaupt iſt dieſes Land im allgemeinen ſchrecklich dürr; denn auf den Gebirgen de los Manſos, welche öſtlich von dem Wege liegen, der von Durango nach Santa Js führt, entſpringt auch nicht ein ein⸗ ziger Bach. Trotz der Gelindigkeit des Klimas und allen Fortſchritten der Induſtrie wird daher ein großer Teil dieſes Landes, gleich Altkalifornien und mehreren Diſtrikten von Neubiscaya und der Intendantſchaft Guadalajara, nie eine viel anſehnlichere Bevölkerung enthalten können als heut⸗ utage. i Unerachtet Neumexiko unter gleicher Breite mit Syrien und Centralperſien liegt, ſo hat es doch ein äußerſt kaltes Klima, und friert es hier noch mitten im Mai. Bei Santa Je, und etwas nördlicher, unter der Parallele mit der Morea, Fest ſich der Rio del Norte oft mehrere Jahre Hintereinan- der mit ſo dickem Eis, daß man mit Pferden und Wagen darüber weggehen kann. Ich kenne die Höhe des Bodens dieſer Provinz nicht; indes glaube ich kaum, daß das Bett jenes Fluſſes, unter dem 37. Grad der Breite über 7 oder 8 m über der Meeresfläche liegt. Die Gebirge, welche das Thal des Rio del Norte begrenzen, und ſelbſt diejenigen, an deren Fuße das Dorf Taos liegt, verlieren ihren Schnee erſt gegen Anfang des Juni. Der große Nordſtrom entſpringt, wie wir weiter oben bemerkt haben, in der Sierra Verde, einem Teilungspunkte der Zuflüſſe des Mexikaniſchen Meerbuſens und der Südſee. Er hat ſeine periodiſchen Anſchwellungen (Crecientes), wie der Orinoko, der Miſſiſſippi und eine Menge anderer Flüſſe auf beiden Kontinenten. Das Waſſer des Rio del Norte wächſt vom Monate April an und erreicht ſein Maximum zu Anfang Mai. Gegen Ende Juni fällt es wieder am ſtärkſten, und nur bei großer Sommerdürre, wenn die Strö⸗ mung ſchwach iſt, ſetzen die Einwohner auf Pferden von außerordentlicher Größe, die man in Peru Cavallos Chim- badores nennt, durch denſelben. Mehrere Perſonen beſteigen ein Tier miteinander, und wenn es beim Schwimmen zuweilen wieder Fuß faßt, ſo nennt man dieſe Art, über den Fluß zu ſetzen, pasar el rio a volapiè. Das Waſſer des Nio del Norte iſt, wie das des Orinoko und aller großen Ströme des ſüdlichen Amerikas, äußerſt trübe. In Neubiscaya ſieht man einen kleinen Fluß, Rio Puerco (ſchmutziger Fluß) genannt, deſſen Mündung ſüdwärts — 263 — von der Stadt Albuquerque, bei Valencia iſt, als die Urſache dieſer Erſcheinung an. Indes hat Herr Tamaron die Be⸗ merkung gemacht, daß das Waſſer ſchon oberhalb Santa Fé und der Stadt Taos trübe iſt. Die Bewohner vom Paſo del Norte haben die Erinnerung an ein ſehr außerordent— liches Ereignis aufbewahrt, welches 1752 ſtatthatte. Sie ſahen auf einmal das ganze Bett des Stromes, 220 km ober- halb und über 150 km unter dem Paſo, trocken gelegt, in⸗ dem ſich das Waſſer desſelben in eine neugebildete Schlucht ſtürzte, und erſt bei dem Preſidio von San Elazario wieder aus der Erde hervorkam. Dieſes Sichverlieren des Rio del Norte dauerte ziemlich lange. Die ſchönen Felder um den Paſo her, welche von kleinen Verwäſſerungskanälen durd- ſchnitten ſind, blieben ohne Begießung, und die Einwohner gruben daher Brunnen in den Sand, womit das Bett des Fluſſes bedeckt iſt. Nach mehreren Wochen endlich nahm das Waſſer ſeinen alten Lauf wieder, weil ſich die Schlucht und die unterirdiſchen Ableiter wahrſcheinlich verſtopft hatten. Dieſes Phänomen hat Aehnlichkeit mit einem Ereignis, das mir die Indianer der Provinz Jaen de Bracamorros während meines Aufenthaltes in Tomependa erzählten. Zu Anfang des 18. Jahrhunderts ſahen nämlich die Bewohner des Dorfes Puyaya mit Entſetzen das Bett des Amazonenſtromes mehrere Stunden lang austrocknen. Bei dem Katarakte (Pongo) von Rentema war ein Teil des Sandſteinfelſens durch ein Erdbeben zuſammengeſtürzt, wodurch das Waſſer des Maranon ſo lange in ſeinem Laufe aufgehalten wurde, bis es den Damm, der ſich gebildet hatte, überſtiegen. In dem nördlichſten Teile von Neumexiko, bei Taos, und zwar nordwärts von dieſer Stadt, entſpringen Flüſſe, deren Waſſer ſich mit dem des Miſſiſſippi vermiſchen. Wahrſcheinlich iſt der Rio de Pecos mit dem Rotem Fluſſe von Natchitoches identiſch, und der Rio Napeſtla vielleicht derſelbe Fluß, der weiter öſtlich den Namen Arkanſas annimmt. Die Koloniſten dieſer Provinz ſind durch große Charakter⸗ kraft bekannt und leben in unaufhörlichem Kriege mit den benachbarten Indianern. Aus Mangel an Sicherheit bei dem Landleben ſind die Städte viel bevölkerter, als man in einem ſo öden Lande erwarten ſollte. Die Lage der Bewohner von Neumexiko gleicht unter verſchiedenen Geſichtspunkten der der europäiſchen Völker im Mittelalter. Denn ſolange die Ver⸗ einzelung den Menſchen perſönlichen Gefahren ausſetzt, kann — 264 — kein Gleichgewicht zwiſchen der Bevölkerung der Städte und des Landes entſtehen. Indes ſind doch bei weitem nicht alle Indianer, welche mit den ſpaniſchen Koloniſten in Feindſchaft leben, gleiche Barbaren. Die im Oſten ſind Nomaden und Krieger, und wenn ſie mit den Weißen handeln, ſo geſchieht dies oft, ohne daß man einander ſelbſt zu Geſichte bekommt, und nach Grund— ſätzen, wovon man noch bei mehreren Völkern von Afrika Spuren findet. Auf ihren Zügen nordwärts gegen den Bolſon de Mapimi pflanzen die Wilden längs dem Wege, der von Chihuahua nach Santa Fs führt, kleine Kreuze auf, an die ſie eine lederne Taſche mit Hirſchfleiſch hängen. Am Fuße des Kreuzes iſt eine Büffelhaut ausgebreitet. Durch dieſe Zeichen deutet der Indianer an, daß er mit denen, welche das Kreuz anbeten, einen Tauſchhandel eingehen will, und bietet dem chriſtlichen Reiſenden eine Haut an, um Eßwaren zu erhalten, deren Quantität er nicht beſtimmt. Die Sol: daten in den Preſidios verſtehen dieſe Hieroglyphenſprache der Indianer, nehmen die Büffelhaut, und legen dafür etwas geſalzenes Fleiſch an den Fuß des Kreuzes.“ Dieſe Art von Handel verrät doch ein außerordentliches Gemiſch von Zu— trauen und Mißtrauen! Gegen die mißtrauiſchen Indianer, welche als Nomaden in den Steppen öſtlich von Neumexiko umherſchweifen, bilden diejenigen, die man weſtwärts vom Rio del Norte, zwiſchen den Flüſſen Gila und Colorado findet, einen ſtarken Kontraſt. Der Pater Garces iſt einer von den letzten Miſſionären, welche 1773 das Land der Moqui, das der Rio de Yaqueſila durchſtrömt, beſucht haben. Zu ſeinem größten Erſtaunen fand er bei ihnen eine indianiſche Stadt mit zwei großen Plätzen, mit Gebäuden von mehreren Stockwerken, und ſehr gerad gezogenen, parallel laufenden Straßen.? Das Volk ver— ſammelte ſich alle Abende auf den Terraſſen, welche die Dächer bildeten. Die Bauart der Häuſer von Moqui iſt dieſelbe wie bei den Caſas grandes am Ufer des Rio Gila, von denen wir weiter oben geſprochen haben. Auch die Indianer, die den nördlichen Teil von Neumexiko bewohnen, geben ihren Wohnungen eine beträchtliche Höhe, um die Annäherung ihrer Diario del Illmo. Senor Tamaron (handſchriftlich). Aehnlich bauen die benachbarten Zußi und andere Stämme, die man deshalb Puebloindianer nennt. — D. Herausg.] — 265 — Feinde ſogleich zu bemerken. Alles ſcheint in dieſen Ge— enden die Spuren der alten Mexikaner zu verraten. Die indianiſchen Traditionen belehren uns ſogar, daß 150 km nordwärts von Moqui, bei der Mündung vom Rio Zagua— nanas, die Bäche von Navajoa der erſte Aufenthaltsort der Azteken nach ihrer Auswanderung aus Aztlan geweſen iſt. Betrachtet man die Civiliſation, welche ſich auf mehreren Punkten der Nordweſtküſte von Amerika, in Moqui und an den Ufern des Gila findet, ſo möchte man glauben (und ich wage es hier zu wiederholen), daß ſich ſeit der Wanderung der Tolteken, Acolhuen und Azteken mehrere Stämme von der großen Volksmaſſe losgeriſſen und ſich in dieſen nörd— lichen Gegenden niedergelaſſen haben. Uebrigens iſt die Sprache der Indianer des Moqui, der Nabipais, welche lange Bärte tragen, und derer, die die Ebenen am Rio Colorado bewohnen, von der mexikaniſchen verjchteden. ! Im 17. Jahrhundert hatten ſich mehrere Miſſionäre vom Franziskanerorden unter den Bewohnern von Moqui und von Navajoa niedergelaſſen; allein ſie wurden alle bei der großen Empörung der Indianer im Jahre 1680 niedergemacht. Ich habe auf handſchriftlichen Karten, welche vor dieſer Zeit ver— feng waren, ſogar den Namen der Provincial del Moqui geleſen. Die Provinz Neumexiko enthält drei Villas (Santa Fs, Santa Cruz de la Canada ny Taos, Albuquerque y Alameda), 26 Pueblos, 3 Paroquias, 19 Miſſionen, aber keinen einzeln ſtehenden Pachthof (Rancho). Santa Fé, Hauptſtadt, öſtlich vom Gran Rio del Norte. Albuquerque, dem Dorfe Atrisco gegenüber, weſt— wärts von der Sierra obſcura. Taos, das auf den alten Karten um 460 km zu nördlich, unter dem 40. Grad der Breite, angegeben iſt. Paſo del Norte. Ein Preſidio oder Militärpoſten auf dem rechten Ufer des Rio del Norte, und von der Stadt Siehe das Zeugnis mehrerer in der aztekiſchen Sprache ſehr erfahrener Miſſionäre. [Nach Eduard Buſchmanns ſcharfſinnigen Unterſuchungen bilden die Moqui und ihre Verwandten die ſono— riſche Sprachfamilie, welche mit der aztekiſch⸗toltekiſchen Gruppe linguiſtiſch verſchwiſtert iſt. — D. Herausg.] — 266 — Santa Fs durch ein unangebautes Land von mehr als 440 km Länge getrennt. Indes muß man dieſen Markt⸗ flecken, welcher auf einigen in den Archiven von Mexiko auf⸗ bewahrten handſchriftlichen Karten als zu Neubiscaya gehörig angeſehen wird, nicht mit dem Preſidio del Norte oder de las Juntas verwechſeln, welches auf der Südſeite der Mün— dung vom Rio Conchos liegt. In Paſo del Norte halten ſich die Reiſenden gewöhnlich auf, um die nötigen Vorräte zur Fortſetzung ihrer Reiſe nach Santa Fé zuſammenzubringen. Die Umgebungen vom Paſo ſind ein herrliches Land, das den ſchönſten Gegenden von Andaluſien gleichkommt. Die Felder ſind mit Mais und Weizen angebaut; der Weinſtock gibt vortrefflichen Likörwein, den man ſogar den Weinen von Parras in Neubiscaya vorzieht. In den Gärten wachſen die europäiſchen Fruchtbäume, Feigen, Pfirſiche, Aepfel und Birnen im Ueberfluſſe. Da der Boden ſehr trocken iſt, ſo führt ein Bewäſſerungskanal das Waſſer aus dem Rio del Norte nach dem Paſo. Uebrigens haben die Einwohner des Preſidio viele Mühe, das Wehr zu erhalten, wodurch das Waſſer, wenn es niedrig ſteht, in den Kanal (Azequia) ge⸗ zwungen wird. Zur Zeit des Anſchwellens wird dieſes Wehr beinahe jedes Jahr, im Monat Mai und Juni, durch den reißenden Fluß zerſtört. Die Art, den Damm wieder herzu— ſtellen und zu befeſtigen, iſt indes ſehr ſinnreich. Die Be— wohner machen zu dieſem Zwecke Körbe von Pfählen, die mit Baumzweigen verbunden werden, und die ſie mit Erde und Steinen ausfüllen. Dieſe Körbe (Cestones) werden dem Strome überlaſſen, der ſie durch eine wirbelförmige Bewegung von ſelbſt auf der Stelle niederſetzt, wo ſich der Kanal von dem Fluſſe trennt. 14) Provinz Altkalifornien Die Geſchichte der Geographie enthält mehrere Beiſpiele von Ländern, deren Lage ſchon den älteſten Seefahrern be— kannt war, und die man doch lange als erſt in ſehr neueren Zeiten entdeckt angeſehen hat. Von der Art ſind die Sand— wichinſeln, die Weſtküſte von Neuholland, die großen Kykladen, welche Quiros einſt den Archipel del Eſpiritu Santo genannt hat, das Land der Arſaciden, das Mendana geſehen, und be: ſonders die Küſten von Kalifornien. Letzteres Land war vor 1541 ſchon als eine Halbinſel anerkannt worden, und dennoch maß man 160 Jahre ſpäter dem Pater Kühn (Kino) das Verdienſt bei, zuerſt bewieſen zu haben, daß Kalifornien keine Inſel iſt, ſondern mit dem Kontinent von Mexiko zuſammen— ängt. u en Cortez die Welt durch feine Thaten auf dem feſten Lande in Erſtaunen geſetzt hatte, zeigte er eine nicht minder bewundernswerte Charakterkraft in ſeinen Unterneh— mungen zur See. Unruhig, ehrgeizig, und von der Idee ge— quält, das Land zu ſehen, das ſein Mut erobert hatte, und welches bald von einem Corregidor von Toledo, bald von einem Präſidenten der Audiencia oder einem Biſchof von San Domingo! adminiſtriert wurde, ergab er ſich ausſchließend den Entdeckungsexpeditionen in der Südſee. Er ſchien es völlig zu vergeſſen, daß er die mächtigen Feinde, die er am Hofe hatte, bloß durch die Größe und Schnelligkeit ſeiner Erfolge gereizt, und ſchmeichelte ſich, ſie durch den Glanz der neuen Laufbahn, welche ihm ſeine Thätigkeit eröffnete, zum Schweigen zu bringen. Ueberdies munterte ihn die Regie— rung, welche einem ſo außerordentlichen Manne mißtraute, ſelbſt in ſeinem Plane auf, den Ozean zu durchſegeln; denn da der Kaiſer nach der Eroberung von Mexiko ſein militäri— ſches Talent nicht mehr nötig zu haben glaubte, ſo war er ſehr zufrieden, ihn in neue fühne Unternehmungen verwickelt zu ſehen. Es war ihm alles daran gelegen, den Helden von dem Schauplatze zu entfernen, auf melchem ſein Mut und ſeine Tapferkeit ſo ſehr geglänzt hatten. Schon 1523 hatte Karl V. in einem Briefe, aus Valla- dolid geſchrieben, dem Cortez empfohlen, auf den öſtlichen und weſtlichen Küſten von Neuſpanien das Geheimnis einer Meerenge (el secreto del estrecho) zu ſuchen, das die Schiff: fahrt von Cadiz nach Oſtindien, dazumal das „Land der Spe— zereien“ genannt, um zwei Dritteile abkürzen würde. In ſeiner Antwort an den Kaiſer ſpricht Cortez mit dem größten Enthu— ſiasmus von der Möglichkeit dieſer Entdeckung, „welche (wie er hinzuſetzt) Ew. Majeſtät zum Herrn von ſo vielen König— reichen machen wird, daß Sie ſich füglich als den Monarchen der ganzen Welt anſehen dürfen“ .? Auf einer dieſer Fahrten, Der Corregidor Luis Ponce de Leon, der Präſident Nuno de Guzman und der Biſchof Sebaſtian Ramirez de Fuenleal. 2 Cartas de Cortez, S. 374, 382, 385. — — 268 — welche auf Cortez' eigene Koſten unternommen wurden, ent⸗ deckte Hernando de Grijalva die Küſten von Kalifornien im Februar 1534.“ Sein Pilote Fortun Ximenez wurde von den Kaliforniern in der Bai Santa Cruz, ſpäterhin Hafen de la Paz oder des Marquis del Valle genannt, umgebracht. Unzufrieden über die Langſamkeit und die geringen Erfolge der Entdeckungen in der Südſee ſchiffte ſich Cortez im Jahre 1535 mit 400 Spaniern und 300 Negerſklaven im Hafen von Chiametlan (Chametla) ſelbſt ein. Er ſteuerte an den beiden Ufern des Golfes hin, den man damals Cortez' Meer nannte, und der Geſchichtſchreiber Gomara ſchon 1557 ſehr ſinnreich mit dem Adriatiſchen Meere verglichen hat. Während ſeines Aufenthaltes in der Bai Santa Cruz erhielt Cortez jedoch die niederſchlagende Nachricht, daß der erſte Vizekönig von Neuſpanien angekommen ſei. Nichtsdeſtoweniger ver⸗ folgte der große Eroberer ſeine Entdeckungen in Kalifornien ohne Verzug. Da verbreitete ſich das Gerücht von ſeinem Tode in Mexiko. Seine Gattin, Juana de Zuftiga, rüſtete zwei Kriegsſchiffe und eine Garavelle aus, um die Wahrheit dieſer traurigen Nachricht zu erforſchen. Indes kam Cortez nach tauſend Gefahren, die er beſtanden, wieder glücklich im Hafen von Acapulco an. Noch ließ er, und immer auf ſeine eigenen Koſten, die Laufbahn, die er ſo glorreich eröffnet hatte, durch Francisco de Ulloa verfolgen, und dieſer unter: ſuchte auf einer zweijährigen Fahrt die Küſten von Kalifor⸗ nien bis an die Mündung des Rio Colorado. Die Karte, welche der Pilote Caſtillo 1541 in Mexiko verfertigte und die wir mehreremal angeführt haben, ſtellt die Richtung der Küſten der Halbinſel von Kalifornien unge— fähr ſo dar, wie wir ſie heutzutage kennen. Unerachtet dieſer Fortſchritte der Geographie, welche man dem Genie und der Ich habe in einer Handſchrift, die in den Archiven des Vizekönigs von Mexiko aufbewahrt wird, gefunden, daß Kalifornien 1526 entdeckt worden ſei. Auf was ſich dieſe Angabe gründet, iſt mir unbekannt. Cortez ſpricht in ſeinen Briefen an den Kaiſer, die bis zum Jahre 1524 gehen, oft von den Perlen, welche man bei den Inſeln der Südſee findet; und doch ſcheinen die Auszüge, welche der Verfaſſer der Relacion del Viage al Estrecho de Fuca aus den koſtbaren Handſchriften gemacht hat, welche in der Akademie der Geſchichte zu Madrid aufbewahrt werden, zu beweiſen, daß Kalifornien vor der Expedition des Diego Hurtado de Mendoza, im Jahre 1532, gar nicht geſehen worden war. — 269 — Thätigkeit Cortez' zu verdanken hat, fingen doch mehrere Schriftſteller unter der ſchwachen Regierung Karl II. an, Kalifornien als einen Archipel von großen Inſeln zu be: trachten, die ſie die Islas Carolinas nannten. Die Perlen⸗ fiſcherei zog nur von Zeit zu Zeit einige Schiffe dahin, die in den Häfen von Jalisco, Acapulco oder Chacala ausge— rüſtet wurden; und als drei Jeſuiten, die Patres Kühn, Salvatierra und Ugarte, die Küſten, welche das Meer des Cortez (Mar roxo o vermejo) einfaſſen, vom Jahre 1701 bis 1721 aufs genaueſte unterſuchten, glaubte man in Europa zum erſtenmal zu erfahren, daß Kalifornien eine Halbinſel iſt. Je unvollkommener ein Land gekannt und je entfernter es von den bevölkerten europäiſchen Kolonieen gelegen iſt, deſto leichter kommt es zum Rufe großer metalliſcher Reich— tümer; denn die Einbildungskraft der Menſchen gefällt ſich in der Erzählung der Wunder, welche die Leichtgläubigkeit und öfters noch die Liſt der erſten Reiſenden in geheimnis— vollem Tone verbreitet. Auf den Küſten von Caracas ſpricht man Wunderdinge von den Reichtümern der Länder zwiſchen dem Orinoko und dem Rio Negro, in Santa Fe rühmt man unaufhörlich die Miſſionen der Andaquies, und in Quito die Provinzen Macas und Maynas. Auch die Halbinſel Kali— fornien iſt lange Zeit das Dorado von Neuſpanien geweſen; denn nach der Logik des Volkes muß ein Land, das reich an Perlen iſt, auch Gold, Diamanten und andere koſtbare Steine in Menge hervorbringen. Ein reiſender Mönch, Fray Marcos de Nizza, machte den Mexikanern mit feinen fabelhaften Nach— richten von der Schönheit des Landes nördlich vom Golf von Kalifornien, der Pracht der Stadt Cibola,! ihrer ungeheuren Die alte, handſchriftliche Karte des Caſtillo ſetzt die fabelhafte Stadt Cibola oder Cibora unter den 37. Grad der Breite. Reduziert man ihre Lage aber auf die der Mündung des Rio Colorado, ſo möchte man glauben, daß die Ruinen der Caſas grandes am Gila, von denen in der Beſchreibung der Intendantſchaft Sonora die Rede geweſen iſt, zu den Märchen Anlaß gegeben, die der gute Pater Marcos de Nizza verbreitet hat. Indes ſcheint mir doch die hohe Civiliſation, welche dieſer Mönch unter den Bewohnern dieſer nördlichen Gegenden angetroffen haben will, eine ziemlich wichtige Thatſache, die ſich an dasjenige anreiht, was wir in un⸗ ſeren Nachrichten über die Indianer am Rio Gilo und im Moqui — 270 — Bevölkerung, der guten Polizei und der Civiliſation ihrer Bewohner die Köpfe äußerſt warm, und Cortez und der Vizekönig Mendoza ſtritten ſich zum voraus ſchon um die Eroberung dieſes mexikaniſchen Timbuktu. Erſt die Nieder⸗ laſſungen der Jeſuiten in Altkalifornien vom Jahre 1683 an gaben Veranlaſſung, die große Dürre dieſes Landes und die höchſte Schwierigkeit kennen zu lernen, mit welcher der Anbau desſelben verbunden iſt. Auch der geringe Vorteil, den die Bergwerke bei Santa Ana, nördlich vom Kap Pulmo, ab— warfen, verminderte den Enthuſiasmus, mit welchem man von den metalliſchen Reichtümern dieſer Halbinſel geſprochen hatte. Indes erweckten doch der Haß und die allgemeine üble Stimmung gegen die Jeſuiten den Verdacht, daß ſie der Regierung die Schätze eines Landes verbargen, die von alters her ſo hoch geprieſen worden waren. Aus dieſem Grunde ging der Viſitador Don Joſe Galvez, den ſein chevaleresker Geiſt zu einem Zuge gegen die Indianer in Sonora verleitet hatte, nach Kalifornien. Allein er fand bloß nackte Gebirge, ohne vegetabiliſche Erde und ohne Waſſer, und in den Felſen— riſſen zuweilen Opuntien und baumartige Mimoſen. Nichts verriet hier Silber oder Gold, das die Jeſuiten, wie man ſie beſchuldigte, aus der Erde gezogen hatten; aber überall er kannte man die Spuren ihrer Thätigkeit, ihrer Induſtrie und des löblichen Eifers, womit ſie ein ödes, dürres Land anzubauen geſtrebt hatten. Auf dieſem Zuge wurde der Viſi— tador Galvez von einem durch ſeine Talente, wie durch die großen Glückswechſel, die ihn betrafen, merkwürdigen Manne begleitet; indem der Ritter von Aſanza Sekretärdienſte bei ihm leiſtete. Freimütig bekannte er, was die Operationen der kleinen Armee noch beſſer bewieſen als die Aerzte von Pitic, und wagte es zu jagen, daß der Viſitador wahnſinnig geſagt haben. Die Schrifſteller des 16. Jahrhunderts ſetzten ein zweites Dorado nordwärts von Cibora, unter den 41. Grad der Breite. Hier lag nach ihrer Meinung, das Königreich Tatarrax und eine ungeheure Stadt Namens Quivira an den Ufern des Sees von Teguayo, ziemlich nahe bei dem Rio von Aguilar. Gründet ſich dieſe Sage auf die Behauptungen der Indianer von Anahuac, jo iſt ſie ziemlich merkwürdig; denn die Ufer des Sees von Teguayo, welcher vielleicht mit dem See von Timpanogos identiſch iſt, wer: den von den aztekiſchen Geſchichtſchreibern als das Vaterland der Mexikaner angegeben. — 271 — ſei. Freilich wurde Herr von Aſanza dafür arretiert und während fünf Monaten in dem Dorfe Tepozotlan gefangen ehalten, wo er indes 30 Jahre ſpäter, einen feierlichen Aug als Vizekönig von Neuſpanien hielt. Die Halbinſel Kalifornien, die auf einem Flächenraume ſo groß wie England nicht einmal die Bevölkerung der kleinen Städte Ipswich oder Deptford hat, liegt unter demſelben Parallelkreiſe mit Bengalen und den Kanariſchen Inſeln. Der Himmel iſt daſelbſt unaufhörlich klar, dunkelblau und ohne Wolken. Erſcheinen dieſe bei Sonnenuntergang auf einige Augenblicke, ſo glänzen ſie in den ſchönſten Abſtufungen von Violett, Purpurfarb und Grün. Alle Perſonen, die ſich einige Zeit in Kalifornien aufgehalten haben (und ich kannte deren mehrere in Neuſpanien), haben die Erinnerung an die außer⸗ ordentliche Schönheit dieſes Phänomens behalten, das von der beſonderen Beſchaffenheit der Dunſtbläschen und der großen Reinheit der Luft in dieſen Klimaten herrührt. Für einen Aſtronomen könnte es keinen herrlicheren Aufenthalt geben als Cumana, Coro, die Margareteninſel und die Küſten von Kalifornien. Aber unglücklicherweiſe iſt auf dieſer Halb— inſel der Himmel ſchöner als die Erde. Der Boden iſt dürr und ſtaubig, wie in den Küſtengegenden der Provence, und die Vegetation ſo arm als der Regen ſelten. Der Mittelpunkt dieſer Halbinſel wird von einer Ge— birgskette durchſchnitten, deren höchſte Spitze, der Cerro de la Giganta, 1400 bis 1500 m Höhe hat und vulkaniſchen Ur⸗ ſprunges zu ſein ſcheint. Dieſe Kordillere wird von Tieren bewohnt, welche in Geſtalt und Lebensweiſe dem Mouflon (Oris ammon) von Sardinien ähnlich ſind, und die der Pater Conſag nur unvollſtändig bekannt gemacht hat. Die Spanier nennen fie wilde Schafe (Carneros eimarones). Sie hüpfen, wie der Steinbock, mit geſenktem Kopfe, und haben ſpiral— förmig in ſich ſelbſt zurückgewundene Hörner. Nach Herrn Coſtanzos! Beobachtungen weicht dieſes Tier weſentlich von I Tagebuch einer Reiſe nach Altkalifornien und nach dem Hafen von San Diego, ausgearbeitet im Jahre 1769 (handſchrift— lich). Dieſes Werk war bereits in Mexiko gedruckt, als plötzlich alle Exemplare davon auf Befehl des Miniſters konfisziert wur⸗ den. — Für die Fortſchritte der Zoologie wäre es zu wünſchen, daß man durch die Sorgfalt der Reiſenden bald die wahren, ſpe— zifiſchen Charaktere kennen lernte, welche die Carneros cimarones von Altkalifornien von den Berendos in Monterey unterſcheiden. — 272 — den wilden Ziegen ab, welche graulichweiß, viel größer ſind, und Neukalifornien, beſonders der Sierra de Santa Lucia, bei Monterey, eigens angehören. Auch heißen dieſe Ziegen, welche vielleicht zum Antilopengeſchlecht gehören, im Lande ſelbſt „Berendos“. Sie haben wie die Gemſen, rückwärts ge— bogene Hörner. Am Fuße der Gebirge von Kalifornien ſieht man nichts als Sand oder auch eine Steinlage, auf welcher ſich cylinder— förmiger Kaktus (Organos del Tunal) von außerordentlicher Höhe erhebt. Man findet daſelbſt wenige Quellen und auch da, wo ſie fließen, iſt das beſondere Unglück, daß der Felſen völlig nackt iſt, während er an anderen Orten, da er vegetabiliſche Erde hat, kein Waſſer gibt. Aber überall, wo Waſſer und Erde beiſammen ſind, iſt die Fruchtbarkeit des Bodens unge— heuer. Auf dieſen wenigen, aber von der Natur beſonders begünſtigten Punkten haben die Jeſuiten ihre erſten Miſſionen angelegt. Mais, Jatropha und Dioscorea wachſen hier in aller Kraft; die Reben tragen vortreffliche Trauben, deren Wein etwa dem der Kanariſchen Inſeln ähnlich iſt. Im ganzen wird aber Altkalifornien wegen der Dürre ſeines Bodens und des Mangels an Waſſer und vegetabiliſcher Erde im Inneren des Landes niemals eine große Bevölkerung erhalten können, ebenſowenig als der nördlichſte Teil von Sonora, der beinahe gleich trocken und ſandig iſt. Unter allen Naturprodukten Kaliforniens haben die Perlen ſeit dem 16. Jahrhundert die Seefahrer am meiſten an die Küſten dieſes öden Landes gezogen. Ihrer iſt beſonders auf der ſüdlichen Seite desſelben großer Ueberfluß und ſeit die Perlenfiſcherei bei der Margareteninſel der Küſte Araya gegen— über aufgehört hat, find die Golfe von Panama und Kali: fornien die einzigen Waſſer in den ſpaniſchen Kolonieen, welche den europäischen Handel mit Perlen verſehen. Die von Kalifornien haben ſehr ſchönes Waſſer, ſind groß, aber häufig von unregelmäßiger und für das Auge unangenehmer Form. Die Perlenmuſchel findet ſich beſonders in der Bai Ceralvo und um die Inſeln Santa Cruz und San Joſe herum. Die koſtbarſten Perlen, die der ſpaniſche Hof beſitzt, wurden 1615 und 1665 auf den Zügen von Juan Yturbi und Bernal de Pinadero gewonnen. Auch während des Aufenthaltes des Viſitadors Galvez im Jahre 1768 und 1769 auf Kali: fornien bereicherte ſich ein gemeiner Soldat von dem Preſidio de Loreto, Namens Juan Ocio, in kurzer Zeit mit der Perlenfiſcherei auf der Küſte von Ceralvo. Seit der Zeit hat ſich aber die Zahl der kaliforniſchen Perlen, welche in den Handel kommen, aufs äußerſte vermindert; denn die Indianer und Neger, die ſich zu dem ſchweren Tauchergeſchäfte brauchen laſſen, werden von den Weißen ſo ſchlecht bezahlt, daß dieſe Fiſcherei beinahe als ganz aufgehoben angeſehen werden darf, und dieſer Induſtriezweig zerfällt hier aus denſelben Urſachen, welche im ſüdlichen Amerika die Vigognefelle, den Kautſchuk und ſelbſt die Quinquina verteuern. Unerachtet Hernan Cortez auf ſeinen Expeditionen nach Kalifornien über 200000 Dukaten von ſeinem eigenen Ver: mögen aufgewendet und Sebaſtian Vizcayno, der unter die erſten Seefahrer ſeines Jahrhunderts gezählt zu werden ver— dient, förmlich von dieſer Halbinſel Beſitz genommen hatte, ſo konnten die Jeſuiten doch erſt 1642 ſtehende Niederlaſſungen auf derſelben anlegen. Eiferſüchtig auf ihre Macht kämpften ſie mit Erfolg gegen die Anſtrengungen der Franziskaner, welche ſich von Zeit zu Zeit bei den Indianern einzudrängen ſuchten. Auch hatten ſie gegen noch gefährlichere Feinde, die Soldaten auf den Militärpoſten, zu ſtreiten; denn auf den äußerſten Enden der ſpaniſchen Beſitzungen im neuen Kon⸗ tinente und auf den Grenzen der europäiſchen Civiliſation iſt die geſetzgebende und die ausübende Gewalt auf eine ſon⸗ derbare Weiſe vereinigt, und der arme Indianer kennt hier keinen anderen Herrn, als den Korporal oder den Miſſionär. In Kalifornien trugen die Jeſuiten einen vollſtändigen Sieg über die Beſatzungen der Militärpoſten davon. Der Hof entſchied ſogar durch ein königliches Dekret, daß alle, ſelbſt der Kapitän des Detachements von San Loreto, unter den Befehlen des Paterpräſidenten der Miſſionen ſtehen ſollten. Die merkwürdigen Reiſen der drei Jeſuiten Euſebius Kühn, Maria Salvatierra und Juan Ugarte machten den phyſiſchen Zuſtand des Landes bekannt. Das Dorf Loreto war 1697 ſchon unter dem Namen des Preſidio de San Dioniſio ge— gründet worden. Unter Philipps V. Regierung, beſonders von 1744 an, wurden die ſpaniſchen Niederlaſſungen in Kali⸗ fornien ſehr beträchtlich, und die Jeſuiten entwickelten hier die Handelsinduſtrie und Thätigkeit, der ſie ſo viele Erfolge verdankten, welche ſie aber auch ſo vielen Verleumdungen in beiden Indien ausgeſetzt hat. In wenigen Jahren bauten fie 16 Dörfer im Inneren der Halbinſel. Seit ihrer Ber: treibung im Jahre 1767 iſt Kalifornien den Dominikanern A. v. Humboldt, Neuſpanien. I. 18 — 274 — aus den Klöſtern der Stadt Mexiko anvertraut worden; allein es ſcheint, daß dieſe in den Niederlaſſungen auf Altkalifornien nicht ſo glücklich geweſen ſind als die Franziskaner auf den Küſten von Neukalifornien. Diejenigen Eingeborenen der Halbinſel, welche nicht in den Miſſionen leben, ſtehen vielleicht unter allen Wilden dem ſogenannten Naturzuſtande am nächſten. Ganze Tage bringen ſie im Sande, der durch das Zurückprallen der Sonnenſtrahlen erhitzt ift, auf dem Bauche ausgeſtreckt liegend zu und ſie verab— ſcheuen ſogar, wie mehrere Stämme, die wir am Orinoko ge⸗ ſehen haben, jede Art von Bekleidung. Ein angezogener Affe, jagt der Pater Venegas, ſcheint dem Pöbel in Europa nicht jo lächerlich, als ein angekleideter Mann den Indianern von Kalifornien. Trotz dieſem anſcheinenden Stumpfſein unter⸗ ſchieden die erſten Miſſionäre dennoch verſchiedene Religions⸗ ſekten unter ihnen. Drei Gottheiten, welche einen Vertilgungs⸗ krieg miteinander führten, waren der Schrecken von drei kali⸗ forniſchen Völkerſchaften. Die Pericues fürchteten die Macht von Niparaya, die Menquis und die Veheties die von Mac: tupuran und Sumongo. Ich ſage, daß dieſe Horden unſicht⸗ bare Weſen fürchteten, nicht, daß ſie ſie anbeteten; denn der Kultus des wilden Menſchen iſt nichts, als eine Anwandlung von Furcht; er iſt das Gefühl eines geheimen, religiöſen Schreckens. Nach den Angaben, welche ich von den Mönchen erhalten, die heutzutage beide Kalifornien beherrſchen, hat ſich die Be: völkerung Altkaliforniens ſeit 30 Jahren fo ſehr vermindert, daß es in den Dörfern der Miſſionen nicht über 4000 bis 5000 Eingeborene gibt, die ſich dem Ackerbaue ergeben haben (Indios reducidos). Auch die Zahl der Miſſionen iſt auf 16 heruntergekommen; indem die von Santiago und Guade⸗ lupe aus Mangel an Einwohnern eingegangen ſind. Die Pocken und noch eine andere Krankheit, die die europäiſchen Völker aus Amerika erhalten haben wollen, wohin ſie ſie doch zuerſt gebracht haben, und welche ſchreckliche Verwüſtungen auf den Inſeln der Südſee anrichtet, werden als die Haupt⸗ urſachen der Entvölkerung von Kalifornien angeſehen. Indes iſt wohl zu vermuten, daß auch noch andere Urſachen vorhan: den find, welche von den politiſchen Einrichtungen ſelbſt ab hängen, und es wäre wohl einmal Zeit, daß ſich die mexi⸗ kaniſche Regierung ernſtlich damit beſchäftigte, die Hinderniſſe aus dem Wege zu räumen, die dem Glüde der Bewohner — 275 — dieſer Halbinſel entgegen ſind. Die Zahl der Wilden beträgt auf derſelben kaum noch 4000, und man bemerkte, daß die, welche den nördlichen Teil des Landes bewohnen, ein wenig civiliſierter ſind als die der ſüdlichen Gegenden. Die hauptſächlichſten Dörfer dieſer Provinz ſind folgende: Loreto, Preſidio und Hauptort aller Miſſionen von Altkalifornien, zu Ende des 17. Jahrhunderts von dem Ingol— ſtadter Aſtronomen, dem Pater Kühn, angelegt. Santa Ana, Miſſion und Real de Minas, be— rühmt durch Velasquez' aſtronomiſche Beobachtungen. San Joſeph, Miſſion, in welcher der Abbs Chappe als Opfer ſeines Eifers für die Wiſſenſchaften zu Grunde ge— gangen iſt.“ 15) Provinz Neufalifornien.? Der Teil der Küſten des Großen Ozeans, welcher ſich von dem Iſthmus von Altkalifornien oder von der Bai Todos los Santos (ſüdlich vom Hafen San Diego) bis gegen das Kap Mendocino erſtreckt, führt auf den ſpaniſchen Karten den Namen Neukalifornien (Nueva California). Es iſt ein langer, ſchmaler Landſtrich, auf welchem die mexikaniſche Res ierung ſeit 40 Jahren Miſſionen und Militärpoſten ange⸗ egt hat. Nordwärts vom Hafen San Franciscos, der über 580 km vom Kap Mendocino entfernt iſt, befindet ſich weder ein Dorf noch eine Meierei. In ihrem gegenwärtigen Zu— ſtande hat die Provinz Neukalifornien bloß 1460 km Länge Perſonen, welche ſich lange Zeit in Kalifornien aufgehalten haben, verſicherten mich, daß die Noticia des Paters Venegas, gegen welche von Feinden des aufgehobenen Ordens und ſelbſt vom Kar— dinal Lorenzana Zweifel erhoben worden ſind, ſehr genau iſt. Noch befinden ſich in den mexikaniſchen Archiven folgende Hand— ſchriften, von denen der Pater Barcos, in ſeiner zu Rom gedruckten Storia di California, keinen Gebrauch gemacht hat: 1) Chronica historica de la provincia de Mechoacan, con varias mapas de la California. 2) Cartas originales del Padre Juan Maria de Salvatierra. 3) Diario del Capitan Juan Mateo Mangi, que accompano ä los padres apostolicos Kino y Kappus. [Jetzt den Vereinigten Staaten angehörend. — D. Herausg.] — 276 — und 66 bis 75 km Breite. Die Stadt Mexiko liegt in gerader Linie ſo weit weg, als Philadelphia von Monterey, das der Hauptort der Miſſionen von Neukalifornien iſt und bis auf vier Minuten etwa gleiche Breite mit Cadiz hat. Wir haben weiter oben die Reiſen mehrerer Geiſtlichen angeführt, die zu Anfang des vorigen Jahrhunderts zu Lande von der Halbinſel Altkalifornien nach Sonora gelangt ſind und ſomit zu Fuß das Meer des Cortez umgangen haben. Zur Zeit von Herrn Galvez' Expedition kamen auch Militär: detachements von Loreto bis in den Hafen San Diego und die Briefpoſt geht noch heutzutage von dieſem Hafen aus, längs der Nordweſtküſte bis nach San Francisco. Letztere Niederlaſſung, die nördlichſte unter allen ſpaniſchen Beſitzungen auf dem neuen Kontinente, befindet ſich beinahe unter dem— ſelben Parallelkreiſe mit der kleinen Stadt Taos in Neu— mexiko. Sie iſt nur 2220 km davon entfernt, und uner— achtet der Pater Escalante auf ſeinen apoſtoliſchen Zügen im Jahre 1777 bis an das 105 0 Ufer des Zaguananas— ſtromes gegen die Gebirge de los Guacaros vordrang, ſo iſt doch noch kein Reiſender bisher von Neumexiko an die Küſte von Neukalifornien gelangt. Dieſer Umſtand muß jedem auf⸗ fallen, der aus der Geſchichte der Eroberung von Amerika den Unternehmungsgeiſt und den bewundernswerten Mut kennt, womit die Spanier im 16. Jahrhundert beſeelt waren. Hernan Cortez landete 1519 zum erſtenmal auf den Küſten von Mexiko an dem Geſtade von Chalchiuhcuecan und vier Jahre nachher ließ er bereits auf den Küſten der Südſee, in Zacatula und Tehuantepec Schiffe bauen. 1537 erſchien Alvar Nunez Cabeza de Vaca mit zwei feiner Gefährten, von Müh— ſeligkeiten beinahe erſchöpft, nackt und mit Wunden bedeckt auf den Küſten von Culiacan, die der Halbinſel Kalifornien gegenüber liegen. Er hatte mit Panfilo Narvasz in Florida gelandet und gelangte nach einer zweijährigen Reiſe und, nach— dem er ganz Louiſiana und den nördlichen Teil von Mexiko durchſchnitten hatte, an das Ufer des Großen Ozeanes in Sonora. Dieſe von Nunez durchlaufene Entfernung iſt bei— nahe ebenſo groß, als der Weg, den der Kapitän Lewis von den Ufern des Miſſiſſippi bis nach Nutka und an die Mündung des Kolumbiafluſſes gemacht hat.! In der That, Dieſe bewundernswürdige Reiſe des Kapitäns Lewis wurde unter Herrn Jefferſons Begünſtigung vorgenommen, der durch — 277 — betrachtet man die kühnen Reiſen der erſten ſpaniſchen Eroberer in Mexiko, in Peru und an dem Amazonenſtrome, ſo muß man erſtaunen, daß dieſelbe Nation ſeit zwei Jahrhunderten keinen Landweg in Neuſpanien von Taos nach dem Hafen von Monterey, in Neugranada von Santa Fs nach Carta⸗ gena oder von Quito nach Panama, und in Guyana von Esmeralda nach San Tomas de Angoſtura ausgefunden hat. Nach dem Beiſpiele der engliſchen Karten geben mehrere Geographen Neukalifornien den Namen Neualbion. Dieſe Benennung gründet ſich auf die ſehr wenig genaue Meinung, daß der Seefahrer Drake 1578 zuerſt die Nordweſtküſte von Amerika zwiſchen 38° und 48“ der Breite entdeckt habe. Freilich iſt die berühmte Reiſe des Sebaſtian Vizcayno 24 Jahre ſpäter als Franz Drakes Entdeckungen. Allein Knor und andere Geſchichtſchreiber ſcheinen zu vergeſſen, daß Cabrillo ſchon 1542 die Küſten von Neukalifornien bis zum 43. Grad als dem Ziele ſeiner Fahrt unterſucht hat, wie aus der Vergleichung der alten Breitenbeobachtungen mit den in unſeren Tagen gemachten hervorgeht. Nach ſicheren hiſto⸗ riſchen Angaben ſollte der Name Neualbion bloß auf den Teil der Küfte von 43° bis 48° oder vom Weißen Vorgebirge von Martin de Aguilar bis zur Durchfahrt des Juan de Fuca! eingeſchränkt werden. Indes liegen noch von den Miſſionen der katholiſchen Geiſtlichen an bis zu denen der griechiſchen Prieſter, d. h. von dem ſpaniſchen Dorfe San Francisco in Neukalifornien bis zu den ruſſiſchen Niederlaſſungen am Cooksſtrome, in der Prinz Wilhelmsbai und auf den Inſeln Kodiak und Unalaſchka, über 7400 km Küſtenländer, die von freien Menſchen bewohnt und mit einer Menge Seeottern bevölkert ſind. Man kann daher den Streit über die Aus— dehnung von Drakes Neualbion? und über die ſogenannten Rechte, die die europäiſchen Völker durch Aufpflanzen kleiner Kreuze, durch Inſchriften an Baumſtämme oder durch Ver⸗ graben von Bouteillen zu erhalten glauben, für ſehr unnütz anſehen. dieſen wichtigen den Wiſſenſchaften geleiſteten Dienſt neues Recht an den Dank der Gelehrten aller Nationen gewonnen hat. I Siehe die gelehrten Unterſuchungen in der Einleitung zum Viage de las Goeletas Sutil y Mexicana, 1802, ©. XXXIV, XXXVI, LVII. 2 [Der Name Neualbion ift von den heutigen Karten vollſtän⸗ dig verſchwunden. — D. Herausg.] — 278 — Unerachtet das ganze Litorale von Neukalifornien ſehr ſorgfältig von dem großen Seefahrer Sebaſtian Vizeayno (wie die Pläne beweiſen, die er 1602 ſelbſt verfertigt hat) unterſucht worden iſt, ſo beſetzten die Spanier dieſes ſchöne Land doch erſt 167 Jahre ſpäter. Der Madrider Hof fürchtete nämlich, daß andere europäiſche Seemächte auf der Nordweſt— küſte von Amerika Niederlaſſungen machen möchten, die den alten ſpaniſchen Kolonieen gefährlich werden könnten, und gab daher dem Vizekönig Chevalier de Croix und dem Viſi⸗ tador Galvez Befehl, in den Häfen von San Diego und Monterey Preſidios und Miſſionen anzulegen. Zu dieſem Zwecke liefen zwei Paketboote vom Hafen von San Blas aus und gingen im April 1763 vor San Diego in Anker. Eine andere Expedition kam zu Lande von Altkalifornien her. Seit Vizcayno hatte kein Europäer auf dieſen fernen Küſten gelandet, und die Indianer ſchienen daher ganz erſtaunt, be— kleidete Menſchen zu ſehen, ob ſie gleich wußten, daß weiter gegen Oſten Menſchen wohnten, deren Haut nicht kupferfarbig war. Man fand ſogar einige Geldſtücke unter ihnen, welche ſie wahrſcheinlich von Neumexiko erhalten hatten. Die erſten ſpaniſchen Koloniſten litten indes ſehr durch die Teuerung der Lebensmittel und durch eine anſteckende Krankheit, welche die Folge der ſchlechten Nahrung, der Mühſeligkeit und des Mangels an aller Unterſtützung war; beinahe alle erkrankten, und nur acht blieben geſund. Unter den letzteren befanden ſich zwei verehrungswürdige Männer, ein Geiſtlicher, der durch ſeine Reiſen bekannt iſt, Fray Junipero Serra, und der In— genieurchef Herr Coſtanzo, von dem wir oftmals im Laufe dieſes Werkes mit Lobe zu reden Gelegenheit gehabt haben. Ihr Geſchäft war, mit eigenen Händen die Gruben zu graben, die die Leichen ihrer Gefährten aufnehmen ſollten. Die Land— expedition brachte dieſer unglücklichen Kolonie erſt ſpät Hilfe, und die Indianer ſetzten ſich bei dieſer Gelegenheit, als ſie die Ankunft der Spanier anzeigten, auf Fäſſer, und ſtreckten die Arme in die Luft, um zu verſtehen zu geben, daß ſie die Weißen zu Pferde geſehen hätten. . So dürr und ſteinig der Boden von Altkalifornien iſt, jo gut bewäſſert und fruchtbar iſt der von Neukalifornien. Dieſes iſt eines der maleriſchten Länder, das man nur ſehen kann, und das Klima in demſelben viel milder, als unter gleicher Breite auf den Oſtküſten des neuen Kontinents. Der Himmel iſt neblig, aber die häufigen Nebel, die die Landung — 279 — auf den Küſten von Monterey und San Francisco ſo ſchwierig machen, geben der Vegetation außerordentliche Kraft, und dem Boden, welcher mit ſchwarzer ſchwammiger Erde bedeckt iſt, große Fruchtbarkeit. In den 18 Miſſionen, welche heutzutage in Kalifornien ſind, werden Weizen, Mais und Bohnen (Frijoles) im Ueberfluſſe gebaut. Auch Gerſte, Linſen und Kichererbſen, oder Garbanzos, kommen in dem größten Teile dieſer Provinz mitten auf den Feldern trefflich fort. Da die 36 Franziskaner, welche dieſe Miſſionen regieren, ſämtlich Europäer ſind, ſo haben ſie mit beſonderer Sorgfalt die meiſten europäiſchen Gemüſe und Fruchtbäume in die indianiſchen Gärten verpflanzt. Die erſten Koloniſten, welche 1769 hier: herkamen, fanden bereits im Inneren des Landes wilde Reben, die ſehr große, aber äußerſt ſaure Trauben trugen. Viel— leicht war es eine der vielen Vitisgattungen, welche Kanada, Louiſiana und Neubiscaya eigen ſind, und die von den Bo— tanikern nur noch unvollkommen gekannt ſind. Indes haben die Miſſionäre den Weinſtock (Vitis vinifera), deſſen Bau von den Griechen und Römern durch ganz Europa verbreitet worden, und der dem neuen Kontinent zuverläſſig fremd iſt, in Kalifornien eingeführt, und man macht in den Dörfern San Diego, San Juan Capiſtrano, San Gabriel, San Buenaventura, Santa Barbara, San Luis Obispo, Santa Clara und San Joſe, folglich längs der ganzen Küſte, ſüdlich und nördlich von Monterey, bis zum 37. Grad der Breite guten Wein. Auch der europäiſche Oelbaum wird mit dem beſten Erfolge bei dem Kanale von Santa Barbara, und beſonders bei San Diego gepflanzt, wo man ein Oel gewinnt, das ebenſo gut iſt, als das aus dem Thale von Mexiko oder aus Andaluſien. Zuweilen hindern freilich die ſehr kalten und heftigen Nord- und Nordweſtwinde die Früchte längs der Küſte am Reifwerden; daher hat auch das kleine Dorf Santa Clara, das 66 km von Santa Cruz liegt und durch eine Bergkette geſchützt iſt, beſſere Obſtgärten und reichlichere Ernten als das Preſidio von Monterey. An letzterem Orte zeigen die Geiſtlichen dem Reiſenden mit Vergnügen mehrere nütz— liche Vegetabilien, die von Samenkörnern kommen, welche Herr Thouin dem unglücklichen Lapérouſe gegeben hatte. Unter allen Miſſionen von Neuſpanien verraten die auf der Nordweſtküſte die ſchnellſten und auffallendſten Fort— ſchritte der Civiliſation. Da das Publikum die Nachrichten Lapérouſes, Vancouvers, und erſt neulich noch zweier ſpaniſcher — 280 — Seefahrer, der Herren von Galiano und Valdes, über den Zuſtand dieſer fernen Gegenden mit Teilnahme geleſen hat, ſo habe ich mir während meines Aufenthaltes in Mexiko die ſtatiſtiſchen Tabellen zu verſchaffen geſucht, welche der gegenwärtige Präſident der Miſſionen in Neukalifornien, der Pater Firmin Laſuen 1802 an Ort und Stelle ſelbſt (in San Carlos de Monterey) verfertigt hat. Aus dieſen Angaben muß man aber das Verhältnis zwiſchen den Geborenen und Geſtorbenen nicht ermeſſen wollen; denn unter den Getauften ſind auch die erwachſenen Indianer (los Neofitos) mit den Kindern in eine Klaſſe geworfen. Auch der Anſchlag der Produkte des Bodens, oder die Schätzung des Wertes der Ernten gibt überzeugende Beweiſe von dem Wachstum der Induſtrie und des Wohlſtandes in Neukalifornien. Die Fortſchritte des Ackerbaues, dieſe friedlichen Erobe— rungen der Induſtrie find um jo merkwürdiger, da die Ein: geborenen dieſer Küſte, zu großem Unterſchied von denen von Nutka und der Norfolkbai, noch vor 30 Jahren ein Nomaden⸗ volk waren, das ſich von Fiſcherei und Jagd nährte, und keine Art Vegetabilien anbaute. Die Indianer der Bai von San Francisco waren damals ſo elend, als die Bewohner der Diemensinſel, und nur in dem Kanale von Santa Bar⸗ bara findet man 1769 die Eingeborenen in der Kultur etwas weiter vorgerückt. Sie bauten z. B. große Häuſer von pyra⸗ midaliſcher Form, welche nahe aneinander ſtanden. Gut und gaſtfreundlich boten ſie den Spaniern Gefäße an, die mit vieler Kunſt aus Binſen geflochten waren. Dieſe Körbe, von denen Herr Bonpland mehrere in ſeinen Sammlungen beſitzt, ſind von innen mit einer ſehr dünnen Lage Asphalt über⸗ zogen, wodurch ſie für das Waſſer und die gegorenen Flüſſig⸗ keiten, die fie enthalten können, undurchdringlich werden. Der nördliche Teil von Neukalifornien wird von den zwei Nationen der Rumſen und der Escelen? bewohnt. Beide ſprechen völlig verſchiedene Sprachen und bilden die Bevöl— 1 Viage de la Sutil, S. 167. 2 Handſchrift des Paters Laſuen. Herr von Galiano nennt ſie Rumſien und Eslen. [Bei Stephen Powers, dem gründlichſten Kenner der kaliforniſchen Ethnologie, kommt eine wahre Unzahl kaliforniſcher Stämme vor, doch kennt er die beiden vorſtehenden Namen nicht. — D. Herausg.] an, nt — 281 — kerung des Preſidio und des Dorfes Monterey. In der San Franciscobai unterſcheidet man die Stämme der Matalanen, des Salſen und der Quiroten, deren Sprachen aus gemein— ſchaftlicher Quelle abſtammen. Mehrere Reiſenden, die ich über die Aehnlichkeit der mexikaniſchen oder aztekiſchen Sprache mit den Idiomen, die man auf der Nordweſtküſte des neuen Kontinents findet, reden hörte, ſchienen mir dieſe Aehnlichkeit zu übertreiben. Nach ſorgfältiger Unterſuchung der in Nutka und Monterey geſammelten Wörterbücher fielen mir freilich auch die Homotonie und die mexikaniſchen Endungen mehrerer Worte auf, wie z. B. in der Sprache der Bewohner von Nutka; apeuixitl (umarmen), temextixitl (küſſen), cocotl (Seeotter), hitltzitl (ſeufzen), tzitzimitz (Erde) und inicoat- zimitl (Name eines Monats). Im ganzen aber weichen die Sprachen von Neukalifornien und der Quadrainſel weſentlich von der aztekiſchen ab, wie man aus den Grundzahlen ſehen kann, die ich in folgender Tabelle zuſammengeſtellt habe. Sprache von | Meta Si | Se Nutka Sprache Sprache 1|Ce Pek Enjala e 2 Ome Ulhai Ultis Atla 3 Jei Julep Kappes Catza 4 | Nahui Jamajus Ultizim Nu 5 | Maecuillı Pamajala Haliizu Sutcha 6 | Chieuace Pegualanai |Halishakem |Nupu 7 | Chicome Julajualanai | Kapkamai- Atlipu shakem 8 | Chieuci Julepjualanai Ultumaisha- | Atleual kem 9|Chiucuahui | Jamajusjua- | Pakke Tzahuacuatl lanai 10 | Matlactli Tomoila Tamchaigt Ayo Die nutkiſchen Worte find aus einer Handſchrift des Herrn Mozifo, und nicht aus Cooks Wörterbuch gezogen, wo ayo mit haecoo, nu mit mo u. dgl. verwechſelt iſt. Der Pater Laſuen hat die Bemerkung gemacht, daß auf den Küſten von Neukalifornien, auf einer Länge von 1300 km, von San Diego nach San Francisco, 17 Sprachen geredet werden, welche doch nicht alle für Dialekte einiger — 282 — weniger Mutterſprachen angeſehen werden können. Darüber wird ſich indes niemand wundern, der die merkwürdigen Unterſuchungen der Herren Jefferſon, Volney, Barton, Hervas, Wilhelm von Humboldt, Vater und Friedrich Schlegel! über die mexikaniſchen Sprachen kennt. Die Bevölkerung von Kalifornien würde ſich noch viel ſchneller vermehrt haben, wenn die Geſetze, nach denen die ſpaniſchen Preſidios ſeit Jahrhunderten beherrſcht werden, nicht den wahren Intereſſen des Mutterlandes und der Kolo— nieen geradezu entgegen wären. Nach dieſen Geſetzen iſt es den in Monterey liegenden Soldaten nicht erlaubt, außer ihren Kaſernen zu leben und ſich als Koloniſten niederzulaſſen. Die Mönche ſind überhaupt den Anſiedelungen von Menſchen der weißen Kaſte entgegen, weil ſich dieſe als Leute, die denken (Gente de razon),? nicht zu jo blindem Gehorſam bequemen, wie die Indianer. „Es iſt ſehr niederſchlagend,“ ſagt ein aufgeklärter und unterrichteter Seemann,“ „daß die Soldaten, welche ein beſchwerliches und arbeitvolles Leben führen, ſich in ihrem Alter nicht in dem Lande niederlaſſen und dem Ackerbau ergeben dürfen. Dieſes Verbot, in den Umgebungen vom Preſidio Häuſer zu bauen, iſt allen Regeln einer geſun⸗ den Politik entgegen. Erlaubte man den Weißen, ſich mit dem Anbau des Bodens und der Viehzucht zu befaſſen, dürften ſich die Soldaten, durch Anſiedelung ihrer Weiber und Kinder auf einzeln ſtehenden Pachthöfen einen Zufluchtsort gegen die Dürftigkeit bereiten, der fie in ihrem Alter nur zu oft ausge— ſetzt ſind, ſo würde Neukalifornien in kurzer Zeit eine blühende Kolonie und ein für die ſpaniſchen Seefahrer, die den Handel nach Peru, Mexiko und den Philippiniſchen Inſeln treiben, äußerſt nützlicher Zufluchts- und Ausruhort ſein.“ Wären dieſe eben angeführten Hinderniſſe aufgehoben, ſo würden ſich die 1 Man ſehe das klaſſiſche Werk des Herrn Schlegel über die Sprache, Philoſophie und Poeſie der Hindu, in welchem man große Anſichten des Mechanismus, und ich möchte faſt jagen, der Organi— ſation der Sprachen auf beiden Kontinenten findet. 2 In den indianiſchen Dörfern unterſcheidet man den Ein— geborenen von dem Gente de razon. Die Weißen, die Mulatten, die Neger und alle nicht indianiſchen Kaſten heißen vernünftige Leute, eine Demütigung für die Eingeborenen, die in den Jahr— hunderten der Barbarei ihren Urſprung genommen hat. Tagebuch des Don Dioniſio Galiano. 1 — 283 — Maluiniſchen Inſeln, die Miſſionen am Rio Negro und die Küſten von San Francisco und von Monterey mit einer Menge Weißer bevölkern. Aber welch ein großer Unterſchied herrſcht zwiſchen den Koloniſationsgrundſätzen der Spanier und denen, wodurch Großbritannien in wenigen Jahren Dörfer auf der Oſtküſte von Neuholland angelegt hat! Die Rumſen- und Escelenindianer teilen mit den Völkern von aztekiſcher Raſſe und mit mehreren Stämmen des nörd— lichen Aſiens den entſchiedenen Geſchmack an heißen Bädern. Die Temazcalli, die man noch in Mexiko findet, und von denen der Abbe Clavigero einen genauen Abriß gegeben hat, ſind wahre Dunſtbäder. Der aztekiſche Indianer bleibt in einem heißen Ofen ausgeſtreckt, deſſen Boden unaufhörlich mit Waſſer begoſſen wird, und die Bewohner von Neukali— fornien nehmen das Bad, welches der berühmte Franklin einſt unter dem Namen des heißen Luftbades ſo ſehr empfohlen hat. Auch findet man bei jeder Hütte in den Miſſionen ein kleines gewölbtes Gebäude, in Form eines Temazcalli, in das ſich die Indianer, ſo wie ſie von ihrer Arbeit zurückkommen, und wenige Augenblicke, nachdem das Feuer ausgelöſcht iſt, hineinlegen. Da bleiben ſie dann eine Viertelſtunde lang, und wenn ſie vom Schweiße ganz durchnäßt ſind, werfen ſie ſich in das kalte Waſſer irgend eines benachbarten Baches, oder ſie wälzen ſich auch im Sande. Dieſer ſchnelle Ueber— gang von der Hitze zur Kälte, dieſe plötzliche Unterbrechung der Hautausdünſtung, die der Europäer mit allem Rechte fürchtet, erregt dem Wilden eine angenehme Empfindung, indem ihm alles, was ihn ſehr ſtark ergreift oder reizt, alles, was gewaltſam auf ſein Nervenſyſtem zurückwirkt, Ge— nuß iſt. Seit einigen Jahren beſchäftigen ſich die Indianer, welche die Dörfer von Neukalifornien bewohnen, damit, daß ſie grobe wollene Stoffe, Frisadas genannt, weben. Ihre Haupt⸗ beſchäftigung aber, welche ein ſehr ergiebiger Handelszweig werden könnte, iſt die Zubereitung der Hirſchhäute. Es ſcheint mir daher der Mühe wert, hier dasjenige mitzuteilen, was ich in den Handſchriften des Obriſt Coſtanzo über die Tiere, welche die Gebirge zwiſchen San Diego und Monterey! [A. v. Humboldt kennt hier noch nichts als die ſogenannte Coaſt Range von Kalifornien. Der Sierre Nevada thut er noch mit keiner Silbe Erwähnung. — D. Herausg.] — 284 — bewohnen und über die beſondere Geſchicklichkeit gefunden habe, womit die Indianer die Hirſche zu fangen verſtehen. ö Auf den ziemlich niedrigen Kordilleren, die ſich an der Küſte hinziehen, ſowie in den an ſie ſtoßenden Steppen findet man weder Büffel noch Elentiere. Auf dem Gebirgskamme, der ſich im November mit Schnee bedeckt, weiden bloß Beren— deros mit kleinen Gemſenhörnern, von denen wir oben ge— ſprochen haben. Aber alle Wälder und alle mit Gras be— deckten Ebenen wimmeln von Herden von Hirſchen von rieſenmäßiger Größe, rundem und äußerſt anſehnlichem Ge— weih. Oft ſieht man ihrer 40 oder 50 auf einmal. Sie ſind alle von gleicher brauner Farbe, ohne Flecken und ihr Geweih, deſſen Krone nicht platt iſt, hat nahe an 115 cm Länge. Alle Reiſenden verſichern, daß dieſer große Hirſch von Neukalifornien eines der ſchönſten Tiere im ſpaniſchen Amerika ſei. Wahrſcheinlich iſt es von Herrn Hearnes We— wakiſh oder dem Elk der Einwohner der Vereinigten Staaten verſchieden, aus welchem die Naturhiſtoriker unrichtigerweiſe zwei Gattungen, einen Cervus canadensis und den Cervus Strongyloceros! machen. Dieſe neukaliforniſchen Hirſche, die man in Altkalifornien nicht findet, waren ſchon dem See— fahrer Sebaſtian Bizcayno aufgefallen, als er am 15. De: zember 1602 im Hafen von Monterey vor Anker ging. Er verſichert, „daß er welche geſehen habe, deren Geweih 3 m Länge hatte“. Dieſe Venados laufen mit rückwärts geboge— nem Halſe und das Geweih auf den Rücken geſtützt, außer— ordentlich ſchnell, und die Pferde von Neubiscaya, die für vortreffliche Läufer gelten, ſind nicht imſtande, ihnen gleich zu laufen, außer in dem Augenblicke, wenn das Tier, wel— ches nur ſelten trinkt, ſeinen Durſt geſtillt hat. Dann iſt es zu ſchwerfällig, um alle feine Muskelkraft zu ent: wickeln und wird mit Leichtigkeit eingeholt. Der Reiter, welcher es verfolgt, bemeiſtert es damit, daß er eine Schlinge nach ihm wirft, wie man es in allen ſpaniſchen Kolonieen mit den wilden Pferden und Ochſen macht. Die Indianer Es herrſcht noch viele Ungewißheit über die ſpezifiſchen Charaktere, welche die großen und kleinen Hirſche (Venados) des neuen Kontinents unterſcheiden. Man ſehe die merkwürdigen Unterſuchungen des Herrn Cuvier in feinem Mémoire sur les os fossiles des ruminans. Annales du Museum, année VI, S. 353. — 285 — hingegen wenden ein anderes, ſehr ſinnreiches Kunſtſtück an, um ſich den Hirſchen zu nähern und ſie zu töten. Sie ſchneiden einem Venado, der ein ſehr langes Geweih hat, den Kopf ab, leeren ihm den Hals aus und ſetzen ihn ſich auf das Haupt. So maskiert und zugleich mit Bogen und Pfeilen bewaffnet, verbergen ſie ſich in ein Gebüſch oder in hohes, ſtruppiges Gras, ahmen die Bewegungen eines weidenden Hirſches nach und locken ſo die Herde herbei, welche ſich durch dieſe Liſt betrügen läßt. Herr Coſtanzo hat dieſe außerordent— liche Jagd auf den Küſten des Santa Barbarakanales geſehen, und die Offiziere auf den Goeletten Sutil und Mexicana beob— achteten ſie 24 Jahre nachher in den Steppen um Monterey.“ Vielleicht waren die ungeheuren Hirſchgeweihe, welche Monte— zuma Cortez' Waffengefährten als Seltenheiten zeigte, von den Neukaliforniſchen Venados. Ich habe deren zwei geſehen, die man in dem alten Monumente von Kochicalco gefunden hat und in dem Palaſte des Vizekönigs hg Trotz der wenigen inneren Kommunikation, welche im 15. Jahr⸗ hundert im Königreiche Anahuac ſtattfand, wäre es doch nichts Außerordentliches, wenn dieſe Hirſchgeweihe von Hand zu Hand vom 35. bis 20. Grad der Breite gelangt ſein würden, ſo wie wir ja auch die ſchönen braſilianiſchen Bitterſteine (Piedr as de Mahagua) bei den Kariben finden, welche der Mündung des Orinoko zunächſt leben. Da die ruſſiſchen und ſpaniſchen Niederlaſſungen bis jetzt die einzigen europäiſchen Kolonieen auf der Nordweſtküſte von Amerika waren, ſo halte ich es für nützlich, alle Miſſionen aufzuzählen, welche bis zu Anfang des Jahres 1803 angelegt waren. Dieſe ausführliche Nachricht wird beſonders dann merkwürdig, wenn die Bewohner der Vereinigten Staaten Luſt zu einer Bewegung nach Weſten gegen die Küſten des Großen Ozeanes hin zeigen, welche, China gegenüberſtehend, an ſchönen Seeotterfellen den größten Ueberfluß haben. Die Miſſionen von Neukalifornien folgen von Süden nach Norden einander in folgender Ordnung: San Diego, ein im Jahre 1769 angelegtes Dorf, 110 km von der nördlichſten Miſſion von Altkalifornien. San Luis Rey de Francia, ein Dorf, angelegt 1798. San Juan Capishano, Dorf, angelegt 1776. San Gabriel, Dorf, angelegt 1771. 1 Fiage a Fuca, ©. 164. — 286 — San Fernando, Dorf, angelegt 1797. San Buenaventura, Dorf, angelegt 1782. Santa Barbara, Dorf, angelegt 1786. La puriſima Concepcion, Dorf, angelegt 1787. San Luis Obispo, Dorf, angelegt 1772. San Miguel, Dorf, angelegt 1797. Soledad, Dorf, angelegt 1791. San Antonio de Padua, Dorf, angelegt 1771. San Carlos de Monterey, Hauptſtadt von Neukalifornien und 1770 am Fuße der Kordillere von Santa Lucia ge— gründet, welche mit Eichen, Pinien (foliis ternis) und Roſen⸗ ſträuchern bedeckt iſt. Das Dorf liegt 15 km von dem Preſidio gleichen Namens entfernt. Es ſcheint, als ob Ca: brillo bereits am 15. November 1542 die Bai von Monterey unterſucht und ſie wegen der ſchönen Pinien, welche die be— nachbarten Gebirge krönen, die Bahia de los Pinos genannt hat. Ihren gegenwärtigen Namen erhielt ſie 60 Jahre ſpäter von Vizcayno, und zwar dem damaligen Vizekönig von Mexiko, Gaſpar de Zuniga Grafen von Monterey zu Ehren, einem thätigen Manne, dem man die Unternehmung großer See: expeditionen verdankt und der den Juan de Date zur Er: oberung von Neumexiko aufgemuntert hat. San Juan Baptiſta, Dorf, angelegt 1797. Santa Cruz, Dorf, angelegt 1794. Santa Clara, Dorf, angelegt 1770. San Joſe, Dorf, angelegt 1797. San 1 ein Dorf, angelegt 1776, mit einem ſchönen Hafen, den die Geographen oft mit dem Drakushafen verwechſeln, welcher weiter gegen Norden unter 38° 10“ der Breite liegt und von den Spaniern Puerto de Botega ge— nannt wird. Die Anzahl der Weißen, der Meſtizen und Mulatten, welche in Neukalifornien entweder in den Preſidios oder im Dienſte der Franziskanermönche leben, iſt unbekannt. Ich glaube, daß ſie über 1300 Menſchen gehen kann; denn in den beiden Jahren 1801 und 1802 zählte man in der Kaſte der Weißen und derer von gemiſchtem Blute 35 Heiraten, 182 Taufen und 82 Todesfälle. Auf dieſen Teil der Bevölkerung dürfte die Regierung indes zur Verteidigung der Küſten nicht zählen, wenn irgend eine europäiſche Seemacht hier einen Angriff ver— ſuchen wollte. a Nachdem wir das Gemälde der Provinzen entworfen haben, welche das große mexikaniſche Reich bilden, müſſen wir noch einen flüchtigen Blick auf die Küſten des Großen Ozeanes werfen, welche ſich von dem Hafen von San Francisco und dem Kap Mendocino bis nach den Niederlaſſungen er— ſtrecken, welche die Ruſſen in der Prinz Wilhelmsbai (Prince William's Sound) angelegt haben. Dieſe Küſten wurden ſchon ſeit dem Ende des 16. Jahr⸗ hunderts von ſpaniſchen Schiffern befahren. Erſt 1774 aber ließen ſie die Vizekönige von Neuſpanien ſorgfältig unter: ſuchen. Eine ganze Zahl von Expeditionen, welche von den Häfen von Acapulco, San Blas und Monterey auf Ent— deckungen ausgingen, folgten ſich bis aufs Jahr 1792. Die Kolonie, welche die Spanier auf Nutka gründen wollten, hat einige Zeitlang die Aufmerkſamkeit aller europäiſchen See⸗ mächte auf ſich gezogen. Einige Schuppen, die man auf der Küſte aufſchlug, eine erbärmliche Baſtion, welche mit Stein⸗ ſtücken verteidigt ward und einiger Kohl, den man in einem Gehege pflanzte, entzündeten beinahe einen blutigen Krieg zwiſchen Spanien und England, und nur durch die Zerſtörung der Niederlaſſung auf der Quadra- oder Vancouversinſel hat der Tays oder Fürſt von Nutka, Macuina, ſeine Unabhängig⸗ keit erhalten. Seit 1786 haben verſchiedene europäiſche Na⸗ tionen dieſe Gegenden wegen des Handels mit Seeotterfellen beſucht. Allein da zu viele kamen, hatte es ſowohl für ſie ſelbſt als für die Eingeborenen nachteilige Folgen. Der Preis des Pelzwerkes ſtieg auf den Küſten von Amerika, während er in China außerordentlich ſank. Die Sittenverderbnis nahm bei den Indianern zu und die Europäer ſuchten im Geiſte derſelben Politik, welche die afrikaniſchen Küſten mit ſo vielem Blute befleckt hat, aus einer Uneinigkeit der Tays Nutzen zu ziehen. Verſchiedene Matroſen, und gerade die allerliederlichſten, riſſen aus und ließen ſich unter den Ein— geborenen nieder. Daher bemerkt man in Nutka wie auf den Sandwichinſeln bereits ein abſcheuliches Gemiſch von Barbarei der Urzeit mit den Laſtern des verfeinerten Europas. Unmöglich kann man glauben, daß die Bewohner für dieſe wirklichen Uebel durch einige Gemüſegattungen des alten Kontinentes, welche die Reiſenden in dieſe fruchtbaren Gegenden verpflanzt haben und die in der Liſte der Wohlthaten prangen, mit welchen die Europäer die Bewohner der Inſeln des Cro.en Ozeanes überhäuft zu haben ſich rühmen, entſchädigt worden ſind. — 288 — Im 16. Jahrhundert, in der ruhmvollen Zeit, da die ſpaniſche Nation, durch ein Zuſammentreffen außerordentlicher Umſtände begünſtigt, alle Hilfsmittel ihres Genies und ihre ganze Charakterkraft in hoher Freiheit entwickelte, beſchäftigte das Problem einer Durchfahrt gegen Nordweſten, um den geraden Weg nach Oſtindien zu finden, die kaſtiliſchen Köpfe ebenſo warm, als es ſeit 30 und 40 Jahren den Geiſt anderer Nationen bewegt hat. Wir wollen die apokryphiſchen Reiſe— beſchreibungen eines Ferrer, Maldonado, Juan de Fuca und Bartolomé Fonte nicht anführen, auf welche man ſo lange einen übertriebenen Wert geſetzt hat. Die meiſten Unwahr— heiten, die unter dem Namen von dieſen drei Schiffern im Umlaufe waren, ſind durch die mühſeligen und gelehrten Unterſuchungen mehrerer ſpaniſchen Marineoffiziere in ihrer Blöße gezeigt worden.“ Statt beinahe fabelhafte Namen an: zuführen und uns in ungewiſſe Hypotheſen zu verlieren, werden wir bloß das angeben, was durch hiſtoriſche Dokumente un⸗ bezweifelbar erwieſen iſt. Folgende Nachrichten welche zum Teil aus den handſchriftlichen Memoiren von Don Antonio Bonilla und Herrn Caſaſola, die in den Archiven der Vize— könige von Mexiko aufbewahrt werden, gezogen ſind, enthalten n deren Zuſammenſtellung die Aufmerkſamkeit der Leſer gewinnen kann. Wenn wir ſozuſagen das mannig- faltige Gemälde der Nationalthätigkeit entwickeln, wie ſie bald aufwachte, bald ſchlummerte, ſo werden dieſe Nachrichten ſelbſt diejenigen intereſſieren, welche nicht glauben, daß ein von freien Menſchen bewohntes Land derjenigen europäiſchen Nation, die es zuerſt geſehen, darum angehöre. Die Namen Cabrillo „und Gali find nicht jo berühmt geworden, wie die von Fuca und Fonte. Die Wahrheit hat in der Erzählung eines beſcheidenen Schiffers den Reiz und das Hinreißende der Täuſchung nicht. Juan Rodriguez Cabrillo unterſuchte die Küſten von Neukalifornien bis zu 37 10“, oder bis zur Punta del Ano Nuevo, nördlich von Memoire von Don Ciriaco Cevallos. Unterſuchungen, welche Don Auguſtin Cean in den Archiven von Sevilla angeſtellt hat. Hiſtoriſche Einleitung in die Reiſe von Galiano und Valdes. S. XLIX bis LVI. und S. LXXVI bis LXXXIII. Trotz aller meiner Nachforſchungen war ich doch nicht imſtande, in Neuſpanien ein einziges Dokument zu finden, in welchem der Pilote Fuca oder der Admiral Fonte genannt geweſen wäre. — 289 — Monterey. Er ſtarb (den 3. Januar 1543) auf der Inſel San Bernardo, beim Kanale von Santa Barbara; allein ſein Pilote, Bartolomé Ferrelo, ſetzte ſeine Entdeckungen nordwärts bis zum 43. Grad der Breite fort, wo er die Küſten vom Weißen Vorgebirge ſah, welches Vancouver das Kap Oxford ge— nannt hat.! Francisco Gali entdeckte auf ſeiner Reiſe von Macao nach Acapulco im Jahre 1582 die Küſte des nordweſtlichen Amerikas unter 57° 30“. Auch er bewunderte, wie alle, die nach ihm Neukornwallis beſucht haben, die Schönheit der koloſſalen Gebirge, deren Spitze mit ewigem Schnee bedeckt und deren Fuß mit ſchöner Vegetation geſchmückt iſt. Wenn man die alten Beobachtungen an den Orten, deren Identität anerkannt iſt, durch die neuen verbeſſert,? ſo findet man, daß Gali einen Teil des Archipels von Prinz Wallis oder des von König Georg durchſegelt hat. Sir Francis Drake (1578) war nicht weiter in Neugeorgien gekommen als bis zum 48. Grad der Breite, nordwärts vom Kap Grenville. Von den beiden Expeditionen, welche Sebaſtian Vizeayno 1596 und 1602 unternommen hat, war nur die letztere nach den Küſten von Neukalifornien gerichtet. Die 32 Karten, welche der Kosmograph Heinrich Martinezs zu Mexiko ver— fertigte, beweiſen, daß Vizcayno dieſe Küſten mit weit mehr Sorgfalt und Einſicht aufgenommen, als kein anderer Pilote je vor ihm gethan hat. Indes verhinderten ihn die Krank— heiten ſeiner Mannſchaft, der Mangel an Lebensmitteln und die außerordentliche ſtrenge Jahreszeit, jenſeits des Kaps San Sebaſtian vorzudringen, das unter dem 42. Grad der Breite, etwas nördlich von der Dreieinigkeitsbai liegt. Nur ein einziges Schiff von Vizcaynos Expedition, die von Antonio Florenz kommandierte Fregatte kam über das Kap Mendocino hinaus, und gelangte unter den 43. Grad der Breite, an die Mündung eines Fluſſes, den Cabrillo ſchon 1543 gekannt zu haben ! Zufolge einer Handſchrift in dem Archivo general de Indias in Madrid. 2 Dieſe Verbeſſerungen find überall in dieſem Werke, wo die Breiten, unter welche die alten Schiffer gekommen, angeführt find, vorgenommen worden. » Der nämliche, von dem wir oben bei der Geſchichte des Desague Real de Huehuetoca geſprochen haben. A. v. Humboldt, Neupſanien. I. 19 — 290 — ſcheint, und welchen der Fähnrich Martin de Aguilar für das weſtliche Ende der Meerenge von Anian! gehalten hat. Indes muß man dieſen Eingang oder Fruß des Aguilar, den man zu unſerer Zeit nicht mehr finden konnte, nicht mit der Mündung des Rio Kolumbia (46° 15“ Breite) vermed): ſeln, der durch die Reiſen von Vancouver, Gray und des Kapitän Lewis berühmt geworden iſt. Mit Gali und Vizcayno endigt ſich die glänzende Epoche der Entdeckungen, welche die Spanier in alten Zeiten auf der Nordweſtküſte von Amerika gemacht haben. Die Geſchichte der Schiffahrten des 17. und der erſten Hälfte des 18. Jahr⸗ hunderts enthält keine Unternehmung, welche von den mexikani— ſchen Küſten nach dieſem ungeheuren Litorale gemacht worden wäre, das ſich von dem Kap Mendocino bis an die Grenzen von Oſtaſien erſtreckt. Statt der ſpaniſchen Flagge ſah man in dieſen Gegenden (1741) nur die ruſſiſche von den Schiffen wehen, welche die beiden mutigen Seemänner Bering und Tſchirikow befehligten. Nach einer Friſt von beinahe 170 Jahren richtete der Hof von Madrid ſeine Blicke wiederum auf die Küſten des Großen Ozeans. Indes war es nicht bloß das Verlangen, für die Wiſſenſchaften nützliche Entdeckungen zu machen, das die Regierung aus ihrer Lethargie erweckte, ſondern mehr die Beſorgnis, auf ihren nördlichſten Beſitzungen in Neuſpanien angegriffen zu werden, da ſie europäiſche Niederlaſſungen in der Nähe von ihren kaliforniſchen entſtehen ſah. Von allen ſpaniſchen Expeditionen, welche von 1774 bis 1792 unter: nommen wurden, waren nur die beiden letzteren eigentliche Entdeckungsausrüſtungen. Sie wurden von Offizieren befehligt, deren Arbeiten ausgebreitete Kenntniſſe in der nautiſchen Aſtronomie verraten. Die Namen Alexander Malaſpina, Galiano, Eſpinoſa, Valdes und Vernaci werden in dem Ver— zeichnis der unterrichteten und mutigen Seefahrer, denen die Welt genaue Nachrichten über die Nordweſtküſte des neuen 1 Die Meerenge von Anian, welche mehrere Geographen mit der Meerenge von Bering verwechſeln, bezeichnet im 16. Jahrhun⸗ dert die Hudſonmeerenge, und erhielt ihren Namen von einem der beiden Brüder, die ſich auf dem Schiffe des Gaſpar von Cortereal befanden. Man ſehe die gelehrten Unterſuchungen des Herrn von 0 in der hiſtoriſchen Einleitung zu Marchands Reiſe. Bd. I, S. 5. — 291 — Kontinents verdankt, immer einen ehrenvollen Platz behaup— ten. Konnten ihre Vorgänger ihren Operationen nicht ſo viel Vollkommenheit geben, ſo war es, weil ſie von den Häfen von San Blas oder Monterey ausliefen, wo es ihnen an In— ſtrumenten und anderen Hilfsmitteln fehlte, die das civiliſierte Europa anbietet. Die erſte wichtige Ausrüſtung, welche nach des Vizcaynos Reiſe gemacht wurde, iſt die von Juan Perez, der die Kor— vette Santiago, ſonſt Nueva Galicia genannt, kommandierte. Da weder Cook, noch Barrington, noch Herr Fleurieu von dieſer wichtigen Reiſe Kenntnis gehabt zu haben ſcheinen, ſo will ich hier verſchiedene Umſtände, aus einem handſchriftlichen Tagebuche! gezogen, mitteilen, welche ich der Güte des Herrn Don Guillermo Aguirre, Mitglied der Audiencia von Mexiko verdanke. Perez und ſein Pilote, Eſtevan Joſe Martinez, liefen den 24. Januar 1774 aus dem Hafen von San Blas aus. Sie hatten Befehl, die ganze Küſte von dem Hafen von St. Karl von Monterey bis zum 60. Grad der Breite zu unter— ſuchen. Da ſie in Monterey eingelaufen waren, ſo gingen fie den 7. Juni aufs neue unter Segel. Den 20. Juli ent: deckten ſie die Inſel Margareta (die Nordweſtſpitze der Königin Charlotteninſel),? und die Meerenge, welche dieſe Inſel von der des Prinz von Wallis ſcheidet. Den 9. Auguſt gingen ſie, als die erſten unter allen europäiſchen Seefahrern, auf der Reede von Nutka vor Anker, die ſie den Hafen von San Lorenzo nannten, und welchem der berühmte Cook vier Jahre ſpäter den Namen King George's Sound gegeben hat. Sie trieben einigen Tauſchhandel mit den Indianern, bei welchen ſie Eiſen und Kupfer ſahen, und gaben ihnen Hacken und Meſſer für Leder und Seeotterpelze. Perez konnte wegen ſchlechten Wetters und hoher, ſtürmiſcher See nicht ans Land gehen, und ſeine Schaluppe wäre bei einem Landungsverſuche, den ſie machte, beinahe zu Grunde gegangen. Die Korvette ſah ſich ſogar genötigt, ihre Taue abzuſchneiden und die Anker im Stiche zu laſſen, und die Weite zu gewinnen. Die Einge— Dieſes Tagebuch war von zwei Mönchen, dem Fray Juan Creſpi und dem Fray Tomas de la Vena, die fi) auf der Kor: vette Santiago befanden, gehalten worden. Mit dieſen Nachrichten kann man dasjenige ergänzen, was in der Reiſe der Sutil S. XCII bekannt gemacht worden iſt. 2 Die Entrada de Perez auf den ſpaniſchen Karten. — 292 — borenen ſtahlen verſchiedene Dinge, welche Perez und ſeiner Mannſchaft gehörten, und dieſer Umſtand, den das Tagebuch des Paters Creſpi ausdrücklich anführt, mag das berühmte Problem von den ſilbernen Löffeln und anderen Fabrikartikeln erklären, welche der Kapitän Cook 1778 bei den Indianern von Nutka gefunden hat. Die Korvette Santiago kehrte den 27. Auguſt 1774 wieder nach Monterey zurück, nachdem ſie 8 Monate in See geweſen war. Im folgenden Jahre verließ eine zweite Expedition unter dem Befehl von Don Cruno Heceta, Don Juan de Ayala, und Don Juan de la Bodega y Quadra den Hafen von San Blas. Dieſe Reiſe, welche die Entdeckung der Nord— weſtküſte ganz beſonders erweitert hat, iſt durch das Tagebuch des Piloten Maurelle bekannt, welches von Barrington be— kannt gemacht und den Inſtruktionen des unglücklichen La⸗ pérouſe beigefügt worden iſt. Quadra entdeckte die Mündung des Rio Colombia, welche die Einfahrt von Heceta genannt wurde, den Pik von San Jacinto (Mount Edgecumbe) bei der Bai von Norfolk, und den ſchönen Hafen von Bucareli (55° 24° der Breite), der, wie wir durch Vancouvers Unter: ſuchungen wiſſen, zur Weſtküſte der großen Inſel in dem Prinz Wallisarchipel gehört. Dieſer Hafen iſt von ſieben Vulkanen umgeben, deren mit ewigem Schnee bedeckte Gipfel Feuer und Aſche auswerfen. Herr Quadra fand daſelbſt eine Menge Hunde, deren ſich die Indianer zu ihren Jagden bedienten. Ich beſitze zwei kleine, aber ſehr merkwürdige Karten,! welche 1788 in der Stadt Mexiko geſtochen worden 1 Carta geografica de la costa occidental de la California situada al Norte de la linea sobre el mar asiatico, que se discubrid en los anos de 1769 y 1775 par el Teniente de Navio Don Juan Francisco de Bodega y Quadıa, y por el Alferez de fregata, Don Jose Canizares, desde los 17 hasta los 58 grados. Auf dieſer Karte ſcheint die Küfte faſt ganz ohne Einfahrten und Inſeln zu fein. Man ſieht da die Enſenada de Ezeta (Rio Colombia) und die Einfahrt von Juan Perez; allein man findet den Namen des San Lorenzohafens (Nutka) nicht, welchen dieſer Perez 1774 geſehen hatte. — Plan del gran puerto de San Francisco discubierto por Don José de Canizares en el mar asiatico. Vancouver unterſcheidet die Häfen von San Fran: cisco, von Sir Francis Drake und von Bodega als drei verſchie— dene Häfen. Herr Fleurieu hingegen ſieht alle drei für identiſch an. S. Voyage de Marchand, Bd. I. S. LIV. Quadra glaubt, — 293 — ſind und die Lage der Küſten vom 17. bis zum 58. Grad der Breite darſtellen, wie ſie während Quadras Expedition aufgenommen wurden. Im Jahre 1776 befahl der Hof von Madrid dem Vize— könig von Mexiko, eine neue Expedition zur Unterſuchung der Küſten von Amerika bis zum 70. Grad der Nordbreite auszurüſten. Zu dieſem Zwecke wurden zu Guayaquil zwei Korvetten, La Princeſa und La Favorita erbaut; allein dieſer Bau ging ſo langſam, daß die von Quadra und Don Ignacio Arteaga befehligte Expedition erſt den 11. Februar 1779 vom Hafen von San Blas aus unter Segel gehen konnte. In— zwiſchen hatte Cook gerade dieſe Küſten beſucht. Quadra und der Pilote Don Francisco Maurelle unterſuchten aufs ge— naueſte den Hafen von Bucareli, den Sankt Eliasberg, die Magdaleneninſel, welche Vancouver die Inſel Hinchinbrock (60% 25° der Breite) genannt hat, und die am Eingang der Prinz Wilhelmsbai liegt, und die Inſel Regla, eine der unfruchtbaren Inſeln im Cooksſtrom. Die Expedition kam den 21. November 1779 wieder nach San Blas zurück. Ich finde in einer Handſchrift, welche ich in Mexiko erhalten habe, daß die Schieferfelſen in der Nähe des Hafens von Bucareli, auf der Prinz Wallisinſel, Metallgänge enthalten. Der denkwürdige Krieg, durch welchen ein großer Teil des nördlichen Amerikas ſeine Freiheit erhalten hat, verhin— derte die Vizekönige von Mexiko, die Entdeckungsunterneh— mungen nordwärts vom Kap Mendocino zu verfolgen. Der Hof von Madrid befahl, die Expeditionen ſo lange, als die Feindſeligkeiten zwiſchen Spanien und England dauern wür— den, zu verſchieben. Dieſer Aufſchub verlängerte ſich noch geraume Zeit nach dem Frieden von Verſailles, und erſt im Jahre 1788 liefen zwei ſpaniſche Schiffe, die Fregatte La Prin— ceſa und das Paketboot San Carlos, unter dem Befehle von Don Eſtevan Martinez und Don Gonzalo Lopez de Haro mit dem Plane, die Lage und den Zuſtand der ruſſiſchen Nieder: laſſungen auf der Nordweſtküſte von Amerika zu unterſuchen, aus dem Hafen von San Blas aus. Die Exiſtenz dieſer Niederlaſſungen, von der man in Madrid erſt ſeit der Be— kanntmachung von des berühmten Cooks dritter Reiſe Kunde erhalten zu haben ſcheint, beunruhigte die ſpaniſche Regierung wie wir weiter oben bemerkt haben, daß Drake im Hafen von Bo: dega vor Anker gelegen habe. — 294 — ſehr. Sie ſah es ungern, daß der Pelzwerkhandel engliſche, franzöſiſche und amerikaniſche Schiffe nach einer Küſte lockte, welche vor der Rückkehr des Lieutenants King nach London jo wenig von den Europäern beſucht worden war als Nuyts— land oder Endrachtsland in Neuholland. Die Expedition von Martinez und Haro dauerte vom 8. März bis zum 5. Dezember 1788. Dieſe Seefahrer ſteuer⸗ ten vom Hafen von San Blas geradezu nach der Prinz Wilhelmseinfahrt, welche die Ruſſen den Golf Tſchugatskaja nennen. Sie beſuchten den Cooksſtrom, die Inſeln Kichtak (Kodiak), Schumagin, Unimak und Unalaſchka. In den ver— ſchiedenen ruſſiſchen Faktoreien, welche ſie im Cooksſtrome und auf Unalaſchka fanden, wurden ſie ſehr freundſchaft— lich behandelt, und man teilte ihnen ſogar mehrere Karten mit, welche die Ruſſen von dieſen Gegenden aufgenommen hatten. In den Archiven der Vizekönige in Mexiko fand ich einen dicken Folioband mit dem Titel: Reconoeimiento de los quatro establecimientos Rusos al Norte de la Cali- fornia, hecho en 1783. Indes liefert die hiſtoriſche Beſchrei— bung von Martinez' Reiſe, welche in dieſer Handſchrift enthalten iſt, nur ſehr wenige Angaben über die ruſſiſchen Kolo— nieen im neuen Kontinent. Niemand von der Mannſchaft verſtand ein Wort Ruſſiſch, und man konnte ſich nicht anders als durch Zeichen verſtändlich machen, indem man bei dieſer ſo fernhin unternommenen Expedition vergeſſen hatte, einen Dolmetſcher aus Europa kommen zu laſſen. Der Nachteil, der hieraus entſprang, war unverbeſſerlich. Uebrigens würde Herr Martinez in dem ganzen Umfange des ſpaniſchen Amerikas nicht leichter einen Ruſſen gefunden haben, als es Sir George Staunton geworden iſt, einen Chineſen in England oder in Frankreich aufzutreiben. Seit den Reiſen von Cook, Dixon, Portlock, Mears und Duncan fingen die Europäer an, den Hafen von Nutka als den hauptſächlichſten Pelzmarkt auf der Nordweſtküſte von Amerika anzuſehen. In dieſer Rückſicht that der Madrider Hof im Jahre 1789, was er 15 Jahre früher, ſogleich nach Juan Perez' Reiſe, viel leichter ausgeführt hätte. Herr Mar: tinez, welcher die ruſſiſchen Faktoreien beſucht hatte, erhielt Befehl, eine dauernde Niederlaſſung auf Nutka zu gründen, und den Teil der Küſte (zwiſchen dem 50. und 55. Grad der Breite), welche der Kapitän Cook auf ſeiner Fahrt nicht hatte aufnehmen können, aufs genaueſte zu unterſuchen. — MW — Der Hafen von Nutka befindet ſich auf der öſtlichen Küfte einer Inſel, welche nach den im Jahre 1791 durch die Herren Eſpinoſa und Cevallos angeſtellten Unterſuchungen, 110 km Breite hat, und durch den Kanal von Taſis von der großen Inſel, die heutzutage Quadra- oder Vancouver⸗ inſel heißt, getrennt iſt. Es iſt daher ebenſo falſch, zu be— haupten, daß der Hafen von Nutka, welchen die Eingeborenen Yucuatl nennen, zur großen Quadrainſel gehöre, als es un- genau iſt, zu ſagen, das Kap Hoorn ſei die äußerſte Spitze von Feuerland. Ich weiß nicht, durch welchen Mißverſtand der berühmte Cook den Namen Yucuatl in den von Nutka verkehrt hat, welcher letztere den Eingeborenen des Landes ſelbſt völlig unbekannt iſt, und mit den Worten ihrer Sprache keine andere Aehnlichkeit hat, als etwa mit dem Worte Nutchi, welches Gebirge bedeutet.! * Memoiren von Don Francisco Moziſio. Der achtungswerte Verfaſſer war einer der Botaniker bei der Expedition des Herrn Seſſe und hielt ſich mit Herrn Quadra 1792 in Nutka auf. Da ich mir über die Nordweſtküſte des nördlichen Amerikas ſo viel Nachrichten wie möglich ſammelte, ſo machte ich 1803 aus den Handſchriften des Herrn Mozino, die mir der Profeſſor Cervantes, Direktor des botaniſchen Gartens in Mexiko, mitzuteilen die Freund: ſchaft hatte, Auszüge. Seither habe ich geſehen, daß der gelehrte Herausgeber der Vıage de la Sutil S. 123 Materialien aus dieſem Memoire geſchöpft hat. Neben den genauen Nachrichten indes, welche man den engliſchen und franzöſiſchen Seefahrern verdankt, wäre es noch immer ſehr der Mühe wert, die Bemerkungen des Herrn Mozino über die Sitten der Eingeborenen von Nutka im Druck bekannt zu machen. Dieſe Bemerkungen umfaſſen eine Menge merkwürdiger Gegenſtände, als da ſind: die Vereinigung der bürger— lichen und prieſterlichen Gewalt in der Perſon der Fürſten oder Tays; der Kampf zwiſchen dem guten und böſen Prinzip, die die Welt beherrſchen, nämlich dem Quautz und Matlox; der Urſprung des Menſchengeſchlechtes zu einer Zeit, da die Hirſche ohne Geweih, die Vögel ohne Flügel und die Hunde ohne Schwanz waren; die Eva der Nutkier, welche einſam in einem blühenden Gehölz auf Yucuatl lebte, da der Gott Quautz ſie in einer ſchönen kupfernen Piroge beſuchte; die Erzie hung des erſten Menſchen, welcher, ſo wie er größer wurde, von einer kleineren Muſchel immer in eine größere ſchlüpfte; die Genealogie des Adels von Nutka, der von dem Sohne dieſes in einer Muſchel aufgewachſenen Menſchen abſtammt, da hingegen das Volk (welches in der anderen Welt ſogar ein eigenes Paradies, Pinpula genannt, hat) ſeinen Urſprung bloß von den — 296 — Don Eſteban Martinez, welcher die Fregatte La Prin⸗ ceſa und das Paketboot San Carlos befehligte, ging den 5. Mai 1789 im Hafen von Nutka vor Anker. Der An⸗ führer Macuina nahm ihn mit vieler Freundſchaft auf, er⸗ innerte ſich ſehr wohl, ihn 1774 mit Herrn Perez geſehen zu haben, und zeigte ſogar die ſchönen Konchylien, welche man ihm damals zum Geſchenk gemacht hatte. Macuina, der Tays der Inſel Pucuatl, genießt eine völlig unumſchränkte Gewalt. Er iſt der Montezuma dieſer Gegenden, und ſein Name bei allen Völkern, welche den Handel mit Seeotterfellen treiben, be— rühmt. Ich weiß nicht, ob er noch bei Leben iſt; indes er— fuhren wir in Mexiko, gegen das Ende von 1803, aus Briefen von Monterey, daß er eiferſüchtiger auf ſeine Unabhängigkeit als der König der Sandwichinſeln, welcher ſich zum Vaſallen von England erklärte, Schießgewehre und Pulver zu erhalten ſuchte, um ſich gegen die Beleidigungen zu verteidigen, welchen er von den europäiſchen Seefahrern häufig aus— geſetzt war. Der Hafen von Santa Cruz de Nutka (Puerto de San Lorenzo von Perez, und Friendly-cove von Cook genannt) hat 14 bis 16 m Tiefe, und iſt gegen Südoſt faſt ganz von kleinen Inſeln eingeſchloſſen, auf deren einer Martinez die Batterie von San Miguel angelegt hat. Die Gebirge im Inneren des Landes ſcheinen aus Thonſchiefer und an— deren primitiven Felſenarten zu beſtehen. Herr Mozino ent: deckte an denſelben Gänge von geſchwefeltem Kupfer und Blei. Eine Viertelſtunde vom Hafen entfernt glaubte er in einem poröſen Mandelſtein, der am Ufer eines Sees lag, die Wirkungen vulkaniſchen Feuers zu erkennen. Das Klima iſt in Nutka ſo gelinde, daß unter einer noch nörd— licheren Breite als die von Quebeck und Paris iſt, die klein— ſten Flüſſe nicht vor dem Januar zufrieren. Dieſes merk— würdige Phänomen beſtätigt Mackenzies Beobachtungen, welcher jüngeren Söhnen dieſer Familie abzuleiten wagt; das Kalender: ſyſtem dieſer Indianer, welches auf dem Jahresanfange mit der Sonnenwende, einer Einteilung des Jahres in 14 Monate, jeder zu 20 Tagen, und einer Menge von Schalttagen beruht, durch die man am Ende mehrerer Monate das Ganze ausgleicht, u. ſ. w. »Die Indianer in der Nähe der Nordweſtküſte glaubten ſogar zu bemerken, daß die Winter von Jahr zu Jahr gelinder würden. Dieſe Gelindigkeit des Klimas ſcheint eine Wirkung der Weſtwinde zu — 297 — verſichert, daß die Nordweſtküſte des neuen Kontinents eine weit höhere Temperatur habe, als die Oſtküſte von Amerika und Aſien, welche unter denſelben Parallelkreiſen liegen. Die Bewohner von Nutka kennen den Donner beinahe ebenſowenig als die der Nordküſte von Norwegen, und elektriſche Explo— ſionen ſind bei ihnen äußerſt ſelten. Die Hügel ſind mit Pinien, Eichen, Cypreſſen und Gebüſchen von Roſenſträu— chern, Vaccinien und Andromeden bedeckt. Der ſchöne Strauch, welcher Linnéss Namen trägt, wurde von den Gärtnern von Vancouvers Expedition erſt in höheren Breiten gefunden. John Mears, und beſonders ein ſpaniſcher Offizier, Don Pedro Alberni, haben in Nutka alle europäiſchen Gemüſe ge— zogen; nur der Mais und der Weizen brachten ihre Körner nie zur Reife, was die Wirkung einer zu kräftigen Vegetation zu ſein ſchien. Unter den Vögeln der Vancouverinſel hat man echte Kolibri bemerkt, und dieſer für die Geographie der Tiere ſo wichtige Umſtand muß alle diejenigen in Er— ſtaunen ſetzen, welchen es unbekannt iſt, daß Herr Mackenzie an den Quellen des Friedensfluſſes, unter einer Breite von 54° 24“, und Herr Galiano beinahe unter dem nämlichen Südparallelkreiſe, in der Magelhaensſchen Meerenge, Kolibri geſehen hat! Martinez' Unterſuchungen drangen nicht über den 50. Grad der Breite hinaus. Zwei Monate, nachdem er in den Hafen von Nutka eingelaufen war, ſah er ein engliſches Kriegs— ſchiff, den Argonauten, unter dem Kommando des James Colnet, welcher durch ſeine auf den Galapagosinſeln gemachten Beobachtungen bekannt iſt, ankommen. Colnet eröffnete dem ſpaniſchen Seefahrer, daß er von ſeiner Regierung Befehl habe, eine Faktorei auf Nutka anzulegen, daſelbſt eine Fregatte und eine Goelette zu erbauen und alle anderen europätjchen Nationen zu verhindern, an dem Pelzhandel auf Nutka teil— zunehmen.! Vergebens hielt ihm Martinez entgegen, daß ſein, welche über einer beträchtlichen Meeresfläche wegwehen. Uebri— gens glaubt Herr Mackenzie, was ich auch glaube, daß die klima— tiſche Veränderung, welche man in ganz Nordamerika bemerkt, keinen unbedeutenden Lokalurſachen, wie die Ausrottung der Wälder z. B. iſt, zugeſchrieben werden darf. 1785 hatte ſich in England eine Nutkacompagnie, unter dem Namen The King George's Sound Company, gebildet, und man hatte ſogar den Plan, auf Nutka eine engliſche Kolonie, gleich der von Neuholland, anzulegen. — 298 — Juan Perez lange vor Cook in dieſen Gegenden geankert habe und der Streit, welcher ſich zwiſchen den Befehlshabern des Argonauten und der Princeſa erhob, hätte beinahe einen Bruch zwiſchen den Höfen von London und Madrid verur: ſacht. Um das Uebergewicht ſeiner Rechte geltend zu machen, wandte Martinez ein gewaltſames und nicht ſehr geſetzmäßiges Mittel an. Er arretierte Herrn Colnet und ſchickte ihn über San Blas nach Mexiko. Der eigentliche Beſitzer des Landes von Nutka, der Tays Macuina, war klug genug, ſich für den Sieger zu erklären; allein der Vizekönig, welcher Martinez' Zurückberufung beſchleunigen zu müſſen glaubte, ſandte anfangs 1790 drei andere bewaffnete Fahrzeuge nach der Nordweſtküſte von Amerika. i Don Francisco Eliſa und Don Salvador Fidalgo, der Bruder des Aſtronomen, welcher die Küſten von Südamerika von der Mündung des Drachenfluſſes bis Portobello auf— genommen hat, befehligten dieſe neue Expedition. Herr Fi⸗ dalgo beſuchte die Einfahrt von Cook und die Prinz Wilhelms— bai und vervollſtändigte die Kenntnis dieſer Gegenden, welche der mutige Vancouver ſpäter unterſucht hat. Unter 60° 14° der Breite, an der Nordſpitze des Prinz Williamsſound, war Herr Fidalgo Zeuge eines wahrſcheinlich vulkaniſchen, aber höchſt außerordentlichen Phänomens. Die Eingeborenen führten ihn in eine ganz mit Schnee bedeckte Ebene, wo er große Eis- und Steinmaſſen mit ſchrecklichem Gekrache in ungeheure Höhen hinaufgeſchleudert ſah. Don Francisco Eliſa blieb in Nutka, um die Niederlaſſung, welche Martinez im vorigen Jahre angelegt hatte, zu vergrößern und zu befeſtigen, indem er in dieſem Weltteile noch keine Kunde davon hatte, daß Spanien in einem den 28. Oktober 1790 im Eskorial unterzeichneten Vertrage auf ſeine Anſprüche auf Nutka und die Cooksſtraße zu Gunſten des Londoner Hofes Verzicht geleiſtet hatte. Wirklich kam die Fregatte Dädalus, welche Vancouver den Befehl brachte, über die Ausübung des Vertrages zu wachen, erſt im Auguſt 1792 im Hafen von Nutka an, als Fidalgo eben damit beſchäftigt war, eine zweite ſpaniſche Niederlaſſung ſüdöſtlich von der Inſel Quadra auf dem feſten Lande ſelbſt in dem Hafen von Nunez Gaona oder Quinicamet zu grün— den, welcher unter 48° 20“ der Breite bei der Einfahrt des Juan de Fuca liegt. Auf des Kapitäns Eliſa Expedition folgten zwei andere, welche wegen der wichtigen aſtronomiſchen Arbeiten, zu welchen — 299 — ſie Anlaß gegeben haben und der vortrefflichen Inſtru— mente, womit ſie verſehen waren, mit Cooks, Lapsrouſes und Vancouvers Expeditionen verglichen werden können. Ich ſpreche von der Reiſe des berühmten Malaſpina im Jahre 1792 und von derjenigen, welche Galiano und Valdes 1792 gemacht haben. Die Operationen, welche Malaſpina und die unter ſeinen Befehlen arbeitenden Offiziere ausgeführt haben, umfaſſen den ungeheuren Küſtenumfang, von der Mündung des Rio de la Plata bis zur Prinz Wilhelmseinfahrt. Indes wurde dieſer geſchickte Seemann berühmter noch durch ſein Unglück als durch ſeine Entdeckungen. Nachdem er die beiden Hemiſphären durchſegelt hatte und allen Gefahren eines ſtürmiſchen Meeres entronnen war, fand er noch viel größere an ſeinem Hofe, deſſen Gunſt ſein Verderben wurde. Opfer einer politiſchen Intrigue ſeufzte er ganze ſechs Jahre lang in einem Kerker— loche. Endlich erhielt die franzöſiſche Regierung ſeine Freiheit und Alexander Malaſpina kehrte in fein Vaterland zurück. An den Ufern des Arno genießt er nun in der Einſamkeit die tiefen Eindrücke, welche die Beobachtung der Natur und das Studium des Menſchen unter verſchiedenen Klimaten in einer gefühlvollen, vom Unglück geprüften Bruſt zurücklaſſen. Malaſpinas Arbeiten blieben in den Archiven begraben, nicht weil die Regierung die Bekanntmachung von Geheim— niſſen ſcheute, deren Verborgenbleiben ihr etwa nützlich ſcheinen konnte, ſondern weil der Name dieſes furchtloſen Seemannes in ewiges Schweigen gehüllt werden ſollte. Glücklicherweiſe hat aber die Direktion der hydrographiſchen Arbeiten (Depo— sito hydrografico de Madrid! dem Publikum die haupt⸗ ſächlichſten aſtronomiſchen Beobachtungen mitgeteilt, welche von Malaſpinas Expedition gemacht worden ſind. Der größte Teil der Seekarten, die ſeit 1799 in Madrid erſchienen ſind, gründet ſich auf dieſe wichtigen Reſultate; allein man findet auf ihnen ſtatt des Namens des Anführers bloß den der Korvetten La Descubierta und La Atrevida, welche Malaſpina befehligt hatte. Seine Expedition?, die am 30. Juli 1789 von Cadiz Dieſe Anſtalt wurde durch einen königlichen Befehl vom 6. Auguſt 1797 gegründet. Auszug aus einem Tagebuche, das an Bord der Atrevida gehalten worden war, eine Handſchrift, die in den Archiven von — 300 — ausgelaufen war, kam erſt den 2. Februar 1791 in Acapulco an. Um dieſe Zeit heftete der Hof von Madrid ſeine Auf— merkſamkeit aufs neue auf einen Gegenſtand, um den man ſich ſchon zu Anfang des 17. Jahrhunderts geſtritten hatte, nämlich auf die ſogenannte Meerenge, durch welche Lorenzo Ferrer im Jahre 1588 von den Küſten von Labrador nach dem Großen Ozean geſegelt ſein wollte. Ein Memoire, das Herr Buache in der Akademie der Wiſſenſchaften vorgeleſen, hatte die Hoffnung, daß dieſe Paſſage wirklich exiſtiere, wieder erweckt. Die Korvetten, die Descubierta und die Atrevida, erhielten Befehl, nach den hohen Breiten der Nordweſtküſte von Amerika zu ſteuern und alle Fahrwaſſer und Einfahrten zu unterſuchen, welche die Meeresufer zwiſchen 58 und 60° der Breite unterbrächen. Malaſpina ging in Begleitung der beiden Botaniker Hänke und Nee von Acapulco aus den 1. Mai 1791 unter Segel. Nach drei Wochen Fahrt landete er am Kap St. Bartholomäus, welches ſchon 1775 von Quadra, 1778 von Cook und von Dixon 1786 beſucht worden war. Er nahm die Küſte von dem San Jacintogebirge bei dem Kap Edgecumbe (Cabo Engano, Breite 57° 1’ 30) bis zur Montaguinſel, der Prinz Williamseinfahrt gegenüber, auf. Während dieſer Expedition wurde die Länge des Perpendikels und die Neigung und Abweichung der Magnetnadel auf mehreren Punkten der Küſte beſtimmt. Mit vieler Sorgfalt maß man die Höhe der St. Elias- und der Schönwettergebirge (Cerro de buen tiempo, oder Mount-Fairweather), welche die vorzüglichſten Spitzen der Kordillere von Neunorfolk ſind. Die Kenntnis ihrer Höhe! und ihrer Lage können den Schif— fern, beſonders wenn ſie das ſchlechte Wetter oft ganze Wochen lang hindert, die Sonne zu beobachten, ſehr nützlich ſein; denn wenn ſie dieſe Piks auch nur auf 80 bis 100 Meilen Entfernung ſehen, ſo können ſie den Stand ihrer Schiffe durch bloße Horizontalmeſſungen und Höhenwinkel beſtimmen. Mexiko aufbewahrt wird. Viage de la Sutil, ©. CXIII bis CXXIII. Herr Malaſpina hatte ſchon vor der im Jahre 1789 unternom— menen Expedition die Reiſe um die Welt auf der für Manila beſtimmten Fregatte Aſträa, gemacht. Malaſpinas Expedition fand die Höhe des Berges St. Elias zu 5441 m (6507,6 Varas) und die vom Mount Fairweather zu 4489 m (5368,3 Varas). Die Höhe des erfteren dieſer Berge kommt alſo der Höhe des Cotopaxi gleich, und die des zweiten der des Roſaberges. — 301 — Nachdem Malaſpina vergebens die in der apokryphiſchen Reiſe des Maldonado angezeigte Meerenge geſucht und ſich einige Zeit in dem Mulgraveshafen, in der Beringsbai (Breite 59° 34° 20“) aufgehalten hatte, ſteuerte er ſüdlich. Den 13. Auguſt ging er im Hafen von Nutka vor Anker, unter— ſuchte die Tiefe der Kanäle, welche die Inſel Yucuatl um: geben und beſtimmte durch bloß aſtronomiſche Beobachtungen die Lage von Nutka, Monterey, von der Inſel Guadalupe, an welcher die Gallione der Philippiniſchen Inſeln (la Nao de China) zu landen pflegt und die vom Kap San Lucas. Die Korvette Atrevida lief in Acapulco, die Descubierta in San Blas im Oktober 1791 ein. Eine Schiffahrt von fünf Monaten war freilich für die Unterſuchung und Aufnehmung einer ausgebreiteten Küſte mit der ins kleinſte gehenden Genauigkeit nicht hinlänglich, welche wir in Vancouvers Reiſe, die drei Jahre dauerte, be— wundern. Indes hat Malaſpinas Expedition doch ein beſon— deres Verdienſt, und dies beſteht nicht bloß in der Menge von aſtronomiſchen Beobachtungen, ſondern beſonders in der ſcharf— ſinnigen Methode, welche er, um zu gewiſſen Reſultaten zu gelangen, angewendet hat. Man hat z. B. die Länge und Breite der vier Küſtenpunkte, das Kap San Lucas, die von Monterey, von Nutka und vom Mulgraveshafen, mit völliger Zuverläſſigkeit beſtimmt und die Zwiſchenpunkte durch Hilfe von vier Arnoldſchen Seeuhren mit dieſen fixen Hauptpunkten in Verhältnis geſetzt. Dieſe Methode, welche von den auf Malaſpinas Korvetten befindlichen Offizieren, den Herren Eſpi— noſa, Cevallos und Vernaci angewendet wurde, iſt den Par— tialkorrektionen weit vorzuziehen, die man ſich mit den chrono— un Längen nach dem Reſultate der lunariſchen Diſtanzen erlaubt. Der berühmte Malaſpina war kaum auf der mexikaniſchen Küſte wieder angekommen, als er, unzufrieden, die Küſte zwi— ſchen der Nutkainſel und dem Kap Mendocino nicht nahe genug unterſucht zu haben, den Vizekönig Grafen von Re— villagigedo bewog, eine neue Entdeckungsexpedition nach der Nordweſtküſte von Amerika auszurüſten. Des Vizekönigs thätiger und unternehmender Geiſt entſprach dieſem Wunſche um ſo leichter, da neue Nachrichten, von den auf Nutka be— findlichen Offizieren die Exiſtenz eines Kanales wahrſcheinlich zu machen ſchienen, deſſen Entdeckung man dem griechiſchen Piloten Juan de Fuca, am Ende des 16. Jahrhunderts bei— — 302 — maß. Wirklich hatte Martinez 1774 unter 48° 20° der Breite eine ſehr weite Einfahrt gefunden, der Pilote von der Goe— lette Gertrudis, der Fähnrich Don Manuel Guimper, welcher den Binnenlander, die Kronprinzeſſin kommandierte, und nach ihm der Kapitän Eliſa, im Jahre 1791, hatten dieſe Einfahrt unterſucht, und ſogar ſichere und geräumige Häfen darin ent: deckt. Um dieſe Unterſuchungen zu vollenden, liefen den 8. März 1792 die Goeletten Sutil und Mexicana unter dem Befehl von Don Dioniſio Galiano, und Don Cayetano Valdes von Acapulco aus. Dieſe geſchickten und erfahrenen Aſtronomen umſegelten in Begleitung der Herren Salamanca und Vernaci die große Inſel, welche heutzutage Quadras und Vancouvers Namen trägt, und verwandten auf dieſe beſchwerliche und gefahrvolle Reiſe vier Monate. Nachdem ſie die Meerengen von Fuca und von Haro paſſiert hatten, begegneten ſie in dem Kanale des Roſario, welchen die Engländer den Golf von Georgien nennen, den engliſchen Seefahrern Vancouver und Broughton, die ſich in gleicher Abſicht wie fie in dieſen Gewäſſern be- fanden. Beide Expeditionen teilten ſich die Reſultate ihrer Arbeiten ohne Rückhalt mit, unterſtützten ſich gegenſeitig in ihren Operationen, und das gute Einverſtändnis und die voll: kommene Harmonie, von der die Aſtronomen auf dem Rücken der Kordilleren zu einer anderen Zeit ein ſchlechtes Beiſpiel gegeben hatten, dauerten bis zum Augenblick ihrer Trennung. Galiano und Valdes unterſuchten auf ihrer Rückkehr von Nutka nach Monterey die Einfahrt de la Ascenſion aufs neue, welche Don Bruno Eceta den 17. Auguſt 1775 entdeckt, und der geſchickte amerikaniſche Seefahrer Herr Gray nach dem Namen des Sloops, den er befehligte, den Fluß Colombia genannt hatte. Dieſe Unterſuchung war um ſo wichtiger, da Vancouver, welcher dieſer Küſte ſchon ſehr nahe gefolgt, vom 45. Grad der Breite bis zum Kanal von Fuca keine Ein— fahrt bemerkt, und dieſer erfahrene Seemann deswegen ſogar an dem Daſein des Rio de Colombia, oder der Entrada de Eceta gezweifelt hatte. Ich habe oben ſchon von der Leichtigkeit geredet, mit welcher die Europäer an den fruchtbaren Ufern des Rio Colombia eine Kolonie anlegen könnten, ſowie auch von den Zweifeln, die man gegen die Identität dieſes Fluſſes mit dem Tacoutche-Teſſe, oder Oregon bei Mackenzie, erhoben hat. Indes weiß ich nicht, ob ſich — 303 — Im Jahre 1797 gab die ſpaniſche Regierung Befehl, daß die Karten, welche während der Expedition der Herren Galiano und Valdes aufgenommen worden, bekannt gemacht werden ſollten, „damit ſie vor Vancouvers ſeinen in den Händen des Publikums ſein könnten“. Indes kamen ſie doch erſt 1802 heraus, und die Geographen haben nun den Vorteil, die Vancouverſchen Karten mit denen der ſpaniſchen Seefahrer, wie ſie von dem Depoſito hydrografico in Madrid bekannt gemacht worden ſind, und mit der ruſſiſchen Karte zu vergleichen, welche 1802 im Kartendepot des Kaiſers zu Petersburg herausgekommen iſt. Dieſe Vergleichung iſt aber um ſo notwendiger, da dieſelben Vorgebirge, dieſelben Fahr— waſſer und Inſeln oft drei bis vier verſchiedene Namen haben, und die geographiſche Synonymik dadurch ebenſo ver: wirrt geworden, als es die Synonymik der kryptogamiſchen Pflanzen aus dem nämlichen Grunde iſt. Während die Goeletten Sutil und Mexicana, damit be— ſchäftigt waren, die Küſten zwiſchen den Parallelkreiſen vom 45. und 51. Grad mit größter Sorgfalt zu unterſuchen, be— ſtimmte der Vizekönig Revillagigedo eine andere Expedition für noch höhere Breiten. Vergebens hatte man in der Ge— gend des Kap Orford und des Kap Gregory die Mündung dieſer Oregon in einen der großen Salzſeen ergießt, welche ich nach den von dem Pater Escalante gegebenen Nachrichten auf meiner Karte von Mexiko unter den 39. und 41. Grad der Breite geſetzt habe. Auch will ich nicht entſcheiden, ob der Oregon, gleich mehreren großen Flüſſen des ſüdlichen Amerikas, einen Durchbruch durch eine hohe Gebirgskette geriſſen hat, und ob ſeine Mündung in einer der noch wenig bekannten Buchten iſt, welche ſich zwiſchen dem Hafen de la Botega und dem Kap Orford befinden. Doch hätte ich wünſchen mögen, daß ein ſonſt gelehrter und ſcharfſinniger Geograph der Verſuchung widerſtanden haben möchte, den Namen Oregon in dem Origen zu erkennen, welcher, nach ſeiner Meinung, auf Don Antonio Alzates Karte von Mexiko einen Fluß bezeichnet. Er verwechſelte das ſpaniſche Wort origen, Quelle, Urſprung einer Sache, mit dem indianiſchen Origan. Alzates Karte gibt übrigens nur den Rio Colorado an, welcher den Rio Gila aufnimmt. Bei ihrer Vereinigung lieſt man folgende Worte: Rio Colorado, ö del Norte, cuyo origen se ignora, deſſen Urſprung man nicht kennt. Die Nachläſſigkeit mit der dieſe ſpaniſchen Worte abgeteilt ſind (man ſtach nämlich: Nortecuyo und Seignora), iſt wahrſcheinlich der Grund dieſes außerordentlichen Mißgriſſes. — 304 — des Fluſſes von Martin de Aguilar geſucht, und Alexander Malaſpina hatte, ſtatt des berühmten Kanales von Maldonado, nichts als Straßen gefunden, die keinen Ausgang hatten. Auch hatten ſich Galiano und Valdes überzeugt, daß Fucas— einfahrt bloß ein Seearm ſei, welcher eine Inſel von mehr als 1700 Quadratmeilen,“ nämlich die von Quadra und Van- couver, von der unebenen Küſte von Neugeorgien trenne. So blieben denn immer noch Zweifel über die Exiſtenz der Meer— enge, deren Entdeckung man dem Admiral Fuentes oder Fonte zugeſchrieben, und die ſich unter dem 53. Grad der Breite befinden ſollte. Cook hatte es ſehr bedauert, daß er dieſen Teil des Kontinents von Neuhannover nicht unter: ſuchen konnte; aber die Behauptungen eines erfahrenen See⸗ mannes, des Kapitäns Colnet, machten es wahrſcheinlich, daß der Zuſammenhang der Küſte in dieſen Gegenden unter— brochen ſcin müſſe. Um dieſes ſo wichtige Problem zu löſen, gab der Vizekönig von Neuſpanien dem Schiffslieutenant Don Jacinto Caamano, welcher die Fregatte Arranzazu kom— mandierte, Befehl, die Küſte vom 51. bis 56. Grad der Nord: breite mit größter Genauigkeit zu unterſuchen. Herr Caamafo, den ich oft in Mexiko zu ſehen das Vergnügen hatte, lief den 20. März 1792 von San Blas aus und hielt 6 Monate lang die See. Er unterſuchte aufs ſorgfältigſte den nörd⸗ lichen Teil der Königin Charlotteninſel, die ſüdliche Küſte der Prinz Wallisinſel, die er Isla de Ulloa nannte, die Re: villagigedo-, Banks- (oder de la Calamidad) und die Ariſti⸗ zabalinſeln und die große Einfahrt (Inlet) des Moftino, der ſeine Mündung gegenüber vom Pittsarchipelagus hat. Die vielen ſpaniſchen Namen, welche Vancouver in ſeinen Karten beibehalten hat, beweiſen, daß die Expeditionen, von denen wir eben eine Ueberſicht gegeben, nicht wenig zur Kenntnis einer Küſte beigetragen haben, welche heutzutage vom 45. Grad der Breite bis zum Kap Douglas öſtlich von der Cooks— einfahrt viel genauer aufgenommen iſt als die meiſten Küſten von Europa. ? Ich habe mich begnügt, in das Ende dieſes Kapitels ! Der Umfang der Quadra- oder Vancouversinſel beträgt, nach des letzteren Karten berechnet, 1730 Quadratmeilen, wovon 25 auf einen Sexageſimalgrad gehen. Sie iſt alſo die größte Inſel auf den Weſtküſten von Amerika. [Neuere Vermeſſungen ergaben 33092 qkm. — D. Herausg.] L — 305 — alle Nachrichten zuſammenzudrängen, welche ich mir über die Reiſen der Spanier (von 1543 an bis auf unſere Zeiten) nach den Weſtküſten von Neuſpanien, nordwärts von Neu— kalifornien, zu verſchaffen vermochte. Die Zuſammenſtell ung dieſer Materialien ſchien mir in einem Werke notwendig, das alles umfaßt, was auf die politiſchen und kommerziellen Verhältniſſe Mexikos Bezug hat. Die Geographen, welche ſich beeilen, die Welt zu verteilen, um das Studium ihrer Wiſſenſchaft zu erleichtern, unter— ſcheiden auf der Nordweſtküſte einen engliſchen, einen ſpani— ſchen und neutralen, und einen ruſſiſchen Anteil. Dieſe Ein— teilungen wurden natürlich ohne Zurateziehung von den Häuptern der verſchiedenen Stämme gemacht, welche dieſe Ge— genden bewohnen! Könnten die kindiſchen Ceremonieen, welche die Europäer Beſitznehmungen heißen, und aſtronomiſche Beob— achtungen, die man auf einer neuentdeckten Küſte angeſtellt hat, Anſprüche auf das Eigentum derſelben geben, ſo würde dieſer Teil des neuen Kontinents ganz beſonders zerſtückelt, und unter die Spanier, Engländer, Ruſſen, Franzoſen und die Amerikaner der Vereinigten Staaten verteilt werden. Ein Eiland würde oft zwei oder drei Nationen zugleich zufallen, weil jede beweiſen könnte, daß ſie ein anderes Kap davon entdeckt habe. Die vielen Krümmungen, welche die Küſte zwiſchen den Parallelkreiſen des 55. und 60. Grades bildet, um— faßt Entdeckungen, die Gali, Bering und Tſchirikow, Quadra, Cook, Lapeérouſe, Malaſpina und Vancouver nacheinander gemacht haben. Keine europäiſche Nation hat noch eine dauernde Nieder— laſſung auf dem ungeheuren Küſtenraume gegründet, welcher ſich vom Kap Mendocino bis nach dem 59. Grad der Breite erſtreckt. Jenſeits dieſer Grenze fangen die ruſſiſchen Fakto— reien an, welche größtenteils zerſtreut und fern voneinander umherliegen, gleich den Faktoreien, die die europäiſchen Nationen ſchon ſeit drei Jahrhunderten auf den afrikaniſchen Küſten haben. Die meiſten von dieſen ruſſiſchen Kolonieen ſind bloß zu Waſſer miteinander in Verbindung, und die neuen Be— nennungen des ruſſiſchen Amerikas oder der ruſſiſchen Be— ſitzungen in dem neuen Kontinent dürfen uns ja nicht glauben machen, als ob die Küſte vom Beringsbaſſin, die Halbinſel Alaska, oder das Land der Tſchugatſchen in dem Sinne ruſ— ſiſche Provinzen geworden ſeien, wie es Sonora oder Neu: biscaya von Spanien ſind. A. v. Humboldt, Neuſpanien. I. 20 — 506 — Die Weſtküſte von Amerika zeigt das einzige Beiſpiel eines Litorales von 14000 km Länge, das bloß von einem einzigen europäiſchen Volke bewohnt iſt. Wie im Anfang dieſes Werkes bemerkt worden iſt, haben die Spanier von dem Fort Maullin in Chile an bis San Francisco in Neu: kalifornien Niederlaſſungen gegründet. Nordwärts vom Paral⸗ lelkreiſe des 38. Grades folgen die Stämme der unabhängigen Indianer. Wahrſcheinlich werden dieſe Stämme nach und nach von den ruſſiſchen Koloniſten, welche ſeit dem Ende des vorigen Jahrhunderts von der Oſtſpitze Aſiens nach Amerika herübergekommen ſind, unterjocht werden. Natürlich müſſen die Fortſchritte dieſer ſibiriſchen Ruſſen gegen Süden viel ſchneller ſein, als die der mexikaniſchen Europäer gegen Norden; indem ein Jägervolk, welches gewohnt iſt, unter einem nebligen Himmel und in einem äußerſt kalten Klima zu leben, die Temperatur auf der Küſte von Neukornwallis ſehr angenehm findet. Aber dieſe nämliche Küſte erſcheint den Koloniſten, welche aus einem gemäßigten Klima, aus den fruchtbaren und lieblichen Gegenden von Sonora und Neu— kalifornien kommen, als ein unbewohnbares Land, als eine. wahre Polargegend. Seit 1788 hat die ſpaniſche Regierung Unruhe über die Erſcheinung der Ruſſen auf den Nordweſtküſten des neuen Kontinents gezeigt, und da ſie jede europäiſche Nation für einen gefährlichen Nachbar anſieht, den Zuſtand der ruſſiſchen Faktoreien auskundſchaften laſſen. Dieſe Beſorgnis hörte übrigens auf, ſobald man in Madrid erfuhr, daß dieſe Fak— toreien ſich nicht oſtwärts über die Cookseinfahrt hinaus er— ſtreckten. Als der Kaiſer Paul 1799 Spanien den Krieg er— klärte, beſchäftigte man ſich einige Zeit in Mexiko mit dem kühnen Plane, in den Häfen von San Blas und Monterey eine Seeexpedition gegen die ruſſiſchen Kolonieen in Amerika auszurüſten. Wäre dieſer Gedanke ausgeführt worden, fo hätte man zwei Nationen im Streite geſehen, welche auf den einander entgegengeſetzten Enden von Europa ſtehend in der anderen Halbkugel mit den öſtlichen und weſtlichen Grenzen ihrer ungeheuren Reiche zuſammenſtoßen. Der Zwiſchenraum, welcher dieſe Grenzen ſcheidet, wird nach und nach immer kleiner, und es iſt Neuſpaniens poli— tiſches Intereſſe, den Parallelkreis genau zu kennen, bis zu welchem die ruſſiſche Nation oſt- und ſüdwärts vorgedrungen iſt. Eine Handſchrift in den vizeköniglichen Archiven von Mexiko, die ich oben angeführt, hat mir bloß unbeſtimmte und unvollkommene Nachrichten gegeben, und der Zuſtand der ruſſiſchen Kolonieen iſt darin ſo beſchrieben, wie ſie vor 20 Jahren geweſen ſind. Herr Maltebrun hat in ſeiner all— gemeinen Geographie einen merkwürdigen Artikel über die Nordweſtküſte von Amerika mitgeteilt; auch hat er zuerſt die Nachricht von Billings Reiſe,“ welche Herr Sarytſchew heraus: gegeben, und die der des Herrn Sauer vorzuziehen iſt, zur Kenntnis des Publikums gebracht. Ich ſchmeichle mir aber, imſtande zu ſein, die Lage der ruſſiſchen Faktoreien, welche größtenteils bloße Gruppen von Hütten und Schuppen ſind, aber zu Niederlagen für den Pelzhandel dienen, nach ſehr neuen und aus einer offiziellen Schrift? gezogenen Nachrichten anzugeben. Auf der Aſien am nächſten liegenden Küſte, längs dem Beringskanal, findet man von 67“ bis 64° 10° der Breite unter den Parallelen von Lappland und Island eine Menge von Hütten, welche von ſibiriſchen Jägern beſucht werden. Von Norden nach Süden gerechnet, find die erſten Poſten: Kigil- tach, Leglelachtok, Tuguten, Netſchich, Tchinegriun, Chibalech, Topar, Pintepata, Agulichan, Chavani und Nugran, beim Bodnikap (Cap du Parent). Dieſe Wohnungen der Ein— geborenen vom ruſſiſchen Amerika find bloß 150 bis 300 km? Account of the geographical and astronomical expedi- tion undertaken for exploring the coast of the Icy sea, the land of the Tshutski and the islands between Asia and Ame- rica under the command of captain Billings between the years 1785 and 1794. By Martin Sauer, Secretary to the ex- pedition. — Putetschestwie flota-kapitana Sarytschewa po seve- rowostotschnoi tschastı sibiri, ledowitawa mora, i wostotsch- nogo okeana. 1804. Carte des decouvertes faites successivement par des navi- gateurs russes dans l’Ocean pacifique, et dans la mer glaciale, corrigee d'après les observations astronomiques les plus ré— centes de plusieurs navigateurs étrangers, gravee au depöt des cartes de Sa Majeste l’Empereur de toutes les Russies, en 1802. Dieſe jhöne Karte, welche ich der Güte des Herrn von Saint⸗Aignan verdanke, hat 1,231 m Länge und 0,722 m Breite, und umfaßt den ganzen Meer- und Küſtenraum zwiſchen dem 40. und 72. Grad der Breite und dem 125. und 224. Grad der weſtlichen Länge von Paris. Die Namen ſind mit ruſſiſchen Buchſtaben ge— ſchrieben. »Da es mehr als wahrſcheinlich iſt, daß aſiatiſche und ameri— — 308 — von den Hütten der Tſchuktſchen im ruſſiſchen Aſien entfernt. Die Beringsmeerenge, welche ſie trennt, iſt voll unbewohnter Eilande, deren nördlichſtes Imaglin heißt. Die Nordoſtſpitze von Aſien bildet eine Halbinſel, die mit der großen Maſſe des Kontinents bloß durch einen engen Iſthmus zwiſchen den kaniſche Völkerſchaften den Ozean paſſiert haben, ſo iſt es merk⸗ würdig, die Breite des Meerarmes zu unterſuchen, der die beiden Kontinente, unter 65“ 50“ der Nordbreite, voneinander ſcheidet. Nach den neueſten von den ruſſiſchen Seefahrern gemachten Ent: deckungen nähert ſich Amerika Sibirien mehr als ſonſt wo auf einer Linie, die die Beringsmeerenge in der Richtung von Südoſt nach Nordweſt, vom Kap Prinz Wallis bis zum Kap Tſchukotskoy durchſchneidet. Die Entfernung dieſer beiden Vorgebirge iſt 44 im Bogen, oder 18 ¼ Meilen, von 25 auf einen Grad. Die Inſel Imaglin liegt faſt in der Mitte des Kanales, und dem aſiatiſchen Vorgebirge nur um ein Fünfteil näher. Um indes zu begreifen, wie aſiatiſche Stämme, welche auf dem Plateau der chineſiſchen Tatarei wohnten, vom alten auf den neuen Kontinent hinüber: kommen konnten, hat man wohl nicht nötig, ſich mit einer auf ſo hohen Breiten vorgegangenen Wanderung zu helfen. Von Korea und Japan bis zum ſüdlichen Vorgebirge der Halbinſel Kamtſchatka, zwiſchen 33“ und 51° der Breite dehnt ſich eine Inſelkette, deren jede ganz nahe an der anderen liegt. Die große Inſel Tchoka, welche mit dem Kontinent durch eine ungeheure Sandbank (unter dem 52. Grad der Breite) verbunden iſt, erleichtert die Kommunikation zwiſchen den Mündungen des Amur und den Kuriliſchen Inſeln. Ein anderer Inſelnarchipel, welcher das große Beringsbaſſin auf der ſüdlichen Seite ſchließt, erſtreckt ſich von der Halbinſel Alaska an 3000 km weſtwärts. Die weſtlichſte der Aleutiſchen Inſeln iſt von der Oſtküſte von Kamtſchatka nicht mehr als 1000 km ent: fernt, und dieſe Diſtanz iſt durch die Berings- und Mednoiinſeln, unter dem 55. Grad der Breite wieder in zwei beinahe gleiche Teile geteilt. Dieſer flüchtige Ueberblick beweiſt hinreichend, daß aſiatiſche Stämme von Inſel zu Inſel von einem Kontinent in den anderen kommen konnten, ohne ſich auf dem aſiatiſchen Kontinent über den Parallelkreis des 55. Grades zu erheben, ohne das Meer von Ochotsk weſtwärts zu umgehen, und ohne auf der hohen See eine Ueberfahrt von mehr als 24 oder 36 Stunden zu machen. Die Nordweſt— winde, die einen großen Teil des Jahres in dieſen Gegenden wehen, begünſtigen die Schiffahrt zwiſchen Aſien und Amerika unter 50 und 60“ der Breite. Indes iſt es in dieſer Note gar nicht darum zu thun, neue hiſtoriſche Hypotheſen aufzuſtellen oder die ſeit 40 Jahren immer wiederholten zu prüfen, ſondern man be— gnügt ſich, genaue Nachrichten über die Annäherung beider Konti— nente gegeneinander mitzuteilen. — 309 — beiden Golfen Mitſchigmen und Kaltſchin zuſammenhängt. Die aſiatiſche Küſte, welche die Beringsmeerenge begrenzt, tft von einer Menge Walfiſcharten bewohnt. Auch ſind hier die Tſchuktſchen, welche in beſtändigem Kriege mit den Amerikanern leben, in kleinen Dörfern vereinigt, die ſie Nukan, Tugulan und Tſchigin nennen. Folgt man der Küſte des amerikaniſchen Kontinents vom Kap Rodni und der Nortonseinfahrt bis zum Kap Malowod— noy (Wenigwaſſerkap), ſo findet man keine ruſſiſche Nieder— laſſung mehr; allein die Eingeborenen haben große Hütten— vereinigungen auf dem Litorale, das ſich zwiſchen 63% 20° und 60° 5° der Breite erſtreckt. Ihre nördlichſten Wohnungen ſind Agibaniach und Chalmiagmi, ihre ſüͤdlichſten Kuynegach und Kuymin. Die Briſtolbai, nordwärts von der Halbinſel Alaska (oder Aljaska) heißt bei den Ruſſen der Golf Kamiſchezkaja. Ueberhaupt behalten ſie auf ihren Karten keinen von den eng— liſchen Namen bei, welche der Kapitän Cook und Vancouver den Gegenden nördlich vom 55. Grad der Breite erteilt haben. Sie geben ſogar den zwei großen Inſeln, auf welchen ſich der Pik Trubizin (Mount Edgecumbe bei Vancouver, und der Cerro de San Jacinto bei Quadra) und das Kap Tſchirikow (Kap St. Bartholomäus) befinden, lieber gar keinen Namen, als daß fie die Benennungen Königs Georgsarchi— pelagus und Prinz Wallisarchipelagus annahmen. Die Küſte, welche ſich vom Golf Kamiſchezkaja bis nach Neukornwallis ausdehnt, wird von fünf Völkerſchaften be— wohnt, die ebenſo viele große Territorialeinteilungen in den Kolonieen des ruſſiſchen Amerikas bilden. Ihre Namen find: Koniagen, Kenai, Tſchugatſchen, Ugalachmiut und Kol- juſchen. f e Abteilung der Koniagen gehört der nördlichſte Teil von Alaska und die Inſel Kodiak, welche die Ruſſen gewöhnlich Kichtak nennen, unerachtet das Wort Kightak in der Sprache der Eingeborenen nur eine Inſel überhaupt bedeutet. Ein großer Landſee von mehr als 26 Stunden Länge und 12 Stun- den Breite hängt durch den Fluß Igtſchiagik mit der Briftol: bai zuſammen. Auf der Inſel Kodiak (Kadiak) und den kleinen benachbarten Inſeln ſind zwei Forts und mehrere Faktoreien. Die von Schelikow angelegten Forts heißen Karluk und die drei Heiligmacher. Herr Maltebrun behauptet, daß nach den neueſten Nachrichten der Archipelagus Kichtak beſtimmt — 310 — ſei, den Hauptort aller ruſſiſchen Niederlaſſungen zu ent— halten, und Sarytſchew verſichert, daß ſich auf der Inſel Umanak (Umnak) ein ruſſiſcher Biſchof und ein Kloſter be— finden. Ich weiß aber nicht, ob ſie anderswohin verpflanzt worden ſind; denn die im Jahre 1802 herausgekommene Karte gibt weder auf Umnak noch auf Unimak und auf Unalaſchka eine Faktorei an. Indes habe ich in dem hand⸗ ſchriftlichen Tagebuche von Martinez' Reiſe in Mexiko geleſen, daß die Spanier 1788 auf der Inſel Unalaſchka mehrere ruſſiſche Häuſer und gegen hundert kleine geladene Schiſſe gefunden haben. Die Eingeborenen der Halbinſel Alaska nennen ſich ſelbſt die Männer vom Oſten (Kagatayakoung'ns). Die Kenai bewohnen die Weſtküſte von der Cookseinfahrt, oder vom Golf Kenayskaja. Die Faktorei Rada, welche Ban: couver beſucht hat, liegt daſelbſt unter 61“ 8“. Der Gou⸗ verneur der Inſel Kodiak, der Grieche Ivanitſch Delarew, verſicherte Herrn Sauer, daß trotz der Rauheit des Klimas das Getreide an den Ufern des Cooksſtromes fortkomme. Er hatte ſogar den Bau des Kohls und der Kartoffeln in den auf Kodiak angelegten Gärten eingeführt. Die Tſchugatſchen bewohnen das Land, welches ſich von der Nordſpitze der Cookseinfahrt bis oſtwärts von der Prinz Wilhelmsbai (Golf Tſchugatskaja) erſtreckt. In dieſem Di⸗ ſtrikte befinden ſich mehrere Faktoreien und drei kleine Forte⸗ reſſen; das Fort Alexander, in der Nähe des Chatamshafens, und die Forts 193 den Inſeln Tuk (J. Green bei Vancouver) und Tſchalcha ( J. Hinchinbrook). Die Ugalachmiut dehnen ſich vom Prinz Wilhelmsgolf bis gegen die Bai Jakutal, welche Vancouver Beringsbai ge— nannt hat.! Beim Kap Suckling (Kap Elias bei den Ruſſen) liegt die Faktorei von St. Simon. Die Centralkette der Kor: dilleren von Neunorfolk ſcheint von dem Pik von St. Elias Man muß Vancouvers Beringsbai, welche am Fuße des St. Eliasberges liegt, nicht mit der Beringsbai auf den ſpaniſchen Karten verwechſeln, welche ſich nahe bei dem Fairweathergebirge (Nevado de Buentiempo) befindet. Ohne eine genaue Kenntnis der geographiſchen Synonymik ſind die ſpaniſchen, engliſchen, ruſſiſchen und franzöſiſchen Werke, welche über die Nordweſtküſte von Ame— rika handeln, beinahe unverſtändlich, und dieſe Synonymik kann bloß durch die allergenaueſte Vergleichung der Karten gewonnen werden. — 311 — an beträchtlich von der Küſte entfernt; denn die Eingeborenen ſagten dem Herrn Barrow, welcher den Fluß Mednaja (den Kupferfluß) gegen 147 km hinaufgefahren iſt, daß er die er Gebirgskette erſt nach zwei Tagereiſen nördlich finden würde. Die Koljuſchen bewohnen das Gebirgsland Neunorfolk und den nördlichen Teil von Neukornwallis. Die Ruſſen geben auf ihren Karten die Bourroughbai (55° 50“ der Breite), Vancouvers Revillagigedoinſel (Isla de Gravina auf den ſpaniſchen Karten) gegenüber als die ſüdlichſte und öſtlichſte Grenze des Länderumfanges an, deren Eigentum ſie an— ſprechen. Auch ſcheint die große Inſel in dem König Georgs— archipelagus von den ruſſiſchen Seefahrern viel ſorgfältiger und genauer unterſucht worden zu fein, als von Vancouver, wovon man ſich ſehr leicht überzeugen kann, wenn man die Weſtküſte dieſer Inſel, und beſonders die Umgegenden vom Kap Trubizin (Kap Edgecumbe) und vom Hafen des Erzengels Sankt Michael, in der Bai Sitka (Norfolkſund bei den Eng— ländern, und Bai Tſchinkitans bei Marchand) auf der zu Petersburg im kaiſerlichen Kartendepot 1802 herausgekom— menen Karte mit Vancouvers ſeiner vergleicht. Die ſüdlichſte Niederlaſſung der Ruſſen in dieſem Diſtrikte der Koljuſchen iſt ein kleines Fort (krapost) in der Bai Jakutal, am Fuße der Kordillere, welche den Schönwetterberg bei dem Mul— graveshafen unter 59“ 27° der Breite mit dem St. Elias: berge verbindet. Die Nähe der mit ewigem Schnee bedeckten Gebirge und die große Breite des Kontinents vom 58. Grad der Breite machen auf dieſer Küſte von Neunorfolk und im Lande der Ugalachmiut das Klima außerordentlich kalt und der Entwickelung vegetabiliſcher Produkte völlig hinderlich. Die Schaluppen von Malaſpinas Expedition, welche in das Innere der Bai Jakutal bis zum Hafen vom Dejenganio eindrangen, fanden unter 59° 59“ der Breite im Monat Juli das nördliche Ende des Hafens noch mit einer feſten Eis— maſſe bedeckt. Man könnte glauben, daß dieſe Maſſe zu einem Gletſcher gehöre, welcher an die hohen Seealpen ſtößt; allein auch Mackenzie berichtet, daß er bei ſeiner Unterſuchung der Ufer des Sklavenſees 1800 km öſtlich unter dem 61. Grad der Breite den ganzen See im Monat Juli zugefroren ge— funden. Ueberhaupt ſcheint die Verſchiedenheit der Temperatur, welche man auf den Djt- und Weſtküſten des neuen Kon: tinents bemerkt, und von der wir ſchon oben geſprochen — 312 — haben, erſt ſüdwärts vom Parallelkreiſe des 53. Grades, wo er N und die große Charlotteninſel durchſchneidet, fühlbar zu ſein. Die abſolute Diſtanz von Petersburg nach der öſtlichſten ruſſiſchen Faktorei auf dem amerikaniſchen Kontinent iſt unge— fähr ebenſo groß, als die von Madrid nach dem Hafen San Francisco in Neukalifornien. Die Breite des ruſſiſchen Reiches umfaßt unter dem 68. Grad der Breite eine Landſtrecke von beinahe 17000 km; aber das kleine Fort in der Jakutalbai iſt noch über 4450 km von den nördlichſten Grenzen der mexikaniſchen Beſitzungen entfernt. Die Eingeborenen dieſer mitternächtlichen Gegenden wurden lange Zeit von den ſibi— riſchen Jägern grauſam geplagt, und Weiber und Kinder als Geißeln in den ruſſiſchen Faktoreien zurückbehalten. Indes atmen die Inſtruktionen, welche die Kaiſerin Katharina dem Kapitän Billing mitgegeben hat, Menſchenliebe und edles Ge— fühl; auch hat ſich die gegenwärtige Regierung ernſtlich damit beſchäftigt, die Mißbräuche zu mindern und den Bedrückungen zu ſteuern. Aber es iſt jo ſchwer, auf den äußerſten Gren- zen eines ungeheuren Reiches das Böſe zu verhindern, und die Amerikaner fühlen ihre Entfernung 1270 einer Hauptſtadt, aus welcher die Beſchlüſſe, die eine halbe Welt regieren, aus⸗ gehen, nur zu tief. Indes iſt es mehr als 40 daß, bevor die Ruſſen den Zwiſchenraum, welcher ſie von den Spaniern trennt, überſchreiten, irgend eine andere unter: nehmende Macht entweder auf den Küſten von Neugeorgien oder auf deſſen fruchtbaren Nachbarinſeln Kolonieen zu grün— den ſuchen wird. — SS m 25 —— * — [ in > * All, \ —— — Humboldt, Alexander, Freiherr von Gesammelte Werke PLEASE DO NOT REMOVE CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY in h 2 4 > Fr 6 „%“ 2